Fluide Religion: Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Theoretische und empirische Systematisierungen [1. Aufl.] 9783839412503

Neue religiöse Bewegungen sind zugleich Innovatoren und Indikatoren des religiösen Wandels moderner Gesellschaften. Unte

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German Pages 274 Year 2015

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INHALT
Fluide Religion: Eine Einleitung
Das Ende der Gemeinschaft? Neue religiöse Bewegungen im Wandel
Religious Studies, Religionswissenschaft, the Sociology of Religion, and the Study of New Religious Movements
Von der verfolgten »Sekte« zur etablierten Religionsgemeinschaft. Die Wandlungen der Hare Krishna Bewegung
West-Östliches New Age? Ein Neuzugang im religiösen Feld und seine grundsätzliche Verortung
»Makler«: Akteure der Esoterik-Kultur als Einflussfaktoren auf Neue religiöse Gemeinschaften
Vom New Age zur populären Spiritualität
Flüchtige Gemeinschaften: Eine kleine Theorie situativer Event-Vergemeinschaftung
Konstruktions- und Ausdifferenzierungsprozesse neugermanisch-heidnischer Religiosität
»Praying for the Death of Mankind«. Ein religionswissenschaftlicher Blick auf die Schweizerische Black Metal Szene
Ritual, Individuum und religiöse Gemeinschaft. Das International Christian Fellowship Zürich
Autorinnen und Autoren
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Fluide Religion: Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Theoretische und empirische Systematisierungen [1. Aufl.]
 9783839412503

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Dorothea Lüddeckens, Rafael Walthert (Hg.) Fluide Religion

2009-12-10 14-06-42 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0332228285720082|(S.

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Dorothea Lüddeckens, Rafael Walthert (Hg.)

Fluide Religion Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Theoretische und empirische Systematisierungen

2009-12-10 14-06-42 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0332228285720082|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Dorothea Lüddeckens, Rafael Walthert Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1250-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-12-10 14-06-42 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0332228285720082|(S.

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INHALT

Fluide Religion: Eine Einleitung DOROTHEA LÜDDECKENS, RAFAEL WALTHERT

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Das Ende der Gemeinschaft? Neue religiöse Bewegungen im Wandel DOROTHEA LÜDDECKENS, RAFAEL WALTHERT

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Religious Studies, Religionswissenschaft, the Sociology of Religion, and the Study of New Religious Movements ELISABETH ARWECK

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Von der verfolgten »Sekte« zur etablierten Religionsgemeinschaft. Die Wandlungen der Hare Krishna Bewegung 77 FRANK NEUBERT West-Östliches New Age? Ein Neuzugang im religiösen Feld und seine grundsätzliche Verortung 93 FRANZ WINTER »Makler«: Akteure der Esoterik-Kultur als Einflussfaktoren auf Neue religiöse Gemeinschaften 119 STEFAN RADEMACHER Vom New Age zur populären Spiritualität HUBERT KNOBLAUCH Flüchtige Gemeinschaften: Eine kleine Theorie situativer Event-Vergemeinschaftung WINFRIED GEBHARDT

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Konstruktions- und Ausdifferenzierungsprozesse neugermanisch-heidnischer Religiosität ANN-LAURENCE MARÉCHAL »Praying for the Death of Mankind«. Ein religionswissenschaftlicher Blick auf die Schweizerische Black Metal Szene ANNA-KATHARINA HÖPFLINGER

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Ritual, Individuum und religiöse Gemeinschaft. Das International Christian Fellowship Zürich RAFAEL WALTHERT

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Autorinnen und Autoren

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Danksagung Für die Begleitung der Fertigstellung dieses Bandes möchten wir Simone Gäumann, Tanja Hirsig, Annegret Kestler, David Marxer, Vanessa Meier und Monika Schrimpf danken. Der Universität Zürich verdanken wir finanzielle Unterstützung. Ebenfalls gefördert wurde dieser Band durch die DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) im Rahmen des Lichtenberg-Kollegs der Georg-August-Universität Göttingen. Der weibliche Teil der Herausgeberschaft verdankt ihr den Luxus, die letzten Arbeiten in Ruhe fertigstellen zu können.

Fluide Religion: Eine Einleitung DOROTHEA LÜDDECKENS, RAFAEL WALTHERT

In vielen Neuen religiösen Bewegungen, wie z.B. ISKCON, bekannt als Hare Krishna oder Osho, die auf Bhagwan Shree Rajneesh zurückgehende Gemeinschaft, kann in den letzten Jahren ein Rückgang an Mitgliedern beobachtet werden. Viele Gemeinschaften sind ganz verschwunden, während einige von ihnen offenere Formen angenommen haben, die eine grössere Vielfalt an Nähe und Distanz ihrer Mitglieder ermöglichen, bis hin zu einer Teilnahme ohne Zugehörigkeit. Neue religiöse Bewegungen sind dadurch mit ihren Lehren und Praktiken in ein weit über ihre Mitglieder hinausgehendes gesellschaftliches Umfeld diffundiert. Gleichzeitig lässt sich in der Gesellschaft ein wachsendes Interesse an dem hochgradig flexiblen Feld nicht-institutionalisierter, gemeinschaftsunabhängiger Angebote im Bereich des New Age, der Esoterik bzw. der »Spiritualität« feststellen. Vorträge zum Thema »Heilung«, Wanderungen zu »Orten der Kraft« oder auch Bücher über Engel sind Beispiele hierfür. Von solchen Beobachtungen ausgehend,1 gelangten die Herausgeber dieses Sammelbandes zur These, dass in Religionen im westeuropäihschen Kontext dauerhafte und umfassende Zugehörigkeiten zunehmend

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In einem Seminar zum Thema »Neue religiöse Bewegungen in der Schweiz« fiel den Herausgebern auf, dass es bislang auf diesem Gebiet nur eine relativ geringe Forschungstätigkeit gab. Aus der Beschäftigung mit dem Feld und den Diskussionen mit den Studierenden ergaben sich Beobachtungen, die zu einer Tagung zum Thema »Das Ende der Gemeinschaft? Vom Wandel neuer religiöser Bewegungen« im November 2008 an der Universität führten. Einige Beiträge dieses Bandes gehen auf diese Tagung zurück. 9

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durch unverbindliche, zeitlich beschränkte und spezifischere Beteiligungen abgelöst werden, zentrale Vorgaben und Hierarchien an umfassender Bedeutung verlieren und die Religiosität der Individuen durch eine Vielzahl sozialer Beziehungen und eine diesbezügliche Dynamik geprägt wird. Dieser wachsenden Mobilität auf der individuellen Ebene entspricht auf der Seite der religiösen Anbieter eine wachsende Vielfalt und eine Öffnung für Beteiligungen, die nicht auf umfassender Zugehörigkeit basieren. Mobilität und Vielfalt wiederum führen zu einer zunehmenden Pluralität von strukturellen Formen und kulturellen Bezügen. Dieser Wandel ist durch eine Steigerung der Beweglichkeit gekennzeichnet, weshalb diesem Band der Titel »Fluide Religion«2 gegeben wurde. Zum einen bezieht sich dies auf die soziale Form von Religion, zum andern auf die Religiosität, also den Bezug von Individuen zu diesen Formen. Die Sozialformen von Religion, welche sich durch die hier angesprochenen Eigenschaften auszeichnen, sind bereits zum Teil unter Begriffen wie »unsichtbare«, »diffuse« oder auch »alternative Religion« gefasst worden. Diese Termini gehen jeweils von einem Ideal bzw. Standard aus, dem das Bezeichnete nicht zu entsprechen scheint, weshalb es als nicht-sichtbar, nicht-fassbar oder als Alternative aufgefasst wird. Es wird das Ausbleiben von Etwas impliziert, wie es bei »unsichtbarer Religion« anklingt oder das Bezeichnete wird gar mit einem leicht pejorativen Beigeschmack versehen, wie es bei »diffuser Religion« der Fall ist.3 Dass moderne Formen von Religion oft als nicht sichtbar, nicht vollständig oder nicht konkret bezeichnet werden, weist auf die bereits von Luckmann festgestellte Problematik hin, dass diese Formen leichter dadurch zu charakterisieren sind, was sie nicht sind, als dadurch, was sie sind. Gerade auch diese Tatsache dürfte zur gegenwärtigen Vielfalt der Versuche ihrer begrifflichen Fassung geführt haben. »Fluide Religion« soll die anderen Begriffe nicht ersetzen. Hinter ihnen stehen Konzepte, auf deren stillschweigende Übernahme im Folgenden keineswegs Anspruch erhoben wird. Der Grund, mit dem Titel des vorliegenden Bandes dennoch einen neuen Begriff einzubringen, liegt darin, dass fluide Religion kein Defizit der damit beschriebenen

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In den Naturwissenschaften ist Fluidität ein Mass für die Fliessfähigkeit eines Fluidums (Gas oder Flüssigkeit) und nimmt mit zunehmender Zähigkeit der betreffenden Substanz ab. Substanzen, z.B. Gase, die sich ständig verformen, wenn eine äußere Krafteinwirkung ausgeübt wird, werden als fluid bezeichnet. Religionswissenschaftlich weiterführender als die genannten Begriffe ist derjenige der »populären Religion«, der der »wachsenden Sichtbarkeit« (Knoblauch 2009: 11) gerecht werden möchte.

FLUIDE RELIGION: EINE EINLEITUNG

Formen oder ihre Abgrenzung von einer Norm-Religion oder –Religiosität impliziert, sondern seinen Gegenstand in dessen Spezifität positiv4 charakterisiert und zu verstehen versucht. Er soll auf einen hohen Grad von Beweglichkeit verweisen und auf die Diffusion von Religion in einen weiteren sozialen Kontext,5 der einen Wandel der sozialen Formen von Religion mit sich bringt, welchen die Beiträge dieses Bandes thematisieren.

Gemeinschaften in der Gesellschaft Die Beobachtung eines Formenwandels von Religion in der Gegenwart lässt sich an die seit den soziologischen Klassikern diskutierte These anschliessen, dass gemeinschaftliche, auf Gemeinsamkeit beruhende Formen des Sozialen, zunehmend durch gesellschaftliche, auf Ungleichheit basierende ersetzt werden: »Die Neuen religiösen Bewegungen sind durch ihren Wandel gesellschaftlich akzeptierter und kompatibler geworden. Das hat zur Folge, dass diese Formen von Religion an den verschiedensten Orten anzutreffen sind« (Lüddeckens/Walthert in diesem Band).

Durch die Ablösung von Gemeinschaftsformen ergibt sich für diese Sozialform von Religion, deren soziale Beziehungen durch wert- oder zweckrational motivierten Interessenausgleich bzw. ebensolche Interessenverbindungen bestimmt sind und meist über das Medium Geld geregelt werden, eine hohe Beweglichkeit. Dies gilt im Hinblick auf interne Strukturen ebenso, wie auch im Hinblick auf die Nutzung externer Ressourcen und auf die Bindung zwischen Anbietern und Nutzenden. Die Bezeichnung Letzterer als »Pilger« bzw. »spirituelle Wanderer« durch Hervieu-Léger und Bochinger et al. weist ebenfalls darauf hin, dass sie sich gerade durch Mobilität auszeichnen. Die Erforschung Neuer religiöser Bewegungen steht in mehreren Spannungsfeldern. Verknüpfungen zwischen Forschung und gesellschaftlichem Kontext, zwischen Öffentlichkeit und Politik führen zu

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»Positiv« selbstverständlich nicht im Sinn einer Bewertung als »erfreulich« oder »gut«, sondern im Sinn von »etwas aufzeigend«. Allerdings nicht die Ausbreitung von institutionellen oder organisatorischen Strukturen oder die Ausbreitung komplexer religiöser Gemeinschaften (wie z.B. im Fall von christlicher, islamischer oder buddhistischer Mission). 11

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einer stark kontextspezifischen Beeinflussung des Fragens nach Neuen religiösen Bewegungen und ihrem Bezug zu verschiedenen Wissenschaftstraditionen (vgl. Arweck in diesem Band). Auf der Seite des Feldes fand und findet die Beobachtung vor allem in der sogenannten »Sektendebatte« statt. Diese Debatten waren länderspezifisch, was nicht zuletzt auch Auswirkungen auf die jeweilige wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Feld hatte, die von Arweck ebenfalls analysiert werden. Dass Neue religiöse Bewegungen gerade bezüglich ihres Wandels nur in ihrer Wechselbeziehung zur Umwelt, zu der massgeblich auch der Diskurs um die »Sekten« gehört, zu verstehen sind, zeigt sich bei ISKCON. Die Auseinandersetzung mit den Vorwürfen der »Sektengegner« und ihren Folgen für die Gemeinschaft führten zu einem internen Wandel und einem veränderten Auftreten in der Öffentlichkeit. Die internen Reformen hatten eine »Aufweichung der festen Zentrumsstrukturen« zur Folge, wie Neubert erklärt. ISKCON öffnete sich nach Aussen, indem die »Devotees« zunehmend am gesellschaftlichen Leben teilnahmen, ausserhalb des Tempels wohnten und arbeiteten. Die Gemeinschaft hat sich von »in Verruf geratenen und immer suspekt erscheinenden Modellen« verabschiedet und sich von einer sich »weitgehend abschottenden« Gemeinschaft hin »zu gängigen Modellen der Strukturierung religiöser Organisationen« entwickelt, ein Prozess, den Neubert als »congregationBildung« bezeichnet. Die Annäherung an die Gesellschaft zeigte sich z.B. auch darin, dass immer mehr »Devotees« wissenschaftlichen Studien an Universitäten nachgingen und die gemeinschaftseigenen Publikationsorgane (religions)wissenschaftliche Beiträge veröffentlichten (vgl. Neubert in diesem Band). Wie ISKCON reagiert auch die japanische Neureligion Kofuku no kagaku auf die »Sektendebatte«, indem sie den entsprechenden Vorwürfen im Voraus begegnen will. Auch darüber hinaus passt sie sich den spezifischen Bedingungen des gesellschaftlichen Kontextes an. Während Kofuku no kagaku im Ursprungsland Japan von gemeinschaftlichen Strukturen geprägt ist, sind diese gemeinschaftlichen Formen in Europa bislang wenig erfolgreich, viele Mitglieder sind nur vorübergehend involviert. Dementsprechend wird stark in eine die Zuhörer nur kurzfristig bindende Vortragstätigkeit investiert. Die Medien (Mangas und Animes), mit denen die Gemeinschaft ihre Lehrinhalte vermitteln will, werden nicht über gemeinschaftseigene, sondern über die bereits im Esoterikbereich tätigen Vertriebe (Buchhandel, Verlag etc.) in Umlauf gebracht. Winter weist darauf hin, dass die »Selbstverortung im ›Esoterik‹Segment hier von vorneherein zu einer losen Gruppenbildung [führt],

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weil dies auch dem Selbstverständnis der daran Teilnehmenden entspricht« (Winter in diesem Band).

Diffusion in die Gesellschaft: Spiritualität und subjektive Erfahrungsdimension Die religiösen Formen und Inhalte, die unter den Begriffen New Age oder Esoterik gefasst werden, sind selbst nicht nur flexibel kombinierund im zeitlichen Verlauf austauschbar. Sie begrenzen sich auch immer weniger auf eine bestimmte Szene, ein alternatives spirituelles Milieu oder eine Seite von »alternativer«, nicht institutionalisierter Religion, die sich von einer anderen, institutionalisierten Religion klar differenzieren liesse. Vielmehr sind Formen und Inhalte »schon lange in das Bewusstsein der Gesamtgesellschaft hinein diffundiert« (Knoblauch in diesem Band). Für diese Diffusion, auch über die Grenzen der Religion hinaus,6 waren und sind massgeblich auch gerade nicht-religiöse Institutionen und Medien verantwortlich. Knoblauch fasst dies mit dem von ihm ausgeführten Begriff der populären Religion. Statt von New Age wurde zunehmend von »Spiritualität« gesprochen, »Spiritualität« ist »zu einem Teil der vermeintlich profanen Kultur gegenwärtiger Gesellschaften geworden – eine populäre ›Spiritualität‹« (Knoblauch in diesem Band).7 Knoblauch, der die Entwicklung der New Age-Bewegung bis in die Gegenwart hinein nachzeichnet, sieht die Relevanz, die der subjektiven Erfahrungsdimension zugesprochen wird, als zentrales Merkmal der »Spiritualität«, das sich auch schon im New Age findet. Gebhardt geht genau dieser subjektiven Erfahrungsdimension nach (vgl. zur Relevanz subjektiver Erfahrung auch Walthert in diesem Band), wenn er Flashmobs, Spencer Tunicks Körperinstallationen, die Katholischen Weltjugendtage und Public Viewings untersucht, diese »flüchtigen«, »das Erlebnis des ›ganz Anderen‹ versprechende[n] Veranstaltungsformen«, die von Gebhardt als »situative Event-Vergemeinschaftungen« bezeichnet werden. Hier bedarf es »keiner Zugehörigkeitsbekenntnisse, keiner Erfahrungen und Vorkenntnisse, keiner Beziehun6

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Knoblauch verweist darauf, dass diese »Entgrenzung« auch zu »fundamentalistischen« Gegenreaktionen führen kann (Knoblauch in diesem Band, vgl. auch Walthert in diesem Band). Beispiel für die Diffusion ist die jüngst erfolgte Aufnahme der »alternativen Heilmethoden« der Komplementärmedizin in den Grundleistungskatalog der obligatorischen Krankenversicherungen in der Schweiz. Die Begriffe New Age und New Age-Bewegung wurden zunehmend aufgegeben (vgl. Knoblauch in diesem Band). 13

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gen und (Freundschafts-) Kontakte, um dabei sein zu können.« (Gebhardt in diesem Band). Solche, auf zeitliche und kontextbezogene Begrenzung hin ausgelegten sozialen und inhaltlichen Bindungen, sowie ein niederschwelliger Zugang zu den entsprechenden Angeboten (vgl. auch Knoblauch, Lüddeckens/Walthert, Rademacher in diesem Band) sind mit dem Prozess, der hier mit dem Begriff der fluiden Religion gefasst werden soll, verbunden. Die Zunahme dieser Formen sieht Gebhardt im Kontext einer Entwicklung, »die man – je nach theoretischem und disziplinärem Standort – entweder als Hybridisierung und Verflüssigung kultureller Rahmungen oder als Individualisierung und DeInstitutionalisierung bezeichnen kann« (Gebhardt in diesem Band). So geht es hier um Gemeinschaft, jedoch um »Dauer geradezu negierende, rein momentane soziale Beziehungen, die [...] auf subjektiv gefühlter, rein affektueller (und eben nicht mehr traditionaler oder auch posttraditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruhen« (Gebhardt in diesem Band). Die von Gebhardt und auch von Knoblauch beobachtete Zunahme an Betonungen subjektiv erfahrener Transzendenzen und damit auch der Fokussierung auf das Individuum in den von ihnen untersuchten, lose organisierten Feldern, findet sich auch in der Szene des Neugermanischen Heidentums, die mit einem exklusiven Verständnis von Gemeinschaft assoziiert wird: »Der für die 1960er bis 1980er Jahre diagnostizierte Wunsch nach Überwindung der einheitlich erfahrenen Krise der industrialisierten Gesellschaft wird [...] abgelöst durch die Suche nach einer individuellen Erfahrung, die als Heil bringend verstanden wird« (Maréchal in diesem Band).

Damit ging in den letzten 20-30 Jahren eine zunehmende interne Differenzierung des Feldes Neugermanischen Heidentums einher, wie Maréchal zeigt. Es löste sich von der Beschränkung auf den deutschsprachigen Raum und der Bindung an das rechte politische Milieu, die kulturellen Bezüge öffneten sich in Richtung des skandinavischen und angelsächsischen Raumes und universalistische Strömungen entstanden, die sich explizit von exklusiven Strukturen und Deutungen ablösten, was eine Abnahme von Grenzen nach Aussen zur Folge hatte.8 Maréchal zieht daraus auf der methodischen Ebene den Schluss, dass die innere Differenzierung und wachsende Dynamik neue Deskriptionsmuster er-

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Maréchal erwähnt hier z.B. die »Auflösung exklusiver Strukturen nach aussen« hin, z.B. einer ethnischen »Zulassungsbeschränkung«, sowie eine »offenere Gestaltung der Ritualpraxis« (Maréchal in diesem Band).

FLUIDE RELIGION: EINE EINLEITUNG

fordert, was auf die wachsenden Anforderungen an die religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem auch in diesem Bereich zunehmend fluiden Untersuchungsgegenstand hinweist. Mit der Öffnung Neuer religiöser Bewegungen, ihrer Diffusion in das gesellschaftliche Umfeld und der Präsenz gemeinschaftsunabhängiger Angebote ist das betroffene Feld von den Strukturen des Marktes bestimmt (vgl. zur Relevanz des Marktes auch Knoblauch in diesem Band: »die Verbreitung des Populären geschieht vielfach über einen Markt, in dem ökonomische Tauschprozesse stattfinden«, vgl. auch Lüddeckens/Walthert in diesem Band). Hier wiederum spielen Makler als »Türhüter« und »professionelle Kommunikatoren und Warenkanäle« (Rademacher in diesem Band) zwischen Spezialanbietern und Rezipienten eine entscheidende Rolle. In ihren Läden finden sich mit von allen im Vorangegangenen genannten Szenen und Gemeinschaften in Zusammenhang stehende Produkte, von Literatur von Osho, Kofuku no kagaku oder ISKCON bis hin zu alternativen Medizinratgebern. Der Markt bzw. Esoterikladen wirkt hier in doppelter Hinsicht: Innerhalb seines Angebotes wird jedes Produkt zu einem unter vielen und zugleich spiegelt der Laden damit das Selbstbild seiner Kunden als Suchende, die »fortgesetzte Wahlfreiheit« als positiven Wert betonen. Rademacher zeigt weiter, dass die im Vorangegangenen angesprochenen Beobachtungen auch in der Szene selbst reflektiert und interpretiert werden: »Die Gemeinschaften gehören nicht mehr in den Zeitgeist. Es ist etwas Freieres in die Menschheit getreten. … Eine Furchtlosigkeit den göttlichen Gesetzen gegenüber. [...] Man hat nicht mehr dieses soziale Bewusstsein [...] Die Gemeinschaft ist dann nicht mehr nötig. Und die muss sich dann öffnen. Oder sie öffnet sich nicht, dann kommt keiner mehr [...] Es ist heute viel lockerer« (Esoterikladenbesitzer, zitiert nach Rademacher in diesem Band).

Die Möglichkeit zur individuellen Wahl, die Ablehnung von exklusiven Mitgliedschaften, Institutionen und Lehrmeinungen kennzeichnen das Selbstverständnis der von Rademacher beobachteten religiösen Situation und legen es nahe, sie im hier verwendeten Sinn als fluide zu bezeichnen.

Trotzdem starke Bindungen? Feste Zugehörigkeiten gibt es jedoch auch in religiösen Bewegungen der Gegenwart. Im von Höpflinger untersuchten Black Metal finden sich starke und umfassende Bindungen an die damit verbundene Identität. 15

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Dabei steht das »anders Sein« als der Rest der Gesellschaft im Zentrum, womit sowohl individuelle Authentizität angestrebt als auch gegen Innen und Aussen Zugehörigkeit kommuniziert wird. Die Individualität der persönlichen Einbindung und der Auswahl und Interpretation der Elemente der Szene hat für deren Vertreter einen hohen Stellenwert. Die Beziehung von Black Metal zur Umwelt ist dabei durch zwei Entwicklungen geprägt: Einerseits geht der Typ der »Szene« mit Offenheit einher, die durch technische Übertragungsmedien (Internet, CD-ROM) ermöglicht wird. Andererseits werden solche Entwicklungen von einem sich als »harten Kern« verstehenden Segment durch die Betonung der Abgrenzung und auch durch die Verknappung von Produkten, wie der Limitierung von Musik-CDs, entgegen zu wirken versucht. Der Modus der Abgrenzung konstituiert sich auch im vestimentären Handeln, dem Rückgriff auf ein szeneeigenes Repertoire der Gestaltung der persönlichen Erscheinung. Diese Aufnahme- und Abgrenzungsstrategien führen dazu, dass Black Metal die Lebensführung derjenigen, die daran teilhaben, stark prägt. So wird u.a. über das Medium Kleidung bzw. über die persönliche äussere Erscheinung Zugehörigkeit mit starker Bindung trotz dezentraler Form und interner Dynamik und Vielfalt erzeugt (vgl. Höpflinger in diesem Band). Ebenfalls starke Bindungen finden sich bei neuen evangelikalen Gemeinschaften, wie dem ICF. Diese Form von Religion erscheint durch klare Vorgaben und exklusive Bindung wenig fluide. Allerdings teilt auch sie Merkmale, wie den Fokus auf das Individuum und sein persönliches Entscheiden und Erleben mit anderen im Band untersuchten religiösen Bewegungen. Gerade die Figur des Individuums mit ihrer Verbindung von Erlösung und Entscheidung stellt dabei ein Vehikel dar, über welches religiöse Deutungen für die Mitglieder des ICF den direkt gemeinschaftlich geprägten Bereich transzendieren können. Auch die rituellen Formen, d.h. vor allem die Gottesdienste sind mit ihren Anleihen aus der Popkultur von nicht-religiösen Bereichen der gesellschaftlichen Umwelt geprägt. Eine Relevanz von Gemeinschaft ist dadurch auch ohne deren gänzliche Abspaltung von der gesellschaftlichen Umwelt möglich. Auch eine exklusive Gemeinschaft wie das ICF, die durchaus als Kontrastbeispiel zur zunehmenden Fluidität dienen kann, setzt in Ritualen und theologischen Betonungen auf inhaltliche und formale Flexibilität, die in ihren amerikanischen Vorbildern sogar über »religiöse Marktforschung« institutionalisiert ist. Diese Flexibilität ermöglicht einen niederschwelligen Zugang, auf welchem stärkere Formen der Bindung und der striktere Kern des religiösen Vokabulars im Innern der Gemeinschaft aufbauen können (vgl. Walthert in diesem Band).

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FLUIDE RELIGION: EINE EINLEITUNG

Fallbeispiele wie das evangelikale ICF und die Black Metal Szene zeigen, dass sich nach wie vor starke, für Individuen übergreifend relevante religiöse Bindungen finden. In beiden Fällen wird Zugehörigkeit wie bei den anderen untersuchten Neuen religiösen Bewegungen nicht als Selbstverständlichkeit verstanden, sondern ist Gegenstand von Kommunikation und Entscheidung. Beide Analysen zeigen dabei die Wichtigkeit der Formen der Abgrenzungen dieser Gruppierungen gegenüber ihrer Umwelt. In einem durch Fluidität geprägten Umfeld dürften gerade solche Grenzziehungen für die wissenschaftliche Beobachtung von besonderem Interesse sein.

Fluidität der Terminologie Im Hinblick auf die religionswissenschaftliche Begriffs- und Theoriebildung lässt sich festhalten, dass mit der Vielfalt der diskutierten Facetten von Religion in der Gegenwart eine Vielfalt von Begriffen einher geht. Bereits für die Bezeichnung des Feldes von New Age/Esoterik/»Spiritualität« finden sich in diesem Band verschiedene Vorschläge, was die Uneinheitlichkeit in den Begriffsstrategien bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Bereich widerspiegelt. Wenn nun, wie die empirischen Untersuchungen vermuten lassen, feste Strukturen und dauerhafte Bindungen in der religiösen Situation der Gegenwart überhaupt in Abnahme begriffen sind, wird die Vielfalt an Begriffen in der Beschäftigung mit religiösen Gegenwartskulturen insgesamt zunehmen. So wie auch für den Religionsbegriff das Bemühen um eine einheitliche Bestimmung innerhalb der Diszplin einer Vielfalt von Annäherungen und Arbeitsbegriffen gewichen ist, kann die terminologische Mannigfaltigkeit im hier untersuchten Feld als ein weiterer Ausdruck der Multiperspektivität der Religionswissenschaft gewertet werden. Der Begriff der fluiden Religion wird, so hoffen wir, nicht nur einen weiteren Beitrag zum Begriffsdschungel der wissenschaftlichen Beschreibung zeitgenössischer Religion leisten. Vielmehr geht es uns darum, den Blick auf die Beweglichkeit von Religion zu lenken, sowohl im Hinblick auf das Individuum, als auch auf der Ebene von kulturellem Vokabular und sozialen Formen.

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Das Ende der Gemeinschaft? Neue religiöse Bewegungen im Wandel DOROTHEA LÜDDECKENS, RAFAEL WALTHERT

1 Einleitung 1.1 Thema und Fragestellung Während noch vor wenigen Jahren »Sekten« und ihre ausserkirchlichen Heilsangebote als Schreckgespenst ordentlicher Bürgerlichkeit dienten, werden heute manche ihrer Praktiken und Lehren ganz offiziell für die Unterstützung des Managements in Wirtschaftsunternehmen beansprucht, in das therapeutische Angebot staatlicher Kliniken aufgenommen und in das Kursprogramm kirchlicher Bildungseinrichtungen integriert. Gleichzeitig ist das Interesse an Neuen religiösen Bewegungen in den Massenmedien, aber auch in der Wissenschaft zurückgegangen. Was Religion angeht, steht das Thema Islam im Fokus von Presse, politischer Aufmerksamkeit und der Vergabe von Forschungsgeldern. Neben äusseren Faktoren, die zu dieser Abnahme von Aufmerksamkeit geführt haben, dürfte auch der Wandel der Neuen religiösen Bewegungen selbst dazu beigetragen haben. Die Formen von Neuen religiösen Bewegungen als exklusive Gemeinschaften, mit denen sie seit den sechziger Jahren in Verbindung gebracht werden, haben – so die These dieses einleitenden Beitrages – unverbindlicheren und niederschwelligeren Formen der Partizipation, die durch selektive Teilnahme und schwache Gruppengrenzen geprägt sind, Platz gemacht. Religiöse Ideen und Praktiken, die zunächst in der

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Form von Gemeinschaften Teil einer zunehmenden religiösen Diversität im Westen geworden sind, sind in eine breitere gesellschaftliche Verfügbarkeit diffundiert. Gleichzeitig haben die gemeinschaftlichen Formen an Wichtigkeit eingebüsst, womit ihre öffentliche Sichtbarkeit und letztlich auch ihre Bedeutung als Forschungsfeld abnahm. Dieser Wandel wird seit einiger Zeit von Religionswissenschaftlern und Soziologen beobachtet, wurde bislang aber kaum systematisch aufgearbeitet und über Einzelfälle hinaus anhand von empirischen Beispielen belegt.1 Der vorliegende Beitrag erarbeitet zunächst die zentralen theoretischen Begrifflichkeiten »Neue religiöse Bewegungen«, »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« (Abschnitt 1.2), um danach Neue religiöse Bewegungen in ihrer gemeinschaftlichen Form zu charakterisieren (Abschnitt 2). Zwei Neue religiöse Bewegungen, OSHO und Transzendentale Meditation werden in den darauf folgenden Abschnitten 3 und 4 im Hinblick auf ihren Wandel in den letzten Jahrzehnten betrachtet. Die diesen Wandel bestimmenden Faktoren werden im Abschnitt 5 theoretisch gefasst und die typischen Eigenschaften der neuen Formen von Religion beschrieben (Abschnitt 6). Es folgen Ausführungen über das New Age, welches als prototypisch für diese Formen gesehen werden kann (Abschnitt 7). Abgeschlossen wird die Argumentation mit einem Résumé und dem Bezug auf die Begrifflichkeit der »fluiden Religion«.

1.2 Begriffe 1.2.1 Neue religiöse Bewegungen Die Begriffe New Religion bzw. New Religious Movements wurden Ende der siebziger Jahre in den USA in Anlehnung an die japanischen Begriffe shin shky und shin shky nd aufgegriffen, um den im Zuge des Anti-cult-movement stark negativ konnotierten Terminus cult ersetzen zu können (vgl. Melton 2004: 20).2 Der Begriff »Neue religiöse 1

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Grundsätzlich wird den Neuen religiösen Bewegungen in der deutschsprachigen, im Gegensatz zur englischsprachigen Forschungslandschaft relativ wenig Relevanz zugemessen. Ganz besonders eklatant gilt dies für die Religionswissenschaft. Zu den Gründen für dieses Desiderat siehe Süss (2003: 305-314, vgl. auch Usarski 1988: 80). So werden z.B. Religionswissenschaftler, die nicht dem allgemeinen »Aufklärungstenor« (Süss 2003: 307) verfallen, selbst schnell stigmatisiert (vgl. auch Baumann 1995). Auch der Sektenbegriff wird im Deutschen nach wie vor stark pejorativ verwendet. Der Terminus Sekte ist daher, ausser in Fällen in denen er explizit an die Webersche oder Troeltsche Begriffsbildung angeschlossen wird, als metasprachlicher Begriff wenig sinnvoll.

DAS ENDE DER GEMEINSCHAFT?

Bewegungen« soll im Folgenden seinen Sinn weniger darin haben, bestimmte Phänomene unter gleichzeitigen Hinweisen auf bestimmte damit verbundene Eigenschaften von anderen zu unterscheiden. Die Fähigkeit, bereits durch seine Anwendung religiöse Bewegungen, Gruppierungen oder Gemeinschaften in ihrer Spezifität zu charakterisieren, konnte der Ausdruck nie erlangen (vgl. z.B. diese Einschätzung bei Beckford 1985: 13-17; Barker 1995: 166). Bereits ein Blick auf seine Komponenten »religiös« und »neu« lässt die Hoffnung, dass dem überhaupt so sein könnte, schwinden. Die vorwiegende Verwendung des Ausdruckes im Plural zeigt an, dass es dabei um die Wahrnehmung einer Strömung geht und weniger um die Identifikation von Einzelfällen über bestimmte vorgeschriebene Merkmale.3 Bei der Verwendung des Begriffes kann es deshalb nur darum gehen, einen heterogenen Bereich zu fassen, um darauf weitere, differenzierendere Begriffe anwenden zu können, die wie »Gesellschaft« oder »Gemeinschaft« eher formalsoziologisch, oder auch wie »New Age« eher historisch-kontextbezogen angelegt sind. Dies erlaubt es gerade im Hinblick auf Prozesse von Wandel und Einfluss ein breites Feld im Blick zu behalten und nicht bereits zu Beginn der Betrachtung Bereiche auszuschliessen.4 Einerseits wird damit der Begriff »Neue religiöse Bewegung« entlastet, andererseits wird die Frage umso relevanter, welche differenzierenden Begrifflichkeiten der Nennung dieser inklusiven Formel folgen.

1.2.2 Gemeinschaft und Gesellschaft Das Begriffspaar Gemeinschaft und Gesellschaft wurde in der Soziologie von Ferdinand Tönnies geprägt, der sie als verschiedene Arten sozialer Beziehungen charakterisiert, denen grundsätzlich unterschiedliche »ideelle Typen« menschlichen Wollens zugrunde liegen: Der »Wesenswille« bei der Gemeinschaft, der »Kürwille« auf Seiten der Gesellschaft. Während bei ersterem der Wille von Fähigkeiten und Mitteln bestimmt 3

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Damit handelt es sich auch nicht um einen Idealtypus, dessen Anwendung bereits eine begriffliche Differenzierung darstellen würde (wie z.B. »Sekte« oder »Kirche« bei Weber). Der Komplexität der Realität wird also gerade kein scharfer Begriff »Neue religiöse Bewegung« gegenübergestellt, vielmehr wird diese zunächst einmal für eine weitere Bearbeitung begrifflich zusammengefasst. Dafür spricht auch, dass viele Phänomene von verschiedenen Autoren unterschiedlich eingeordnet werden und auch in sich unterschiedliche Dimensionen aufweisen. So vermerkt zum Beispiel Sutcliffe kritisch, dass Heelas die von ihm als Neue religiöse Bewegung klassifizierte Transzendentale Meditation zum Bereich des New Age zähle (vgl. Sutcliffe 2003: 33). 21

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ist und Denk- und Handlungsweisen sich den Gegebenheiten entlang ausrichten, ist es beim Kürwillen der Zweck, der Denken und Mittel bestimmt (vgl. Tönnies 1931; 1988 [1935]). Weber griff Tönnies Begriffspaar auf, wobei bei ihm Emotionalität und Tradition auf der Seite der »Vergemeinschaftung«, die Wert- und Zweckrationalität auf Seiten der »Vergesellschaftung« angesiedelt sind:5 »›Vergemeinschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heissen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns – im Einzelfall oder im Durchschnitt oder im reinen Typus – auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht. ›Vergesellschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heissen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht« (Weber 1972: 21; Kursives im Original gesperrt).6

Aus dem wesenhaft-substantiellen Begriffspaar von Tönnies ist bei Weber ein analytisches Instrument geworden, welches Anschlüsse an weitere von ihm formulierte Idealtypen erlaubt (vgl. Strang 1990: 78). Talcott Parsons schliesst im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Weber auch direkt an Tönnies an: Eine Gemeinschaft definiert sich gemäss Parsons über Solidarität, das Teilen von Vor- und Nachteilen. Der Grund für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft besteht nicht in einem isolierbaren Zweck und auch die sich daraus ergebenden Pflichten sind weder genau spezifiziert noch begrenzt (vgl. Parsons 1968 [1937]: 686-694). Wo Verpflichtungen und Sanktionen ins Spiel kommen, würden sie immer in einem Kontext der Zusammengehörigkeit der involvierten Personen stehen, der diese spezifischen Elemente transzendiert. Handlungen werden als Ausdruck der Bejahung eines solchen Hintergrundes und nicht als die Verfolgung spezifischer Ziele gesehen. Im Typus der Gesellschaft dagegen werden Handlungen genau als Letzteres verstanden und die Zugehörigkeit zu dieser Form des Sozialen erschöpft sich im jeweiligen Austauschprozess und dem Sinn, den dieser für die

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Die Vermutung liegt nahe, dass mit der Rede von »Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung« an Stelle von »Gemeinschaft und Gesellschaft« Weber wohl dem »reifizierenden Gebrauch eines Kollektivbegriffes« vorbeugen wollte (Lichtblau 2000: 440; Tyrell 1994: 392). Dieses Zitat aus den »Soziologischen Grundbegriffen« stellt eine späte Fassung von Webers Verständnis von »Vergemeinschaftung« dar. In älteren Passagen aus »Wirtschaft und Gesellschaft« (Weber 1972) und dem Kategorienaufsatz von 1913 (vgl. Weber 1922) findet sich »Vergemeinschaftung« in einer allgemeineren, weniger nah an Tönnies liegenden Verwendung (vgl. Lichtblau 2000).

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beteiligten Parteien unabhängig voneinander macht. Als Beispiele, die den Idealtypen nahe kommen, nennt Parsons Ehe und Familie auf der Seite der Gemeinschaft, geschäftlichen Austausch auf der Ebene der Gesellschaft. Allen drei Theoretikern gemeinsam ist die an die Behandlung dieses Begriffspaares anschliessende Beschäftigung mit Prozessen sozialen Wandels, die sich als zunehmende Ablösung von gemeinschaftlichen durch gesellschaftliche Formen des Sozialen deuten lassen. In den Worten Tönnies’: »[...] schreitet die Veränderung der ursprünglichen Basis des Zusammenlebens weiter fort, sie vollendet sich in der Erscheinung, die oft als Individualismus bezeichnet wird, deren wahre Bedeutung aber darin liegt, dass nicht das soziale Leben schlechthin, aber das gemeinschaftliche soziale Leben sich vermindert und ein anderes neues aus den Bedürfnissen, Interessen, Wünschen, Entschlüssen von handelnden Personen hervorgehendes Zusammenwirken sich entwickelt und zunehmende Macht, allmählich ein Übergewicht erlangt« (Tönnies 1931: 191).

»Individualismus« – wovon verschiedentlich noch die Rede sein wird – sieht Tönnies als zentralen Faktor dieses Wandels. Im Folgenden geht es nicht darum, die These des Bestehens eines universalen Prozesses des Übergangs zu gesellschaftlichen Formen zu postulieren.7 Angesichts von Migrationsbewegungen und damit verbundener ethnisch-religiöser Identifikationen in modernen Gesellschaften kann dies auch nicht für den Bereich von Religion behauptet werden.8 Die Frage nach dem Ende der Gemeinschaft soll vielmehr spezifisch im Hinblick auf den Bereich Neuer religiöser Bewegungen gestellt werden.

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In der Gesellschaft finden sich nicht nur gesellschaftliche Beziehungen im Sinne ihrer Unterscheidung von gemeinschaftlichen. »Modern society« sei, so Shils, »no Gesellschaft« (Shils 1957: 131; Hervorhebung im Original) – eher müsste man im Zuge einer Verabschiedung von Ideen übergreifender Wertintegration wohl sagen »nicht nur Gesellschaft« – da sich in ihr beispielsweise auch »primordial affinities« finden. Gerade die zunehmende und für viele überraschende Wichtigkeit religiöser und ethnischer Gemeinschaften in modernen Gesellschaften könnte als Hinweis gegen eine solche universale These angeführt werden. Vgl. zur Debatte um ethnische Gemeinschaften: Esser 1988; für die Situation in den USA: Alexander 1990; in Europa: Imhof 1997; mit Bezug auf Tönnies: Otnes 1990. 23

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2 Neue religiöse Bewegungen als Gemeinschaften 2.1 Neue religiöse Gemeinschaften Neue religiöse Bewegungen hatten von den sechziger bis in die achtziger Jahre typischerweise die Form von Gemeinschaften, welchen sich die religionssoziologische Forschung, begrifflich an die Forschung zu christlichen Sekten anschliessend, auch vorwiegend widmete. So setzte Bryan Wilson beim Begriff der Sekte (sect) an.9 Diese Sekten waren und sind durch das Angebot einer zur breiteren Gesellschaft alternativen Ordnung gekennzeichnet, wobei dies in unterschiedlicher Form und unterschiedlichem Ausmass mit einer Abtrennung der Gemeinschaft von ihrem sozialen Umfeld einhergeht. Gegenüber sozialen Verpflichtungen wie Schulpflicht und Militärdienst bestanden dabei oft Vorbehalte und in Bereichen wie Schule oder medizinischer Behandlung wurde versucht, gemeinschaftsinterne Infrastrukturen zu schaffen (vgl. Wilson 1990). In Anlehnung an eine Typologie von Beckford (1983: 82) kann der »devotee« als typisches Mitglied einer solchen Gemeinschaft bezeichnet werden: Hochgradige Integration in die Gruppe und gleichzeitige Polyvalenz dieser Bindung mit Beeinflussung sämtlicher Lebensbereiche sind die Eigenschaften dieses Verhältnisses, die an die Charakterisierung der Gemeinschaftsbeziehung bei Parsons erinnern. Basierend auf dieser Form lebten Bewegungen wie die Children of God über den Globus verstreut in Kommunen, während »going solo«, wie Beckford (1985: 41) beobachtete, in den siebziger Jahren aussergewöhnlich war. Für andere Gruppierungen hingegen, wie z.B. Scientology oder Transzendentale Meditation, hatte die Form der kollokalen Lebensgemeinschaft bereits in dieser frühen Phase keine solche umfassende Bedeutung.

2.2 Gemeinschaft als Flucht vor der Moderne Die Neuen religiösen Bewegungen wurden zunächst in der Regel als Reaktion auf die moderne Gesellschaft begriffen. Man sah Letztere geprägt durch Bürokratien und Institutionen, die formaler Rationalität, formell geregelten Abläufen und verrechtlichten Prozessen folgten. Die 9

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Wilson verwendet diesen Begriff ausdrücklich als neutrales Konzept (vgl. Wilson 1990). Damit schliesst er an eine soziologische Begriffstradition an, die bereits bei Weber im Gegensatz zur heutigen Begriffsverwendung im nicht-wissenschaftlichen deutschsprachigen Bereich nicht abwertend besetzt war.

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Rollen, welche sich in diesen Kontexten finden, würden, so wurde angenommen, mit entsprechenden Erwartungen konfrontiert werden, während in der privaten Sphäre alles Gegenstand persönlicher Entscheidung sei. Damit wurde eine Überinstitutionalisierung auf der öffentlichen mit einer Unterinstitutionalisierung in der privaten Sphäre in Kontrast und ein Konflikt zwischen der Konformität in den öffentlichen Rollen und der Individualität in der Privatsphäre gesehen. Als eine weitere Herausforderung für die Identität des Individuums wurde dabei eine fragmentierende Diversität moderner Gesellschaften, die sich in der jeweils zeitlich begrenzten Übernahme verschiedenster sozialer Rollen ausdrücke, betrachtet (vgl. Dawson 1998; zum Überblick: Robbins 1988: 27-28). Durch Versprechungen davon, was die Gesellschaft nicht mehr bieten könne, nämlich einen bestimmten Sinn für das Leben und klare Vorgaben für die Lebensführung, würden, so vertrat es dieser Ansatz, religiöse Gemeinschaften für Individuen in der Moderne attraktiv. Der Schluss, Neue religiöse Bewegungen seien ein »entmodernisierender Impuls« und ein sozio-kultureller Protest gegen entfremdende und anomische Eigenschaften der Moderne liess sich gut mit den Beobachtungen breiterer revolutionärer Strömungen ab Ende der sechziger Jahre verbinden. Dementsprechend wurde von vielen eine grosse Bewegung vor allem Jugendlicher in diese religiösen Gemeinschaften erwartet.10 Die religionssoziologische Forschung konnte diese Erwartung nicht bestätigen. Unterdessen dürfte sich in der Religionssoziologie und Religionswissenschaft die Einschätzung durchgesetzt haben, dass im Bereich Neuer religiöser Bewegungen keine Gemeinschaften entstehen, die statistisch bedeutsame Anhängerschaften um sich scharen können. Der Blick auf verschiedene Datensammlungen bestätigt diesen Schluss auch empirisch.11 Diese Zahlen dürften sich auch in den sechziger und siebziger Jahren nicht in wesentlich höheren Bereichen bewegt haben (vgl. Barker 1993: 241). In der Schweiz hatten diese Gemeinschaften jeweils eher ein paar Dutzend als Hunderte von Mitgliedern (vgl. Mayer 1995: 184). 10 So schreibt Beckford über Journalisten in den sechziger Jahren: »Their sensationalist reports only reinforced the public feeling that a large-scale abduction of western youth was being orchestrated by ruthless gurus and meretricious messiahs« (Beckford 1985: 18). 11 Die Daten der European Value Study zeigen für Deutschland und die Schweiz aus verschiedenen Erhebungen der letzten 20 Jahre, dass die Religionszugehörigkeit »Andere« nie 3% überstieg. Wobei auch davon nur ein kleiner Teil Neuen religiösen Bewegungen im hier interessierenden Sinn angehören dürfte (vgl. www.jdsurvey.net/web/evs1.htm,10.11.2008). Zu bedenken ist allerdings, dass Mitglieder einiger Neuer religiöser Bewegungen ihre Mitgliedschaft nicht als »Religionszugehörigkeit« einstufen dürften und sie dementsprechend auch nicht angeben werden. 25

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2.3 Verhältnis zur Gesellschaft Das Verhältnis und die Konflikte zwischen den Neuen religiösen Bewegungen und ihrer gesellschaftlichen Umwelt sind von unterschiedlichen nationalen Strukturen geprägt, wie z.B. dem jeweiligen Verhältnis zwischen Staat und Kirchen bzw. traditionellen Religionsgemeinschaften (vgl. z.B. Kehrer 1980) sowie dem Netz bereits vorhandener Organisationen.12 In Bezug auf Konflikte mit Neuen religiösen Bewegungen kommen verschiedene Akteure in den Blick: Wissenschaftler, insbesondere Sozialwissenschaftler, Akteure der Antikultbewegung, Therapeuten, Vertreter der Medien und des Rechts (vgl. Barker 1998: 13; Arweck in diesem Band).13 Damit entsteht eine hohe Komplexität des Konfliktes, die Beckford von einer »controversy« sprechen lässt. Mit Beckford (1985) kann geschlossen werden, dass Neue religiöse Bewegungen ohne den Einbezug dieser »cult controversies« kaum sinnvoll untersucht werden können. Als organisierte Gegenspieler treten darin Gruppen der sogenannten Antikultbewegung auf, welche sich oft aus ehemaligen Mitgliedern, Angehörigen, Therapeuten, Vertretern der grossen christlichen Kirchen und zum Teil auch Rechtsexperten zusammensetzen.14 Die Medien spielten bereits früh in der Debatte eine wesentliche Rolle (vgl. Beckford 1985: 235), insbesondere Gemeinschaften in Form von Kommunen, waren dabei bevorzugter Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit. Die fast ausschliesslich negative Berichterstattung (vgl. Wilson 1999: 1-2)15 stand dabei in ihrem Ausmass in Kontrast zur Marginalität der Neuen religiösen Bewegungen, sofern diese an der Anzahl ihrer Mitglieder gemessen werden kann. Dabei stimmte auch das Bild, wel-

12 So wurden auch sich neu formierende Eltern- und Bürgerinitiativen stark von bestehenden Organisationen, wie staatlichen Ministerien (BRD) oder einer Kirche (Frankreich) beeinflusst (vgl. Beckford 1985: 272). 13 Die Interessen bei der Auseinandersetzung mit den Neuen religiösen Bewegungen unterscheiden sich je nach Akteur und dementsprechend weichen auch die Interpretationen in erheblichen Masse voneinander ab (vgl. Wallis 1984: 130ff). Vgl. für einen Vergleich der verschiedenen Konstruktionen der jeweiligen Akteure z.B. Barker (1993). Vor allem für das deutsche und französische Umfeld wären die Vertreter des Staates noch hinzuzufügen. 14 Zuweilen wird hier zwischen religiösen »counter-cult« und säkularen »anticult« Gruppen unterschieden (vgl. Introvigne 1995; Cowan 2002), wobei die Grenzen häufig nicht klar zu ziehen sind (vgl. z.B. Arweck 2006: 111201). Der Begriff »anticult« ist inzwischen negativ besetzt und wird zum Teil mit Eigenschaften wie anti-religiös, feindlich gegenüber der Religionsfreiheit und anti-liberal assoziiert (vgl. z.B. Arweck 2006: 125). 15 So wurde z.B. für die Neuen Bundesländer der BRD eine »flächendeckende Sekteninvasion« befürchtet (vgl. Usarski 2000: 322). 26

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ches hier von den Anhängern gezeichnet wird, nicht unbedingt mit empirisch erhobenen Daten überein, wie von Barker für Grossbritannien gezeigt werden konnte (vgl. Barker 1983). Die Medien publizierten »negative summary events« (Beckford 1985: 235), die sich nach Beckford um die Themenbereiche Fremdartigkeit der Neuen religiösen Bewegungen, Betrug, Elend der Mitglieder, Wut der Angehörigen und Bedrohung für die Gesellschaft (vgl. Beckford 1985: 235-238) rankten. Die Nachrichten über Neue religiöse Bewegungen waren zwar nicht besonders häufig, erzeugten aber gemäss Beckford (1985: 240), über die blosse Repetition derselben Bilder und Argumente eine grosse Wirkung. In den Medien, aber auch in der wissenschaftlichen Reflexion, konstitutierte die vorgestellte Abgeschlossenheit Neuer religiöser Gemeinschaften ein Gegenbild zur Öffentlichkeit, die im aufklärerischen Sinne über journalistische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit Licht in dunkle Verhältnisse zu bringen versucht (vgl. zum Verständnis von Öffentlichkeit: Hölscher 1978). In diesen Rahmen gehören auch die typischen Vorwürfe von Kindesmissbrauch, Promiskuität, finanzieller Ausbeutung, Steuerhinterziehung und Gehirnwäsche. Die starke und umfassende Integration der Individuen in die Gemeinschaften wurde mit totaler Bevormundung gleichgesetzt und damit mit einem umfassenden Verlust an Freiheit des Individuums. Das populärwissenschaftliche Konzept der Gehirnwäsche16 konnte als Erklärung für die Entmündigungsbereitschaft von Mitgliedern sich als aufgeklärt verstehender Gesellschaften dienen (vgl. auch Beckford 1985) und die Deprogrammierung von Mitgliedern legitimieren.17 Aus dieser Perspektive wurden für die Neuen religiösen Bewegungen die Anhänger als Opfer und die Führer als Täter identifiziert.18 16 Bislang konnten die vorgeworfenen Praktiken der Umerziehung und »mind control« weder empirisch in ausreichendem Masse belegt werden, noch scheinen sie in sich selbst sehr plausibel (vgl. z.B. Barker 1984, Dawson 2006: 96, 103-116). Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre verabschiedeten sich amerikanische Gerichte zunehmend von dem Argument der Gehirnwäsche (vgl. Dawson 2006: 115), während die öffentliche Debatte, gerade auch in Europa, Russland und China bis heute nicht zum Abschluss gekommen ist (vgl. Dawson 2006: 96). 17 So wurde im Zusammenhang mit Vorwürfen von Entführungen und gewaltsamen Aktivitäten im Rahmen sogenannter Deprogrammierungsmassnahmen auf eine zuvor widerrechtlich erfolgte Gehirnwäsche verwiesen (vgl. Bromley 1988). 18 In Rechtsprozessen wurde von Eltern versucht mit diesem Hinweis ihre volljährigen Kinder als unfreiwillige Opfer einer kriminellen Organisation darzustellen und Massnahmen zu ihrer »Befreiung« auch gegen deren Einwilligung und trotz des Rechts auf Religionsfreiheit durchzusetzen (vgl. Dawson 2006: 95). 27

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Über die standardisierten Vorwürfe gegenüber den Neuen religiösen Bewegungen konnten diese, ungeachtet ihrer gegensätzlichen Glaubensvorstellungen und -praktiken, als Einheit behandelt werden, welche durch eine spezifische Bedrohung für Individuen und Gesellschaft gekennzeichnet war. Letzteres wurde insbesondere deutlich in der Betonung der Bemühungen der Neuen religiösen Bewegungen politischen Einfluss zu gewinnen bzw. die offiziellen politischen Strukturen zu unterwandern. Staatliche Akteure haben sich bis in die neunziger Jahre eher selten direkt an der Opposition gegen Neue religiöse Bewegungen beteiligt, was vor dem Hintergrund des Wertes der Religionsfreiheit, der in unterschiedlicher Weise in den Verfassungen und Gesetzen verankert ist, und dem Selbstverständnis pluralistischer Gesellschaften verstanden werden kann. Inzwischen gibt es aber eine ganze Reihe von staatlichen Stellungnahmen, die häufig auch in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern entstanden sind. In den meisten Fällen werden Neue religiöse Bewegungen von staatlicher Seite kritisch behandelt, kaum als Ansprechpartner betrachtet und eine positive Integration in institutionelle Settings bleibt aus. Auch von kirchlicher Seite werden in ökumenische Bezüge in der Regel allenfalls Freikirchen einbezogen. Dies steht im Gegensatz zur Etablierung staatlicher Beziehungen zu muslimischen Gemeinschaften. Diese werden unter den Gesichtspunkten von Integration und Kooperation zunehmend als relevante Gesprächspartner angesehen, obwohl sie häufig über vergleichsweise schwache übergreifende Gemeinschafts- bzw. Organisationsstrukturen verfügen. So werden hier nicht-vorhandene Organisationsstrukturen beklagt, während Neuen religiösen Bewegungen ihre (»zu starken«) Organisationsstrukturen zum Vorwurf gemacht werden. Auch Wissenschaftler, die im Bereich der Neuen religiösen Bewegungen forschen, finden sich als Akteure des Feldes wieder.19 Wissenschaftliche Publikationen werden von den Untersuchten wahrgenommen, kommentiert (vgl. Wallis 1976) und aktiv für die Selbstdarstellung eingesetzt. So wurde z.B. in dem von Scientology zur Selbstdarstellung herausgegebenen Band »Lehre und Ausübung einer modernen Religion. Scientology. Ein Überblick aus religionswissenschaftlicher Sicht« ein Text von Wilson veröffentlicht (vgl. Wilson 1998). Darüber hinaus ist es häufig aber auch nicht zu vermeiden, dass die Forscher politisch einbezogen werden (vgl. Barker 1998; Seiwert 1998, 1999). Selbst ein nicht19 Wissenschaftliches Forschen im Bereich Neuer religiösen Bewegungen bedeutet unvermeidlich eine Beeinflussung des Feldes. Zu weiteren speziellen Herausforderungen in dieser Forschung vgl. Carter (1987) und Wallis (1984: 132-144). 28

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kritisches Behandeln von Neuen religiösen Bewegungen, das Widerlegen bestimmter Vorwürfe oder auch die Verwendung emischer Termini wird von seiten der Kritiker, aber auch der Medien, oft als Parteinahme für die sogenannten Sekten ausgelegt (vgl. Arweck 2006: 139; Baumann 1995).20

3 Beispiel I: OSHO Das vielleicht bekannteste Modell einer Neuen religiösen Gemeinschaft, die durch spezifische Kennzeichen von ihrer Umwelt abgegrenzt und weitgehend autark gemeinsam mit ihrem Gründer und Guru lebte, war die von Bhagwan gegründete Grosskommune in Rajneeshpuram in Oregon (USA).21 Hier lebten über vier Jahre hinweg bis zu zweitausend Neo-Sannyasin unter ihren neuen Sannyasin Namen, in orange-roter Kleidung und mit dem Bildnis Bhagwans in der Mala um ihren Hals. Nach ihrer durch die Konflikte mit dem Staat Oregon ausgelösten Auflösung im Jahr 198522 verkündete Bhagwan das Ende des erst kurz zuvor als »Religion« ausgerufenen Rajneeshismus und verbrannte dessen »bible of the Rajneesh« (vgl. Carter 1987: 152; Süss 2001: 2). Bhagwan, der sich nun Osho nannte, erklärte, die Sannyasins könnten ihre spezifischen äusserlichen Kennzeichen, orange-rote Kleidung, Mala und Namen ablegen und leitete eine zunehmende Deinstitutionalisierung ein, was zu einer starken Minimierung der organisatorischen Strukturen der

20 Wissenschaftlern wird vorgeworfen, das Leiden der Betroffenen nicht ausreichend zu berücksichtigen, Gefahren zu marginalisieren und nicht objektiv zu sein (vgl. Arweck 2006: 139). In diesem Rahmen wird zuweilen auch prinizipiell eine Berechtigung das Feld religionswissenschaftlich zu behandeln angezweifelt (vgl. Hemminger 1995: 71) So wirft Hemminger REMID (Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst) vor, dieser leide an einer Antihaltung gegenüber Sektenkritikern sowie einer Parteinahme für die Sekten, die mit wissenschaftlicher Neutralität nur schwer zu vereinbaren sei (vgl. Hemminger 1995: 71; Süss 1998: 312-314). 21 Rajneeshpuram umschloss ein Gebiet von ca. 250 Quadratkilometern. Ziel war der Aufbau einer alternativen Ordnung gegenüber der »Welt«, angefangen von der Sozialisation der Kinder inklusive der entsprechenden Bildungseinrichtungen bis hin zur wirtschaftlichen Autonomie. Die OshoGemeinschaft in Rajneeshpuram erfüllte genau das Bild dessen, was z.B. von Wilson als »sect« bezeichnet wird: Andere typische Beispiel sind die frühen Hare Krishna Selbstversorgerkommunen oder bis heute das Universelle Leben (UL). 22 Vgl. zu den Gründen des Scheiterns von Rajneeshpuram Carter (1987). 29

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Gemeinschaft führte (vgl. Süss 1996: 23).23 Mit diesen Entwicklungen schien das Ende der Bewegung gegeben zu sein (vgl. Carter 1987: 162). Tatsächlich erfüllte sich die Hoffnung mancher Sannyasins nicht, Rajneeshpuram könnte wieder aufgebaut werden und auch der von Bhagwan in Poona (Indien) gegründete Ashram, in welchem er von 1986 bis zu seinem Tod 1990 lebte, entwickelte sich nicht zu einer vergleichbaren Grosskommune.24 Ebenso lösten sich viele andere kleinere Institutionen und Kommunen der Osho Bewegung in anderen Ländern nach und nach auf.25 Die Zahl von Anhängern, die sich weiterhin auch nach seinem Tod einzig an Osho gebunden fühlen26 hat stark abgenommen (vgl. Süss 2001: 8). Verschwunden ist die Bewegung jedoch nicht. Es gibt sie noch, allerdings in anderen Formen als in den achtziger und neunziger Jahren. So finden sich nach wie vor Einrichtungen, die sich selbst mehr oder weniger eng an Osho anschliessen. Sie sind jedoch weniger gemeinschaftsorientiert, als dass sie spezifische Angebote offerieren, von eventartiger Freizeitgestaltung über als »spirituell« verstandene Anregungen27 bis hin zur Kombination mit weiteren in der Esoterikszene beliebten

23 Vgl. zu den Veränderungen nach der Auflösung von Rajneeshpuram und der folgenden De-institutionalisierung im Hinblick auf das Verhältnis der Bewohner zu Bhagwan Latkin/Sundberg/Littman/Katsikis/Hagan (1994). Zehn Jahre nach dem Ende von Rajneeshpuram bemerkt Joachim Süss, dass die Bewegung trotz des Scheiterns der Kommune keine bedeutenden Abgänge bei den Anhängern zu verzeichnen hat (vgl. Süss 1996: 21). 24 Der Tod Rajaneeshs im Jahr 1990 bedeutete jedoch nicht das Ende des Ashrams in Poona. Dieser wurde vielmehr in den folgenden Jahren noch weiter ausgebaut und zählt gemäss Süss mit mehreren 10’000 Besuchern im Jahr zu den »grossen spirituellen Wachstumszentren Asiens« (Süss 2001: 8). 25 So gab es um 1985 auch in der Schweiz eine Kommune und eine ganze Reihe von Zentren in Schweizer Städten. Die Kommune und die meisten Zentren existieren heute nicht mehr. Die international verstreuten Zentren arbeiten bis heute in institutioneller Unabhängigkeit zu Poona selbstständig auf nationaler bzw. lokaler Ebene weiter. 26 Nach Bhagwans Tod wurde kein Nachfolger als spiritueller Meister eingesetzt. 27 Auch innerhalb der Satsang-Szene existiert die Osho-Bewegung in der Person einiger Sannyasin weiter, die heute selbst als religiöse Meister auftreten ohne eine eigene Gemeinschaft zu gründen. Ein Beispiel ist hierfür Saajid, der sich sowohl in Rajneeshpuram als auch Poona aufhielt und von Osho eingeweiht wurde. »Saajid ist in Liebe mit OSHO, RAMANA MAHARSHI und den Meistern des ZEN verbunden.« (www.saajidsatsang.com/saajid.html, 17.11.08). Vgl. auch Rademacher in diesem Band. 30

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psychologisch- und medizinisch-therapeutischen Dienstleistungen.28 Hinzu kommt, dass die von Bhagwan eingeführten dynamischen Meditationstechniken heute auch in »vielen Workshops und psychosomatischen Kliniken ganz selbstverständlich praktiziert« werden und die Osho-Literatur sich derzeit als »Verkaufsschlager« von Verlagen wie z.B. Econ, Goldmann, Heyne erweist (vgl. Süss 2006: 95). Die Deinstitutionalisierung scheint damit die Möglichkeit der Diffusion in das Feld der gegen unmittelbare Bezahlung angebotenen Dienstleistungen eröffnet zu haben. Die Entwicklung ist damit weitaus komplexer, als dass man sie als einen blossen Schrumpfungsprozess beschreiben dürfte. Sie stellt vielmehr ein Beispiel für die Entwicklung von einer eher exklusiven Gemeinschaftsform hin zu einer Diffusion in die Gesellschaft dar.

4 Beispiel II: Transzendentale Meditation Die von Maharishi Mahesh Yogi (ca. 1918-2008) gegründete Transzendentale Meditation (TM) wird von Rothstein (2006: 25) als eine der grössten und öffentlich am meisten diskutierten religiösen Bewegungen der vergangenen 30 Jahren bezeichnet.29 TM war von Beginn an geprägt durch eine starke Schüler-Lehrer Struktur. Gemeinschaftliche Strukturen auf einer kollokalen Ebene fanden sich vor allem um Maharishi selbst bzw. während der intensiven Ausbildungsphasen von TM-Lehrern,30 die er von 1961 an ausbildete. Maharishi gründete international zahlreiche unter seinem Namen geführte Zentren und Institutionen,31 welche neben dem Erlernen der Meditationstechnik TM auch Heilpraktiken anbieten, die sich selbst in der Tradition des Ayurveda verorten. Neben diesen lokal orientierten Aktivitäten rief Maharishi mehrmals Projekte aus, deren Anspruch bzw. Zielsetzung jeweils die ganze Welt betrafen, wie z.B. die 1976 gegründete »Weltregierung des Zeitalters der Erleuchtung« oder der 1986 entworfene »Weltplan für die vollkommene Gesundheit«. 28 Die Palette reicht von Meditationen über Koch und Yoga-Kurse, ayurvedischen Massagen bis hin zu den Osho-Discos. 29 1967 wurde bekannt, dass auch die Beatles zu Maharishis Verehrern zählten, was ihn schlagartig sehr bekannt machte. Ab 1970 sollen die Anhängerzahlen um Maharishi »explosionsartig« angestiegen sein (vgl. Langel 1997: 1). 30 In diesen Phasen hielten sich die Lehrer gemeinsam in den entsprechenden Ausbildungszentren auf. 31 1962 gab es in der BRD bereits 18 TM-Zentren (vgl. Hemminger auf www.gemeindedienst.de/weltanschauung/texte/tm_struktur.htm, 15.11.2008). 31

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Pläne zur Befriedung und Heilung der Welt standen damit ebenso im Fokus wie die Überwindung von Naturgesetzen durch Meditation mit dem um 1980 herum propagierten »Sidhi-Programm«, in dessen Rahmen beispielsweise mit »yogischem Fliegen« die Schwerkraft ausser Kraft zu setzen versucht wurde. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Transzendentale Meditation also sehr stark ausdifferenziert und eine therapeutisch-medizinische,32 eine religiöse und sogar eine politische Dimension33 entwickelt. TM als Organisation in dieser Ausdifferenzierung war sehr früh nicht nur auf Gemeinschaft ausgerichtet, sondern auch auf spezialisierte Angebote für spezifische Bedürfnisse bzw. Probleme. Typisch für TM ist in allen Fällen das Bemühen sich in Lehre und Praxis als Wissenschaft zu positionieren.34 Der religiöse Charakter der Bewegung wurde damit von Anfang an diskutiert, v.a. im Hinblick auf ihre medizinisch-therapeutische Dimension. Maharishis Interesse TM als »Wissenschaft« und nicht als »Religion« zu besetzen, hing vermutlich auch mit seinem gescheiterten Versuch zusammen, TM in den USA im öffentlichen Bildungssystem zu verankern.35 Ihre offiziellen Vertreter sehen TM bis heute weder als Religion, noch als religiöse Bewegung (vgl. Rothstein 1996: 203, Fn. 9.), stattdessen wurde »science [...] introduced as a means for religious expression«, wie Rothstein (1996: 62) schreibt. Bereits seit 1963 wurde die Wissenschaftlichkeit und allgemeine technische Nutzbarkeit von TM gegenüber ihrer religiösen Bedeutung immer mehr in den Vordergrund gerückt. Woodrum sieht TM dementsprechend in einer Entwicklung von einer »other-worldly religion« hin zu einer »this-worldly religion« (Woodrum 1977).36 Im Zuge dieser

32 Der Aufbau ayurvedisch orientierter Kliniken oder Kurhäuser begann Mitte der achtziger Jahre. 33 1990 wurde in Deutschland von TM Anhängern die »Naturgesetzpartei« gegründet. 34 Maharishi gründete mehrere »Universitäten«, so die Maharishi International University MIU in Fairfield/USA und ihren europäischen Ableger die Maharishi European Research University MERU. Mikael Rothstein widmete 1996 der Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion bei TM und ISKCON eine eigene Monographie (Rothstein 1996). 35 Die TM-Bewegung versuchte damals, in den Unterrichtsbetrieb der staatlichen Schulen und Universitäten Eingang zu finden, was aufgrund der gesetzlichen Trennung von Religion und Staat unter religiös-spirituellem Vorzeichen nicht möglich war. 1978 verlor Maharishi einen Prozess in den USA, in welchem TM als religiös bezeichnet und daraufhin die Vermittlung von TM in öffentlichen Einrichtungen untersagt wurde (vgl. Melton 1986: 188). 36 TM war immer wieder auch im Fokus sozialwissenschaftlicher Aufmerksamkeit und wurde von Stone und Bellah als »Human Potential Move32

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Entwicklung wurde der hinduistische Hintergrund abgestritten und man verstand TM als allgemeingültiges Wissenssystem über die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Geistes und der Naturgesetze. In den letzten Jahren war TM nicht mehr in den Medien präsent und der Personenkreis ist kleiner geworden, welcher nicht nur sehr sporadisch Kontakt mit TM hat, sondern sich mit TM als Organisation identifiziert, aufgrund einer eigenen Ausbildung und Arbeit als TM-Lehrer oder -Lehrerin oder aber aufgrund der Tatsache, dass Maharishi als persönlicher Guru angesehen wird.37 Diese von Rothstein als »core-members« bezeichneten Personen »explicitly interpret their engagement with the group religiously« (Rothstein 1996: 34). Während die gemeinschaftlichen Strukturen stark an Bedeutung verloren haben, ist TM jedoch weiterhin erfolgreich mit seinen spezifischen Angeboten jenseits des religiösen Interpretationsrahmens, mit Meditationskursen und ayurvedischen Behandlungen, die über die Zentren der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.

5 Faktoren des Wandels 5.1 Innerer Wandel Während in Religionswissenschaft und -soziologie die hier diskutierte Veränderung der gesellschaftlichen Verortung des gesamten Feldes der Neuen religiösen Bewegungen bisher eher wenig diskutiert wurde, findet sich eine lange Auseinandersetzung mit der Frage der Entwicklung religiöser Gemeinschaften in Bezug auf innere Veränderungen. Als Beispiel können die Ausführungen Webers zu Charisma und seiner Veralltäglichung (vgl. Weber 1972: 654-687), die Beschreibung des Prozesses der Denominationalisierung bei Wilson (1990), organisationelle Konsoment« bezeichnet (Rothstein 1996: 25, Stone 1976: 93; Bellah 1976: 346). Wallis rechnete sie in seiner Einteilung der Neuen religiösen Bewegungen unter die Bewegungen, die er als »world-affirming« klassifiziert (vgl. Wallis 1984: 21). 37 Vgl. auch Hemminger (www.gemeindedienst.de/weltanschauung/texte/tm_struktur.htm, 15. 11. 2008). Es gibt für TM im deutschsprachigen Raum keinerlei verlässliche Angaben über die Anzahl der aktiven TMLehrer und Praktizierenden. Hummel nennt im »Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen« (Baer/Gasper/Müller 2005), allerdings ohne eindeutige Quellenangabe, ca. 100’000 Anhänger für Deutschland (Hummel 2005: 1314). Beckford hat bereits für die siebziger und achtziger Jahre darauf hingewiesen, wie unterschiedlich die Zahlenangaben im deutschen Bereich ausfallen (vgl. Beckford 1985: 250). 33

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lidierung gemäss Melton (1995) oder die Zusammenstellung von Determinanten des Wandels bei Barker und Mayer (1995) genannt werden. Einigkeit unter den Autoren besteht bezüglich der Relevanz der Entwicklung von Führerfigur(en) religiöser Gemeinschaften, wobei insbesondere deren Ableben zu entscheidenden Veränderungen führen kann. Ebenso wurde der Wandel charismatischer Autorität in andere Formen, die beispielsweise durch stärkere Gewichtung zweckrationaler oder traditionaler Aspekte charakterisiert sind, beobachtet. Gerade durch die geringe Grösse Neuer religiöser Gemeinschaften dürften innere Probleme wie Uneinigkeiten, Todesfälle und Austritte grosse Bedeutung für die gesamte Gruppe haben (vgl. Bruce 1999: 148). Viele der Gründerfiguren von Neuen religiösen Bewegungen, die in den sechziger Jahren entstanden waren, starben spätestens in den neunziger Jahren, eine Tatsache, die für die inneren Entwicklungen der betreffenden Neuen religiösen Bewegungen wie auch für ihren Bezug zur Umwelt eine entscheidende Rolle spielte. Diese Beobachtung erklärt jedoch nicht, warum kaum neue Gemeinschaften in die Fussstapfen der alten traten.

5.2 Vergesellschaftung, funktionale Differenzierung und religiöse Autorität Der gesellschaftliche Wandel, der als zentraler Faktor für die hier vorgeschlagene These gesehen wird, kann den vorangegangenen begrifflichen Überlegungen folgend als Vergesellschaftung bezeichnet werden. Dies erlaubt den Anschluss an vor allem von englischen Religionssoziologen geprägte Säkularisierungstheorien, in denen Vergesellschaftung, als »societalization« übersetzt,38 einen zentralen Stellenwert einnimmt (vgl. z.B. Bruce 2001). Säkularisierung wird dabei als Prozess verstanden, in welchem Religion ihre soziale Relevanz verliert (vgl. z.B. Wilson 1990: 122). So stellt Wilson im direkten Anschluss an Tönnies fest: »The course of social development that has come, in recent times, to make the society, and not the community, the primary focus of the individual’s life has shorn religion of its erstwhile function in the maintenance of social order and as a source of social knowledge« (Wilson 1982: 155).

38 Der Begriff ist gemäss Heran (1991: 620) aus der Beschäftigung des amerikanischen Soziologen Theodore Abel mit Georg Simmel entstanden, wobei Abel »gesellschaftlich« mit »societal« und »Vergesellschaftung« mit »societalization« übersetzt habe. Die Kritik Herans an den davon ausgehenden englischen und französischen Begriffsbildungen kann hier durch Rückgriff auf das deutsche Original umgangen werden. 34

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Daraus zieht Wilson nicht den Schluss, dass Religion gänzlich verschwindet, sondern dass sie ihre übergeordnete Rolle, die ihr in früheren Perioden zugekommen sei, einbüsst. Sowohl auf der Ebene von Individuen als auch in religiösen Organisationen findet sich nach wie vor Religion, ihre Bedeutung ist jedoch auf spezifische Ausschnitte des sozialen Lebens beschränkt. An diese Theorie der Vergesellschaftung lässt sich mit derjenigen funktionaler Differenzierung anschliessen. Diese bezeichnet die primäre Differenzierungsform moderner Gesellschaften in ungleichartige aber gleichrangige Teile (z.B. Politik, Wirtschaft, Religion), die im Gegensatz zur Differenzierung in Clans oder Klassen quer durch Familien und Einzelpersonen hindurch verläuft. In den einzelnen Teilsystemen entwickeln sich jeweils spezifische Arten der Kommunikation, die nicht ineinander übersetzt werden können. Damit kann kein Teilsystem eine Rolle als Dach sämtlicher Kommunikationen, d.h. der Gesellschaft, einnehmen (vgl. Luhmann 1998: 743-788). Wirtschaftliche, politische, rechtliche und erzieherische Prozesse können religiös zwar beobachtet werden, die Beobachtung bleibt jedoch Kommentar (vgl. Luhmann 2002: 285; ähnlich: Luckmann 1990: 125-126). Religion wird dadurch zu einer Art des Kommunizierens neben anderen. Die Integration verschiedener Lebensbereiche unter dem religiösen Baldachin einer Gemeinschaft wird unwahrscheinlich. Zusätzlich zu dieser Ausdifferenzierung trägt eine gleichzeitig wachsende Diversität religiöser Möglichkeiten dazu bei, die Selektivität bestimmter Zugehörigkeiten im Sinne einer Entscheidung von Individuen sichtbar zu machen (vgl. Bruce 1999: 19). Zugehörigkeiten dürften dadurch an Stabilität verloren haben, vor allem dort, wo sie traditionell verankert und durch den Lebenskontext in hohem Masse vorbestimmt waren. Als empirischer Beleg kann die wachsende Zahl der Konfessionslosen in westlichen Gesellschaften gesehen werden. Mark Chaves (1994) schlägt vor, Säkularisierung in erster Linie als Rückgang religiöser Autorität zu verstehen. Dieser Rückgang bestehe auf gesellschaftlicher und organisatorischer Ebene unter anderem in einer Einschränkung religiöser Autorität auf wenige Bereiche der Gesellschaft aufgrund zunehmender funktionaler Differenzierung, wobei sich auf der Ebene des Individuums ein Rückgang der religiösen Bestimmung des Alltages feststellen lasse. Von diesen gesamtgesellschaftlichen Prozessen sind nicht nur die Kirchen, sondern genauso auch Neue religiöse Bewegungen betroffen. Auf Neue religiöse Bewegungen, die auf ein hohes Mass an Autorität setzen müssen, um angesichts der Spezifität ihrer Religion in einer funktional differenzierten und religiös pluralen

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Gesellschaft gemeinschaftliche Formen bewahren zu können, trifft dies in besonderem Masse zu. Während in den vorliegenden Überlegungen an das Verständnis von Vergesellschaftung von Wilson angeschlossen wird, soll hier Religion nicht wie bei ihm als »ideology of community« gefasst werden, da dies die Suche nach neuen Sozialformen der Religion unmöglich machen würde. Religion findet sich auch in von bestimmten Institutionen oder Gruppierungen losgelösten Formen, wie die bereits zitierten quantitativen Erhebungen zeigen und beispielsweise von Dobbelaere (1999) als »Sociocultural Christianity« bezeichnet werden. Auch Neue religiöse Bewegungen können ausserhalb gemeinschaftlicher Strukturen in spezifischeren, eben »gesellschaftlichen« Austauschprozessen bestehen. Diese sind zudem nicht gänzlich diffus, sondern ihrerseits durch professionelle Akteure und Anbieter/KundenBeziehungen geprägt. Merkmale dieser sozialen Form von Religion werden im folgenden Kapitel näher erläutert.

6. Neue Formen Neuer religiöser Bewegungen 6.1 Individualisierung Von Individualisierung kann einerseits auf der Ebene der Struktur, andererseits auf der Ebene von Semantik und Deutungen gesprochen werden (vgl. Wohlrab-Sahr 1997: 34). Im Rahmen dieses Prozesses der strukturellen Individualisierung werden Individuen von der Determinierung durch soziostrukturelle Vorgaben gelöst, wodurch sie selbst zunehmend Träger von Entscheidungen werden. Durch diesen Prozess ist Religionszugehörigkeit in der westlichen Welt immer weniger durch Herkunft determiniert und wird Gegenstand revidierbarer individueller Entscheidungen. Faktoren wie Familie und Erziehung dürften zwar die Religionszugehörigkeit weiterhin stark beeinflussen und längst nicht alle Menschen revidieren ihre Religiosität selbst immer wieder aufs Neue. Bedeutsam bleibt jedoch, dass es legitim ist, sich jederzeit für oder gegen eine Religionszugehörigkeit oder religiöse Praxis zu entscheiden. Die oft als Eigenschaft von Moderne identifizierte Reflexivität findet sich auch im Bereich von Religion, indem religiöse Bindungen beobachtet und dabei die Möglichkeit, dass sie auch anders aussehen könnten, mitbedacht wird. »Bindung ist ›commitment‹ geworden,« schliesst Luhmann (2002: 292). Religiosität wird nicht mehr aus der Natur, sondern aus der Biographie der Menschen begründet. Vor dem Hintergrund funktionaler Differenzierung sind Individuen zwangsweise in verschiedene Teilsy36

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steme (z.B. Schule, Religion, Politik) involviert und stellen dabei – wie sich mit Simmel (1908) sagen lässt – exklusive Kreuzungspunkte ihrer jeweiligen Konfiguration von Teilnahmen dar, wobei Religion nur ein Bezug neben anderen darstellt. Diese strukturelle Bedeutung des Individuums in der Moderne findet ihre Entsprechung darin, dass auch auf der Ebene religiöser Themen das Subjekt im Zentrum steht, was an der Betonung religiöser Erfahrung zu erkennen ist (vgl. z.B. Hochschild 1998: 70-74; Knoblauch 2005; Knoblauch und Walthert in diesem Band). Über die wachsende Beobachtung von Biographien als Sequenz religiösen Erlebens und Entscheidens das Individuum und seine Lebensgeschichte zum Bezugspunkt und Thema von Religiosität (vgl. Nassehi 1995: 115). Im Anschluss an Luckmann und Knoblauch lässt sich dieser Aspekt der Individualisierung als Subjektivierung von Religion bezeichnen. Mit dieser Verschiebung der religiösen Themen auf die Person, ihre Realisierung und Autonomie, schrumpfe, so Luckmann (1990: 138), die Reichweite der Transzendierungen.39 Von gesellschaftlicher Individualisierung und semantischer Subjektivierung aus- und darüber hinaus gehend, ist die Frage nach Position und Funktion des Individuums innerhalb der jeweiligen Sozialform von Religion zu stellen. Gemeinschaft und Institutionen können auch für die subjektivierte Religion in einer individualisierten Gesellschaft eine zentrale Rolle spielen, wie das Aufkommen von Neuen religiösen Bewegungen in der Form von Gemeinschaften oder die zunehmende Betonung individuellen religiösen Erlebens in evangelikalen Bewegungen, die sich durch starken Bezug zur jeweiligen Kongregation auszeichnen, zeigen. Hervieu-Léger (2004) folgend, kann zwischen vier verschiedenen Formen, wie religiöser Glaube Gültigkeit erlangt, unterschieden werden, wovon zwei für die Frage nach Individualisierung und Subjektivierung in Neuen religiösen Bewegungen besonders bedeutsam sind: Einerseits ist dies die gemeinschaftliche Glaubensvalidation, die meist als »deviante Form« religiöser Zugehörigkeit gilt. Individualisierung stellt für die Verbreitung von Neuen religiösen Bewegungen in dieser Form eine unverzichtbare Rahmenbedingung dar. Während verschiedene religiöse Praktiken nebeneinander bestehen können, stellt exklusiv verstandene Mitgliedschaft zu einer Religionsgemeinschaft eine Absage an andere Zugehörigkeiten dar. Die Legitimität individuell gesteuerter Mobilität ist unabdingbar für die Möglichkeit der Abwendung

39 Freilich orientiert sich darüber hinaus das Verhältnis zwischen phänomenologischer und systemtheoretischer deutscher Religionssoziologie vor allem an Widersprüchen (vgl. z.B. Nassehi, Saake 2004). 37

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von einem Herkunftskontext hin zu einer Neuen religiösen Gemeinschaft.40 Auch in Neuen religiösen Gemeinschaften ist eine Subjektivierung von Glaubensinhalten zu beobachten, die zentrale Suche nach individueller Erlösung ist dabei jedoch an die Gemeinschaft gebunden. Gerade in Gemeinschaften, in denen sich charismatische Führerfiguren finden – und je stärker sich die Form ihrer Herrschaft diesem Idealtypus nähert, desto umfassender ist ihre Herrschaft (vgl. Schluchter 1988: 548) – stellen diese die Referenzpunkte für die Richtigkeit des persönlichen Glaubens dar. Damit ist das Subjekt zwar Gegenstand, aber nicht Quelle von Legitimation für eine bestimmte Art von Religiosität. Diese gründet sich in der Kohärenz der Gemeinschaft (vgl. Hervieu-Léger 2004: 130). Die Möglichkeit zur Individualität mündet dabei in eine Entscheidung für eine exklusive Mitgliedschaft, deren Verbindlichkeit sich auch auf nachfolgende Generationen ausdehnen kann. Die Freiheit der Entscheidung für eine Gemeinschaftszugehörigkeit ist gerade auch eine Freiheit zur Einschränkung künftiger Entscheidungsmöglichkeiten. In der Gesellschaft wird damit das ermöglicht, was Bruce (1999: 130) als Paradoxie des Pluralismus bezeichnet. Gemeinschaftliche Glaubensvalidation über Neue religiöse Bewegungen ist quantitativ gesehen nie bedeutend geworden. Wie Beobachtungen in der Schweiz zeigen, scheinen abgesonderte, exklusive Gemeinschaften sinkenden Erfolg zu haben, insofern dieser an der Anzahl Anhänger messbar ist. Auch das freikirchliche Milieu scheint zahlenmässig kaum gewachsen zu sein. Das Feld der Neuen religiösen Bewegungen scheint hingegen zunehmend durch die Form geprägt, die Hervieu-Léger (2004: 126-127) als wechselseitige Glaubensvalidation bezeichnet: Auch stark individualisierte religiös Suchende sind an Austausch mit Gleichgesinnten interessiert. Durch das Ausbleiben fester Bindungen an bestimmte Organisationen oder Gruppierungen steigt der Stellenwert von durch Tausch und lose Koordination geprägten Beziehungen, was wiederum Kopplungen an andere Beziehungen erlaubt: So findet sich wechselseitige Glaubensvalidation in Kursen, die in esoterischen Buchhandlungen eingemietet sind genauso wie in Form von Veranstaltungen, die in der Infrastruktur 40 Die Kritik an den Neuen religiösen Bewegungen zeigt einerseits die Grenzen dieser Akzeptanz: Angehörige und etablierte Religionsgemeinschaften wollten etwas gegen die Entscheidungen vor allem junger Menschen zu bestimmten religiösen Zugehörigkeiten unternehmen. Gleichzeitig lassen sich dabei auch die Grenzen diesbezüglicher Kritik erkennen, so wurden diese Entscheidungen nicht als solche mündiger Menschen kritisiert, sondern es wurde auf manipulative Praktiken wie Gehirnwäsche verwiesen, welche die Individuen gerade in ihrer Entscheidungsfähigkeit behindert hätten. 38

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von Kirchgemeinden durchgeführt werden. Teilnahme erfolgt in beiden Fällen aufgrund individuellen Interesses. Durch Konsum von Kulturgütern wie Büchern, Filmen oder Zeitschriften wird die individuelle Suche gestützt. Trotz »Netzwerkbildung« bleibt beim Austausch einziges akzeptiertes Kriterium die Authentizität der individuellen Suche. Dabei steht mit dem Individuum in der wechselseitigen Glaubensvalidation eine gleichzeitig sehr konkrete und hinreichend offene Figur im Zentrum. Form (Individuum) und Inhalt (Subjekt) können in eine Deckung gebracht werden, die in anderen Modellen nicht möglich ist: Der kirchliche Anspruch auf umfassende Zuständigkeit für die Gesellschaft wirkt aufgrund funktionaler Differenzierung und religiöser Diversität wenig plausibel, während der übergreifende Anspruch der klein gebliebenen Gemeinschaften damit kontrastiert wird, dass es sich bei diesen um eine offensichtlich begrenzte und als abweichend beurteilte Angelegenheit handelt.

6.2 Weltbejahung Bis in die achtziger Jahre wurden Neue religiöse Bewegungen als Gegenentwürfe zur breiteren gesellschaftlichen Ordnung gesehen, was auch ihrer eigenen Wahrnehmung entsprach (vgl. Abschnitt 2.2). Gemeinschaftliche Abschottung zur »Welt«41 ist jedoch immer stärker zur Ausnahme geworden. Allerdings dürften die meisten Gemeinschaften ohnehin nie ganz um eine Involvierung in weltliche Angelegenheiten herum gekommen sein. Neu ist jedoch die betonte Öffnung von Strukturen und Inhalten der gesellschaftlichen Umgebung gegenüber, bis hin zu ihrer positiven Bewertung. Die Bejahung der bestehenden Ordnung, in Kombination mit der Wichtigkeit des Erreichens individueller Ziele und dem primären Bezug auf die Person nähert heutige Neue religiöse Bewegungen Wallis’ Typ der »weltbejahenden« (world-affirming) Religionen an (vgl. Wallis 1984; Dobbelaere 1999: 235). Diese Hinwendung zur Verbesserung von Individuum und Welt ist auch den zwei getrennten Strömungen Evangelikalismus und New Age gemeinsam (vgl. Dawson 1998). In der New Age-Bewegung lässt sie sich an der Zunahme der Bedeutung des »Prosperity Wings« beobachten (vgl. Heelas 1996) und im Evangelikalismus findet sich eine solche Bejahung der Welt bereits im Rückgriff auf Formen weltlicher Unterhaltung und die positive Bewertung wirtschaftlichen Handelns (vgl. Shibley 1998; Walthert in diesem Band).

41 Mit »Welt« soll hier die Menge der gesellschaftlichen Beziehungen bezeichnet werden (vgl. Weber 1972: 328). 39

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Mit Entwicklung weg vom Typ der Sekte scheint eine zunehmende Ablehnung von Dualismen wie Diesseits/Jenseits, gut/böse oder erlöst/nicht-erlöst und damit verbundener Weltbejahung einherzugehen (vgl. Dawson 1998), was in der Verbreitung von Konzepten wie Ganzheitlichkeit und Reinkarnation zu erkennen ist.42 Vor allem die zunehmende Popularität von Letzterem ist aufschlussreich: In der westlichen, weltbejahenden Zuspitzung ist der Reinkarnationskreislauf nichts mehr, dem es zu entrinnen gilt. Vielmehr scheint es sich um eine Bestätigung des irdischen Lebens über den Tod hinaus zu handeln, in welcher das Jenseits ins Diesseits verlegt wird (vgl. Clarke 1997: xviii-xix). Auch traditionell stärker gemeinschaftlich orientierte Neue religiöse Bewegungen nähern sich zunehmend der Gesellschaft an, so in ihrem Selbstverständnis der Wissenschaft, wie anhand von TM bereits gezeigt wurde und es – freilich in anderer Zuspitzung – auch bei ISKCON und Kfuku no kagaku zu beobachten ist (vgl. Neubert und Winter in diesem Band).

6.3 Bewegung Auf Neue religiöse Bewegungen in gemeinschaftlicher Form passt das Bild der Bewegung, wenn dabei an ein soziologisches Bewegungsverständnis, das schwach institutionalisiertes Anstreben eines geteilten Interesses durch darüber hinaus nur lose miteinander assoziierte Akteure bezeichnet (z.B. Giddens 1995: 680), nicht. Zu ihrer soziologischen Fassung besser geeignet ist Webers Idealtypus der Sekte, wobei sich Neue religiöse Bewegungen durch die Tendenz der Vergesellschaftlichung von diesem Typus entfernen. Das Feld scheint sich damit in Richtung dessen zu verschieben, was Troeltsch als »Spiritualismus« oder »Enthusiasmus und Mystik« bezeichnete.43 Dabei handelt es sich gemäss Troeltsch um einen »radikalen, gemeinschaftslosen Individualismus«, woraus er schliesst: »Keine Kultgemeinschaft, keine Organisation braucht hieraus hervorzugehen« (Troeltsch 2003 [1911]: 216). Die vorhandenen sozialen Beziehungen mit Gleichgesinnten beziehen sich auf die gemeinsamen spezifischen

42 Die Rede von der »Ganzheitlichkeit« (wholeness) als radikalen Protest gegen Werte und Perspektiven der Moderne zu sehen (vgl. Roof 1998: 216), scheint wenig plausibel, da, wie Roof selbst betont, die Welt mit Konzepten wie Ganzheitlichkeit nicht in einem dualen Schema verworfen wird und stattdessen die Verbesserung der Befindlichkeit in ihr angestrebt wird. 43 Troeltschs Begrifflichkeit wurde immer wieder für die Charakterisierung moderner Religiosität herangezogen (vgl. z.B. Swatos 1981; HervieuLéger 2004; Knoblauch 2005). 40

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religiösen Überzeugungen, wobei der soziale Aspekt immer hinter die »Unmittelbarkeit, Gegenwärtigkeit und Innerlichkeit des religiösen Erlebnisses« zurücktritt, welche »Überlieferungen, Kulte und Institutionen« überspringt (Troeltsch 2003 [1911]: 214). Die mystischen und spirituellen Bewegungen drängten »[...] nicht auf ein Verhältnis von Mensch zu Mensch, sondern auf ein Verhältnis zu Gott« (Troeltsch 1919 [1912]: 864). Dies wiederum ermögliche ein hohes Mass an Toleranz in einer solchen Bewegung, die auch mit anderweitigen Zugehörigkeiten vereinbar sei. Was Troeltsch als »positiven soziologischen Charakter« identifiziert, kommt der eben geschilderten wechselseitigen Glaubensvalidierung nahe, genauso wie seine eben skizzierte Fassung bestimmter protestantischer Strömungen auf die Formen zutrifft, die Neue religiöse Bewegungen immer stärker annehmen. Die schwache und dezentrale Institutionalisierung, die nicht auf exklusiver Zugehörigkeit, sondern auf loser und vorübergehender Verbindung durch ähnliche religiöse Interessen basiert, führt zu einem hohen Mass an Volatilität (vgl. Luckmann 2002: 291). Dadurch hat das Feld der Neuen religiösen Bewegungen heute stärker den Charakter einer Bewegung als in früheren, durch geschlossenere Formen geprägten Phasen. Der Vergleich von Neuen religiösen Bewegungen mit sozialen Bewegungen im herkömmlichen soziologischen Sinn scheint jedoch weiterhin wenig sinnvoll, da im Fall der Neuen religiösen Bewegungen nicht wie in der Anti-Atomkraftbewegung oder der Frauenbewegung die Verfolgung kollektiver Ziele angestrebt wird. Aktuelle Vorschläge, die hier beschriebene Form von Religion zu fassen, so der »Pilger« (Hervieu-Léger) oder der »spirituelle Wanderer« von Bochinger et al. (vgl. Gebhardt/Engelbrecht/Bochinger 2005) aber auch die Rede vom »religiösen Markt« sind jedoch ihrerseits stark mit Bewegung assoziierte Begrifflichkeiten. Das allgemeine Bild von Bewegung scheint dabei die Mobilität dieser Formen von Religion gut zu fassen. Gerade die häufige Verwendung des Begriffes »Spiritualität« auf der Objektebene als Gegenbegriff zu institutionell vorgegebener, als starr empfundener »Religion« zeigt an, dass individuelle religiöse Beweglichkeit zu einem Wert im Feld geworden ist. Die individuelle und revidierbare Entscheidung wird als legitimer Weg zur Authentizität gesehen.

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7 Beispiel III: New Age Die Form der wechselseitigen Glaubensvalidation und die Merkmale der Troeltschen »spirituellen Bewegungen« finden sich im sogenannten New Age (vgl. auch Knoblauch in diesem Band).44 »New Age« war als Selbstbezeichnung bis in die achtziger Jahre hinein gebräuchlich. Es umfasste das heterogene Feld einer im Kontext der Hippiebewegung entstandenen Protestbewegung und Gegenkultur der siebziger Jahre, die sich vor allem in den Anfängen mit dem Paradigma eines neuen Zeitalters identifizierte bis hin zu stark kommerzialisierten Medienangeboten der achtziger Jahre.45 Diese in sich sehr heterogenen Angebote, Gruppen und Individuen können als ein Netzwerk unterschiedlichster Formen einer »alternativen« Spiritualität verstanden werden, ein »buzzing hive of virtuosic individualists«, wie Sutcliffe schreibt (vgl. Sutcliffe 2003: 196). Etablierte religiöse Institutionen werden in diesem Feld meist abgelehnt und die Abkehr von einer nach-aufklärerischen Rationalität propagiert. Statt intersubjektiver Überprüfbarkeit, Tradition oder Institution wird die unmittelbare, subjektive und oft als aussergewöhnlich deklarierte Erfahrung zum Garanten von »Wahrheit« (vgl. Knoblauch 1997: 183). Paul Heelas sieht als das gemeinsame Merkmal den Fokus auf dem als »sacred« bestimmten Selbst. Die Verantwortung und Potenz für die eigene spirituelle Entwicklung wird damit in das einzelne Indivi-

44 Diesem Bereich wurde in religionswissenschaftlicher und -soziologischer Forschung auch eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil. Vgl. z.B. die Monographien von Knoblauch (1989) Bochinger (1994), Hanegraaff (1996), Heelas (1996), Mayer (1989). Zum Überblick siehe Iwersen (1999). Sieht man den Höhepunkt des New Age mit der Selbstbezeichnung als »New Age« einhergehen, so ist es in den achtziger Jahren zu verorten. Als emischer Begriff wurde New Age danach aufgegeben. Vgl. insbesondere zur Selbstbezeichnung in den frühen Jahren Sutcliffe (2003: 107-115; ab den siebziger Jahren: 122-130). Für eine ausführlichere Diskussion siehe auch die folgenden Kapitel bei Sutcliffe. Zum »Ende« dieser Selbstbezeichnung siehe: 195ff. Für die Begriffsbestimmung von New Age siehe Heelas (1996: 15-28) und Bochinger (1994: 515-527). 45 Während in den Anfängen, die zum Teil bereits in den sechziger Jahren gesehen werden, die Bewegung vor allem von jungen Erwachsenen getragen wurde, politisch geprägt war und psychedelische Drogen als Mittel der Bewusstseinserweiterung eingesetzt wurden, war die Bewegung in den Achtzigern weniger politisiert, generationenübergreifend und spirituelle Techniken übernahmen die Rolle der Drogenerfahrungen (vgl. Hanegraaff 1996: 10–12). Statt eines Kanons gemeinsamer Lehren, Praktiken und übergreifender Institutionen, lassen sich nur einige ideengeschichtliche Kontinuitäten feststellen (vgl. Stuckrad 2004: 228). Nach Christoph Bochinger (1994) ist New Age eher eine Marketingstrategie von Verlagen und Publikationen als eine soziale Bewegung. 42

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duum gelegt und dementsprechend ist die wechselseitige Glaubensvalidation die adäquate Form der (gegenseitigen) Versicherung. Statt gemeinschaftlicher Bindungen finden sich hier nun gesellschaftliche. Die sozialen Beziehungen werden unter dem Gesichtspunkt spezifischer Ziele und Austauschprozesse gesehen und es geht um wertoder zweckrational motivierten Interessenausgleich bzw. ebensolche Interessenverbindungen (vgl. Weber 1972: 21). Damit werden diese Beziehungen häufig über das Medium Geld geregelt und die Rede vom religösen Markt mit Anbietern und Kunden liegt nahe (vgl. Rademacher in diesem Band). Die »unsichtbare Religion« des New Age wird hier sichtbar an den Orten ihrer Vermittlung und Praxis, in Buchhandlungen und Bioläden, mit Kurs- und Vortragsprogrammen, den therapeutischen Angeboten der Komplementärmedizin und in Internetforen. Die als Säkularisierung bezeichneten Entwicklungen der Moderne haben mit dem New Age, wie Walter Hanegraaff feststellt, einen ganz neuen Typus von Religion hervorgebracht (vgl. Hanegraaff 2000: 312), einen Typus der den Bedingungen einer säkularisierten Gesellschaft über die Individualisierung hinaus angepasst ist. 46 Möglich ist dies unter anderem durch die Lösung von einer strikten Selbst-Zuordnung als »religiös«, was den Einzug der entsprechenden Angebote in religiös neutrale Bereiche der Gesellschaft erlaubt (vgl. Knoblauch 2002: 299 und in diesem Band). Eng mit diesem Feld und seiner Loslösung vom Bereich der »Religion« ist der Begriff Spiritualität bzw. spirituell verbunden. Dieser wird im Feld als positiv konnotierter Begriff verwendet,47 häufig in Abgrenzung zum Religionsbegriff. Was mit Letzterem verbunden wird, nämlich klare Abgrenzung von Mitgliedschaft, Lehrmeinungen und Praktiken gegenüber anderen und damit einhergehende Absolutheits- und Exklusivitätsansprüche, Institutionalisierung und Ausserweltlichkeit werden im emischen Verständnis von Spiritualität ausgenommen. Dabei oszilliert dieser Begriff zwischen einem Verständnis von etwas, das sich prinzipiell auf alle Lebensbereiche beziehen lässt und das zugleich eine eigene Qualität besitzt. Spiritualität bzw. spirituell sein bezeichnet nicht den Verweis auf eine spezifische Lehre oder Praxis, sondern eine Perspektive, welche »Ganzheit-

46 Der unvermittelte monetäre Austausch zwischen Individuen im Bereich der Religion ist allerdings im europäisch-christlichen Kontext nicht neu und erst im Zuge gesellschaftlicher Differenzierung in Verruf geraten. Ebenso ist diese ökonomische Regelung von Religion in aussereuropäischen Kontexten wie z.B. im Bereich der rituellen Dienstleistungen in indischen, chinesischen oder japanischen Tempeln selbstverständlich. 47 Im Gegensatz zu den Begriffen New Age und Esoterik, die inzwischen eine negative Konnotation besitzen. 43

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lichkeit« und ein tieferes, über das Materielle, Kommerzielle oder auch rein Pragmatische hinausgehendes Verständnis beansprucht, das sich in einer »spirituellen« Einstellung gegenüber der Welt ausdrückt. Der Begriff ist damit nicht gemeinschaftsorientiert, sondern fokussiert das Individuum in seinem erfahrungsorientierten Zugriff auf die Welt. Der Verzicht auf das Label »religiös« und die oben angedeutete Konnotation des stattdessen verwendeten Begriffs »spirituell« erlaubte den Anschluss an säkulare Bereiche, wie den der Medizin oder der Wirtschaft. Unterstützt wurde dies ebenfalls durch die implizierte lockere Bindung zwischen Praxis und Lehre, welche zudem Rezeptionen des einen Bereichs ohne den anderen erlaubte und auch das Ausbleiben von Gemeinschaft ermöglichte ein hohes Mass an Flexibilität.48 So kann das New Age mit seiner Präsenz in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen als eine die funktionale Differenzierung durchbrechende soziale Bewegung gesehen werden.

8 Schluss Die Eigenschaften von Gemeinschaften oder Sekten im soziologischen Sinne treffen auf Neue religiöse Bewegungen immer weniger zu. Soziale Beziehungen treten an ihre Stelle, welche wesentlich auf spezifischem Tausch basieren und in denen nicht die Bildung eines Zeit und Situation überschreitenden sozialen Zusammenhanges im Vordergrund steht. Als relevanter Aspekt in dieser Entwicklung kann die semantische und strukturelle Bedeutung des Individuums im Feld identifiziert werden. Der Bezug auf das Individuum gibt breitere gesellschaftliche Entwicklungen wieder, bestätigt und verstärkt sie. Angesichts der beobachteten Entwicklungen unter denen die strukturelle Individualisierung einen zentralen Stellenwert einnimmt und gemeinschaftliche Formen abnehmen, kann dennoch nicht von einer »Vereinsamung« des Individuums die Rede sein. Vielmehr dürfte sich die Zahl seiner sozialen Beziehungen durch die Vergesellschaftung und die damit bedingte Bewegung auch im Bereich der Religion eher vervielfachen als reduzieren. Die Transformation des Feldes hin zu den im Vorangegangen skizzierten Formen fluider Religion zeigt, dass nicht die Gegenentwürfe zur modernen Gesellschaft sich durchgesetzt haben, sondern Lehren und Praktiken, die sich mit den Strukturen moderner Gesellschaften kompatibel und inhaltlich anschlussfähig erwiesen. Die Beziehung zu dieser

48 Autoren wie Knoblauch, Clark oder Mayer verweisen auf die Diffusion von Angeboten aus dem Bereich des New Age in die Gesellschaft. 44

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Gesellschaft und dem Leben in der bestehenden Ordnung findet auf der Ebene der Inhalte von Neuen religiösen Bewegungen eine zunehmend positive Wertung. Als Reaktion auf die Moderne sind Neue religiöse Bewegungen damit nicht zwingenderweise ausserweltlich ausgerichtet und die hier vorgestellten Formen bilden keine Fluchtsphären in der Moderne. Die Neuen religiösen Bewegungen sind durch ihren Wandel gesellschaftlich akzeptierter und kompatibler mit säkularen Bereichen des Sozialen geworden. Das hat zur Folge, dass diese Formen von Religion an den verschiedensten Orten anzutreffen sind, auch wenn dadurch die funktionale Differenzierung der Gesellschaft nicht aufgehoben wird. So wird weder die pharmazeutische Wissenschaft auf über Ganzheitlichkeit argumentierende religiöse Argumentationen hören, noch wird die Homöopathie auf empirische Überprüfungen nach naturwissenschaftlichen Kriterien reagieren. Zugleich sind diese Formen von Religion mit den wirtschaftlichen Bedingungen der Gesellschaft kompatibel bzw. an ihnen orientiert: Offeriert wird ein relativ spezifisches Angebot, das einen bestimmten Preis hat und im Feld finden sich Unternehmen, die Steuern zahlen, mit Gewinnorientierung wirtschaften und sich dementsprechend auch nach einem Markt ausrichten. Mit dem Prozess der Diffusion in gesellschaftliche Strukturen ist sowohl die gesellschaftliche Wahrnehmung,49 als auch die wissenschaftliche Abgrenzbarkeit der Neuen religiösen Bewegungen geringer geworden. Im Feld selbst wird der Begriff »Religion« oft mit Exklusivität, Abgrenzung und Unbeweglichkeit assoziiert und durch die inklusiv konzipierten Begriffe »Spiritualität« und »Ganzheitlichkeit« ersetzt. Auf der wissenschaftlichen Seite muss die Bindung des Religionsverständnisses an bestimmte Sozialformen aufgegeben werden, da sie den Blick für diesen Wandel einschränken würde. Während die wissenschaftliche Beobachtung durch die zunehmende Fluidität des Untersuchungsgegenstandes verkompliziert wird, steigt gleichzeitig seine Verwobenheit mit dem Kontext und damit seine Relevanz.

49 Während, so Bryan Wilson, gerade die Abschottung von der Gesellschaft die Wahrnehmung und Kritik durch diese verstärken kann (vgl. Wilson 1990). 45

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Religious Studies, Religionswissenschaft, the Sociology of Religion, and the Study of New Religious Movements ELISABETH ARWECK

1 Introduction Contrary to the brief for this contribution, which was to provide an introduction to New Religious Movements (NRMs), with particular reference to the changes during the last decades, this chapter will not give a general overview of recent developments in this field. The editors‹ introductory chapter as well as the range of existing publications, such as Eileen Barker’s Practical Introduction to NRMs (1998) or the chapter »New Religious Movements« in Religions in the Modern World (Arweck 2001) have sketched the contours of this area. Grosso modo, what existing work on NRMs describes and discusses is still valid, although there have been changes in this field in the last decade—both in terms of the religious landscape within which NRMs have been embedded and in terms of the academic study of NRMs in religious studies, the sociology of religion, and Religionswissenschaft. As to bringing the debate about recent developments in NRMs up to date, there is in fact not all that much new to report. Previous arguments tend to be rehearsed again and again. For example, in a radio programme on BBC Radio 4, called Face the Facts (broadcast on Friday, 22 August 2008), the reporter John Waite looked into the activities of an organisation called Tvind or Humana, which also operates as Planet Aid UK and The Teacher’s Group as well as in other guises—so-called ›front organisations‹ or offshoots 55

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whose names suggest no connection with the main organisation. The public is unlikely to know that leaflets soliciting clothes donations for Africa or calling on young people to join relief projects in developing countries are connected with Tvind/Humana. Remarkable about John Waite’s report were two things. Firstly, the re-iteration of familiar themes: the allegations regarding the exploitation of NRM members and deception (a theme which is related to ›front organisations‹), the portrayal of leaders who think they are above the law, the way the vulnerable members (children, members who become older or ill) are treated— in short all the topics that make for effective media headlines. Secondly, the absence of any mention or involvement in the programme of ›anticult‹ organisations or academic commentators. In previous reports of this kind, voices representing both perspectives would have been called upon to contribute. Thus, in media coverage, such as Face the Facts, the well-known points are rehearsed again and again, albeit in slightly new combinations and from slightly different angles. However, as I have sought to show elsewhere (Arweck 2006: Ch. 1), these are patterns of a discourse which are repeating themselves. However, the organisation and structure of NRMs have undergone change: NRMs have reached the point where their membership is in its second and third generation so that they are faced with a range of issues which this entails (education; establishment of social institutions, e.g. schools; provision for older members; less temporary living arrangements, etc.). Further, a number of NRMs are now without their charismatic leaders and have faced critical times in the transition period, with ISKCON (International Society for Krishna Consciousness, better known as the Hare Krishna movement) probably one of the most prominent examples (see e.g. Rochford 2007). The emergence of the Internet has had an impact—both positive and negative (see Arweck 2007). The strident tones of the ›cult controversies‹ (see Beckford 1985) have died down in the wake of processes of institutionalisation and decline in membership. However, none of these issues are dramatic or spectacular any more. Interestingly, local and thus fairly unknown, if not obscure, religious groups make headlines when details about them come to light which are perceived as ›bizarre‹ or involve criminal activities. Such groups tend to be one-off samples of their kind rather than international networks. For example, in 2005, a so-called ›deviant sect‹ in Malaysia made the headlines when the authorities demolished the rural commune. This group, known as the Sky Kingdom inter-faith community, was founded by Ayah Pin who claims to be the reincarnation of the holy figures of Buddhism, Christianity, Hinduism and Islam. However, it was the physical symbols of this group which attracted media attention: a 56

THE STUDY OF NEW RELIGIOUS MOVEMENTS

giant concrete teapot, the size of a house, a towering yellow umbrella, a vase, and a concrete boat. The first of these led to Sky Kingdom being referred to as the ›teapot cult‹. (see e.g. »Sect leader will not resist action«, Malaysia Star, 30 May 2005; »Malaysian sect members arrested«, BBC News, 4 July 2005) Therefore, rather than reiterate and rehearse material which is already in the public domain, it seems more important to look more closely at two areas related to NRMs—the current religious landscape and the academic study of religion—in order to situate the study of new religious movements. In the process of doing this, I shall point to recent changes in and around NRMs (see also Arweck 2006: Ch. 1).

2 The Wider Religious Landscape The editors of this volume identified important points about the current academic and religious climate in stating that only those new religions which have an immigrant component are deemed worthy of academic study and that any topic which is related to Islam receives public and academic attention. These are also the areas where public funding is to be found so that such topics are on top of the agenda for research and funding bodies, while New Religious Movements, the New Age, Neopaganism and related phenomena have slipped down the list of research funding priorities. At the same time, alternative religion(s) and expressions of spirituality (however understood) are an integral part of postmodernity, in all kinds of guises. They have permeated the lives of individuals and communities at various levels and everyone encounters them in their daily lives—the surgeries of practitioners of alternative medicine or alternative health treatments, the wide range of self-help books in general bookshops, brochures advertising alternative holidays, leaflets about self-development workshops, notices about faith healing, advertisements for the alpha course in evangelical churches, the range of health foods on supermarket shelves. Why then the preference for immigrant religion and Islam in the study of religion and the (relative) neglect of new religions and New Age? There are two explanations, one of which is very obvious: the aftermath of the momentous events of 9/11, with the destruction of the twin towers in New York by Islamic terrorists, followed by other attacks, such as the London bombings in July 2007, and the threat of further attacks, as uncovered by intricate intelligence operations. These and related acts of violence moved the importance of religion centre stage, into the limelight of national and international politics, as it became 57

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clear that religious beliefs were the motivating driving force in the lives of those committing these acts. This showed the destructive and militant force of religion, its potential for violence—in post-modern times. However, this side of religion had been witnessed before. A number of incidents in recent history have left a deep impression: the violent deaths of the members of the People’s Temple in Jonestown in 1978, the scenes of confrontation in and around the compound of the Branch Davidians in 1993, the sarin attack on the Tokyo underground of Aum Shinrikyo in 1995. The Oklahoma City bomber, Timothy McVeigh, a white supremacist, detonated a truck bomb in front of a federal building in April 1995. But such violence could be attributed either to ›cults‹, groups at the margin of society, or to individual fanatics like McVeigh. However, in the wake of 9/11, those in public office had to wake up to the fact that religion had public relevance, beyond civic ceremonies and state occasions. Religion could no longer be relegated to the private sphere or dismissed as a personal matter. And, contrary to arguments about the post-modern world being wholly secularised, where religion survived on the margins and in sectarian, diasporic or ethnic pockets of the population, religion proved to be alive and well and religious beliefs proved to be of public consequence and also of global and transnational consequence—making affairs like the fatwa pronounced against Salman Rushdie, the author of the Satanic Verses, in the late 1980s pale into virtual insignificance. However, knowledge about the power of religion resided with those specialised in the academic study of Islam and religion. Hence the demand for specialists of Islam and religion in the wake of 9/11 who could inform public policy, hence the need to gain some understanding of ›Islamic terrorists‹ and hence the rush to close gaps in knowledge as quickly as possible. State security was at stake. Prevention of any future attacks was of prime importance. Interestingly, these events had a major impact on the way the category of ›cult‹ has been used in the media and also among scholars of New Religious Movements. Speculation about Islamic terrorists has drawn on the brainwashing thesis to explain how they could possibly lend themselves to such violent acts. Articles appeared by writers like Gordon Melton (2003; 2004: 238–9) and Massimo Introvigne (2004) who were drawing parallels between ›cults‹ and Al-Qaeda. Extending the category of ›cult‹ in this way entails a muddying of this very category, thus adding further confusion and lack of clarity to a concept that is already contested. At the same time, the new focus on Islam highlighted another issue. This is related to the kind of society we live in: societies which are described as multi-cultural, multi-ethnic and multi-faith. The discovery 58

THE STUDY OF NEW RELIGIOUS MOVEMENTS

that those who were planning the destruction of the twin towers in New York and the London bombings came from suburban neighbourhoods, where they lived unsuspected, leading apparently normal lives, brought the shocking realisation that individuals holding extreme beliefs were living in our midst. This leads to the second, less obvious explanation why immigrant religions and Islam take priority in research rather than new religions: the issue of boundaries, which is related to the extension of the understanding of ›cult‹. The issue of boundaries has been one of the central questions in the study of New Religious Movements and it remains unresolved, not least because the last decades have witnessed the erosion of boundaries on a wider scale. The issue of boundaries is closely tied to questions of definition—the question is no longer just how we define New Religious Movements or the New Age or Neo-paganism, the question is also how we define a religion or religious institutions. Elements of what could be referred to as the ›new spirituality‹ have permeated all kinds of spheres of life, whether we consider ›mainstream religions‹ (e.g. alpha course, charismatic renewal, Kabbalah, healing groups, Sufism), corporate management and the world of work more generally (see Aupers and Houtman 2006), commerce, medicine, education, nursing, etc. The trend observed in new religions and New Age towards an eclectic and syncretistic approach to religion or spirituality has increased and become more widespread, as reflected in notions like ›bricolage‹ or ›toolkit approach‹, which are used to describe the phenomenon. Charles Taylor (2007) speaks of the ›reconstitution of elements‹ and NRMs have always been considered to be laboratories of such processes. It may be more appropriate to speak of people having a portfolio of religious or spiritual resources, as this suggests a fairly loose compilation of beliefs and commitments (e.g. individuals may have multiple allegiances) and elements can be added or removed over time, without upsetting any structures. Thus locating boundaries is a difficult task—not only have practices of new religions and the New Age filtered into established religion, new religions and the New Age have reached into mainstream society: NRMs have moved away from tightly bounded communitarian groups with clearly demarcated lines between themselves and wider societies. They have, in a number of ways, sought to become less segregated and marginal and to move towards the ›mainstream‹ and conventional, for example, by presenting their beliefs as a strand within a wider religious tradition and actively engaging with that community (ISKCON, for instance, has made its UK headquarters, Bhaktivedanta Manor, one the central sites for Hindu festivals; it has also recently founded an independent faith school which draws its pupils from the wider Hindu com59

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munity) or by creating programmes specifically designed to attract the general public (see the Brahma Kumaris), by seeking to adapt what they see as the universally valid contents of their teachings in community (state) schools (see the educational programmes developed by the Brahma Kumaris and the Sathya Sai Organisation), by moving away from the requirement of fully committed members to live communally and thus extending their membership categories, etc. Attenuating the boundaries between NRMs and mainstream society has reduced the potential of conflict and controversy between them. Hence the attenuation of the ›cult controversies‹. Adaptive processes allow for more general acceptance and fewer headlines demanding action. Therefore, the study of such movements is not politically or socially urgent, it is now replaced by the study of Islam and minority ethnic religions, which is politically urgent. This has consequences for the academic institutions dedicated to the study of new religions. Further, the new forms of spirituality are not neatly structured or distinct: they are fluid, at times highly amorphous and thus extremely difficult to capture or pin down through academic research. For example, Linda Woodhead and Paul Heelas’s study of religion in Kendal, a small town in the north of England, sought to capture this diffuse spirituality (see Heelas et al. 2005). On the basis of their findings, the authors argue ›a spiritual turn‹, but their study has raised critical comment, which is partly due to the fact that one can never get anything but a momentary snapshot of the situation and evidence contradicting this snapshot can be adduced. Further, the academic study of religion has always approached religion within its institutional frameworks and has developed its methods accordingly (as also reflected in the critique of the Kendal study). This, as Meredith McGuire discusses in her book Lived Religion (2008), has had consequences for the way in which scholars have interpreted the belief and practice of religious groups and individuals. Thus, both methodology and the institutional framework within which the study of religion is carried out influence and shape the subject matter and the discipline. This is the area where there are important differences between Anglo-Saxon and Continental European academia, which generally tend to be overlooked. In the current academic climate, interdisciplinary dialogue and cooperation are strongly encouraged, if not required (it is indisputable that scholars of different disciplines can learn a great deal from one another), while on the other hand, one can observe a certain blurring of the boundaries between related disciplines. Colleagues in anthropology, for example, have mentioned that their work has become sociological and that they can no longer draw clear boundaries between anthropology and 60

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sociology. The introduction of ›Cultural Studies‹ has blurred the boundaries even more. Especially with regard to the study of Islam in the wake of 9/11, the study of religion has crossed into disciplines where it would not normally have been found, such as international relations, politics, and geography. However, it is worth looking at the core of the disciplines, even if the margins may be blurring into one another.

3 Disciplines Studying Religion and the Study of Religion My focus here is to show how Religious Studies, Religionswissenschaft and the Sociology of Religion relate to the study of religion and New Religious Movements. My research on NRMs involved the comparison between Britain and Germany. I wanted to trace and map the way in which various sections of society responded to New Religious Movements in both countries. Before I shall describe to what extent the responses of the academic communities in Britain and Germany were shaped by the respective academic cultures in the two countries, I shall indicate how ›various sections of society‹ and ›New Religious Movements‹ are understood here. My argument is that the academic traditions in the two countries developed in different ways and that this led to different academic responses to New Religious Movements in the two countries. This is important because it explains the differences between the academic approaches and because anyone studying NRMs needs to be aware of these differences.

3.1New Religious Movements When using the term ›new religious movements‹ or NRMs, I am following the definition proposed by Peter Clarke (e.g. 1997), according to which those groups and movements are designated as New Religious Movements which have emerged since the Second World War and which have come to prominence in Western societies in the late 1960s and early 1970s. This definition is guided by chronology, rather than by beliefs or practices or organisational structures. In a number of cases, the point of foundation lies well before the time when these groups and movements came to prominence. Elsewhere, I have described the years between foundation and coming to prominence as a formative or dormant period, as founders/leaders underwent formal education or a kind of spiritual apprenticeship or as they gradually gathered followers and developed their teachings (see Arweck 2001). 61

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Most New Religious Movements (at least) started as social organisations which were largely community based, drew clear boundaries between themselves and the wider society, developed hierarchical structures, and developed a distinct set of beliefs and teachings formulated by the leadership and put down in writing. (Some leaders of new religions have been prolific writers, producing dozens and even hundreds of volumes, some of them compiled by disciples, but published in the leader’s name. L. Ron Hubbard and Osho/Bhagwan Rajneeh are cases in point.) These teachings are on the whole of a syncretic and eclectic nature, drawing from various traditions and belief systems. This is one of the important aspects which distinguishes NRMs from previous ›new‹ movements, which often arose from dissenting or schismatic processes within an established religion or denomination (groups like the Jehovah’s Witnesses, Mormons or Christadelphians). There is a debate among scholars about whether the New Age movement, Neo-paganism and groups in the penumbra of mainstream Christianity should be included in the category of New Religious Movements, but it would go beyond the scope of this chapter to enter into this debate here. However, it is another instance which involves the question(ing) of boundaries. Examples of New Religious Movements include the Unification Church (better known as the ›Moonies‹, in reference to the founder Rev. Sun Myung Moon); the Hare Krishna movement (or ISKCON, founded by Bhaktivedanta Swami Prabhupada); the Rajneesh Foundation (also known as the ›orange people‹, because its members wore clothes in shades of red, the colour of enlightenment; from 1989, it became known as the ›Osho movement‹, after the founder Bhagwan Rajneesh wanted to be known as ›Osho‹); and Scientology (or ›Church of Scientology‹, which developed from Dianetics, founded in the 1950s by L. Ron Hubbard). It needs to be stressed that there is a great variety among the movements which can be called NRMs, in terms of their origins, teachings, beliefs, leadership, practices, organisational structures and trajectories. The non-academic community (especially the media) has tended to treat New Religious Movements as a uniform category, with welldefined characteristics and boundaries. Therefore, talking about the beliefs and teachings of a particular group as if they were representative of all the others is rather problematic and this is a point which has set the academic construction of new religions against that by other social groups. In popular parlance, New Religious Movements are referred to as ›cults‹—the term mainly used in the media and by the ›anti-cult‹ movement—or ›sects‹—the term generally used in Continental Europe.

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3.2 Social Responses to NRMs At the time when they came to prominence, a number of New Religious Movements caused a great deal of controversy, because of their practices, especially with regard to recruitment, fund-raising and life-style, with allegations of brainwashing, alienation of members from their families and deception (in a range of respects) levelled at them. It is the controversial aspects of NRMs which relate to the second question raised before: how the various sections of society responded to this phenomenon. However, bearing in mind the wide range of New Religious Movements, the response to them has varied according to which movement is in question and where it is located geographically. The social groups I examined in my work include above all the parents of members (some of them organised ›anti-cult organisations‹ and campaigned actively against ›cults‹), the mainstream churches, the media, the general public, the state authorities (both political and legislative bodies on the national and international level, including the British and European parliament, the Charity Commission and the Council of Europe) and, finally, the academic community. It was in the course of examining the response of the academic community that I became aware of the differences in the academic traditions and discourses in Britain and Germany (and, more generally, in Continental Europe). The survey of the academic literature on the subject indicated differences in the theoretical approaches and frameworks within which explanations for this new phenomenon were formulated. At the same time, it became obvious that these approaches and frameworks were also dependent on the institutional structures within which the study of New Religious Movements took place. Some of these structures were ›established‹ and had of course been shaped by the history of the disciplines, while others were new—either created in a general process of re-structuring the academic system or created in reaction to the new phenomenon.

3.2.1 The Wider Context The social responses need to be seen against the wider context in which NRMs are embedded. Broadly speaking, the phenomenon of New Religious Movements originated in the United States, in the aftermath of the student protest movement of the 1960s, ›flower power‹, etc.—what came to be called the ›cultic milieu‹ of the counter-culture. After the political strand of the 1960s protest movement had effectively lost its momentum and ended in failure, some of the disillusionment resulting 63

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from that defeat was directed into spiritual channels, such as New Religious Movements. Some groups, for example, the Hare Krishna movement, had a significant intake of new members at that time; some of these had been involved in the 1960s counter-culture and had been looking for ›something else‹. Thus having originated—broadly speaking—in the US, the phenomenon spread from there to Britain and then to Continental Europe. One needs to bear in mind also that a movement, such as the Unification Church, recruited its first British (and German) members in the US, while they were travelling during holidays or taking a gap year. Although I referred to the controversial aspects of new religions before, it has to be pointed out that to begin with NRMs were not immediately perceived as problematic; in fact, there was some collaboration between some groups and local churches or political local agencies, as was the case for the then Children of God (now The Family) and the Unification Church. Again broadly speaking, in the US, the problematic aspects of New Religious Movements became apparent in the late 1960s, while in the UK, the first cases of controversial membership were reported in the early to mid-1970s (when some parents whose son or daughter was travelling in the US experienced difficulties in keeping in touch with their children) and in Germany, such cases became topical in the mid- and late 1970s. One can thus observe a kind of ›ripple‹ effect which this new phenomenon created when spreading, like a wave, in stages across the Atlantic to the UK and from the UK across the Channel to the Continent.

3.2.2 The Parental Paradigm Although the developments were somewhat more complicated, with events overlapping and happening simultaneously rather than consecutively, a similar ripple effect can be observed in the various responses to New Religious Movements. The first social group to concern itself with this phenomenon were the parents; having a son or daughter involved in a group, which later came to be called a ›cult‹ or ›new religion‹, caused perplexity and conflict in a number of families who had previously been fairly harmonious. Therefore, parents felt the need to find out what was happening and how to handle a situation which was totally new to them. One of the ways of doing that was to form self-help groups or parents’ organisations. If one traces the dates when these were established, one can follow the ripple effect starting in the early 1970s (US) and continuing to the mid-1970s (UK) and late 1970s (Germany). Thus the first parents’ organisations in the US were created in 1971 (FREECOG, with a 64

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focus on the then Children of God) and 1975 (CERF, which was concerned with the Unification Church); the first group in Britain was founded in 1976 (FAIR or Family Action and Information Rescue, also mainly focused on the Unification Church; from 1994, FAIR stood for ›Family Action Information and Resource‹ and is now ›The Family Survival Trust‹); the first group in Germany also appeared at that time, in 1975 (Elterninitiative zur Hilfe gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus e.V., again mainly concerned with the Unification Church), but most of parents’ groups in Germany were founded in the late 1970s. None of these groups operated entirely in isolation: the American parents’ groups had turned to psychiatrists and psychologists for help in finding an explanation for membership in new religious movements, the British group was a ›joint venture‹ involving (apart from concerned parents) a Member of Parliament, some journalists, and individual clergymen, while in Germany, the Elterninitiative was largely the initiative of one clergyman, pastor Friedrich-Wilhelm Haack. Therefore, all these groups were in some ways alliances of people with a personal or professional interest in this issue—parents (directly affected), medical professionals (with special expertise in mental health), clergy (pastoral duties and theological interests), a parliamentarian (with a duty to his constituents and the welfare of the general public) and the press (which would act in its own and the public’s interest). Both the British and the German parents’ groups looked towards the United States to formulate their knowledge paradigm. This paradigm was shaped by psychiatrists and psychologists. There are two reasons why these professionals were involved. Firstly, parents said that they did not recognize their son or daughter once they had joined—they were changed in their personality, in their behaviour and attitudes towards them, they had abandoned all the values and ideas they had held before membership, they did not relate to them as before, they felt alienated— in short, they had become different people. Parents obviously wanted to know how and why such a radical change in behaviour and appearance could occur. Secondly, some members of new religions left and some of these were physically and mentally affected by their experiences as members and thus in need of treatment. It is natural that a parent would turn to a medical professional in such a situation. However, a general practitioner would be very likely to refer such cases to psychologists or psychiatrists, as these patients appeared to need specialist care. Therefore, the first ›casualties‹ of membership (in the US) were treated in a psychiatric context and those treating them became the first ›experts‹ in this area. One of these experts was Dr John Clark. In the 65

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mid-1970s, he was Assistant Professor of Psychiatry at Harvard Medical School and Massachusetts General Hospital. He carried out a clinical study of such ›casualties‹ and drew his conclusions based on their symptoms, looking at these from the point of view of clinical psychiatry. He concluded that none of the existing explanatory models in his professional field explained the symptoms. In his view, the quality of the conversion experience was the decisive factor, rather than its conceptual content. Clark saw ›cult‹ membership as a ›massive dissociation‹ and its ›systemic maintenance‹. He saw in conversion a shift in personality or— in psychiatric terms—a ›depersonalisation‹, which showed symptoms of classical schizophrenia and acute psychosis, but did not respond to traditional treatments, which often involved anti-psychotic drugs. However, Clark found that ›deprogramming‹ brought about ›re-personalisation‹. The psychiatric approach was complemented by another area of psychological study which is, at first sight, unrelated to psychiatry: studies of prisoners of war and re-education programmes in Communist China. These two seemingly unrelated areas came together through the cooperation of two people: Dr John Clark and Dr Margaret Singer. Exactly how this co-operation came about can be left aside for the purpose of this account. Important is that the knowledge paradigm which the parents in the US constructed and adopted was based on academic research in psychiatry and psychology and that it was informed by findings which had come from studies of prisoners of war and political re-education programmes in Communist China. These studies had been carried out in the 1950s (Hunter 1953, 1956; Lifton 1961/1989; Schein et al. 1961). They argued the brainwashing thesis, which was applied to New Religious Movements in order to explain the process which changed welleducated young people with professional ambitions into society dropouts who held radical religious views. The adoption of the brainwashing thesis came about by parallels being drawn between, on the one hand, the experience of prisoners of war who had undergone political reeducation and, on the other hand, conversion to new religions. Interestingly, while Edward Hunter had introduced the term ›brainwashing‹, neither Robert Lifton nor Edgar Schein adopted it, preferring terms such as ›thought reform‹ or ›coercive persuasion‹. However, the brainwashing thesis became the conceptual framework within which the ›anti-cult‹ movement accounted for the attraction to ›cults‹ and for the processes of recruitment. This thesis provided a plausible explanation for the process of conversion to new religions. Academics later provided a critique of this approach (see also below), with some scholars seeing it as the ›passivist model of conversion‹, which they set against the ›activist model of conversion‹ (see Strauss 1979; Richardson 1985). 66

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3.2.3 The Academic Paradigm As to the academic response to the phenomenon of ›cults‹ or New Religious Movements, one of the points to note is that, both in Britain and in Germany, sociologists and social scientists entered the debate about New Religious Movements relatively late. In Britain, academics started looking at new religions in the late 1970s and early 1980s—in fact some of the young people who had joined such groups were the children of academics or university students. There is evidence that around 1980, the help of some British academics was solicited to get students back home who had joined the Unification Church in the US. Regarding the state of academic research at that time (the early 1980s), there was general agreement that a great deal of research still needed to be done (see e.g. Barker 1982: ix). This led to the creation of specialised research institutions in Britain. In the early 1980s, the first centres were put in place, such as the Centre for New Religious Movements at Selly Oak Colleges in Birmingham and the Centre for New Religions at King’s College London. Others were created later—for example, INFORM (Information Network Focus on Religious Movements, London) in 1988 and BACRA (Bath Archive for Contemporary Religious Affairs, Bath Spa University College) in the late 1990s. In Germany, REMID (Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst) was set up in early 1989. In Italy, CESNUR (Centre for Studies on New Religions) was created in 1988. By contrast, in the US, the Institute for the Study of American Religion (ISAR) claims to have be created as early as 1969. Academics realised that new religions differed considerably from ›sects‹ or other unorthodox religious groups they had studied before, with regard to their teachings, and that they had to be taken seriously and on their own terms. Academics also realised that this phenomenon did not quite fit the kind of theories which had been applied hitherto to explain why people joined ›sects‹ or ›deviant‹ religious groups. Membership of this kind was generally explained in terms of deprivation (especially early studies applied this theory), with adjustments and modifications. However, the sociological profile of members—young, middleclass, idealistic, well-educated, from an intact family background, where religion played a role—did not quite fit the deprivation theory. Another theory academics applied was the functionalist approach, but that, too, proved somewhat inadequate and was criticised as reductionist and condescending, because it did not take into account beliefs and practices (see Beckford 1981).

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The study of New Religious Movements presented social scientists with a challenge—in more than one respect. On the one hand, they needed to test the theories and concepts in their repertoire and, realising that these did not apply, they needed to develop new theoretical frameworks to accommodate their data. One aspect about new religions which was ›new‹ to academics and presented them with another kind of challenge was the way members of new religions behaved: they did not simply act like ›subjects‹ who could be studied like a ›tribe‹ or a menagerie of curios. Some members ›talked back‹ (see Martin 1981) and some NRMs wanted to have a say in what academics wrote about them (see e.g. Wallis 1976). Also, academics were confronted with the theory with which the parents’ groups or ›anti-cult‹ movement accounted for conversion to new religion, especially the brainwashing thesis. Another important aspect of the academic study of New Religious Movements is related to professional interests. While academics became interested in new religions because it was a new phenomenon and because it questioned existing theories (and thus presented an intellectual challenge), their interest was also due to the controversies surrounding the subject and the opportunity which this provided for the discipline: a new field of study had opened up and with it new career avenues. One has to bear in mind that in the late 1950s and in the 1960s, it was thought that the sociology of religion had run out of subject matter (see Martin 1981: 94). In this respect, the emergence of the new religions as a phenomenon was timely. The decades preceding the emergence of the counter-culture and new religious movements—the post-war period—were marked by research in the sociology of religion which tended to be less global, but empirically more verifiable. This kind of research was mainly carried out by theologians—both Protestant and Catholic—and tended to be concerned with issues, such as church attendance, religious commitment, links between religious commitment and political attitudes and similar topics. Such sociographic studies served agencies in the churches as well as administrative and political bodies. Peter Berger and Thomas Luckmann referred to such research as »a religious variety of market research« (1969: 63). Although some researchers on both sides of the Atlantic continued to work within classical sociological approaches, this was not enough to make sociology of religion a mainstream discipline. However, with the advent of the counter-culture and the subsequent emergence of NRMs in the US, sociologists of religion addressed themselves to the study of this new phenomenon. Given the pluralistic setting in the United States, religions and religious innovations had always thrived there and therefore the academic interest in religion had been 68

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kept alive and respective academic institutions had to some extent been maintained. However, the study of New Religious Movements revitalised the sociology of religion in the US (Robbins 1988), both in terms of the discipline and in terms of its institutional structures. In the UK, the cultural events of the 1960s coincided with an expansion of the academic structures. Departments of divinity which had dominated the universities began to decline and, taking the lead from the United States, the social sciences took an interest in the counter-culture and new religions. Thus in Britain, it was sociology, rather than theology, which became the major discipline for the study of new religions. However, the flourishing of the sociology of religion (which started in the late 1960s) did not bear academic fruit until the late 1970s, because it took time for under-graduates to filter through the system. As departments of divinity experienced a decline in student intake, they responded by widening their remit and including religious studies courses in their programmes. In terms of market forces, the supply was led by demand. Also, new departments were set up, such as the department of religious studies in Lancaster (in 1967), with about a dozen such departments appearing all over Britain in the following 25 years and a number of traditional theological faculties being turned into Theology and Religious Studies Departments. As in the American context, New Religious Movements gave sociology of new lease of live, but it took time for a career structure to develop in the existing and newly created departments. In Britain, the distinction between Religionswissenschaft and sociology does not exist. In recent years, the social sciences have infiltrated other disciplines, with boundaries becoming less distinctive, as already indicated. While Religionswissenschaft is concerned with historical and theoretical issues concerning religion (see further below), academic research in Britain is grounded in empirical methodology. The empiricist tradition goes back to the nineteenth century, when a major purpose of the universities consisted in preparing the administrative élite for home and abroad—hence research in middle- and far-eastern religions and languages. Social science in particular is pragmatic as well as empirical: it involves the flow from the academic to the practical and it involves the combination of fieldwork with the analysis of texts.

3.2.4 The Academic Landscape in Germany As to the academic response in Germany, here, it was not until the mid1980s that academics seriously concerned themselves with the topic. Also, the number of academics working on the subject has been (and 69

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still is) much smaller compared to the number of their American and British counterparts. Therefore, the study of new religions has not resulted in an expansion or vitalisation of the academic discipline or the academic community in general. For example, New Religious Movements have not become part of university course programmes and the professional prospects for an academic expert in this field are none too rosy (nor are they for someone trained in Religionswissenschaft without any specialisation). Also, the pressure on academics who have worked in this area has been much greater than in the US or the UK. Such pressure has been exerted, in varying degrees, by the NRMs, the ›anti-cult‹ groups and the media. Given this situation, there is the range of topics and approaches in the German literature as there is in the Anglo-Saxon literature. Further, in the case of some German scholars, the interest in new religions was relatively short-lived: their work on the subject can be shown to be restricted to a relatively short period of time. It is also interesting to note that some German scholars have looked towards their Anglo-Saxon colleagues for theoretical frameworks within which to assess the phenomenon, just as the parents’ organisations had looked towards their American and British counterparts for an explanation of membership. The reasons why the situation of academics in Germany is so different compared to that in Britain and the US are, to a considerable extent, embedded in the institutional structures of academic research of religion. These structures have also shaped the notion and the social status of the academic in general. Before the 1980s, before Religionswissenschaft entered the debate of New Religious Movements, as a discipline, it had remained cast in the mould which was described before: the sociographic, anthropological and historic study of religion. The sociology of religion, such as it existed, was mainly concentrated on the established churches, not only because of the sponsorship of such study by the churches, but also because of the role which the established churches have played in Germany. The status of the Roman Catholic Church and Lutheran Protestant Church as Volkskirchen granted them certain privileges and protection from the State, both with regard to their standing in society and with regard to their influence in academic life. This influence consists in them having a say over appointments and chairs related to Religionswissenschaft at universities, with some professorships involving a confessional tie. Clergy are trained both in the theological faculties of the state universities and at church universities. Further, due to historical reasons, the non-conformist religious tradition has been anything but prominent or 70

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visible in Germany. The places where the study of non-mainstream religion was taking place were institutions created by the churches for that purpose (such as the Apologetische Zentrale and the Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen or EZW) and these had, understandably enough, an apologetic agenda. Religionswissenschaft has traditionally been oriented towards the history of religions and towards historic religions and this orientation explains why it has been largely concerned with the study of texts, in particular ancient texts and documents. Therefore, when Religionswissenschaft turned to the study of New Religious Movements, it was the study of the texts and the history of new religions which set the research agenda to start with. Then theoretical approaches from the Anglo-Saxon tradition were borrowed—including empirical methods. It has only been a recent development that Religionswissenschaft has left behind its ›armchair‹ approach and gone into the field. In my view, this is largely to do with German academics borrowing from Anglo-Saxon research methods. Religionswissenschaft—like sociology—is relatively young, arising in the nineteenth century from two traditions: liberal Protestant theology and the philological interest in ancient texts. This dual parentage has given rise to the debate about the nature of this discipline: within which tradition should its history be traced and should it be considered as part of cultural and social studies or as part of theology? Until well into the twentieth century, the study of religion in Germany was dominated by the philological examination of oriental and classical texts and it was only after the Second World War that sociology and social anthropology gained significance. Another point worth noting is that theologians adopted text-based methods of researching the history of religion and used textual analysis for exegesis. The concern with language has to be seen against the background of the discovery of the Indo-European language tree (at the end of the eighteenth century) and the attempts to reconstruct Urreligion (primeval religion) by delving deep into history. Voltaire and Herder believed that the ›infancy of mankind‹ would be found in India, the very country which became accessible through the discovery of the Indo-European languages. These languages were regarded as textbooks from which the early stages of mankind and thus of religion (Urreligion) could be deciphered. Therefore, scholars like Max Müller devoted their lives to the transcription and translation of ancient texts (in Müller’s case, the RigVeda). Müller is considered to have laid the foundation for Religionswissenschaft—the study of sacred texts. However, Müller did not go into the field to study the people and country first-hand, he remained an 71

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›armchair‹ philologist and built up the image of an ›ideal India‹, the India of the ›classics‹ (Greschat 1988: 49). Since the time of Müller, sacred texts have been considered the raw material par excellence for the work of Religionswissenschaft. Therefore, it started as the science of texts and has remained so to a considerable extent, especially for students of the history of religion. Some consider the study of texts ›the foundation and backbone‹ of the discipline and postulate that the study of Religionswissenschaft is predicated on the historical work. The historical approach (the collection of data) is complemented by the systematic approach (which consists in developing concepts, classification and theory building). The philological concern caused the neglect of research into religious artifacts (implements, tombs, images, temples) and the expression of religion in ritual, dance and music—all areas which have only recently been incorporated in the remit of Religionswissenschaft. The influence of theology (or rather a particular school of theology—it had adopted the history of religion as a method, with its home in Göttingen where Ernst Troeltsch was associated with this strand of theology) on Religionswissenschaft was not just related to the study of languages and texts; it also brought to it Schleiermacher’s idea of religion which was posited on the personal experience of God’s awe-inspiring power. This led to the branch in Religionswissenschaft which is associated with Rudolf Otto and Friedrich Heiler—phenomenology. Thus, Religionswissenschaft has, broadly speaking, two branches: the history of religion and the comparative history (the latter includes phenomenology and the systematic study of religion). An important aspect of Religionswissenschaft is that it looked at what was unchangeable and orthodox in religion, the theory-building branch of Religionswissenschaft wanted to find the essence or nature (das Wesen) of religion and phenomenology has sought to classify religious phenomena according to their ›nature as such‹ (eigentliches Wesen)—anything marginal or outside the orthodox was not considered worth studying; this is the reason why the early literature on new religions in Germany includes articles which ask the question whether these religious groups should actually receive any attention from Religionswissenschaft at all. This also explains why sociological approaches to religion had effectively no place in Religionswissenschaft. In Germany, more publications on NRMs have been produced from within Religionswissenschaft than from within the sociology of religion. A cluster of publications taking a sociological perspective is associated with the University of Tübingen, in particular Günter Kehrer and his colleagues and students, but these publications occurred in the early and 72

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mid-1980s—my investigations did not find anything on the topic of New Religious Movements published by these authors after 1986. Hence the comment earlier that the interest of some German academics in new religions was somewhat short-lived. Does this mean that sociology of religion in Germany had said all it wanted to say on the subject? That would be a very debatable issue, especially as there are some sociologists in Germany working in this area. The reasons why some German scholars turned away from this topic lie elsewhere: firstly, Kehrer and his colleagues left it aside in the mid1980s, because they did not want to become embroiled in the heated debate and the controversies surrounding new religious movements. As mentioned, they bore the brunt of these pressures on them. A letter I received from one of Kehrer’s colleagues as well as an interview with Kehrer in Der Spiegel in 1980 support this conclusion. Other academics experienced similar pressures and turned their attention to other topics. Secondly, Kehrer’s reluctance to get involved in the debate is related to the traditional attitude of academics in Germany. The researcher should stand aloof from his/her subject(s) of study (see earlier references to the ›armchair‹ approach) rather than becoming involved with them. Therefore, any engagement in causes or campaigns would be precluded, because being an academic means engaging with ideas, theories and knowledge, but it does not mean engaging with research subjects or any politics connected with subjects. German academics who were either perceived to become involved with new religions or spoke out for them in any way exposed themselves to sharp criticism and strong disapproval. The ideal of German (and probably Continental) academia has been one which seeks knowledge for the sake of knowledge, away from the bustle of politics and public debates. This also explains some of the reluctance with which academic research (research independent of the churches) was received by other social sections in Germany (the parents’ groups, some sections of the churches and some state authorities). Thirdly, sociology of religion and Religionswissenschaft stand in some tension to one another. This is due to the history of the discipline which, as indicated earlier, has left Religionswissenschaft with the question of how to trace its lineage (theology or social studies). The question regarding the lineage also raises the question of methodology: there is no general consensus in Religionswissenschaft regarding this question which is referred to as the Methodenstreit (dispute of methods), with some going as far as to say that Religionswissenschaft has no methods of its own, only borrowed methods. Also, some consider sociology of religion as separate from Religionswissenschaft, while others consider it an auxiliary subject or a sub-discipline. 73

ELISABETH ARWECK

4 The Current State of Affairs As I have tried to show, the academic landscapes in Britain and Germany have been quite different. The question is, given earlier comments about the changes in the research and funding agendas, where things are now, in terms of institutional structures and career opportunities in the study of religion. As I have not followed recent developments in Germany, I cannot speak with authority on the current situation in Germany, but I can give an indication of the situation in Britain. In terms of institutional structures, there has been a shrinkage of sociology and religious studies departments—some have become reduced in size, some have shut down, some have been amalgamated with other social science departments. Some departments have dropped the ›Religious Studies‹ part of their title, reverting back to ›departments of theology‹. Some of the courses concerned with NRMs and related topics, which Departments of Theology had created, have been removed from the academic programme. Some of the centres set up to study new religions do not exist any more (for example, the Centre at King’s College London, BACRA, the Centre at Selly Oak) or operate with reduced staff (INFORM). Some of the well-known scholars of NRMS in Britain have either retired (for example James Beckford, Eileen Barker, Peter Clarke) or are no longer alive (Bryan Wilson). Their successors often have expertise in very different areas. However, with the waning urgency for the study of new religions or the fading demand for experts in new religions, established academics have drawn on their general knowledge of religion. Some had been engaged in other fields (e.g. Islam) and in general sociology and could thus continue with those strands of their expertise. For those who focused on NRMs in their post-graduate research, there are no careers to be made in this field. Some have left the topic behind and work in other academic subjects, some have successfully applied for posts in religious studies departments (what few posts there are), some have re-orientated themselves, for example, by adjusting their research to available funding or crossing disciplinary boundaries. To conclude, anyone intending to engage in the study of new religions needs to be mindful of the current situation—in terms of academic institutions, in terms of available funding streams, and in terms of the current religious landscape. This landscape is very complex—given multiple layers, multiple facets, multiple cultures, multiple dynamics, with New Religious Movements only involving a very small percentage of any given population, which, in fact, has always been the case.

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ELISABETH ARWECK

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Von der verfolgten »Sekte« zur etablierten Religionsgemeinschaft. Die Wandlungen der Hare Krishna Bewegung FRANK NEUBERT

1 Einordnungen Im Zentrum dieses Bandes stehen neue religiöse Bewegungen, und mein Beitrag befasst sich mit einer von diesen, der International Society for Krishna Consciousness (ISKCON), besser bekannt als »Hare Krishna Bewegung«.1 Die konkreten Ausführungen zu dieser Bewegung und den Entwicklungen, die sie in den letzten Jahrzehnten genommen hat, möchte ich zunächst und im folgenden Text immer wieder mit einem breiter angelegten Blick auf die Debatte um »Sekten«, »Jugendreligionen«, »Psychokulte« und »neue religiöse Bewegungen« verbinden, wobei ich mich hauptsächlich auf den deutschsprachigen Raum konzentriere.2 Es 1

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Die einführende Literatur zur ISKCON beschränkt sich bislang im deutschsprachigen Raum auf einige wenige Aufsätze, Artikel und Buchkapitel (vgl. Schweer 1998; Das 2006; Hummel 1980). Die erste deutschsprachige Monographie zur Bewegung bildet Neubert 2010, im Druck. Im englischen Sprachraum verweise ich als einführende Texte auf Knott 1988 und Squarcini/Fizzotti 2004. In den letzten Jahren erschienen zwei Sammelbände mit Aufsätzen, die sich teilweise aus der Innenperspektive mit der Geschichte der ISKCON auseinandersetzen (vgl. Dwyer/Cole (Hg.) 2007 sowie Bryant/Ekstrand (Hg.) 2004). Die bisher ausführlichste und eingehendste Studie hat unlängst der langjährige ISKCON-Forscher E. Burke Rochford vorgelegt (vgl. Rochford 2007). Die Debatten um neue religiöse Bewegungen hat Elisabeth Arweck eingehend einer neuen Untersuchung unterzogen. Sie verweist dabei auf die Bedeutung der verschiedenen nationalen Kontexte für den konkreten Ent77

FRANK NEUBERT

geht dabei um die Einordnung sowohl dieser Begriffe als auch der Rolle der Religionswissenschaft in die so genannten Sektendebatten der 1970er bis 90er Jahre. Ich behaupte, dass es sich bei dieser Debatte um eine spezifische Ausformung des Religionsdiskurses handelt. Darunter verstehe ich die Gesamtheit derjenigen Praktiken und Prozesse, die die Ausschliessung aus oder Zugehörigkeit zu dem Begriffsfeld und damit auch dem realen Feld der Religionen auf diskursiver Ebene regeln.3 Spezifischer und zugespitzt könnte man vielleicht sogar formulieren: Die Sektendebatte ist die dominante Form des Religionsdiskurses im späten 20. Jahrhundert. Anhand der Quellen von »Sektengegnern« und der öffentlichen Mediendebatte lässt sich zeigen, dass es mit Begriffen wie »Jugendsekte«, »Sekte«, »Psychokult« etc. darum ging, diese Bewegungen aus dem Feld der Religionen auszuschließen, also zu zeigen, dass es sich bei den damit bezeichneten Phänomenen nicht um religiöse oder wenigstens nicht um richtig religiöse Phänomene handle. Diese Auffassung wurde mit aller Deutlichkeit der Selbstbeschreibung der Bewegungen als Religionen entgegengesetzt. Deren Position »Wir sind Religion« wurde die aufgrund diskursexterner und diskursinterner Faktoren dominante Position »Das sind keine (richtigen) Religionen« entgegengestellt.4 So dreht sich beispielsweise die Debatte um Scientology bis heute um die Frage, worum es sich bei dieser Gruppierung »eigentlich« handle. Von Seiten der Scientology-Gegner – allen voran in Deutschland die Hamburger Scientology-Beauftragte Ursula Caberta – wird argumentiert, die Bewegung sei eine »kriminelle Organisation«, ein »global agierendes Wirtschaftsunternehmen« oder gar eine »totalitäre Psychoorganisation«. Religion werde hier nur als Deckmantel für finstere politische und/oder wirtschaftliche Machenschaften genutzt. Auch im Falle der Beschäftigung mit ISKCON kam diese Strategie zum Tragen. Verwiesen sei hier nur auf den noch 2005 erschienenen Beitrag von Liane Wobbe zum Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) über ein Wagenfest der ISKCON in Berlin, in dem die Autorin zu dem Schluss kam, dass es sich dabei um ein »Event«, aber sicher nicht um ein religiöses Ereignis handle (Wobbe 2005; vgl. Neubert 2006: 15-16). Zahlreiche weitere Belege ließen sich

3

4

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wicklungsgang der Debatten und der von ihnen »betroffenen« Bewegungen (vgl. Arweck 2006 sowie ihren Beitrag im vorliegenden Band). Zum Diskursbegriff und zum Verständnis von Diskursanalyse verweise ich an dieser Stelle aus einer großen Auswahl an Literatur nur kurz auf Landwehr 2008; Diaz-Bone 2006; Mills 2007. Die Faktoren, die verschiedene Machtpositionen in diesem Diskurs determinieren, sind Gegenstand eines derzeit in Arbeit befindlichen Textes und sollen hier nicht ausgeführt werden.

DIE WANDLUNGEN DER HARE KRISHNA BEWEGUNG

zitieren. Es sei hier nur noch auf den Kurztitel der Enquete-Kommission »Sogenannte Sekten und Psychogruppen« verwiesen, die von 1996 bis 1998 als Kommission des Deutschen Bundestages bestand. In dieser Bezeichnung besteht kein expliziter Bezug zu Religion, und auch im Einsetzungsbeschluss ist der einzige Bezug ein negativer, da es darum gehen sollte, »Grenzen der Inanspruchnahme der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit durch neuere religiöse und weltanschauliche Bewegungen, sogenannte Sekten und Psychogruppen« aufzuzeigen (Deutscher Bundestag (Hg.) 1998: 20; Hervorhebung F.N.). Schon vom Auftrag her war damit die Arbeit der Kommission von dieser dominanten Position im NRB-Diskurs geprägt. Mit leichter Verzögerung trat auch die Religionswissenschaft weltweit in diese Debatten ein. Der aus der Religionssoziologie stammende Begriff der »Neuen religiösen Bewegungen« sollte »relativierend« und »versachlichend« in der Diskussion wirken (vgl. Baumann 1995). Der Versachlichung sollten besonders die Mahnungen dienen, die gemeinten Bewegungen als religiös zu betrachten. Im Hintergrund dieser (größtenteils aus wissenschaftlicher Sicht durchaus berechtigten) Mahnungen standen religionswissenschaftlich-metasprachliche Definitionen von Religion, und man bemühte sich zu zeigen, dass die in ihnen definierten Kriterien sich bei den Bewegungen wiederfinden. Wie sich jedoch gerade am Verlauf der Sektendiskussion zeigen lässt, verlieren aber metasprachliche Begriffe ausserhalb ihres angestammten Verwendungsbereichs (der Wissenschaftssprache) eben diese metasprachliche Qualität. Was also im öffentlichen Diskurs »ankam«, war nicht die Aussage, es handle sich bei diesen Bewegungen um religiöse Organisationen beispielsweise im Sinne von »sozialen Unternehmungen, deren Hauptzweck es ist, auf [Annahmen des; F.N.] Übernatürlichen basierende allgemeine Kompensatoren zu schaffen, zu erhalten und auszutauschen« (Stark/Bainbridge 1987: 42). (Ich greife hier aus der Vielzahl zur Verdeutlichung eine mögliche Definition heraus, die etwa in der Zeit der in Frage stehenden Debatten in die Diskussion gebracht wurde.) Was im öffentlichen Diskurs »ankam« war allein die Aussage, es handle sich um Religionen. Das ist aber letztlich die gleiche Qualität von Aussage, die auch die so genannten »Sekten« selbst trafen. Sie wird damit in der Öffentlichkeit als eine normative Aussage gedeutet, da in diesem Diskurs die Kategorisierung als Religion oder Nicht-Religion normativen Charakter trägt. Daher lässt sich die Reaktion seitens der den Diskurs dominierenden Sektengegner und in den medial geführten öffentlichen Debatten erklären, durch die Religionswissenschaftler zu »Bundesgenossen«, »Sektenfreunden« und »verkappten Scientologen« erklärt wurden. Diese Sicht auf die Sektendiskussion hilft dabei, auch andere religionsge79

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schichtlich interessante Prozesse zu verstehen, wie sich im Folgenden am Beispiel der ISKCON zeigen wird.

2 ISKCON kurz gefasst Die Internationale Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein (engl. International Society for Krishna Consciousness, daher die Abkürzung ISKCON) ist eine neue religiöse Bewegung, die 1966 von dem damals 70jährigen A. C. Bhaktivedanta Svami (genannt Srila Prabhupada) und seinen ersten Anhängern in New York gegründet wurde und sich rasch weltweit ausbreitete. Besser bekannt ist sie in der Öffentlichkeit unter dem Namen Hare-Krishna-Bewegung. Bereits in den frühen 1970er Jahren begann auch eine Etablierung der Bewegung in Indien selbst (vgl. Brooks 1989), die als Rücktransfer einer religiösen Lehre und Praxis in veränderter Form interpretiert werden kann (vgl. Neubert 2009, im Druck). Die ISKCON entstammt der auf Caitanya (15./16. Jh.) zurückgehenden Tradition des bengalischen Vishnuismus (Gaudiya Vishnuismus) und dem aus diesem im frühen 20. Jh. hervorgegangenen, von Bhaktisiddhanta Sarasvati (1874-1937) gegründeten Orden Gaudiya Matha. Von Bhaktisiddhanta hatte Prabhupada in den 1930er Jahren den Auftrag erhalten, Krishna-Bewusstsein im »Westen« zu verbreiten. Nach Prabhupadas Tod hatte die Bewegung mit schweren organisatorischen Problemen zu kämpfen, konnte diese jedoch zum Großteil mit hohem selbstkritischem Engagement lösen und hat ihre Organisationsstrukturen nach den neuerlichen umfassenden Reformen der späten 1990er Jahre weitgehend stabilisiert. Die wichtigste selbst gestellte Aufgabe der ISKCON ist es, KrishnaBewusstsein, d. h. die Lehren und Praktiken des Gaudiya Vishnuismus in der Welt zu verbreiten, nach denen Krishna als der höchste persönliche Gott angesehen wird, der sich zuletzt in Caitanya inkarniert hat. Krishnas irdische Erscheinungsformen und sein Verhältnis zu den Menschen sind im Bhagavata Purana und in der Bhagavadgita beschrieben und dargestellt, zwei Sanskrittexten, die in der Übersetzung Prabhupadas und mit seinem Kommentar das wichtigste Schrifttum der ISKCON ausmachen und die Grundlage der täglich in den Zentren stattfindenden Bhagavatam- und Bhagavadgita-Vorträge bilden. Zum KrishnaBewusstsein gehört neben dem Glauben an und der rituellen Verehrung von Krishna als höchste Person Gottes sowie der Lektüre der Schriften in erster Linie auch die richtige Lebensweise in Hingabe (bhakti) an Krishna. Diese war von Caitanya exemplarisch vorgelebt und von dessen Schülern, den sechs Gosvamis von Vrindavan, in ihren Texten 80

DIE WANDLUNGEN DER HARE KRISHNA BEWEGUNG

schriftlich niedergelegt worden. Die wichtigste religiöse Praxis ist die des (möglichst ständigen) Singens (»Chantens«) der Namen Krishnas in Form des Hare Krishna Mahamantras (daher die gängige Bezeichnung der Bewegung): hare krishna, hare krishna, krishna krishna, hare hare; hare rama, hare rama, rama rama, hare hare. Das Chanten dieses mantras gilt als der einzig gangbare Erlösungsweg in unserem Zeitalter, dem Kaliyuga. Jeder Devotee soll es mindestens 16 Runden am Tag auf der aus 108 Perlen bestehenden Gebetskette (japamala) chanten, das entspricht 1728-mal. Neue Devotees werden nach einer Phase der Prüfung von einem ISKCON-Guru initiiert und erhalten dabei einen »spirituellen« Namen. Sie versprechen die Einhaltung der vier regulierenden Prinzipien: Vegetarismus, Verzicht auf Rauschmittel, Glücksspiel und weitgehend auch auf Sexualität. Während viele Devotees in den Tempeln leben, gehören inzwischen zu allen Gemeinden auch Familien und einzelne Mitglieder, die außerhalb des Tempels wohnen und die Tempel »nur« für die pujas (»Gottesdienste«), Rituale, Vorträge und andere Veranstaltungen besuchen.

3 Historische Wandlungen Im Zuge ihrer Geschichte hat die Bewegung zwei entscheidende Wandlungsprozesse durchgemacht. Zunächst wurde sie von einer – aus soziologischer Sicht – eher losen Gruppierung von Hippies mit einem gemeinsamen Interesse an den Lehren Prabhupadas zu einer Gemeinschaft mit festen Tempelstrukturen, die sich bis auf die intensive Kommunikation mit Nicht-Devotees erfordernde Missionstätigkeit stark von der umgebenden Gesellschaft abschottete. Dies erfolgte primär in den 1970er Jahren und lässt sich mit dem in den Lehren der Bewegung vertretenen starken Antagonismus von materieller Welt und den spirituellen Freuden des Krishna-Bewusstseins begründen.5 Verschiedene Krisen führten dazu, dass dieses System immer mehr in Frage gestellt wurde. So setzte ein neuerlicher Umbruch ein, der derzeit in vollem Gange ist.6 Der erste Wandlungsprozess hatte sich noch zu Prabhupadas Lebzeiten vollzogen. Er war 1965 nach New York gekommen und hatte innerhalb eines knappen Jahres eine ganze Reihe von Jugendlichen aus der so 5 6

Vgl. allgemein Barker 2006: 127-128, wo ein »dichotomous worldview« als charakteristisches Merkmal von NRB bezeichnet wird. Ich übernehme hier mit etwas verschobener Fokussierung und Begrifflichkeit die Phaseneinteilung, die bereits 1995 Ross Andrew (Initiationsname: Rasamandala Dasa) vorgenommen und 2007 präzisiert hat (vgl. Andrew 2007). 81

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genannten Gegenkultur um sich geschart, die ihn verehrten, seinen Vorträgen folgten, mit ihm chanteten und auch – so weit es in ihren eigenen Möglichkeiten lag – für seine finanziellen Bedürfnisse aufkamen (vgl. Rosen 1992: 67-80; Goswami 1983: 29-106). Als genügend Mittel zur Verfügung standen, mietete die Gruppe einen ehemaligen Souvenir- und Krimskramsladen mit dazugehöriger Hinterhauswohnung. Dieser Laden, der später nach der Aufschrift matchless gifts am Schaufenster als der »matchless gifts temple« in die Historiographie der ISKCON einging, wurde zum Zentrum der offiziellen Gründung der Gemeinschaft als registrierte Vereinigung, die am 13. Juli 1966 erfolgte. Im Tempel fanden sich vor allem zu den Sonntagsfesten mehr und mehr junge Leute ein, von denen Prabhupada ab Mitte September 1966 einige initiierte. Mit der Initiation war für die Devotees ein radikaler Wandel des Lebensweges verbunden: Die Haare mussten ab, man wechselte zu indischer Kleidung und tägliches Chanten wurde ebenso zur Pflicht wie das Einhalten der vier regulierenden Prinzipien. Diese verlangen von den Devotees strikten Vegetarismus, Verzicht auf Drogen und Rauschmittel, Verzicht auf Glücksspiel jeglicher Art sowie Verzicht auf Sex ausserhalb der Ehe und auch innerhalb derselben, mit Ausnahme des Aktes zur Zeugung von krishna-bewusstem Nachwuchs. Mindestens zwei dieser Prinzipien bedeuteten – das wissen wir aus den Beschreibungen der frühen Devotees und aus zahlreichen ISKCON-Ratgebern darüber, wie mit entsprechenden Schwierigkeiten umzugehen sei – einen schwerwiegenden Schritt aus dem »Hippie-Leben« in das Leben eines initiierten Devotees. Schon früh beinhaltete die Initiation zusätzlich, dass die Devotees ihren Wohnsitz im Tempel nahmen, womit der erste Schritt gemacht wurde für die Entwicklung hin zu einer auf die Tempelgemeinschaft fokussierten Bewegung. Mit der wachsenden Zahl von Tempeln – die Entwicklung ging zunächst mit Boston, San Francisco und Los Angeles weiter, und bis 1970 gehörten weltweit bereits 34 Zentren zur ISKCON – festigte sich diese Struktur immer stärker bis hin zum Zwang für neuinitiierte Mitglieder, im Tempel zu leben. Gleichzeitig festigte sich die 1970 von Prabhupada ins Leben gerufene, zunächst aus zwölf Mitgliedern bestehende Governing Body Commission (GBC), die nach dem Tod des Gründer Acharyas die Führung der Bewegung übernahm. Es etablierte sich auf der Ebene unterhalb der GBC ein recht zentralistisches System, in dem für lange Zeit die Tempelpräsidenten eine sehr große Machtfülle besaßen. Nicht selten wurde diese Machtfülle ihnen zum »spirituellen Verhängnis« (vgl. Deadwyler 2004). Entscheidend ist hier, dass sich das Leben der Devotees bis weit in die 1980er Jahre hinein im Tempel abspielte. Einzige Ausnahmen waren die für den Erhalt und die Ausbreitung der Bewegung wichtigen Tätigkeiten der Mission (preaching) in 82

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Form des öffentlichen Chantens, der Organisation von Wagenfesten (ratha yatra) in einigen grösseren Städten und der Buchverteilung7. Mission fand im öffentlichen Raum statt, und gerade die Buchverteilung mit ihren über mehrere Jahre teilweise sehr aggressiven Praktiken wurde lange Zeit vorrangig in Fussgängerzonen und auf internationalen Flughäfen durchgeführt. Sehr bald rückte die ISKCON – gerade aufgrund ihres rasanten Wachstums – ins Zentrum der zu Anfang schon zitierten, in fast der gesamten »westlichen Welt« geführten Sektendebatten. Dazu trugen auch die mehr und mehr bekannt werdenden Fälle von Kindesentführung, Misshandlungen und Missbrauch von Schutzbefohlenen in den ISKCON-eigenen Schulen, Diskriminierung von Frauen und einzelne schwerere Verbrechen wie Mord (in der Gemeinde New Vrindavan, USA) und illegalem Waffenbesitz (bspw. in den 1970er Jahren im damaligen deutschen Zentrum Schloss Rettershof bei Frankfurt/Main) bei. Die daraus erwachsenen generellen Vorwürfe gegen die ISKCON seitens der Sektengegner bewegten sich entlang der auch von anderen Bewegungen bekannten Linien: 1. Es handle sich um eine Organisation, die unter Vortäuschung religiöser Interessen eigentlich den totalitären Staat wolle. So schrieb eine Sekteninformation für Sachsen noch in den 1990er Jahren: »Das Konzept einer künftigen Gesellschaft sieht eine Indisierung mit leicht verändertem Kastensystem, dem Verbot fleischlicher Nahrung und eine Diktatur vor, in der die Führer der Krishna-Bewegung bestimmen und persönliche Freiheiten fast vollständig ausgeschaltet werden.« Sie fügt aber vorsichtig hinzu: »Inzwischen ist dieses Konzept aber auch innerhalb der ISKCON nicht mehr unumstritten.«8

2. Die Bewegung betreibe Gehirnwäsche und schaffe es so, Jugendliche zu verführen etc. Angebliche wichtigste Gehirnwäschepraxis sei das »monotone« Chanten des Mahamantra, zu dem die Devotees gezwungen würden. So war noch 1999 in Kanada von »unter Schlafmangel und Ge-

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Zur Praxis der Buchverteilung und der durch sie entstandenen Konkurrenzsituation unter den Devotees vgl. die interessanten Ausführungen von Angela Burr (1984: 89-114). Siehe http://www.sekten-sachsen.de/kurzbeschreibung-osten.htm (mein Zugriff am 07.06.2009). 83

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hirnwäsche leidenden Devotees«9 in der Geschichte der ISKCON die Rede. 3. Wie bei vielen anderen religiösen Bewegungen auch, wurden die bekannt gewordenen Fälle von Missbrauch und Kriminalität übermäßig verallgemeinert und die ISKCON als Hort von Unzucht und Verbrechen betrachtet. Die internen Krisen und der Druck von Außen führten zu massenhaften Austritten in den 1980er Jahren. Allein in den USA verfügte die ISKCON Ende der 1970er Jahre über ca. 8000 Vollzeitmitglieder in den Tempeln, 1986 waren es nur noch knapp 4000. Viele Mitglieder der zweiten Generation traten ebenfalls sehr bald aus (vgl. Rochford 2007). Nur durch ein intensives Reformprogramm innerhalb der Bewegung konnte die ISKCON diesem Trend entgegenwirken. Eine Reihe von Reformkommissionen gründete sich oder wurde gegründet: Einige Kommissionen entstanden auf Anregung der GBC, so das Guru Reform Movement, die Deity Worship Research Group und eine Kommission zur Reform der Kindererziehung, die sich mit den Missständen in den ISKCON-Schulen befassen sollte. Auf der anderen Seite gründeten aktive Devotees selbst Reformgruppen. Die wichtigsten davon waren Zusammenschlüsse weiblicher Devotees, die sehr erfolgreich für eine Einbindung von Frauen und eine Hebung von deren Status in der Bewegung kämpften (vgl. bspw. [ISKCON Women’s Ministry] 2000). Die internen Reformen führten auch zu einer Aufweichung der festen Zentrumsstrukturen.10 Gerade die an manchen Orten verbreiteten Fälle von Missbrauch und Misshandlungen brachten eine Abneigung vieler Devotees gegen ein Leben im Tempel mit sich. Hinzu trat, dass sich aufgrund der Dominanz der Sektengegner im öffentlichen Diskurs das negative Bild über ISKCON weit verbreitete, was zu einem rapiden Nachlassen der bis dahin wichtigsten Einnahmequelle der Buchverteilung führte. 1978 hatte die Bewegung allein aus diesem Zweig noch Einnahmen in Höhe von ca. 13 Millionen Dollar zu verzeichnen. In den späten 1980er Jahren waren diese Einnahmen so weit geschrumpft, dass immer mehr Tempel ums Überleben kämpfen mussten, und mit den Tempeln auch deren Bewohner (vgl. Rochford 2007: 63). Während also Artikel aus der Toronto Sun, 6.7.1999, in Übersetzung wiedergegeben auf http://www.agpf.de/Krishna-Missbrauch.htm (mein Zugriff am 26.6.1999). 10 Die folgenden Ausführungen basieren zu einem Großteil auf der hervorragenden Studie von E. Burke Rochford zu den Entwicklungen der ISKCON (vgl. Rochford 2007). 9

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das Aufgeben des eigenen Jobs in den 1970er Jahren von Devotees für den Einzug in den Tempel regelrecht gefordert worden war, wurde es nun wieder zumindest geduldet, später sogar gern gesehen, dass Devotees in der »materiellen Welt« einem geregelten Job nachgingen. Auch dies löste die fixen Strukturen dahingehend auf, dass viele dieser Devotees ihren Wohnsitz wieder ausserhalb der Tempel nahmen, da dies nicht mehr als Ausschluss aus der Gemeinschaft der Devotees interpretiert wurde, sondern als Chance, ein »krishna-bewusstes« und dennoch weitgehend unabhängiges Leben zu führen. Es entstand dadurch gleichberechtigt zu den Tempelzentren eine Art von »Gemeindereligiösität«, die sehr stark dem Modell ähnelt, das von christlichen Denominationen in den USA bekannt ist. Es gibt ein Gemeindezentrum, in der sich die im Ort bzw. in der Gegend lebenden Gemeindemitglieder regelmäßig (täglich, oder manchmal auch nur wöchentlich, je nach Commitment) versammeln, um Rituale durchzuführen, gemeinsam zu chanten, Vorträge zu hören oder gemeinnützige Tätigkeiten und Festivitäten zu planen. Eine solche Entwicklung ist nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland (bspw. die ISKCON-Zentren in Heidelberg und Berlin sowie die kleine Gemeinschaft in Marburg) und in der Schweiz (Zürich) zu beobachten. Zu dieser Entwicklung trugen sicher auch die zahlreichen nordindischen Migranten bei, die in den ISKCON-Tempeln eine manchmal vorläufige, oft aber auch dauerhafte religiöse Heimat fanden. Auch ihre Teilnahme an den Tempelaktivitäten half bei der Verbesserung des Images von ISKCON (vgl. Nye 1997; Rochford 2007: 181-200). Die Bewegung öffnet sich also seit den 1990er Jahren kontinuierlich und nimmt Strukturen dessen an, was in Bezug auf christliche Denominationen in den USA als congregationalism bezeichnet wird, was ich hier aber vorsichtiger congregation-Bildung11 nennen möchte. Ross Andrew hatte in seinem Aufsatz »Moving into Phase Three« aufgrund einer Studie über britische Devotees vorhergesagt, dass sich die Rolle der Tempel in den späten 1990er Jahren wandeln würde, indem diese von Lebensmittelpunkten einer monastischen Gemeinschaft zu Zentren der Verehrung und der vishnuitischen Gelehrsamkeit würden (vgl. Andrew 2007). 11 Mit „congregation-Bildung“ bezeichne ich hier hauptsächlich den Umstand, dass lokal definierbare „Gemeinden“ entstehen, deren Mitglieder nicht im Tempel, sondern in seiner näheren Umgebung leben und „nur“ zu den Gottesdiensten, Vorträgen und zum Dienst an der Gemeinschaft den Tempel mehr oder minder regelmäßig besuchen. Ein wesentlicher Unterschied zum congregationalism der v. a. protestantischen Denominationen in den USA besteht darin, dass im Falle von ISKCON die Unabhängigkeit der einzelnen Gemeinden von einer zentralen Organisation nicht im gleichen Maße gegeben ist (vgl. die Ausführungen in Rochford 2007: passim). 85

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Dieser Prozess bildet tatsächlich einen Teil der »congregation-Bildung«, die ich hier als »zweite Wandlung« der ISKCON bezeichnet habe. Die so entstandene »Normalität« in der öffentlichen Wahrnehmung ist sicher mit für den inzwischen deutlich verbesserten Stand der ISKCON in der öffentlichen Diskussion verantwortlich, der sich allerdings häufiger durch Ignorieren als durch explizite positive Bezugnahme auf ISKCON manifestiert. Dem versucht die ISKCON nunmehr beispielsweise durch verstärkte öffentliche Präsenz in Wagenfesten (ratha yatras) und anderen Aktivitäten, die gleichzeitig religiöse Handlung und öffentliches Event sind, in zahlreichen Städten weltweit abzuhelfen. Gerade in den letzten Jahren war zu beobachten, dass in zahlreichen Städten weltweit erstmals Ratha Yatras durchgeführt wurden. In sechs Schweizer und in mehreren deutschen Städten finden inzwischen jährlich Wagenfeste statt.

4 Kommunikation, Dialog und Wissenschaft Zusätzlich zu den internen Reformen in ISKCON wurde ab den frühen 1990er Jahren ganz bewusst auch die Kommunikation nach »Außen« auf ein neues Fundament gestellt, indem beispielsweise 1993 das ISKCON Communications Journal (ICJ) ins Leben gerufen wurde. Es sollte einerseits dem Zweck der internen Verbreitung von Texten und Vorträgen von Devotees dienen, andererseits der Verbreitung »krishnabewusster« Glaubensinhalte sowie der Diskussion um Verbreitungs- und Missionierungsmethoden. Bereits vom ersten Heft an wurden auch Beiträge von Religionswissenschaftlern sowie der Bewegung gegenüber »sachlich« argumentierenden christlichen Theologen und von anderen Nicht-Devotees abgedruckt. Genannt seien hier nur Beiträge von Massimo Introvigne, Kim Knott, Larry Shinn, E. Burke Rochford und Charles Brooks. In anderen Beiträgen setzten sich Devotees selbst aktiv mit den Vorwürfen aus der Sektendebatte auseinander. ISKCONDevotees beteiligten sich auch an direkten Diskussionen mit Protagonisten der »Sektendebatte«. Besonders augenfällig wurde aber ein Trend, der wohl in den 1980er Jahren eingesetzt hatte und sich in den 1990er Jahren verstärkte: Eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Devotees begann akademische Karrieren in religious studies oder in der Indologie. Unter den hochrangigen ISKCON-Mitgliedern, die eine religionswissenschaftliche, theologische und/oder indologische Universitätsausbildung durchliefen und mit einem Promotionsstudium fortsetzten, seien nur Ravindra Svarupa Dasa (William H. Deadwyler), der 2002 verstorbene 86

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Tamal Krishna Goswami (Thomas G. Herzig) und Krishna Kshetra Dasa (Kenneth Valpey) namentlich genannt. Mit ihren Arbeiten und Publikationen über Krishna-Bewusstsein als Religion und ISKCON bzw. den Gaudiya-Vishnuismus als religiöse Bewegung nahmen sie explizit und aktiv den Gegenstandpunkt zur dominanten Diskursposition ein, und sie argumentierten dafür nicht nur aus vishnuitischer Perspektive, sondern versuchten dies auch mit den Mitteln und Methoden der Wissenschaften. Zusätzlich begannen hochrangige Vertreter der ISKCON in den 1990er Jahren, sich aktiv an Veranstaltungen des interreligiösen Dialoges zu beteiligen und diese auch mit zu organisieren. Im ISKCON Communications Journal erschienen zahlreiche Beiträge, die aus Sicht der ISKCON und anderer Teilnehmer an solchen Veranstaltungen ISKCONs Rolle darin beschrieben (vgl. Cracknell 2000). Einer der Höhepunkte dieser Entwicklung ereignete sich 2008, als ein Vertreter der ISKCON mit Papst Benedikt XVI im Verlaufe von dessen Amerikabesuch zusammentraf.12 Sowohl die wissenschaftliche Auseinandersetzung von Devotees mit ihrer Tradition als auch die Beteiligung an Dialogveranstaltungen trugen – zusätzlich zu den internen Reformen und Restrukturierungsmaßnahmen – zu einer Entwicklung bei, die dazu führte, dass die ISKCON inzwischen aus den Debatten um die Gefährlichkeit von Sekten und Psychogruppen verschwunden ist und als vergleichsweise unumstritten im religiösen Feld etablierte Gemeinschaft betrachtet werden kann. ISKCON wird inzwischen im öffentlichen Diskurs recht einhellig als wenn auch etwas seltsame, so doch etablierte religiöse Bewegung kategorisiert. Alte Ängste vor Missbrauch und Gehirnwäsche, wie sie in den 1970er und 80er Jahren vorherrschten, sind sicher nicht ganz aus der Welt geschafft, sie spielen aber bei der Wahrnehmung der ISKCON heute eine eher untergeordnete Rolle.

5 Fazit: Die dritte Wandlung Ich komme damit noch einmal zur anfangs aufgeworfenen Frage des Religionsdiskurses zurück. Das hier angedeutete Beispiel der ISKCON verdeutlicht eine aktive Nutzung von so genannten subalternen Positionen, welche die von dominanten Positionen und Akteuren »bestimmten«

12 Vgl. bspw. den online-Bericht des ISKCON News Staff, »ISKCON Scholar Greets Pope on Behalf of Hindus«, in: ISKCON News Weekly, www.news.iskcon.com/node/991/2008-04-18/iskcon_scholar_greets_pope _behalf_of_us_hindus, mein Zugriff am 16.11.2008. 87

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Regeln eines Diskurses13 unterläuft, indem sie im Aussageinhalt zwar den dominanten Positionen widerspricht, diese formal aber »richtig« anwendet und Strategien der Verstärkung findet. Ein solches Unterlaufen bewirkt Veränderungen des Diskursfeldes, indem argumentative Ausgangslagen verändert und Grenzen verschoben oder erweitert werden. Dabei geht es nicht einfach um fortgesetzten Rekurs auf eigene Positionen, sondern auch darum, sie an diskursstrategisch günstiger Stelle einzubringen und »benachbarte Positionen« (wie in diesem Falle die der RW) zur Verstärkung einzusetzen und selbst aktiv zu nutzen. Die Aufnahme von religionswissenschaftlichen Texten in die eigenen Publikationsorgane sowie die Adoption religionswissenschaftlichen Vokabulars und wissenschaftlicher Schreib- und Argumentationsweisen in eigenen Texten seitens vieler Devotees sprechen hier eine ebenso deutliche Sprache wie die Tatsache, dass Devotees Indologie und/oder Religionswissenschaft studierten oder sich aktiv am, im öffentlichen Diskurs positiv besetzten, interreligiösen Dialog beteiligten. Der Umstand, dass die ISKCON nunmehr – wie oben gezeigt – im öffentlichen Diskurs mehr oder weniger als »religiöse Bewegung« anerkannt ist, zeigt, dass sich in diesen Prozessen die Grenze dieses Diskursfeldes verschoben hat. Indem die Bewegung innerhalb dieser Grenzen steht, kann sie von dort aus in begrenztem Maße selbst an den dominanten Positionen mitwirken und den »Grenzverlauf« mitbestimmen, wie es in Bezug auf interreligiösen Dialog und die Anerkennung von Hindugemeinschaften weltweit auch zum Teil bereits geschieht. Im gleichen Zuge und als Teil des selben Prozesses findet weltweit eine Anpassung weg von »in Verruf geratenen« und häufig suspekt erscheinenden Modellen – hier einer sich weitgehend abschottenden Zentrumsstruktur – hin zu gängigen Modellen der Strukturierung religiöser Organisationen statt – in diesem Falle der congregation-Bildung –, die eine Kommunikation (anderer) etablierter Religionsgemeinschaften mit der ISKCON »auf Augenhöhe« ermöglicht. So zeigt sich, dass zu diesen beiden oben ausführlicher analysierten Wandlungsprozessen der ISKCON eine weitere tritt: Das Bild der Bewegung in der Öffentlichkeit (oder: in verschiedenen Teilöffentlichkeiten wie dem religiösen Feld, den Medien, der Sektendebatte etc.) ist ebenfalls starken Veränderungsprozessen unterworfen. Gewiss ist: Beide Prozesse – die internen Wandlungen wie die Veränderungen in der Fremdwahrnehmung – bedingen 13 Grundsätzlich gilt – was hier nicht ausgeführt werden kann –, dass Diskursregeln nicht im Sinne von Gesetzen „bestimmt“ oder gar schriftlich fixiert sind. Sie bestehen allein als Äußerungspraktiken, deren Einhaltung in diskursiv bestimmter Weise für die Teilhabe an einem Diskurs notwendig ist. (Vgl. dazu Foucault 1997, 32ff.) 88

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sich gegenseitig. Die öffentliche Ablehnung der ISKCON im Zuge der »Sektendebatte«, die sich in Reaktion auf die erste Wandlung noch verschärfte, führte zur Arbeit an internen Problemen und zu Reformen (Guru Reform, Reform der Schulen und des Ansehens von weiblichen Devotees). Sobald diese als erfolgreich auch außerhalb wahrgenommen und akzeptiert wurden, kam es zu einer Aufweichung des Negativbildes, und die ISKCON konnte sich zu einer großteils etablierten Religionsgemeinschaft entwickeln. Dies wiederum brachte auch ein selbstbewussteres Auftreten der Bewegung in der Öffentlichkeit (interreligiöser Dialog, Papsttreffen) mit sich. Es handelt sich aber bei der gegenseitigen Beeinflussung dieser Prozesse nicht nur um historische Abfolgen und Reaktionsketten, sondern auch und gerade um ständige aktive Bezugnahme aufeinander. Das führt so weit, dass der Diskurs über ISKCON zum Teil auf sich selbst rekurriert, indem beispielsweise behauptet wird, die jetzige bessere Position der ISKCON sei auf die erfolgreichen Reformen zurückzuführen, die wiederum nur aufgrund der früheren unerbittlich kritischen Haltung überhaupt angegangen worden seien. Gleichzeitig sind diese Debatten inzwischen zum Inhalt der historischen Selbstverortung der ISKCON geworden, wenn in Sonntagsvorträgen und Publikationen darauf Bezug genommen wird und die Reaktionen und Gegenreaktionen theologisch gedeutet werden. Man könnte – wiederum zugespitzt – formulieren: Der Diskurs über den Diskurs wird selbst zum wichtigen Einflussfaktor auf den weiteren Verlauf der Entwicklungen.

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West-Östliches New Age? Ein Neuzugang im religiösen Feld und seine grundsätzliche Verortung FRANZ WINTER

In einer Auseinandersetzung mit dem Wandel der religiösen Landschaft ist immer auch die Frage nach etwaigen Neuzugängen, die die Szenerie bereichern, von Interesse. Viele der als Neue Religionen wahrgenommene Gruppierungen sind schon älteren Entstehungsdatums, was auch deren Wahrnehmung und bislang erforschte Entwicklung betrifft. Ein Blick nach Japan, das bekanntermaßen eine äußerst bunte religiöse und insbesondere neureligiöse Szene bietet, und die dort übliche Terminologie unterstützen diese These. Neben der gängigen Bezeichnung shinshky (»Neureligion«) für alle Religionsbildungen seit der Mitte des 19. Jh. hat sich in der Forschung auch der Begriff shin-shinshky (»NeuNeureligion«) etabliert, der gerne für all diejenigen Gruppierungen angewandt wird, die in den letzten Jahrzehnten entweder begründet wurden oder aber in dieser Zeit den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit erlangten (vgl. Shimazono 2004: 18f; Astley 2001: 102-104; Clarke 1991: 12-14). In diesem Beitrag soll es nun explizit um eine der jüngsten Erscheinungen auf dem religiösen Markt Japans, die 1986 begründete Kfuku no kagaku (wörtl.: »Die Wissenschaft vom Glück«) gehen. Dabei gilt das Interesse zwei Punkten: Zum einen präsentiert sich hier eine Gruppe, die in vielen ihrer zentralen Elemente eine Inspiration durch ein Segment zeigt, das in der Forschung gemeinhin als »New Age« bezeichnet wird. Das bezieht sich sowohl auf die Entstehungszeit in den frühen 80er Jahren, wo in den greifbaren Produkten die Nähe zum Channeling-Genre eindeutig ist, aber auch auf die vielen Einzelelemente der späteren, be93

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reits ausgeformten »religiösen Organisation« (shky dantai) Kfuku no kagaku. Dabei lässt sich eine deutliche Entwicklung des Selbstverständnisses des Gründers kawa Ryh beobachten, die gleichzeitig den Charakter der Gemeinschaft immer wieder veränderte.1 Dabei kann der Übergang von einer anfänglichen Rolle als spiritueller Lehrer zu einer von den Mitgliedern als höchste Repräsentation einer »Geistwelt« wahrgenommenen Instanz konstatiert werden. Zum anderen wird in diesem Beitrag thematisiert werden, inwiefern Kfuku no kagaku in ihren internationalen Verbreitungsbemühungen wiederum Wandlungen unterworfen ist. Sie bemüht sich seit den ausgehenden 90er Jahren um eine Verbreitung außerhalb Japans, die im neuen Jahrtausend besonders vorangetrieben wurde. Dabei steht unter anderem auch der deutschsprachige Raum im Fokus. Die sich hier ergebenden Schwierigkeiten hängen zentral auch mit dem im vorliegenden Band konstatierten »Wandel« zusammen. Wie dieser wiederum innerhalb der Gruppe wahrgenommen wird und wie sie auf ihn reagiert, ist ein weiteres Feld der Betrachtung.

Die Entstehung der Gemeinschaft und der Wandel im Selbstverständnis des Gründers In einem ersten Teil soll es nun um die Entstehung und Formierung der Kfuku no kagaku in Japan gehen. Der Schwerpunkt meiner Darstellung liegt einerseits auf dem deutlich erkennbaren Wandel im Selbstverständnis des Gründers und der schon angesprochenen Rezeptionslinie im Hinblick auf das »New Age«, schenkt andererseits aber auch den sich daraus ergebenden Wandlungen im Hinblick auf den Charakter der Gemeinschaftsbildung besondere Aufmerksamkeit. Kfuku no kagaku wurde 1986 von dem damals 30-jährigen Geschäftsmann kawa Ryh2 gegründet. Die Gründung geht in der Eigendarstellung auf eine Reihe von Begegnungen mit einer als »Geistwelt« (reikai) deklarierten Sphäre zurück. Am Beginn dieser Kontaktaufnahme, die in den gängigen Darstellungen mit dem 23. März 1981 datiert ist, steht Nikk, einer der Schüler des buddhistischen Reformators Nichiren, der sich mit der Botschaft »gute Nachricht« (ii shirase) in Form des »automatischen Schreibens« (jidshoki) beim jungen kawa 1981 vorstellig macht (vgl. kawa 1994a: 349-351; Okawa 2003: 8f; 1 2

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Zum Begriff »Gemeinschaft« vgl. Lüddeckens/Walthert in diesem Band. Geboren wurde kawa Ryh unter dem Namen Nakagawa Takashi 1956 in Kawashima, einem kleinen Ort auf Shikoku. Die Namensänderung ist seit der Gründung 1986 relevant; ich verwende im Nachhinein jedoch auch für die Zeit davor den gängigeren Namen.

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ausführlich in kawa 2002: 210-222). Nachdem sich gleich danach Nichiren selbst ebenfalls in Form des »automatischen Schreibens« einstellt und kawa mit der Botschaft hito o aishi, hito o ikashi, hito o yuruse (»liebe die Menschen, inspiriere die Menschen, vergib den Menschen«) den laut Eigenbekundung zentralen Kern aller weiteren Entwicklungen mitteilt (vgl. z.B. Okawa 2003: 8), kommt es zu einer Reihe von weiteren Geistweltkontakten, die in Form von medialen Sitzungen ablaufen. Ein von kawa hinzugezogener »alter Freund« namens Yoshikawa Sabur agiert im Folgenden als Interviewer des als spirituelles Medium wirkenden kawa.3 In weiterer Folge sprechen die jeweiligen Ansprechpartner aus der »Geistwelt« (reikai) durch kawa, der so gesehen als Vermittler der Inhalte fungiert. Die daraufhin entstandenen Interviews werden mit dem Audiorecorder aufgezeichnet und später transkribiert. Der Reihe nach stellen sich nun in den ersten 80er Jahren bedeutende Vertreter der religiösen, philosophischen und auch politischen Geschichte sowohl des asiatischen (= chinesisch-japanischen) Raumes als auch des westlichen (= europäisch-amerikanischen) ein. So finden sich neben den schon zitierten Nikk und Nichiren so verschiedene Gestalten wie die japanischen buddhistischen Schulgründer Kkai und Shinran, die chinesischen Philosophen Konfuzius und Laozi, Jesus, Moses, Sokrates, Gandhi oder Lincoln, der ägyptische Gott Amon oder die zentrale Gottheit der japanischen mythologischen Tradition Amaterasu-mikami. Diese Begegnungen bilden in der Eigendarstellung die Grundlegung der ersten Publikationen, die mit der Gruppe in Verbindung zu bringen sind. Es handelt sich dabei um eine Reihe von als reigen (»spirituelle Gespräche/Botschaften«) deklarierte Publikationen: Begonnen wurde mit dem Buch Nichiren shnin no reigen 1985, auf das rasch weitere Bände (Kirisuto no reigen, Kkai no reigen usw.) folgten. Diese werden durchgehend noch unter dem Namen des »Fragenstellers« (shitsumonsha), Yoshikawa Sabur, veröffentlicht, und deklarieren kawa als denjenigen, der die »Stimmen« (koe) der Geistwelt übermittelt, respektive durch den der »Geistweg« (reid) »sich öffnet« (hirakeru).4 Diese ersten Veröffentlichungen sind die Keimzelle für die weitere Entwicklung. Bei näherer inhaltlicher Betrachtung lässt sich als das wichtigste Kennzeichen 3

4

Wie Anfang der 90er Jahre bekannt wurde, handelte es sich bei dem in der ursprünglichen Darstellung als »Freund« deklarierten Yoshikawa Sabur um den Vater und beim ebenfalls genannten Mitarbeiter Tomiyama Makoto um den Bruder kawas. Von der Gruppe wird diesbezüglich vermittelt, dass man kawa nicht mit Geistweltkontakten in Verbindung bringen wollte, weil ihm dies bei seiner Tätigkeit in der Handelsfirma möglicherweise geschadet hätte; vgl. Astley 1995: 377. So in den Einleitungen und den Klappentexten der frühen Ausgaben, vgl. z.B. Yoshikawa 1985. 95

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der Texte ein beständiges Durchspielen bestimmter Themen und Topoi erkennen: Fixpunkte sind der Hinweis auf ein »neues Zeitalter« (shinjidai), das bald anbrechen werde, und eine »neue Zivilisation« (shinbunmei), die darauf folgen werde. Dies alles wird als tema con variazioni durch die Veröffentlichungen hindurch von verschiedenen Blickwinkeln aus durchgespielt. Dabei dominiert ein erratischer, oftmals unzusammenhängender Gedankenduktus, der diese Felder mehr umkreist als wirklich ausführt. Wesentlich zum Verständnis der weiteren Entwicklung ist die Unterscheidung zwischen zwei Ebenen: »diese Welt« (kono yo), alternativ auch als »dreidimensionale Welt« (sanjigen sekai), »Welt der Erscheinungen« (genshkai) oder »materielle Welt« (busshitsukai) bezeichnet, wird »jener Welt dort« (ano yo) gegenübergestellt. Das eigentliche Interesse gilt dabei ano yo, die alternativ auch als reikai (»Geistwelt«) oder tenj-kai (»Himmels-Welt«) bezeichnet wird. Die Erforschung letzterer ist vordringlichste Aufgabe, wobei das »Erforschen« in erster Linie in der Auseinandersetzung mit den weiteren reigen besteht, mithilfe derer ein umfassender Zugang zu dieser Sphäre gegeben ist. Reiche Präsenz hat in den Texten zudem ein spezifisches Inventar an Themen, das von der Existenz mythischer Vorzivilisationen, über die Realität von UFOs, die Frage nach bestimmten geistesgeschichtlichen Untergrundtraditionen, einer Neuinterpretation wichtiger Inhalte bekannter Religionen durch Bezug auf neu entdecktes, aber uraltes Geheimwissen, bis hin zu Fragen der konkreten Lebensgestaltung als Konsequenz aus diesen Einsichten reicht. Diese Inhalte können in Bezug gesetzt werden mit dem Komplex, der religionsgeschichtlich als New Age bezeichnet wird. Dieser hat in Japan als so genannte seishin sekai (»spirituelle Welt«) eine spezifische Rezeption erfahren (vgl. Prohl 2007). Dabei ist für diesen Kontext und das Verständnis der Angaben über die Tätigkeiten kawas in der Zeit vor der eigentlichen Gründung 1986 das Segment der so genannten Channeling-Literatur zu zitieren, die als unmittelbare religionsgeschichtliche Parallele zu den hier besprochenen reigen-Texten gesehen werden muss. Dies steht in einem größerem religionsgeschichtlichen Rahmen: Eine wie auch immer geartete Kontaktaufnahme mit einer nichtirdischen Sphäre ist wesentliches Element vieler Erscheinungen der japanischen Religionsgeschichte. Insbesondere in der neureligiösen Szenerie ist dieses Moment zu den konstitutiven zu zählen (vgl. Inoue et al. 2001: 158179; Staemmler 2005: 112-116). Neben einer spezifischen innerjapanischen Tradition ist in diesem Zusammenahng auf die Wahrnehmung des europäisch-amerikanischen Spiritismus hinzuweisen, die im ausgehenden 19. Jh. einsetzte und wiederum auf die neureligiösen Entwicklungen in Japan wirkte (vgl. Nishiyama 1998: 172-176; Ichiyanangi 1994; Ka96

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mata 1987: 251-308). Der Spiritismus stellt in vielen Punkten eine wichtige Vorform des sich ab den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelnden Channeling dar,5 dessen Rezeption in Japan so gesehen nur die Fortsetzung einer schon lange bedeutenden Auseinandersetzung ist (vgl. Staemmler 2005: 108-111; Shimazono 2004: 278; ausführlicher Shimazono 1996: 78-96). Das Material aus der Frühphase der Kfuku no kagaku ist eindeutig in diesem Kontext zu interpretieren. Dies reicht von der Art der Darstellung, über die propagierte Dialogsituation, den agierenden »Charakteren«, den beschriebenen Begleitumständen bis hin zu den aufbereiteten Inhalten. Bezeichnend ist auch, dass dieser Bezug auch in den Publikationen selbst in Form einer Selbstpositionierung geschieht. So definiert sich kawa in einer nachträglichen Betrachtung im Kontext der Channeling-Tradition. Eine wichtige Kundgebung findet sich in einem Abschnitt des 1991 veröffentlichten Buches Shky no chsen. Mirakuru no kaze: Ein eigener Abschnitt beschäftigt sich darin unter dem Titel janeringu no himitsu (»Das Geheimnis des Channeling«) mit diesem Phänomen und der Position kawas selbst, weshalb es als Selbstzeugnis von besonderem Interesse ist (in der englischen Übersetzung: Okawa 1994b: 127-158). Deutlich ist dabei wieder die Einordnung in die vorgegebene Tradition. kawa sieht sich selbst als Teil dieses Stroms, weshalb er auch mit besonderer Kompetenz darüber schreiben kann (vgl. Okawa 1994b: 127). Dazu kommt, dass sich in den frühen reigen-Texten explizite Auseinandersetzungen mit wichtigen Produkten dieses Genre finden. Deutlich geschieht dies beispielsweise in einem Abschnitt der Nichiren shnin no reigen aus 1985, wo in einem umfangreichen Teil eine ausführliche Behandlung der »Problempunkte« (mondaiten) bei den spirituellen Bekundungen des Geistwesens Silver Birch geboten werden. Diese wurden vom Medium Maurice Barbanell (1902-1981) ab den 60er Jahren bis 1981 übermittelt und stellen einen Klassiker der ChannelingLiteratur dar (vgl. Melton 1996, Bd.1: 154f), der auch in Japan auf sehr großes Interesse gestoßen ist. In der Auseinandersetzung damit geht es um Korrekturen der dort vertretenen Ansichten über die Zugangsmöglichkeiten zur Geistwelt und anderer Details; das reigen-Material wird 5

Die große Schwierigkeit besteht darin, sinnvolle Abgrenzungen des Channeling-Phänomens von vergleichbaren Erscheinungen in der Religionsgeschichte zu ziehen. Hanegraaff (1998: 24-27) schlägt deshalb den pragmatischen Zugang vor, diejenigen Zeugnisse unter diesem Label zu vereinen, die sich von ihrem Selbstverständnis her in diese Tradition einreihen. Dagegen wird der »universale« Charakter des Channeling gerade in vielen modernen Darstellungen immer wieder betont. vgl. z.B. Bjorling (1992: 3): »The phenomenon and practice of mediumship have existed from antiquity.« 97

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eindeutig im Kontext dieses Genres positioniert (vgl. kawa 1990: 191203). Dabei ist auch mit der Titelgebung der ersten Bücher eine Selbsteinordnung gegeben: Der Ausdruck reigen ist in erster Linie gebräuchlich im Zusammenhang der damals entstandenen Übersetzungen der einschlägigen Channeling-Literatur. Diese wurden zudem in einem sehr großen Ausmaß in den 80er Jahren im selben Shiobunsha-Verlag veröffentlicht, in dem auch die ersten Publikationen kawas erschienen. Insgesamt fallen die frühen Texte, die für die weitere Entwicklung der Kfuku no kagaku konstitutiv wurden, genau in die Phase der intensiven Rezeption dieses angloamerikanischen Materials in der ersten Hälfte der 80er Jahre.6 Dies geht konform mit dem von Hanegraaff als »popular channeling craze« (Hanegraaff 1998: 39) bezeichneten massiven Interesse am Channeling-Phänomen in den 80er Jahren, das insbesondere durch die Tätigkeit der amerikanischen Schauspielerin Shirley Maclaine (1934-) ausgelöst wurde. Mit ihrer Publikation Out on a limb (1983) und der gleichnamigen TV-Miniserie (1987) brachte sie einige der darin wirkenden Channeling-Medien zu Ruhm und erhöhte die allgemeine Bekanntschaft des Phänomens beträchtlich. Diese Veröffentlichungen stellen auch einen wichtigen Marker für die Rezeption in Japan dar (vgl. Gebhardt 2001: 22; Baffelli 2004: 18). Das mit kawa verbundene Material in der Frühzeit lässt sich also gut unter diesen rezeptionsgeschichtlichen Kriterien erklären. Für die weitere Entwicklung stellt dies aber nur eine Übergangsperiode dar: Nach den ersten Veröffentlichungen, die von der Gruppe bis heute als wichtiger früher Verkaufserfolg deklariert werden, kommt es schließlich 1986 zur formellen Gründung der Kfuku no kagaku. kawa gibt am 15. Juli 1986 seine Arbeit auf und eröffnet am 6. Oktober das erste Büro (shibu) von Kfuku no kagaku in Tokyo. Daraufhin lässt sich vor allem in Bezug auf den Selbstanspruch des Gründers ein eindeutiger Wandel konstatieren, der in einem immer größeren Ausmaß vom Vermittler der Geistbotschaften in eine weit umfassendere Rolle rückt und langsam aber sicher zum eigentlichen Gegenstand der Verehrung, respektive dessen derzeit aktueller irdischer Repräsentation wird (vgl. Winter 2008: 65-79). Wichtige Anhaltspunkte für diesen Übergang sind die bis heute als grundlegende Referenzschriften geltenden drei so genannten hBücher, die geschlossen als kysei no h (»Gesetze der Erlösung«) oder 6

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Ein weiteres wichtiges Beispiel, auf das kawa ebenfalls Bezug nimmt, wären die White Eagle-Mitteilungen des Mediums Grace Cooke (gest. 1979), die bereits 1934 die White Eagle Lodge gründete, die sich um diese spirituellen Bekundungen herum entwickelte und bis heute besteht. In Japan erschienen diese 1986 unter dem Titel Howaito giru reigensh und werden bis heute aufgelegt.

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kysei no sambusaku (»Trilogie der Erlösung«) bezeichnet werden und 1987 in knapper Reihenfolge erscheinen (vgl. Kfuku no kagaku sg honbu 2001: 21). In den Büchern Taiy no h (»Gesetze der Sonne«), gon no h (»Goldene Gesetze«) und Eien no h (»Gesetze der Ewigkeit«) wird der Anspruch erhoben, die Botschaften des Buddha, respektive eine neue Form des buddhistischen »Gesetzes« (h) der Welt zu präsentieren. Abgesehen von der programmatischen Titelgebung unter Verwendung eines zentralen Begriffs der buddhistischen Tradition wird dies auch n den Untertiteln der Originalausgaben von 1987 deutlich gemacht: So ist die erste dieser Publikationen, Taiy no h, mit dem Untertitel shinjidai o terasu shaka no keiji (»Offenbarungen des Shakyamuni, der das neue Zeitalter erleuchtet«) versehen.7 Dabei ist zu beachten, dass mit dem Terminus keiji zwar ein direkter Bezug zu den vorhergehenden Publikationen gegeben ist,8 mit dem Bezug auf den Buddha jedoch explizites Neuland betreten wurde. Zudem ergibt sich auch inhaltlich ein wesentlicher Unterschied zu den vorhergehenden Publikationen: In diesen Büchern wird nämlich nichts Geringeres als eine umfassende Kosmologie, Geschichtslehre und Anthropologie geboten, die in dieser Form bislang in den reigen-Texten nicht gegeben war. Konkret wird das Buch Taiy no h als das grundlegende »Theorie«-Buch (riron) bezeichnet, in dem auch die Entstehung der Welt dargestellt wird, gon no h behandelt das Thema »Geschichte« (rekishi) und Eien no h das Thema »Raum« (kkan) (vgl. Kfuku no kagaku sg honbu 2001: 21). Diese Veröffentlichungen lassen sich in ihrer Grundsubstanz bei nüchterner Betrachtung von außen ebenfalls vor dem schon zitierten New Age-Material verstehen und stehen nur bedingt mit dem Buddhismus in Verbindung. Deutlich zeigt sich dies beispielsweise bei der ausführlich dargestellten Kosmologie und insbesondere bei der Geschichtsauffassung. Diese kann mit einer ausführlichen Lehre von verschiedenen imaginierten Vorzivilisationen, unter anderem Atlantis und Mu, aufwarten, die bekannte Inhalte des »New Age« darstellt (vgl. Hanegraaff 1998: 302-320). So gesehen liegen diese Veröffentlichungen ganz in der 7

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Eine ähnliche Bezüglichkeit stellen auch die Untertitel der anderen zwei Büchern dieser ersten Reihe dar. Bei gon no h findet sich: shinbunmei o hiraku shaka no eichi (»Die Weisheiten des Shakyamuni, der eine neue Kultur eröffnet«); bei Eien no h ist zu lesen: shinsekai o shimesu shaka no kmy (»Die Herrlichkeit Shakyamunis, der eine neue Welt zeigt«). Zwar ist der terminus technicus der frühen Tätigkeit kawas die Vermittlung von reigen, jedoch wird auch der Ausdruck keiji in diesem Zusammenhang gebraucht. Vgl. z.B. Kfuku no kagaku sg honbu 2001: 16-20; auch in der frühesten Publikation kawas, den Geistgesprächen mit Nichiren, wird in der Einleitung dieselbe Terminologie verwendet (vgl. kawa 1990: 3). 99

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vorab relevanten Tradition, bieten aber eine Erweiterung in Bezug auf den Buddha als die vermittelnde Figur dieser Inhalte. Dazu kommt der erweiterte Anspruch, eine umfassende Gesamtdeutung zu präsentieren. Dieses Interesse läutet eine wesentliche Verschiebung der inhaltlichen Positionierung in Bezug auf die Person kawas ein. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch die Frage der Vermittlung der Inhalte und der Form der Gemeinschaftsbildung. Eine frühe Charakterisierung der Kfuku no kagaku als »audience cult« stammt von Mark R. Mullins (Mullins 1992: 239), der sich auf die vorherrschende Form der Vermittlung der Inhalte in Form von »[Vor]Lesungen« (kenkai) und »Seminaren« (semin) bezieht. Die angegebenen Titel dieser Veranstaltungen entsprechen der nun intensiv betriebenen weiteren Veröffentlichung von Büchern, dem zweiten wichtigen Medium in der Frühzeit. Hier ist eine weitere Charakterisierung zu zitieren, die von Inoue Nobutaka als Parallele zur schon älteren neureligiösen Bewegung Seich no ie angeführt wird:9 Deren Gründer Taniguchi Masaharu hat sich in erster Linie als Schriftsteller verstanden (vgl. Inoue et al. 1996: 36f), weshalb die Religionsgemeinschaft auch als »VerlagsReligion« (shuppan shky) bezeichnet wurde (vgl. Inoue 1992: 29). Diese Charakterisierung ist in Hinblick auf die herausragende Stellung des Mediums »Buch« gerade in der Zeit der Formierung der Kfuku no kagaku besonders zutreffend. Deshalb ist auch die Gründung des gruppeneigenen Verlags Kfuku no kagaku shuppan/IRH-Press im Dezember 1987 einer der wichtigsten Schritte in der weiteren Entwicklung (vgl. Kfuku no kagaku sg honbu 2001: 17f). Weiteres wichtiges Zeichen ist die zuweilen betonte Abgrenzung von »Religion« oder »Religionsgemeinschaft« in der Eigenpräsentation der Kfuku no kagaku. Für die früheste Zeit werden die Begriffe »Studieninstitut« oder »Schule« (gakk) als Selbstbeschreibung angeführt (vgl. kawa 2004: 228). Die erste offizielle Selbstbezeichnung war Jinsei no daigaku-in: Kfuku no kagaku/Graduate School of Life: The Science of Happiness (vgl. Fukui 2004: 68). Das begriffliche Oszillieren in Bezug auf die Selbstdefinition wurde auch später noch virulent: Zum Anlass der staatlichen Eintragung der Kfuku no kagaku als shky hjin (»religiöse Körperschaft«) im Jahre 1991 wurde Kritik laut, die der Gruppe den »Religionsgemeinschafts«-Charakter absprechen wollten. kawa selbst plädierte noch 1991 in einem Interview mit einem seiner Kritiker dafür, dass Kfuku no kagaku eigentlich nicht so recht in eine Kategorie 9

Die Religionsgemeinschaft Seich no ie (»Haus des Wachstums«) wurde 1930 von Taniguchi Masaharu (1893-1985) begründet und zählt zu den größeren, auch international aktiven der neueren Religionsbewegungen Japans.

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– sei es im Bereich »Unterricht« (kyiku) oder als Firmenunternehmen (kaisha) oder eben im Kontext »Religion« (shky) – passe. Anfänglich sei zudem die Abgrenzung von der Deklarierung als »Religion« auch deshalb wichtig erschienen, weil diese ein schlechtes Image in der Gesellschaft habe. Letztendlich habe sich kawa aber doch für eine Eintragung als shky hjin entschieden, gerade um dieser schlechten Wertung des Komplexes Religion – trotz dessen eminenter Wichtigkeit – entgegenzuwirken.10 Dieses begriffliche Springen spiegelt gut die stufenweise Entwicklung hin zur Selbstdarstellung als Religionsgemeinschaft wider. In der gruppeninternen Darstellung findet sich erst mit dem Jahr 1991 eine Definition als »religiöse Organisation« (shky dantai) (vgl. Kfuku no kagaku sg honbu 2001: 29). So gesehen erscheint die frühe Gruppe von ihrem Selbstverständnis her als study group der spirituellen Botschaften kawas definiert werden zu können (vgl. Astley 1995: 355f, 376; Winter 2008: 67, 80). Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die stufenweise Änderung der Mitgliederstruktur. Für die Frühzeit betont kawa den exklusiven Charakter der Mitgliedschaft in der Gemeinschaft. Dies wird heute vermittelt als expliziter Wunsch, anfänglich nicht zu rasch expandieren zu wollen. Vielmehr sollten genügend geeignete Leute, die sich intensiver der neuen Lehre widmen, ausgebildet werden, die dann erst eine weitere Verbreitung möglich machen. kawa sieht darin einen wichtigen Unterschied zu den bisherigen Religionsgründungen, die seines Erachtens den Fehler machten, am Anfang nur auf Expansion zu setzen, ohne dafür die personellen Voraussetzungen zu haben (vgl. Okawa 2000a: 17). Die Begrenzung der Mitgliederzahl erscheint als Mittel einer stärkeren Formierung und Bildung der Mitglieder. Im Zentrum standen dabei Ausbildungsseminare (kenshkai), die zur Herausbildung einer Kerngruppe führen sollten. Deren Mitglieder sollten als Instruktoren ausgeschickt werden, wobei es in Anlehnung an die Terminologie des akademischen Betriebs eine Unterteilung in eine erste Gruppe von »associated lecturer« (junkshi) und eine zweite von besser ausgebildeten lecturer (kshi) gab (vgl. Baffelli 2004: 63). kawa betont in diesem Kontext seine Vorsicht, die problematische Entwicklungen verhindern sollte (vgl. Okawa 2000a: 17f). Die Seminare selbst wurden bald in verschiedene Stufen unterteilt, die je nach Ausbildungsgrad zu belegen waren, was wiederum zu einer Unterteilung in verschiedene Grade der Mitgliedschaft führte. Der Zugang erfolgte dabei über das Kernmedium, über das sich die Gruppe definierte und das auch für die Folgezeit zum entscheidenden Mittel der Verbreitung wird:

10 Dieses Interview erschien in der Monatszeitschrift Gekkan Samsra in der Nummer 12, 46f; zitiert nach den Angaben bei Fukui 2004: 73. 101

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das Buch. Für einen Beitritt musste man eine Reihe von Veröffentlichungen kawas, insbesondere die zentralen h-Texte, lesen und darüber eine Prüfung ablegen, respektive ein damit in Zusammenhang stehendes Motivationsschreiben vorlegen, das von kawa selbst durchgesehen worden sein soll. Erst im Anschluss daran konnte man sich als Mitglied eintragen lassen. Eine bedeutende Wende und Erweiterung erfuhr das Programm schließlich in den ausgehenden 80er Jahren. Zu den wesentlichsten Elementen zählt dabei die Neudefinition der Bedeutung und Funktion des Gründers, kawas selbst. Während dieser in den 1987 veröffentlichten h-Büchern noch als Vermittler des neuen »Gesetzes« des Buddha auftritt, wird gegen Ende der 80er Jahre die Behauptung aufgestellt, dass kawa selbst nichts Geringeres als die Wiedergeburt des Buddha repräsentiere. Diese Wahrheit hätte er ursprünglich für sich behalten und anfänglich nur engsten Vertrauten mitgeteilt (vgl. Nijisseiki bunmei kenkykai 1991: 76f). Für sich selber beansprucht er die Einsicht in sein wahres Wesen schon viel früher, wie in seinen späteren autobiographischen Bekundungen immer wieder betont wird. Erst 1989 reicht er diese neue Wahrheit jedoch explizit an die Öffentlichkeit weiter, wobei das Buch Budda saitan (»Die Wiedergeburt Buddhas«) den greifbaren ersten Marker darstellt. Diese Veröffentlichung demonstriert den neuen Selbstanspruch kawas, wenn er sich in der Eröffnungspassage als der neue Buddha an seine als deshi-tachi (»Schüler«)11 bezeichneten Anhänger wendet und sie auffordert sich über seine »Wiedergeburt« zu freuen. Die in diesem Kontext verwendete pathetisch getragene Sprache charakterisiert auch die folgenden Selbstbekundungen kawas und stellt einen wesentlichen Unterschied zu den vorab greifbaren Stellungnahmen dar.12 Deutliches Signal für diesen weiteren Wandel der Gemeinschaft ist dann auch die Einführung der dreigliedrigen buddhistischen Zufluchtsformel. Diese soll das erste Mal in einer Serie von vier Seminaren über den Achtfachen Weg bei kawa im Jahre 1989 Erwähnung gefunden haben (vgl. Kfuku no kagaku sg honbu 2001:18 und bes. 25). 11 Diese Bezeichnung ist mit der buddhistischen Tradition verbunden. Vgl. den Eintrag bei Nakamura et al. 2002: 730, s.v. deshi. 12 Die Eingangspassage des Buches sei hier in der englischen Übersetzung zitiert (Okawa 1991: 5; jap. Text: kawa 1989: 12): »All priests and priestesses (biku und bikuni),/My beloved disciples,/Do you remember my voice?/You must all have heard me before./In the passing of tens of thousands of years,/Hundreds of thousands, nay, millions of years,/You must have lived with me on earth./And also in the Real World (jitsuzaikai), you must haven trodden/The path to enlightment as my disciples (deshi)/All priests and priestesses,/I have now returned./Rejoice at my rebirth./Be aware of my return./Be wise to my rebirth, to this fact and to the time.« 102

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Das Zufluchtnehmen zum Buddha (= kawa), dem dharma (jap. h = die Texte kawas) und dem sangha (= Kfuku no kagaku) wird ab nun zum festen Bestandteil der Aufnahmezeremonie für Vollmitglieder (seikaiin). Der Eintrittskandidat muss eine als sanki seigan shiki (»Gelübde auf die Zuflucht zu den drei Juwelen des Buddhismus«) bezeichnete Feier bei einem der lokalen Büros von Kfuku no kagaku absolvieren. Die Einführung der Feier zur Aufnahme selbst geht auch einher mit einer Ablösung vom bislang gebräuchlichen Zugang, in dem die Lektüre der Bücher kawas der einzige Maßstab für einen Beitritt war und rituelle Vollzüge keine Rolle gespielt hatten. Der Bezug auf den Buddha, respektive der Anspruch, diesen hier nun in Gestalt kawas auf Erden wieder erleben zu können, erfährt relativ rasch eine Erweiterung Anfang der 90er Jahre. Darin wird die »endgültige« Version, d.h. die finale Wahrheit über kawa, sein Wesen und seine Funktion, ausformuliert. Dieser neue Inhalt wurde im Jahre 1991 im Zuge einer umfangreichen Öffentlichkeitskampagne in die Öffentlichkeit getragen, was zu einem Anstieg der Bekanntheit dieser Gruppe führte und ihr regen Zulauf bescherte. Diese Kampagne war aber auch der Anlass für eine heftige kontroverse Auseinandersetzung um diesen Neuzugang auf dem religiösen Feld, die in die so genannte »Friday«Affäre gipfelte.13 Zentral war eine Reihe von medienwirksamen Massenveranstaltungen, vornehmlich im Großraum Tokyo, im Zuge derer kawa sich mit der neuen Botschaft an die Welt wandte (vgl. Winter 2008: 74f). Mit ihnen ist auch der definitive Übergang der Wahrnehmung des Gruppengründers innerhalb der Gruppe als aktuelle irdische Repräsentation des höchsten Geistwesens vollzogen. Zentrales Ereignis ist dabei der 15. Juli 1991, das als kyso otanj kinensai (»Erinnerungsfeier zum Geburtstag des Religionsgründers«) abgehalten wurde. Es handelte sich zwar nicht um das erste öffentliche Auftreten kawas, jedoch um das erste, das als »Fest« (-sai) deklariert wurde und nicht als »Vorlesung« (kenkai) oder »Seminar« (semin). Noch dazu war es mit einem persönlich relevanten Datum aus der Biographie kawas verbunden, was ebenfalls eine Novität darstellte. Erica Baffelli spricht bei ihrer 13 Das Wochenmagazin Friday (Furaid) veröffentlichte eine Reihe von äußerst kritischen Artikeln über Kfuku no kagaku. Daraufhin kam es zu einer organisierten Demonstration der Gruppe vor dem Gebäude des herausgebenden Kdansha-Verlages, der daraufhin laut Eigenangaben für mehrere Tage blockiert war. Dieser Vorgang gilt als einer der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der Gruppe, weil eine bislang nur als Studiengruppe spiritueller Übermittlungen wahrgenommene Bewegung ihr Potential zur Massenmobilisation zeigte. Im Anschluss an diese »Affäre« kam es zu einer Reihe von gerichtlichen Handlungen, die erst Anfang des neuen Jahrtausends ihr Ende fanden. Vgl. Baffelli 2007: 91-95. 103

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Feinanalyse dieses ersten großen zentralen event von der darin vollzogenen »sacralisation of the body of the leader«, der spätestens dann auch für die Mitglieder zur Repräsentation des eigentlichen Verehrungsgegenstandes wurde (vgl. Baffelli 2007: 89-91; Baffelli 2004: 147-156). Im Rahmen einer Inszenierung mit professionellen Tanz- und Musikeinlagen tritt kawa an zentraler Stelle mit einer neuen Botschaft auf, die gruppenintern als Eru Kantre sengen (»El Cantare Proklamation«) bezeichnet wird. Er verkündet darin in ähnlich getragener und pathetischer Sprache wie im Zusammenhang mit der Buddha-Verkündigung die Erweiterung des Anspruchs. Es wurde nämlich ein Geistwesen mit der Bezeichnung El Cantare, das sich in verschiedenen Epochen der Menschheit auf die Erde begeben hat, offiziell als die zu verehrende Instanz festgelegt. Für dieses Geistwesen wird nun eine Vorinkarnationsliste propagiert, die bei näherer Betrachtung das zugrundeliegende Schema und den Grund für diese Erweiterung verrät: Die als »kanonisch« bezeichnete Liste der vorherigen irdischen Repräsentationen des höchsten Geistwesens umfasst folgende Figuren in der »historischen« Sicht der Gruppe: (König) La Mu auf dem »Kontinent Mu« (M tairiku), (König) Thos auf dem »Kontinent Atlantis« (Atorantisu tairiku), (König) Rient Arl Crowd im südamerikanischen »antiken Inka-Reich« (kodai Inkateikoku), Ophealis und später Hermes im antiken Griechenland, Gautama Siddharta in Indien und schließlich kawa Ryh im heutigen Japan (vgl. Okawa 1994a: 358f). Dabei muss hervorgehoben werden, dass trotz dieser Erweiterung der Bezug auf den Buddhismus als wichtigster Referenz- und Orientierungspunkt der eigenen Positionierung aufrechterhalten bleibt. kawa ist in erster Linie die Wiedergeburt El Cantares, jedoch ist der Buddha die wichtigste Vorinkarnation, so dass die Bezüge auf diesen zu den wichtigsten im System zählen. Auch das Wesen El Cantare wird in der Eigenbeschreibung durchgehend innerhalb der Muster des Buddhismus beschrieben (vgl. z.B. Okawa 1994a: 358), doch stellt der Bezug auf El Cantare eine deutliche Erweiterung dar. Bei näherer Betrachtung erweisen sich diese Angaben, insbesondere was die darin präsentierte Kosmologie und Geschichtslehre betrifft, als stark vor dem Hintergrund spezifischer geistesgeschichtlicher Traditionen interpretierbar, die mit einem Bezug auf den Buddha und den Buddhismus nur schwerlich verbindbar bleiben. Dabei lässt sich in vielen Punkten eine Inspiration durch Materialien erkennen, die im weitesten Sinn ihren Ursprung in der westlichen esoterischen Tradition und insbesondere im Pool derjenigen Literatur haben, die man gemeinhin der New AgeBewegung zurechnet. So spielen beispielsweise ausführliche Darstellungen der untergegangenen Kontinente Atlantis und Mu und der dortigen Lebenswelten eine große Rolle in der Darstellung. Somit erweist sich 104

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sein Konzept des El Cantare als Erweiterung des Buddhismus um neue Inhalte: Deshalb wird auch von Kfuku no kagaku selbst festgehalten, dass es sich nicht einfach um eine »sect of Buddhism« (bukky no ippa) handle, sondern mit dem Bezug auf andere Inhalte eine deutliche Erweiterung gegeben ist (vgl. Kfuku no kagaku kokusai-kyoku 2008: 32f). kawa tritt dabei mit dem Anspruch auf, dieses diffuse Material einer Ordnung zu unterziehen: Er ist derjenige, der kraft seiner souveränen Einsicht in die Geistwelt die großen Zusammenhänge darlegen kann. Damit erweist er sich als der Erklärer einer ansonsten nicht klar erfassbaren und definierten »Realität«, die so eine konkrete Form gewinnt. Das überkommene Material erhält – so gesehen – eine Verortung in einem umfassenden System, das sich als das zugrundeliegende Geschichtsschema erweist. Mit der Etablierung der Vorinkarnationenliste des zentralen Verehrungsgegenstandes im Kontext dieses Materials zieht er diese Geschichtsschilderung in das Wirken des höchsten Geistwesens hinein. Eine nähere Betrachtung der propagierten Liste der vorhergehenden irdischen Repräsentation des Geistwesens El Cantare verdeutlicht vor allem den dahinter stehenden Anspruch: kawa sieht sich selbst als Endpunkt einer Vorinkarnationenkette, die in ihm ihre Vollendung gefunden hat. Dabei spielt der schon zitierte Aspekt des Zusammenführens von »Ost« und »West« eine zentrale Rolle. In der Außenpräsentation wird dieser Gedanke heute sehr stark verbunden mit zwei dieser Vorinkarnationen, denen eine besonders hohe Rolle zuerkannt wird, nämlich Buddha und Hermes, die ab Anfang/Mitte der 90er Jahre zu den zentralen Bezugsgestalten aufgebaut werden. Beredtes Zeugnis dafür ist die bis heute gegebene Grunddefinition in Bezug auf das Geistwesen El Cantare, wie es sich beispielsweise auf der Homepage findet: »We have faith in Lord El Cantare, Eternal Buddha, who has been guiding humanity throughout eternity. In the past, the consciousness of El Cantare was incarnated as Shakyamuni Buddha (Gautama Siddhartha) in India, and as Hermes in Greece. Now, His core consciousness has descended on earth as Master Ryuho Okawa and preaches the Truth.«14

Hermes und Buddha werden somit als die wichtigsten Vor-Stationen der irdischen Repräsentationen des höchsten Geistwesens gesehen. Zusätzlich zu den Publikationen zum Buddha setzte dementsprechend auch in Bezug auf den »griechischen Gott« eine ausgeprägte Veröffentlichungstätigkeit ein, zumal dieser in Japan keine bekannte Größe darstellt. Seine 14 Vgl. www.kofuku-no-kagaku.or.jp/en/whatsirh/. 105

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Biographie wird ausführlich dargestellt in Form eines vierbändigen Romans mit dem Titel Ai wa kaze no gotoku (»Liebe ist wie der Wind«), den kawa aufgrund seiner souveränen Einsicht in die wahren historischen Zusammenhänge erstellen konnte. Dabei handelt es sich um eine mit vielen Details ausgeschmückte und auch als Manga und Anime bearbeitete Erzählung, in der der »historische« Hermes als Held (eiy) alle möglichen Abenteuer zu bestehen hat, um sich schließlich sowohl als spiritueller als auch politisch tätiger Herrscher im antiken Griechenland zu bewähren.15 Dieses Material, das von einer durch kawa vermittelten neuen Sicht der Geschichte ausgeht, wird kombiniert mit der Stilisierung von Hermes zum Gegenüber des »Buddha« und Repräsentanten der »westlichen« Kultur, was in Folge auch in diversen Ausführungen über den »Einfluss« (eiky) des so genannten »Hermes-Denkens« (Herumesu no shis) auf die gesamte »westliche Kultur« (seiy bunmei) thematisiert wird.16 Dabei wird auf ein Repertoire an Argumentationsfiguren zurückgegriffen, das in der westlichen esoterischen Tradition eine ausgeprägte Vorgeschichte hat und insbesondere im Zusammenhang mit der Figur des »Hermes Trismegistos« und der hermetischen Tradition als prägende Geistesströmung des Westens in unterschiedlicher Art und Weise bekannt ist. Im Zuge dieser Ausführungen wird bei Kfuku no kagaku auch der Bezug auf die imaginierten Vorzivilisationen weiter vorangetrieben. So wird Atlantis explizit mit dem Westen, der Kontinent Mu mit dem Osten verbunden (vgl. z.B. kawa 2005b: 248-261). Neben der umfassenden Geschichtserklärung muss vor allem auch die Botschaft beachtet werden, die sich daraus an das einzelne Mitglied

15 Seine hohe Bedeutung erweist sich auch darin, dass Hermes ein wichtiger Schirmherr von einigen Tempelbauten ist, so beispielsweise des Shshinkan in Sapporo oder des Miraikan in der Stadt Utsunomiya, eines der ältesten Bauten der Gruppe. In diesem Tempel findet sich eine im griechischen Stil gehaltene Statue des Hermes, die die Gesichtszüge kawas trägt. Die besondere Gewichtung des Hermes geht nicht zuletzt auch aus der Tatsache hervor, dass der mit ihm verbundene Botenstab, das kerykeion, neben dem »buddhistischen« Schwert das zweite wichtige Objekt ist, das sich zu Seiten jedes gohonzon aufgestellt findet. Der Begriff gohonzon ist der aus der buddhistischen Tradition bekannte Terminus für den zentralen Gegenstand der Verehrung (vgl. Nakamura et al. 2002: 340). Bei Kfuku no kagaku werden zwei Formen unterschieden: der für private Zwecke gedachte »Familien-gohonzon« (katei gohonzon), eine Art »Hausaltar«, und die größeren Statuen in den diversen shja und shibu, die El Cantare in verschiedenen Formen darstellen. 16 Eine Zusammenfassung dieser Angaben findet sich als Zusatzangabe zu Hermes auf www.kofuku-no-kagaku.or.jp/about/sinkou. Explizit ausformuliert ist diese Vorstellung in einem jüngeren Band der h (»Gesetze«)Reihe bei kawa 2005b: 236-294. 106

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von Kfuku no kagaku ergibt. Wie in vielen Hinweisen im Zusammenhang mit der propagierten Vorinkarnationenliste des El Cantare hervorgehoben wird, geht es in der Auseinandersetzung mit der Geschichte für jeden Einzelnen vor allem auch darum, seinen je eigenen Platz in diesem Gesamten zu erfahren. Dies zeigt sich deutlich bei den wichtigen Weiterverarbeitungen dieser Vorstellungen im Kontext der von der Kfuku no kagaku besonders eifrig betriebenen Manga- und Animeveröffentlichungen. Letzteres kann grundsätzlich im Kontext der jüngeren Entwicklungen auf dem religiösen Markt Japans als nichts Ungewöhnliches bezeichnet werden. Dabei ist aber das Interesse an Medien der Populärkultur nicht nur aufgrund reiner Marketingüberlegungen zu bewerten (vgl. Baffelli 2008: 47-61), vielmehr stellen die darin transportierten Inhalte mögliche Vorgaben für eigene Orientierungen dar.17 Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit der Geschichte spielt dabei die in den zentralen Produkten präsente Darstellung der imaginierten Vorzivilisationen eine besonders große Rolle. So begegnen beispielsweise in der Animefassung der Taiy no h in den unterschiedlichen Epochen der Menschheitsgeschichte durchgehend ähnlich stilisierte Typen, die mit denselben Verhaltensmustern wiedergeboren werden. Dabei wird vermittelt, dass bei genügend ausführlicher Auseinandersetzung mit dem Angebot der Kfuku no kagaku auch die Einsicht in eine umfassende Geschichtssicht und den jeweiligen Platz darin gegeben ist. Diese Einsicht ermöglicht wiederum eine bessere Erklärung für Probleme des aktuellen Lebens. An jeden Einzelnen ergeht die Aufforderung, sich auch im Hinblick auf möglicherweise in den Vorleben entstandene Schicksalsverstrickungen dem Leben zu stellen, das als zu lösendes »Aufgabenbuch« (issatsu no mondaish) verstanden wird. kawa erscheint so auch als Leiter im Dickicht der Geschichte. Durch die Einführung der Vorinkarnationenliste wird dieser Anspruch, der in nucleo schon in den Anfängen gegeben war, gleichsam materialisiert und deutlich gemacht. Damit haben die Mitglieder ein lebendiges Beispiel vor Augen, das sie in ihrem je eigenen Rahmen umsetzen sollten. In diesem Kontext werden die als »Prinzipien des Glücks« (kfuku no genri) bezeichneten vier Basisvorgaben als praktische Anleitung wichtig. Diese vier Grundprinzipien, die seit der Gründung der Gemeinschaft im Jahre 1987 feststehen, sind: »Liebe« (ai), »Wissen« (chi), »Selbstreflexion« (hansei) und »Entwicklung«/»Fortschritt« (hatten). Sie werden als die Essenz des Einblicks in die Geistwelt vorgestellt und stellen die grundsätzliche Handlungsanleitung für die Mitglieder dar.

17 Vgl. Gardner 2001: 133, am Beispiel der Aum Shinriky und deren Wertung als »Manga-Religion« (manga shky). 107

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»Liebe« bezieht sich dabei auf eine Unterscheidung zwischen einer »Liebe, die nimmt« und einer »Liebe, die gibt«, wobei letztere als altruistische, keinen Vorteil erwartende Liebe ihre höchste Form darstellt. »Wissen« bezieht sich auf die zentralen Inhalte der »Geistwelt«, d.h. die durch kawa vermittelten Wahrheiten. »Selbstreflexion« meint das beständige Sich-Vergegenwärtigen dieser Inhalte und »Forschritt« ergibt sich – sowohl in spiritueller als auch in privater oder ökonomischer Hinsicht – bei Befolgung der Handlungsanleitungen. Diese vier Prinzipien werden ausführlich mit der Kosmologie und Geschichtslehre verwoben, so dass sie wie ein Generalschlüssel wirken, mit dem eine umfassende Einsicht erlangt werden kann. Die Gegenüberstellung von Hermes und Buddha ist beispielsweise in Hinblick auf die vier Prinzipien durch deren jeweilige Zuständigkeit für je zwei dieser Instanzen ausgewiesen: Hermes ist für »Liebe« und »Fortschritt« relevant, Buddha für »Wissen« und »Selbstreflexion«. Damit erfährt diese Theorie auch eine »vorinkarnationsthereotische« Begründung und verstärkt den Anspruch kawas, in seinem Konzept alle vorhin relevanten Momente zu vereinigen. So gesehen ergibt sich durch die Herausbildung der im Vorhinein detailliert ausgeführten Einheiten eine umfassende, synthetische Zusammenstellung, die sowohl auf der individuellen als auch auf der umfassenden menschheitsgeschichtlichen Ebene Erklärungsmodelle bietet. Mitglied von Kfuku no kagaku zu sein, heißt also nicht mehr nur, ein Interesse für die Bekundungen eines Vermittlers der Geistwelt zu haben, sondern über eine umfassende Erklärung der Wirklichkeit zu verfügen, die durch die irdische Repräsentation des höchsten Geistwesens in Form des Leiters und Gründers der Gemeinschaft garantiert ist. Als wichtiges Moment des Wandels ist auch der seit Ende der 90er Jahre zu beobachtende Bau der als shja18 bezeichneten Anlagen zu nennen.19 Diese zumeist zentral gelegenen großzügigen Kultbauten bilden seitdem die relevanten Zentren, zu deren Besuch die Mitglieder angehalten werden. Bislang gab es als strukturelle Einheiten die »Büros« 18 Der Begriff shja ist die japanische Übersetzung für die traditionelle buddhistische Bezeichnung für ein »Kloster« (vihra). Dazu gibt es noch eine gruppenspezifische Terminologie, im Rahmen derer auf die meisten (aber nicht auf alle) der shja auch die Bezeichnung Shshinkan angewandt wird. 19 Der erste diesbezügliche Bau, der Shshinkan in der nördlich von Tokyo gelegenen Stadt Utsunomiya, wurde im Jahr 1996 eröffnet. Die weiteren shja folgten in kurzen Abständen. Ein aktuelles Gesamtverzeichnis gibt es auf www.shoja-irh.jp/, wo sich Links auf die einzelnen shja finden, die sich wiederum mit ihren Besonderheiten, Zufahrtsmöglichkeiten, jüngsten Aktivitäten, Photos etc. vorstellen. Eine kürzere Version in englischer Sprache bietet: www.kofuku-no-kagaku.or.jp/en/shoja/index.html. 108

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(shibu): Dies ist die ursprünglich vom Selbstverständnis des Anspruchs und der Verortung der Gruppe her relevante Präsentation, die durch den eindeutig vorgeordneten Charakter der shja neu bewertet wird. Denn diese Bauten erweitern mit ihren großen zentralen Repräsentationen des gohonzon20 die ursprünglich mehr als Kommunikations- und Treffzentren konzipierten shibu zu regelrechten Kultbauten. Damit haben sie eine neue Ausrichtung und der im Vorhinein beschriebene Wandel hat auch in der Außenpräsentation einen deutlichen Niederschlag gefunden. Interessant ist dabei, wie wichtig bei diesen Bauten die inhaltlichen Bezüge sind: So sind die verschiedenen Anlagen jeweils mit unterschiedlichen Konzepten verbunden, die sich auf die verschiedenen imaginierten Lebenswelten beziehen. Ein als Miraikan bezeichneter Bau in Utsunomiya ist beispielsweise mit Hermes verbunden,21 der Shshinkan in Chgoku wiederum mit Atlantis. Der Interessierte kann sich – so gesehen – auch die für ihn besonders attraktive Bezugswelt aussuchen, innerhalb derer er sich dann wiederum mit den zentralen Inhalten auseinandersetzen kann.

Die Verbreitungsbemühungen der Gruppe außerhalb Japans: ein erfolgsversprechender Neuzugang? Aufgrund der bislang kurzen Zeit, die seit der Gründung verstrichen ist, kann in Bezug auf die internationale Expansion nur eine Momentbeobachtung gemacht werden. Ich möchte mit einem grundsätzlichen Überblick über die Aktivitäten beginnen, um dann den Fokus auf die Situation im deutschsprachigen Raum und insbesondere auf die Wiener Gruppe zu legen, die ich nun schon über mehrere Jahre hinweg beobachten konnte. Dabei wird den ersichtlichen Wandlungen besonderes Augenmerk geschenkt werden. Internationale Verbreitungsbestrebungen sind bei der Kfuku no kagaku seit den ausgehenden 90er Jahren gegeben. Im Zuge des so genannten »Big Bang« (biggu ban) -Projektes der Jahre 1994-1996 stand der Anspruch, eine »Welt-Religion« (sekai shky) zu sein, im Mittelpunkt. Nachdem in den vorangegangenen Projekten die Etablierung der Religionsgemeinschaft, die Erhöhung der Mitgliederzahlen und die Verbreitung innerhalb Japans selbst im Zentrum stand, folgte nun der

20 Zum Begriff gohonzon vgl. die Angaben in Fn. 17. 21 Dementsprechend findet sich hier eine Statue des Hermes als zentraler Verehrungsgegenstand. 109

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Schritt in die Welt hinaus. An dieses Motto anknüpfend wurde versucht, in verschiedenen Gegenden lokale »Büros« (shibu) von Kfuku no kagaku etablieren. Die erste internationale Destination entstand in New York im Jänner 1994 und bildet die Kernzelle von Kofuku no kagaku USA,22 wo es mittlerweile weitere Büros, unter anderem in Los Angeles, Boston, San Francisco, Tampa (Florida), New Jersey und Hawaii gibt. Weitere internationale shibu entstanden rasch danach in Toronto, São Paulo, Seoul und Melbourne (vgl. Baffelli 2004: 218). Für Europa ist das Zentrum in London, wo die Gruppe unter der Bezeichnung IRHH Europe23 auch die weiteren regionalen »Gebiete« (chiky) in Europa betreut. Zusätzlich zu diesen größeren Zentren, die als shibu oder auch als honbu (»Hauptbüro«) deklariert sind, gibt es in vielen Städten kleinere Einheiten, wo sich zumeist in der Privatwohnung eines Mitglieds ein Treffpunkt findet, der für diese Region die Funktion eines shibu übernimmt, formell dies aber nicht ist (vgl. Fukui 2004: 138f; Winter 2007). Diese können dann im Zuge einer Anerkennung der Aktivitäten von der Zentrale in Tokyo wiederum zu shibu aufgewertet werden.24 Im internationalen Kontext präferiert man tendenziell die Bezeichnung »temple« für diese kleineren Einheiten, was insofern Verwirrung stiften kann, weil diese Bezeichnung in Japan selbst nur den shja vorbehalten ist. Mit der Anwendung dieser Terminologie im internationalen Kontext wird aber eine größere Anbindung an die nun relevanten Einheiten in Japan selbst erreicht, zumal die Bezeichnung »Büro« für die jeweiligen Zentren etwas zu formell erschien. Die Zusammensetzung dieser Gruppen ist in den verschiedenen Verbreitungsgebieten höchst unterschiedlich. Während beispielsweise in Europa vor allem Japaner Mitglieder sind bzw. länger bleiben, sind in Korea überhaupt keine japanischen Mitglieder zu zählen. Dazu kommen etwaige länderspezifische Besonderheiten, die für die Verbreitungsbe22 Die offizielle Webpräsentation erfolgt auf: www.irhnewyork.org /index.html. Eine neuere, allerdings noch nicht sehr ausgebaute Webpräsenz für die Präsenz in den USA findet sich auf www.happyscience usa.org. 23 Im internationalen Kontext präsentierte sich die Gruppe abgekürzt entweder als »IRH« oder »IRHH«. Beide stehen für die englische Selbstbezeichnung The Institute for Research in Human Happiness (die jeweilig unterschiedliche Verwendung ist aufgrund etwaiger CopyrightVerhältnisse in Bezug auf die Abkürzungen in den unterschiedlichen Verbreitungsländern gegeben). Seit Frühjahr 2008 wurde diese Bezeichnung durch »Happy Science« ersetzt, die seitdem Verwendung finden sollte. 24 So wurde beispielsweise im Juni 2009 die Wiener Niederlassung offiziell vom Hauptbüro in Tokyo als shibu »anerkannt«, bzw. zu einem solchen erklärt. 110

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mühungen zu berücksichtigen sind. Die frühe Verbreitung nach Brasilien beispielsweise kann mit mehreren Faktoren erklärt werden. Es gibt dort eine hohe Zahl von japanischen Immigranten, die schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts Fuß fassten. Unter ihnen hatten viele der japanischen neureligiösen Bewegungen großen Erfolg (vgl. z.B. Oro 2000), insbesondere Gruppierungen wie Seich no ie oder Perfect Liberty Kydan. Dabei ist auch die interessante Beobachtung zu machen, dass Kfuku no kagaku ein wichtiges Charakteristikum mit den anderen schon präsenten japanischen Neureligionen in Brasilien teilt: die Tendenz, den genuin japanischen Charakter hintanzustellen und sich sehr stark in den brasilianischen kulturellen Kontext einzupassen (vgl. Fukui 2004: 139141). Genau in diesem Punkt unterscheidet sich im Übrigen das Gebaren und Auftreten von Kfuku no kagaku in Europa. Im deutschsprachigen Raum gibt es seit den ausgehenden 90er Jahren in Wien, Düsseldorf, Köln, Hamburg und Zürich erste Niederlassungen der Gruppe. Damit einher ging auch die wichtige Tätigkeit der Übersetzung der Bücher kawas ins Deutsche, wobei insbesondere die Ausgabe der Zentralschrift Taiy no h 2001 einen entscheidenden Marker darstellt (vgl. Okawa 2001; dazu Winter 2007). Die hohe Bedeutung des Mediums Buch wird immer wieder betont, was sich auch in diversen persönlichen Darstellungen des Übertritts von europäischen Mitgliedern spiegelt. So berichtet beispielsweise ein Mitglied aus der Schweiz davon, dass es – wie so viele andere – durch die Lektüre der Gesetze der Sonne zum Interesse und im Endeffekt zur Mitgliedschaft bei der Gruppe motiviert wurde (vgl. Kfuku no kagaku kokusai-kyoku 2008: 76f). Daneben steht eine öffentliche Vortragstätigkeit im Zentrum, die von den jeweils für die Gebiete Verantwortlichen auf allen möglichen Ebenen ausgeführt wird. Damit wird auch hier den grundsätzlichen Verbreitungsmedien, die für die Gruppe in Japan gegeben sind, entsprechend gehandelt. Die Bücher kawas werden in erster Linie in den diversen »EsoBuchhandlungen« vertrieben und auch in dementsprechenden Verlagen veröffentlicht.25 Damit ist auch die grundsätzliche Verortung vorgegeben, die das mit kawa im Zusammenhang stehende Material erfährt. Dabei kann in der Tat auf verschiedensten Ebenen an bekannte Argumentationsmuster bei einschlägig Interessierten angeknüpft werden. Die 25 Die deutsche Version der Taiy no h erschien beispielsweise im österreichischen Ennsthaler Verlag im Segment »Grenzwissenschaft«. Ähnliches gilt auch für die Veröffentlichung Okawa 2005a, die im »Via Nova Verlag« erschien, dessen Verlagsprogramm sich definiert mit: »Wegweisende Bücher für spirituelles Leben, Meditation, Yoga, Mystik, Lebenshilfe, Transpersonale Psychologie«. 111

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breite Streuung an Bezugspunkten – vom Buddhismus über das Christentum, Bezüge auf Hermes, aber auch diverse untergegangene Vorzivilisationen – werden als besonderes Plus herausgestellt. Je nach Vorliebe kann man sich beispielsweise für eine der verschiedenen Traditionen und imaginierten Welten besonders interessieren, so dass Affinitäten zum »Griechischen« oder »Indisch-Buddhistischen« oder aber auch zur »Atlantis-Kultur« in dem jeweiligen Angebot aufgehoben werden können. So entsteht bei den Mitgliedern oftmals ein sehr großes Gefühl individueller Möglichkeiten, die wiederum in ihren Augen das Interesse für die Gruppe weiter legitimieren. Doch ergeben sich für europäische Interessenten bei näherer Beschäftigung mit den Inhalten gewisse Schwierigkeiten. Diese betreffen beispielsweise die Form der Aufbereitung dieser Inhalte bei Kfuku no kagaku. So ist die hohe Bedeutung der Mangakultur, wie sie für spezifische Elemente der Darstellung zentraler Inhalte bedeutend ist, ein oftmals erwähnter Stein des Anstoßes. Zwar werden die Manga selbst bislang nicht in fremdsprachigen Versionen vorgelegt. Die Film- (= Anime-)Versionen der zentralen Texte der hSerie werden aber von der Gruppe auch im internationalen Kontext breit beworben und gerne Interessierten gezeigt. Ein Musterbeispiel in diesem Zusammenhang ist die Behandlung der Hermes-Figur. Seine Bedeutung und Präsenz in der westlichen esoterischen Tradition, die ihn in vielen verschiedenartigen Entwürfen zu einer Imaginationsgestalt einer Urtradition der Menschheitsgeschichte machte, bietet zwar einen bedeutenden Anknüpfungspunkt. Die ausführliche Lebensbeschreibung des Hermes jedoch und seine glanzvoll ausgeführte und mit vielen Details ausgeschmückte »Biographie«, die kawa kraft seines souveränen Einblicks in die Geistwelt erlangt, und dessen konkrete Umsetzung in den Filmen lösen eher Unverständnis als weiteres Interesse aus. Hier ergibt sich eine grundsätzliche Problematik in Bezug auf die Aufbereitung von spezifischen Inhalten im Kontext der Manga-Populärkultur, die in Japan üblicher ist, während sie in Europa leicht als lächerlich oder kindlich empfunden wird.26 Dazu kommen Schwierigkeiten eines Verständnisses für den grundsätzlichen Anspruch kawas, derzeit aktuell das höchste Geistwesen hier auf Erden zu repräsentieren, dem dementsprechende Verehrung zukommt. Auf diese Vorbehalte wird bisweilen von der Gruppe selbst reagiert. Ein gutes Beispiel gibt eine neue Version des privaten Vereh-

26 Zu dieser grundsätzlichen Problematik vgl. Thomas 2006: 87; ausführlicher wird dies bearbeitet in der grundsätzlichen Thematisierung des Verhältnisses von Religion und Mangakultur bei Yamanaka 1996: bes. 162; vgl. auch Kitahara 2005: 87. 112

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rungsobjektes, des so genannten katei gohonzon,27 wie er seit einigen Jahren zum Verkauf angeboten wird: Während in den ansonsten verbreiteten Versionen eine Abbildung kawas im Zentrum stand, findet sich hier das buddhistische »Gesetzesrad« (hrin). Damit wird einerseits der Bezug auf den Buddhismus auch in der internationalen Verbreitung zentral gemacht, andererseits die öfter kritisierte Personenbezogenheit auf kawa, ein wenig aufgehoben. Dieser neue gohonzon wird explizit mit dem Moment sekai dend (»Welt-Verbreitung«) verbunden. Diese Änderungen stehen eng im Zusammenhang mit den Bemühungen, nicht von vorneherein in die Schemata des klassischen »Sekten«-Verdachts eingeordnet zu werden.28 So wurde beispielsweise der Autor dieses Beitrags mehrere Male durch Gruppenverantwortliche einer eingehenden Befragung unterzogen, welche Kriterien gemeinhin als »problematisch« wahrgenommen wurden. Diese »Vorfeldarbeit« führte bisweilen zu deutlichen Positionierungen: So wird beispielsweise von europäischen Mitgliedern kein Monatsbeitrag eingefordert, womit einem klassischen Vorwurf der einschlägigen Diskussion entgegengetreten werden konnte. In diesem Zusammenhang ist auch das Bemühen um eine rechtliche Absicherung des Status der jeweiligen Auslandsdestinationen anzumerken. In England beispielsweise hat IRHH Europe die rechtliche Form einer charity organisation seit 2000.29 So gesehen ist der Außenauftritt der Gruppe in westlichen Ländern und insbesondere im deutschsprachigen Raum bereits Produkt einer längeren Entwicklung und greift auf Erfahrungen der schon »älteren« neureligiösen Bewegungen zurück. Dieses nach außenhin als Vorbeugung vor etwaigen falschen Einordnungen in althergebrachte »Sekten«-Schemata zu verstehende Vorgehen führte zu einem Wandel der Präsentation der Gemeinschaft, die von vorneherein auf Elemente verzichtet, die im Sektendiskurs den so genannten »Sekten« zugesprochen werden. In diesem Zusammenhang ist auch auf die offiziell seit Februar 2008 aktuelle Neubenennung im internationalen Kontext hinzuweisen. Die zu Anfang übliche Eigenbezeichnung als Institute for Research in Human Happiness 27 Zu den verschiedenen Formen des zentralen Verehrungsgegenstandes, des gohonzon, vgl. schon Anmerkung 19. 28 Vgl. Neubert in diesem Band, der auch auf den allgemeinen Rahmen dieser Diskussion im deutschsprachigen Raum eingeht. 29 Vgl. die Angaben auf der Homepage www.irhheurope.org/: »IRHH Europe is a registered charity (No. 1081158) with the Charity Commision for England and Wales (2000).« In den offiziellen Angaben bei der »Charity Comission for England and Wales« wird als Ziel der Tätigkeit der Gruppe angegeben: «1. to advance the education of the public in the principles and practices of Buddhism; 2. to relieve poverty and persons in need in accordance with Buddhist principles.« 113

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wurde offiziell in Happy Science umgewandelt. Diese Formulierung trägt in den Augen der Verantwortlichen dem Charakter der Gruppierung besser Rechnung bzw. bringt ihn auf den Punkt: Ihr geht es um die Verwirklichung des Glücks für alle Menschen unter Beachtung wissenschaftlicher Kriterien. Der griffigere Titel soll die herkömmliche Formulierung ablösen, die zudem als zu umständlich und technokratisch empfunden wurde. Ob diese Neuausrichtung Erfolg bringt, wird sich weisen. Bislang konnte der Autor in Bezug auf die deutschsprachigen Interessenten die Beobachtung machen, dass es eher zu einer nur kurzen Bindungen kommt: Die Gruppe wird im Kontext der Vielfalt des Angebots im einschlägigen Esoterikfeld wahrgenommen, ohne auf die Dauer Interessenten halten zu können. Es macht dabei beispielsweise keinen Sinn im europäischen Raum von einer herausgebildeten »Gemeinschaft« zu sprechen. Vielmehr führt die Selbstverortung im »Esoterik«-Segment von vorneherein zu einer losen Gruppenbildung, weil dies auch dem Selbstverständnis der daran Teilnehmenden entspricht.30 Dazu kommen inhaltliche Probleme: Hier ist beispielsweise die Frage, ob die Fülle der Orientierungsmöglichkeiten nicht das Gegenteil bewirkt, nämlich den Eindruck der Beliebigkeit und der Auswechselbarkeit. Das würde den Intentionen gerade völlig zuwiderlaufen, zumal das Endziel dasjenige bleibt, das sich auch im japanischen Kontext präsentiert: eine Religionsgemeinschaft zu sein, die sich an ihrem Gründer als umfassenden Ideengeber und irdischen Repräsentation der höchsten Dimensionen der »Geistwelt« orientiert. Nicht mehr und nicht weniger.

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30 Vgl. zu diesem Thema auch den Beitrag von Rademacher in diesem Band. 114

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»Makler«: Akteure der Esoterik -Kultur als Einflussfaktoren auf Neue religiöse Gemeinschaften STEFAN RADEMACHER

Veränderungen und Einflüsse Seit einiger Zeit ist zu beobachten, dass Neue religiöse Gemeinschaften (NRG) in ihrer Grösse stagnieren oder zurückgehen. Einige scheinen ganz zu verschwinden. Zugleich scheint es einen Boom von meist unter »Esoterik« subsumierten Erscheinungen individueller und unorganisierter Religiosität bzw. – wie in diesem Zusammenhang gerne betont wird – »(alternativer) Spiritualität« zu geben. Daneben sollen sehr kleine religiöse Grüppchen zu »tausenden« allein in der Schweiz bestehen (vgl. 20minuten 26.10.2006; Beobachter 23/2002, jeweils gestützt auf zumeist kirchliche Sektenberatungsstellen). Für Deutschland wird festgestellt, »…dass sich die Zahl solcher Gruppen in den letzten zehn bis zwanzig Jahren stark vermehrt hat, und zwar besonders in ihrer kleinsten, unauffälligsten und privatesten Form« (Hemminger/Kick/Schäfer 2008: 203). Diese Entwicklung wird häufig als eine beschrieben, die durch die NRG der 1960er bis 80er Jahre geprägt ist: Die Welle der »Sekten«, wie NRG oft genannt wurden und werden, habe die gegenwärtige EsoterikKultur hervorgebracht. Detaillierte Beobachtungen zeigen, dass es tatsächlich NRG gab, die die Esoterik-Kultur ideell wie personell ergänzten. Manche haben auch einen Formwandel bis an den Rand der Auflösung vollzogen, z.B. die Osho/Bhagwan-Bewegung oder Maharishis TM (vgl. Lüddeckens/Walthert in diesem Band); viele (ehemalige) Mitglie119

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der dieser Gruppen agieren heute weitgehend unabhängig. Als ein anderer Quellgrund der heutigen Esoterik-Kultur wird das »New Age« genannt (vgl. Sutcliffe 2003), wobei dieses mitunter als »Bewegung« beschrieben wird, in die diverse NRG eingegliedert sind. Der Rückgang der NRG kann wohl als Fakt gelten. Dass die unorganisierte Esoterik und die Kleinstgruppen einen Aufschwung erleben, sollte allerdings erst als Tatsache betrachtet werden, wenn genauere Zahlen vorliegen, denn entsprechende Phänomene gibt es schon sehr lange.1 Vielleicht hat sich nur ihr Zugang zur bzw. ihre Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit verändert? In jedem Fall kann – unterhalb der Ebene grossräumiger quantitativer Veränderungen – nach Beziehungen zwischen diesen Phänomenen gefragt werden: Wie beeinflussen sich organisierte NRG und unorganisierte Esoterik gegenseitig? Kommt die Esoterik-Kultur personell oder ideell aus dem Bereich der organisierten Religiosität der NRG? Das heisst, beobachten wir tatsächlich eine lineare Entwicklung weg von organisierter Religion hin zur unorganisierten? Und wenn ja, in welcher Form? Bestanden und bestehen beide nicht vielmehr parallel? Oder ist gar die Esoterik-Kultur der fruchtbare Boden, aus dem neue NRG entwachsen? Das Thema weist sehr viele Facetten auf. Im Folgenden sollen einzig Autoritätsverhältnisse und Machtstrukturen betrachtet werden, eine Ebene, auf der zwischen den Phänomenen NRG und Esoterik-Kultur deutliche Unterschiede ausgemacht werden können. Der Begriff »Autorität« bezeichnet ein Verhältnis freiwilliger Unterordnung ohne direkte Gewaltanwendung, das auf dem unbedingten Vertrauen gegenüber der Autoritätsperson aufbaut (vgl. Pilger-Strohl 1999: 120). Im Unterschied dazu wird Macht erkämpft bzw. erzwungen. Im Falle von Autorität liegt die eigentliche Macht beim Anerkennenden, der (persönliche) Autorität jederzeit aberkennen kann. Die Nähe zu Max Webers Begriff des Charisma, das die Basis für Autorität bilden kann, ist deutlich. Charismatisch begründete religiöse Autorität besteht, wenn Menschen als mit transzendenten Mächten verbunden gesehen werden oder wenn sie als Wissende im Bezug auf derartige Mächte gelten (vgl. Weber 1976: 140). Bei Institutionen liegt ein formales Autoritätsverhältnis vor. 1

Wenn es auch konkrete Unterschiede gibt, so können doch historische Phänomene wie der »okkulte Untergrund« (James Webb) des 19. und 20. Jahrhunderts (vgl. Bry 1988 [orig. 1924], Davies 1875, Linse 1996, Sawicki 2002, Sutcliffe 2003, Webb 2008, u.v.a.) oder die sog. »Volksfrömmigkeit« – ein vielleicht zeitloses Phänomen – als Parallelen betrachtet werden. Parallelen, die ebenfalls kaum zu quantifizieren sind, so dass die These einer quantitativen Veränderung kaum zu erhärten ist.

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ESOTERIK-KULTUR UND NEUE RELIGIÖSE GEMEINSCHAFTEN

Es können nun im Bereich der alternativen Religiosität, bezogen auf den Organisationsgrad und die Autoritätsverhältnisse, verschiedene Typen benannt werden: Neue religiöse Gemeinschaften (NRG), Bewegungen und die Esoterik-Kultur. Eine Neue religiöse Gemeinschaft besteht, wenn eine vergleichsweise exklusive und geschlossene Organisation mit Aussengrenzen vorliegt, die über eine erkennbare Hierarchie und einen bestimmbaren Lehrkorpus verfügt. Autorität ist darin klar hierarchisch verteilt. Man kann davon ausgehen, dass viele der bekannten NRG in diese Sinne aufgebaut sind bzw. dass sie zumindest so wahrgenommen werden. Ob und in welchem Masse sie es wirklich waren oder sind, d.h. ob wirklich alle Anhänger in Form von Mitgliedern in einen straffen Apparat eingegliedert sind, ist eine andere Frage. Tatsächlich abgeschottete NRG dürften, was ihre Zahl wie auch die Zahl der involvierten Personen betrifft, eher die Ausnahme sein. Unter einer Bewegung wird ein Kollektivakteur verstanden, »mobilisierte Netzwerke«, die auf der Grundlage einer kollektiven Identität mit unterschiedlichen Handlungsstrategien versuchen, sozialen Wandel herbeizuführen oder zu verhindern (vgl. Joas 2007: 649). Bewegungen sind als Ganze keine Organisationen. Ihre Aussengrenzen sind nur unscharf zu ziehen, Autorität ist nur informell verteilt und nicht zentralisiert. Sie haben keine formellen Mitglieder, sondern Teilnehmer und Aktivisten sowie Sympathisanten. Vielleicht verdient das New Age der 1980er Jahre den Namen »New-Age-Bewegung«, doch ist das Selbstverständnis als Bewegung inzwischen verloren (vgl. Giger 1988, Stuckrad 2004: 2272). Esoterik-Kultur wird von mir nur im Singular gebraucht und ist ein Sammelbegriff, der die sehr vielen Formen und Inhalte der heutigen alternativen Religiosität umschreibt, wo diese vergleichsweise unorganisiert vorliegt. Es handelt sich um keine Bewegung, um – im Ganzen betrachtet – keine Szene und erst recht um keine NRG, denn es gibt keine Aussengrenzen, keine hierarchische Organisation (Marktförmigkeit ist keine derartige Organisationsform), keine kohärente und auch nur halbwegs dogmatisierte Lehre, kein gesellschaftliches Ziel usw. Bestenfalls handelt es sich um ein Konglomerat von Szenen (vgl. Hitzler 2005), aber auch viele Einzelne sind darin aktiv. Die meisten Angebote, die die Esoterik-Kultur ausmachen, entsprechen der Sozialform des »audience 2

Kocku v. Stuckrad (a.a.O.) fragt sogar: »New Age – War da was?« Tatsächlich kann man sich darüber streiten, ob diesem Begriff eine soziale Realität zukommt (vgl. auch Bochinger 1995). Hier wird davon ausgegangen, dass das so gesehen werden kann, da tatsächlich Elemente einer sozialen Bewegung im genannten Sinne erkennbar waren, es durchaus auch Selbstzuschreibungen mit diesem Begriff gab und auch inhaltliche Spezifikationen möglich sind. 121

STEFAN RADEMACHER

cult« (Stark/Bainbridge 1985: 27f.), wobei sich aber auch organisatorische Verdichtungen bilden können. Die Esoterik-Kultur als Ganzes kann man mit Colin Campbells (1972) inzwischen klassischer Formulierung als »cultic milieu« bezeichnen, muss diese jedoch zugleich erweitern: Seit Campbells Zeiten hat dieses Milieu eine massive inhaltliche und soziale Erweiterung sowie eine enorme Popularisierung erfahren, so dass eine Aufhebung von Grenzen zu verzeichnen ist, die den Begriff »Milieu«, der immer noch eine Abgrenzung impliziert, zumindest fraglich werden lässt. Hubert Knoblauch (2000; 2009) hat für diese moderne Sozialform von Religion den Begriff der »Populären Religion« vorgeschlagen.3 Im Folgenden ist nun nur ein kleiner Ausschnitt aus diesem Gefüge zu betrachten, die Rolle, welche spezielle Akteure aus der EsoterikKultur, die ich »Makler«4 nenne, spielen. Speziell ihr Umgang mit dem Thema Autorität liefert Antworten auf die Fragen, was an der Grenze zwischen hierarchisierten NRG und der unorganisierten Esoterik-Kultur geschieht, ob es dort historische Prozesse und Veränderungen gibt und wie diese, wenn sie geschehen (vgl. Knoblauch 2009, Heelas/Woodhead 2005)5, bezüglich dieses Details vor sich gehen.

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Hubert Knoblauchs Beschreibung beruht auf wissenssoziologischen Strukturmerkmalen. Ich halte sie auch für die Esoterik-Kultur für zutreffend. Es ist aber möglich und mitunter auch notwendig, diese als eigenständiges Phänomen innerhalb der Populären Religion abzugrenzen, wenn man zwei Gesichtspunkte berücksichtigt: Knoblauchs Analyse lässt die Ideengeschichte vollkommen ausser Acht. Auch wenn heute ähnliche Strukturen (z.B. zwischen Esoterikern und Evangelikalen) bestehen, kann es doch zum Zweck detaillierter Analysen wichtig sein zu berücksichtigen, dass einzelne Strukturen völlig verschiedene historische, soziale und ideologische Hintergründe haben und sich auch heute um sehr verschiedene Ideen gruppieren. Damit ist der zweite Einwand verbunden: Es muss berücksichtigt werden, dass Insider der jeweiligen Szenen oder Subkulturen sich oft sehr deutlich um Abgrenzung gegeneinander bemühen. Die männliche Schreibweise wird im Folgenden aus sprachlich-pragmatischen Gründen verwendet. Knoblauchs Buch trägt den Untertitel »Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft« und die Studie von Heelas et al. heisst »The Spiritual Revolution: Why Religion ist giving Way to Spirituality« – in beiden Fällen wird also eine deutliche Dynamik in eine bestimmte Richtung diagnostiziert.

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ESOTERIK-KULTUR UND NEUE RELIGIÖSE GEMEINSCHAFTEN

»Makler« Beschreibungen sozialer Organisation von Religion sehen in einem idealtypischen Modell »religiöse Spezialisten« und »Laien« vor, die vor dem Hintergrund einer konkreten Lehre agieren. In der Esoterik-Kultur fehlt diese einheitliche Lehre, wenn man auch bestimmte Inhalte als allgemein geteilte betrachten kann. Je nach Grad der Aktivität, den sie bezüglich einzelner Lehrinhalte entfalten, lassen sich die Beteiligten hier in Anbieter und Rezipienten unterscheiden: Anbieter treten aktiv an die Öffentlichkeit, Rezipienten sind Teil dieser Öffentlichkeit und rezipieren die Inhalte passiv entsprechend ihren persönlichen Nöten und Vorlieben.6 Anbieter verfügen also über Wissen und Fähigkeiten, welche Rezipienten erst aufzunehmen gedenken. Da im Unterschied zu den traditionellen Religionen eine zwangsläufige Institutionsstruktur, in der Laien nur bestimmte Spezialisten konsultieren dürfen, nicht besteht, ist eine abweichende Benennung gerechtfertigt; »religiöse Spezialisten« im klassischen Sinne ist nicht die richtige Bezeichnung für esoterische Anbieter. Genauer gesagt könnte man, wenn überhaupt, nur einen Teil der Anbieter so bezeichnen, denn auf der Anbieterseite lassen sich wiederum zwei Typen unterscheiden: »Spezialanbieter« und »Makler«. Spezialanbieter verfügen über eigene Inhalte, Makler nicht. Die ersten vertreten nur einen oder wenige Inhalte, nämlich ihre eigenen, die zweiten sehr viele verschiedene, für die sie aber inhaltlich nicht verantwortlich zeichnen. Makler sind Zentrumsbetreiber, Ladeninhaber und -angestellte, Verleger, Zeitschriftenmacher, Messeveranstalter usw., kurz: Die professionellen Kommunikatoren und Warenkanäle der Esoterik-Kultur. Ihnen kommt auf dem freien esoterischen »Markt der Religionen« (Hartmut Zinser) eine Schlüsselstellung zu. Als Vermittler von Inhalten sind sie Organisatoren und auch Anbietende, aber zugleich sind sie keine Lehrer, Heiler, Meister oder Gurus – das sind die Spezialanbieter. Das Handeln der Makler ist in den allermeisten Fällen ein ökonomisches, was aber nicht heisst, dass dies ihr einziger Antrieb sein muss. Gemeinsam ist den Aktivitäten der Makler das Charakteristikum, dass sie angebotsförmig sind, sie beanspruchen keinerlei Autorität gegenüber den Rezipienten, die ihren Zugang zu den Maklereinrichtungen völlig frei gestalten können. Die Bedeutung, die diesen »Nodes in the Web of New Age spiritualities« (Corrywright 2003) zukommt, kann kaum zu

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Selbstverständlich kann die Rezipientenseite nicht einfach als passiv beschrieben werden, auch dort finden aktive Konstruktions- und Auswahlprozesse statt. Die Unterscheidung erfolgt hier einzig im Hinblick auf das professionelle An-die-Öffentlichkeit-Treten innerhalb der Esoterik-Kultur. 123

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hoch eingeschätzt werden.7 J. Gordon Melton konstatiert in Bezug auf esoterische Zeitschriften: »Most important in any decentralized movement, periodicals tied the diverse groups and individuals together and kept the movement informed«8 (Melton 1988: 43; zur Multiplikatorenrolle vgl. auch Puttick 2005). Zusammen mit Messen (vgl. Zinser 1997: 63-92, Hamilton 2000) und Esoterikläden (vgl. Zaidman 2007) bilden die Einrichtungen der Makler fast die einzigen dauerhaften institutionalisierten Strukturen der Esoterik-Kultur. Es handelt sich bei den so definierten Maklern um eine Art technische Schlüsselposition, wie es sie in traditionellen religiösen Kontexten so nicht gibt.9 Makler besitzen einen erheblichen Einfluss auf Autoritätsstrukturen innerhalb der Esoterik-Kultur, und zwar auch auf solche, die neben ihren jeweils eigenen und begrenzten ökonomischen Netzen bestehen. Denn neben ihrer Funktion als Vermittler und Transporteure der Angebote der Spezialanbieter sind sie zugleich Beobachter der gesamten Szenerie. Im Folgenden werden zwei lokale Makler portraitiert; anschliessend werden unter Heranziehung weiteren Materials Überlegungen zu ihren Funktionen und Wirkungen speziell gegenüber NRG angestellt.

W., sein Esoterik-Buchladen und das Zentrum »Quelle« Ein massgeblicher Makler in Bern und darüber hinaus ist W. (vgl. Rehmann 2008). Seine spirituelle Laufbahn – er hatte schon früh seine reformierte Erziehung hinter sich gelassen – wurde angeregt durch die Lektüre des Neugeistlers K.O. Schmidt, den er als Lehrer praktischer Lebensweisheit und esoterischen Denkens verstand. Mit Freunden begann W. Anfang der 60er Jahre, entsprechende Bücher im Versand zu 7

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Hubert Knoblauch beschreibt Maklerfunktionen ganz grundsätzlich im Hinblick auf die modernen Veränderungen in der Gesellschaft: Die Demokratisierung der Transzendenzerfahrungen ist verbunden mit neuen Kommunikationsstrukturen, was die veränderten Machtstrukturen – auch und gerade im religiösen Bereich – widerspiegelt (vgl. Knoblauch 2009: 148f.). Anzumerken ist hier, dass im Englischen mit dem Begriff »movement« wesentlich grosszügiger umgegangen wird als von mir mit dem Begriff »Bewegung«. Beide lassen sich zwar ineinander sprachlich übersetzen, meinen jedoch verschiedene Organisationsstrukturen. Zwar gibt es heute im christlich geprägten Kontext ebenfalls ökonomisch mehr oder weniger selbständige Verlage, Ladengeschäfte, Zeitschriften, Medien etc., welche von grosser Bedeutung für das entsprechende Milieu sind. Diese sind allerdings häufig konfessionell und oft sogar institutionell an eine bestimmte christliche Religionsgemeinschaft gebunden.

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vertreiben (Theosophie, Lucis Trust, AMORC, Lectorium Rosicrucianum, K.O. Schmidt, Yoga-Literatur…). Am 1. April 1966 eröffnete er in Bern den nach eigenen Angaben ersten esoterischen Buchladen im deutschsprachigen Raum. Die Käuferschaft bestand zu jener Zeit aus einer gebildeten Bürgerschaft und einigen Bohemiens, die sich teilweise schon vor dem Krieg mit diesen Themen befasst hatten. W. reagierte mit der Eröffnung auf Anregungen aus diesen Kreisen. Er brachte sie zusammen mit vorwiegend deutschen esoterischen Verlagen, die sich nach dem Krieg neu zu etablieren versuchten. Daneben beteiligte er sich von Beginn an mit Büchertischen an den Basler PSI-Tagen und anderen Esoterik-Messen. So hat W. mit seinem Laden dazu beigetragen, das bis anhin eher als intern zu charakterisierende Versandsystem für Bücher und Schriften, wie es zuvor bestimmend war für die Kommunikation zwischen religiösen Gemeinschaften und Lehrern auf der einen und ihren Anhängern und Interessenten auf der anderen Seite, durch eine offene Vermarktungsstruktur abzulösen. Er schuf damit auch für einen viel grösseren Kreis potenzieller Leser eine Möglichkeit, ohne Schwelle Zugang zu diesen Inhalten zu erlangen. Erst durch ihn und seinen Laden wurde diese Art von Büchern so im vollen Sinne des Wortes öffentlich. Ende der 60er Jahre begann W. zudem – bis in die Mitte der 80er Jahre hinein –, in seinem Privathaus halböffentliche Soireen abzuhalten, bei denen neben spirituellen Lehrern auch Vertreter von NRG (namentlich Subud, Mazdaznan, Theosophische Gemeinschaften) Vorträge hielten. Diese Gemeinschaften verfügten nicht über eigene Räume in der Region und konnten so an eine weitere Öffentlichkeit gelangen (die NRG, die über eigene Räume verfügte, nämlich die Anthroposophie, partizipierte nicht auf diese Art). Der Kontakt ging dabei meist von W. aus, der die Referenten – oft auf Anregung von Szenekennern in seinem Kundenkreis – einlud. Dadurch, dass W. auf Anfrage und Empfehlung handelte, wenn es um Kontakte zu und Auftritte von religiösen Lehrern und Gemeinschaften ging, wird erkennbar, dass er nicht der erste oder ursprüngliche Akteur war, der Grenzüberschreitungen zwischen dem Innen und dem Aussen der Gruppen vornahm. Es waren spirituell interessierte Menschen – oft Angehörige von NRG –, die ihn baten, aktiv zu werden. Er stützte sich also auf bereits die Grenzen überschreitende Personen, die er zugleich durch seine eigenen Netzwerkaktivitäten in ihren jeweiligen Anliegen – sei es der Wunsch, mehr kennen zu lernen, sei es der Wille, das Eigene weiter zu propagieren – unterstützte. Im Gegensatz zu diesen ging W. jedoch professionell und kommerziell vor, wenn auch immer begleitet von persönlichem Engagement. Über die Jahre hinweg organisierte er zudem neben diesen halb privaten auch viele

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Vorträge für ein unspezifisches Publikum, womit er die Themen also völlig in die Öffentlichkeit trug. W. hat seinen Laden im Jahre 2005 aus Altersgründen abgegeben. Er beschreibt ihn im Interview zudem nicht nur in der Funktion als Kommunikationsknoten und Verkaufsraum, sondern zugleich als Ort mit einem sozialen Charakter. Viele seiner Kunden betrachteten ihn, so W., als einen »Heimatort«. Er beschreibt seinen Laden als »Ort, wo Leute sich die Seele wärmen.« So habe sich zu vielen Kunden eine dauerhafte Verbindung entwickelt, und entsprechend schildert er, dass bei seinem Ausscheiden viele ihm gegenüber einen schmerzhaften Verlust beklagten. Zur Ruhe gesetzt hat sich W. aber nicht, er betreibt heute mit Gleichgesinnten ein esoterisches Veranstaltungszentrum namens »Die Quelle«. In dessen Räumen haben sich rund 20 Therapeuten eingemietet und bieten jeweils selbständig ihre Dienste an (vgl. Der Bund, 3.10.2007), daneben gibt es eine enorme Vielfalt an Einzelveranstaltungen (vgl. www.die-quelle.ch/programm.html). W. hat seine Maklerfunktion somit beibehalten, wenn auch gewandelt: Weg vom Verkauf von Produkten hin zum Veranstaltungs- und Lokalmanagement. Beratung und Gespräch mit ihm persönlich sind geblieben.

S. und der »Dhyanalaya – Raum für Meditation Bern« S. und Dhyanalaya sind mit der Osho-Tradition verbunden. Die meisten Osho-Anhänger praktizieren ihre Religiosität heute privat und in nur loser Bindung.10 Die heute eher lose organisiert Osho-»Szene« umfasst in der deutschen Schweiz mutmasslich einige hundert Personen. Gegenwärtig listet die Website www.oshonet.ch (15.5.2009), die mit Zürcher Osho-Freunden verbunden ist, kaum ein Dutzend Aktivitäten im Land auf. Man kann generell sagen, dass diese eng mit der allgemeinen Esoterik-Kultur verbunden ist, Abschottungstendenzen bestehen kaum. Dass gerade Oshos Erben heute im Vergleich zu anderen indischstämmigen NRG vergleichsweise erfolgreich sind, hängt sicher damit zusammen, dass seine Lehren recht vielfältig sind und dass die OshoGemeinschaft schon immer eine eher offene war (mit Ausnahme vielleicht der Phase des »Rajneeshismus« in Oregon). Heute gibt es inner-

10 Die Frankfurter Rundschau konstatierte z.B. für das deutsche Freiburg schon 1987 nur noch einen »Restbestand an Bhagwan« (zit. nach Welz 1990: 17). 126

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halb dieser Szene eine noch grössere Flexibilität. Lehrer orientieren sich zwar an Osho, entwickeln sich aber nach eigenen Gesichtspunkten und Bedürfnissen weiter. Von Anfang an war Ohso ein Guru, der seine Anhänger stark auf ihr eigenes Inneres verwies und zu dessen Programm eine anti-autoritäre Haltung gehörte. Dementsprechend gibt es keine Orthodoxie und keine Orthopraxie. Osho galt und gilt auch als der »AntiGuru-Guru«. Konkret Osho-Bezogenes gibt es in Bern heute nur noch in Spuren. Massgeblich dabei war der heute in Basel lebende Maler Saajid, der schon seit Anfang der 80er Jahre mit Osho verbunden ist. Er hatte den lokalen Osho-Sangha gegründet und geleitet, ebenso das OshoMediationszentrum, das am Schluss (1996) noch als Osho-WG existierte. Seit Mitte der 80er Jahre bietet er – bis heute – Oshos KundaliniMeditation öffentlich an. S. ist erst 1996 zu dieser Szene gestossen. Sie hat den Meditationsraum Dhyanalaya vor wenigen Jahren gegründet und betreibt ihn heute privat und auf nicht-kommerzieller Basis. Dhyanalaya ist völlig unauffällig und – trotz Internetpräsenz – nur für Eingeweihte zu finden. OshoFreunde treffen sich dort einmal in der Woche für eine Veranstaltung, die meist aus einer gemeinsamen Meditation besteht. Auch Saajids Aktivitäten, für die er nach Bern anreist, sind jetzt dort beheimatet. Von Zeit zu Zeit werden Kurse angeboten. Der Freundeskreis, dessen Adressen im Dhyanalaya verwaltet werden, umfasst rund 100 Menschen, der engere Kern ca. 15-20. Es gibt einen alten Kern von Freunden, der S. »wie ein Familientreffen« vorkommt, und ein loses Netzwerk – S. nennt es »eine Szene« – in Bern und Umgebung. Dazu gehören Therapeuten, Anbieter von Körperpraktiken und Satsangs und z.B. auch – indirekt – der Veranstaltungsort »Waldhauszentrum Lützelflüh«. Zu allen Veranstaltungen im Dhyanalaya kann kommen, wer will. S. sieht heute die Osho-Bewegung als »sehr diversifiziert« an, insbesondere seit Osho tot ist. Sie verweist dazu auf seine eigenen Worte: Man kann keinen toten Meister haben. Das Angebot der OshoKundalini-Meditation ist z.B. beliebt, andere Themen haben »nicht überlebt«. S. führt das auf ein Bedürfnis nach Bewegung und Begegnung zurück, welches sie deutlich wahrnehme; diesem Bedürfnis entsprechende Angebote würden angenommen und möglicherweise könnten sogar noch mehr Lehrer in diesem Bereich bestehen, denn Nachfrage sei da. Aber es gebe gar nicht so viele Anbieter. W. und S. verstehe ich als »Makler«, weil sie selbst nicht oder kaum mit eigenen Angeboten inhaltlicher Art hervortreten, aber anderen einen Raum dafür bieten. Ihre jeweiligen spirituellen Interessen und Biografi127

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en erklären zwar ihre Motivation, fliessen aber nicht in ihre Aktivitäten ein. Sie verfügen also über keine Autorität, die auf einer eigenen Lehre, Praxis, »Meisterschaft«, Initiation, Transzendenzverbundenheit oder gar »religiösen Wahrheit« beruhen könnte. Als Makler sind sie keine klassischen religiösen Autoritäten, wie es Priester, Schamanen, Propheten oder Gurus sind. Die im Folgenden zu behandelnden Fragen sind: Wie gehen W. und S. mit den Autoritätsansprüchen derjenigen Spezialanbieter um, die sie vermitteln? Wie stehen sie zu Organisationen, in denen institutionelle Autoritäten existieren, wie das bei NRG der Fall ist? Was ist ihr Verständnis von den Lehren und Praktiken, die sie ihren Kunden vermitteln? Was sind die Kunden für sie, was sehen sie in ihnen? Und: Verfügen sie wirklich über keinerlei eigene Autorität?

Makler vermeiden die Verbindung mit institutionellen Autoritäten In der Esoterik-Kultur bietet ein Spezialanbieter Wissen, also Lehrinhalte, und Hilfe, also konkrete Praktiken an. Begründet er seine Fähigkeiten mit überirdischen, ausserweltlichen, transzendenzverorteten Sphären, kann man sein Angebot als religiös beschreiben. Erkennt ein Klient das an, verleiht das dem Anbieter religiöse Autorität. Bestenfalls hilft eine Ausbildungsqualifikation als vorgeschalteter Fähigkeitsausweis und damit als formale Autoritätsbegründung, aber einen umfassenden institutionellen Rahmen für die Autorität der Anbieter, der für die ganze Esoterik-Kultur klar ist, gibt es nicht. Ausserhalb kleinteiligen Autoritätsstrukturen zwischen Anbieter und Rezipient, die erst bei fortgeschrittenen Kontakten entstehen bzw. stabil werden, handelt es sich auf der Seite der Spezialanbieter um ein Angebot, das vorzutragen in der EsoterikKultur jedem erlaubt ist, und das anzunehmen oder abzulehnen jedem freisteht. Die Makler helfen, dieses Angebot zu vermitteln. Es gibt in der Esoterik-Kultur keine formale Berufs- oder Statusgruppe mit institutioneller (religiöser) Autorität. Ebenso wenig gibt es eine zentrale Instanz, die Autorität zu- oder aberkennen kann oder auch nur normativ vorgeben könnte, was – abstrakt betrachtet – überhaupt Autorität ist und wer oder was diese verdient. Anders war und ist das bei organisierten Religionen, seien es traditionelle Kirchen oder NRG. Diese organisieren sich um eine klar erkennbare Lehre, die i.d.R. zugleich die Aussengrenze markiert, und meistens um eine ebenso klar erkennbare Führerschaft mit institutioneller Autorität. Diese beruht zum einen darauf, dass die religiösen Speziali128

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sten die Lehre kennen, also Wissende sind, und dass sie die Praktiken kennen und ausführen dürfen. Zum anderen beruht sie darauf, dass in den meisten Fällen diese Spezialisten selbst inhaltlicher Bestandteil der Lehre sind, also z.B. der verheissene Messias selbst und/oder seine Verkünder und auserwählten Helfer. Fast immer ist auch ein mehr oder weniger deutlich formulierter exklusiver Anspruch damit verbunden, dessen Nichtanerkennung durch ein Mitglied dessen Ausschluss aus der Gemeinschaft bedeutet. W.s Verhältnis zu NRG ist dadurch geprägt, dass seine professionellen Strukturen bereits etabliert waren, als es Ende der 1960er Jahre zu politischen wie religiösen Aufbrüchen kam. W. stellte für die alternativreligiöse Szenerie also schon eine Institution dar, bevor das »Jugendsekten«-Phänomen überhaupt begann. Genau jene jungen NRG, die dann den Aufruhr auslösten, hatten, im Unterschied zu den erwähnten älteren, bei W. auch keine Auftritte, denn sie (namentlich die ISKCON) kamen ihm, wie er erklärt, »sektiererisch« vor. Allerdings gab es auch mit ihnen Kooperationen, insbesondere im Vertrieb ihrer Literatur. Die jungen NRG zeigten wie die älteren auch Interesse daran, ihre Schriften in seinem Laden verkauft zu sehen. W. selbst selektierte nach eigenen Angaben fast nicht, prinzipiell sei er immer sehr breit und offen eingestellt gewesen. Persönlich war W., obwohl privat spirituell interessiert und auch aktiv, in seiner Maklerfunktion nie öffentlich inhaltlich aktiv; auch gehörte er keiner konkreten Lehre oder Gemeinschaft an.11 Seine Institutionen konnte und wollte W. damals wie auch heute nicht einer bestimmten Gemeinschaft oder Ideologie ausliefern. W. als Makler vertritt keine der vielen Lehren, die er in seinen Einrichtungen verbreitet. Besondere Autorität verleiht er also – zumindest soweit es öffentlich sichtbar ist – keiner davon, jegliche Parteinahme lehnt er ab. W.s Geschäftsgründung geht schon auf ein ungebundenes Interesse zurück, ohne das er sich zuvor von einer Organisation emanzipiert hätte. Es war ihm wichtig, »so neutral wie möglich [zu] bleiben als Person«. Seinen Laden sieht er als »eine völlig ungebundene Geschichte«. »Man kann sich nicht mit allem identisch erklären, was man über den Ladentisch gibt«, erklärt er. Geschäfte, welche er beobachten konnte, die von NRG betrieben wurden und von denen heute fast keines mehr besteht, hatten erkennbar nicht 11 Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er Lehrer hat und hatte, in früheren Zeiten z.B. K.O. Schmidt, später den Okkultisten Oswald Nörr, heute Mario Mantese, alias »Meister M«. Inwieweit diese sein Leben bestimmen (als »Meister« oder »Gurus«) oder ob er sie nur im Sinne von Lehrern versteht, ist ebenfalls unwichtig, da nichts von ihnen im Laden oder in sonstigen Angeboten für Aussenstehende erkennbar ist. 129

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den neutralen Charakter, der ihm wichtig war. Als neutraler Makler hat er mit seinem Ansatz den längeren Atem gehabt. Zudem kamen ihm viele NRG – zumindest im Rückblick – nicht zeitgemäss vor, so dass heute noch weniger Grund für intensive Verbandelungen bestehe: »Die Gemeinschaften gehören nicht mehr in den Zeitgeist. Es ist etwas Freieres in die Menschheit getreten. … Eine Furchtlosigkeit den göttlichen Gesetzen gegenüber. … Man hat nicht mehr dieses soziale Bewusstsein … Die Gemeinschaft ist dann nicht mehr nötig. Und die muss sich dann öffnen. Oder sie öffnet sich nicht, dann kommt keiner mehr … Es ist heute viel lockerer.«

Der Prozess der Lockerung setzt sich nach W.s Meinung noch weiter fort, er betrifft nach seinen Beobachtungen inzwischen auch die Maklerinstitutionen selbst. Mit Blick auf das Funktionieren seines (ehemaligen) Ladens sagt er: »Das Geschäft heute geht nicht mehr so gut. Kunden binden sich nicht mehr gerne.« Sobald NRG sich in seinen Raum begaben – und das taten sie oft, um ihr Angebot professionell weiter verbreitet zu sehen – haben seine offenen Strukturen dazu beigetragen, dass die Autoritätssysteme der NRG weitgehend unsichtbar wurden bzw. dass diese inhaltlich Alternativen neben sich zur Kenntnis zu nehmen hatten: In den Buchläden finden sich die Schriften vieler Gurus, und keine wird bevorzugt behandelt. Die NRG wollten W.s Laden als Transportmittel des eigenen Inhalts und Anspruchs benutzen und wurden dabei der zersetzenden, weil relativierenden Macht des Marktes ausgesetzt. Sie haben sich und ihr Angebot profaniert, indem sie in die kommerziellen Strukturen eintauchten. Hartmut Zinser analysierte dies folgendermassen: Das »Heilige«12, das dem Marktgeschehen unterworfen ist, wird verdinglicht und dadurch profaniert (vgl. Zinser 1997: 55f.). Zentrale Wahrheiten von NRG, sind, 12 Selbstverständlich ist das »Heilige« keine religionswissenschaftliche Kategorie. Der Begriff kann aber in Form eines sinngemässen Zitats verwendet werden. Zinser beschreibt an der o.g. Stelle die Entlehnung religiöser Elemente aus ihrem traditionellen Kontext, wo sie durchaus unter eine emische Kategorie von etwas Heiligem fielen; ihre Überführung in Marktprozesse reisse sie aus diesem Deutungszusammenhang. Wir haben es mit einer Form der religiösen Enteignung zu tun, die in der Esoterik-Kultur sehr häufig vorkommt. Vollkommen anders gelagert besteht ein ganz eigener Diskurs um derartige Begriffe, wenn Rezipienten dieses Marktes dort erworbene Gegenstände – egal welcher Natur – als für sich »heilig« oder »göttlich« beschreiben. Dann entstehen neue Deutungskontexte, in denen es auch denkbar sein mag, dass Käuflichkeit und Heiligkeit keinen Widerspruch bilden. Im Anschluss daran müsste zuerst aber nach dem neuen Verständnis von »Heiligkeit« gefragt werden. 130

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da von ihnen als absolut aufgefasst, ihrem Wesen nach unbedingt, können also nach Zinsers Diktion als etwas für sie »Heiliges« beschrieben werden. Doch nun unterliegen sie den Bedingungen des Marktes und ihnen wird ein Handelswert zugewiesen. Damit unterliegt dieses »Heilige« zweckrationalen Gesichtspunkten sowohl bei den Verkäufern (Profit) als auch bei den Käufern (Nutzen). Mag diese Entheiligung auch zuerst nur die Inhalte treffen, so wirkt sie sich natürlich auch auf die diese tragenden Gemeinschaften aus, denn wer erkennbar nicht mehr exklusiv seine heilige Lehren verbreitet, kann sich nur noch schwerlich erfolgreich als die allein heilswirksame Organisation präsentieren.13 Bei S. liegt der Fall etwas anders: Sie bewegt sich im weiteren Raum einer konkreten NRG. Doch räumt sie dieser – und anderen erst recht – keine besondere Autorität ein, und sich selbst ebenso nicht, denn sie versteht sich nicht als spirituelle Lehrerin. Sie gestaltet das Zentrum (www.dhyanalaya.ch) an Osho orientiert, aber nicht für Osho oder gar für seine heutige Organisation. Eine zentrale Leitung lehnt sie dezidiert ab, den Institutionen in Poona misstraut sie; sie erscheinen ihr – insbesondere auch in finanziellen Aspekten – »intransparent«. S. verweist darauf, dass schon Saajids Aktivitäten von dort aus kontrolliert worden waren, wogegen er sich verwahrte, woraufhin das Zentrum Bern seinen offiziellen Status verloren habe. Anstrengungen, diesen wiederzuerlangen, wurden nicht unternommen. Sie berichtet im Gespräch von anderen, ähnlichen Aktivitäten: Auch in Italien und Deutschland würden Osho-Zentren von Menschen betrieben, die das für sich und aus sich heraus als Aufgabe verstehen; niemand tue das, weil er dazu von der Hierarchie verpflichtet worden sei. S. hält Osho in Ehren, kann sich aber auch distanzieren. So zweifelt sie z.B. im Fall des SalmonellenAnschlags in Oregon daran, dass er wirklich nichts gewusst habe. Der Guru ist im Dhyanalaya präsent für diejenigen, die das wünschen, für viele aber auch nicht. Das sei, so S., eine generelle Entwicklung, z.B.

13 Nicht umsonst halten sich die traditionellen Kirchen von derartigem Marktgeschehen fern. Die Finanzierung ihrer Strukturen wird nicht durch den Verkauf des »Heiligen« (bei Ämtern z.B. als »Simonie« strikt verboten) gewährleistet, sondern durch Steuern, Spenden und sonstige Betriebseinnahmen. Auch viele NRG versuchen, sich auf Spendenbasis oder durch Mitgliederbeiträge zu finanzieren und die kultischen Leistungen und Weisheiten selbst von Finanziellen fern zu halten. Der mitunter polemische Diskurs um »Sekten = Geldgier & Machtwille« (der oft explizit von den Kirchen so geführt wird) zielt – neben anderem – darauf, das Heilige dieser NRG zu delegitimieren, indem es in die Nähe eines materiellen Interesses gerückt wird. Damit versucht man, es als »Schein-Heiligkeit« zu markieren, welches ihre angeblich wahren, nämlich weltlichen Interessen nur verbergen soll. 131

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gingen auch in Poona nur noch wenige zur Osho-Video-Präsentation, im Gegensatz zu anderen Aktivitäten, die besser besucht seien. S. hat auch privat den antiautoritären Osho dazu benutzt, sich vor dem autoritären Osho zu schützen: Jemand hätte versucht, sie mittels Osho zu vereinnahmen, das sei ihr erster Kontakt überhaupt mit Osho gewesen. Indem sie dann Oshos Lehren selbständig kennenlernte, konnte sie diesen Versuch zurückweisen. Osho blieb für sie interessant, nicht jedoch irgendeine Form von Organisation. Somit wurde dann auch Dhyanalaya eine nicht-kommunitäre Institution ohne Lehrautorität. Manche Ableger von Osho, wie z.B. der Satsang-Lehrer Madhukar, hätten, so berichtet sie, treue Anhänger um sich geschart, die sich auch nicht mit anderen vermischten. Das betrachtet S. mit Misstrauen. Sie nimmt wahr, dass Kunden wegen Bevormundungsgefahren vorsichtig sind und will daher jeglichen derartigen Anschein vermeiden. Steht der Dhyanalaya auch explizit in Oshos Tradition, so ist er doch für andere spirituelle Wege offen. Der Raum wird von S. als »spirituelle Ökumene« verstanden und geführt. Sie entscheidet, wer dort mit welchem Angebot hineinpasst und wer nicht. Da sie z.B. persönlich gute Erfahrungen mit Karten gemacht hat, hätte sie auch gegen einen TarotLeger nichts einzuwenden. Doch jemanden, der anderen etwas »aufzwingen« will, gar einen »Kult«, würde sie nicht aufnehmen. Dieser sehr vorsichtige Umgang mit Autoritäten lässt sich auch bei anderen Maklern beobachten: In esoterischen Zeitschriften spielen NRG keine oder fast keine Rolle; bestenfalls Anzeigen können sie schalten. Es kommt inzwischen durchaus häufiger vor, dass auch diese Zeitschriften kritisch über »Sekten« berichten. Positiven redaktionellen Raum – für selbst verfasste Artikel oder als Interviewpartner – erhalten NRG erst, wenn die Redaktion der Meinung ist, dass nichts »sektenhaftes« an ihnen ist. Die esoterische Zeitschrift »Visionen« (www.visionen.com) z.B. wird sogar von einer NRG, der in der Sant-Mat-Tradition stehenden Soami Divyanand, produziert, doch findet man darauf nahezu keine Hinweise, auch thematisch ist das Blatt sehr offen.14 Bei Messen ist es ähnlich: Matthew Wood (2007: 122) erwähnt, dass auf der von ihm untersuchten Nottingham Fair NRG nicht präsent waren; Hartmut Zinser

14 Zwar ist ein Übergewicht »indischer« Themen gegenüber anderen esoterischen Traditionen und Lehren zu erkennen, ebenso fallen die indischen Namen von Personen im Stab auf; die Präsenz des Gurus der Gruppe im Blatt ist zwar deutlich, aber nicht dominierend und er wird auch nicht als von anderen Lehrern und Autoren prinzipiell verschieden dargestellt. Es handelt sich keineswegs um ein Sprachrohr oder Missionsblatt. Auch bei der Zeitschrift »connection«, die eine Gründung von deutschen OshoAnhängern ist, ist dieses Erbe heute nur zwischen den Zeilen zu lesen. 132

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(1997: 79f.) macht die gleiche Beobachtung bei Veranstaltungen in Berlin. Diesen Befunden entsprechend erklärt Knut Seeger, Leiter der »Esoterik- und Gesundheitsmesse« 2007 auf dem Berner BEA-Gelände, dass er ein breiteres Publikum erreichen wolle: »Deshalb sperrte er rund 20 ehemalige Aussteller. Solche, die Menschen zu beeinflussen versuchten und mit ihrer Angst Geschäfte machen wollten, hätten keinen Platz mehr, sagt er. ›Das ganze Gurutum will ich hier nicht haben.‹« (Der Bund, 8.12.2007, S. 31).

Beide hier vorgestellten Makler bieten unterschiedlichen Inhalten Raum, zugleich wehren sie jegliche Autoritätsansprüche ab, die von den Urhebern dieser Inhalte formuliert werden, indem sie diese nicht mittransportieren. Wer im Bereich dieser Makler auftreten darf, firmiert als »ein Lehrer« und darf sich als Angebot darstellen, nicht aber als Weltenretter, absolute Weisheit oder unumgehbare Wahrheit; schon gar nicht darf er den Eindruck erwecken, den Besuchern etwas aufzuzwingen zu wollen (zur rückwirkenden Antizipation dieses Musters durch die NRG s.u.). Falls ein Makler einen konkreten NRG-Hintergrund hat, spielt dieser keine Rolle oder wird besser noch verschwiegen, damit er nicht abschreckend wirkt. Die Anerkennung einer konkreten, exklusiven Autorität würde automatisch zum Ausschluss aller anderen führen. Ein Makler würde so zu einem Spezialanbieter mutieren bzw. zum Funktionsträger eines Spezialanbieters. Dessen Autorität würde er dann weitertragen und mit Hilfe seiner eigenen Struktur institutionalisieren. Da Makler genau dies vermeiden möchten, lösen sie alle institutionellen Autoritätsansprüche auf, die sich in den Bereich ihrer Verfügungsgewalt begeben. Schon allein den Anschein zu haben, man stehe als Makler im Dunstkreis einer NRG, hätte für dessen Wirken am Markt verhängnisvolle Folgen. Seien es nun kleinteilige Autoritätsansprüche auf informeller, eher charismatischer Basis wie bei jungen NRG oder offizielle und traditionell begründete wie bei älteren NRG und den Kirchen: Schnell ist zu erkennen, dass Makler beide zurückweisen, insbesondere aber solche von NRG, da diese ihnen thematisch und kulturell näher stehen und sie mit einem persönlichen, auch religiösen Charisma einer Person prinzipiell auch kein Problem haben. Die Makler zielen nicht auf das Charismatische, wenn sie ihre Ablehnung formulieren, als vielmehr ausdrücklich auf das strukturell Autoritäre, das sich darauf aufbaut oder aufbauen könnte. Sie lehnen nicht die Lehrer- oder Guru-Persönlichkeiten und deren Ideen und Fähigkeiten ab, sondern die (potenziell oder real) darauf aufbauenden sozialen Ansprüche und Machtstrukturen.

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Makler fördern das Bild der individuellen spirituellen Autonomie Die Beobachtungen zum Umgang der Makler mit institutionellen Autoritäten verbinden sich nahtlos mit ihrem Sprechen gegenüber den Rezipienten, ihren Kunden. Die Esoterik-Kultur setzt sich aus individualitätsbedachten Einzelnen zusammen. Der »spirituelle Wanderer« ist der Idealtypus, der für die populäre Religion von heute prägend ist (vgl. Knoblauch 1997) und der in ganz besonderem Masse die EsoterikKultur auszeichnet. Inzwischen tritt er auch im Bereich der Volkskirchen immer deutlicher in Erscheinung (vgl. Gehardt/Engelbrecht/ Bochinger 2005). In der Standard-Selbstbeschreibung versteht man sich als »spirituell«, womit insbesondere auch gemeint ist, dass man autonom und unabhängig von »Religionen«, das heisst, religiösen Organisationen, ist, und dass man dogmatische Setzungen ablehnt.15 Die Makler der Esoterik-Kultur fördern diese subjektivistische Haltung. Sie verweisen die Kunden sehr häufig darauf, dass sie beachten sollen, was »sich für sie ganz persönlich gut anfühlt«, danach sollen sie sich entscheiden. Die freie Struktur der subjektivistischen Religiosität besteht zum beiderseitigen Nutzen. Den Maklern sind diese individualistischen »spirituellen Sucher« als Kunden am liebsten. Sowohl W. als auch S. haben angedeutet, dass sie bezüglich der Freiheit ihrer Kunden und Klienten ihre Aufgabe darin sehen, diesen auf ihrem individuellen Weg zu helfen. Der selbst zu gehende Weg, auf dem es bestenfalls Ratschlag, Hilfe und Förderung, keinesfalls aber Bevormundung, Eingemeindung oder eine von aussen initiierte Identitätsveränderung geben darf, ist eines der Grundmuster im Menschenbild der Esoterik-Kultur.16 Beide Makler se15 Der »spirituelle Sucher« ist eine emische Kategorie mit beinahe normativer Kraft: Man darf gar nichts anderes sein als ein freier Suchender auf seinem Weg. Matthew Wood (2007: 155) weist kritisch darauf hin, dass religionswissenschaftliche Ansätze, die bei der Esoterik-Kultur (engl. äquivalente Sammelbegriffe: »New Age« oder »Mind-Body-Spirit«) die »self-authority« als typisch hervorheben, sich a) zu stark auf liberale Theorien und b) auf Interviews stützten. Gerade bei Interviews werden natürlich normative ideologische Standards von den Befragten repetiert, was mögliche andere Aspekte untergehen lässt. Letzterem begegnete Wood, indem er bei seiner Forschung auch die (kollektiven) Praktiken beobachtete, in denen dann prompt wieder Autoritätsstrukturen sichtbar wurden. 16 Fernöstlich geprägte Entwürfe, die stärker ein Aufgeben des Individuums als dessen Entwicklung betonen, haben eher einen Ausnahmecharakter und können nicht als mehrheitsfähig betrachtet werden. Über die Umformung der Wiedergeburtsidee und des Menschenbildes in diesem Sinne bei ihrem Weg von Ost nach West vgl. z.B. Vogd 1999. 134

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hen sich auch selbst auf einem Bildungs- und Entwicklungsweg. Dass Makler die persönliche Autonomie pflegen und unterstützen, hat neben den persönlichen Gründen (Ablehnung vereinnahmender Strukturen) auch professionelle: Sie würden Kunden möglicherweise verlieren, wenn diese in eine geschlossene NRG einträten. Denn wer in eine solche Struktur eingebunden ist, wird kaum mehr in der offenen EsoterikKultur suchen und einkaufen – er hat ja, so das Selbstbild der allermeisten NRG, alles was er sucht. »[…] Märkte setzen nicht nur den freien Wettbewerb der Anbieter und die offene Kommunikation über die Angebote voraus, sie fordern und fördern auch die Vereinzelung der Nachfrage, also die Verlagerung auf die individuelle Entscheidung« (Knoblauch 1997: 201).

Für die Sucher wiederum sind die Makler-Strukturen notwendig, da in diesen die Vielfalt am grössten ist. Das Suchen – sowohl, wenn es, wie von ihnen selbst, als echtes spirituelles Suchen aufgefasst ist, als auch wenn es als Flanieren verstanden wird, wie Kritiker der Esoterik-Kultur es formulieren, – funktioniert besser, je grösser das Angebot ist. Das Suchen zielt in der Esoterik-Kultur nicht auf eine finale, absolute Autorität im klassischen Sinne. Gefragt ist die Möglichkeit zu individuellen Variationen, Anpassungen, Auslegungen, Kombinationen usw. von Lehren und Praktiken; das charakteristische Mischen diverser Angebote hat zum Begriff der »Patchwork-Religiosität« geführt. Dazu bedarf es einer Auswahl, die wiederum nur möglich ist, wenn das Angebot breit ist. Selbst wenn man die Lehren einer konkreten NRG oder auch einer traditionellen Religion kennenlernen will, macht der Markt dies möglich; ein Beitritt oder auch nur der persönliche Kontakt zu dieser Gemeinschaft ist deshalb nicht mehr notwendig. Alle Ideen werden enteignet, entweder durch die NRG selbst, die sie offen vermarkten, oder auch – falls kein Rechteschutz besteht – durch Makler und hier insbesondere Verleger, die religiöse Texte allgemein zugänglich machen. Das trifft die NRG ebenso wie auch die Kirchen; alle werden durch die Makler den Interessen der Suchenden zugänglich gemacht, die so ihre individuelle Ungebundenheit nicht aufgeben müssen. Neben der inhaltlichen Vielfalt gehört auch das Erlebnis vor Ort dazu: Interviewte Rezipienten geben an in Esoterikgeschäften zu verweilen, um »sich wohl zu fühlen«. Das typische »Eso-Laden-Ambiente« besteht aus Faktoren wie der Angebotsfülle, in Warenanordnungen, Licht, Musik und Geruch; es ist das Ergebnis einer meist nonverbalen Abstimmung und Übereinstimmung in Geschmacksfragen zwischen Re-

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zipienten und Maklern.17 Zudem gibt es in den Läden immer wieder Neues zu entdecken, was die Erlebnisqualität noch steigert – zumindest für diejenigen, die sich als »Sucher« verstehen.18 Ein Rezipient muss im geschützten Raum eines esoterischen Ladens auch kaum befürchten, dass jemand versuchen könnte, ihn zu missionieren. Zudem gibt es keinen Kauf- oder Wiederkehrzwang, die Möglichkeit des Verlassens besteht jederzeit. In Einrichtungen von religiösen Gruppen kann man sich nicht so leicht entziehen, und sei es nur, dass am Ausgang ein Opferstock hängt. Der Esoterikladen ist ein weitgehend spannungsfreier Erlebnisraum.

Makler verfügen über eine eigene, spezielle Makler-Autorität Allerdings verschwindet institutionelle Autorität nicht völlig aus der Esoterik-Kultur, wie es der Begriff der »Self-Religion« (Paul Heelas) nahe legt. Zum einen haben die Spezialanbieter eine spezifische Autorität (vgl. Wood 2007) wenn sie von ihren Rezipienten anerkannt werden (s.o.), auch wenn diese Autoritätsstrukturen in der Esoterik-Kultur nicht institutionell verankert sind. In den Blick geraten so die Makler selbst, die auf dem EsoterikMarkt das entscheidende Verbindungsglied sind, die Kommunikationsknoten, die die einzelnen Elemente zueinander in Beziehung setzen, das ganze System in Bewegung halten und die jeweiligen Eigenbewegungen unterstützen. Eine ganz spezielle eigene Autorität erlaubt ihnen diese Leistung bzw. wird ihnen auf Grund dieser Leistung verliehen. Die Makler zeichnet aus, dass sie dadurch, dass sie eine Infrastruktur in der Hand halten, über strukturelle Macht verfügen, einfach indem sie – zwangsläufig – eine gewisse Zentralität in ihrem Netzwerk haben, an der niemand vorbeikommt. Sie verfügen über eine institutionelle Macht, indem sie den Zugang zu ihrem Handlungsbereich (Verlagskatalog, Ladenregal, Zeitschriftenseiten, Anzeigenspalten, Veranstaltungspro-

17 Die Ästhetik der esoterischen Angebote – in der Gesamtpräsentation wie auch im Einzelfall – stellt ein noch zu erschliessendes Forschungsfeld dar, speziell bezüglich der Wirkung auf die Rezipienten. 18 Traditionelle religiöse Räume wirken eher entgegengesetzt: In ihnen wird eher Sicherheit vermittelt und zwar auch dadurch, dass man dort immer dasselbe und gewohnte findet und indem dort gerade keine Veränderungen oder gar Innovationen auftauchen. »Sucher« kommen dort natürlich weniger auf ihre Kosten. 136

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gramm…) entweder sperren oder öffnen können. Die Makler sind Türhüter der Esoterik-Kultur: Wer ihnen z.B. »sektiererisch« erscheint, den lassen sie nicht in ihren Handlungsraum hinein bzw. schliessen ihn aus. Sie kontrollieren, dass nur die richtige Art von Autorität Platz findet und treffen eine gezielte Auswahl. Dadurch verfügen sie zwangsläufig über Autorität im Sinne einer (Markt-) Expertise. Es kann sich dabei, wie bei S., eher um persönliches Geschmacksurteil und – mehr oder weniger reflektierte – Schlüsse aus eigenen Erlebnissen handeln oder wie bei W. um eine breite und langjährige Erfahrung, verbunden mit professionellen Kenntnissen des Handels und der technischen Strukturen. Vor allem bei W. verbindet sich die Expertise zudem mit einem persönlichen Charisma, das ihm in seinem Laden zur zentralen Autorität machte und das ihn noch heute in der Quelle als »Guten Geist« oder »Patron« in Erscheinung treten lässt. Er nimmt sich kaum zurück in seinen Räumen, sondern kann – obwohl inhaltlich nicht aktiv – als Persönlichkeit in seiner Öffentlichkeit bestehen. Professionelle Maklerstrukturen kommen prinzipiell eigentlich ohne dieses persönliche Charisma aus, so dass – wie im Fall von W.s Buchladen – Nachfolgeregelungen kein Problem sind. W. stellt allerdings einen Grenzfall dar: Viele seiner Kunden haben durchaus einen emotionalen Verlust gespürt, der mit seiner Persönlichkeit verbunden war. Das führte sie in die »Quelle«, die so bei ihrem Start von seinem Charisma profitieren konnte. Gleichzeitig werden diese Kunden aber Bücher weiterhin in dem Buchladen kaufen, u.a. weil das in der Quelle gar nicht möglich ist. W. verfügt allerdings nicht über »Weisheit« oder gar »Wahrheit«, sein Charisma beruht auf »Erfahrung«. Strukturell ähnelt er also eher den Rezipienten der Esoterik-Kultur, er versteht sich ebenso wie sie als ein »Suchender auf dem Weg«. Zur Autorität der Makler trägt bei, dass sie selbst ein Interesse an ihrem Angebot kommunizieren, sodass ihr Kunde sie als Gleichgesinnte wahrnehmen kann (vgl. Zaidman 2007). Die Autorität der Makler gilt selbst für nebensächliche Kommunikationsplattformen, die sie kontrollieren: In W.s Buchladen, in der Quelle wie auch im Dhyanalaya gibt es Schwarze Bretter für die Flyer von Spezialanbietern. Bis auf sehr wenige Ausnahmen (Eckankar, Sant-Mat-Gruppen) waren dort nie organisierte NRG zu finden. Spezialanbieter, die sich über das Schwarze Brett an Rezipienten und damit an potenzielle Klienten wenden, erfahren so zudem einen gewissen Vertrauensvorschuss, der eigentlich eher dem Makler als dem Spezialanbieter gilt. Entweder auf Anfrage oder stillschweigend kann ein Rezipient davon ausgehen, dass dieses Angebot »schon in Ordnung sein wird«, wenn der Makler zulässt, dass es sich dort platziert.

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Expertise und die Kontrollfähigkeit der Makler sind allerdings begrenzt, was den Kontakt zwischen NRG und anderen Organisationen auf der einen und Rezipienten auf der anderen Seite angeht: Makler haben (1.) keine Kontrolle über das was passiert, wenn ein Kontakt erst einmal hergestellt ist. Wenn Rezipienten die beratende und vermittelnde Macht einer Makler-Einrichtung mit der Autorität eines Spezialanbieters austauschen, verliert der erste seine Einspruchsmöglichkeit, die – selbst wenn persönliche Kontakte bestehen bleiben – als weltlich-pragmatische Autorität wenig Chancen gegen eine möglicherweise transzendent begründete Autorität des Spezialanbieters hat. Ausserdem können Makler (2.) in der Regel auch aus ökonomischen Interessen heraus nicht wirklich Zensur ausüben. Sie müssen möglichst vieles in ihr Angebot aufnehmen, da das ihre Kundenbasis verbreitert und sie, ganz der kapitalistischen Logik unterworfen, ständig die Innovationen aufnehmen müssen, die die Spezialanbieter – derselben Logik unterworfen – an sie herantragen. Nur wer, wie S., nicht kommerziell tätig ist, kann sich eine reine Geschmacksauswahl leisten. Zudem können sie (3.) nicht alles qualitativ beurteilen, weil sie unmöglich alles kennen können. Hinzu kommt die Frage, nach welchen Gesichtspunkten die Makler urteilen. S. kann allein ihrem Gefühl und Geschmack folgen, da sie nicht ökonomisch abhängig ist. W. muss, wie andere Ladeninhaber auch, dagegen vieles aufnehmen, auch wenn er es nicht befürwortet. In dieser Position distanziert er sich gelegentlich auch von konkreten Inhalten. Eine Angestellte in einem anderen esoterischen Buchladen sagte mir, dass sie vielleicht zehn Bücher in dem Laden empfehlen würde und dass »vieles Blödsinn« sei.

Makler und die Marktstrukturen wirken auf NRG zurück NRG speisen ihre Inhalte in das Angebot der Makler ein, wenn sie neue Einnahmen generieren wollen oder wenn Makler darin ein interessantes Produkt sehen. Zeigt sich eine halbwegs stabile Nachfrage, bleiben die NRG dauerhaft im Angebot. Eine Verleihung von institutioneller Autorität an die »beliehenen« und sich anbietenden NRG und traditionellen religiösen Institutionen ist damit nicht verbunden, höchstens der jeweilige Autor der Inhalte wird dabei erinnert und kann so durch seine Marktpräsenz zu Anerkennung kommen. Dementsprechend werden also Lehrinhalte verbreitet und erinnert, aber häufig nicht, dass sie überhaupt von

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Institutionen kommen.19 Dass der Anspruch, eine exklusive heilswirksame Organisation zu sein, im Zusammenhang mit dem Marktgeschehen unwichtig oder sogar schädlich ist (s.o.), hat Rückwirkungen auf die religiösen Organisationen, gerade auf solche, die einen Exklusivitätsanspruch haben: Sie müssen sich in ihrem öffentlichen Auftreten bescheiden. Im Folgenden sollen Beispiele aus dem neu-/alternativreligiösen Bereich vorgestellt werden: Eine Form der Bescheidenheit ist es, wenn eine NRG von selbst nicht mehr mit klar umrissenen eigenen Inhalten nach aussen tritt bzw. auch noch andere Lehrelemente aufnimmt. Der SAVE-Katalog der Schweizerischen ISKCON (SAVE: Sankirtan-Verein) vom November 2008 enthält z.B. auch Bücher von den Verlagen Herder (katholisch) und Kopp (esoterisch) sowie Weleda-Produkte (anthroposophisch) und nicht nur Produkte vom Bhaktivedanta Book Trust, dem eigenen Verlag. Das kann man verschieden interpretieren: Entweder die eigenen Lehren werden so aufgefasst, dass sie nicht alles umfassen, so dass auch andere Ideen als wichtig und richtig anzuerkennen sind; oder aber die NRG wollen mehr Geld verdienen als das eigene Angebot hergibt: Sie wollen selbst auch eine Maklerfunktion übernehmen. In beiden Fällen wird die eigene Autorität, etwas Absolutes zu sein und zu haben, relativiert. Exklusivität wird zu Gunsten von Marktzugänglichkeit und Breitenwirkung aufgelöst. Ein anderes Beispiel ist Elizabeth Clare Prophet, Führerin der Church Universal and Triumphant/Summit Lighthouse (CUT). Als – in der Binnensicht – wahrhaftiger Kanal zu den Ascended Masters verfügt sie über eine besondere religiöse und als Gruppenleiterin auch institutionelle Autorität. Seit wenigen Jahren tauchen nun deutschsprachige Bücher von ihr im esoterischen Buchhandel auf, aufgelegt von den deutschen Verlagen Silberschnur und Ansata. Im Original sind sie bei Summit University Press, dem Hausverlag der CUT, erschienen. Die deutschen Verlage gehören nicht zu dieser Gemeinschaft, d.h. im Moment des deutschen Erscheinens verlässt das Werk den Binnenraum der Organisation. Zugleich verändert sich die Autoritätskonstruktion: E. Clare Prophet wird in den deutschen Büchern als »mediale Schriftstellerin«

19 Im Bezug auf die traditionellen Religionen bieten christliche Mystiker ein anschauliches Beispiel für diesen Prozess: Meister Eckhart oder Pater Anselm Grün werden als »spirituelle Lehrer« bezeichnet und geniessen Präsenz in esoterischen Buchläden und Anerkennung in der Esoterik-Kultur. Oft werden sie dabei auch noch als mit dem Christentum verbunden gesehen und mit dem Adjektiv »christlich« bedacht. Aber ihre Verbindung zu einer konkreten christlichen Kirche, zu deren offizieller Theologie, geschweige denn ihre hierarchische Position darin spielen dabei keine Rolle. 139

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und »Engelspezialistin« vorgestellt (teilweise zusammen mit Ehemann Mark L. Prophet): »Elizabeth Clare Prophet ist eine Pionierin in Techniken angewandter Spiritualität. Ihre Arbeiten vermitteln überdies die kreative Kraft des Klangs für die Entfaltung unserer Persönlichkeit und den Wandel der Welt. Seit den 60erJahren hält sie Seminare und leitet Arbeitsgruppen in aller Welt zu den verschiedensten spirituellen Themen« (www.exlibris.ch/buch.aspx?status=detail&p_id=1212190&t_na=sbz, 10.11.2008).

Dieses Autorenportrait lässt nirgends einen Exklusivitätsanspruch erkennen und enthält auch keinen Hinweis auf eine Gemeinschaft.20 Es ist ein grosser Unterschied, ob jemand sich als exklusiver Kontakt zu den Ascended Masters oder als »mediale Schriftstellerin« präsentiert. Zur öffentlichen Akzeptanz trägt es bei, wenn man sich nicht mit Nachdruck als exklusiven Kanal versteht und von der Anerkennung dieses Status, gar verbunden mit der Forderung einer Mitgliedschaft, den weiteren Zugang zu Informationen abhängig macht. Aussenstehende sind eher bereit, eine Autorität als spirituelle Lehrerin mit medialen Erfahrungen anzuerkennen. Ob E. Clare Prophet sich in ihrem Selbstanspruch wirklich gewandelt hat, ist dabei unwichtig; entscheidend für die öffentliche Wirkung ist das vermittelte Bild, das sich durch die Makler bzw. durch deren Anforderungen gewandelt hat. Ökonomisch wird diese durch den Markt erzwungene Bescheidenheit zum beiderseitigen Nutzen wirken. Allerdings hat E. Clare Prophet auch einen Verlust zu tragen, da ihr Profil unschärfer wird: Für die Esoterik-Kultur ist sie nur noch eine von vielen Medien und Seminarleiterinnen. Das erleichtert sicher vielen Nutzern den Zugang, wirkt aber schlussendlich institutionell auflösend.21 20 Allerdings weist schon das Autorenverzeichnis der Homepage der Summit University Press kaum auf die Gemeinschaft hin (www.summit universitypress.com/authors.html, 12.11.08), d.h. die Verschleierung der NRG-Struktur wird schon von der Gemeinschaft selbst vorgenommen, nicht erst vom deutschen Verlag. 21 Selbstverständlich bleibt die Möglichkeit bestehen, dass Rezipienten der Esoterik-Kultur nach der Lektüre eines ihrer Bücher näheren Kontakt mit dem Autor aufnehmen oder selbst zu einem Mitglied der betreffenden Gemeinschaft werden. Es ist anzunehmen, dass dieser Effekt (neben dem ökonomischen Erfolg) ein Motiv für die CUT wie für andere Gemeinschaften ist, sich auf den Markt zu begeben. Dass die Methode effektiv ist, kann bezweifelt werden, da kein sonderliches Wachstum der NRG zu beobachten ist – trotz enormer Reichweitenvergrösserung in Folge des Markteintrittes. 140

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Esoterische Makler zensieren die Spezialanbieter kaum bzw. gar nicht. Wer immer ihre Strukturen nutzen und am Markt teilnehmen will, kann das. Einzig das Ansinnen, exklusiv sein zu wollen, gilt als »sektierisch« (W.) oder als »Kult« (S.) und wird von beiden abgelehnt und mit Marktausschluss geahndet. Es gibt in der pluralen und äusserst vielfältigen Esoterik-Kultur keinen Grund für eine Abschottung bestimmter Ideen, also wird diese auch nicht betrieben.22 Diejenigen NRG, die z.B. kommunal leben und lokal abgeschlossen sind, werden in der EsoterikKultur überhaupt nicht wahrgenommen, oder sie werden als »Sekten« ebenso ablehnend behandelt, wie das auch sonst in der Öffentlichkeit geschieht.23 Allerdings spielt dabei ihr Lehrinhalt keine Rolle (kaum eine Idee, die nicht Anerkennung und Vermarktung in der EsoterikKultur erfahren könnte), es sind ihr exklusives Verhalten und ihre Machtansprüche, die ihnen in esoterischen Kreisen Kritik einbringen: Es ist ihre »Unbescheidenheit«, nicht marktförmig werden zu wollen, in der Selbstausschluss und Ausschluss Hand in Hand gehen.

Und die vielen neuen Kleinstgruppen? Die grossen NRG werden, wie jede organisierte Religiosität, in Mitleidenschaft gezogen, wenn sie sich in den Bereich des Marktes begeben. Das gilt bezüglich des ökonomischen Marktes (der immerhin teilweise vermeidbar ist) wie auch für den unvermeidbaren »Markt bzw. Wettbewerb der Weltanschauungen« in unserer pluralistischen Gesellschaft. Der Markt wirkt zersetzend, sowohl auf die die Lehren, die relativiert werden, wie auch die formalen Autoritäten und Hierarchien. Es gibt nicht mehr viele Menschen, die NRG beitreten, und die Makler der Esoterik-Kultur begegnen ihnen mit Vorsicht. Bleibt da in der EsoterikKultur Platz für religiöse Autoritätsstrukturen? Wie erklären sich die eingangs erwähnten kleinen NRG und vor allem ihre anscheinende Zunahme? Matthew Wood (2007) zeigt anschaulich, wie in der Esoterik-Kultur Autorität entstehen und wirken kann, nämlich im Rahmen der meist

22 Die Zersetzung der öffentlichen Autorität durch den Markt ist etwas anderes als die Selbstzersetzung durch interne Prozesse, das kann auch gut ohne Markt geschehen (vgl. Rademacher 2004). 23 So gesehen war der manchmal überhitzte öffentliche »Sekten-Diskurs« in der Esoterik-Kultur erfolgreich: Die Makler unterstützen das öffentliche Bewusstsein, dass institutionelle religiöse Autoritäten mit Vorsicht zu geniessen sind. Der »Anti-Sekten-Diskurs« findet in den esoterischen Maklern unvermutete Verbündete. 141

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kleinteiligen Spezialanbieter-Rezipienten-Verhältnisse. Ein möglicherweise nur als vorübergehend gedachtes Autoritätsverhältnis, die kommunikativ asymmetrische Dienstleistungs-Beziehung zwischen Anbieter und Klient, formt sich um zu einer zwischen Meister und Anhänger. Damit aus einem Kunden- bzw. Klientenverhältnis eine stabilere Beziehung wird, braucht es aber mehr als nur eine Begegnung: Es braucht auf Dauer eingestellte Bindungswünsche der Rezipienten wie auch der Anbieter. Der psychologische Begriff der »Passung« wird schon seit längerer Zeit als Erklärung angeboten (vgl. den Überblick psychologischer Studien bei Kraus 2001).24 Damit der Begriff der religiösen Autoritätsbeziehung Anwendung finden kann, braucht es zudem Elemente einer tranzendenzbegründeten Autorität des Spezialanbieters, welche der Rezipient akzeptiert.25 Wenn diese Beziehung sich stabilisiert und zudem auch zwischen den Rezipienten eines Anbieters untereinander Vernetzungen stattfinden, ist eine mehr oder weniger feste Kleinstgruppe entstanden. Derartige Kleinstgruppen können in der offenen Esoterik-Kultur sehr leicht kristallisieren, da es dort Spezialanbieter-Rezipienten-Begegnungen in grosser Zahl gibt und transzendenzbezogene Inhalte positiv bewertet werden. Wenn man davon ausgeht, dass die Esoterik-Kultur wächst, also solche Begegnungen und Vernetzungen häufiger werden, ergibt sich daraus fast zwangsläufig auch eine Zunahme neuer kleinster Gruppierungen. Welche Rolle spielen nun die Makler dabei? Bindungswünsche werden von ihnen nicht unbedingt gefördert, sie werden sogar – wie gesehen 24 Ob im Falle von NRG eine Passung (»Schloss und Schlüssel«) oder Verführung und Täuschung (»Schloss und Dietrich«) vorliegt, ist umstritten. Gerade der »Jugendsekten«-Diskurs operierte ausschliesslich mit der zweiten Variante oder gar der These der »Gehirnwäsche«, dabei voraussetzend, dass niemand freiwillig einer NRG beitreten würde. Diese Voraussetzung ist sicherlich in vielen Fällen falsch. Aussteiger, die erklären, sie seien betrogen und gezwungen worden, kommunizieren ihre damalige Eintritts-Situation in einem radikal anderen Kontext, nämlich dem des Austritts. Andererseits gibt es auch viele gut belegte Beispiele für tatsächliche Verführungen und getarnte Anwerbungen. Völlig getrennt von dieser Anwerbungssituation ist zu betrachten, wie sich eine bestehende Gruppe bzw. NRG im Laufe der Zeit entwickelt. Gerade kleinste Gruppen auf persönlicher Basis entwickeln oft innerhalb weniger Jahre eine kollektive Dynamik, bei der z.B. an die Stelle einer anfänglichen pragmatischen Dienstleistungsbeziehung (z.B. zwischen Heiler und Klient) eine radikale Struktur von absoluter göttlicher Autorität zur völligen irdischen Nichtigkeit tritt – mit allen potenziellen Gefahren (Hemminger/Kick/Schäfer 2008 führen Beispiele für diese Prozesse an). 25 Alle Beispiele in Hemminger/Kick/Schäfer 2008 weisen dieses Element auf. 142

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am Türhüter-Phänomen – abgelehnt. Die Autoritätsstruktur, dass ein Spezialanbieter eine charismatische Figur mit einem exklusiven Bindungswunsch darstellt und über darauf ansprechende Klienten verfügt, findet in der Esoterik-Kultur keine Verstärkung. Die Autorität eines solchen Spezialanbieters – sofern sie sich als exklusiv und transzendenzbegründet geriert – geht nicht über die eigene Gruppe hinaus. Makler sprechen einem Anbieter Expertise, Kennerschaft, Qualifikationen (Ausbildung), Charisma und auch besondere Fähigkeiten, aber nie (exklusive) Autorität zu. Neu entstehende Gruppen sind so quasi zur Kleinheit verurteilt, zumindest solange sie am Marktgeschehen der Esoterik-Kultur teilnehmen und die Dienste der Makler in Anspruch nehmen wollen. Diese Teilnahme hat für sie einen Nutzen: Sie können ihre Publikationen, wenn vorhanden, zugänglich machen (sogar mit professioneller Finanzorganisation), ihre Flyer an öffentlichen Schwarzen Brettern platzieren, Anzeigen in esoterischen Blättern schalten und auf Esoterik-Messen Stände mieten. Da Kleinstgruppen nicht systematisch Missionare losschicken können, sind sie um so mehr auf die Strukturen der Makler angewiesen. Dieses Werbegeschäft ist dabei eines auf Gegenseitigkeit. Sobald aber ein solcher Lehrer zum Guru wird oder ein Makler nur den subjektiven Eindruck gewinnt, er würde zum Guru mutieren, trennen sich die Wege in der Regel. Auch dies beruht auf Gegenseitigkeit: Der Makler will nicht mit einer »Sekte« in Verbindung gebracht werden und die Gruppe zieht sich ihrerseits vom Markt zurück und verzichtet auf die Dienste der Makler, wenn z.B. der Guru nicht will, dass man ihm »dreinredet«. Kleinstgruppen leben gerade von der persönlichen, der Face-toFace-Kommunikation. Das verschafft ihnen einen entscheidenden Vorteil, den weder die offene Esoterik-Kultur noch eine grosse hierarchische Organisation erbringen kann: Nestwärme, intensives Heimatgefühl, persönliche Beziehungen, eine Autorität, der durch persönliches Erleben zugesprochen wird. Mit der Abtrennung vom Markt endet allerdings ein grösserer Zustrom von Leuten, so dass diese Gruppen u.a. auch aus diesem Grund fast immer klein bleiben. Anzumerken ist allerdings, dass viele der Kleinstgruppen von vornherein nur wenig mit der offenen Esoterik-Kultur zu tun haben, da sie sie von Beginn an nur im persönlichen Umfeld und durch Mund-zu-Mund-Propaganda kommunizieren. Die Makler der Esoterik-Kultur verhindern derartige Gruppenbildungen nicht aktiv weil sie das nicht können und wahrscheinlich auch nicht um jeden Preis wollen. Ein Guru wird für sie erst dann als Geschäftspartner wirklich untragbar, wenn er öffentlich einen schlechten Ruf bekommen hat. Oft fehlt zudem die Kompetenz oder auch die Ka143

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pazität, die Kontrollmaschen als Türhüter systematisch zu knüpfen und zu unterhalten. Gruppen können vom Makler erst dann als »gefährlich« und »sektiererisch« identifiziert werden, wenn sie einen entsprechenden Ruf erlangt haben. Somit können kleine, flexible und familiäre Gruppen durch die Maschen der türhütenden Makler schlüpfen, in denen die grossen NRG längst hängen geblieben sind. Insgesamt betrachtet helfen die Makler den kleinen Gruppen wohl sogar, neue Kontakte zu möglichen Anhängern zu knüpfen.

Fazit Die alternative, also nicht in traditionellen Religionen verankerte Religiosität ist in unseren Breiten, glaubt man Statistiken, im Zunehmen begriffen. Eine Ursache dafür sind die spezifischen Wünsche und Bedürfnisse von Individuen. Ihnen gegenüber stehen heute unzählbar viele inhaltliche Angebote. Vermittelt wird dazwischen häufig durch Strukturen, die am besten als Markt beschrieben werden können. Wünsche nach einem gemeinschaftsorientierten religiösen Leben können daneben durch den Beitritt zu einer Religionsgemeinschaft, z.B. einer NRG befriedigt werden. Diese haben den Vorteil, Gemeinschaft, Kontinuität und Sicherheit zu bieten, etwas, das auf dem freien Markt esoterischer Angebote nur schwer zu erlangen ist. Die beiden Möglichkeiten – das ungebundene Suchen, Auswählen, Kombinieren, Aufgeben und Weitersuchen von Ideen und Praktiken mit Hilfe einer marktförmigen Struktur und die entschiedene Mitgliedschaft in einer festen Organisation mit exklusiven Strukturen, einer deutlichen Hierarchie und einer fixierten Lehre – schliessen sich gegenseitig aus. Beim Wettbewerb um Kunden bzw. Mitglieder agieren unterschiedlich verfasste Akteure, die unterschiedliche Bedürfnisse befriedigen. Es gibt aber auch vieles, das sowohl NRG als auch esoterisches Spezialanbieter ohne Bindungsanspruch und Makler gleichermassen anbieten: religiöse Ideen und Lehren, Praktiken und Erlebnisse, Exotik u.a.m. Hier besteht ein Wettbewerb. Es sieht nun so aus, als ob die Akteure des freien Marktes diesen für sich gewinnen: Ihr Bereich wächst, während NRG – zumindest die grossen, sichtbaren – verschwinden. Das heisst aber nicht, das in absehbarer Zeit gar keine NRG mehr bestehen werden, denn es wird immer Menschen geben, die feste religiöse Bindungen suchen, ebenso wie es immer Spezialanbieter geben wird, die den Wunsch und die Fähigkeit besitzen, Menschen dauerhaft an sich zu binden. Personen aber, die auf der spirituellen Suche sind und sich religiös nicht dauerhaft binden wollen, finden in den Maklern ideale Verbündete. 144

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Makler sind nicht an eine konkrete NRG gebunden und sie bemühen sich auch sehr, nicht in die Nähe einer NRG gerückt zu werden. Sie öffnen den Weg zu religiösen Inhalten ohne jede Schwelle und fördern das Selbstbild der Rezipienten, autonome spirituelle Individuen zu sein. Zudem sind Makler bewusst Türhüter der Esoterik-Kultur, die Aktivitäten von NRG, dem Markt Rezipienten durch eine dauerhafte organisatorische Einbindung zu entziehen, zu verhindern suchen. Allerdings haben sie nur begrenzte Möglichkeiten: Ihre Grenzen liegen darin, dass sie nicht auf allen Gebieten profunde Kenner sein können, dass sie ökonomischen Zwängen ausgesetzt sind, welche sie dazu zwingen, sehr vieles und auch Ungeliebtes ins Programm aufzunehmen, und dass sie nicht kontrollieren können was geschieht, wenn ihre Kunden erst einmal Kontakt mit Spezialanbietern aufgenommen haben. Unbedingte religiöse Autoritätsstrukturen funktionieren im persönlichen Nahbereich. Einigen, meist kleinen Gruppen gelingt es, solche Strukturen zu etablieren, indem sie sich fernhalten von den marktförmigen kommunikativen Strukturen der Esoterik-Kultur. Für das Aufrechterhalten exklusiver Autorität ist eine umfassende Sozialkontrolle notwendig, wie sie dauerhaft nur bei einer Weltabgeschiedenheit der Gruppe möglich ist. Insbesondere grosse Gemeinschaften sind dazu aber kaum in der Lage. Den kleinen gelingt es, gerade weil sie so klein sind und weil sie jung und unbekannt sind – Eigenschaften, die aber kaum lange bestehen bleiben. Die Esoterik-Kultur bezieht viele ihrer Inhalte von den traditionellen Religionen und von NRG, denn diese sind aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage, ihre Inhalte exklusiv für sich beanspruchen zu können. Ihre Lehren bleiben nicht ihr exklusives Gut. Auf dem Weg zum Rezipienten fungieren durch den Markt der Religionen also Makler wie auch religiöse Gemeinschaften als Transportvehikel der einzelnen Lehrinhalte. Dabei sind die Makler aber diejenigen, die die fortgesetzte Wahlfreiheit der Rezipienten als positiven Wert betonen. Der Unterschied zwischen den verschiedenen Anbietern ist, dass die Makler freiwillig und absichtlich Anbieter vieler verschiedener, manchmal auch nur temporär erfolgreicher Lehren sind: Sie haben viele im Angebot, finden ständig neue und tun die alten, erfolglosen beiseite. Sie leben davon, dass die Rezipienten immer wieder etwas anderes und neues suchen. Das aber kann sich keine religiöse Organisation leisten. Makler profitieren vom Wechsel der Interessen und Moden, religiöse Gemeinschaften leiden darunter. NRG spielen heute bei der aktiven Verbreitung religiöser Ideen – sogar ihrer eigenen! – in der Öffentlichkeit keine oder fast keine Rolle mehr, denn sie haben nur wenig Markt-Macht. Sie können dauerhaft 145

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keine religiöse Autorität erlangen: Ihre Ideen werden von anderen, den Maklern verbreitet und selbst viele ihrer Mitglieder entziehen sich ihnen wieder (vgl. Lüddeckens/Walthert in diesem Band). Die Makler nutzen nur diejenigen Lehrelemente der NRG, die ihnen verwertbar erscheinen – und die Idee einer absoluten Autorität und Hierarchie gehört nicht dazu. Manche NRG nehmen die Vermittlerrolle der Makler wahr und stellen sich darauf ein, indem sie Kontakt zu diesen aufnehmen, um mehr Öffentlichkeit zu erreichen. Doch sie profitieren nicht davon. Indem sie sich auf diese Weise dem Markt anpassen bzw. aussetzen, relativieren sie alles, was ihnen Exklusivität verleihen könnte. Die Tätigkeit der Makler religiöser Inhalte wirkt auf die organisierten Religionen letztlich also sogar zersetzend. Makler stehen als entscheidende strukturelle Akteure der Esoterik-Kultur ausserhalb von NRG und allen Organisationen. Sie sind die Partner der modernen spirituellen Sucher, nicht ihre Meister.

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Vom New Age zur populären Spiritualität 1 HUBERT KNOBLAUCH

Die Transformation der Religion In den letzten Jahren ist immer wieder von einer Renaissance der Religion die Rede, von einer Rückkehr der Religion, ja der berühmte Religionssoziologe Peter Berger (1999) spricht sogar von einem Rückgang der Säkularisierung. Allerdings wirkt sich diese Rückkehr in unseren Breiten kaum auf die etablierten Kirchen aus, und auch außerhalb Europas ist sie vor allem außerhalb des religiösen Mainstreams zu beobachten (vgl. Knoblauch 2002). Was als Rückkehr erscheint, entpuppt sich bei genauerer Hinsicht vielmehr als eine Transformation der Religion. Diese These kann hier nicht in aller Breite ausgeführt werden (vgl. dazu Knoblauch 2009). Ich möchte sie hier vielmehr an der Entwicklung eines besonderen Phänomens illustrieren, das im Zentrum dieses Sammelbandes steht: der so genannten New-Age-Bewegung. Diese Bewegung entstand im Laufe der 1960er Jahre, entfaltete sich im Laufe der 1970er Jahre und erreichte im Laufe der 1980er Jahre ihren Höhepunkt. Während man ihre gegenwärtige Fortsetzung nach wie vor in den üblichen institutionellen Formen der Religion sucht – als »Neue religiöse Bewegung«, »Gemeinschaften« oder »Sekten« – und nur selten fündig wird, haben sich ihre Wissens-, Erfahrungs- und Praxisformen weit über den kleinen Kreis der Aktivistinnen und Aktivisten hinaus ausgeweitet. Diese Ausweitung wird schon durch die Aufgabe des von Anfang an 1

Dieser Beitrag nimmt ein Argument aus meinem jüngsten Buch auf (Knoblauch 2009), entwickelt es aber weiter und ordnet es. Für detailliertere Belege und angrenzende Argumentationen muss ich aber auf diese Buchpublikation verweisen. 149

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ungenauen Begriffes der »New-Age-Bewegung« deutlich, an dessen Stelle zunehmend der Begriff der »Spiritualität« tritt. Diese Spiritualität steht weder in Opposition zur institutionalisierten Religion, wie Heelas/Woodhead (2005) und andere vermuten, noch ist sie weitgehend »alternativ« oder randständig. Vielmehr ist die Spiritualität zu einem Teil der vermeintlich profanen Kultur gegenwärtiger Gesellschaften geworden – eine populäre Spiritualität. Die These des Beitrags besagt also, dass wesentliche Inhalte des New Age als Spiritualität zu einem Teil der populären Kultur werden, d.h. zu dem, was ich als populäre Spiritualität (als Teil der populären Religion) bezeichne (vgl. Knoblauch 2009). Die populäre Spiritualität zehrt keineswegs ausschließlich von der »New-Age-Bewegung«, doch stellt diese Bewegung einen sehr bedeutenden Motor der Transformation der Religion, insbesondere im europäischen Raum dar. Deswegen möchte ich mich hier mit dem New Age beschäftigen. Im folgenden Teil soll zunächst ein erster Zugang zur dieser höchst diffusen Bewegung gefunden werden. Danach möchte ich auf die inhaltlichen Aspekte – das New Age als eine Sozialform religiösen Wissens – hinweisen. Anschließend soll die soziale Struktur dieser Bewegung und ihre Dynamik skizziert werden, um abschließend die Entwicklung zur alternativen und zur populären Spiritualität darzustellen.

Der Begriff des »New Age« Der Begriff des »New Age« bezieht sich auf die Erwartung eines epochalen Wandels zu einem Neuen Zeitalter. Obwohl das Wort New Age in den sechziger Jahren aufkam und im deutschsprachigen Raum erst in den achtziger Jahren auf ein breites Interesse stieß, wurden die entsprechenden Inhalte keineswegs erst damals erfunden, sondern traten in der europäischen Religionsgeschichte schon seit langem auf. Der Vorstellung eines neuen Zeitalters liegen astrologische Lehren zugrunde, denen zufolge alle 2000 Jahre ein neues Zeitalter beginnt. Das alte Zeitalter gehe im Zeichen von Konflikten und Kriegen zugrunde, während ein neues auferstehe. Das christlich geprägte Fische-Zeitalter ende im Zeichen von Weltkriegen und Kaltem Krieg und mache dem WassermannZeitalter Platz, das von den Anhängern dieses millenaristischen Glaubens mit hoffnungsvoller Zuversicht erwartet wird. Denn mit diesem Übergang eröffneten sich neue Möglichkeiten des Menschseins, die mit erweiterten Formen des Denkens, Erfahrens und Zusammenlebens verbunden seien. Wie das englische Wort schon andeutet, nahmen die unter dem New Age eingeordneten Bewegungen ihren Ausgang im angelsächsischen 150

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Bereich. Als Vorreiter und Kristallisationskerne der Bewegungen werden etwa das kalifornische Esalen-Institut (gegründet 1962) und die schottische Findhorn-Kommune (gegründet 1962) genannt; die Verbreitung wurde durch zahlreiche Bücher gefördert, die seit Mitte der siebziger Jahre eine große Popularität erlangten (wie etwa »New Age – die Geburt eines neuen Zeitalters« von David Spangler), »Die sanfte Verschwörung von Marilyn Ferguson, »Das Tao der Physik« bzw. »Wendezeit« von Fritjof Capra sowie zahlreiche Bücher von Shirley MacLaine). Allerdings war die Bezeichnung New Age schon früh irreführend, denn viele der Menschen, Gruppierungen, Einrichtungen und dem New Age zugerechneten Texte teilen die für den Begriff so zentrale Vorstellung eines neuen Zeitalters überhaupt nicht. Einer der vermeintlichen Hauptvertreter des New Age, der aus Österreich stammende Capra, distanzierte sich ausdrücklich von der Zuordnung zum »New Age« (vgl. Knoblauch 1993). Wenn von »New Age« gesprochen wird, handelt es sich häufig um eine Fremdzuschreibung, die aber von den Akteuren zuweilen übernommen wird (wie etwa bei »New-Age«-Buchläden), für die die Fremdzuschreibung zugleich als Marketingstrategie wirkte. Auch die Vermutung, das New Age sei eine halbwegs einheitliche soziale Bewegung (gewesen), führt in die Irre. Schon zu ihren Hochzeiten erschien sie eher als ein Sammelsurium unterschiedlicher Bewegungen. Sofern überhaupt von einer sozialen Struktur die Rede sein kann, ähnelt diese zumindest keiner der bekannten Formen religiöser Institutionen. Die New-Age-Bewegung basiert auf einer großen Zahl kleiner Gruppierungen und Organisationen, von denen einige (auch wenn sie sich selbst oftmals gar nicht ausdrücklich dem New Age zurechnen) darauf abzielen, ein sich selbst organisierendes »Netzwerk« auszubilden. Hanegraaff (1996) schlägt deswegen auch vor, neben dem New Age »sensu strictu« ein New Age »sensu lato« zu unterscheiden. Das Konglomerat an Bewegungen, das sich seit den 1960ern ausbildete, fand in gewissen populären Formen – wie etwa dem Musical »Hair« mit dem Titellied »Age of Aquarius« – einen so sichtbaren Ausdruck, dass es auch über die engen Kreise der Aktivisten hinaus bekannt wurde. In den 1980ern weitete sich die »Szene« sehr aus: »Neues Paradigma«, »Esoterik« oder auch »«Spiritualität« traten nun als alternative Bezeichnungen auf, die darauf hinwiesen, dass nicht nur der Kern der Bewegung wenig bestimmt ist, sondern auch darauf, dass die Grenzen der Szene durchlässiger wurden. Das besondere Problem dieser Bestimmung besteht nun darin, dass einerseits das New Age »sensu strictu« von einer verschwindend geringen Bedeutung ist, wie gerade zur Wende zum Jahre 2000 deutlich wurde. Gegen die Erwartung hatte der Jahrtausendwechsel wenige Energien freigesetzt (und wenn er dies tat, dann vorwiegend im 151

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christlichen Raum (vgl. Knoblauch/Schnettler 2000). Andererseits wirft auch die Vorstellung des New Age im weiteren Sinne Schwierigkeiten auf, lässt es sich doch weder als soziale Bewegung deutlich eingrenzen noch als religiöse Bewegung inhaltlich eindeutig bestimmen. Zählt der Begriff der sozialen Bewegung ohnehin zu den unschärfsten sozialstrukturellen Bezeichnungen, so wird die Unschärfe der NewAge-Bewegung durch ihren inneren sozialen Wandel – der Teil der Transformation der Religion ist – noch vergrößert. Ich möchte auf diesen Wandel später genauer eingehen. Denn das Gleichbleibende in diesem Wandel ist weniger die institutionelle bzw. organisatorische Form, die sich seit dem Entstehen dieser Bewegung vor beinahe 50 Jahren grundlegend verändert hat. Eher lässt sich das New Age durch seine Wissens- und Erfahrungsformen sowie seine Praktiken bestimmen. Diese lassen sich relativ gut beobachten, weil sie zu Beginn der Ausbreitung des New Age in unserer Kultur wenig bekannt waren, zumal sie aus fremden Kulturen (wie etwa asiatische oder indianische Spiritualität) oder aus esoterischen, einst devianten Subkulturen der eigenen Gesellschaft, übernommen wurden.2

Inhalte des New Age Eine der merkwürdigsten Quellen des New Age dürfte das sein, was lange als Esoterik bezeichnet wurde, und auf die wir deswegen etwas eingehen müssen. Der Begriff Esoterik leitet sich aus dem griechischen esóteros ab, das soviel wie »weiter innen (gelegen)« bedeutet, im übertragenen Sinn Lehre, die nur Eingeweihten zugänglich oder bekannt ist. In unserem Kulturkreis wird der Begriff erst im 19. Jahrhundert von dem »Okkultisten« Éliphas Lévi eingeführt (vgl. Faivre 1986). Zur Esoterik werden jene Erfahrungs-, Glaubens und Handlungsmuster gezählt, die nicht allen zugänglich sind, sondern auf einen besonderen Kreis von

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Dabei konzentriere ich mich zunächst auf jene inhaltlichen Einflüsse, die in der Hochzeit des »New Age« – als auch der Begriff selbst seine größte Bekanntheit erlangte – von den Akteuren selbst wie von den Beobachtern und Klienten dem »New Age« zugeschrieben wurden. Es handelt sich also nicht nur um die Inhalte von berühmten New-Age-Büchern, wie sie Hanegraaff (1996) behandelt, sondern auch um das Wissen und die Praktiken, die in »New Age«-Buchläden, New-Age-Zentren, New-Age-Katalogen und Adressbüchern vermittelt wurde. Sehr gute Hinweise darauf geben u.a. Greverus (1990) und Greverus/Welz (1990); ein deutliches Indiz ist auch der Inhalt der von Heelas u.a. 2005 gegründeten Zeitschrift JASANAS: Journal of Alternative Spiritualities and New Age Studies.

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Menschen beschränkt sind und damit als ein Sonderwissen angesehen werden müssen. Hier schließt der Begriff der Esoterik unmittelbar an den des Okkultismus an, zu dem die Magie, Wahrsagepraktiken, die Astrologie, die Alchemie, die okkulte Medizin (etwa die Geistheilung) und verschiedene andere Grenzwissenschaften gezählt werden. Im Unterschied zur stärker theoretisch und weltanschaulich orientierten Esoterik gilt der Okkultismus als praktisch orientiert. Entsprechend unterscheidet Robert Galbreath (1972) einen »theoretischen« Okkultismus – eben die oben ausgeführte Esoterik – von einem »praktischen« Okkultismus, der im Vergleich dazu einen stärkeren Handlungsbezug hat. Trotz dieser Differenzen zwischen den esoterischen und okkultistischen Aktivitäten, die auch ihren soziologischen Ausdruck finden3, muss man sich fließende Übergänge zwischen beiden Kategorien vorstellen. Denn das »okkulte« Handeln basiert doch auf dem Gefühl einer gewissen Auserwähltheit, das mit dem Anspruch auf einen privilegierten spirituellen, bewusstseinsgesteuerten Zugang und mit besonderen Voraussetzungen oder Qualifikationen verbunden ist. Dennoch bedient der Begriff der Esoterik eher die geistigen Aspekte der Beziehung von Mensch, Natur und Kosmos, sowie die damit verbundenen Ideen einer höheren Wirklichkeit und damit eines tieferen Sinnes der menschlichen Existenz, während diese Vorstellung als Voraussetzung für okkulte Betätigungen gilt (zu denen auch die so genannten »magischen« Praktiken zählen). Der esoterische Gedanke einer Verbindung zwischen Mikro- und Makrokosmos erlaubt die Einbeziehung der Astrologie (also den Glauben an den Einfluss der Sterne auf das menschliche Geschick) wie auch anderer Formen des Okkultismus, des Glaubens an die Wirksamkeit verborgener Kräfte (Schwingungen, kosmische Strahlen). Zur Esoterik zählt auch der Gedanke, dass die Menschen Teil eines universalen Seins sind, an dem sie durch Intuition teilhaben. Menschen sind also auf eine ganzheitliche Weise mit der Welt verbunden – eine Verbindung, die sie mittels besonderer Erfahrungen und okkulter Praktiken selbst herstellen können, wie etwa mit außersinnlichen Wahrnehmungen, Hellsehen, Tarotkartenlegen, Pendeln. Die Verbindung zum ›Kosmischen‹ eröffnet auch den Raum für neue Heilmethoden: Körpertherapien, Naturheilkunde, Geistheilung oder Atemtherapie.

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Die Tendenz, dass die stärker »geistigen« Aspekte in den höheren, bildungsnäheren Schichten häufiger auftreten, während die praktischeren Disziplinen, wie Astrologie oder Tarot eher in den weniger gebildeten Schichten auftreten, wird auch in einer schottischen Umfrage aus dem Jahr 2001 bestätigt (vgl. Glendinning/Bruce 2006). 153

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Besonders merkwürdig an der Esoterik ist das, was man als eine wissenssoziologische Inversion bezeichnen könnte. Im New Age nämlich kehrt sich das wesentliche Merkmal der Esoterik gleichsam nach außen: Aus der Esoterik wird genau genommen eine Exoterik (vgl. Tiryakian 1974). Es sind nicht mehr abgeschottete Gemeinschaften, die sich von der öffentlich zugänglichen, also »exoterischen« Kultur der Gesamtgesellschaft abgekoppelt haben, noch geht es um Geheimwissen, das niemandem zugänglich wäre. Das einst als geheim angesehene Wissen wird durch das New Age zu einem öffentlich zugänglichen Wissen. Die esoterische Kultur wird nun in den verschiedensten Medien, in populären Fernsehsendungen, Filmen, Büchern und Buchserien einem breiten Publikum zugänglich gemacht und liefert damit wichtige Impulse für umfassende kulturelle und soziale Erneuerungsprozesse. Ist so die Esoterik mit dem New Age zwar in die Öffentlichkeit eingedrungen, bleibt doch in wissenssoziologischer Hinsicht ein Charakter des Esoterischen erhalten: Auch wenn das esoterische Wissen (und die damit verbundenen Praktiken) in manchen Berufsgruppen eine große Akzeptanz gefunden hat (etwa in den Pflege- und Heilberufen), so ist es doch kein Wissen, das in wissenschaftlichen oder theologischen Akademien gelehrt wird. Es handelt sich zwar um ein verbreitetes, aber lange Zeit institutionell nicht beglaubigtes Wissen. Weil es von den offiziell anerkannten Systemen der Wissensvermittlung (Schulen, Hochschulen, Universitäten) gemieden wird (oder wurde), kann man es auch mit Bourdieu (1971) als »nicht-legitimes Wissen« bezeichnen.4 Um diesem Aspekt des Nicht-Legitimen – und der beschränkt sich auf die Beziehung zum offiziell anerkannten Wissen – und der Herkunft des esoterischen Wissens aus tatsächlich esoterischen, für Ausgewählte gedachte Traditionen Rechenschaft zu tragen, scheint der Begriff der alternativen Religiosität angemessen (vgl. Knoblauch 2002). Von »alternativ« rede ich, wenn die religiösen Quellen durchgängig nicht zum »herrschenden« Kanon der Religion in westlichen Gesellschaften zählen.5 4

5

Zwar kam es in den 1980er Jahren zu einer kurzen Mode des »New Age«Managements, auch die Politik (von Ministerpräsidenten bis zu den Grünen) liebäugelte mit der New-Age-Bewegung, doch trotz gewisser Neigungen einiger Sparten der Naturwissenschaften zum New Age konnte es sich nicht dauerhaft, weder in der Wirtschaft noch in der Politik oder der Wissenschaft, etablieren. Auch Hanegraaff betont diesen Charakter des esoterischen Wissens im New Age, das sich ausdrücklich kritisch gegen das wende, was man das »legitime Wissen« des Westens nennen kann: also das von den Kirchen und das von der Wissenschaft getragene Wissen (vgl. Hanegraff 1996: 521)

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Dieser alternative Charakter kommt nicht nur in der Esoterik, sondern auch in anderen Adaptionen des New Age zum Ausdruck: Indianische Spiritualität spielt eine große Rolle, aber auch andere »heidnische« Formen der Religiosität finden sich im Öffentlichkeitsraum des New Age, wie etwa bei der Wiederbelebung keltischer oder germanischer Rituale (vgl. Gründer/Schetsche/Schmidt-Knittel 2009). Vor diesem kulturellen Hintergrund ist es kein Wunder, dass auch der Satanismus zum New Age gezählt wird (vgl. Hunt 2003: 157), hat er doch sehr ähnliche populäre Ausdrucksformen, die von der Rockmusik bis zur öffentlichen Kultur des »Halloween« reichen. Das gilt auch für die UFO-Bewegung, die Hanegraaff als Vorläufer des New Age betrachtet; noch mehr bildet der Spiritismus, der sich seit dem 19. Jahrhundert ausbreitet und in die Parapsychologie führt, ein Beispiel für die alternative Religion. Die Hexerei dürfte eine ebenso beträchtliche Rolle gespielt haben, und zwar in ihrer modern rekonstruierten romantischen Fassung, denn sie war nicht nur alternativ, sondern auch deutlich (wenn auch nicht exklusiv) weiblich konnotiert, so dass es bis heute starke Überschneidungen mit der feministischen Bewegung gibt. An diesen Adaptionen wird ein anderer Zug des New Age deutlich: die Globalisierung des religiösen Wissens, die sich schon vor der Ausbreitung des Internets entfaltete.6 Wissenssoziologisch dürfte dies mit der Ausweitung des Bildungssystems zu tun haben, wobei sich vor allem die neuen Gebildeten ohne symbolisches Kapital diesem alternativen Wissen zugewandt haben dürften (vgl. Knoblauch 1989). Diese Globalisierung zeigt sich auch in der Rolle östlicher Religionen: Sowohl der Buddhismus wie auch der Taoismus und die neohinduistischen Bewegungen spielen eine ganz bedeutende Rolle bei der Entwicklung des New Age. Dabei kommt es nicht nur zwischen den religiösen Traditionen zu Synkretismen; vielmehr zeichnet sich das New Age ja gerade dadurch aus, dass es Mischformen zwischen den religiösen Traditionen, den magischen Traditionen, der Wissenschaft und der Medizin ausbildet. Angesichts dieser Vielfalt von Einflüssen und Adaptionen wird die Einheitlichkeit dieser Bewegung häufig in einer gemeinsamen NewAge-Weltanschauung gesehen. Das New Age zeichne sich demnach 6

Wegen der vielen Einflüsse asiatischer Religionen auf die Populärkultur der sechziger Jahre hat Campbell (2007) die Durchsetzung des New Age deswegen auch als Veröstlichung gedeutet. In der Tat kann das New Age als eine Phase der Rezeption östlicher Religionen angesehen werden, in der diese im Westen zugänglich gemacht wurden. Doch kann man das New Age nicht auf die Rezeption östlicher Religionen reduzieren, weist doch die Bandbreite der genannten Ausprägungen der alternativen Religion weit darüber hinaus: Ufo-Kulte, westlicher Spiritismus oder Hexenrituale (vgl. Partridge 2004). 155

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durch eine »reine Lehre« aus, die Bochinger (1994) in der Esoterik sieht. Die Esoterik sei die untergründige, aber wirkkräftige Religionsbewegung der Moderne, deren klassische Vertreter er in Swedenborg, Mesmer und Jung erkennt. Swedenborg selbst könne als eine Übersetzung der antiken Gnosis für die Moderne angesehen werden, wie sie im Freimaurertum, bei den Rosenkreuzern, in der Theosophie, in der Anthroposophie und im Spiritismus zu finden sei. Zwar spielt die für die Gnosis typische manichäische Gegenüberstellung einer Welt des Lichts und einer Welt der Finsternis eher in den fundamentalistischen christlichen und den älteren esoterischen Bewegungen als im New Age eine Rolle, doch dafür findet man die Vorstellung einer inneren Erkenntnis besonders stark ausgeprägt. »Den Gnostikern ging es (…) um Erkenntnis; sie betrachteten sich selbst als Erkennende, Wissende, Eingeweihte. Das Wissen der Gnostiker stammt nicht aus dem Verstande; es ist befreiendes, erlösendes Wissen. Die Gnosis (…) gibt Antwort auf die Frage, wer wir sind und was wir geworden sind; woher wir stammen und wohin wir geraten; wohin wir eilen und wovon wir erlöst sind; was es mit unserer Geburt, was es mit unserer Wiedergeburt auf sich hat.« (Leisegang 1985: 14).

Gnostisch ist die Vorstellung, dass der Mensch aus dem Licht stammt und einen davon geprägten Kern hat. Und auch die daran anschließende Zerfallsgeschichte gehört noch zur Gnosis wie zum New Age: Der lichte Kern des Ich, der innere Mensch, wurde verschüttet, wofür die westliche Zivilisation oder auch die moderne Kultur verantwortlich gemacht wird (vgl. Greverus 1990). Ob diese »Lehre« tatsächlich in der ohnehin schlecht bestimmbaren Bewegung geteilt wird, ist schwer zu belegen, denn das New Age zeichnet sich ja gerade durch das Fehlen eines dogmatischen Kerns aus. Häufig werden auch keine Glaubensmaxime ausgesprochen. Wer an Engel glaubt oder an die Aura, benötigt selten eine darüber hinausgehende Lehre. So unscharf die Dogmatik sein mag, so unübersehbar ist die Hervorhebung des Subjekts. Im Mittelpunkt des New Age steht die Transformation des Individuums: Indem sich das Bewusstsein den Zugang zu neuen Kräften und zu bislang verborgenen Dimensionen des Geistes und der Natur erschließe, schaffe es eine veränderte Wirklichkeit, in der – im Einklang mit dem Kosmos – die Harmonie mit der Natur, zwischen den Geschlechtern, in Wirtschaft und Gesellschaft erreicht werden könne. ›Öffnen‹ wir uns den entsprechenden Erfahrungsmöglichkeiten, dann entdeckten wir in uns selbst eine verschüttete spirituelle Dimension, ja unsere eigene Göttlichkeit. 156

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Hier ist nicht nur das Individuum in seiner Einzigartigkeit das zentrale Thema, sondern auch das Subjekt mit seinen eigenen Erfahrungen. Der Gnostiker erfährt seine eigentliche Bedeutung nicht durch die Welt, sondern aus seiner Innerlichkeit, denn er »umfasst als Mikrokosmos alle Elemente der Schöpfung, Körper, Seele und Geist in sich« (Leisegang 1985: 15). Das besondere Merkmal der New-Age-Bewegung besteht darin, dass das Subjekt selbst die Erfahrungen der Transzendenz macht.7 Generell wird subjektiven, oft außergewöhnlichen Erfahrungen eine besondere Bedeutung beigemessen. Außersinnliche Wahrnehmungen, gefühlsbezogene Gipfelerlebnisse (»peak experiences«) und andere außergewöhnliche Bewußtseinszustände (»altered states of consciousness«) gelten als besonders vielsagend. Ob es sich um das Sehen der Engel oder die Stimmen der Toten, um das Spüren kosmischer Energien oder das Muten von Erdstrahlen handelt – das Unsichtbare ist wahrnehmbar und vom Subjekt erfahrbar. Man sieht leicht, dass an diese Vorstellung auch der Glaube an das Paranormale bzw. Parapsychologische andocken kann, dem der sechste Sinn als Organ für das Wahrnehmen des Unsichtbaren gilt, das als »noch nicht« wissenschaftlich erklärlich gilt. Diese Vorstellung kann aber esoterisch oder gnostisch durch den Nexus zwischen dem Mikrokosmos des menschlichen Erfahrens und dem Makrokosmos der Welt erklärt werden. Nicht nur Wissen und Erfahrungen, sondern auch Praktiken spielen eine große Rolle, insbesondere die des Heilens und Therapierens. Das dabei nicht kategorisch zwischen medizinischer und psychologischer Heilung unterschieden wird, ist sicherlich ein (»ganzheitliches«) Merkmal, das später in den Begriff der Spiritualität eingeht. Akupunktur, Ayurveda, Osteopathie oder Yoga zählen zu den zahlreichen weiteren Heilpraktiken. Aber auch Kristalle und Pyramiden spielen hier eine große Rolle, deren symbolischen Formen eine Heilkraft zugeschrieben wird. Wünschelrutengehen und Pendeln gelten schon lange als magische Praktiken, die dabei helfen, unsichtbare, krankheitsgefährdende, ja krebserregende Strahlen aufzusuchen und abzuwehren. Wie erwähnt, treten auch verschiedene Traditionen der Psychologie im Kontext des New Age auf. Erwähnt werden muss das New Thought, eine amerikanische Bewegung, die in der Entstehungszeit der modernen Psychologie seit Mitte des 19. Jahrhunderts die ›Macht des Denkens‹ (›power of mind‹) betonte und das ›positive Denken‹ als eine wichtige

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Dieses Merkmal teilt die Gnosis mit den christlichen Wachstumsbewegungen, die im selben Zeitraum ein erstaunliches Wachstum aufweisen (vgl. Knoblauch 2002). 157

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Lebenskraft bestimmte. Ebenso bedeutsam ist die transpersonale Psychologie, die in der religiösen und spirituellen Tradition der Esoterik, der Alchemie, des Tarot und des I Ging steht. Sie geht davon aus, dass am Anfang das Selbst als Möglichkeit steht, das zu einem verwirklichten Selbst werden soll. Sie versucht ihre Erkenntnis in besonderen Bewusstseinszuständen zu finden, die außerhalb des normalen Alltagsbewusstseins angesiedelt sind, also in den schon genannten außersinnlichen Wahrnehmungen, gefühlsbezogenen Gipfelerlebnissen und anderen außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen. Die Transpersonale Psychologie tritt auch unter dem Titel der Human-Potential-Bewegung in Erscheinung. Sie geht auf ein Forschungsprojekt an der Universität von Surrey (England) zurück. Ihr wesentliches Ziel ist es, die Bildung der Menschen auf Charakter und Psyche auszudehnen und ganzheitliche Formen der Praxis, Erziehung und Forschung zu fördern. Sie betont die spirituelle Dimension des Lebens und geht von einer grundlegenden Einheit von Leib und Seele aus. In diesen Rahmen fällt auch eine besondere Form der Traumdeutung, die im New Age gepflegt wird. Träume werden hier als Mittel gesehen, die zur Erforschung der eigenen Gefühle dienen und zum Aufspüren der spirituellen Wahrheiten. Sie ermöglichen die Visualisierung des Selbst und helfen, innere Konflikte zu vermeiden. Dies drückt sich in der besonderen Bedeutung aus, die psychophysiologische Techniken einnehmen. Dazu zählen auch ›Biofeedback‹Techniken, die eine Rückkoppelung körperlicher Vorgänge (Gehirnwellentätigkeit, Muskeltätigkeit, Hauttemperatur) ermöglichen und ›Autogenes Training‹, das den Körper zum ›Atmen‹ bringen soll. Dies geschieht unter anderem im Rahmen von Selbsthilfegruppen, die der Entwicklung des Bewusstseins und der Persönlichkeit dienen sollen: Sensitivitäts-, Encounter- und Meditationsgruppen, sowie zahllose weitere psychologische oder körperorientierte Therapieangebote (Tai-ChiChuan, Bioenergetik, Hatha Yoga).

Soziale Formen: Vom Untergrund zur Alternativen Spiritualität Auch wenn das New Age also keine Organisationsformen annimmt, wie sie häufig mit der Religion in Verbindung gebracht werden, so findet es doch mit seinen besonderen Wissens- und Praxisformen einen sichtbaren sozialen Ausdruck, also eine »soziale Form«. Wie schon erwähnt, wandelte sich diese Form im Laufe der Zeit sehr deutlich. Zunächst zählte das New Age im amerikanischen Raum in den 1960er Jahren zu einer noch als deviant angesehenen Subkultur der 158

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»Außenseiter«, die – im Gefolge der Jugendkultur, der Beatniks und als Teil der »Hippies« – von Jugendlichen und jungen Erwachsenen getragen wurde.8 Der in dieser Devianz ausgedrückte »alternative« Charakter der New-Age-Bewegung war der Grund dafür, dass sie noch zu Beginn der 1970er Jahre einen occult underground, eine oppositionelle Gegenkultur bildete, wie etwa Webb (1974) bemerkt. In dieser oppositionellen Gegenkultur spielen sicherlich auch die (zunächst weltflüchtigen) Neuen Religiösen Bewegungen eine Rolle, die dem New Age zugerechnet wurden. Dies gilt etwa für Hare Krishna, EST, die Transzendentale Meditation oder auch die Neo-Sannyasins, die in dieser Zeit vor allem durch Skandalisierung als »neue Jugendreligionen« in der breiten Öffentlichkeit bekannt wurden.9 Doch schon im Laufe der 1970er Jahre gibt es starke Hinweise auf eine Etablierung dieser Kultur zumindest in den Vereinigten Staaten, so dass erste Beobachter bereits von einem »occult establishment« (Lynch 1979) reden. In den großstädtischen Agglomerationen der Vereinigten Staaten gilt die Esoterik schon zu Beginn der 1980er Jahre als eigenständiges »kultisches Milieu« (vgl. Jorgensen 1982). In dem Maße, wie sich die Zahl der Interessierten aus den berufstätigen gebildeten Mittelschichten vergrößerte, institutionalisierten sich Teile dieser Bewegungen und fanden vermehrt soziale Anerkennung. Dies gilt auch für einige der nun weltzugewandten Neuen religiösen Bewegungen, die sich allmählich in die Mitte der Gesellschaft zu bewegen versuchten, wie etwa OSHO oder Scientology (vgl. Wilson 1982). In dieser Zeit weitete sich die New-Age-Bewegung auch im deutschsprachigen Raum aus. Seit Anfang der 1980er Jahre scheint das Lehnwort New Age in der deutschen Sprache heimisch zu werden. 1986 wurden knapp 40 deutschsprachige Zeitschriften diesem Phänomen zugeordnet, es entsteht ein eigener Markt für New-Age-Bücher (unter verschiedenen Titeln). Zu diesem Zeitpunkt greift der Begriff der sozialen Bewegung am besten (vgl. Kern 2008). Denn die zahlreichen verschiedenen Akteure und Akteurskonstellationen beginnen Bewegungsorganisationen auszubilden, indem sie gemeinsame Inhalte lancieren. Allerdings sollte man beachten, dass diese nicht die Form religiöser Organi8

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Die Parallelen zur sich ausweitenden angelsächsischen Jugend-Popkultur der 1960er Jahre können keineswegs zufällig sein, gibt es doch unübersehbare Überschneidungen. Man erinnere sich nur an die Wendung der Beatles zu den östlichen Religionen, die eine weltweite Aufmerksamkeit erlangten, an die gleichzeitige Begeisterung der Woodstock-Generation für Zen und Satanismus und an den erwähnten populären Erfolg des Musicals »Hair«, das keine unwesentliche Rolle in der Popularisierung des New Age gespielt haben dürfte. Vgl. dazu Lüddeckens/Walthert in diesem Band. 159

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sationen annehmen. Denn (wie bereits erwähnt) so wenig wie das New Age die offizielle Anerkennung der Wissenschaft erfuhr, so wenig wurden die »alternativen Religionen« als Religionen anerkannt. Vielmehr folgte das New Age einem besonderen organisatorischen Muster, das sich deutlich von den starren, hierarchischen Kirchen, den streng organisierten Sekten oder (mit Blick auf die wissenschaftlichen Ansprüche des New Age bei Capra, Ferguson oder Sheldrake) den bürokratischen und staatlich anerkannten Wissenschaften unterschied. Der Kern dieses organisatorischen Musters wird am besten mit dem Begriff des »Netzwerkes« beschrieben. Parallel zur Computerbewegung, die auch aus politischen Gründen den Computer zu einem dezentralen Mediensystem zu vernetzen trachtete, hatte sich nämlich auch auf Seiten des New Age eine ausdrückliche »Netzwerk-Ideologie« ausgebildet (vgl. York 1995: 187f). Diese Netzwerk-Ideologie war schon von Ferguson (1980), in einem frühen Klassiker des New Age, formuliert worden, die dem New Age als »Verschwörung im Zeitalter des Wassermanns« eine deutlich politische Komponente verliehen hatte. Die individuelle »Transformation« sollte mit einer »sozialen Transformation« einhergehen, in der Netzwerke eine entscheidende Rolle spielen. Der Begriff des Netzwerkes wurde auch im New Age mit Begriffen wie Selbstorganisation, Transformation und planetares Bewusstsein verbunden, die andeuteten, was das neue Zeitalter ausmachen sollte (vgl. Schneider 2000: 46). Obwohl in den 1980er Jahren noch keine einheitliche technische Infrastruktur für die Idee eines Netzwerkes bestand, die dem Internet entspricht, wurde diese Idee mit den damals verfügbaren Medien verfolgt. So führte das Spirituelle Adressbuch schon 1988/1989 über 1000 Adressen und Kurzbeschreibungen auf, in vielen Städten fanden esoterische Messen statt, und selbst in Kleinstädten traf man auf einschlägige Geschäfte und Gruppen, die untereinander auch als Informationsbörsen fungierten. Das New Age vertritt damit eine antiinstitutionelle Position, die es faktisch durch die Vermeidung hierarchischer Formen der Organisation zu erreichen sucht. Zwar werden zum New Age auch solche KultBewegungen gezählt, die sich um charismatische Führungspersönlichkeiten scharen und umfassende Orientierungsmuster anbieten, doch wird das Gros von »Klientenkulten« und »Publikumskulten« gestellt. Als Klientenkulte gelten jene religiösen und therapeutischen Angebote, die bestimmte Nachfragen bedienen, während Publikumskulte religiöse Inhalte in Form von Veranstaltungen anbieten, ohne dass damit eine konkrete Form der Mitgliedschaft verbunden wäre. Die dominierende Organisationsform ist weder die Kirche noch die Sekte, sondern der anerkannte Verein oder der freiwirtschaftliche Betrieb, der auf einem Markt 160

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seine Leistungen anbietet; an die Stelle der lokalen »Mitgliedschaft« treten verschiedene Formen der Kommunikation, die häufig auch vermittelt sein können. Eine analytisch sehr klare Beschreibung dieser institutionellen Entwicklung stammt von Hero (im Druck), die ich hier kurz skizzieren möchte: Die Wohngemeinschaften, Kommunen, Kinderläden der alternativen Kultur der 1960er Jahre bilden in seinen Augen den Hintergrund für die Transformation des Religiösen. Auch die neuen religiösen Formen dieser Zeit folgen diesem Muster, indem sie östliche Religionen aufnehmen und sich an der Gemeinschaftsform orientieren, die auf dem Reziprozitätsprinzip beruht. Wie Hero argumentiert, stoßen diese gemeinschaftlichen Formen rasch an ihre Grenzen, so dass sich bald ein »Trend zur Organisation« abzeichnet. Seinen öffentlichen Ausdruck findet dieser Trend im Diskurs der Sekten- und Jugendreligionen, die (aus der Perspektive interessierter Beobachter) eine massive und scharfe Organisation neuer Religionen unterstellt. Als Folge dieses Diskurses vollzog sich eine zunehmende Öffnung und Weltzuwendung, die institutionell mit der Verlagerung von der »Mitglieder-« zur »Publikumsreligion« verbunden war. Damit kamen allmählich auch aus der Ökonomie bekannte Formen der Werbung, der Dienstleistung oder des Franchising in Gebrauch. Der Weg zum »religiösen Dienstleistungsmarkt« ist geebnet. Die neuen Heilsanbieter reagieren nun auf Nachfragen wie Marktanbieter, die dem Prinzip do ut des folgen. Folgen sind die symbolische Differenzierung des Angebots (was Berger schon mit der ökonomischen »Marginaldifferenzierung« verglich), die Entstehung eines religiösen Ausbildungsmarktes, also einer rudimentären Professionalisierung und religiöse Innovationen. Dieser Markt ist eingebettet in Anbieternetzwerke, Nachfragernetzwerke, staatliche Regulierungsversuche und Mittlerorganisationen (Esoterikmessen, Seminarzentren), die zunehmend individualisierte Klienten mit ihren besonderen Ansprüchen bedienen. So weit Hero. Man sollte betonen, dass diese von Hero klar skizzierte institutionelle Entwicklung nicht von einer weltanschaulichen Schließung begleitet wird. Ganz im Gegenteil fordern die marktförmige Organisation und die Anpassung an individuelle Interessen nicht nur den weltanschaulichen Synkretismus, sondern auch die Entgrenzung. Das heißt, dass Themen, Inhalte und Praktiken des New Age, die ohnehin schon die Grenzen zur Wissenschaft, zur Medizin oder auch zur Technik überschritten hatten, noch mehr die Spezifizität des Religiösen verlieren. Diese Entgrenzung wird durch den Begriff der Spiritualität markiert, der

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zunehmend als Alternative zum Begriff der Religion fungiert.10 Die alternative Semantik der Spiritualität erläutert etwa Barker (2004) in der folgenden Gegenüberstellung:

Gottesvorstellung Quelle Ursprung Quelle des Wissens Theodizee

Leben nach dem Tod Zeit Wandel

Perspektive Anthropologie Unterscheidung Geschlecht Beziehungen Soziale Identität Kontrolle

Religiosität Transzendent Außen Schöpfung Schrift und Offenbarung Das Böse, die Sünde, Satan Erlösung, Auferstehung, Verdammnis Zeitlich-historisch Linear: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft Analytisch Mensch ist Gottes Abbild Dichotom: Sie und wir Männlich (weiblich) Kontrolle Gruppe (Mitglied in Tradition) Externe Kontrolle

Organisationseinheit Ort der Verehrung

Information/Familie Kirche, Synagoge

Kommunikation

Virtuelle Hierarchie

Spiritualität Immanent Innen Schaffen Erfahrung und Mystik Mangel an Harmonie, Balance oder Bewusstheit Reinkarnation, Transmigration Ewig, unhistorisch Zyklisch: Damals, heute, dann Ganzheitlich Mensch ist Teil der Natur Komplementär: Wir (= Sie und Ihr) Weiblich (männlich) Teilen Das innere, wahre Selbst Interne Verantwortung Individuum Informelle Gebäude, Tempel, Schreine Horizontales Netzwerk

Semantische Aspekte von Religiosität und Spiritualität nach Barker (2004)

10 Dass dieser Begriff zugleich auch Einzug in die neuen christlichen Bewegungen hält, die sich zunehmend in den Mittelklassen ausbreiten, bringt für die Akteure selbst eine interessante Doppeldeutigkeit ins Spiel, die noch heute viele Beobachter verwirrt. 162

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Nicht nur Kenner werden auf der Seite der Spiritualität viele jener Aspekte entdecken, die im Raume des New Age bekannt wurden. Auffällig ist aber vor allem, dass der Code der Spiritualität, wie ihn Barker hier skizziert, so scharf von der Religiosität geschieden wird, dass er geradezu als Kontrast erscheint. Diese Gegenüberstellung zur Religion ist es auch, die mit der Bezeichnung der »alternativen Spiritualität« hervorgehoben werden soll. Es handelt sich um eine Form der Religiosität, die sich von der der Kirche erkennbar unterscheidet.

Von der Alternativen zur Populären Spiritualität Die These der alternativen Spiritualität wird besonders entschieden von Heelas und Woodhead vertreten, die diese These in einer weithin beachteten Studie (2005) untermauern; sie wird auch von einer religionssoziologischen Zeitschrift gestützt, die seit 2005 erscheint (»Journal of Alternative Spiritualities and New Age Studies«). In ihrer Studie werfen Heelas und Woodhead den Blick auf ein lokales Segment der alternativen Spiritualität in der Gegenüberstellung zur Religion. Als Lokalität diente jedoch nicht eine Großstadt, wie in den schon Jahre zuvor durchgeführten Arbeiten von Jorgensen bzw. Greverus und Welz.11 Sie nahmen sich auch nicht einfach ein Zentrum des New Age in Großbritannien zum Gegenstand, wie etwa die FindhornKommune in Schottland, den New-Age-Wallfahrtort Stonehenge oder den New-Age-Pilgerort Glastonbury, in dem jährlich ein höchst populäres Festival stattfindet. Ihre Untersuchung behandelt die typische und durchschnittliche englische Kleinstadt Kendal mir ihren etwa 27000 Einwohnern. Dort betrieben sie Feldforschung in zweierlei Bereichen. Zum einen besuchten sie die Kirchen und Kirchengemeinden, und zum anderen suchten sie nach dem »spirituellen Milieu« und rekonstruierten auch dessen Konstitution. In Kendal traten die ersten lokalen institutionellen Zeichen dieses Milieus in den 1970er Jahren auf. Damals wurde die erste Yoga-Gruppe gegründet, die Transzendentale Meditation bot erste regelmäßige Treffen an und einige Alternativmediziner offerierten ihre Dienstleistungen. Zu Anfang der 1980er Jahre entstand die erste buddhistische Gruppe,

11 So entdecken Greverus und Welz (1990) im Frankfurt der 1980er Jahre eine wenn auch disparate New Age-»Subkultur«. 163

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und es gab Seminare in Astrologie. 1985 weitete sich das Angebot aus, es entstand sogar ein kleines Dienstleistungszentrum mit Workshops für Psychodrama, Tai Chi, Aura-Arbeit u.ä., und im Jahre 1988 eröffnete der erste New-Age-Laden an zentraler Lage. So sehr dies dem Bild des oben schon angeschnittenen »kultischen Milieus« ähnelt, so sehr sollte man die danach eintretenden Entwicklungen beachten: Angebote dieser Art nahmen im Laufe der 1990er Jahre um 300% zu – bei einem Bevölkerungswachstum von 11,4%. Um 2000 stießen Heelas und Woodhead dann auf etwa 100 aktive Anbieter von etwa 130 regelmäßigen spirituellen Angeboten (wie Yoga, verschiedene Massagepraktiken, Aromatherapie, Homöopathie, Tai Chi, Osteopathie, Reiki usw.) die von etwa 600 Menschen nachgefragt wurden. Heelas und Woodhead bezeichnen dieses Angebot schon deswegen als spirituell, weil die Bezeichnung »New Age« weder als Fremdbezeichnung noch als Selbstbeschreibung der Akteure angemessen ist. Vielmehr teilen sie gewisse allgemeine spirituelle Ansichten: Dass »eine Form des Geistes oder der Lebenskraft das gesamte Leben erfüllt«, findet eine Zustimmung von fast 83%, und 73% glauben an eine »feine Energie oder Energiekanäle« im Körper (vgl. Heelas/Woodhead 2005: 24f.). Die Zahlen beziehen sich auf das »spirituelle« oder »holistische Milieu«, das nach Heelas und Woodhead etwa 1,6% der Einwohner umfasst. Dabei sollte man beachten, dass 80% der Aktivisten in diesem Milieu weiblich sind; 78% der Gruppen werden von Frauen geführt oder organisiert, und 80% der Dienstleisterinnen sind Frauen. Der große Anteil der Frauen an diesem Milieu ist übrigens kein Zufall: Woodhead (2007) sieht darin vielmehr eines seiner wesentliche Merkmal. Die Eingrenzung des alternativ-spirituellen Milieus erscheint Heelas und Woodhead vor allem deswegen möglich, weil sie sie scharf vom kirchlichen Milieu unterscheiden. Das Milieu der regelmäßigen Kirchgänger und aktiven Gemeindemitglieder, die sich auf die 25 Kirchen der Stadt verteilen, macht 7,9% der Stadtbevölkerung aus. Man beachte dabei, dass sich das kirchliche Milieu in einer ähnlichen Größenordnung bewegt wie das spirituelle (das etwa 1,6% ausmacht), auch wenn es – bei stark schrumpfender Tendenz – etwa vier Mal so viele Personen umfasst. Da es in ihren Augen kaum personale Überschneidungen zwischen diesen Milieus gibt, schließen Heelas und Woodhead, dass man ein kirchenorientiertes von einem alternativ spirituellen Milieu unterscheiden müsse. Sie folgen damit einer These Campiches (2004: 276), der von einer »Dualisierung der Religion« spricht, die in die institutionelle Religiosität einerseits und in eine alternative »universale« Religion bzw. »Spiritualität« andererseits zerfällt.

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Die Beobachtung eines kultischen Milieus dieser Größenordnung wurde auch in anderen nationalen Gesellschaften gemacht. In der Schweiz der 1980er Jahre fand Mayer (1993) bei seiner Untersuchung der New-Age-Bewegung einige tausend New-Age-Aktivisten. In einer amerikanischen Umfrage aus dem Raum der kalifornischen Bay Area wird die Zahl der New-Age-Anhänger zu Anfang der 1980er auf etwa 4% der Bevölkerung geschätzt, eine Zahl, die gegen Ende der 80er Jahre auch für den deutschsprachigen Raum zutreffen könnte (vgl. Jorgensen 1982). Eine entsprechende Größenordnung findet auch Hero (2008) in Nordrhein-Westfalen, der dort etwa 1.000 esoterisch orientierte Zentren, Institute und Heilpraxen identifiziert, die jährlich von etwa 90.000 Menschen nachgefragt werden. Aber lässt sich die aus dem New Age hervorgegangene Spiritualität wirklich auf ein eingegrenztes, separates, alternatives Milieu begrenzen, das seine eigenen Institutionen hat? Diese Frage kann schon mit Blick auf Heelas und Woodheads Untersuchungsgegenstand verneint werden. Denn während Heelas und Woodhead lediglich 1,6% als lokale Anhänger der spirituellen Weltanschauung identifizieren, geben zur selben Zeit fast 40% in einer repräsentativen Umfrage in Großbritannien – also dem Land, in dem Heelas und Woodhead ihre lokale Studie vornehmen – an, dass sie die alternative Medizin ausprobiert hätten; 32% hatten eine Aromatherapie gemacht und 22% meditierten (vgl. Partridge 2004: 52). Für eine solche Ausweitung haben wir auch im deutschsprachigen Raum deutliche Hinweise. Was das New-Age-Milieu angeht, konnten in der Schweiz schon Anfang der 1990er Jahre 12% der Befragten einer landesweiten Umfrage als »Neureligiöse« bestimmt werden, die sich, ohne unbedingt Aktivisten zu sein, mit den Inhalten der esoterischen Weltsicht identifizieren (vgl. Krüggeler 1993). Für Österreich bemerkt Mörth schon im Jahre 1989, dass hier »auch ohne Wissen um New-AgeKonzepte und aktives New-Age-Engagement Grundzüge des im New Age verdichteten Weltbildes im Bewusstsein der Menschen verankert sind« (Mörth 1989: 306f). In Deutschland gibt es ebenfalls schon um diese Zeit Hinweise auf eine solche Diffusion. So erweist sich zu dieser Zeit die Bedeutung des für die New-Age-Bewegung zentralen Yin/ Yang-Symbols bei den damals Jugendlichen schon wichtiger als die des christlichen Kreuzes. Fast die Hälfte (46,9%) der Jugendlichen hatte damals passiv oder aktiv an okkulten Praktiken teilgenommen (vgl. Barz 1992). Es kommt, wie Otten (1995: 92) bemerkt, zu einer grundlegenden Transformation des »esoterischen« Wissens: »Das zuvor vielleicht nur in geheimen Logen unter dem Siegel der Verschwiegenheit mündlich weitergereichte, nicht selten auch noch hochgradig verschlüsselte Wissen erreicht den ›Suchenden‹ heute in nach dem Vereinsrecht struktu165

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rierten Gruppierungen oder – gegen Teilnahmegebühr – frei zugänglichen Workshops, wenn er dieses Wissen nicht ohnehin schon in leichtverständlich dargereichter Form aus den in traumhaft hohen Auflagenzahlen unter den Sparten ›Lebenshilfe/New Age/Esoterik‹ gefüllten Regalen der Buchhandlungen gezogen hat«. Das Wort »populär«, das Otten hier aufnimmt, trifft diese Art der Verteilung sehr genau: Denn offenbar ist das New Age bei seiner Ausbreitung nicht auf Mitgliedschaft angelegt, ja nicht einmal auf aktive Partizipation. Vielmehr finden sich Wissenselemente, Erfahrungen und Praktiken, die einst unter dem Titel New Age firmierten, nun bei Menschen, die sie keineswegs mit einer eindeutigen Zugehörigkeit verbinden. Mit anderen Worten: Die einst unter dem Titel des New Age eingeführte Form der Spiritualität ist nicht einfach mehr ein kleines abgegrenztes Milieu einer, wie Heelas und Woodhead sagen, »alternativen Spiritualität«. Vielmehr breiten sich die genannten Vorstellungen und Praktiken in der Gesellschaft so aus, dass ihre Herkunft aus den ohnehin nur schwach bestimmten Bewegungen schon in den 1990er Jahren nicht mehr erkennbar ist. Es geht nicht um die »New-Age-Bewegung«, weil hier nicht mehr ein wie immer geartetes kultisches Milieu im Vordergrund steht. Zwar sind am Rande zweifellos noch Bewegungsstrukturen zu beobachten, doch haben sich die Inhalte des New Age schon lange in das Bewusstsein der Gesamtgesellschaft hinein diffundiert. Dass diese Diffusion im Zusammenhang mit der These der alternativen Spiritualität nicht gesehen wird, hängt offenbar damit zusammen, dass sie sich nach wie vor an einem klassischen institutionellen Modell orientieren, das bestimmte Typen der lokalen Organisation (von Publikumskulten bis hin zu Kirchen) vorsieht. Trotz der Betonung der »Marktorientierung« kommt die Möglichkeit der Verbreitung über nichtreligiöse Institutionen und Kommunikationsträger nicht einmal theoretisch in den Blick. Genau dies aber möchte ich hier mit dem Begriff des Populären fassen. Der Begriff der populären Spiritualität weist darauf hin, dass die Praktiken, die einst unter dem New Age zusammengefasst wurden und sich ausgeweitet haben, und die Inhalte (die sich selbst schon zur oben skizzierten spirituellen Semantik ausgeweitet haben) nicht mehr auf ein ausgegrenztes Milieu beschränkt sind, sondern populär geworden sind.

Popularität und Spiritualität Was verstehen wir nun hier unter dem Begriff der Popularität? Im Unterschied zum »Popularen« (Ebertz/Schultheis 1986) bezeichnet Popu166

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larität (1) die massenhafte Verbreitung in der Gesellschaft, die nicht wesentlich an bestimmte soziale Milieus gebunden ist; Popularität bezieht sich (2) darauf, dass die technischen Medien der Kommunikation bei dieser Verbreitung eine bedeutende Rolle spielen (auch wenn sie sich keineswegs auf mediale Verbreitung beschränkt); (3) die Verbreitung des Populären geschieht vielfach über einen Markt, in dem ökonomische Tauschprozesse stattfinden. Auf diesem Markt treten zwar auch herkömmliche religiöse Einrichtungen auf, doch gibt es hier auch andere institutionelle Anbieter und vor allem auch individuelle Akteure, die nicht nur als Nachfrager, sondern auch als Anbieter auftreten; (4) die Ausbreitung des Spirituellen hat weiterhin zur Folge, dass die Grenzen zwischen dem als religiös markierten »Spirituellen« und dem NichtReligiösen zunehmend durchlässig werden; es kommt also zu einer Entgrenzung des Religiösen.12 Diese Entgrenzung zeigt sich (4a) schon institutionell daran, dass »spirituelle Anbieter« auch medizinisch und psychologisch-therapeutische Dienste leisten; sie zeigt sich zudem (4b) an der Übernahme populärer kommunikativer Formen und Inhalte durch religiöse Organisationen; als dynamisch und wachsend erweisen sich insbesondere jene religiösen Gruppierungen, die sich populärer Formen der Kommunikation (im Sinne der Pop-Kultur) bedienen (vgl. Walthert in diesem Band); schließlich (4c) nimmt auch die Populärkultur Themen der religiösen Kommunikation auf, die sie eigenständig behandelt, ohne sie als »religiös« markieren zu müssen. Zu den soziologischen Merkmalen der Spiritualität gehört eine gewisse Distanz zur vorherrschenden Form der Religion. Diese Distanz kommt inhaltlich durch die Aufnahme alternativer oder marginalisierter Glaubensinhalte und Praktiken zum Ausdruck, institutionell durch die Abwendung von den bekannten religiösen Organisationsformen.13 Ein zentrales Merkmal der Spiritualität scheint mir die Betonung der eigenen Erfahrung großer Transzendenzen – ein Aspekt, auf den ja auch bei den Merkmalen des New Age hingewiesen wurde. Im Unterschied zum Begriff der Individualisierung macht der der Subjektivierung ja nur wirklich Sinn, wenn die subjektive Erfahrungsdimension angesprochen wird. Genau diese spielt bei religiösen Erfahrungen und Transzendenzerfahrungen im Allgemeinen eine entscheidende Rolle.

12 Dass insbesondere religiöse Organisationen mit hohem religiösem Kapital darauf mit einer Abgrenzungsarbeit reagieren, die zuweilen fundamentalistische Züge annimmt, liegt in der Logik dieses Arguments (vgl. Walthert in diesem Band). 13 Auf den Aspekt der Ganzheitlichkeit werde ich weiter unten eingehen. Für eine ausführlichere Definition siehe Knoblauch (2009), Kap. IV. 167

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So schwer diese Erfahrungen zugänglich sind, so gibt es doch mittlerweile einige Hinweise auf die Verbreitung solcher Erfahrungen, die als Ausdruck der Popularität im Sinne des Merkmales (1) angesehen werden können. Eine besonders breite Untersuchung dazu wurde im Jahre 2008 bei 21.000 Menschen in 19 Ländern durchgeführt. In dieser Befragung wurden sowohl als »kirchlich« geltende »theistische Erfahrungen« mit einem personalen Gott, aber auch als »nicht-kirchlich« geltende »pantheistische« nichtpersonale Transzendenzerfahrungen erfragt. Ohne diese Untersuchung hier lange auszubreiten (vgl. Knoblauch 2009a), seien die für den vorliegenden Argumentationszusammenhang wichtigsten Ergebnisse genannt: Im Durchschnitt geben etwa 75% der Befragten an, mindestens eine theistische Erfahrung gemacht zu haben, die als Gotteserfahrung zumeist in einem religiösen Deutungsrahmen gesehen wird. Beachtenswert ist aber, dass in allen der aufgeführten Gesellschaften ein Großteil, in vielen sogar eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung pantheistische Erfahrungen macht. In Deutschland geben 77,1% der Befragten an, mindestens einmal eine pantheistische Erfahrung gemacht zu haben! Besonders beachtlich ist, dass über 50% derjenigen, die sich nicht als religiös ansehen, zu denen gehören, die eine solche Erfahrung gemacht haben.14 Diese Zahlen machen nicht nur die enorme Verbreitung solcher Erfahrungen anschaulich; sie deuten auch an, dass die herkömmliche Differenz zwischen der (kirchlichen) »Religiosität« und »Nichtreligiosität« von der Popularität dieser Phänomene unterlaufen wird. Diese Entgrenzung des Religiösen hin zum Spirituellen findet sich aber nicht nur bei den subjektiven Erfahrungen. Sie ist ein Kulturphänomen, das, wie gesagt, mit der medialen Verbreitung und mit marktförmigen Organisationen zu tun hat. Deutlich wird dies zweifellos an Kulturphänomenen wie etwa dem Engelskult. Zwar sind Engel ebenso Objekte massenhaft verbreiteter subjektiver Transzendenzerfahrungen,15 doch finden diese ihren sichtbaren Ausdruck: Engel treten massenmedial in den verschiedensten Weisen in Erscheinung, u.a. in Büchern, CDs, in Spielfilmen und im Internet. Sie bilden den Gegenstand einer ausgebauten Seminarkultur, in der es um »Selbstheilung durch die Energie der Erzengel« oder »mit der Hilfe von Engeln den Alltag meistern« geht. Daneben hat sich eine ma14 Auch die Meditation spielt eine große Rolle; in Deutschland betreiben über 24% Meditation, in der Schweiz sogar über 44%, in Italien und Spanien knapp 80 bzw. 70%. (Wobei die Differenzen durch die Angaben zu pantheistischen Erfahrungen etwas aufgewogen werden.) 15 Im Jahre 2005 teilten 66% aller Deutschen den Glauben an Schutzengel – eine Zahl, die sogar über der des Glaubens an Gott liegt. In den USA sind es sogar 75%, die an Engel glauben (vgl. Murken 2007). 168

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terielle Kultur etabliert, die den Engeln gewidmet ist: Wahrnehmbar werden die Engel in Gestalt von Duftlampen, Kartensets, Kalendern, Bildern, kleinen Statuen und einem mehr oder weniger »fantastischen« »Erzengelschmuck«. Engel-Edelsteinanhänger verzaubern durch ihre Energie, Reiseengel schützen auf Reisen und Engelessenzen sollen bei psychischen und physischen Problemen helfen. Für die gesellschaftliche Anerkennung der Spiritualität spielt auch die Praxis eine Rolle, insbesondere die alternative Medizin. Ob es sich um die chinesische Medizin, Akupunktur, Hildegard- und Bachblütenmedizin, Yoga oder Kräutermedizin handelt – all diese in esoterischem Denken verankerten Praktiken sind mittlerweile ein allseits bekannter Bestandteil der modernen Gesellschaften geworden, der fast ins medizinische System integriert ist. Immerhin nennen sich von den 120.000 Ärzten in Deutschland etwa 4.500 homöopathisch, und die größte Akupunktur-Organisation umfasst 11.000 Ärzte. Die Einfallstore des Spirituellen aber finden sich deutlicher im Bereich der alternativen Medizin: Yoga, Feng-Shui-Beratungen oder Ayurveda sind nur Beispiele für die leicht zugänglichen Andockstellen der breiten Bevölkerung. Die Entwicklung von Ayurveda mag als ein Beispiel dafür dienen. Anfänglich bestehen enge Beziehungen zur religiösen Bewegung der »Transzendentalen Meditation«, die ja zum Dunstkreis des New Age zählt. Die Popularisierung dieser zunächst randständigen religiösen Praxis geschieht durch einige Schriften wie auch durch Institutionsgründungen. Zusätzlich erleichtert wird sie durch die liberalere Gesetzgebung, die seit 1976 schon die Einrichtung alternativer Therapieeinrichtungen im Bereich der Homöopathie, Naturheilkunde und anthroposophischen Medizin ermöglichte. Wurde diese Phase noch eng im Zusammenhang mit dem New Age wahrgenommen, so diversifiziert sich das Angebot in einer dritten Phase, die man tatsächlich als Popularisierung bezeichnen kann: Die Angebote reichen nun von Duft über Ernährung bis zu Massagen und von Heilungen, Ayurveden-Kamasutra, ReiseVeranstaltungen bis hin zur Wellness. Die Produkte umfassen Kosmetika, Reisen, praktische Übungen, Klinik- und Kuraufenthalte sowie Bücher (vgl. Frank 2004: 23). Ein weiteres Beispiel für die etwas anders laufende Popularisierung der Spiritualität ist zweifellos das Yoga, das einen besonderen Weg in den Westen gefunden hat. Schon in der Mitte des 20. Jahrhundert war es von einigen prominenten westlichen Intellektuellen praktiziert worden, wie Aldous Huxley, Christopher Isherwood und Charlie Chaplin. Sie hatten von einem indischen Guru schon das Jnana-Yoga erlernt, doch war Yoga im Westen ansonsten bis in die 1940er Jahre kaum bekannt. Im Jahre 1947 öffnete Indra Devi ein Yoga-Studio – bezeichnenderwei169

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se in Hollywood. Im Laufe der 1950er und 1960er Jahre wurde Yoga von dort aus in populären Büchern und Fernsehsendungen verbreitet und ist mittlerweile selbst aus dem Standardangebot von Fitness-Studios nicht mehr wegzudenken. Diese populäre Form des Yoga ist zumeist sehr instrumentell und benötigt wenig religiöse Bedeutung. Wie Campbell betont, tritt es auch als »spirituelle Disziplin« auf, die ein Verständnis des inneren Selbst ermöglicht. »Während die Werte der körperlichen Fitness, der Gesundheit und der Jugend durch Yoga erreichbar scheinen, wird die spirituelle Dimension keineswegs mehr als irrelevant angesehen, sondern als eine Voraussetzung, um diese Ziele zu erreichen.« (Campbell 2007: 35).

Die Ausbreitung von Ayurveda und Yoga folgt demselben Muster der Ausbreitung des New Age, das sich heute in den Spuren der populären Kultur bewegt: Ausgehend von einer sozial wenig sichtbaren kleinen Bewegung, vollzieht sich eine Ausweitung in die neuen Mittelschichten, die sich der Ausweitung des Bildungssystems verdanken. Damit erscheinen ihre Praktiken und Wissensformen zunächst als »alternative« Form der Religiosität (häufig unter dem Oberbegriff des New Age); mit der daran anschließenden allmählichen Etablierung dieser Generation vollzieht sich eine Ausweitung und Ausbreitung der entsprechenden Inhalte, Wissensformen und Praktiken, die bald schon nicht mehr als »alternativ« erscheinen, auch wenn ihre Differenz zur traditionellen Kirchlichkeit unübersehbar ist. Das findet seinen Niederschlag im AkteurBegriff der Spiritualität. Es geht hier nicht mehr um eine Form der religiösen Organisation, noch bleiben Ayurveda, Yoga oder andere Wissensformen und Praktiken auf deutlich ausgegrenzte Milieus beschränkt. Medien, marktförmige Organisationen und das breite Publikum bilden den Hintergrund der Form, die eine direkte Einbindung des erfahrenden und handelnden Subjekts erlaubt. Der »alternative« Hintergrund geht in der populären Kultur auf, die selbst nun die Spiritualität populär macht. Diese Popularität, so muss ich hier betonen, beschränkt sich keineswegs auf die Inhalte, die aus dem »New Age« hervorgingen. Die Merkmale der Spiritualität finden sich auch bei jenen christlichen und islamischen Bewegungen, die sich in den letzten Jahren dynamisch ausgebreitet haben. Man darf sogar vermuten, dass es zwischen diesen beiden inhaltlich so konträren Richtungen wechselseitige Anregungen gab. Das aber geht schon über die gestellte Fragestellung hinaus. Hier sollte lediglich gezeigt werden, wie das New Age zum Teil einer populären Spiritualität

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geworden ist, die Ausdruck der Transformation der Religion in der Gegenwart ist.16

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VOM NEW AGE ZUR POPULÄREN SPIRITUALITÄT

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Flüchtige Gemeinschaften: Eine kleine Theorie situativer Event-Vergemeinschaftung WINFRIED GEBHARDT

Flüchtige, das Erlebnis des ›ganz Anderen‹ versprechende Veranstaltungsformen mit hohen Teilnehmerzahlen, gemeinhin und undifferenziert als ›Events‹ bezeichnet, nehmen sowohl an Zahl als auch an Bedeutung zu und zwar in allen Bereichen des kulturellen Lebens, zu dem – jedenfalls aus einer kultur- und wissenssoziologischen Perspektive betrachtet – auch die ›Religion‹ zu zählen ist. Sie sind der soziale Ausdruck einer Entwicklung, die man – je nach theoretischem und disziplinärem Standort – entweder als Hybridisierung und Verflüssigung kultureller Rahmungen oder als Individualisierung und De-Institutionalisierung bezeichnen kann. Zwar sind die meisten dieser flüchtigen Veranstaltungsformen – ganz im Sinne der soziologischen Event-Theorie (vgl. Gebhardt 2000; Knoblauch 2000; Enser 2001) – eindeutig thematisch fokussiert, doch liegt die Attraktivität, die sie für eine wachsende Anzahl von Menschen besitzen, nicht ausschließlich in dem, was dort geboten oder unter Umständen auch angeboten wird. Es ist auch, vielleicht sogar vor allem, der ›soziale Mehrwert‹ eines oftmals als ›großartig‹ wenn nicht sogar als ›einzigartig‹ beschriebenen ›Gemeinschaftserlebnisses‹, das sie ihren Teilnehmern ermöglichen. Dem nachspüren, was dieses ›großartige Gemeinschaftserlebnis‹ eigentlich ist, wie und unter welchen Voraussetzungen es zustande kommt, und warum es scheinbar unter spätmodernen gesellschaftlichen Bedingungen nur noch in flüchtigen Eventformen erlebbar ist, soll Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen sein. 175

WINFRIED GEBHARDT

1. Annäherungen an das Thema – Vier Beispiele Flash-mobs In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden, dann für eine gewisse Zeit in der Versenkung verschwunden, erleben sie heute wieder eine weltweit verbreitete Renaissance. Flash-mobs sind scheinbar spontan und überraschend gebildete, auf wenige Minuten beschränkte Menschenansammlungen an öffentlich zugänglichen Orten. Die daran beteiligten Personen führen dabei identische, manchmal choreographisch vorbereitete Handlungen vor, die das alltägliche, für diese Orte typische Handlungsgeschehen konterkarieren, vom Anspruch her sogar oftmals ›transzendieren‹ und so bei den nicht eingeweihten Passanten für Verblüffung, Verwirrung und Verunsicherung sorgen. Sie werfen sich beispielsweise für einen kurzen Moment in Gebetshaltung vor dem Denkmal eines Reformators zu Boden (Dresden), veranstalten eine Kissenschlacht auf der Kirchenvorplätzen (Köln), tanzen zum Gedenken an Michael Jackson nach dessen Hit Beat it (Stockholm, Montréal, Hongkong) stellen sich vor einem Werbefahrzeug der Bundeswehr tot (Karlsruhe), frieren in Bahnhöfen (New York, Madrid, Beirut) kurzfristig ihre Bewegungen ein (freeze-mobs) oder stürmen Filialen von McDonalds (München, Berlin), um gemeinsame, riesige Bestellungen von Burgern abzugeben. Nach dem Vollzug dieser Handlungen lösen sie sich schlagartig wieder auf und ›leben‹ fortan nur noch im Internet (auf youtube und den entsprechenden Weblogs) zur Freude ihrer Teilnehmer und vieler ›Fans‹ weiter. Organisiert werden sie in aller Regel von Einzelpersonen mit Hilfe von E-Mail-Kettenbriefen, Weblogs, Online-Communities oder SMS-Nachrichten. Gleich ob es sich dabei um vororganisierte künstlerische Performances handelt, um Demonstrationen mit durchaus politischem Charakter oder nur um reine Spaß-Aktionen, allen Flashmobs ist gemein, dass die beteiligten Personen sich – jedenfalls in der Regel – persönlich nicht oder nicht gut kennen, dass der Reiz des Geschehens vielmehr gerade darin besteht, für einen kleinen Moment Teil einer ›namenlosen‹ Gemeinschaft zu sein, die irgendwie ›anders‹ ist, die sich den Zwängen der durchrationalisierten Spätmoderne entzieht und die Normen des Alltags sprengt, indem sie – auf den ersten Blick – ›sinnlose‹ Dinge tut (vgl. Rheingold 2003). Spencer Tunicks Körperinstallationen Regelmäßig seit 1999 versammeln sich an unterschiedlichen Orten der Welt Hunderte, Tausende, manchmal sogar Zehntausende von Menschen, um sich – gemeinsam mit anderen, also als Masse – von dem amerikanischen Photographen Spencer Tunick nackt ablichten zu lassen. 176

FLÜCHTIGE GEMEINSCHAFTEN

Am 6. Mai 2007 waren es circa 18.000 begeisterte Nackte, die sich auf dem Zócalo, dem zentralen Platz von Mexiko-City zu einer »Körperinstallation« zusammenfügten. Am 3. Juni 2007 in Amsterdam kamen etwa 2000 Teilnehmer zusammen, um sich unter anderem in einem mehrstöckigen Parkhaus ohne Kleider zu präsentieren und am 18. und 19. August 2007 ließen in Zusammenarbeit mit Greenpeace 600 ökologisch Bewegte auf dem Aletschgletscher in der Schweiz die Hüllen fallen. Tunicks Photo-Shootings, über die die Medien regelmäßig und breit berichten, werden inzwischen getragen von einer begeisterten Anhängerschaft, die zu den unterschiedlichen Aktionen teilweise aus der ganzen Welt anreisen. Es sind Menschen aller Alterstufen und aller sozialen Schichten, Eltern mit ihren Kindern, Jugendliche, aber auch ältere Menschen, Lehrer, Rechtsanwälte, Stahlkocher, Polizisten, Musiker, Gärtner und Pfarrer, die sich für Tunick ausziehen, um »Teil eines großartigen Kunsterlebnisses« zu sein. Die meisten der Teilnehmer kennen sich nicht, sie melden sich über das Internet für die Shootings an, reisen selbstständig und auf eigene Kosten dazu an, bilden für den Moment eine große »nackte Gemeinschaft«, kehren danach in ihren Alltag zurück, schwärmen in Chat-Rooms über das »phantastische Erlebnis«, bekennen, wie »glücklich« sie sind, dabei gewesen zu sein, und freuen sich auf das nächste Shooting (vgl. www.spencertunick.com).

Die Weltjugendtage der Katholischen Kirche Seit mehr als 20 Jahren treffen sich im Abstand von 2 oder 3 Jahren junge Katholiken an unterschiedlichen Orten der Welt, um gemeinsam mit ihrem Oberhaupt, dem Papst, ein »Fest des Glaubens« zu feiern. Die letzte dieser katholischen »Megaparties« (vgl. Forschungskonsortium WJT 2007) fand 2005 in Köln statt mit circa 400.000 festangemeldeten Besuchern und etwa 1 Million Teilnehmern an der Abschlußmesse mit dem Papst als »Superstar«. In Sydney, wo 2008 der nächste Weltjugendtag inszeniert werden wird, rechnen die Organisatoren wenigstens mit der gleichen Besucherzahl, wenn nicht mit mehr. Das Programm besteht in der Regel aus einer von den Teilnehmern als gelungen eingeschätzten Kombination von traditionellen liturgischen Elementen der Katholischen Kirche und populärkulturellen Bestandteilen. Die Teilnehmer kommen aus allen Erdteilen, sie reisen sowohl einzeln als auch in fest organisierten, sowohl von der sozialen Zusammensetzung als auch von den in ihnen dominierenden Glaubensvorstellungen heterogenen Gruppen an. Die Stimmung ist ausgelassen, enthusiastisch und steigert sich – insbesondere bei Auftritten des Papstes – ins Ekstatische. Obwohl die Gruppen in der Regel für sich bleiben, Kontakte zu anderen Teilnehmern zwar vorhanden sind, meistens aber nur auf einer symbolischen Ebene stattfin177

WINFRIED GEBHARDT

den, gilt den jugendlichen Besuchern der Weltjugendtag als ein »ergreifendes« Gemeinschaftserlebnis, worin sie die Erfahrung als bekennende Katholiken nicht marginalisiert zu werden und im Glauben nicht allein zu stehen – anders als in ihrem Alltag – begeistert zelebrieren. Aber auch hier gilt: Trotz aller institutionellen Bemühungen, die an den Weltjugendtagen entstandenen Kontakte zu verstetigen, sobald die »Megaparty« beendet ist, bleibt jeder oder jede Gruppe wieder für sich allein, schwelgt man nostalgisch noch in photographisch festgehaltenen Erinnerungen an das »geile Gemeinschaftserlebnis« und freut sich auf den nächsten Weltjugendtag (vgl. Forschungskonsortium WJT 2007).

Public Viewing Spätestens seit der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006 gewinnt ein Phänomen an Bedeutung, das es in dieser Art und diesem Umfang bisher noch nicht gegeben hat: das Public Viewing. Zwar war es früher schon üblich, bestimmte Sportereignisse vor dem Fernsehapparat gemeinsam anzuschauen, mit Freunden zu Hause oder mit Bekannten und ›Sportkameraden‹ in Kneipen und Vereinslokalen, dass sich aber Zehntausende einander Fremde unter freiem Himmel vor Großbildleinwänden versammeln, um gemeinsam einen sportlichen Wettkampf mitfiebernd oder mitleidend zu verfolgen, ist – jedenfalls in Deutschland – ein ziemlich neuer ›sozialer Tatbestand‹. Bereits lange vor dem Beginn des sportlichen Ereignisses versammeln sich Menschen aller Altersstufen, jeden Geschlechts und aus allen sozialen Schichten, fast durchgehend uniform ausgestattet mit den Symbolen der zu verehrenden Mannschaft. Die Vorfreude wird angeheizt durch zumeist kommunal organisierte, musikalische Vorprogramme und intensiviert sich in gemeinsam gesungenen Liedern und im Skandieren von Parolen. Sobald die Fernsehübertragung beginnt, stehen die Menschen dicht gedrängt voller Spannung, die sich in ekstatischen Lauten, Gebärden und Bewegungen entlädt, sobald die ›eigene Mannschaft‹ ein Tor schießt oder (wie bei der Handballweltmeisterschaft 2007) wirft. Fahnen, Schals und Trikots werden geschwungen. Wildfremde Menschen fallen sich um den Hals, drücken, herzen und küssen sich. Sie weinen gemeinsam vor Freude (oder auch aus Enttäuschung). Und ist das Spiel vorbei, geht die Party weiter. Autokorsos werden gebildet, Polonaisen formiert, Grüppchen hüpfen im immer gleichen Takt und mit den immer gleichen Schlachtrufen im Kreis. Die ›Gemeinschaft der Sieger‹ feiert enthusiastisch sich selbst, und zwar auch dann noch, wenn sie die ›Gemeinschaft der Verlierer‹ ist. Und auch hier zeigt sich wieder: Lassen die Kräfte nach und dämmert der Morgen, geht jeder wieder seine eigenen Wege. Menschen, die sich noch vor Stunden – auch physisch – sehr nahe waren, begegnen 178

FLÜCHTIGE GEMEINSCHAFTEN

sich nun wieder distanziert als Fremde. Zurück bleibt die Erinnerung an ein großartiges Gemeinschaftserlebnis, von dem man noch den Enkelkindern erzählen kann (vgl. Junge 2008). Das sind nur vier Beispiele – man könnte noch viele andere nennen – für typisch spätmoderne Veranstaltungsformen, die hier als situative EventVergemeinschaftungen bezeichnet werden sollen. Wie alle Events sind sie thematisch fokussiert, werden zentral – von einem zumeist professionellen (kommerziellen oder weltanschaulich-gebundenen) Veranstalter geplant und durchgeführt, setzen unterschiedlichste ästhetische Gestaltungsmittel ein, die dazu dienen sollen, ein situatives ›Gesamtkunstwerk‹ in Szene zu setzen, das dann als unvergessliches, ›totales‹, manchmal sogar als ›mystisches‹ Erlebnis in Erinnerung bleiben soll. Anders aber als viele andere Events, wie zum Beispiel die Love-Parade, die Street-Parade, das Wave-Gothic-Treffen, das Freakstock-Festival der Jesus-Freaks oder auch Snow-Board- oder Mountain-Bike-Contests, entwachsen sie nicht bereits existierenden (posttraditionalen) Vergemeinschaftungsformen, wie es beispielsweise Jugendszenen sind, sondern sind – von ihrem Anspruch her – offen für alle. Es bedarf keiner Zugehörigkeitsbekenntnisse, keiner Erfahrungen und Vorkenntnisse, keiner Beziehungen und (Freundschafts-) Kontakte, um dabei sein zu können. Was allein zählt, ist der Wille, dazugehören zu wollen, einzutauchen in ein enthusiastisches Massenerlebnis, in dem für einen kurzen Moment die ›eigene Persönlichkeit‹ sich auflöst in einem Meer von ekstatischen, ›gesichtlosen‹ Körpern. Anders also als bei herkömmlichen Festen und den für die Spätmoderne typischen Szene-Events, die beide einer bereits existierenden Vergemeinschaftungsform dazu dienen, ihr Wir-Gefühl zu aktualisieren und für den Alltag zu stabilisieren, scheint es bei jenen Veranstaltungsformen, die hier als situative EventGemeinschaften bezeichnet werden, das ›außerordentliche‹, in (Massen-) Gemeinschaft begangene und nur durch die (Massen-) Gemeinschaft entstehende ›Gefühlserlebnis‹ als solches zu sein, das gesucht wird und die Veranstaltung trägt.

2. Situative Event-Vergemeinschaftung – Der Versuch einer Begriffsbestimmung Was also sind situative Event-Vergemeinschaftungen? Was unterscheidet sie von herkömmlichen Festen und etablierten Szene-Events? Ein jeder Versuch zu verstehen, was damit gemeint sein könnte, hat auszugehen von Max Webers Begriff der Vergemeinschaftung, den dieser (in 179

WINFRIED GEBHARDT

Anlehnung an und in Abgrenzung zu Ferdinand Tönnies‹ Begriff der Gemeinschaft) in seinen Soziologischen Grundbegriffen entwarf: Vergemeinschaftung soll für Weber eine »auf längere Dauer eingestellte« (Weber 1976: 22) »soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns – im Einzelfall oder im Durchschnitt oder im reinen Typus – auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht« (Weber 1976: 21).

Vergemeinschaftung steht also für einen Typus dauerhafter sozialer Beziehungen, die anders als Vergesellschaftung, in ihrer sozialen Reichweite umfassend und nicht partikular und von der ihr zugrunde liegenden Motivation her emotional und nicht rational bestimmt sind. Beispiele, die Weber hier nennt, sind eine »pneumatische Brüdergemeinde, eine erotische Beziehung, ein Pietätsverhältnis, eine ›nationale‹ Gemeinschaft, eine kameradschaftlich zusammenhaltende Truppe« (Weber 1976: 22). Oder um mit Ferdinand Tönnies zu sprechen: Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft und Freundschaft (vgl. Tönnies 1979). Typisch für Vergemeinschaftungsformen (im übrigen auch für Vergesellschaftungsformen) ist nun, dass sie sich nicht aus sich selbst legitimieren, sondern dass es scheinbar in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen spezifisch außeralltägliche, kollektive Handlungsabläufe geben muss, in denen diese mit ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹ aufgeladen beziehungsweise dieser ›Sinn‹ und diese ›Bedeutung‹ reaktualisiert und neu bestätigt werden. Einer dieser Handlungsabläufe, zu denen unter anderem auch das standardisierte Ritual gehört, wird als ›Fest‹ bezeichnet. Das Fest lässt sich als eine spezifische, weil situative, d.h. spezifisch außeralltägliche Vergemeinschaftungsform verstehen, in der sich auf Dauer angelegte Vergemeinschaftungsformen auf Zeit transformieren, d.h. eine »andere Gestalt« annehmen, indem sie ihre alltägliche Verfasstheit außer Kraft setzen. Es dient nicht nur dazu, den einzelnen Beteiligten das Erlebnis des ›ganz Anderen‹ zu ermöglichen, sondern stärkt – weil das Erlebnis des ›ganz Anderen‹ im Kollektiv vollzogen wird, das emotionale Zusammengehörigkeitsgefühl der gesamten Gruppe, das im Alltag weiterwirkt (vgl. dazu Gebhardt 1987). Insofern sind dauerhafte und situative Vergemeinschaftungsformen funktional miteinander verknüpft. Dies gilt auch für die von Ronald Hitzler so bezeichneten »posttraditionalen Gemeinschaften« (Hitzler 1998), die sich von den herkömmlichen Vergemeinschaftungsformen zwar durch die geringere Verbindlichkeit ihrer Zugehörigkeitskriterien unterscheiden, nicht aber – und das allein ist hier von Bedeutung – durch ein geringeres Bedürfnis 180

FLÜCHTIGE GEMEINSCHAFTEN

danach, sich von Zeit zu Zeit ihrer selbst zu vergewissern (vgl. Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001). Insofern bedürfen auch »posttraditionale Gemeinschaften« bedeutungsstiftender festlicher Ausnahmesituationen, die man allerdings heute nicht mehr mit der Bezeichnung Fest belegt, sondern in der Regel als Events bezeichnet. Rein funktional betrachtet sind diese posttraditionalen Gemeinschafts-Events aber nur eine spätmoderne Variante des klassischen Festes. Demgegenüber sind jene flüchtigen ›außeralltäglichen‹ Veranstaltungsformen, die hier als situative Event-Vergemeinschaftung bezeichnet werden, nicht, jedenfalls nicht notwendig an dauerhafte Vergemeinschaftungen (gleich ob klassische oder posttraditionale Gemeinschaften) gebunden. Sie stellen einen Vergemeinschaftungstypus eigener Art und eigenen Rechts dar. Es sind Events, die nicht von einer oder mehreren Gemeinschaften gefeiert werden, sondern in denen sich Gemeinschaft auf Zeit bildet, die ohne jede Auswirkung für den nachfolgenden Alltag bleibt. Auch diese Events bieten das Erlebnis des ›ganz Anderen‹ im kollektiven Vollzug, aber dieser kollektive Vollzug stiftet keine Gemeinsamkeit mit anderen und keine Verlässlichkeit auf andere, die über den Augenblick hinaus auch soziale Beziehungen im Alltag trägt – und dies vor allem deshalb, weil das ›Kollektiv‹ eben nur scheinbar ein ›Kollektiv‹ ist. Situative Event-Gemeinschaften lassen sich deshalb definieren als nicht nur nicht auf Dauer gestellte, sondern Dauer geradezu negierende, rein momentane soziale Beziehungen, die – um Max Weber zu paraphrasieren – im Einzelfall oder im Durchschnitt oder im reinen Typus auf subjektiv gefühlter, rein affektueller (und eben nicht mehr traditionaler oder auch posttraditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruhen.

3. Dimensionen des situativen Gemeinschaftserlebnisses Von der Art und Weise, wie Gemeinschaft erlebt, wie das Gemeinschaftserlebnis vollzogen und wie es ›gemacht‹ wird, unterscheiden sich traditionale und posttraditionale Feste oder Events allerdings kaum von jenen flüchtigen Veranstaltungsformen, die hier als situative EventVergemeinschaftungen bezeichnet werden. Sie alle beschreiben ein weitgehend emotionales, also durch Affekte bestimmtes Geschehen, benennen einen sozialen Ort, an dem rein aktuelles, spontanes, emotionales, enthusiastisches Verhalten, das sich im Grenzfall bis hin zur Ekstase steigern kann, nicht nur sozial erlaubt, sondern sogar gewünscht ist. In ihnen gestaltet sich aktuell und spontan ein ursprüngliches und ele181

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mentares Aufwallen des Außeralltäglichen, mit Max Weber gesprochen, könnte man sagen, des ›Charismatischen‹ (Weber 1976: 245), das, ob es nun als momentane Eingebung ans Licht tritt oder mittels spezifischer Techniken herbeigeführt wird, nicht bewusst vollzogen, sondern nur dunkel gefühlt wird, und das zu einem – freilich begrenzten – Ausstieg aus der alltäglichen Wirklichkeit führt (vgl. Gebhardt 1994). Sie alle stehen für ein ungeregeltes, ungeordnetes und unplanbares Geschehen, einen Freiraum, der von vorneherein für unterschiedlichste Inhalte offen ist. Folgerichtig gehören zu ihnen Elemente, die diesen Charakter unterstreichen und verstärken: berauschende Stimulanzien, Tanz, Musik, Licht, Masken, Verkleidungen (die im Extremfall eben auch Entkleidungen sein können) und mehr. Für den Zeitraum ihres Stattfindens ist im Allgemeinen die alltägliche Ordnung außer Kraft gesetzt, Verstöße sind entweder explizit erlaubt oder werden wohlwollend geduldet, manchmal wird sogar eine regelrechte Gegenwelt aufgebaut, in der die im Alltag gültigen sozialen Rollen und Positionen nicht nur außer Kraft gesetzt, sondern sogar in ihr Gegenteil verkehrt werden (vgl. Gebhardt 1987). Indem sie so das Erlebnis des ›ganz Anderen‹ ermöglichen, gestatten sie ihren Teilnehmern, den Belastungen und Zwängen ihres Alltags auf Zeit zu entfliehen. Doch ihre Funktion erschöpft sich nicht darin, dass sie eine kurze Flucht aus dem Alltag erlauben. Arnold Gehlen hat einmal in Bezug auf ekstatische Zustände von einer positiven Funktion der Entdifferenzierung und Entspezialisierung gesprochen (vgl. Gehlen 1977: 241). Ekstatische Zustände sind für ihn auch Selbststeigerungen, die dem Menschen eine neue Offenbarung über sich selbst vermitteln. Diese Einsicht lässt sich auf die hier zur Diskussion stehenden Phänomene übertragen. In ihnen wird die Aufsplitterung der menschlichen Identität in unterschiedliche Rollen und Positionen, die für das alltägliche Leben typisch ist, überwunden. Indem hier die alltägliche Wirklichkeit an Bedeutung verliert, kann sich der einzelne als das erfahren, was er im Alltag nicht zeigen kann: als ein über alle sozialen Rollen und Positionen hinausreichendes und in seinem Enthusiasmus ›authentisches‹ Ganzes. Hier kann der Mensch im gemeinsamen Vollzug mit anderen ein Gefühl der ›Vollwertigkeit seines Seins‹ erleben, das im Alltag den unterschiedlichsten Anfeindungen ausgesetzt ist. Er spürt ein gewisses Allmachtsgefühl, eine innere Dynamik, die ihn die alltäglich geltenden Grenzen überspringen lassen. Doch auch das ist noch nicht alles. Die ›Auflösung der Person‹ im Erlebnis des ›ganz Anderen‹, also in Enthusiasmus und Ekstase, ermöglicht, weil sie immer gemeinsam mit anderen vollzogen wird, gleichzeitig auch immer das Erlebnis von Wärme, Nähe, Intimität, Unmittelbar182

FLÜCHTIGE GEMEINSCHAFTEN

keit und Distanzlosigkeit, von denen schon Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner meinten, sie wären die ›Wesenselemente‹ des Gemeinschaftlichen. Das Gemeinschaftserlebnis ist in außeralltäglichen situativen Vergemeinschaftungsformen deshalb grenzenlos in mehrfacher Hinsicht: Es überschreitet die Grenzen alltäglicher Erfahrung, es überschreitet die Grenzen des eigenen Selbstverständnisses und es überschreitet die Grenzen sozialer Ordnungen und ihre Normen, gleich ob diese ›gemeinschaftlich‹ oder ›gesellschaftlich‹ im Sinne Ferdinand Tönnies‹ verfasst sind. Selbst in ›gemeinschaftlich‹ verfassten Ordnungen finden sich im Alltag durchaus Elemente des ›Gesellschaftlichen‹, also Erfahrungen von Distanz, Kälte und Mittelbarkeit. Das zeitlich begrenzte Erlebnis des ›ganz Anderen‹ aber ist immer unmittelbar, direkt, warm und intim und wird deshalb als ›befreiend‹ und ›authentisch‹ erlebt. Helmuth Plessner hat in seiner Schrift Grenzen der Gemeinschaft (Plessner 2001) betont, dass die affektuelle Aufladung des Gemeinschaftlichen auf der »unmittelbaren Lebendigkeit letzter Entschleierung« beruht: »Nicht die Teilnahme an einem den anderen Menschen vorenthaltenen Geheimnis, sondern das Bewusstsein, keine Geheimnisse voreinander haben zu müssen, ergibt die emotionale Bindung aller« (Plessner 2001: 45).

Zwar gilt diese Aussage für alle Vergemeinschaftungsformen, also auch für die auf Dauer gestellten, für situative Event-Vergemeinschaftungen gilt sie aber in ganz besonderer Art und Weise. Hier, wo niemand den anderen kennt, kann die »letzte Entschleierung« bis ins Extrem getrieben werden, oder umgangssprachlich formuliert: Hier darf man endlich einmal ungestraft ›die Sau rauslassen!‹. In dieser Extremisierung der »letzten Entschleierung« liegt nun auch der Unterschied zwischen traditionalen und posttraditionalen Festen und Events und den flüchtigen Formen situativer Event-Vergemeinschaftungen. Dort, wo niemand den anderen kennt, muss auch niemand damit rechnen, mit seinen Handlungen später wieder konfrontiert, geschweige denn hinterher über sein Handeln Rechenschaft ablegen zu müssen. Gibt es in den traditionalen und posttraditionalen Formen der außeralltäglichen, situativen Vergemeinschaftung noch so etwas wie deutlich markierte ›Peinlichkeitsschwellen‹, so schwinden diese in dem Maße, in dem der Grad der Fremdheit unter den Beteiligten wächst. Erst unter den Bedingungen des Sich-nicht-Kennens und damit des Niemanden-verpflichtet-Seins entfaltet die Emotionalität des gemeinschaftlichen Handelns ihre volle anarchische Kraft. Nur dann sind die Menschen bereit, ihr Innerstes nach außen zu kehren und sich 183

WINFRIED GEBHARDT

im wahrsten Sinne des Wortes zu »entschleiern«. Diese im ›Kollektiv‹ oder auch nur unter den Augen des ›Kollektivs‹ vollzogenen Entschleierungs-Akte bleiben dann – im Nachhinein verklärt – als ›ultimatives Gemeinschaftserlebnis‹ in nostalgischer Erinnerung.

4. Die Dialektik von Gemeinschaftsverlust und Gemeinschaftssehnsucht Moderne Gesellschaften sind – das gilt seit Ferdinand Tönnies als weitgehend unbestrittene ›Tatsache‹ in der Soziologie – gekennzeichnet durch den Übergang von ›Gemeinschaft‹ zur ›Gesellschaft‹ und diese Entwicklung wird von wenigen Ausnahmen abgesehen (wie beispielsweise Helmuth Plessner) als ›Verlust‹ begriffen (vgl. dazu Gebhardt 1999). Auch diese (schon fast universelle) Interpretation geht auf Tönnies zurück. Rückblickend auf sein ›Hauptwerk‹ Gemeinschaft und Gesellschaft schreibt er: »Der Begriff der ›Gesellschaft‹ bezeichnet also den gesetzmäßig normalen Prozess des Verfalls aller ›Gemeinschaft‹« (Tönnies 1925: 71f.). Und am Ende von Gemeinschaft und Gesellschaft steht der apodiktische Satz: »So ist Großstadt und gesellschaftlicher Zustand überhaupt das Verderben und der Tod des Volkes« (Tönnies 1979: 215). Seit Tönnies Zeiten wird regelmäßig der Verlust der ›Gemeinschaft‹ und mit ihr das Verschwinden jener Werte und Eigenschaften, die mit ihr notwendig verbunden gewesen sein sollen, beklagt: Wärme, Liebe, Nähe, Direktheit, Rückhaltlosigkeit, Unvermitteltheit und Unmittelbarkeit des sozialen Miteinanders. An ihre Stelle treten nun die ›Werte‹ der ›Gesellschaft‹: Bedacht, Beschluss und Begriff. Diese aber zerstören, so meinte schon Tönnies, das eigentlich ›Menschliche‹. Gesellschaftlich miteinander verbundene Menschen, sagt er, sind gar nicht wirklich miteinander verbunden. Gesellschaft sei vielmehr ein bloßes Nebeneinander wesentlich getrennter einzelner Individuen. Gesellschaft sei kein echtes, sondern nur ein scheinbares, ein künstliches Zusammenleben. In der Gesellschaft »ist ein jeder für sich allein, und im Zustande der Spannung gegen alle übrigen« (Tönnies 1979: 34). Ihr fehle die Wärme, sie mache sogar die Frauen, die von ihrem ganzen Wesen her gemeinschaftlich eingestellt seien, »herzenskalt«. Gesellschaft beruhe auf Egoismus, auf Begierde und Furcht, auf vernunftgemäßer Berechnung von Nutzen und Annehmlichkeit. Kurz: Gesellschaft ist für Tönnies bestimmt durch eine grundsätzlich »negative Haltung« (Tönnies 1979: 34). Sie ist nichts als »abstrakte Vernunft« (Tönnies 1979: 39) und damit eine Form des Zusammenlebens, in der zwar »jeder für alle da zu sein, alle jeden als ih184

FLÜCHTIGE GEMEINSCHAFTEN

resgleichen zu schätzen scheinen, in Wahrheit aber jeder an sich selber denkt und im Gegensatz zu allen übrigen seine Bedeutung und seine Vorteile durchzusetzen bemüht ist« (Tönnies 1979: 53). Was hier als soziologische Gegenwartsdiagnose erscheint, wird – ganz im Sinne von Friedrich H. Tenbrucks These von den Unbewältigten Sozialwissenschaften (Tenbruck 1984), die postuliert, dass durch eine spezifische, sozialwissenschaftliche Deutung der Wirklichkeit eine ›neue‹ Wirklichkeit geschaffen wird – zum Selbstbild der modernen Gesellschaft und zum typischen, mehr oder weniger allgemein anerkannten Deutungsmuster ihrer Mitglieder (vgl. Lethen 1994; Gebhardt 1999). Die Klagen über den Gemeinschaftsverlust sind unüberhörbar und die Forderung nach neuer (alter) Gemeinschaft und neuen (alten) Gemeinschaftserlebnissen werden immer lauter. Je mehr sich die ›gesellschaftliche Lebensform‹ im Zuge von Individualisierungs- und Deinstitutionalisierungsprozessen durchzusetzen scheint, je mehr neue Standardisierungen und technokratische Zumutungen das Leben unpersönlicher ,rationaler‘ und ›kälter‹ werden lassen, weil der einzelne sich zunehmend nur noch als kleines, unbedeutsames Rädchen im Getriebe von ökonomischen, bürokratischen und politischen ›Sachzwängen‹ zu sehen vermag, desto mehr wächst der Wunsch oder sogar die Sehnsucht nach dem Erlebnis von bedingungsloser Gemeinschaftlichkeit. Anders aber noch als zu den Zeiten eines Ferdinand Tönnies, offenbart sich dieser Wunsch oder diese Sehnsucht nicht in einem unbedingten Zurück zu vormodernen oder sogar zu ›natürlichen‹ Lebensverhältnissen, in denen das soziale Leben wie im ›Paradies‹ (vgl. Hahn 1976) oder wie im ›Mittelalter‹ (vgl. Oexle 1992) noch ein »sinnvoll und ziervoll geordnetes Ganzes« (Landsberg 1922: 27) gewesen sein soll. Wenn ›gemeinschaftliche Lebensformen‹ im spätmodernen Alltag nicht mehr oder nur noch bedingt dauerhaft lebbar und herstellbar sind – und diese Einsicht zieht der spätmoderne Mensch aus der Summe seiner Lebenserfahrungen – dann muss die Sehnsucht nach Gemeinschaft eben ›außeralltäglich‹ befriedigt werden. Gibt es im Sinne einer rückwärts gerichteten Utopie kein gedachtes Zurück mehr zum ›Mittelalter‹ oder zum ›paradiesischen Urzustand‹ mehr, dann bleibt nur noch übrig, die gemeinschaftliche Vision des »sinnvoll und ziervoll geordneten Ganzen« situativ, also auf Zeit und gleichsam spielerisch, in der Gegenwart umzusetzen: am Wochenende unter Gleichgesinnten auf Mittelaltermärkten, im HeilerSeminar oder in meditativen Tanzkreisen (vgl. Bochiger/Engelbrecht/Gebhardt 2009: 121ff.), im Erlebnis der traditionellen »Schönheit des katholischen Glaubens« (Benedikt XVI.) auf dem Weltjugendtag, in der kollektiven Erfahrung paradiesischer Natürlichkeit bei Spencer Tunicks Körperinstallationen, im ›Aufgehen‹ in der ekstatischen Unmittel185

WINFRIED GEBHARDT

barkeit national bestimmter Gefühlswelten wie beim Public Viewing oder in der Extremform situativer Event-Vergemeinschaftung, dem auf Minuten, wenn nicht Sekunden beschränkten Flash-Mob.

5. Fazit: Gemeinschaften ohne Gemeinschaft So gesehen sind situative Event-Vergemeinschaftungen sicher nicht die einzig mögliche, fraglos aber eine äußerst attraktive Art, unter spätmodernen Bedingungen Gemeinschaftsgefühle extensiv zu erleben und auszuleben (vgl. Prisching 2008). Die gemeinschaftlichen Erfahrungen von Wärme, Nähe, Direktheit, Unmittelbarkeit und Authentizität, ja von Enthusiasmus und Ekstase scheinen heute – jenseits des pianissimos einer ›echten‹ Liebesbeziehung – fast nur noch auf jene flüchtigen Veranstaltungen beschränkt zu sein, die hier als situative Event-Vergemeinschaftungen bezeichnet werden. Als in aller Regel professionell vorproduzierte und hergestellte ›Ausnahmesituationen‹ stellen sie – je nach Sichtweise – entweder Fluchtpunkte oder außeralltägliche Sicherheitszonen oder eben auch beides gemeinsam dar, in denen das im Alltag zunehmend als ›Einzelkämpfer‹ auftretende Individuum allein noch die Chance zu haben glaubt, sich für den Moment als Teil eines ›größeren Ganzen‹ zu fühlen. Das macht sie attraktiv. Und da sie – wie auch der herkömmliche Event – der Logik des ›Immer mehr‹ und ›Immer größer‹ folgen, muss sich auch hier das ›ultimative‹ Gemeinschaftserlebnis in immer extremeren Formen (bis hin zum kollektiven Gewaltexzess) austoben. Situative Event-Vergemeinschaftungen lassen sich deshalb als Gemeinschaften ohne Gemeinschaft bezeichnen. Anders als die traditionalen oder, wenn auch eingeschränkt, die posttraditionalen Gemeinschaften, spiegeln sie das Erleben von Gemeinschaft nur vor, bieten sie nichts anderes an als ein kurzfristiges, emotional hochgeputschtes Schwelgen in illusionärer Gemeinschaftlichkeit und Einigkeit. In ihnen wird das für die Spätmoderne typische Gefühl, ›gemeinsam einsam‹ zu sein, transformiert in das momentane, alle Grenzen sprengende und deshalb auch ›Sinn‹ generierende Empfinden bedingungslosen gemeinschaftlichen Glücks. Und als solche Generatoren gemeinschaftlich empfundenen Glücks und individueller Sinngebung treten sie zunehmend in Konkurrenz zu traditionalen oder auch posttraditionalen Vergemeinschaftungsformen.

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Konstruktions- und Ausdifferenzierungsprozesse neugermanisch-heidnischer Religiosität ANN-LAURENCE MARÉCHAL

Seit Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich in Deutschland die Entstehung von Gruppen und Gemeinschaften beobachten, die eine Wiederbelebung dessen, was als germanische Religion1 und Kultur verstanden wird, anstreben. Wider mögliche Erwartungen, dass eine solche Revitalisierung vermeintlich germanischer Glaubensinhalte nach den Erfahrungen des 2. Weltkrieges an Attraktivität und Zuspruch verloren hätte, deuten zahlreiche Neugründungen von Vereinen innerhalb des neugermanischheidnischen Spektrums und steigende Mitgliederzahlen bestehender Gruppierungen darauf hin, dass die vorchristliche Religion der Germanen noch immer eine große Anziehungskraft auf religiös suchende Menschen ausübt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem rezenten Neugermanischen Heidentum2 in Deutschland ist gekennzeichnet durch ei1

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Als germanische Religion wird die Religion der Sprecher einer germanischen Sprache vor ihrer Christianisierung bezeichnet. Schwierig ist dabei, dass es sich hier keinesfalls um eine religionsgeschichtliche Einheit handelt. Der Ausdruck kann eigentlich nur als ein Versuch verstanden werden, »allgemeine Grundzüge« aus verschiedenen Quellen sowie räumlichen, zeitlichen und kulturellen Unterschieden zu definieren. Aufgrund dieses Umstandes lässt sich nicht von einer oder der Religion der Germanen sprechen (vgl. Maier 2003: 17). Die Begriffe Neugermanisches Heidentum und germanisches Neuheidentum werden weitestgehend synonym verwendet. Der Einfachheit halber 189

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nen Rückgriff auf Deskriptionsmuster, die sich in den 1980er und 90er Jahren etablierten und im Zuge von Darstellungen entstanden, die sich vorrangig mit Gemeinschaften auseinandersetzten, die von den Autoren einem ideologisch und politisch rechten Spektrum zugeordnet wurden.3 Das Feld des Neugermanischen Heidentums erfährt damit zugespitzt ausgedrückt eine Reduzierung auf einige seiner Bereiche und als kennzeichnend wird infolgedessen eine Bezugnahme auf völkische und ariosophische Traditionen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts4 gesehen. Mit dieser einher gehe eine Vermischung mit esoterischen Denkmodellen, die u.a. zur Ausformulierung rassistischen und rechtsextremen Gedankenguts im Sinne der sogenannten »Neuen Rechten«5 führe. In der Folge setzte sich auch die Hypothese durch, dass es sich beim Neugermanischen Heidentum um eine Gegenbewegung handelt, deren Kultur- und Kirchenkritik in Kontinuität mit den »arteigenen« Religionsentwürfen der völkischen Bewegung steht. Wie diese sei das Neugermanische Heidentum der Gegenwart eine »Reaktion auf die Krise der Industriegesellschaft« und zu seinen zentralen Motiven gehörten Kulturpessimismus und zivilisationskritische Überzeugungen (vgl. Schnurbein 1992: 238). Mit der Übertragung dieser Annahmen auf rezente Gemeinschaften des Neugermanischen Heidentums ließe sich darauf schließen, dass es sich hier um eine »weitgehend identische (nämlich eskapistische, rassistische und regressive) Reaktion auf ähnliche Krisenerfahrungen der Moderne« (Gründer 2008: 21) handelt. So entsteht letztendlich das nahezu paradigmatische Bild des Neugermanischen Heidentums als Er-

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soll im weiteren Verlauf der Begriff Neugermanisches Heidentum verwendet werden. Damit soll auch der Umstand berücksichtigt werden, dass es sich hier um eine gegenwartsbezogene Neuinterpretation der zur Verfügung stehenden Quellen handelt. Beispiele für eine Auseinandersetzung mit Gemeinschaften, die einem ideologisch und politisch rechten Spektrum zugeordnet werden, sind u.a. Gandow (1990); von Schnurbein (1992); Hundseder (1998) und Haack (1983). Eine Übernahme von diesen Autoren herausgearbeiteter Beschreibungsmustern findet sich u.a. bei Baer (1995); Pöhlmann (2003); Siewert (2002) und im Ansatz auch bei Hero/Krech/Zander (2008: 319). Zur Völkischen Bewegung des späten 19. und frühen 20.Jh vgl. Puschner/Schmitz/Ulbricht (2006) und von Schnurbein/Ulbricht (2001). Zur Ariosophie und ihren Vertretern vgl. von Schnurbein (1992) und Goodrick-Clarke (1997). Tatsächlich übte die im Zuge der »Neuen Rechten« aufgekommene Mischung aus Kulturpessimismus, Ethnopluralismus und Umweltschutz insbesondere in den 1980er Jahren Einfluss auf Gemeinschaften des Neugermanischen Heidentums aus. Von Bedeutung waren und sind dabei z.T. heute noch die Werke Sigrid Hunkes, u.a. Hunke (1997) und Alain de Benoists ,u.a. Benoist (1983). Zur »Neuen Rechten« vgl. Brauner-Orthen (2001) und Jennerjahn (2005).

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be der völkischen Bewegung, in dem sich die in den völkischen und ariosophischen Ideologien verankerte Kultur- und Christentumskritik genauso wieder findet wie der ihnen innewohnende Antisemitismus und Rassismus (vgl. Gründer 2008). Unberücksichtigt bleiben bei diesen Formen der Beschreibung die Entwicklungen, die sich besonders in den letzten zwei Jahrzehnten innerhalb des Feldes des deutschsprachigen Neugermanischen Heidentums ereignet haben. Ziel dieses Beitrages soll es daher sein, einen Blick auf diese Entwicklungen und die damit einhergehenden Ausdifferenzierungsprozesse zu werfen. Gerade letztere zeigen sich als für die Akteure wesentliche Orientierungspunkte für die Konstruktion ihrer eigenen religiösen Identität. Denn während die neugermanischen Gemeinschaften bis in die 1960er Jahre tatsächlich bewusst auf altvölkische Ideologien zurückgriffen oder sich gar als Nachfolgeorganisationen bestimmter völkisch-germanischer Gemeinschaften verstanden, sind die Gemeinschaften der 70er und 80er Jahre stark von den esoterischen Strömungen ihrer Zeit sowie der Ökologiebewegung geprägt, was natürlich nicht ausschließt, dass es weiterhin ideologische und auch personelle Bezüge zum völkischen Spektrum gegeben hat. Zu beobachten sind jedoch erste Abgrenzungen gegenüber rassistischen und antisemitischen Tendenzen. Seit den 1980er und insbesondere 1990er Jahren treten dann vermehrt Gruppen in den Vordergrund, die in Anlehnung an skandinavische und angelsächsische Gemeinschaften des neugermanischen Heidentums entstanden sind und zunehmend entschiedener rechtsextreme und völkische Elemente und Ideologien innerhalb ihrer Glaubens- und Wertevorstellungen ablehnen. Untersucht man das Angebot an (Eigen-)Publikationen selbstbekennender neugermanischer Heiden sowie die Webpräsenzen bestimmter Vereine und Gruppen, lässt sich aufzeigen, dass neuere Entwicklungen innerhalb des Feldes nicht nur im Zusammenhang mit der Haltung gegenüber rassisch-völkischer Ideologien stehen. So zeigen auch die Veränderungen, die u.a. bei den vereinsinternen Organisationsstrukturen und dem Rezeptionsverhalten der Akteure zu beobachten sind, dass es zu deutlichen Ausdifferenzierungen innerhalb des Neugermanischen Heidentums gekommen ist.

Neugermanisches Heidentum, Rechtsextremismus und alternative Bewegungen Im ersten Jahrzehnt nach dem 2. Weltkrieg blieben Wiederbelebungsversuche der germanischen Religion relativ erfolglos. Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus war ein Rückgriff auf Traditionen des 191

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germanischen Altertums vorerst undenkbar. Nur sehr vereinzelt blieben völkische und ariosophische Religionsentwürfe in kleinen, meist verborgenen Kreisen erhalten und führten zu einigen Neugründungen, die in direkter Kontinuität mit ariosophischen Gemeinschaften der 1920er und 30er Jahre standen. So war der Gründer der 1951 ins Leben gerufenen Artgemeinschaft – Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V., Wilhelm Kusserow, auch Mitbegründer der 1927 gegründeten Nordischen Glaubensgemeinschaft. Heute erklärt sich die Artgemeinschaft als in der Tradition der Germanischen Glaubensgemeinschaft von Ludwig Fahrenkrog stehend und drückt damit deutlich die völkisch-rassistische Weltanschauung aus, die sie vertritt.6 Ihr Hauptziel ist »die Bewahrung und Erneuerung der weißen Menschenart zu schöpferischer Kulturgestaltung und neuer Volksgesittung aufgrund einer religiösen Seelen- und Geist-Bindung an die ewigen Lebensgesetze« (Der Glaube unserer Art, 1974, zit. nach Schnurbein 1992: 121). Erst nach und nach wurden auch öffentlich wieder Elemente v.a. der ariosophischen Lehre aus der Vorkriegs- und Kriegszeit aufgegriffen und in andere esoterische Traditionen integriert, wobei man sich jedoch der Öffentlichkeit gegenüber von rassistischen Inhalten zu distanzieren versuchte. Sichtbar wird dieses Rezeptionsverhaltens z.B. im Bereich der Runenesoterik. So publizierte Karl Spiesberger bereits in den 1950er Jahren unter Verwendung der Lehren Guido von Lists und dessen Schülern Friedrich B. Marby und Siegfrie A. Kummer die erste Auflage seines Werkes zur Runenmagie (vgl. Spiesberger 1985). Ein erstes einflussreicheres Wiederaufleben des neugermanischen Heidentums setzte in den 1970er Jahren ein. Nicht zufällig fällt dieses Wiederaufkommen in eine Zeit, in der neben den sog. Neuen religiösen Bewegungen und Ideen aus dem Bereich Esoterik/New Age7 auch neue soziale Bewegungen immer mehr in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung rückten. Die 1970er und 80er Jahre und die in dieser Zeit populären ökologischen, feministischen und holistischen Ideen stellten für die entstehenden neugermanischen Gruppen ein geeignetes Umfeld dar, an das sie anknüpfen und durch dessen Vorstellungen sie ihre Inhal6

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Kusserow war auch Mitglied der 1928 gegründeten Nordischen Glaubensgemeinschaft, die sich eigenen Angaben zufolge 1965 mit der Artgemeinschaft vereinigte (vgl. Gerke, Almut/Artgemeinschaft – Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V. (2006). Heute wird die Artgemeinschaft von dem als Rechtsextremist bekannten Hamburger Rechtsanwalt Jürgen Rieger geleitet (vgl. von Schnurbein 1992). Zur Problematik der Begriffe Esoterik und New Age vgl. Hanegraaff (2007); Bergunder (2008).

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te ‚aktualisieren‘ konnten (vgl. von Schnurbein 1992: 126f; Gründer 2008: 43f). Als kennzeichnend für die Mehrzahl neugermanischheidnischer Gruppen dieser Zeit kann die Kombination von ariosophischem und auch theosophischem Gedankengut mit Elementen aus dem Bereich Esoterik/New Age sowie den von den Akteuren rekonstruierten germanischen und keltischen Religionen zu einer neuen Form von »Naturreligion« angesehen werden.8 Als wohl bekanntestes Beispiel für diese Richtung des Neugermanischen Heidentums kann sicherlich der 1976 von Sigrun und Adolf Schleipfer gegründete Armanen-Orden (AO) betrachtet werden. Er versteht sich als Nachfolgeorganisation der Guido von List Gesellschaft und knüpft damit direkt an dessen ariosophische Weltanschauung an. Der Orden ist gekennzeichnet von einer hierarchischen und elitären Struktur, die auf Regeln und Ritualen aufbaut. Die Anhänger des Ordens sehen sich als Wiedergeborene einer Elite, als Armanen, Druiden und Goden, deren Aufgabe darin bestünde, »fehlgeleitete Stammes- und Volksangehörige als werdende neuschaffende Wesen aufzuklären und zum rechten Ziel zu führen« (Irminsul 1, 1986, zit. nach Schnurbein 1992: 22) Das für diese Aufgabe benötigte Wissen ist dem »Leitbild« des Ordens zufolge im vermeintlich germanischen und keltischen Volkstum überliefert. Erlangt werden kann dieses Wissen mit Hilfe eines Einweihungssystems, das, am freimaurerischen System orientiert, in mehrere Grade unterteilt ist. Innerhalb dieses Systems werden die Goden-Grade und Armanen-Ordens-Grade unterschieden, von denen letztere einer esoterischen Einweihungsordnung entsprechen sollen.9 Neben der Rezeption theosophischer und ariosophischer Schriften (u.a. von Helena P. Blavatsky, Lanz von Liebenfels und Guido von List) wird auch deren Ablehnung der jüdisch-christlichen Kultur übernommen und das germanisch-keltische Heidentum als dessen »arteigene« Alternative propagiert

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Als gemeinsame Schlüsselbegriffen und -themen aus dem Bereich Esoterik/New Age und des Neugermanischen Heidentums können u.a. Naturreligion, Schamanismus, Spiritualität und Reinkarnation aufgeführt werden. Für einen weiteren Überblick vgl. York (1995: 145-177). Die Eigenbezeichnung als »Naturreligion« findet sich durchgängig innerhalb der in diesem Kapitel betrachteten Gemeinschaften. Vgl. Abschnitt zu ArmanenOrden, Yggdrasil-Kreis e.V. sowie Germanische Glaubensgemeinschaft. Die Wissensaneignung zur Erlangung der jeweiligen Grade geschieht anhand sog. Leitbriefe, in denen neben »Wissen über das geistige Leben des keltisch-germanischen Kulturkreises« auch eine »Einweisung in esoterische Grundsätze« stattfindet (vgl. von Schnurbein 1992: 32f). Im Zuge dieses Einweihungssystems werden u.a. der Kirchenaustritt und eine Auseinandersetzung mit dem Christentum verlangt. 193

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(vgl. von Schnurbein 1992: 68; Schrupp 1997: 13).10 Des Weiteren bezieht sich der AO auf die wissenschaftliche Germanenforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie auf Schriften der sogenannten Neuen Rechten. So werden neben den Werken des Wiener Germanisten und Volkskundlers Otto Höflers auch Schriften von Alain de Benoist rezipiert. Biologisches und Kulturelles wird von Vertretern dieser Gruppe im sozialdarwinistischen Sinn als eine Einheit gesehen und unter Zuhilfenahme von religiösem Vokabular wird versucht, die daraus hervorgehenden biologistisch-rassischen Ideen zu legitimieren. So wird auch der von ihnen zur Beschreibung ihrer Religion verwendete Begriff der »Naturreligion« in Bezug auf diese Einheit von Biologischem und Kulturellem verstanden. Sie wird als der Rasse »arteigene«, ihrem Wesen entsprechende und damit »natürliche« Religion definiert, eine Vorstellung, die ganz in der Tradition des Völkischen steht. Auf der Grundlage von theosophischen und ariosophischen Ideen wird davon ausgegangen, dass alle Materie »verdichteter Geist« ist und ein dementsprechendes pantheistisches Welt- und Gottesbild vertreten (vgl. Schnurbein 1992: 44f). Das absolut Geistige werde dabei in unzählige Vielheiten aufgespalten und untergliedert. Eine dieser Untergliederungen des sogenannten Allgeistes seien die Götter, welche als ‚Ausdrucksformen höherer geistiger Einheiten‘ verstanden werden, die bestimmten Naturkräften und erscheinungen entsprechen. Wichtig ist dabei der Gedanke, dass diese als im Sinne C.G. Jungs »Archetypen« empfundenen Götter dem eigenen Volk entsprechen und ihre Präsenz an die jeweilige Natur und Landschaft gebunden ist (vgl. Wiedemann 2007: 207; Schnurbein 1992: 45). Im Ritual soll der Mensch in einer ihm zu- und übergeordneten Gottheit »aufgehen«, u.a. durch die Nutzung schamanistischer und ekstatischer Techniken, bei deren Entwicklung man sich an der »Magie der Indianer und anderer Naturvölker« orientiert (vgl. Schnurbein 1992: 56). Des Weiteren finden sog. Runenorakel und die Runengymnastik Bernhard Marbys Anwendung in der rituellen Praxis. Die Rituale zu den Jahreskreisfesten und Lebensfeiern (Eheschließung, Meisterweihe u.ä.) verlaufen nach dem jeweiligen Anlass angepassten festen Regeln und unter Verwendung kanonisierter Texte.11

10 Die keltische Religion wird vom AO mit der Begründung in sein System aufgenommen, dass es keine anthropologischen Unterschiede zwischen Germanen und Kelten gäbe und eine Vermischung schon in früher Zeit stattgefunden habe (vgl. von Schnurbein 1992: 22). 11 U.a. findet dreimal im Jahr, zu Ostern, Mittsommer und Allerheiligen ein sog. Thing statt, auf dem neben dem gemeinschaftlichen Festritual und den »Godenweihen« auch Vorträge gehalten werden und Veranstaltungen wie Volkstanz- und Singrunden stattfinden (vgl. Schnurbein 1992: 34). 194

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Die Übernahme modernerer esoterischer Elemente und Gedanken des sogenannten New Age kommt u.a. in den Themen zum Ausdruck, mit denen es den Gruppen dieser Richtung gelang, viele Sympathisanten aus diesem Umfeld zu gewinnen und bis in links-alternative und esoterische Kreise hinein zu wirken. So widmeten sie sich z.B. ganzheitlicher Spiritualität, Umweltschutz und Feminismus (vgl. Schnurbein 1991: 18).12 Der in Teilen des sogenannten New Age gebräuchliche Begriff des Wassermann-Zeitalters und das mit ihm verbundene Motiv eines neuen Zeitalters, wird auch innerhalb des AO aufgegriffen, hier jedoch durch das Heimdall-Zeitalter ersetzt.13 Mit diesem neuen Zeitalter erwartet der AO, dass das Leiden unter der Zivilisation, unter Umweltschäden und dem mangelnden Einfluss der weiblichen Kräfte durch die Wiedererweckung der germanischen und keltischen (!) Tradition endet (vgl. Schnurbein 1992: 24). Diese und weitere Themen, wie z.B. Geomantie machen deutlich, dass diese frühen Gruppen des neugermanischen Heidentums als ein, so drückt es Stefanie von Schnurbein aus, Bindeglied zwischen New Age und Rechtsextremismus fungieren (vgl. Schnurbein 1993). Wie bereits angedeutet, sind von den hier beschriebenen Gemeinschaften diejenigen zu unterscheiden, die zwar ebenfalls im Zuge von Ökologie-, Frauen- und Friedensbewegung entstanden, sich jedoch (öffentlich) von rassenideologischen Ansätzen distanzieren. Trotz dieser Distanzierung finden sich nicht selten Kontakte und personelle Bezüge zu bereits beschriebenen rassistisch-esoterisch geprägten Gemeinschaften, was u.a. dadurch begründet ist, dass viele Gründungsmitglieder der Gemeinschaften dieser Zeit ehemalige Mitglieder des AO waren. Dies mag jedoch nicht allein an Sympathien liegen, sondern auch die Folge einer Ermangelung von Alternativen für germanisch-heidnisch Interessierte dieser Tage sein. Auffallend an diesen Gemeinschaften der 1970er und vor allem 1980er Jahre ist zudem ein synkretistischer Umgang mit verschiedenen vorchristlichen Kulturen Europas. Es wird nicht allein eine Revitalisierung germanischer Glaubensvorstellungen angestrebt,

12 Was den Feminismus betrifft, so wird zwar die Wiederbetonung weiblicher Kräfte und des weiblichen Einflusses betont, diese geht jedoch keineswegs mit einer Gleichstellung der Frau einher, sondern man sieht sie gerne als »Hüterin des Herdfeuers«, was laut von Schnurbein gleichzusetzten ist mit der Festlegung der Frau auf ihre klassische Rolle als Hausfrau (vgl. Schnurbein 1992: 52-54). 13 Heimdall (altnord. Heimdallr, Etymologie unklar) ist ein Gott der nordischen Mythologie, der sowohl in der Lieder-Edda sowie in der SnorriEdda erwähnt wird und als Wächter der Götter gilt (vgl. Simek 1984: Heimdall) 195

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sondern man bekennt sich zu »heidnischen Naturgötter[n]«14 der oder einer »einheimischen europäischen Naturreligion« (Yggdrasil-Kreis e.V.: »Wir über uns. [...]«) allgemein. Auch die Gründungsmitglieder der 1985 gegründeten Heidnischen Gemeinschaft e.V. (HG) setzten sich aus ehemaligen Mitgliedern des AO zusammen, verlangten für den Beitritt in ihre eigene Gemeinschaft jedoch eine persönliche Absage gegenüber faschistischen und rassistischen Tendenzen. Im Gegensatz zum AO versuchte die HG für die Rekonstruktion eines möglichst authentischen Heidentums auf vermeintlich originäre Mythen, Märchen und Brauchtümer zurückzugreifen. Auch in weiteren Punkten entfernte sich der Verein immer mehr von den Lehren des AO und widmete sich vermehrt ökologischen Themen.15 Der Verein versteht sich dezidiert als eine Religionsgemeinschaft, die versucht, »den Alten Glauben unserer Vorfahren […] unserer heutigen Zeit anzupassen und zu leben« (Heidnische Gemeinschaft e.V. (a.): »Herzlich Willkommen…«). Die »zeitlosen Weisheiten« dieses Glaubens werden in den Überlieferungen der germanischen, keltischen und slawischen Kultur gesehen. Auch im 1983 gegründeten Yggdrasil-Kreis e.V. werden neben den germanischen auch keltische Traditionen integriert und mit Elementen des Wicca und des Neoschamanismus kombiniert. Ziel dieses Vereins ist laut vereinseigener Webseite die »Förderung der einheimischen europäischen Naturreligion«, und das Leben des »Brauchtum[s] soweit überliefert gemäß der authentischen traditionellen naturreligiösen Strömungen und Systeme Europas« (Yggdrasil-Kreis e.V.: »Wir über uns. [...]«). Für die Ausführung ritueller Handlungen, so heißt es auf der Webseite weiter, wird eine Einweihung in die »Geheimnisse der westlichen Mysterientradition« vorausgesetzt, so dass zusammen mit dem Rat der Neun, einem Leitungsgremium, eine hierarchische Struktur innerhalb der Gemeinschaft besteht. Die eigene Religion wird als in ungebrochener Tradition zu besagter »einheimischer Naturreligion« verstanden. Daraus folgend wird dann auch die Bezeichnung der Gemeinschaft als neuheidnisch oder ihrer Mitglieder als Neuheiden abgelehnt (YggdrasilKreis e.V.: »Wir über uns. [...]«). Durch ein ehemaliges Gründungsmitglied der HG wurde 1991 die Germanische Glaubensgemeinschaft (GGG) ins Leben gerufen, die sich in der Nachfolge der von Ludwig Fahrenkrog 1912 gegründeten Germa14 Satzung und Grundsatzerklärung der Heidnischen Gemeinschaft e.V., Berlin 1985, zit. nach Schnurbein 1992: 142. 15 So finden sich in der heutigen vereinseigenen Zeitschrift Der Runenstein u.a. Artikel über Waldschäden, Bioanbau oder bedrohte Tierarten (vgl. Heidnische Gemeinschaft e.V. (b.): »Runenstein-Archiv«) 196

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nischen Glaubensgemeinschaft versteht. Trotz dieses Rückgriffes auf eine dezidiert völkische Gemeinschaft versucht die GGG sich öffentlich von ariosophischen und völkischen Ideologien zu distanzieren, was jedoch insbesondere von jüngeren Gemeinschaften des Neugermanischen Heidentums in Frage gestellt wird. Seine Aufgaben sieht der Verein in der »Wahrung, Förderung und Verbreitung des überlieferten und durch Forschungen erschlossenen germanischen Glaubens und Kultes« (Germanische Glaubensgemeinschaft e.V. (a.): »Das Bekenntnis«). Ihre Glaubenswelt bezeichnet der auf unbestimmte Zeit gewählte Vorsitzende Géza von Neményi in erster Linie als eine polytheistische. Sie habe jedoch auch insofern pantheistische Züge, als dass alle Götterkräfte in der Natur zu finden seien und man schließlich auch monotheistisch Spuren finden könne, wenn man Odin als Gott-Vater ansehe (vgl. Neményi 2004: 13). Als Naturreligion versteht Neményi das Heidentum aufgrund der Tatsache, »dass diese Glaubensform in der freien Natur, auf der Heide ausgeübt wird« (Neményi 2004: 12). Zudem seien die Glaubenslehren von der Natur abgeleitet und stünden mit ihr im Einklang. Als dritte Bedeutung des Begriffes Naturreligion führt er an, dass eine solche natürlich gewachsen sei, jede Generation sie weiter entwickle und den jeweiligen Gegebenheiten anpasse (vgl. Neményi 2004: 12). Im Götterbild der GGG werden drei mögliche »Deutungen der Götter« miteinander vereint und die Götter als Naturkräfte, als persönliche Wesen höherer Welten und als Heroen der Vorzeit verstanden: »Ich denke wir können alle drei Möglichkeiten ohne Wiedersprüche anerkennen: Alle Naturkräfte der materiellen Welt existieren auch in höheren Welten (Mikrokosmos-Makrokosmos), und diese Kräfte müssen nicht unintelligent sein; sie können sich personifizieren und uns so erschienen; sie können sich auch [...] in dieser Welt verkörpern (inkarnieren). [...] Gleichzeitig stellen sie auch Seelenbilder dar, die wir seit Jahrtausenden in unserem Unterbewusstsein tragen.« (Neményi, o.J.: 9)

Neményi sieht das germanische Heidentum als am besten »dazu geeignet, die Probleme unserer Zeit zu lösen und dem Menschen Hilfe und Unterstützung bei der Bewältigung seines eigenen Lebens zu bieten.« (Neményi 2004: 9). Dabei betont er die Notwendigkeit der Religion seines eigenen Kulturkreises anzugehören, damit einem diese Hilfe zuteil werden kann, womit er die Notwendigkeit einer »arteigenen« Religion impliziert: »Wer als Deutscher seine germanische und celtische Abstammung ablehnt oder verdrängt, dem kann auch nicht irgendein anderes Heidentum (z.B. das

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der Griechen) weiterhelfen. Denn die Geisterwesen, die unsere Gebete und Anrufungen weitertragen, entstammen unserer Kultur und sprechen unsere Sprache. Fremde Götternamen und damit verbundene Göttervorstellungen sind daher nicht für unsere Religion geeignet.« (Neményi 2004: 16)

Das Christentum als eine aufgezwungene und fremde Religion hält Neményi folglich für ungeeignet, den Menschen des europäischen Kulturkreises eine 'Lebenshilfe‘ zu sein. Auffällig ist, dass bestimmtes Wissen innerhalb der GGG nur Eingeweihten vorbehalten ist. Dies zeigt sich u.a. in der Äußerung, dass in den Thinggemeinschaften, den inneren Kreisen, »heidnische Überlieferungen, die sich mit Zauber befassen und nicht an Außenstehende vermittelt werden dürfen, [gepflegt]« (Germanische Glaubensgemeinschaft e.V. (b.): »Heidentum«) werden und setzt sich in der sogenannten Godenausbildung fort. Wie bei den bereits oben beschriebenen Gemeinschaften, gibt es auch in der GGG das Amt der Goden, das gleichgesetzt wird mit einem Priesteramt (vgl. Neményi, Géza von/Allsherjargode.de (a.): »Goden und Gydjas«). Ihnen obliegt die Leitung der Jahresfeste und des Thing (der Vereinsversammlung) und die Aufgabe den heidnischen Glauben zu vermitteln. Nach einer dreijährigen Ausbildung bei einem bereits geweihten Goden muss die Godenprüfung vor dem Godenrat abgelegt werden, der bei Bestehen die Godenweihe folgt (vgl. Neményi, Géza von/Allsherjargode.de (b.): »Godenausbildung«). Geweiht werden sollte ein Anwärter möglichst vom »obersten Priester aller Heiden«, dem Allsherjargode, dessen Amt allein innerhalb der GGG existiert. Ohne diese rituelle Weihung durch einen Goden, habe der Anwärter keine spirituelle Kraft und es wäre ihm nicht gestattet den Godentitel zu führen (vgl. Neményi 2004: 182f).16 Für Außenstehende nicht zugänglich gemacht werden auch bestimmte Ausgaben der vereinseigenen Germanischen Reihe, die nur an Mitglieder heidnischer Gemeinschaften verkauft werden, die den Allsherjargoden und den Godenrat anerkennen und sich seinen Weisungen unterstellen.17 Die Einführung der Institution des Allsherjargode im Jahr 1992 und eine diesbezügliche, ursprünglich als eigene Positionsbestimmung im 16 Laut vereinseigener Webseite bekleidet das Amt des Allsherjargode, des »höchsten traditionell ausgebildeten, geweihten und eingesetzten Priester« zur Zeit Géza von Neményi (vgl. Germanische Glaubensgemeinschaft e.V. (b.): »Heidentum«). Die Weihe wird als eine Kraftübertragung verstanden, die ursprünglich von Odin selbst stamme, der in der Vorzeit seine Goden selbst geweiht habe (vgl. Neményi 2004: 182f). 17 Hierbei handelt es sich um Ausgaben, in denen »Kultstätten« behandelt werden, deren Lage Außenstehenden nicht mitgeteilt werden soll (vgl. Neményi, Géza von/Allsherjargode.de (c.): »Germanische Reihe«). 198

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internen Rundbrief Germanen-Glaube zur Diskussion gestellte Erklärung, verbreitete sich schnell innerhalb des gesamten neugermanischen Heidentums und führte zu einer meist einstimmigen Kritik seitens anderer Vereine. In einer gemeinsamen Presseerklären sprachen sich der Eldaring e.V und der Ordinic Rite Deutschland18 gegen den »autoritären Versuch, die ständig wachsende Gemeinschaft der deutschen Heiden zu vereinnahmen« aus und sahen in der Einführung diese Amtes den impliziten Wunsch eine religiöse Lehrautorität darstellen zu wollen, indem der Allsherjargode religiöses Wissen abprüft und Lehrämter vergibt (vgl. Eldaring e.V. /Ordinic Rite Deutschland 2003: »Presseerklärung«). Des Weiteren wird Neményi vorgeworfen, kein traditionelles germanisches Heidentum auszuüben, sondern eine »selbst geschaffene dogmatische Lehre« zu vertreten, die »germanische Quellen willkürlich mit Elementen aus anderen Religionen und aus der Esoterik mischt« (Eldaring e.V. /Ordinic Rite Deutschland 2003: »Presseerklärung«). Trotz der starken Aufmerksamkeit, die dieser Gemeinschaft in akademischen Arbeiten über das Neugermanische Heidentum geschenkt wird und ihrer starken Präsenz im Internet, scheint es sich bei der GGG nur um einen kleinen Kreis zu handeln, der nur insofern großen Einfluss auf das neugermanische Heidentum ausübt, als dass er insbesondere neueren Gemeinschaften als Abgrenzungsfolie dient. Andere Gemeinschaften, doch auch Einzelpersonen positionieren sich für oder gegen die GGG oder die Person Neményis und versuchen damit ihre Haltung zu völkischen und dogmatischen Ausrichtungen des Neugermanischen Heidentums deutlich zu machen. Die Präsenz und die Initiativen der GGG gehen größtenteils wohl von der Person von Neményis aus. Pöhlmann stärkt diese Vermutung mit der Angabe von lediglich 30 Mitgliedern (vgl. Pöhlmann 2006: 77). Bis hierher lässt sich zusammenfassend festhalten, dass sich die rassenbiologischen Ansätze der Gemeinschaften, die in einer direkten Traditionslinie mit völkischen und ariosphischen Lehren stehen, im Zuge der 1970er und 80er Jahre zu einer Form des Bioregionalismus19 entwickelt haben. Definiert sich der AO als ein Gemeinschaft auf der Grundlage der gleichen Abstammung und damit des ‚gleichen Blutes‘, so verstehen sich die unter Einfluss v.a. der Ökologiebewegung ab den 1970er Jahren gegründeten Vereine vermehrt als eine regionale Traditionsgemeinschaft, in der man aufgrund der Landschaft in der man lebt

18 Heute umbenannt in Verein für germanisches Heidentum e.V. (s.u). 19 Weitere Ausführungen finden sich bei Hamm/Rasche (2002) und Gugenberger/Schweidlenka (1996). 199

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und der ihr innewohnenden Götter miteinander verbunden ist.20 Finden sich innerhalb der bioregionalistisch ausgerichteten Gemeinschaften zwar weiterhin z.T. naiv anmutende Rückgriffe auf ariosophischvölkische Wissensbestände, versucht man jedoch vorrangig seine Religiosität auf der Grundlage der altnordischen Mythologie (hier v.a. der Edda-Werke) sowie einheimischer Märchen und vermeintlich ursprünglichem Brauchtum zu konstruieren. Fast allen diesen frühen Gemeinschaften ist eine dogmatische Haltung sowie eine hierarchische Struktur zueigen, die nur vereinzelt aufgelöst bzw. aufgelockert wird. Häufig formieren sich die z.T. nur eine geringe Anzahl von Mitgliedern zählenden Gruppen um eine charismatische Führungspersönlichkeit.21 Gemeinsam ist den Gemeinschaften der Nachkriegsjahre und den 1970er und 80er Jahren zudem auch eine starke Gesellschafts- und Christentumskritik. Indem die Entwicklungen der sogenannten Postmoderne und das Christentum für Umweltzerstörung und die mit der Industrialisierung verbundene Unterdrückung und Entfremdung des Einzelnen und seiner individuellen Erfahrungen verantwortlich gemacht werden, formiert sich eine Kulturkritik, die ganz in der Tradition der Völkischen steht. Die Krise des Einzelnen wird als eine Krise der Gesellschaft angesehen und eine Rückbesinnung auf die heimische Natur und der ihr innewohnenden Götter als einzige Lösung zur Überwindung dieser Krise verstanden.

Die Asatrú-Gemeinschaften Während das Feld in den 70er und 80er Jahren noch recht überschaubar war und sich deutliche Gemeinsamkeiten bei der Konstruktion der eigenen Religion zeigten, ergibt sich bei der Betrachtung der sich gegenwärtig entwickelnden Vielfalt innerhalb des Neugermanischen Heidentums ein ganz anderes Bild. Zwar sind Gruppen wie der AO oder die Artgemeinschaft noch immer präsent, von einem völkisch geprägten, ariosophischen oder gar ins rechtsextremistische Lager reichenden neugermanischen Heidentum per se kann jedoch nicht mehr zwangsläufig ausgegangen werden. Die Veränderungen innerhalb des Feldes des Neugermanischen Heidentums traten zu Beginn der 90er Jahre ein, als sich erste sogenannte Asatrú-Gemeinschaften nach Vorbildern aus den skandinavischen und angelsächsischen Ländern gründeten. Als Vorbild wird

20 Hiermit stehen die Gemeinschaften dieser Richtung u.a. in der Tradition der Naturromantik (vgl. See, Klaus von 1994). 21 Wie im Fall der GGG und des AO. 200

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meist der 1972 gegründete isländische Verein Ásatrúarfélag genannt, der 1973 die Anerkennung als offizielle Religionsgemeinschaft in Island erhielt (vgl. Steinbock 2004: 213). Die Selbstbezeichnung Asatrú ist zusammengesetzt aus dem altnordischen áss (Gott, Ase; genitiv: ása) und trú (Vertrauen, Glaube) und kann wörtlich mit »die Asentreue«, sinngemäß auch als Asenglaube oder Glaube an die Asen übersetzt werden.22 Eine weitere Bezeichnung für Asatrú, ist das aus dem Altnordischen stammende Forn Sed, was häufig mit Alte Sitte übersetzt wird und von Anhängern auch als »der alte Weg« oder »die alten Bräuche« verstanden wird. Die Anhänger der Asatrú nennen sich häufig Asatruar (»Asentreue«) und verstehen ihren Glauben meist als eine »junge und zeitgemäße Religion, die auf überliefertes Wissen der alten Germanen aufbaut« (vgl. Gardenstone 2003: 34). Sie wird als eine nach alten Quellen erneuerte Religion empfunden, in der »heute Unmögliches ausgelassen wird und Neues, Zeitgemäßes eingefügt« (Wagner, V./Asentr.eu 2008: »Alte Sitte …«) wird. Die Treue zu und das Vertrauen in die Götter sehen Asatrúar als Kern ihrer »polytheistischen« Religion.23 Ein »Austausch« mit den Göttern geschieht u.a. durch das Blót, das Opfer, das die zentrale Rolle innerhalb der religiösen Praxis innehat. Ein weiterer Schwerpunkt innerhalb der Glaubensvorstellungen ist die Ehrerbietung gegenüber den eigenen Ahnen und Vorfahren, mit denen man sich stark verbunden fühlt (vgl. Steinbock 2004; Gardenstone 2003). Viele Asatrú-Gemeinschaften berufen sich zudem auf eine neugermanisch-heidnische Ethik, die sich auf der Grundlage der neun edlen Tugenden zusammensetzt.24 Diese Ethik ist, dem Selbstverständnis der Asatruar nach, durch die Selbstverantwortung des Einzelnen für seine Taten geprägt und erlangt daher keine normative Geltung. 22 Der Begriff ist jedoch in dieser Zusammensetzung aus dem Altnordischen oder Altgermanischen nicht bekannt, sondern stellt eine Art Neologismus dar, der wahrscheinlich im ausgehenden 19.Jh. von dem Norweger Edvard Grieg geprägt wurde. Edvard Grieg verwendete den Begriff asetro (dän.: Asenglaube, -treue) in seinem unvollendeten Opernwerk Olaf Tryggvason als Bezeichnung für den heidnischen Glauben der skandinavischen Länder. Da der Begriff Asatrú in den skandinavischen Sprachen weiblich ist und auch in der Übersetzung (die Asentreue) soll auch im weiteren Verlauf sprachwissenschaftlich korrekt die weibliche Form verwendet werden. 23 Häufig findet sich die Beschreibung der eigenen Religion als eine polytheistische Religion, womit versucht wird, sich als Religion der Vielfalt und der Eigenerfahrung von den monotheistischen Stifterreligionen abzugrenzen (vgl. Steinbock 2004: ) 24 Diese sind: Mut, Wahrhaftigkeit, Ehre, Treue, Disziplin, Gastfreundschaft, Fleiß, Selbständigkeit und Ausdauer (vgl. Steinbock 2004: 229f) 201

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Die Vielfalt der Gemeinschaften, die sich zur Asatrú zählen und ihre meist antidogmatische Haltung machen es jedoch unmöglich, allgemeingültige Glaubenssätze herauszuarbeiten. Auch in den AsatrúGemeinschaften selbst finden sich kaum diesbezügliche Anstrengungen. Die herrschenden Unterschiede in ihren Glaubensvorstellungen sehen sie meist als Teil ihrer Religion, die sie schon allein wegen ihrer polytheistischen Ausrichtung als eine Religion des Pluralismus und der Vielfalt empfinden (vgl. Peters, Tim/Eldaring e.V. 2007). Unter Berücksichtigung dieser Situation scheint ein Begriff wie Asatrú eher die Funktion eines terminus technicus inne zu haben, durch welche zwar ein gemeinsamer Wiederbelebungsversuch der alten nordischen bzw. germanischen Religion bezeichnet wird, die eigentlichen Inhalte allerdings nicht genau bestimmt werden können. Erweitert wird diese Problematik durch die Tatsache, dass mit dem vermehrten Auftreten sich als Asatrú bezeichnender Gemeinschaften (insbesondere im angelsächsischen und skandinavischem Raum) auch immer häufiger bereits existierende Vereine und Gruppen dieser Richtung des neugermanischen Heidentums zuwandten bzw. die Bezeichnung für sich übernahmen.25 Eine inhaltliche Neuorientierung ging damit jedoch keinesfalls zwangsläufig einher, so dass in einigen Fällen davon ausgegangen werden kann, dass das Hauptmotiv in einer Neupositionierung lag. Es kann angenommen werden, dass die Umbenennung eine attraktive Möglichkeit bot, seine eigene Religion auf der Grundlage vermeintlich originärer vorchristlicher Glaubensvorstellungen zu begründen und sich von alten Klassifikationssystemen, in denen oft mit völkischen und rassenideologischen Elementen argumentiert wurde, zu entfernen. Auf internationaler Ebene und besonders in den englischsprachigen Ländern hat sich aufgrund dieser Problematiken eine intern durchaus gebräuchliche Zuordnung der verschiedenen Gemeinschaften zu zwei unterschiedlichen Richtungen der Asatrú durchgesetzt. Diese Unterscheidung geschieht auf der Basis eines entscheidenden Kriteriums und zwar anhand der Haltung der jeweiligen Gruppe zu genetischen bzw. ethnischen Vorgaben bei der Wahl der eigenen Religionszugehörigkeit. So wird hier zwischen einer völkischen (engl.: folkish) und einer universalistischen Richtung der Asatrú unterschieden. Der Begriff universalistisch diente anfänglich dem sich selbst als folkish bezeichnendem Neugermanischen Heidentum in den englischsprachigen Ländern als Negativfolie zu ihrer eigenen Ausrichtung (vgl. Krasskova 2005: 24; Peters, Tim/Eldaring e.V. 2007). Von vielen deutschsprachigen Anhängern der Asatrú wird diese Unterscheidung jedoch aufgrund ihres Zuschreibungs25 So u.a die HG, die GGG sowie die Artgemeinschaft. 202

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charakters mit Skepsis betrachtet. Von einigen Gruppen wird sie einfach als »rein hypothetische Konstruktion« (Peters, Tim/Eldaring e.V. 2007) abgelehnt, da eine solche Einteilung auf ein Dualismus-Bedürfnis hindeute, das der heidnischen Weltsicht nicht entspreche. Sie bevorzugen hingegen die Unterscheidung einer exklusiven und einer toleranten Auffassung von Heidentum (vgl. Peters, Tim/Eldaring e.V. 2007). Die Übernahme in ersten deutschen (Eigen-)publikationen und die Verwendung im Zuge einer individuellen Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen (v.a. im Internet) zeigt jedoch, das sich diese Form der Unterscheidung von Gruppen und Strömungen des neugermanischen Heidentums auch im deutschsprachigen Raum zunehmend durchsetzt (vgl. Steinbock 2004: 234; Gardenstone 2003: 37-39). In einigen Asatrú-Kreisen selbst wird trotz Skepsis und Diskussionen die Einführung einer dritten Kategorie gefordert, die der tribalist Heathens bzw. der tribalistischen oder auch ethnischen Asatrú. Auch diese Kategorie fand erste Anwendung unter Asatruar im englischsprachigen Raum und erlangte im deutschsprachigen Raum eine bislang noch überschaubare Zustimmung.26 Die Gemeinschaften, die sich selbst der völkischen Richtung der Asatrú zuordnen bzw. denen eine solche Ausrichtung von anderen Gruppen zugeschrieben wird, charakterisieren sich anhand der Vorstellung, dass die Spiritualität des Einzelnen durch die Gene seiner Vorfahren präpositioniert ist. Genetisch bzw. biologisch verwandte Menschen hätten daher eine »spirituelle Verbindung«, die nicht von jemandem geteilt werden könne, der nicht dieser genetischen Gruppe angehört. Diese Theorie entstammt der sogenannten Metagenetik, die besonders im amerikanischen und englischen folkish Asatrú Anklang findet und im Besonderen vom Amerikaner Steve McNallen, dem Gründer der Asatru Folk Assembly vertreten wird (vgl. Gardell 2003: 269-273; Gardenstone 2003: 37). Das Adjektiv »völkisch« findet also auch hier seine Bedeutung nicht im Sinne von volkstümlich oder gebräuchlich, sondern steht in der Tradition der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit dem Gedanken an eine Volks- bzw. Rassenzugehörigkeit in Verbindung. Somit werden unter dem Begriff der völkischen Astarú auch die hier beschriebenen Gruppen der 1950er bis 80er Jahre gefasst, die sich in einer direkten Nachfolge völkischer Gemeinschaften sehen bzw. völkisches und rassenideologisches Gedankengut in ihre Lehren integrieren und sich zudem der Asatrú zugehörig verstehen. Natürlich deckt sich diese Zuschreibung nicht zwangsläufig mit der Selbstbeschreibung der Gemein-

26 Für den US-amerikanischen Raum vgl. Gardell (2003): 258f und Krasskova (2005): 22-26; im deutschsprachigen Raum u.a. aufgegriffen bei Steinbock (2004): 233f. 203

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schaften, so sieht sich die GGG zwar in der Nachfolge der dezidiert völkischen Germanischen Glaubensgemeinschaft von Ludwig Fahrenkrog, distanziert sich jedoch öffentlich von völkischen und rassistischen Lehren. Für die universalistische Ausrichtung der Asatrú gilt die Ablehnung genetischer bzw. ethnischer Vorgaben für die Zugehörigkeit zum neugermanischen Heidentum als kennzeichnend. Im Sinne eines »toleranten« Heidentums könne sich jeder Asatruar nennen, der die Götter des germanischen Pantheons verehrt und sich die mit der Asatrú verbundenen ethischen Aspekte zu eigen macht (vgl. Gardenstone 2003: 39). Einer ‚ethnischen Zulassungsbeschränkung‘ widerspricht ihnen zufolge der Tatsache, »dass unsere Vorfahren in solchen Kategorien überhaupt nicht gedacht haben« (Peters, Tim/Eldaring e.V. 2007). Einige Gemeinschaften haben im Zuge ihrer Vereinstätigkeiten Projekte gegründet, die eine Aufklärung über völkisches und ariosophisches Gedankengut zum Ziel haben und im Zuge derer eine äußerst kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Gemeinschaften Raum findet.27 Auffällig für neugermanisch-heidnische Gruppen der universalistischen Richtung ist die Ablehnung hierarchischer Strukturen. Man organisiert sich in regionalen Gruppen, die zwar einem übergeordneten Verein angehören, in ihren Entscheidungen und Handlungen von diesem jedoch im Rahmen der gemeinsamen Vereinssatzung unabhängig sind (vgl. Eldaring e.V. (2007): »Das Selbstverständnis des Eldarings«). Solche regionalen Gruppen finden sich in Form von Stammtischen, die Mitgliedern und Interessierten die Möglichkeiten eines lockeren Austausches bieten sollen. Zudem gibt es sogenannten Blótgemeinschaften, die sich als Ritualgemeinschaften verstehen und insbesondere zu den größeren Jahreskreisfesten zusammenkommen. Eine dritte Form sind die Sippen, unter denen neben den als »natürliche Sippen« bezeichneten Familien- und Verwandtschaftsverhältnissen auch Eidgemeinschaften verstanden werden. Zusätzlich zu diesen Strukturen kann es sogenannte Herdwarte geben, deren Funktion die eines Ansprechpartners innerhalb einer bestimmten Region ist. Als solche sollen sie über Ziele, Strukturen und Inhalte des Vereins aufklären und die Aktivitäten in der jeweiligen 27 Besondere Ausmaße erlangte das sogenannte Ariosophieprojekt des Rabenclan e.V. aus dem Jahre 2005, das sich hauptsächlich der Auseinandersetzung mit dem Odinic Rite Deutschland (heute Verein für germanisches Heidentum) widmet (vgl. Kühne-Spicer, Berna/Rabenclan 2005: »Der Odinic Rite Deutschland«) Unter dem Titel »Des »listigen Guidos«Erben – Die Ariosophie von den Anfängen bis zum Armanenorden« veröffentlichte die Gruppe Nornirs Ætt erstmals im Jahr 2000 einen umfangreichen Artikel zu ariosophischen Traditionen in der deutschen »Heidenszene« (vgl. Martin M./Nornirs Ætt 2008: »Des »listigen Guidos« Erben«). 204

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Region unterstützen, ihnen wird jedoch nicht die Rolle einer religiösen Autorität zugeschrieben, so dass es innerhalb des Vereins bzw. der Blótgemeinschaften kein Amt gibt, das mit dem eines Goden zu vergleichen wäre. Die Leitung eines Rituals bzw. eines Blóts kann hier jedes Gruppenmitglied übernehmen, die Wahl dieser Person ist der Ritualgemeinschaft überlassen. Für die Ritualstruktur werden häufig Grundlagen definiert, die aus drei aber auch bis zu neun Teilen bestehen können und grob eine Eröffnung, die Opferung selbst und die Aufhebung des Blóts beinhalten. Ebenfalls festzustellen ist, dass man sich innerhalb neuerer und als universalistisch bezeichneter Gruppen äußerst kritisch mit den zur Verfügung stehenden Quellen zur altgermanischen und neugermanisch-heidnischen Religion auseinandersetzt und die gegebenen Rezeptionsstränge und deren historischen Zusammenhänge reflektiert.28 Vereinzelt ist sogar ein Zurücktreten religiöser Aktivitäten hinter Diskussionen und kritische Reflexionen der als fraglich empfundenen Quellen und Themen zu beobachten. Auch die eigenen Interpretationen und Neuschöpfungen innerhalb der eigenen religiösen Praxis werden als solche bewusst reflektiert und diskutiert. Somit versteht sich die Mehrheit von ihnen nicht als Zugehörige eines authentischen Heidentums, sondern als Zugehörige einer »Rekonstruktion der vorchristlichen Religion Europas und Skandinaviens« (Eldaring e.V.: »Willkommen beim Eldaring«). Ein neugermanisch-heidnischer Verein, in welchem manche Mitglieder sich als einem universalistischen neugermanischen Heidentum zugehörig bezeichnen, andere eine solche Kategorisierung dagegen ablehnen, ist der 2001 gegründete Eldaring e.V. Die Mitglieder des Eldaring verstehen Asatrú zwar per Definition als eine ethnische Religion, jedoch in dem Sinne, dass sie ursprünglich Produkt einer bestimmten Kultur ist und nicht in dem Sinne, dass sie Menschen einer bestimmten ethnischen Herkunft vorbehalten ist. Neben der Wiederbelebung und Ausübung der »vorchristlichen Religion germanischer Völker« geht es den Mitgliedern des Vereins laut Satzung vor allem darum, eine Art Austausch- und Kommunikationsplattform für Anhänger der Asatrú zu bieten (vgl. Eldaring e.V. 2001/2006/2008: »Die Satzung des Eldaring e.V.«). Dabei soll in der Öffentlichkeit das Bild einer toleranten und nicht politisch motivierten heidnischgermanischen Religion vertreten und bekannt gemacht werden. Dement28 Zu diesem Zweck werden verstärkt wissenschaftliche Arbeiten rezipiert und auch im Rahmen von Internetplattformen rezensiert und diskutiert. Zudem eignet man sich Kenntnisse des Altisländischen sowie der modernen skandinavischen Sprachen an und verfolgt auch die Auseinandersetzung mit dem Neugermanischen Heidentum im skandinavischen und angelsächsischen Raum (vgl. www.eldaring.de Literatur) 205

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sprechend undogmatisch gestaltet sich der Umgang der einzelnen Vereinsmitglieder mit den z.T. stark divergierenden religiösen Vorstellungen. Mit dem Begriff tribalist Heathens werden u.a. von der bekennenden Neuheidin Galina Krasskova diejenigen Gruppen umschrieben, in denen die Familie und die Gemeinschaft als bindende Kräfte angesehen werden, die auch das Leben des Einzelnen bestimmen (vgl. Krasskova 2005: 22). Familie und Gemeinschaft werden dabei im Sinne von geschlossenen Stammesverbänden verstanden, in denen die einzelnen Individuen voneinander abhängig sind und meist eine hierarchische Struktur herrscht. Die strikte Einhaltung der Sitte der Ahnen (altengl. thew) und der rechten Ordnung bzw. des rechten Handelns (engl. frith) stehen bei diesen Gemeinschaften im Vordergrund, dazu gehört auch die Ehrung der Götter, das Opfer und das Begehen der heiligen Feste. Auch im deutschsprachigen Raum sind einige Asatrú-Gemeinschaften vertreten, die als unter diese Definition Krasskovas fallend angesehen werden, bzw. ihren Glauben selbst als »ethnisches Heidentum« bezeichnen. Sie würden dann eine Art Zwischenposition zwischen dem völkischen und dem universalistischen Asatrú einnehmen. Begriffe wie »Stammeszugehörigkeit« oder »Stammesverband« werden von ihnen zumeist vermieden und durch die Bezeichnungen ethnos oder engl. Folk ersetzt. Sie sehen sich insofern meist nicht als Stammesgemeinschaften, sondern als ethnische Gemeinschaften (vgl. Steinbock 2004: 232-234). Hier findet sich also neben dem Verständnis völkischer und universalistischer Gruppen eine dritte Definition des Begriffs ethnisch. Nach Ansicht der tribalistischen bzw. ethnischen Asatrú kommt es, im Gegensatz zur völkischen Asatrú, also nicht allein auf die individuelle Abstammung von germanischen Vorfahren an, um sich als zugehörig zum germanischen Heidentum zu betrachten, sondern Bedingung sei v.a. die Zugehörigkeit zum ethnos, zum »Verband vor Ort« (vgl. Steinbock 2004: 234). Dieser Verband ergebe sich daraus, dass die Götter einer bestimmten Natur und einem bestimmten Land angehören. Die Menschen, die ebenfalls dieser Natur und diesem Land angehören, gehörten somit auch deren Göttern an, die in der Natur sind. In diesem Sinne wird auch hier das Christentum als eine Religion fremder Götter abgelehnt. Ein Verein, der sich weder der völkischen noch der universalistischen Richtung der Asatrú zugehörig sieht und seinen Glauben als eine »ethnische Naturreligion« versteht, ist der 1995 gegründete Verein für Germanisches Heidentum e.V. (VfGH). Seinem Ewart, seinem Hauptverantwortlichen für das Ritualwesen, Fritz Steinbock, zufolge, habe jede heidnische Religion einen ethnischen Charakter und könne »als Angehörigkeit zwischen Land, Volk und Göttern eben nur die Religion 206

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der Leute sein, die einem entsprechenden Verband angehören« (Steinbock 2004: 234). Ausgeschlossen wird hier also, dass jeder Mensch überall auf der Welt das germanische Heidentum ausüben kann. Dem widerspreche der ethnische Charakter jeder heidnischen Religion und die naturreligiöse Erfahrung, dass es überall andere Götter gibt. »Mit Göttern, die weder die Götter meiner Heimat noch meiner Ahnen noch meiner Gemeinschaft sind, verbindet mich nichts – es sei denn rein subjektiver Glaube, ein bloßes Gefühl oder eine Beziehung, was immer das ist. Für das Heidentum ist es auf jeden Fall zu wenig.« (Steinbock 2004: 234)

Vom Neugermanentum der Vorkriegszeit grenzt sich der VfGH ebenso ab, wie von anderen »germanischen Gruppen« der Gegenwart, die nicht »ernsthaft an einer authentischen Erneuerung der traditionellen Religion unserer Vorfahren interessiert sind« (Steinbock 2004: 218). Die germanische Religion, so Steinbock, sei die »[...] indigene (eingeborene) Naturreligion der germanischen Völker Nordund Mitteleuropas, die sich aus den religiösen Erfahrungen hier heimischer Menschen in Einklang mit der Natur ihres Landes organisch entwickelt hat. Als Naturreligion beruht [sie] auf der Heiligkeit der Natur« (Steinbock 2004: 221).

Der VfGH orientiert sich eigenen Angaben zufolge grundlegend an der Edda und anderen Teilen der nordischen Überlieferung und nimmt das Brauchtum seines eigenen Landes in seine rituelle Praxis auf (vgl. Steinbock 2004: 234). Erstmalig finden sich beim VfGH sogenannte Religiöse Dienste. Anhand dieser Dienste soll all denen, »für die der germanisch-heidnische Kontext wichtig bei der Gestaltung ihres persönlichen Lebensweges ist« (VfGH/www.vfgh.de: »Religiöse Dienste«), die Möglichkeit geschaffen werden, eine Zeremonie für verschiedene Anlässe zu buchen. Diese wird dann unter Rücksprache von »BlótLeuten« auf der Basis des neunteiligen Ritualaufbaus des VfGH gestaltet.

Zusammenfassung Folgende Beobachtungen lassen sich nach diesem hier gegebenen Überblick festhalten: Betrachtet man die Entwicklung des Feldes des Neugermanischen Heidentums seit dem 2. Weltkrieg, so können grob drei Ausdifferenzie-

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rungsphasen erfasst werden, die stark geprägt sind von jeweils unterschiedlichen Konstruktionsprozessen der eigenen Religiosität. So stehen die Gemeinschaften der ersten Phase explizit in einer ariosophischvölkischen Tradition, positionieren sich selbst in dieser Tradition und unterhalten aufgrund ihrer gesellschaftspolitischen Ideologie eine Verbindung zur rechtsradikalen Szene. In den 1970er und 80er Jahren ändern sich zunehmend die Bezugnahmen bei der Konstruktion der eigenen Religiosität. Zusammen mit Elementen dem Bereich Esoterik/New Age und vermeintlich keltischer und schamanistischer Traditionen werden Themen der Ökologiebewegung in die eigenen Glaubensvorstellungen integriert und die eigene Religion wird im Sinne einer der Landschaft eigenen »Naturreligion« verstanden. Zwar finden sich weiterhin personelle und ideologische Bezüge zu einem völkisch-ariosophisch geprägten Neugermanischen Heidentum, es kann jedoch nicht zwangsläufig von solchen ausgegangen werden, zumal die Gemeinschaften vermehrt versuchen, sich inhaltlich von ariosopischem und/oder völkischem Gedankengut zu distanzieren. In einer dritten Phase, die seit den 1990er Jahre zu beobachten ist und bis in die Gegenwart anhält, entfernen sich die Gemeinschaften des Neugermanischen Heidentums in ihren Konstruktionsprozessen zunehmend vom deutschsprachigen Raum und orientieren sich an Entwicklungen, die in den angelsächsischen Ländern, den USA und Skandinavien einsetzten. So kommt es zu einer Selbstpositionierung des eigenen Glaubens innerhalb der sogenannten Asatrú-Religion. Mit dieser Entwicklung einher gehen noch weitreichendere Ausdifferenzierungen innerhalb des Feldes: Während sich zunehmend die bereits in den 1970er und 80er Jahren entstandenen Gemeinschaften (u.a. auch die in einer völkisch-ariosophischen Tradition stehenden) die Bezeichnung als Asatrú-Gemeinschaft zunutze machen, in ihren eigentlichen Ausrichtungen jedoch wenig ändern, entstehen u.a. unter Rückgriff auf skandinavische und angelsächsische Vorbilder Gemeinschaften, die ein »offenes« Neugermanisches Heidentum vertreten möchten, das sich von rassenideologischen und ariosophischen Ideologien abgrenzt. Mit diesen Neuorientierungen einher geht auch eine Auflösung exklusiver Strukturen nach außen hin (z.B. einer ‚ethnischen Zulassungsbeschränkung‘) sowie ein Abnehmen innerer Hierarchiestrukturen, die in früheren Gemeinschaften z.T. zu esoterische Einweihungssystemen führten. Unter anderem aufgrund geringer Hierarchiestrukturen, bis hin zu deren weitgehenden Auflösung, kommt es im Zuge der hier beschriebenen Ausdifferenzierungen auch zu einer offeneren Gestaltung der Ritualpraxis. Dies geschieht auch unter Rückgriff auf neuere wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit der altgermanischen und keltischen Religionsgeschich208

NEUGERMANISCH-HEIDNISCHE RELIGIOSITÄT

te sowie einem vermehrten Verständnis für die Quellenproblematik der altnordischen Literatur. Ebenfalls ist eine starke publizistische Tätigkeit, die aus dem Feld selbst hervorgeht, zu verzeichnen, die sich vorrangig der eigenen Ritualpraxis und einer Auseinandersetzung mit der nordischen Mythologie widmet. Abschließend festzuhalten ist, dass die verstärkte Auseinandersetzung insbesondere mit der skandinavischen Asatrú, einhergeht mit einer Betonung der Suche nach einer individuellen religiösen Identität. Der für die 1960er bis 80er Jahre diagnostizierte Wunsch nach Überwindung der einheitlich erfahrenen Krise der industrialisierten Gesellschaft wird also auch in diesem Segment von europäischer Religionsgeschichte29 abgelöst durch die Suche nach einer individuellen religiösen Erfahrung, die als Heil bringend verstanden wird (vgl. Steinbock 2004: 225). Die gerade in den letzten Jahrzehnten entstandene Vielfalt innerhalb des Neugermanischen Heidentums spiegelt sich in einer Vielzahl verschieden organisierter Vereine und Gemeinschaften wieder, die auch untereinander um eine Abgrenzung ihrer Inhalte bemüht sind. Diese Vielfalt bedingt eine neue Herangehensweise bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Neugermanischen Heidentum. Die Deskriptionsmuster der 1980er und 90er Jahre können nicht mehr unreflektiert auf rezente neugermanisch-heidnische Gemeinschaften angewandt werden, sondern es bedarf einer subtileren Betrachtung der Ausdifferenzierungsprozesse, die sich innerhalb des Feldes des Neugermanischen Heidentums ereignet haben.

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»Praying for the Death of Mankind«. Ein religionswissenschaftlicher Blick auf die Schweizerische Black Metal Szene ANNA-KATHARINA HÖPFLINGER

1 » R e m i n d h e l l a n d c o n q u e r ! « 1: E i n l e i t u n g »Minarette? Natürlich bin ich gegen den Bau von Minaretten. Ich bin ja auch gegen Kirchtürme.«2 Der 20jährige Student Pazuzu3 hat bei dieser Aussage seine Arme vor der Brust verschränkt. Seine langen Haare hat er im Nacken zusammengebunden, aber ganz zu zähmen sind sie nicht. Der junge Mann hat ernst über die Black Metal (BM)-Szene, in der er seit mehreren Jahren verkehrt, berichtet, doch immer wieder ist auch eine ironische Distanz zu seinen eigenen Aussagen durchgeschimmert. 1 2

3

Liedtitel der Schweizer Gruppe FORGOTTEN CHAOS vom Album Victorious Among the Damned (2006). Antwort des Black Metallers Pazuzu auf meine Frage nach seiner Position bezüglich der in der Schweiz in jenem Jahr aktuellen MinarettbauDiskussion im Smalltalk nach dem offiziellen Interview im Oktober 2007 (Übersetzung aus dem CH-Deutschen: Höpflinger). Da ich die LiveInterviews auf Schweizerdeutsch geführt habe und durch die Übersetzung ein Teil der Aussagekraft verloren geht, werde ich im Folgenden v.a. Zitate aus übers Internet auf Schriftdeutsch gehaltenen Gesprächen zitieren. Black Metal Fans verwenden für ihr szeneninternes Leben, und zwar im direkten Kontakt mit Leuten ebenso wie im Internet, in der Regel Pseudonyme. Um die Anonymität zu wahren, habe ich diese geändert; jedoch war ich darauf bedacht, Namen zu finden, die auf ähnliche semantische Felder (Religiöse Elemente; Kriegsdarstellung; Naturverbundenheit) verweisen wie die selbstgewählten. Pseudonyme werden im Folgenden kursiv, Bandnamen in Kapitälchen gedruckt. 215

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Diese Mischung habe ich bei Black Metal Fans des Öfteren angetroffen. Die Radikalität gewisser Aussagen wird oftmals gleichzeitig durch ein Grinsen oder eine absurde Zuspitzung wieder zurückgenommen. Sowohl Pazuzus Minarett-Kirchturm-Aussage als auch der im Titel dieses Beitrags erscheinende Albumname einer gemeinsamen Veröffentlichung der Schweizer Musikgruppe KRIGAR sowie der französischen Band BLACKGOD4 können als typische Beispiele für die in der Black Metal Szene zu findenden Argumentationslinien gelten. Es lassen sich darin Zuspitzungen gängiger Meinungsmuster und Umwertungen üblicher Normen finden. Dabei bildet ein komplexes und intermedial stattfindendes Wechselspiel zwischen Ablehnung, Aufnahme und Umdeutung semantischer Verweise auf Inhalte aus unterschiedlichen religiösen Traditionen eine Basis der Black Metal Kultur. Einerseits zeichnet sich die BM Szene durch eine Rezeption religiöser Motive vor allem aus dem okkultistisch-esoterischen Raum des beginnenden und fortschreitenden 20. Jahrhunderts aus. Dies zeigt sich beispielsweise in der Verbindung mit satanisch-okkultistischen Gemeinschaften wie dies bei der Schweizer Black Metal Musikgruppe MOUN5 TAIN KING der Fall ist, die durch ihren Initiator Satorius eine enge Relation zu der religiösen Gemeinschaft »Schwarzer Orden von Luzifer« unterhält,6 eine Verbindung, die auf der Homepage der Band zur Charakterisierung (und Abgrenzung) der Musikgruppe verwendet wird. Dort ist zu lesen: »MOUNTAIN KING ist eine der berüchtigsten Black Metal-Bands!! Fast jeder europäische Vertrieb, der von Muspell Records angeschrieben und mit Promo CDs beliefert wurde, erteilte Muspell Records eine Absage!!! Als Begründung wurde angeführt, dass zwar die Musik von MOUNTAIN KING sehr zu gefallen wisse, man aber einem fanatischen und irren Sektenführer wie Satorius auf gar keinen Fall eine Plattform bieten wolle!!!«7.

Auch wenn die meisten Mitglieder von Black Metal Musikgruppen nicht wie Satorius einer satanischen Gemeinschaft angehören, zeigt sich in der Black Metal Szene eine grundlegende Affinität für die Aufnahme religiöser Elemente. Dies wird beispielsweise in der folgenden, vom Sänger der irischen Band PRIMORDIAL verfassten Definition von Black Metal 4 5 6 7

BLACKGOD/KRIGAR, Praying for the Death of Mankind (EP 2003). Hierbei handelt es sich um ein vom Akteur selbstgewähltes Pseudonym. Siehe www.mountainking-official.com/ (13. 7. 2009) und www.schwarzerordenvonluzifer.org/ (17. 10. 2009). www.mountainking-official.com/hall-index.htm (zuletzt gesehen am 13. 7. 2009).

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deutlich, in der religiöse Elemente dieses Musikgenres als Unterscheidungsmerkmal zu anderen Sparten des Metals verwendet werden: »Black Metal basierte immer auf einer spirituellen oder idealistischen Sichtweise. Die Musik war einfach nur Metal, […] aber die Texte und die generelle Ästhetik mussten satanisch, esoterisch, okkult oder gar religiös sein, um als »orthodox« durchzugehen.« (Nemtheanga 2009: 69).

Aus unterschiedlichen religiösen Traditionen aufgenommene Elemente gehören zum festen Repertoire der Repräsentation von Black Metal Bands, man denke beispielsweise an die vielfach zu findende Rezeption antiker Gottheiten bei der Benennung von Musikgruppen wie MARDUK (S), KERBEROS (NL), ASAG (CH) oder ASTARTE (GR) oder an die Verwendung von Motiven aus der christlichen Johannesapokalypse in Liedtexten und auf Abbildungen. Ein plakatives Beispiel für eine enge Anlehnung an sogenannte esoterische Traditionen des beginnenden 20. Jhs findet sich in der neusten Veröffentlichung der sich selbst als »heliokratisch«8 bezeichnenden Schweizer Musikgruppe MENEGROTH mit dem Titel Gazourmah. Auf diesem Album ist ein Lied namens »Mithras Initiation« zu finden, dabei wird als Autor des Textes auf den faschistischen Esoteriker Julius Evola (1898–1974) sowie die Gruppe von Ur, einen Zusammenschluss von italienischen Esoterikern in den späten 1920er Jahren, verwiesen. Die Relation zu religiösen Hintergründen kommt jedoch nicht nur auf der textlichen Ebene mit Zeilen wie »diese Mysterien, die der große Gott Sonne-Mithras mir hat geben lassen von seinem Erzengel«9 zum Tragen, sondern wird auch im auditiven Teil des Liedes durch die Musik sowie einen Sprecher inszeniert und gleichzeitig im Booklet visuell umgesetzt, sind doch unter anderem Fotografien der Band bei einem selbst inszenierten Mithras-Ritual zu sehen. Es lassen sich hier also interessante intermediale Wechselwirkungen feststellen. All diese Beispiele zeigen, dass im Black Metal eine durchaus intensiv zu nennende Beschäftigung mit religiösen Elementen zu finden ist. Andererseits und gleichzeitig sprechen sich die in dieser Szene bewegenden Akteure vielfach explizit gegen religiöse Traditionen, vor allem gegen monotheistische Systeme, aus und verwenden zum Teil die aufgenommenen religiösen Inhalte geradezu für antireligiöse Aussagen (vgl. Langebach 2007: 65ff.). Ein Beispiel hierfür ist die Verwendung des aus christlichen Traditionen übernommenen Petruskreuzes, das in BandLogogrammen integriert, auf Tonträger oder Kleidung gedruckt für die

8 9

Siehe MENEGROTH, Gazourmah, Mittelblatt. MENEGROTH, Gazourmah, Booklet, Mittelseite. 217

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Markierung einer antichristlichen Einstellung verwendet wird (siehe Abb. 1); Pazuzu stellt seine Interpretation dieses Zeichens in einem EMail folgendermaßen dar: »Verkehrtes Kreuz: Verspottung des Christentums. Antichristliche Einstellung« (E-Mail vom 7. 10. 2007) und macht damit deutlich, dass er das Petruskreuz zur Präsentation seiner antichristlichen Einstellung verwendet. Das komplexe Wechselspiel zwischen Rezeption religiöser Elemente und gleichzeitiger Ablehnung religiöser Traditionen soll im folgenden Beitrag mit Fokus auf einen Teil der Schweizerischen Black Metal Szene genauer betrachtet werden. Religion wird im hier getätigten Zugang als Kommunikationssystem verstanden. In Anlehnung an Stolz ist Religion durch seine Funktion der Repräsentation der Welt anhand der Konstituierung einer umfassenden Orientierung charakterisierbar, wobei die religiösen Probleme an der Grenze zwischen dem für den Menschen kontrollierbaren und dem für ihn unkontrollierbaren Raum angesiedelt sind (vgl. Stolz 2001: 33; Stolz 2004: 103–116): »Überall steht der Mensch vor der Aufgabe, seine Welt, die offen und nicht festgelegt ist, zu ordnen und zu kontrollieren; überall ist er mit Mächten konfrontiert, die sich dieser Kontrolle entziehen (seien es nun Mächte der Natur, einer entgegengesetzten politischen Ordnung, des unkontrollierbaren kontingenten geschichtlichen Ablaufs oder auch innerpsychischer Erfahrung); an dieser Stelle sind die religiösen Probleme angesiedelt. Es geht darum, dem Bereich des Unkontrollierbaren eine Form zu geben, mit der sich umgehen lässt. Dabei wird einerseits Unkontrollierbares in die Kontrolle übergeführt, andererseits aber doch wieder belassen; Religion leistet also eine gleichzeitige Darstellung der unkontrollierbaren lebensbestimmenden Mächte und der unkontrollierbaren Lebensordnung, die darin gründet. Dadurch ergibt sich eine grundlegende und umfassende Orientierung des Menschen« (Stolz 2001: 33).

Stolz’ Definition eignet sich m.E. trotz ihres Fokus auf religionsgeschichtliche Prozesse besonders gut für den Blick auf Black Metal, da die im Black Metal behandelten Themenkreise (Tod, Krieg, negative Emotionen, wilde Natur, u.a.) sich in den von Stolz propagierten Zwischenbereich, angesiedelt zwischen dem für den Menschen alltäglichkontrollierbaren und dem unkontrollierbaren-transzendenten Raum, einordnen lassen. Zunächst wird in Kapitel 2 des vorliegenden Beitrags eine grundlegende Charakterisierung der Black Metal Kultur vorgenommen. Diese stützt sich auf zwei kleine empirische Studien, die ich im Herbst 2000/Frühjahr 2001 und im Herbst 2007/Frühjahr 2008 in der Deutschschweiz durchgeführt habe, wodurch auch ein diachroner Einblick in die Entwicklung der Szene ermöglicht wird. Für den vorliegenden Beitrag 218

BLICK AUF DIE SCHWEIZERISCHE BLACK METAL SZENE

werde ich mich jedoch nur auf die Untersuchungsmaterialien stützen, die den sogenannten harten Kern der deutschschweizerischen Black Metal Szene betreffen.10 Mit diesem Terminus soll im Folgenden der Teilbereich der Szene bezeichnet werden, der den Black Metal aktiv mitgestaltet. Es handelt sich dabei vorwiegend um Szenegänger und Szenegängerinnen, die selbst Musik machen, Konzerte organisieren oder den Black Metal anhand von Fotografien, bzw. gestalterischer Darstellungen11 prägen. Dieser Fokus kann damit begründet werden, dass sich der harte Kern bezüglich der Verwendung religiöser Verweise und bezüglich der sich in der Szene bewegenden Akteure als recht stabil erwiesen hat, während sich in den Randbereichen der Black Metal Szene starke Fluktuationen, v.a. personeller Art, beobachten lassen. Da neben der Musik im Black Metal insbesondere auch die Kleidung eine wichtige Rolle spielt (vgl. Höpflinger 2008), sollen im 3. Kapitel des vorliegenden Beitrags Aufnahme- und Abgrenzungsstrategien der Black Metal Szene am Beispiel des vestimentären Handelns (vgl. König 2007) etwas genauer betrachtet werden. Am Ende dieses Aufsatzes wird schließlich der Frage nachgegangen, inwiefern Black Metal als (Neue) religiöse Bewegung gelten kann, bzw. aus welcher Sichtweise sich eine solche Einordnung als nützlich erweisen kann.

2 » U n i t e d f o r t h e B l a c k M e s s i a h « 12: Eine historische Charakterisierung der Black Metal Szene Black Metal ist in den 1980er Jahren entstanden und wurde in den 1990er Jahren populär (vgl. Chaker 2007: 130f; Langebach 2007: 36– 59; Moynihan/Søderlind 199813). Einerseits wird mit dem Begriff Black Metal eine Musikrichtung bezeichnet, die seit Ende der 1990er Jahre großräumig vermarktet wird, andererseits eine Szene, die um diese Mu10 Der emisch verwendete Begriff für dieses Feld lautet Underground/Untergrund. Die damit implizierte (und vom Untergrund auch propagierte) Verborgenheit des Feldes sowie die Trennung in die horizontal angeordneten Ebenen unten-oben ist jedoch für den hier getätigten Blick unpassend, weshalb das Bild eines Kerns mit darum angesiedelten, miteinander verschachtelten Sphären vorgezogen wird. 11 Siehe z.B. www.demonthrone.ch (14. 6. 2009). 12 Titel eines Lieds der Schweizer Band ATRITAS, zu hören auf dem Album Rising of Eternal Dusk (1999). 13 Das Buch von Moynihan/Søderlind wird in der Szene weitläufig rezipiert und zur Konstitution einer Identität verwendet. 219

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sikrichtung herum angesiedelt ist (vgl. Langebach 2007: 36). Beides lässt sich jedoch nicht strikt voneinander trennen, wie die BMMusikerin Vicecountess V-itchfuck14 darlegt, indem sie die Musik zum Ausdruck ihres Weltbildes erklärt: »Black Metal ist für mich die Musik, die meiner Individualität und meiner Weltanschauung eine musikalische Stimme verleiht« (E-Mail vom 9. 6. 2009). Die in der Sekundärliteratur zu findende gängige Kategorisierung für den Black Metal ist jene als »Jugendkultur«, beziehungsweise »Jugendszene« (vgl. Chaker 2007; Höpflinger 2008; Vogelgesang 1998; Wanzek 2007). Dabei ist zu beobachten, dass von gewissen Autoren eine Konnotation zu einem mit der Bezeichnung Jugend-, Neo- oder KulturSatanismus versehenem Feld gezogen wird (vgl. Grandt/Grandt 1995; Mallinkrodt-Neidhardt 2002; zum Problem, jedoch mit Fokus auf Heavy Metal auch Schäfers 1999: 61f.).15 Trotz einer gewissen Unschärfe des Begriffs »Jugendszene« (Knoblauch 1996: 65; vgl. Schneider 2002) soll diese Kategorisierung im Folgenden aufgenommen werden. »Jugend« wird dabei nicht als klar abgegrenzte Alterskategorie, sondern im Sinne einer Lebenshaltung, die sich an auf eine bestimmte Generation projizierten Lebensidealen orientiert, verstanden. Bezüglich der Verwendung des zweiten Wortteils werde ich mich an den Szenebegriff von Hitzler, Bucher und Niederbacher halten: Szenen in diesem Sinn sind »thematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen, die bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren und weiterentwickeln« (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001: 20).

Bei der Konstituierung des Black Metals, verstanden als Musik und Szene, spielten vor allem die skandinavischen Länder, allen voran Norwegen, eine bedeutende Rolle (vgl. Langebach 2007: 41–53; Moynihan/Søderlind 1998: 33–102; 39–44). Es überrascht deshalb wenig, dass sich auch die heutige Black Metal Szene zum Teil nach Skandinavien orientiert präsentiert (vgl. Langebach 2007: 55–59).16 Unterschiedliche kriminelle Taten, unter anderem Kirchenbrandstiftungen und Morde, 14 Vicecountess V-itchfuck ist ein von der Befragten selbst gewähltes Pseudonym. 15 Diese Verbindung wird unten in Kap. 5 wieder aufgenommen werden. 16 Auch in der Schweiz gibt es Musikgruppen, die sich als Pagan oder Heathen Black Metal bezeichnen und sowohl in visuellen als auch auditiven Medien Verweise auf semantische Felder vorchristlicher skandinavischer Religionsformen vornehmen. Siehe z.B. die mittlerweile aufgelöste Band DEMON IN VEILS: www.demon-in-veils.ch.vu/ (14. 6. 2009). 220

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förderten in den 1990er Jahren die Bekanntheit der Black Metal Szene und damit auch der Musik (vgl. Langebach 2007: 45ff.; Moynihan/Søderlind 1998: 77–202; 241–266). Auch in der Schweiz lassen sich Verbrechen aus diesem Umfeld finden. Das Bekannteste ist die in den Medien prominent behandelte Demolierung des Friedhofs Friedental in der Stadt Luzern am 21. Juli 2001 durch fünf Black Metal Fans.17 Entsprechend der Entstehungsländer zeigt sich auch die Verbreitung der BM Szene: Sie hat ein starkes Standbein in den skandinavischen Ländern und Mitteleuropa, etwas weniger auch in Osteuropa, während Südeuropa, Asien, der ganze amerikanische Kontinent sowie der Rest der Welt eine weitaus geringere Bedeutung spiel(t)en oder zumindest in der Schweiz weniger rezipiert werden (vgl. Langebach 2007: 58f., 62f.). In der Schweiz findet sich eine Szene, deren Umfang schwierig festzustellen ist. Befragte sind sich über Zahlenwerte nicht einig, in der Regel wird tendenziell untertrieben. Aussagen, es gäbe nur eine Handvoll richtiger Black Metal Fans, sind, wie ich in diversen Gesprächen sowohl in den Jahren 2000/2001 als auch 2007/2008 feststellen musste, üblich. Ein Befragter meinte mit ironischem Unterton sogar, es gäbe nur einen einzigen Black Metaller, nämlich ihn selbst (Interview vom 12. 2. 2008). Aufgrund meiner Felderfahrungen könnte der harte Kern vielleicht mit 400–600 Leuten angegeben werden. Die Grauzone der Personen, die diese Art von Musik hören, ihre Identität aber nicht in erster Linie über den Black Metal definieren, ist jedoch größer (vgl. Langebach 2007: 61). Treffpunkte für Szenegänger sind vor allem Konzerte, im Sommer werden jedoch auch Grilltreffen und Ähnliches organisiert. Ein großer Teil der szeneinternen Kommunikation findet heute übers Internet, beispielsweise über Plattformen wie dem Forum auf www.schwermetall.ch, statt. Im Hinblick auf eine soziodemographische Charakterisierung der Schweizer Black Metal Szene kann die Gruppe der 15–45jährigen Män-

17 Siehe z.B. Stamm, Tages-Anzeiger 27. 7. 2001, 2; Schmid, Reformierte Nachrichten 27. 7. 2001, zu finden auf: www.ref.ch/rna/meldungen/5936.html (8. 6. 2009) sowie eine längere Version desselben Artikels auf: www.relinfo.ch/satanismus/friedhof.html (8. 6. 2009); swissinfo.ch vom 23. 7. 2001 mit dem Titel »Ein Zeichen wachsender Frustration«: www.swissinfo.ch/ger/archive.html?siteSect=883&sid=766021&ty=st (8.6.2009) und vom 26. 7. 2001 mit dem Titel »Grabschändung aufgeklärt«: www.swissinfo.ch/ger/archive.html?siteSect=883&sid=769093& ty=st (8. 6. 2009); aus emisch-satanischer Perspektive: Lex Satanicus’ Umfrage mit Leserkommentaren: www.lexsatanicus.de/pages/themen_ grabsch_luzern.htm (8. 6. 2009). 221

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ner als szenetragend identifiziert werden.18 Der Frauenanteil bei den Events beträgt m.E. etwa 30%;19 der von Musikerinnen und aktiven Organisatorinnen der Szene ist weitaus kleiner (vgl. Chaker 2007). Nur in geringem Maß in der Black Metal Szene aktiv sind auch Personen mit Migrationshintergrund (vgl. Langebach 2007: 62f.). Kennzeichnend für eine Jugendkultur im oben genannten Sinn ist auch für die Black Metal Szene, dass sie kaum zentral organisiert ist. Vielmehr scheint der Aufbau der Szene einen Netzwerkcharakter einzunehmen, bei dem einzelne Akteure Angebote nach Belieben wahrnehmen. Dennoch (oder möglicherweise genau deswegen) lassen sich komplexe Regeln und Codes zur Präsentation einer Zugehörigkeit beobachten. Diese äußern sich im vertretenen Weltbild, dem Benehmen, in der Kleidung sowie dem von interner Seite her geforderten Wissen über BM Musikgruppen und den BM Lebensstil. So zeichnet sich die Black Metal Szene durch eine hochgradige, bisweilen von emischer Seite als exklusiv dargestellte Integration der Szenegänger aus, wobei aber gleichzeitig eine polyvalente und in einem gewissen Rahmen individuelle Auslegung der im Black Metal vertretenen Anschauungen zu beobachten ist. In der szeneinternen Kommunikation lässt sich ein Diskurs über diese Doppelgleisigkeit feststellen: Die Szenegänger des harten Kerns präsentieren ihre Subkultur in der Regel als exklusiv. Dabei finden sich vielschichtige Diskussionen um die Frage, was einen richtigen Black Metal Fan ausmache.20 Gleichzeitig lässt sich, vor allem aufgrund neuer Medien wie dem Internet sowie aktueller technischer Mittel, wie z.B. vereinfachten musikalischen Konservierungsmöglichkeiten via Computer, in den letzten Jahren eine Öffnung der Szene beobachten. Die Black Metal Musik wird als kommerzielles Produkt vermarktet. Damit zusammenhängend ist es dank der größeren Verbreitung des Internets leicht geworden an Informationen über Black Metal heranzukommen, was auch immer jüngeren Personen eine Berührung mit der Szene ermöglicht.21 Diese Öffnung wird vom harten Kern gerne kritisiert, wobei die Kritik bisweilen in einer Idealisierung des früheren (»ursprüngli-

18 Langebach gibt das Altersspektrum in seiner Untersuchung mit 14–40 Jahren an (vgl. Langebach 2007: 62). 19 Langebach kommt auf 25–30% (vgl. Langebach 2007: 62). 20 Siehe die Aussagen der Szenegänger im vorliegenden Beitrag; unzählige Beispiele sind auch auf dem Schwermetall-Forum zu finden; vgl. die Rubrik »Metal Diskussionen«: www.schwermetall.ch/forum/forum12.php (14. 6. 2009). 21 Siehe z.B. die Plattform Encyclopaedia Metallum, auf der Daten zu MetalBands gesammelt werden: www.metal-archives.com (13. 7. 2009). 222

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chen«) BMs mündet.22 Gleichzeitig werden vom harten Kern Regulierungsmechanismen in Kraft gesetzt: Es findet sich beispielsweise immer häufiger die Herausgabe von Tonträgern in stark limitierter Auflage.23

3 » H e l v e t i s c h e r W i n t e r s t u r m « 24: Grundlegende Züge des Black Metal Weltbildes Für die von mir befragten Szenegänger nimmt der Black Metal eine umfassende Orientierungsfunktion ein, die in nahezu alle Lebensbereiche hineinreicht, was der BM-Musiker Falchion folgendermaßen auf den Punkt bringt: »bm ist nicht nur musik sondern auch eine lebenseinstellung« (Interview vom 10.6.2007, via E-Mail; vgl. Langebach 2007: 69). Dabei wird die Zugehörigkeit zu der Szene sowie ihre sinnstiftende Funktion biographisch begründet, wie im folgenden Zitat von Vicecountess V-itchfuck ersichtlich wird: »In einer schwierigen Lebenssituation habe ich im Black Metal die Kraft gefunden, die ich zur Meisterung der Umstände benötigte, da sich der Black Metal für die Verwirklichung des Einzelnen und für die Hinterfragung gängiger Moralvorstellungen und -vorschriften ausspricht« (E-Mail vom 9.6.2009).

Black Metal Fans stilisieren sich selbst oftmals als gewaltthematisierend, antireligiös, wobei vor allem der antichristlichen Inszenierung eine zentrale Position zukommt, zum Teil misogyn,25 außerdem gegen Kommerzialisierung und die gängigen gesellschaftlichen Moralvorstellungen gerichtet (vgl. Langebach 2007: 63–68; Dornbusch/Killguss 2005: 9). Dabei legen sie Wert darauf, in jeder Hinsicht als extrem und radikal zu gelten.26 Wanzek nennt diese Einstellung »eine teils von den 22 Dazu: www.jugendszenen.com/Blackmetal/Medien.html (9. 11. 2008); www.jugendszenen.com/Blackmetal/Facts&Trends.html (15. 11. 2008). 23 Siehe beispielsweise die Veröffentlichung WACHT, Fin cha'l Mound es Sfrachà (2008). Dazu zu lesen auf www.metal-archives.com/release. php?id=215487 (15. 6. 2009) »Originally released on Tape which is limited to 20 handnumbered copies. There is a special CD edition limited to 10 handnumbered copies.« 24 Albumtitel der Schweizerischen Band WALD von 1996. 25 Siehe z.B. die Diskussion zum Thema Black Metal und Frauen vom Januar 2008 auf www.schwermetall.ch/forum/ftopic10179.php (15. 6. 2009). 26 Man kann sich fragen, ob die zu beobachtende und in der medial vermittelten Öffentlichkeitsperspektive zum Teil prominent behandelte Hinwendung einzelner Szenegänger und Musikgruppen zu faschistischen und/oder nationalistischen Themen hier einzuordnen ist. Siehe dazu das aus emi223

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Massenmedien unterstützte, größtenteils jedoch selbst auferlegte und gepflegte Außenseiter-Rolle«.27 Diese Außenseiterrolle ist jedoch nur bedingt eine tatsächlich gelebte, sondern vor allem eine auf der emischen Perspektive propagierte, die zum Teil, wie Wanzek deutlich macht, von einer öffentlich-medialen Seite her zusätzlich gestärkt wird (siehe auch unten Kap. 5). Aus einer etisch-religionswissenschaftlichen Sicht verhält sich die Abgrenzung der Black Metal Szene sehr viel komplexer, wie im Folgenden dargelegt werden soll. Bei Befragungen unterteilen Szenegänger den Black Metal oftmals, und die folgenden Beispiele werden dies illustrieren, in eine auditive Ebene (Musik), eine visuelle Dimension (Kleidung, Gestaltung der Tonträger, Internetseiten, u.Ä.) und einen, in der emischen Sprache »ideologisch« genannten Bereich. Letzterer bezieht sich auf die individuelle Einstellung zum Black Metal sowie das hinter den beiden anderen Dimensionen stehende Weltbild. Ich will im Folgenden dieser Aufteilung folgen, jedoch nicht ohne darauf hinzuweisen, dass sich zwischen diesen Dimensionen komplexe intermediale Wechselbeziehungen feststellen lassen. So hat sich bei meinen Studien gezeigt, dass die Zugehörigkeit zum harten Kern weniger durch diese einzelnen Faktoren bestimmt ist als durch das richtige Mischverhältnis zwischen ihnen. Als grundlegend für eine Zugehörigkeit zum harten Kern der Black Metal Szene wird das Vorhandensein einer mit dem Black Metal Ideal stimmigen Weltanschauung betrachtet. Pazuzu umreisst dieses Weltbild folgendermaßen: »Schwarzmetall28 ist extrem, nicht nur musikalisch, sondern auch auf textlicher und ideologischer Ebene. Die negativen Kräfte werden glorifiziert«. Diese negativen Kräfte sind für ihn »unbequeme Dinge, vernichtende Dinge. Dinge von denen man schaudernd den Blick abwendet. Ein paar Beispielsbegriffe: Gewalt, Mörder, Krieg, Vergewaltigung, Tod, Krankheit, etc.« (Interview vom 7.10.2007, via EMail). Es zeigt sich hier eine duale Weltsicht mit einem klaren gut-böseSchema, wobei die Wertung, die gängigerweise mit einem solchen Schema verbunden ist, umgedreht wird. scher Perspektive (S. 10: »die Autoren dieses Buches gehörten bereits in den 1980er- [...] Jahren zur Metal-Szene«) verfasste Werk von Dornbusch/Killguss (2005). 27 www.jugendszenen.com/Blackmetal/Einstellung.html (15. 11. 2008) 28 Schwarzmetall ist nicht einfach die deutsche Übersetzung des Wortes Black Metal, sondern wird oftmals von Vertretern des harten Kerns programmatisch zur Abgrenzung gegen den sogenannten Mainstream Black Metal verwendet. Es lässt sich aber auch beobachten, dass dieser eher auf Kommerz ausgerichtete Black Metal die Untergrund-Strömung zum Teil kopiert und sich deren Vokabular aneignet, so dass sich daraus eine Zirkelbewegung ergibt. 224

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Die Weltanschauung im Black Metal äußert sich einerseits in der Ablehnung gängiger Wertsysteme. Um nochmals Pazuzu zu Wort kommen zu lassen: »Grundsätzlich kann gesagt werden, die von der Gesellschaft vorgegebene Norm wird im Schwarzmetall durchbrochen. […] Die von mir vertretene Einstellung ist menschen- und lebensfeindlich.« (Interview vom 7. 10. 2007, via E-Mail).

Andererseits spielt im Weltbild eine Zentrierung des Subjektes und zwar auf der strukturellen wie auf der semantischen Ebene eine Rolle, wie dies Vicecountess V-itchfuck plakativ erläutert: »Schuldgefühle kennt der Black Metal nicht. Stattdessen liegt es in den Händen des Individuums, eigenverantwortlich, eigenständig und kreativ zu handeln und sich gegen die Masse und ihre Demagogen zu stellen. Better to reign in Hell than serve in Heaven (Paradise Lost, I-263)29« (E-Mail vom 9. 6. 2009).

Untrennbar mit diesem Abgrenzungsbestreben ist die Absicht zu provozieren verbunden. So erklärt Falchion auf meine Frage, ob BM provokativ sein wolle: »ich denke schon dass es provozierend ist. black metal in ursprünglicher form war ja enorm provokativ und auch plakativ.« (Interview vom 10.6.2007, via E-Mail). Interessanterweise zieht auch Vicecountess V-itchfuck eine Verbindung zwischen dem (konstruierten) Ideal des urspünglichen Black Metals und der Rebellion: »Als Frau kommt mir der ursprüngliche Black Metal entgegen, da der darin enthaltene rebellische Gedanke Mut macht, sich gegen patriarchalische Machtstrukturen zu wehren und sich von gesellschaftlich geprägten Beschneidungen der individuellen Freiheit nicht beirren zu lassen« (E-Mail vom 9. 6. 2009).

Die in der Black Metal Weltanschauung zentrale Abgrenzung gegenüber einer Umwelt zeigt sich sowohl auf der musikalischen als auch auf der ästhetisch-visuellen Ebene, wobei Umwelt in der emischen Perspektive als die Summe dessen, was als nicht szenekonform betrachtet wird, verstanden wird. Auf der musikalischen Dimension zeichnet sich eine Abgrenzung gegenüber gängigen Werten der Musikindustrie ab. So ist das Streben nach einer harmonischen Zusammenstellung von Tönen und daraus entstehenden eingängigen Melodien ebenso verpönt wie das 29 Vicecountess V-itchfuck zitiert hier (mit Seitenangaben) einen Satz aus John Miltons Buch Paradise Lost. 225

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Streben nach einer (zu großen) kommerziellen Vermarktung der eigenen Musik. Ersteres wird in der vielfachen Verwendung von Dissonanzen und der Black Metal spezifischen Gesangsart sichtbar, letzteres zeigt sich nicht nur in der oben erwähnten Limitierung von Tonträgern, sondern zum Beispiel auch darin, dass Bandnamen oftmals unleserlich gestaltet sind und somit nur von Szeneangehörigen gelesen werden können (Abb. 1). Abbildung 1: Das kalligraphisch inszenierte Logogramm der Schweizerischen BM-Band ATRITAS

Quelle: www.atritas.ch (9.6.2009), © ATRITAS. (Mit freundlicher Genehmigung der Band). In der Regel werden auf der musikalischen Ebene eine oder mehrere elektrische Gitarren, ein elektrischer Bass, ein Schlagzeug und die menschliche Stimme als Musikerzeuger eingesetzt. Charakteristisch für den Black Metal sind verzerrte, jedoch im Gegensatz zum Death Metal nicht heruntergestimmte Gitarren, ein maschinengewehrartiges DoubleBass-Spiel des Schlagzeugs und ein genrespezifischer unverständlicher Kreischgesang (vgl. die Liedanalysen bei Fuchs/Majewski 2000). Dabei sind szeneinterne Diskurse über die »richtige« Art von Musik oft anzutreffen. Zum Beispiel verließen bei einem Black Metal Konzert am 226

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18.4.2009 in der Innerschweiz eine Reihe von Szenegängern die Konzerthalle, als eine bestimmte Band, deren Musik ihnen nicht zusagte, zu spielen begann. Sie versammelten sich vor der Halle, machten sich über die Musik der spielenden Band lustig und begrüßten jede Person, die aus der Halle kam mit den Worten: »Noch einer, der es da drinnen nicht mehr aushält« (Feldnotizen vom 18. 4. 2009). Auf der visuellen Ebene zeigt sich die spezifische Black Metal Ästhetik in nahezu allen Bereichen, die mit dieser Szene zu tun haben, man denke an Covers von Tonträgern, an Plakate, Internetseiten oder Kleidung (vgl. Langebach 2007: 75ff.). Diese Ästhetik besteht aus einer Mischung aus Kriegs-/Gewaltthematisierung, Aufnahmen aus Horrorfilmen und Fantasyromanen sowie Elementen, die religiösen Traditionen entnommen sind, wie bereits aus dem Petruskreuz in der graphischen Gestaltung des Namens ATRITAS deutlich wird (Abb. 1).

4 » C o l d , g r i m , e v i l « 30: E i n B l i c k a u f a u s g e wählte modische Kommunikationsdimensionen der Black Metal Szene Im Folgenden soll nun diese Charakterisierung des Black Metals am Beispiel der in dieser Szene üblichen Kleidung weitergeführt werden. Die Bekleidung eignet sich nicht nur wegen der darin zahlreich vorzufindenden Verweise auf religiöse Symbolsysteme besonders für einen religionswissenschaftlichen Blick, sondern auch, da über modische Kommunikation auf eine direkte, an ein Gegenüber gerichtete Weise Abgrenzungsstrategien und Zugehörigkeitsmechanismen vermittelt werden. Modische Kommunikation wird im vorliegenden Beitrag als grundlegendes Informationsmittel für die Konstruktion eines Fremd- und Selbstbildes betrachtet (vgl. Würtz/Eckert 1998: 177f.), wobei davon ausgegangen wird, dass es nur bedingt möglich ist, sich ihr zu entziehen: »Like it or not, fashion exerts a powerful hold over people – even those who eschew it« (Craik 1994: IX). Kleidung kann in Anlehnung an Würz und Eckert, die sich vor allem auf Alfred Schütz stützen, als Kommunikationssystem umrissen werden, operierend mit modischen Zeichen, die als Kodierungen von expressiven Inhalten Aussagekraft erlangen (vgl. Würtz/Eckert 1998: 177–191; außerdem Banard 2008; Rubinstein 1995; Koch-Mertens 2004; van Rooijen 2004). Dieses System zeichnet sich durch die Betonung des performativen Aktes aus, wobei impliziert ist, 30 Albumtitel der CH-Band HELLVETIC FROST (2003). 227

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dass Bekleidung ohne diesen Aspekt der Performanz, verstanden als »actions undertaken by the actors/characters in order to acieve the object of their goals/values« (Frangoulidis 2001: 7), nur ein kleiner Teilaspekt des gesamten modischen Systems darstellt. Bei einem weiteren Kennzeichen des Systems Kleidung, das für den vorliegenden Blick relevant ist, handelt es sich um den Umstand, dass sich Produktion, Dekodierung und Rezeption von modischen Zeichen in ständiger Interaktion miteinander befinden (vgl. Würtz/Eckert 1998: 179f.). Für die Dechiffrierung modischer Zeichen bildet zwar die Kenntnis der normativen Dimension dieser Kommunikationsvorgänge die Voraussetzung, dennoch zeichnen sich aber gerade modische Codes durch eine Vagheit von Inhalten und eine polyseme Verwendung aus (vgl. Würtz/Eckert 1998: 184), womit, wie die folgenden Beispiele zeigen werden, in der Black Metal Szene rege gespielt wird. Im vestimentären Handeln der Black Metal Szenegänger findet eine Kombination von Elementen unterschiedlicher Herkunft statt: Es finden sich ebenso Entlehnungen aus der Freizeitbekleidung, man denke an weite T-Shirts, wie aus der militärischen Mode, z.B. Kampfstiefel (vgl. Ruhl 2005) oder der Schutzkleidung (Motorradjacken). Der Idealtyp des Black Metallers ist mehrheitlich schwarz gekleidet. Er trägt schwere Stiefel, schwarze Militärhosen, ein T-Shirt mit dem Aufdruck seiner Lieblingsband, genannt Bandshirt (siehe Abb. 2), eine mit Band-Aufnähern und/oder Nieten geschmückte schwarze Lederjacke, dazu bisweilen einen Patronengürtel um die Hüfte oder Nietenarmbänder (Abb. 3) sowie das szeneinterne Weltbild repräsentierenden Schmuck.31 So erklärt Lotan, er trage diversen Schmuck, »wobei das Pentagramm immer dabei ist«. Es ist für ihn »ein Symbol, welches für mich erstens mittlerweile eine sehr grosse persönliche Bedeutung hat und zweitens, was genauso wichtig ist, unzertrennbar mit dem Black Metal verbunden ist. Es ist meiner Meinung nach das Symbol, das den Black Metal am Besten repräsentiert, besser noch als das invertierte Kreuz, dass doch auf eine gewisse Art und Weise plakativ ist. Das Pentagramm lässt sich vielfältig interpretieren, es steht für etwas Dunkles, etwas Andersartiges, etwas, das sich abhebt, etwas Radikales und nicht zuletzt etwas, das sich ganz klar von den gängigen Normen, Regeln und Wertvorstellungen abgrenzt« (Interview vom 20.7.2007, per E-Mail; leichte orthographische Anpassungen: Höpflinger).

Die Haare werden in der Black Metal Szene in der Regel lang getragen. Es lassen sich bisweilen modische Unterschiede zwischen den Geschlechtern beobachten, was sich zum Beispiel in der präferierten Weite 31 Für Bilder dieser Kleidung siehe die Fotografien von Ursula Markus in: Höpflinger 2008: 67; 68-69. Vgl. auch Langebach 2007: 75ff. 228

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der T-Shirts zeigt und im Verkauf von sogenannten Girlie-Shirts, speziellen T-Shirts für Frauen, widerspiegelt (Abb. 2). Abbildung 2: Die BM-Musikerin Vicecountess V-itchfuck. Sie trägt einen Bandpulli der norwegischen Gruppe DARKTHRONE (zu sehen ist darauf das Titelbild des Albums F.O.A.D, 2007).

Quelle: © A. Szabo. (Mit freundlicher Genehmigung des Fotografen und der Vicecountess).

Die spezifische Art der Bekleidung soll die im Black Metal vertretene Weltanschauung nach außen repräsentieren, wie Pazuzu darlegt: »Die von mir vertretene Einstellung ist menschen- und lebensfeindlich. Deshalb kommt die Symbolik des Todes (Totenkopfring), Krieges und der Gewalt (Patronengurt, Kampfstiefel) in der Kleidung zum Zuge. Die gänzlich in schwarz gehaltene Bekleidung und die Bandshirts tun auch ihren Teil daran« (Interview vom 7. 10. 2007, per E-Mail).

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Anhand einer solchen Inszenierung soll eine Abgrenzungsstrategie vollzogen werden. Falchion bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: »ich finde man drückt auch durch die kleidung eine gewisse abneigung zur gesellschaft aus. ich weiss nicht ob das bm typisch ist aber bei mir ists auf jeden fall so dass ich gar nicht so sein will wie alle anderen. ich will bewusst anders sein.« (Interview vom 10. 6. 2007, per E-Mail).

Die zweite und vermutlich wichtigere Funktion nimmt Kleidung jedoch als Erkennungsmerkmal unter Gleichgesinnten ein. Falchion macht dies deutlich, wenn er sagt: »also wenn man ein gewisses band shirt anzieht dann zeigt man ja dass man die band hört und an einem konzert will man zeigen dass man ‚dazu’ gehört. ich spreche jetzt einfach mal im allg. fall. und dann ists schon so dass man sich verständigen tut. klingt irgendwie blöd. vielleicht ist sich mit kleider ausdrücken besser. denn man will ja schliesslich annerkennung und keinen spott für seine person und kleidung. aber wie gesagt für mich persönlich ist die kleidung da um mich für mich auszudrücken. ist evtl. auch paradox. aber ich muss nicht true32 sein nur weil ich ein bestimmtes shirt anhabe. mir gehts darum dass ich diese musik auf dem shirt schätze und liebe. und alles andere ist wurscht. aber natürlich überlegt man sich vor einem konzert was für eine auswirkung welches shirt haben könnte.« (Interview vom 10. 6. 2007, per E-Mail; leichte orthographische Anpassungen: Höpflinger).

Die Kleidung sagt nicht nur etwas über die musikalischen Vorlieben eines Szenegängers aus, sondern auch über dessen Weltsicht, dessen politische Einstellung oder dessen Position in der Szene: Auf Kleidung gedruckt dienen beispielsweise die Logogramme der Bandnamen (siehe Abb. 1) unter anderem als Kommunikationscodes zwischen Fans, da sie für Außenstehende unleserlich sind, jedoch Informationen über die Vorlieben und Weltansichten des Trägers liefern. Anhand der Bands, die eine Person mag und deren T-Shirts sie trägt, erkennt man nicht nur, welche Art des Black Metals sie bevorzugt, sondern zum Beispiel auch, ob sie sich eher in eine okkulte oder eher in eine neopagane BMRichtung einreihen würde, welcher politischen Richtung sie sich zuordnet oder wie lange sie sich schon in der Szene bewegt. Die äußere Inszenierung soll also als Spiegelbild der Weltanschauung fungieren. Dabei wird jedoch letzterer eine größere Relevanz zugesprochen. So vertritt, um ein Beispiel anzuführen, Falchion die Mei-

32 Emischer Ausdruck für die Zugehörigkeit zum harten Kern. 230

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nung, dass die richtige Kleidung eine weitaus geringere Rolle spiele als die richtige Einstellung: »für mich kommt es nicht wirklich darauf an ob mein gegenüber bm mässig gekleidet ist oder nicht. wenn es was vernünftiges von sich gibt und bm ist (was nicht anhand der kleider definiert ist. – auch aber nicht nur) dann spielt das keine rolle« (Interview vom 10. 6. 2007, per E-Mail).

In dieselbe Richtung lenkt Lotan, wobei er das Individualitätsstreben im Black Metal mit der antikommerziellen Einstellung verbindet: »Was ich [...] auf den Tod nicht ausstehen kann, ist wenn eine Band schlagartig einen Popularitätsschub bekommt und jeder mit demselben Shirt rumrennt – das ist dann schon ein Grund, nicht darauf zurückzugreifen.« (Interview vom 20. 7. 2007, per E-Mail).

Von allen Befragten wurde eine Black Metal Inszenierung ohne eine zugrunde liegende Weltanschauung abgelehnt. Das im Black Metal neben dem Christentum und der nicht im Black Metal verkehrenden Außenwelt am häufigsten anzutreffende Feindbild ist jenes eines Menschen, der versucht, sich in szeneinterner Manier zu kleiden, ohne jedoch grundlegende Wertvorstellungen der Black Metal Kultur zu vertreten, eine Tatsache, die laut Falchion jedoch scheitern muss: »nur leider zeigt die erfahrung dass man auf den ersten blick sieht dass das gegenüber nicht so [gemeint ist true] ist.« (Interview vom 10. 6. 2007, per EMail). Vom harten Kern der Black Metal Szene wird gemeinhin Wert darauf gelegt, dass die szenespezifische Kleidung immer getragen wird. Lotan erklärt, er trage die Black Metal typische Bekleidung »durchgehend. Auch im Alltag. Bis auf gewisse Elemente halt wie den Patronengurt. Ich habe keine Lust, tagtäglich zehn Mal meine Einstellung erklären zu müssen, an der Uni oder bei der Arbeit beispielsweise würde das zu tonnenweise überflüssigen Diskussionen führen. Und an der Beerdigung der Grossmutter ist es auch etwas unangebracht, mit einem ›Fuck Me Jesus‹33Shirt aufzumarschieren. Generell aber gilt: Black Metal passt sich nicht an, nicht an die Umgebung, nicht an die herrschenden Vorstellungen, nicht an die gegebenen Regeln und normalen Werte, also laufe ich auch so gut wie immer rum, wie ich will. Und speziell anders kleide ich mich auch dann nicht – ich verzichte wie gesagt lediglich auf das eine oder andere Element.« (Interview vom 20. 7. 2007, per E-Mail).

33 Veröffentlichung der Schwedischen Gruppe MARDUK. 231

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Solche Aussagen zeigen, dass sich klare Mechanismen bezüglich des vestimentären Handelns im Black Metal herauskristallisieren lassen. Dies sowie über die äußere Inszenierung gezogene Verbindungen zu religiösen Inhalten sollen im Folgenden anhand eines weiteren Beispiels illustriert werden. Beschäftigt man sich mit der Black Metal Szene, stößt man unweigerlich auf das sogenannte Corpsepaint, eine spezifische und eng mit der Black Metal Szene verbundenen Schminkart (vgl. Höpflinger 2008: 72; Langebach 2007: 80ff.). Es lassen sich diesbezüglich klare syntaktische Regeln feststellen. Festgelegt sind zum Beispiel die Farben: Das Gesicht wird in der Regel weiß bemalt, während die Augen und der Mund sowie bisweilen andere Gesichtsteile mit schwarzen Mustern geschmückt werden (Abb. 3). Ebenso lässt sich ein geregeltes Zeichenrepertoire finden, das mit Corpsepaint verbunden wird, beispielsweise findet sich bisweilen das Zeichnen eines schwarzen verkehrten Kreuzes auf der Stirn. Gleichzeitig gibt es aber auch unreglementierte Bereiche, diese liegen vor allem in der mit schwarzer Farbe gezeichneten Musterung. Es zeigt sich hier eine aufschlussreiche Mischung zwischen der Uniformität des so gestalteten ähnlichen Aussehens und individueller Ausgestaltung, hat doch jeder Black Metaller34 ein für ihn spezifisches Corpsepaint Muster. Durch das Auftragen der Schminke wird also eine Art der Uniformierung geschaffen, die jedoch durch das spezifische Muster wiederum aufgebrochen wird.

34 Black Metallerinnen und Corpsepaint ist ein Thema, über das ein eigener Aufsatz verfasst werden könnte. Männliche Black Metal Fans sind sich nicht einig darüber, ob nun Frauen eine solche Schminkart benutzen sollen oder nicht. In der Praxis trifft man auf unterschiedliche Konventionen diesbezüglich. 232

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Abbildung 3: Die Schweizer BM-Gruppe ASAG bei einem Konzert in Lenzburg, 22. 3. 2008.

Quelle: © ZK. (Mit freundlicher Genehmigung des Fotografen und der Band). Fragt man nach Zuordnungen zu semantischen Bedeutungsräumen, die durch Szeneangehörige gemacht werden, zeigt sich, dass eine Verbindung dieser Schminke mit der auch sonst vertretenen dualistischen Weltsicht gezogen wird. So erklärt Lotan die Bedeutung dieser Schminke für ihn wie folgt, wobei er von einer Unterteilung des Menschen in eine negative und eine positive sowie eine innere und eine äußere Seite ausgeht: »Das Corpsepaint steht für die dunkle, die tierische und die negative Seite eines jeden Menschen – eben seines inneren Dämons.« (Interview vom 20. 7. 2007, per E-Mail). Pazuzu zieht dagegen, von der Wortbezeichnung ausgehend, eine Verbindung zum Tod: »Wenn mich meine Englischkenntnisse nicht im Stich lassen, heisst es ja übersetzt Leichenbemalung. Es soll wohl an den Tod erinnern.« (Interview vom 7. 10. 2007, per E-Mail. Leichte orthographische Anpassung: Höpflinger). Durchgängig wird auf Bedeutungsfelder wie Tod, negative Emotionen oder Krieg (bisweilen wird diese Schminkart auch als »warpaint« bezeichnet) verwiesen. Blickt man auf die Ebene der Verwendungszusammenhänge, in denen Corpsepaint auftaucht, stößt man wiederum auf Reglementierungen.

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Corpsepaint soll nur in klar festgesetzten Räumen benutzt werden, wie Lotan deutlich macht: »Corpsepaint trägt man […] nur in Ausnahmesituationen. Auf der Bühne oder für Fotosessions. Ich habe absolut kein Verständnis für Leute, die mit CPmässiger Schminke ein Konzert besuchen, dort wahrscheinlich den ganzen Abend saufen, lachen und grölen und irgendetwas darzustellen versuchen, was sie definitiv nicht sind« (Interview vom 20. 7. 2007, per E-Mail).

Zusammenfassend kann man also beobachten, dass die äußere Inszenierung von den Szenegängern als Spiegel der inneren Einstellung wahrgenommen wird. Dabei dient diese Präsentation nach außen einerseits vor allem anhand von Provokation als Abgrenzungsmechanismus gegenüber einer (konstruierten) Umwelt, andererseits aber auch über klare Zuordnungscodes bestimmter Kleidungselemente als Kommunikationsmittel unter Gleichgesinnten.

5 » T u n e c r o i r a s p a s « 35: Black Metal und Religion Im Black Metal werden einerseits, so könnte man die bisher getätigten Beobachtungen zusammenfassen, auf der inhaltlichen Ebene semantische Bezüge zu unterschiedlichen religiösen Traditionen gezogen. Dies beginnt bei der Verwendung religiöser Zeichen wie dem aus dem Christentum übernommenen Petruskreuz oder dem in okkultistischen Gemeinschaften bedeutsamen Pentagramm, geht über die Rezeption von weltanschaulichen Modellen aus dem okkultistisch-esoterischen Raum wie denen von Anton Szandor LaVey oder Julius Evola bis hin zu grundlegenden moralisch-ethischen Wertvorstellungen oder der Einteilung der Welt in ein eindeutiges Kategorienschema von Gut und Böse. Andererseits dient, und hier tritt die Frage nach der Funktion zu Tage, der Black Metal für Personen, die sich in jener Szene bewegen, als Orientierungsraster. Black Metal bildet für gewisse der Befragten ein umfassendes Deutungssystem, durch das sie ihr Weltbild konstituieren, es mit Sinn füllen und nach dem sie ihr Leben ausrichten. Aber ist es deshalb gerechtfertigt, die Black Metal Szene als (Neue) religiöse Bewegung zu bezeichnen, wie die Situierung in diesem Sammelband impliziert? Die Beantwortung dieser Frage ist eng damit verbunden, was unter »Religion« verstanden wird, weswegen es nützlich 35 Lied der Gruppe UNHOLY MATRIMONY vom Album Croire, Décroître (2009). 234

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ist, als Abschluss des vorliegenden Beitrags nach den unterschiedlichen Blickwinkeln der Beteiligten zu fragen. Noch während der Untersuchung hat es sich herausgestellt, dass eine Trennung in eine emische und in eine etische Sicht auf Religion für das Feld des Black Metals zu unpräzise bleibt. Es ist hilfreich als dritte Dimension die Ebene der Öffentlichkeit dazwischen zu schalten (vgl. zu der Dreiteilung in emischetisch-öffentlich: Pezzoli-Olgiati 2010). Aus der emischen Sicht, zumindest der von mir befragten Black Metaller, hat ihr Handeln sowie ihr Weltbild, trotz aller inhaltlicher Relationen zu religiösen Traditionen, meist wenig oder gar nichts mit Religion zu tun. Es zeigt sich im Gegenteil eine Tendenz, nicht nur das Christentum, sondern Religionen im Allgemeinen abzulehnen, wie bereits in dem eingangs zitierten Statement Pazuzus zu Minaretten und Kirchtürmen deutlich wurde. Dies führt der junge Mann als Antwort auf die Frage, wie er zum Christentum stehe, explizit aus: »Ich halte es allgemein: Religionen sind für Schwache und Opfer! Eine Erfindung der Menschheit. Dogmen hindern Menschen an ihrer freien Entfaltung. Die Schwachen werden untergehen!« (Interview vom 7. 10. 2007). Pazuzu selbst nennt sich einen Atheisten. Die im Black Metal aufgenommenen explizit-religiösen Elemente werden in dieser emischen Sicht als Interesse an der eigenen Kultur gedeutet oder als nicht-religiös wahrgenommen. Fragt man hingegen nach dem in der Öffentlichkeit gespiegelten und vor allem durch Massenmedien wie Zeitungen, Zeitschriften, Büchern oder dem Internet verbreiteten Bild des Black Metal fällt zunächst auf, dass die Berichterstattung über die Szene in der Regel durch negative Charakterisierung der Szeneangehörigen gekennzeichnet ist. In einer medial vermittelten Öffentlichkeitssicht werden Black Metal Fans, wie bereits die Beispiele zur Friedhofsdemolierung in Luzern gezeigt haben, als radikal, intolerant, gewaltverherrlichend, satanisch sowie als Nährboden für faschistische und andere menschenverachtende Ideen präsentiert. Dabei wird bisweilen eine lineare Verbindung zwischen Black Metal und Satanismus gezogen wie der Blick der Journalisten Guido und Michael Grandt plakativ zeigt (vgl. auch Mallinkrodt-Neidhardt 2002; Donbusch/Killguss 2006: 2f.): »Am Palmsonntag 1993 brannte die Seegardkirche in Snertigedal bis auf die Grundmauern nieder. […] Die Täter sind erklärte Anhänger des Satans und zählen zur sogenannten ‚real Black Metal‘36-Szene. 34 Kirchen sind bislang ihrem gespenstischen Krieg gegen Gott und die Welt zum Opfer gefallen« (Grandt/Grandt 1995: 217). 36 Der Ausdruck real BM ist mir sonst nie begegnet; vermutlich soll er ein Synonym für Underground BM darstellen. 235

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Solche Unterstellungen sind den von mir befragten Szenegängern nicht unwillkommen. Es hat sich vielfach beobachten lassen, dass nach außen eine Inszenierung gemäß solchen in der Öffentlichkeit verbreiteten Bildern geradezu propagiert wird. Ein Blick hinter die Kulissen hat aber, wie der vorliegende Beitrag gezeigt hat, ein viel komplexeres Bild zu Tage gebracht. Die zweite Variante der Rezeption von Black Metal in den Massenmedien ist die einer Psychologisierungsstrategie: So werden zum Beispiel die antichristlichen Bezüge im Black Metal als nicht ernst zu nehmende jugendliche Provokation oder als Ventil für Frustrationen verstanden und eine klare Abgrenzung zu »organisierten« Formen von Satanismus gezogen. Solchen Ansichten liegt meistens eine enge Religionsdefinition im Sinne eines »Glauben an eine Gottheit« zugrunde. So ist zum Beispiel bezüglich der Friedhofsdemolierung vom 21. Juli 2001 in Luzern folgendes zu lesen: »Georg Schmid, Professor für Religionswissenschaften an der Universität Zürich [...] sieht keine Verbindung zu satanischen Kulten. ›Das war sicher kein Gewaltakt, der durch eine satanische Gruppe ausgeführt wurde.‹ Eine echte satanische Gruppe, meint Schmid, hätte weniger bekannte Symbole benutzt und ein grösseres Wissen satanische Rituale zu erkennen gegeben. [...] Schmid interpretiert die Friedhof-Schändung denn auch als einen Ausdruck von Frustration«.37

Es zeigen sich in einer medial vermittelten Öffentlichkeitssicht also unterschiedliche Einordnungsstrategien des Black Metals; dabei wird entweder eine lineare Verbindung mit einer Größe namens Satanismus gezogen oder es werden auf psychologisierende Erklärungsmuster zurückgegriffen. Als dritte Ebene kommt der im vorliegenden Beitrag eingenommene etisch-religionswissenschaftlichen Blickwinkel ins Spiel. Aus dieser Sicht ergibt es zwar ebenfalls wenig Sinn, Black Metal mit dem unscharfen Begriff »Satanismus« in Relation zu bringen. Es hat sich aber, der emischen Perspektive ungeachtet, gezeigt, dass es interessant sein kann, sich der Black Metal mit einem (offenen) Religionsbegriff zu nähern. Ich habe an den Beginn dieses Artikels die Religionsdefinition von Fritz Stolz gestellt. Umreißt man Religion als umfassendes, Sinn generierendes Orientierungssystem, welches die Spannung zwischen für den Menschen kontrollierbaren und unkontrollierbaren Bereichen problematisiert, kann Black Metal durchaus mit dem Begriff religiös bezeichnet 37 Artikel »Ein Zeichen wachsender Frustration« auf: www.swissinfo.ch/ ger/archive.html?siteSect=883&sid=766021&ty=st (8. 6. 2009). 236

BLICK AUF DIE SCHWEIZERISCHE BLACK METAL SZENE

werden. In den Interviews mit Szenegängern hat sich herauskristallisiert, dass viele Vertreter des harten Kerns auf eine langjährige Biographie in der Szene zurückblicken können. So spielt beispielsweise Vicecountess V-itchfuck seit zehn Jahren in ihrer Band. Dabei wird deutlich, dass Black Metal, zumindest aus der Sicht der Befragten, eine zentrale Rolle in nahezu allen Lebensbereichen spielt und eine umfassende Orientierungsfunktion einnimmt. Die Zugehörigkeit zu der Szene stiftet anhand der komplexen Erkennungs- und Abgrenzungsmechanismen Ordnung und Sinn. Es lassen sich eigene Wertvorstellung, eine eigene Sprache, eine bestimmte Art von Musik sowie eine spezifische Kleidung auffinden. Eine zentrale Stellung in der Repräsentation des Black Metal nehmen semantische Verweise auf traditionelle und neuere religiöse Strömungen ein, diese sind in der Regel in dem Zwischenbereich zwischen dem für den Menschen unkontrollierbaren und dem alltäglichkontrollierbaren Bereich angesiedelt, den Stolz für die Religion reserviert (vgl. Stolz 2001: 33). Thematisiert werden beispielsweise Tod, Krieg, negative Emotionen sowie ethische und juristische Durchbrechungen gesellschaftlicher Regeln und Regulierungen. Propagiert man, wie im vorliegenden Aufsatz, eine Dreiteilung in eine emische, etische und öffentliche Perspektive auf den Black Metal, stellt sich zuletzt auch die Frage nach Interaktionen zwischen diesen Ebenen. Beispielsweise muss mit gegenseitigen Beeinflussungen gerechnet werden. Zur Untermauerung der öffentlichen Perspektive werden z.B. wissenschaftliche Experten befragt, wie das oben zitierte Beispiel mit der Zitierung von G. Schmid gezeigt hat. Dass im Black Metal verkehrende Szenegänger nicht nur öffentliche Meinungen aufnehmen und diese gezielt spiegeln, sondern auch, dass die anhand neuer technischer Möglichkeiten verstärkte Popularisierung und Rezeption im öffentlichen Raum den Black Metal geöffnet hat, kristallisierte sich im vorliegenden Beitrag ebenfalls heraus. Welche Veränderung der Szene die vermehrte wissenschaftliche Beschäftigung (vgl. Langebach 2007; Chaker 2007) mit Black Metal und insbesondere die Kategorisierung der Szene als religiöse Bewegung bringen wird, muss sich dagegen erst zeigen.

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BLICK AUF DIE SCHWEIZERISCHE BLACK METAL SZENE

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sellschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 177–191.

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Erwähnte Tonträger ATRITAS (CH), Rising of Eternal Dusk (Eigenproduktion 1999) BLACKGOD (F)/KRIGAR (CH), Praying for the Death of Mankind (Eigenproduktion 2003). DARKTHRONE (N), F.O.A.D. (Peaceville Records 2007). FORGOTTEN CHAOS (CH), Victorious Among the Damned (Schwarzmetall Musikproduction, 2006). HELLVETIC FROST (CH), Cold, Grim, Evil (Eigenproduktion 2003).

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BLICK AUF DIE SCHWEIZERISCHE BLACK METAL SZENE

MENEGROTH (CH), Gazourmah (Darker Than Black 2009). UNHOLY MATRIMONY (CH), Croire, Décroître (Deepsend Records 2009). WACHT (CH), Fin cha'l Mound es Sfrachà (ZKP 2008) WALD (CH), Helvetischer Wintersturm (Fog of the Apokalypse 1996).

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Ritual, lndividuum und religiöse Gemeinschaft. Das International Christian Fellowship Zürich RAFAEL WALTHERT

1 Einstieg Gemeinschaften sind soziale Beziehungen, die auf gefühlter Zusammengehörigkeit und einer Solidarität jenseits bestimmter Zwecke basieren, die über verschiedene Lebensbereiche hinweg wirksam sind (vgl. Weber 1972: 21; Parsons 1968 [1937]: 686-694; Lüddeckens/Walthert in diesem Band). Moderne Gesellschaften sind durch die Differenzierung dieser Bereiche geprägt.1 Auf der gesellschaftlichen Ebene bedeutet dies, dass Teilsysteme wie Politik, Wirtschaft, Religion oder Erziehung eigenen Relevanzen und Semantiken folgen und keines dieser Systeme übergreifenden Status beanspruchen kann (vgl. Chaves 1994). Wirtschaftliche oder politische Beziehungen können zwar religiös beurteilt, aber nicht religiös bestimmt werden. Auf der individuellen Ebene geht dies mit einem Auseinanderdriften von Lebensbereichen einher: Familie,

1

Über die Relevanz struktureller Differenzierung in der Moderne scheint man sich in der Soziologie und auch unter Religionssoziologen relativ einig zu sein (vgl. z.B. Bruce 2001; Hervieu-Léger 2004: 16-17; Luckmann 2002: 288-289; Luhmann 1998: 595-776; zur Übersicht über Differenzierungstheorien: Schimank 2000), wobei diese Einigkeit abnimmt, je spezifischer die typische Form von Differenzierung in der Moderne bestimmt wird – beispielsweise von Luhmann als funktionale Differenzierung«, an die in den vorliegenden Ausführungen lose angeknüpft wird. 243

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Arbeit, Freizeit und Religion finden in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen Teilnehmern statt. Die Beziehungen basieren auf der Koordination von Zwecken, nicht auf derjenigen von Gemeinsamkeiten oder umfassenden Solidaritäten. Hinzu kommt eine für die Individuen selbst feststellbare Diversität von Beziehungen und Positionen, die sich z.B. in der Rede von Kultur manifestiert, mit welcher religiöse Festlegungen als menschliche bezeichnet werden (vgl. Luhmann 2002a: 311). All dies führt dazu, dass religiöse Deutungen ihre Plausibilität und Relevanz nicht mehr ohne Weiteres aus einem omnipräsenten gemeinschaftlich geprägten Kontext schöpfen können. Religiöse Institutionen, die sich entlang der Gemeinschaften entwickelt hatten, werden zum Gegenstand von Entscheidungen von Individuen, die innerhalb gesellschaftlicher Bindungen auch andere Möglichkeiten haben. Mit Luhmann kann gefragt werden: »Das lässt die Frage weithin offen, wie denn Religion damit fertig wird, dass es mehr und mehr leicht fällt, sie abzulehnen. In welchen Formen [...] sind hier noch verlässliche Kopplungen von Konditionierungen und Motivation möglich, wenn die Gesellschaft komplexer wird und lokale Inklusionsgemeinschaften auf Interaktionsbasis ihr Gewicht für die Lebensführung des Einzelnen verlieren?« (Luhmann 2002: 206)

Dass das Feld Neuer religiöser Bewegungen sich in Richtung nichtgemeinschaftlicher Formen entwickelt, wird im vorliegenden Band verschiedentlich gezeigt. Im Gegensatz dazu finden sich jedoch im Bereich des Protestantismus Gemeinschaften, die keineswegs mit einem Mitgliederschwund zu kämpfen haben. Wenn also nach »religiösen gemeinschaftlichen Kopplungen« gefragt wird, ist der Blick auf sie vielversprechend. Dies soll im Folgenden anhand der Gemeinschaft ICF (International Christian Fellowship) Zürich geschehen, einer Gruppierung, die in der Zeit des Rückgangs Neuer religiöser Gemeinschaften entstanden und gewachsen ist. Von Interesse für die Frage nach gemeinschaftlichen Bindungen in einer modernen Gesellschaft sind dabei insbesondere diejenigen Bereiche der Gemeinschaft, in welchen mit Mobilität von Personen, sowie Übergängen und Austausch zur Umwelt gerechnet werden kann. Dahingegen können die hochintegrierten und verstärkt über persönliche Beziehungen funktionierenden Bindungen im Innern der Gemeinschaft im Folgenden in den Hintergrund rücken. Als erstes gilt es eine Übersicht über die Geschichte und Merkmale des ICF zu gewinnen.

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RITUAL, INDIVIDUUM UND RELIGIÖSE GEMEINSCHAFT

2 ICF 2.1 Beschreibung Das ICF ist eine evangelikale Freikirche, die in den 1990er Jahren entstanden ist und sich vor allem im Altersegment von Jugendlichen bis zu 30-Jährigen einer relativ grossen Anhängerschaft erfreut. Im Zentrum des Angebots von ICF stehen Gottesdienste (Celebrations) und Hauskreise (Smallgroups), ergänzt durch als Church Life bezeichnete Aktivitäten wie Kurse, Reisen und weitere Formen die Freizeit gemeinsam zu verbringen. Zugehörigkeit definiert sich über die Teilnahme an diesen Veranstaltungen, nicht über formelle Mitgliedschaft. Während die Teilnahme an den Celebrations öffentlich und unverbindlich ist, sind die Smallgroups nur über persönliche Einladung zugänglich. Sie finden im privaten Rahmen und im Kreis von bis zu einem Dutzend Personen statt. Die Ausrichtung des Angebotes erfolgt altersgruppen-, sprach- und teilweise auch geschlechtsspezifisch. An einem Wochenende finden beispielsweise verschiedene, zielgruppenorientierte Celebrations statt. Sie sind durch den Einsatz von Bühnenbeleuchtung, Popmusik durch eine Live-Band, Videoprojektionen und durch Partizipation des Publikums in Form von Gesang und der Interaktion mit dem Prediger über Applaus oder kurze Frage/Antwortdialoge geprägt. Die grössten Celebrations dürften durchschnittlich von 500-1’000 Personen besucht werden, wobei pro Wochenende insgesamt, gemäss eigenen Angaben des ICF, 2’0002’500 Personen eine Celebration besuchen.2 Zahlen zur Zusammensetzung und der biographischen Dauer der starken Bindungen an das ICF sind zudem kaum vorhanden.3

2

3

Diese Zahlen sind für regelmässig stattfindende kirchliche Veranstaltungen im Schweizer Kontext hoch, im Vergleich zur Wohnbevölkerung des Kantons Zürich oder den Besuchern der Gottesdienste der Landeskirchen im gesamten Kanton allerdings zu relativieren. Mit Blick auf die Bevölkerungszahl der zwischen 15 und 40-jährigen, der wichtigsten Zielgruppe des ICF (vgl. Statistisches Amt des Kantons Zürich 2009), ist von einem Anteil von höchstens 1% der Bevölkerung dieser Altersgruppe auszugehen, der die ICF Celebrations besucht. Die Vermutung liegt nahe und wurde in verschiedenen Gesprächen mit ICF-nahen Personen bestätigt, dass ICF Teil eines freikirchlichen Milieus ist (d.h. die Angehörigen stammen aus freikirchlichen Kreisen) innerhalb dessen die Mobilität relativ gross ist. 245

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2.2 Geschichte ICF wurde 1990 von Heinz Strupler in Zürich als Freikirche für englischsprachige Ausländer gegründet. Von Beginn weg wurde sie jedoch vor allem von Schweizerinnen und Schweizern besucht. Strupler hatte vor der Gründung zwei Jahre am Fuller Theological Seminary studiert, wo er von verschiedenen evangelikalen4 Strömungen beeinflusst wurde: Von Robert Schullers »Hour of Power«, die von Vincent Peales »Positivem Denken« geprägt ist, von der Vineyard-Bewegung, sowie von Bill Hybels Willow Creek Gemeinde (vgl. Kunz 2004: 18). Vor allem die Einflüsse der beiden letzteren sind beim ICF besonders deutlich erkennbar: Bei Vineyard handelt es sich um eine charismatisch geprägte Bewegung, in welcher in der Tradition der Pfingstbewegung die religiöse Erfahrung im Zentrum der Gottesdienste steht. Sie gehört zu den in der Gegenwart am stärksten wachsenden Strömungen des Evangelikalismus (vgl. Shibley 1998: 70). Ein solcher Erlebnisbezug ist auch im ICF deutlich, im Gegensatz zu Vineyard ist er jedoch selbst nicht zu den pfingstlerischen Bewegungen zu zählen, so stellt das für diese typische Zungenreden kein Element des Gottesdienstes dar. Der zweite bedeutende Einfluss, die Willow Creek Gemeinde, ist ebenfalls ein Modellfall evangelikalen Missionserfolges. Unter Führung ihres Pastors Bill Hybels’ wuchs diese innerhalb zweier Jahrzehnte zu einer der grössten Kirchen der USA. Basierend auf über Marktforschungsmethoden erlangten Erkenntnissen gelang es Hybels, über eine Vereinfachung der Inhalte eines Gottesdienstes und unter dem Einsatz von Methoden der Unterhaltung (Humor, Musik, Theater) eine grosse Anzahl von Menschen, insbesondere die Generation der sogenannten Baby-Boomers, anzusprechen (vgl. Shibley 1998: 75-76). Die Nähe des ICF zur Willow Creek Community Church zeigt sich unter anderem an der grossen Übereinstimmung der zehn schriftlich festgehaltenen Grundwerte des ICF Zürich mit denen von Willow Creek (vgl. eine Auflistung beider: Staub 2002: 591). Strupler gab 1995 die Führung des ICF an Leo Bigger ab, der ihn von »ICF Church« in »ICF Zürich« umbenannte.5 In den darauffolgen-

4

5

Mit »evangelikal« sollen Strömungen innerhalb des Protestantismus bezeichnet werden, wenn sich darin erstens die Betonung eines Konversionserlebnisses findet, die als Wiedergeburt und Ausgangspunkt einer neuen, persönlichen Beziehung mit Jesus gesehen wird, zweitens der Bibel übergreifende Autorität in Fragen des Glaubens und der Lebensführung zugeschrieben wird und drittens diese Religiosität gegen Aussen gezeigt und weiterzugeben versucht wird (vgl. Shibley 1998: 69). Die eigene Geschichte wird von ICF Zürich selbst thematisiert und ist Gegenstand des Booklets »Evolution of ICF« (vgl. ICF 2006). Strupler

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RITUAL, INDIVIDUUM UND RELIGIÖSE GEMEINSCHAFT

den Jahren fand sowohl eine Differenzierung des Angebotes in Richtung verschiedener Altersstufen statt, als auch die Gründung von ICF Kirchen in anderen Schweizer Städten. Die Celebrations in Zürich finden unterdessen in einer geräumigen Halle in einem ehemaligen Industrieareal in Zürich statt. Aussenstellen von ICF Zürich, in denen ebenfalls wöchentlich Gottesdienste durchgeführt werden, finden sich in Winterthur und Rapperswil.

2.3 Ausrichtung 2.3.1 Protestantismus und Evangelikalismus »ICF Zürich ist eine überkonfessionelle Freikirche auf biblischer Grundlage, die aus dem Traum entstanden ist, Kirche für die Menschen wieder dynamisch, lebensnah und zeitgemäss zu gestalten. Wir feiern gemeinsam den Glauben an Gott, integrieren ihn im Alltag und leben freundschaftliche Beziehungen untereinander.« (http://www.icf.ch/about-icf.html, gesehen am 27. 11. 2008)

ICF verortet sich selbst in der protestantischen Tradition der Freikirche und stellt sich damit in den Rahmen einer in der Schweiz etablierten Form religiöser Organisation. Zugehörigkeit zum ICF drückt sich nicht über formale Mitgliedschaft aus, versteht sich als überkonfessionell und schliesst anderweitige Kirchenmitgliedschaften nicht aus. Auf der Seite der Lehre finden sich Inhalte, wie sie für Schweizer Freikirchen nicht ungewöhnlich sind, Kunz spricht von »unspektakulärem MainstreamEvangelikalismus« (Kunz 2004: 21). Tatsächlich entspricht das ICF den weiter oben genannten Eigenschaften von Evangelikalismus. Merkmale des Systems an Glaubensvorstellungen, wie es beim ICF zu finden ist, sind die Betonung des christlichen Heilsgeschehens, der Gesinnungsethik, einer strengen Sexualmoral und eines rigiden Biblizismus. Damit positioniert sich das ICF ähnlich wie andere evangelische Freikirchen (vgl. Kunz 2004: 17). Elemente wie die Betonung sexueller Enthaltsamkeit vor der Ehe, das traditionelle Verständnis von Geschlechterrollen und die Verurteilung von Homosexualität können als Belege eines patriarchalen Traditionalismus gewertet werden, stellen als solche aber keinen Bruch zu auch anderswo kommunizierten religiösen Wertvorstellungen dar, da sie sich beispielsweise ähnlich auch in der römischkatholischen Kirche finden.

findet darin keine Erwähnung, im Gegensatz zur prominenten Platzierung Biggers. 247

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2.3.2 Techniken und Strategien Der Blick auf die Handlungsstrategien des ICF insbesondere in den Celebrations zeigt Rückgriffe auf Techniken und Vokabular, die ausserhalb des konventionellen Repertoirs traditioneller christlicher Kirchen im schweizerischen Kontext stehen. Die augenfälligste Innovation stellt der ausgiebige Einsatz multimedialer, aus dem Unterhaltungsbereich stammender technologischer Möglichkeiten dar. Dabei handelt es sich um Elemente, die von den Teilnehmern als aus dem Unterhaltungsbereich der Popkultur stammend wiedererkannt werden dürften: Als Beispiele lassen sich die »Lightshow«, die Popmusik und die Lautstärke der akustischen Untermalung bei den Celebrations nennen. Anleihen an computerisierte Vortragsformen finden sich im Einsatz von PowerPoint auf Grossleinwänden, auf denen beispielsweise die jeweils besprochenen Bibelzitate projiziert werden.6 Wie die eigene Geschichte, wird auch dieser Prozess der Innovation und des Wandels von ICF selbst beobachtet und Teil des Selbstbildes (vgl. im Zitat: »dynamisch, lebensnah und zeitgemäss«).

2.3.3 Weltanpassung In einer von Wallis (1998 [1984]) eingeführten Terminologie wird zwischen weltablehnender, weltbejahender und weltangepasster Religion unterschieden. Das Verhältnis zur Welt wird in diesem Schema nicht in Form eines Kontinuums zwischen zwei Polen gefasst, da der gänzlichen Ablehnung der Welt nicht nur ihre Bejahung, sondern auch das Arrangieren mit ihr ohne ihre grundsätzliche Befürwortung gegenübergestellt wird.7 Im ICF wird auf ein breites Repertoire an Bedeutungen und Techniken der säkularen Kultur zurückgegriffen, mit denen Handlungsstrategien verfolgt werden können (vgl. Ausführungen zu Kultur als Werkzeug6

7

Dieses Medium zeigt, wie Technologie mit dem traditionellen durch Literalismus und Common Sense Realismus geprägten evangelikalen Bibelverständnis vereinbart wird (vgl. zu diesem Bibelverständnis: Marsden 2006: 16): Durch die isolierte Projektion einzelner Stellen wird Faktizität ohne Möglichkeit der Kontextualisierung, wie sie einen historischkritischen Zugang prägen würde, kommuniziert. Die Dunkelheit in den Zuschauerrängen würde ein Nachschlagen in mitgebrachten Bibeln zudem verunmöglichen. Dies ermöglicht eine genauere Charakterisierung des Weltbezuges als beispielsweise der in kritischer Rezeption von Wallis’ Vorschlag entwickelte Ansatz Beckfords (1985), der mit lediglich einer Dimension, die sich zwischen Rückzug und Engagement bewegt, arbeitet.

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kasten: Swidler 1986). Mit diesen Mitteln werden rituell Grenzen zum alltäglichen Erleben und Handeln gezogen, welche aber zeitlich nur beschränkt gültig sind. Zudem wird, auch wenn die religiöse Ausrichtung auf Erlösung und ewiges Leben erfolgt, damit kein Rückzug aus der Welt begründet. Letztere scheint als notwendiger Weg zur Erlösung akzeptiert zu sein, weshalb von einer weltangepassten Religion gesprochen werden kann.

3 Rituale 3.1 Glaubensvorstellungen und Rituale Grundlage der folgenden Ausführungen ist die Unterscheidung zwischen Glaubensvorstellungen und Ritualen. Das ICF bietet »Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung« (Geertz 1987: 48) in Form der mehr oder weniger expliziten Formulierung religiöser Aussagen. Themen wie die Zukunft der Menschheit, die Frage der eigenen Erlösung, die Verworfenheit Europas oder auch Sexualverhalten können religiös beurteilt werden. Andererseits finden sich Rituale wie die Celebrations, in welchen Interaktion unter Anwesenden und das damit verbundene Handeln und Erleben im Zentrum steht. Eine solche analytische Dichotomisierung von Religion hat klassische Vorbilder: »Die religiösen Phänomene kann man auf natürliche Weise in zwei Kategorien aufteilen: die Glaubensüberzeugungen und die Riten. Die ersten sind Meinungen: sie bestehen aus Vorstellungen; die zweiten sind bestimmte Handlungsweisen. Zwischen diesen beiden Klassen liegt derselbe Abstand wie zwischen dem Denken und dem Tun.« (Durkheim 1994 [1912]: 61)

Durkheim liefert mit diesem Zitat die Vorlage für die Betonung einer Unterscheidung zwischen Glaubensvorstellungen und Ritualen – die Entscheidung, diese Differenz an den Anfang der Auseinandersetzung mit Religion zu stellen, erwies sich als heuristisch erfolgreich, lässt sich aber, wie es Bell (1992: 19-66; 1997: 76-83) tut, auch kritisieren: Die Leistung der auf diese Differenzierung folgenden Überlegungen bestehe vor allem darin, die Aufhebung des vorher theoretisch eröffneten Unterschiedes erklären zu können. Dieser nicht unberechtigen Kritik wird im Folgenden dadurch begegnet, dass die Unterscheidung auf beiden Seiten auf sich selbst angewandt wird. Es wird gefragt, inwiefern innerhalb der Rituale Glaubensvorstellungen kommuniziert werden und inwiefern bestimmte Glaubensvorstellungen in eine ritualisierte Praxis überführt 249

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werden. Damit wird die Unterscheidung Rituale/Glauben ihrer Statik beraubt und ihr die vereinfachende und inadäquate binäre Struktur genommen.

3.2 Rituelle Interaktion Rituale spielen in der evangelikalen Religiosität insofern eine zentrale Rolle, als dass in ihrem Rahmen stattfindendes individuelles Erleben als Wirken des Heiligen Geistes gedeutet wird.8 Über die grosse Bedeutung dieses Erlebens, das bei erstmaligem Auftreten auch als Konversionerlebnis oder »second blessing« gesehen wird, wird der Gottesdienst zu einem zentralen Bestandteil evangelikaler Kongregationen. Auch im ICF finden sich die Celebrations auf der eigenen Webseite an prominentester Stelle und Verweise darauf nehmen viel Platz ein9. Auch in den vom Autor mit Mitgliedern des ICF geführten Gesprächen wurde von diesen wiederholt und ausgiebig auf die Celebrations verwiesen. Anhand der Beobachtungen vor Ort10 lassen sich die Celebrations als ein Geschehen beschreiben, das durch das Handeln auf der Bühne geprägt ist, in welchem jedoch auch die Aktivitäten auf den Zuschauerrängen von grossem Belang sind: Die Partizipation der Zuschauer geschieht über Mitsingen und Veränderung der Körperhaltung (z.B. Sitzen oder Stehen, mehr oder weniger ausgeprägte Tanzbewegungen und Gebetsgesten). Das Geschehen auf der Bühne dient als »mutual focus of interaction« (Collins 2004: 48), also als von den Ritualteilnehmern geteilter Bezugspunkt von Aufmerksamkeit und Handeln. Letzteres wird auch gegenseitig wahrgenommen, so stehen beispielsweise alle Anwesenden auf und alle sehen, dass dies geschieht. Zudem werden Emotionen geäussert, beispielsweise Belustigung über Gelächter (Humor stellt ein wichtiges Element der Darbietung auf der Bühne dar), Andächtigkeit über geschlossene Augen und Gebetshaltung oder emotionale Anteilnahme an der Musik über rhythmische Bewegungen bzw. Gesang. 8

Dieser Aspekt des Evangelikalismus scheint sich in allen seinen Ausprägungen, von den Fundamentalisten bis zu den Neo-Evangelikalen zu finden. Wichtiger Ausgangspunkt hierfür dürfte die auf John Wesley zurückgehende Holiness-Bewegung darstellen (vgl. Marsden 1982: 72ff.). 9 Vgl. http://www.icf.ch (18. 11. 2008). Die Webseiten des ICF stellen einen guten Indikator für die Kommunikation von Relevanzen nach aussen dar. Sie nehmen eine wichtige Rolle in der Gemeinschaft und insbesondere ihren Missionsbestrebungen ein, so finden sich Links auf Flyern und gedruckten Publikationen von ICF. 10 Auf eine detaillierte Wiedergabe des Ablaufes der besuchten Celebrations soll hier verzichtet und stattdessen auf Staubs (2002) detaillierte Ausführungen diesbezüglich verwiesen werden. 250

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Bereits anhand dieser Andeutungen lässt sich ein Vorgang erkennen, der sich mit der Theorie der Interaktionsrituale, einem mikrosoziologischen Ansatz, der vom Soziologen Randall Collins im Anschluss an Emile Durkheim und Erving Goffman entwickelt wurde, analysieren lässt: Das Geschehen auf der Bühne dient als Fokus, auf welchen sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden richtet. Dieser Fokus ist der Ausgangspunkt für körperliche Synchronisation des Publikums und die gegenseitige Stimulation über dieses Verhalten. Über diese Interaktion und die damit einhergehende Strukturierung von Emotionen wird ein hohes Mass dessen, was Randall Collins als »emotional energy« bezeichnet, hergestellt (vgl. Collins 2004: 105). Individuen erfahren durch die Uniformität des Handelns ihre Anwesenheit und ihr Verhalten im Ritual als bestätigt, emotional erfolgreich und richtig (vgl. Collins 2004: 48-49). Über diese Zustände emotionaler Energie wird ein Gefühl von Gruppensolidarität erzeugt und Symbole, die für diese Rituale stehen, werden positiv gewertet und gewinnen an Plausibilität. In den Worten Durkheims, an den Collins anschliesst: »Auf alle Fälle aber besteht eine Kommunion des Bewusstseins und gegenseitige Stützung durch diese Kommunion.« (Durkheim 1994: 554). In Ritualen wird nicht nur kommuniziert, was getan werden soll, sondern es wird auch getan. Dies lässt sich noch erweitern: Die rituellen Vorgaben werden nicht nur eingehalten, sondern es wird auch gesehen, dass ihnen Folge geleistet wird, dass andere sich für dasselbe entschieden haben. Dies wiederum wird untereinander oder gegen Aussen explizit so kommuniziert, so Durkheim: »Wer eine Religion wirklich praktiziert hat, weiss genau, dass es der Kult ist, der die Freude, die innere Ruhe, den Frieden, die Begeisterung erregt, die für den Gläubigen der Erfahrungsbeweis für seinen Glauben ist.« (Durkheim 1994: 559)

Durch diesen »Erfahrungsbeweis« (preuve expérimentale) werden religiöse Vorstellungen plausibilisiert. Die in den Ritualen auf ein hohes Niveau gehobene »emotionale Energie« wird in Form von im Ritual erzeugten oder aufgegriffenen Symbolen auch über den Ritualvollzug hinaus konserviert: »Emotional energy, [...], is carried across situations by symbols that have been charged up by emotional situations.« (Collins 2004: 107). Symbole, an zentraler Stelle das Kreuz, werden in dramatischen rituellen Momenten mit Emotionen besetzt und sind Anknüpfungspunkt für eine zwar vergleichsweise weniger intensive, aber dauerhafte positive Emotionalität, die durch ein Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe geprägt ist. Andererseits können Rituale über generalisierte Vor-

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stellungen ihrerseits wieder gedeutet und beispielsweise in einen Kontext von Religion und Heilsgeschehen gestellt werden.

3.3 Rituale als Spezifikation Die im Einstieg gestellte Frage nach der Möglichkeit religiöser Gemeinschaften in der modernen Gesellschaft, kann über den Verweis auf eine solche Konkretion von Glaubensvorstellungen im rituellen Handeln beantwortet werden. Auf der einen Seite stehen christliche Glaubensüberzeugungen, mit welchen Aussagen von grosser Allgemeinheit über Welt, Geschichte, Zukunft und Individuum getroffen werden können. Auf der anderen Seite finden regelmässig Rituale statt, in welchen entlang eines festgelegten Skriptes in einem vorgegebenen Rahmen erlebt und gehandelt wird. Dieses Verhältnis kann als Beziehung zwischen Generalisierung und Spezifikation verstanden werden: Während die Überzeugungsseite die Möglichkeit für eine Beobachtung der gesamten Welt und ihrer Elemente unter den Vorzeichen des Glaubens bereitstellt, legt die rituelle Seite eine bestimmte Ritualgemeinschaft, an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit fest, es wird auf eine rituell strukturierte Weise gehandelt und auf dadurch beeinflusste Art und Weise gefühlt. Durch diese rituelle Spezifikation werden generalisierte Überzeugungen im Erleben und Handeln konkretisiert und gewinnen dabei, wie eben ersichtlich wurde, Plausibilität. Dieses Funktionieren von Ritualen lässt sich als Spezifikation generalisierter Vorstellungen in sachlich, sozial und zeitlich spezifiziertem Vollzug verstehen (vgl. zu dieser Parsons verdankten Frage nach Generalisierung und Spezifikation: Luhmann 1984: 447; Parsons, Shils 1965 [1951]: 108).

3.4 Grenzen der Erklärung über Rituale Die Celebrations stellen den für den Beobachter auffallendsten und aussergewöhnlichsten Aspekt von ICF dar. Im über die Spezifikation von Glaubensvorstellungen über Rituale argumentierenden Erklärungsmodell machen nicht moralische Normen die Attraktivität von ICF aus, sondern die »Aussicht auf eine Steigerung des religiösen Erlebnisgehalts« (Kunz 2004: 17). Rituelle Interaktion ist ein wichtiger Faktor für das Funktionieren der Gemeinschaft ICF, allerdings kann dieses aus verschiedenen Gründen nicht nur über die rituelle Ebene verstanden werden: 1. Über den Verweis auf die durch kollektive Rituale erzeugten individuellen Emotionen wird den untersuchten Personen fremdbestimmtes, 252

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unreflektiertes Handeln und Erleben unterstellt. Dabei nimmt der Unterschied zwischen den Ritualteilnehmern und dem Wissenschaftler die Form der Unterscheidung zwischen Denken und Handeln an. Ein Erklärungsmodell, das bei einem solchen Schema stehen bleibt, beschränkt sich auf Mechanismen, die jenseits bewusster Entscheidungen der untersuchten Individuen funktionieren, da ihnen das Denken letztlich abgesprochen wird. Eigentlich wird dabei eher Verhalten als Handeln untersucht (vgl. zu dieser Unterscheidung: Weber 1972: 1), woraus eine gewisse Tendenz dazu resultiert, Angehörige Neuer religiöser Bewegungen als »tightly controlled robots, zombies or automatons under the influence of coercive techniques of mind control« (Barker/Mayer 1995: 149-150; so einem Bild gegenüber kritisch) zu verstehen.11 Wenn der Ritualbesuch als bewusste Entscheidung von Individuen gesehen wird, muss die religiöse Bedeutung, die innerhalb dieser Entscheidung im Spiel sein dürfte, ebenfalls Teil der Untersuchung sein. 2. Der Untersuchungsgegenstand ist in seiner Spezifität allein über Theorien von Ritualen und Emotionen nicht zu verstehen, da diese Theorien von einer Allgemeinheit her operieren, von der her mit dem selben Instrumentarium Aussagen über Begrüssungen, Eishockeyspiele, Terroranschläge und religiöse Rituale gemacht werden können. Wenn verstanden werden soll, wieso sich manche Personen für ICF und nicht für Eishockey entscheiden, kann das nicht nur über Rituale und Emotionen erklärt werden, da in diesem Bereich andere Angebote wie Sportoder Tanzveranstaltungen genauso attraktiv sein dürften. 3. Gegenwärtige evangelikale Bewegungen schotten sich nicht von der Welt ab, eine innerweltliche Ausrichtung ist typisch. Für ihr Verstehen greift deshalb die Konzentration auf Rituale zu kurz: Ritualisierte Praxis zeichnet sich durch ihre Abgrenzung gegen aussen durch zeitliche, soziale und sachliche Spezifität aus. In Ritualen findet zwar ein grosser Teil der Rezeption kulturell etablierter Formen und Inhalte wie Einbindung von Medien und Musikstilen statt, zugleich konzentriert sich in ihnen die Gemeinschaft aber auf sich selbst. Evangelikale Gemeinschaften müssen jedoch in ihrer durchaus aktiven und für sie prägenden Beziehung zur Welt verstanden werden, die nicht rituell eingelöst wird. 11 Vgl. bezüglich der Diskussion der Grenzen solcher Erklärungen auch Giesen (1999: 11-18), der sich hinsichtlich der wissenschaftlichen Frage nach Gemeinschaft gegen eine Reduktion auf rituelle Interaktion oder kollektive Indoktrination ausspricht und eine Forderung nach Einbezug der Ebene kultureller Bedeutungen stellt, der im Folgenden zu entsprechen versucht wird. 253

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4 Glaubensvorstellungen 4.1 Spezifikation von Glaubensvorstellungen In der vorangegangenen ritualtheoretischen Analyse der Celebrations wurden Rituale von Glaubensvorstellungen getrennt. Im Folgenden gilt es, die Aufmerksamkeit letzteren zuzuwenden. Von Durkheim und in seiner Rezeption wurden religiöse Rituale insbesondere in ihrer Eigenschaft der Spezifikation von Religion in Handeln und Erleben in der Situation des Rituals betrachtet. Religiöse Glaubensvorstellungen können im Gegensatz dazu in verschiedenen Situationen relevant werden. Ihre Generalisierbarkeit erlaubt es Glaubensvorstellungen auch im Alltag von entscheidender Bedeutung zu sein, während Rituale aufgrund ihrer Spezifität diesbezüglich an ihre Grenzen stossen. Damit dienen sie der zeitlichen, sozialen und sachlichen Generalisierung von Religion, eine Leistung, die auch Durkheim in seinen Ausführungen zu Kategorien religiöser Werte und Glaubensvorstellungen wie heilig und profan zumindest implizit betonte. Die Generalisierbarkeit von Werten lässt sich nicht nur in den von Durkheim beobachteten »Stammeskulturen«, sondern auch in modernen Gesellschaften beobachten, in denen es an breit geteilten und auch religiös kommunizierten Werten wie Liebe, Friede und Toleranz nicht zu mangeln scheint. Diese Werte geben jedoch weder eine bestimmte Realisierung im Handeln vor, noch gehen sie mit einer klaren Zuordnung zu einer bestimmten religiösen Tradition einher.12 Nur deshalb, weil beides gerade durch diese Werte nicht bestimmt ist, dürften diese in der Kommunikation in verschiedensten Zusammenhängen so erfolgreich sein. Aufgrund ihrer Diffusität und Vagheit kann gesellschaftlich mit ihnen kommuniziert werden, Gemeinschaft aber nicht auf sie aufbauen.13 Um für Selektionen relevant zu sein, ist nach der Generalisierung die Respezifikation generalisierter Glaubensvorstellungen erforderlich (vgl. Luhmann 1984: 447) und auf sie muss sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit richten. Im Folgenden wird danach gefragt, welche Glaubens12 Nur auf den ersten Blick scheint karitatives Handeln eine erfolgreiche religiöse Spezifikation mit Generalisierungspotential zu sein: Es muss in der Form von Spenden in Geldwerte überführt werden und kann nur in Form dieses wirtschaftlichen Mediums zur Anwendung kommen, wobei es gleichzeitig zum Ausdruck allgemeiner, nicht an religiöse Bedingungen geknüpfte Nächstenliebe transformiert werden muss, um Legitimität beanspruchen zu können. 13 Mit Luhmann gesprochen scheint es sich um hochmobile Gesichtspunktmengen zu handeln, um bei Festlichkeiten aufblasbare Ballons, nicht Fixsterne (vgl. Luhmann 1998: 342). 254

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vorstellungen auf welche Art und Weise Ausgangslagen für die Spezifikation religiöser Bedeutungen im Alltag darstellen und wie diese Respezifikation erfolgreich geschieht.14

4.2 Semantik 4.2.1 Medien Prominentestes Übertragungsmedium für religiöse Bedeutungen im ICF sind die Predigten, die in den Celebrations einen zentralen Stellenwert einnehmen und ein Drittel der ungefähr 90-minütigen Dauer der Veranstaltung einnehmen. Im Vergleich zu den anderen Elementen, wie z.B. der Musik, stellen diese eine schwach ritualisierte Praxis dar.15 Während hochgradig ritualisierte Kommunikation als Kommunikationsvermeidungskommunikation zu bezeichnen ist (vgl. Luhmann 1998: 235-236), eröffnet die Form der Predigt weit grössere Möglichkeiten für Kommunikation. Die aktuellen Predigten finden sich auch als Podcasts auf den Webseiten des ICF.16 Die Glaubensvorstellungen der Gemeinschaft werden daneben über eine Reihe von Büchern von ICF und Leo Bigger verbreitet, die neben weiterer ausgewählter Literatur in einem eigens eingerichteten Buchladen vor und nach den Celebrations erstanden werden können. Für die vorliegende Untersuchungen wurden vier Predigten genauer analysiert und daneben weiteres Datenmaterial, wie ein Gruppengespräch und Publikationen von ICF-media beigezogen.17

14 Typischerweise (vgl. z.B. Smelser 1962: 27) wird die Verknüpfung von handlungsanleitenden Normen mit generalisierteren Werten als Vorgang einer solchen Spezifikation verstanden. Die Unterscheidung zwischen Werten und Normen soll im Folgenden nicht bestritten werden, es wird jedoch darauf verzichtet, da sie die Frage, wie diese Respezifikation in empirischen Fällen erfolgt, selbstverständlich noch nicht beantwortet. 15 Als Eigenschaften von Ritualisierung können Bell folgend Formalismus, Traditionalismus, Invarianz, Redundanz und Regelgeleitetheit gesehen werden, die freilich auf empirische Beispiele in unterschiedlichem Mass zutreffen (vgl. Bell 1997). 16 Neuerdings nicht nur als Audiodateien, sondern auch als Videos: Siehe http://www.icf.ch/media/podcasts.html (17. 9. 2009). 17 An dieser Stelle können aus Platzgründen weder die Paraphrasierungen noch die Analysen ausführlicher dargestellt werden. Bei der Analyse wurde Froschauer und Lueger (2003) folgend zwischen dem Textrahmen und dem lebensweltlichen Kontext der Sequenzen der untersuchten Predigten/Texte unterschieden. D. h. dass jeweils zuerst die Position einer Sequenz im Text und ihren Anschlüssen betrachtet wurde und in einem zweiten Schritt die Bezüge der Sequenz, die über den Text hinausgehen. 255

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4.2.2 Merkmale Erzählungen in der ersten Person Singular Zentraler Bestandteil der untersuchten Predigten sind Erzählungen von Ereignissen in der ersten Person Singular, die sich im Alltag des Predigers abgespielt haben. Diese werden oft eingeleitet, indem vom Prediger Fragen gestellt werden, wie zum Beispiel danach, wie eigene Sünden zu bewerten seien. In den Erzählungen werden die gestellten Fragen veranschaulicht und beantwortet, indem die in der geschilderten Situation zu treffenden Entscheidungen erörtert werden. Antworten auf Fragen wie »Habe ich etwas falsch gemacht?« werden auf der Ebene der erzählten Geschichte gegeben und mehrere Male, auch auf eine allgemeinere Ebene bezogen, wiederholt. Damit werden kurze Bibelzitate verwoben, die meist vom Prediger direkt aus der Bibel abgelesen und auf die Leinwände projiziert werden. Die genannten Erzählungen sind im Vergleich zu anderen Abschnitten der Predigten überdurchschnittlich oft von Lachern im Publikum begleitet und stellen emotionale Höhepunkte der Predigt dar. Der Zweck der Erzählungen übersteigt die Illustration von allgemeinen, beispielsweise aus der Bibel abgeleiteten Fragen. In der Ich-Form werden Probleme und Antworten in einer eigenen Zuspitzung und Eindeutigkeit gegeben, die im Verbund mit der Emotionalität und Dynamik der Erzählung zu einer starken Autonomie der Ebene der Erzählung gegenüber dem Predigtthema führt. Dies zeigt sich auch darin, dass an Geschichten und sich daraus ergebenden Fragen und Verknüpfungsmöglichkeiten direkt mit weiteren Geschichten angeschlossen wird, die nur noch sehr lose mit dem eigentlichen Thema der Predigt verknüpft sind. Persönliche Beziehung zu Jesus Die Erzählungen kulminieren typischerweise in Verweisen auf die persönliche Beziehung des Erzählers zu Jesus und ihrer Relevanz in der betreffenden Situation. Der Übergang von der Schilderung alltäglicher Situationen zur Diskussion von religiösen Implikationen und Interpretationen erfolgt dadurch auf der Ebene der Erzählung selbst. Der Prediger bringt sich weniger als Interpret ein, als dass er sich in die Rolle eines Anschauungsbeispieles versetzt: Seine Beziehung zu Jesus hat ihm beispielsweise gewisse Gedanken bezüglich vorbeistolzierender Strandschönheiten verboten. Er berichtet von der Entscheidung gegen das gedankliche Abschweifen und damit gegen die Sünde. Über die Erzählungen werden die meist auf das Individuum bezogenen Fragen nicht über allgemeine Ausführungen zum Thema Individuum und Gott erörtert, sondern über die Figur »Ich« und ihren persönlichen Bezug zu Jesus. 256

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Entscheidung Das Verhältnis zu Jesus wird in Analogie zu Freundschaften und Liebesbeziehungen als soziale Beziehung, die durch Entscheidung bestimmt ist, dargestellt. Diese Entscheidung, so wird in der Predigt anhand der Beispiele vermittelt, gelte es immer wieder neu zu treffen, beispielsweise angesichts der bereits genannten Versuchungen. Damit wird die Entscheidung in der konkreten Situation mit der grundsätzlichen Entscheidung für eine Beziehung zu der im ICF kommunizierten Figur Jesus und damit zur Religion gleichgesetzt.18 4.3 Leistungen der Semantik 4.3.1 Möglichkeit für Ritualisierung Die Interpretation religiöser Inhalte in ihrem Entstehungskontext und hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Zusammenhang ihrer Anwendung ist in römisch-katholischen und reformierten Landeskirchen Aufgabe von Theologen und wird in mehrjährigem Theologiestudium erlernt. Beim ICF wird durch den Fokus auf die Person und ihre Entscheidung für Jesus dieser theologisch zu überbrückende Abstand zwischen Lehre und Leben durch ein einziges Manöver umgangen. An die Stelle von Interpretationen rückt das Zeugnis, dessen Geltung durch die Nacherzählung von Alltagssituationen dargestellt wird. Das evangelikale Verständnis der Bibel als Sammlung evidenter Aussagen erlaubt direkte Übergänge von Bibelstellen in Schilderungen alltäglichen Handelns, das seinerseits als Abfolge evidenter Entscheidungen gesehen wird. Die Evidenz von Ereignissen und persönlichen Bezügen ersetzt die Interpretationsleistungen, die zur Vermittlung von historischen, kritischtheologischen Ausführungen und alltäglicher Lebensführung notwendig wären. An die Stelle der doppelten theologischen Kontextualisierungen bezüglich des biblischen Texts auf der einen und des gegenwärtigen Bezugs auf der anderen Seite tritt beim ICF auf beiden Seiten Unmittelbarkeit. 18 Diese auf den Celebrations basierenden Schlüsse der religiösen Semantik des ICF werden durch weitere Datenquellen bestätigt. Die Figur der persönlichen Enscheidung wurde im Gruppengespräch vom ICF-Prediger an erster Stelle genannt und zu ihrer Illustrierung auf die eigene Lebensgeschichte und dabei getroffene Ereignisse verwiesen. Dieselben Elemente finden sich in Publikationen des ICF, wobei abgesehen vom Vorwort sämtliche Kapitel von Leo Biggers Buch »Entdecke Gott. Wie Du Gott persönlich kennenlernen kannst« (Bigger 2007) in der ersten Person Singular gehalten sind und sich dem Bekenntnischarakter der Predigten angleichen. 257

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Der zentrale Fokus auf persönliche Entscheidung und Beziehung findet sich auch in den Liedtexten wieder, welche, an die Leinwände projiziert, Mitsingen ermöglichen. Der Zuschnitt der Botschaft erlaubt ihre Kommunikation in Form des Mediums der Popmusik. Auch im nur kleinen und standardisierten Raum, den Lieder für inhaltliche Ausführungen bieten, können die wichtigsten Inhalte kommuniziert werden, wobei im Gesang der emotionalen Hingabe, die im Zentrum der religiösen Entscheidung steht, ebenfalls Ausdruck gegeben werden kann. Der zu vermittelnde Inhalt bedarf keiner komplizierten Vermittlung, die Formen der Mitteilung müssen dazu nicht so stark von der kommunizierten Information abweichen, wie beispielsweise in historischkritischer Exegese, die auf Mitteilung mittels eines komplexen Textes angewiesen und kaum singbar ist.19 Die Theologie des ICF lässt sich auch in kurzen Theaterszenen, Liedtexten und unterhaltsamen Geschichten kommunizieren. Anschauliche, niederschwellig zugängliche Formen sind möglich, weil die niedrige Komplexität der Inhalte eine Ritualisierung und die damit verbundene Tendenz zur »Kommunikationsvermeidungskommunikation« (Luhmann 1998: 235) erlaubt, also Formen, die weniger über ungeahntes informieren als Bekanntes bestätigen und vor allem Anschlüsse für die nächsten Schritte der Kommunikation festlegen. Damit kann auch die Kommunikation von Emotionen in den Vordergrund treten, da diese weniger der Erklärung als der Demonstration durch sprachliche Modulation, Gestik, Bewegung etc. auf der Bühne bedürfen. Wie weiter oben im Anschluss an Collins gesehen, haben gerade solche ritualisierten Formen das Potential zur interaktiven Steigerung der Emotionalität und dadurch der Festigung der Beziehung zu den Symbolen der Gruppe.

19 Im Kommunikationsverständnis Luhmanns (1995) besteht Kommunikation aus drei Selektionen: Information, Mitteilung und Verstehen. Das Verstehen einer Differenz zwischen einem Mitteilungshandeln (z.B. dem Schwärzen von Papier) und einer damit kommunizierten Information (dem Inhalt eines Textes) ist Ausgangspunkt für Kommunikation. Im Fall von ritualisiertem Handeln, wie z.B. Begrüssungsfloskeln, ist diese Differenz und damit die Kapazität der Kommunikation geringer als bei der freien Verwendung von Sprache mit ihren unvorhergesehenen Wendungen (vgl. Luhmann 1998: 235-236). 258

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4.3.2 Individuum, Beziehung, Entscheidung Zusammenfassend lässt sich im ICF eine dreifache Betonung des Individuums finden: In der Betonung der Einzelperson, in der Betonung der Wichtigkeit der Beziehung zum in Form von Jesus personalisierten Gott und schliesslich in der Prominenz der persönlichen Entscheidung und damit dem zentralen Punkt der Konstitution des modernen Individuums. Während die Form der Inszenierung an Angebote aus dem Unterhaltungsbereich erinnert und so gerade für die Zielgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen Anschluss an Bekanntes darstellt, birgt auch der vermittelte Inhalt Wiedererkennungspotenzial. Der Bezug auf die eigene Person in ihrem Erleben und Entscheiden stellt einen Anschluss an die moderne Semantik des Individuums dar. Eine Unterinstinstituationalisierung auf der Ebene des Individuums kann als Merkmal der Moderne gesehen werden: »In the private sphere, everything is seemingly a matter of choice.« (Dawson 1998: 137). Damit geht für die Individuen die Notwendigkeit einher, sich in verschiedensten Bereichen zwischen Möglichkeiten zu entscheiden. Jugendliche und junge Erwachsene sind beispielsweise mit Entscheidungen bezüglich Ausbildung und Beruf konfrontiert. Die Betrachtung der Deutungsangebote des ICF zeigt, dass diese auf die Ebene der individuellen Entscheidung zugeschnitten sind, also einer Figur, welche für die Zielgruppe hohe Relevanz hat. In der religiösen Semantik von ICF mündet Individuum und Entscheidung in persönliche Beziehung (zu Jesus), und damit einem weiteren Bereich, der gerade die von ICF primär angesprochene Altersgruppe, die mit einer potentiell hohen Mobilität oder wichtigen Schritten in Beziehungsfragen konfrontiert sein dürfte, bewegt. Es muss nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass die Anhänger des ICF eindeutige Antworten auf die Probleme von Entscheidungszwänge finden und zugleich übernehmen, aber das, was im ICF problematisiert wird – Individuum, Entscheidung, Beziehung – deckt sich mit alltäglichen Fragen und kann so Relevanz beanspruchen. Neben dieser Anknüpfung an in verschiedensten Lebensbereichen bedeutsamen Entscheidungsprobleme schliesst ICF damit auch an ein Merkmal moderner westlicher Religiosität an. Die Freiheit der Wahl der Religionszugehörigkeit kann als in dieser Breite »largely novel situation in human life« (Bruce 1999: 3) bezeichnet werden. An primordiale, d.h. an als unveräusserlich geltende Merkmale wie Abstammung gebundene Religionszugehörigkeit wird zunehmend durch Religiosität ersetzt, die Gegenstand persönlicher Entscheidungen ist. Religion wird in der westlichen Gesellschaft durch den Prozess der Säkularisierung selbst als Teil menschlicher Kultur und dadurch als kontingent gesehen, als Beschrei259

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bung wiederbeschrieben (vgl. Luhmann 2002a: 311). Durch diesen Wandel gehen etablierte religiöse Institutionen der Selbstverständlichkeit ihrer Bindungsformen verlustig, die durch Wahlfreiheit nicht nur konkurriert, sondern verneint werden. ICF macht das Problem der Wahlfreiheit zu seinem Kerngeschäft, Entscheidung zu einer bestimmten Religion zum Hauptthema. Das darin bereits implizierte Risiko, dass die Entscheidung negativ verläuft, wird in Kauf genommen und stellt, wie unten deutlich werden wird, seinerseits ein konstitutives Merkmal der Religionsgemeinschaft ICF dar.

4.3.3 Generalisierung und Spezifikation Die religiösen Deutungen des ICF werden in der rituellen Kommunikation spezifiziert. An die Ausführungen zur Rolle des Individuums anschliessend, lässt sich darüber hinaus zeigen, wie diese eine Ausgangslage für die Spezifikation von Glaubensüberzeugungen darstellt. In den Predigten nimmt das Handeln in der Welt eine prominente Rolle ein, wie die häufig kommunizierte Figur der Sünde zeigt. Während die Rituale gesondert nicht den Weg zur Erlösung darstellen, geht die Betonung des Individuums mit einer Betonung in der Welt stattfindender Entscheidungen einher, welche notwendige Bedingungen für eine Erlösung darstellen. Dazu wird erstens eine Generalisierungsleistung erbracht: Durch das Ansetzen an der Person in ihrer persönlichen Beziehung zu Jesus kommt religiösen Vorstellungen eine situations- und zeitübergreifende Gültigkeit zu. Das Individuum als Schnittpunkt verschiedenster sozialer Kreise (vgl. Simmel 1992 [1908]) dient religiöser Semantik als Medium, über welches sie in verschiedenste Lebensbereiche gelangt. Religion ist damit nicht auf Gemeinschaftsgrenzen beschränkt und muss auch keinen umfassenden sozialen Kontext prägen, um universale Relevanz zu beanspruchen. Die Figur individueller Entscheidung ist weiter für ihre Plausibilität auch nicht darauf angewiesen, dass sich ein ganzes Umfeld in ihrem Sinn verhält, gerade ihre Individualität kann dadurch bestätigt werden, dass dem nicht so ist. Die Leistungsfähigkeit der Generalisierung über die Semantik der persönlichen Beziehung zu Jesus liegt zudem darin, dass sie auf ein geringes Mass an Transzendierung angewiesen ist, da für sie die Ebene der Person nicht verlassen werden muss. Dies stellt die Ausgangslage zur Spezifikation der religiösen Deutungen dar: An die Entscheidung einer Person für Jesus gilt es für diese im Alltag in Form weiterer Entscheidungen anzuknüpfen, die im bekannten binären Muster der Wahl zwischen gut und schlecht, erlöst oder nichterlöst erfolgen können. Durch die Übereinstimmung des Mediums und 260

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der Form der alltäglichen religiösen Spezifikation, der Figur des Individuums, mit derjenigen des umfassenden religiösen Bekenntnisses ist auch an dieser Stelle wenig Deutung notwendig und die jeweils richtigen Entscheidungen sind in den Celebrations unschwer kommunizierbar. Dass, wie festgestellt, das ICF eindeutige und wenig komplizierte Positionen vertritt (z.B. gegen vorehelichen Geschlechtsverkehr, gegen Homosexualität), erleichtert dies zusätzlich. Zudem ist der eigentliche Bezugspunkt der Entscheidung und die angestrebte Konsequenz nicht eine Veränderung der Welt, sondern die Bestätigung des Individuums in seiner Religiosität. Dies vereinfacht die Spezifikation insofern zusätzlich, als dass ihre Resultate direkt greifbar sind: Gute oder schlechte Folgen müssen nicht in ihren Intentionen und der dazu führenden Interpretation von Werten bedacht werden, vielmehr gilt die richtige Einstellung als unmittelbar in der richtigen Entscheidung erkennbar und lässt direkt Schlüsse auf den Heilsstand zu. Der so erfolgende Übergang von Generalisierung in Spezifikation im alltäglichen Handeln ist unmittelbarer als bei der Auslegung hochgradig generalisierter, konkrete soziale Bezüge transzendierender Werte wie Nächstenliebe oder Frieden und ihrer Umsetzung in Form alltäglicher, individueller Entscheidungen. Religiosität (Entscheidung für Jesus), ihre Bestätigung (z.B. Entscheidung gegen unangebrachte Gedanken gegenüber Strandschönheiten) und Konsequenzen (Entscheidung als religiöse Bewährung) sind auf der selben Ebene angesiedelt, bestätigen und erfordern sich gegenseitig. Die Evidenz, die der religiösen Entscheidung zugeschrieben wird, findet sich auf diese Weise in der religiösen Beurteilung und Beeinflussung alltäglicher Entscheidungen wieder.

4.3.4 Innerweltlichkeit Wie andere zeitgenössische evangelikale Bewegungen (vgl. Shibley 1998) weist auch das ICF eine intensive Austauschbeziehung zur Welt auf und kann dem weltangepassten Typus religiöser Gemeinschaften zugeordnet werden (s. o.).20 Am augenfälligsten wird diese Verknüpfung 20 Die Geschichte des Evangelikalismus zeigt verschiedenste Einstellungen gegenüber der Welt. So lässt sich im amerikanischen Evangelikalismus ein diesbezügliches Oszillieren feststellen: Amerikanische Fundamentalisten konfrontierten in den 1920er Jahren wissenschaftliche Erkenntnisse frontal und versuchten ihre eigene Interpretation beispielsweise im »Scope’s Monkey Trial« in der weltlichen Ordnung durchzusetzen. Auf die diesbezüglichen Niederlagen folgte ein mehrere Jahrzehnte dauernder subkultureller Rückzug, bis in den 1970er Jahren mit der Moral Majority Versuche, die Gesellschaft zu verändern, die Dominanz separatistischer Strömungen im Evangelikalismus wieder ablösten. 261

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mit der Umwelt im Einbezug von Techniken der säkularen Umwelt in den Ritualen. Diese haben jedoch im ICF nicht den Stellenwert von mystischem Erleben oder magischem Handeln, das als religiöses Ziel bzw. heilsrelevantes Verhalten gelten würde. Der Bereich der Rituale ist auch auf der Ebene der Theologie des ICF nicht von übergreifender Wichtigkeit. Die Bekehrung kann durchaus in einer Celebration erfolgen und dort gefeiert werden, heilsentscheidend ist aber die Führung des gesamten Lebens im Sinne einer Fortsetzung der Entscheidungen für eine persönliche Beziehung mit Jesus. Mit den Typen religiöser Identifikation nach Hervieu-Léger (2004: 47) gesprochen, kommt zu den rituell konstituierten Dimensionen von Gruppe und Emotion die ethische Identifikation, die auf Individuum und Entscheidung ausgerichtet ist, hinzu. Dieser Hauptbezugspunkt der religiösen Semantik des ICF findet nicht im gemeinschaftlichen, rituell geprägten Rahmen statt. Auch wenn damit der Bezug der Glaubensvorstellungen auf das Handeln in der Welt stark ist, fungiert in diesen die Veränderung der Welt nicht als Ziel. Kultur und Gesellschaft werden als gegeben wahrgenommen und die religiöse Semantik ist nicht auf ihre Veränderung ausgerichtet, vom Individuum wird sie nicht gefordert. Ausserhalb der individuellen Entscheidung gibt es kein Heil, die Welt ist damit ethisch uninteressant. So führt die mahnende Schilderung fleischlicher Versuchungen an Badestränden in einer Predigt ausdrücklich nicht zu einer Verurteilung der Welt, sondern zu einer Konzentration auf den in dieser Situation richtig handelnden und denkenden Gläubigen. Dieser wird nicht dazu aufgefordert, das schöne Stolzieren zu unterbinden, sondern nur seine eigenen Phantasien zu zügeln. Die relevanten Fragen nach Entscheidung, Beziehung und Erlösung beziehen sich auf das Individuum. Diese Ausschliessung der Welt aus den eigenen Bemühungen um Erlösung erlaubt einerseits Zurückhhaltung in Bezug auf die Gesellschaft, da es nicht gilt, die Welt zu retten, andererseits erlaubt sie auch die Verwendung von weltlichen Referenzen wie Musikstilen oder Beleuchtungstechniken, da diese im Rahmen der Gemeinschaft und den genannten Bemühungen gerechtfertigt sind.

4.3.5 Gemeinschaft durch Entscheidung und Abgrenzung Der hohe Stellenwert individueller Entscheidung und persönlicher Beziehung zu Jesus, in welche auch die Problematik der Erlösung verschoben wird, führt zur Frage, inwiefern in der religiösen Semantik auch der Ebene der Gemeinschaft Bedeutung zukommt und dadurch konstituiert wird.

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Gerade die geschilderte Beziehung zur Welt hat gemeinschaftsbildende Implikationen. Auch angesichts der Wichtigkeit des Handelns in der Welt wird die Abgrenzung zu ihr aufrecht erhalten und betont. Auf dem kommunizierten Glauben und das daran anschliessende spezifische Handeln kann die Bildung einer Gemeinschaft derer, die sich für Jesus entschieden haben, als Formierung einer Elite der »religiös Qualifizierten« aufbauen: »Stets aber wird dann, infolge der Verschiedenheit der religiösen Qualifikation, ein solcher Zusammenschluss des Asketentums zu einer aristokratischen Selbstorganisation innerhalb oder ausserhalb der Welt der Durchschnittsmenschen, die sie umbrandet [...]. Die Welt als Ganzes bleibt, asketisch gewertet, eine ’massa perditionis’« (Weber 1972: 329).

Die zuverlässig unerlöste Aussenwelt führt nicht zu religiösen Problemen, da es sowieso nicht gilt, sie als Ganzes zu verändern, andererseits erlaubt sie die Abgrenzung, welche die Definition der Innenseite der Gemeinschaft entlastet. Die geschilderte Prominenz des Individuums ermöglicht die Erzeugung von Gemeinschaft aus der »freien Vereinbarung ihrer Mitglieder« (Weber 1972: 721). Exklusive Gemeinschaft kann sich durch die Figur der Entscheidung an klar kommunizierten Grenzen orientieren.21 Damit ist das ICF im soziologischen Sinn als Sekte zu bezeichnen, als »Verein der religiös voll Qualifizierten und nur ihrer« (Weber 1972: 721). Die zentrale, am Individuum ansetzende religiöse Semantik der individuellen Entscheidung ist damit ebenfalls das Prinzip der Gemeinschaft. Individuelle Entscheidung wird als Kriterium aufgegriffen und in Gemeinschaft überführt. Durch eine solche Definition der Grenzen der Gemeinschaft stellt der unerlöste Zustand der Welt als »Anderes« der Gemeinschaft und der persönlichen Entscheidung ein wichtiger Bestandteil des religiösen Selbstverständnisses dar.

21 Das Kriterium der Entscheidung für eine zentral verwaltete Lehre unterscheidet ICF beispielsweise von den durch Guest (2002) untersuchten, eher charismatisch ausgerichteten evangelikalen Bewegungen inklusiveren Zuschnitts. Bei diesen finden sich einhergehend mit einer stärkeren Betonung des individuellen religiösen Erlebens losere Grenzen auf der Ebene von Zugehörigkeit und Inklusivismus auf der Ebene der Lehre (vgl. Guest 2002: 53). 263

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5 Schluss Die Bedingungen für gemeinschaftliche Solidaritäten in modernen Gesellschaften werden als schlecht beurteilt (vgl. Lüddeckens/Walthert, in diesem Band), weshalb es am Schluss die Frage zu beantworten gilt, wie die Bildung von Gemeinschaft im Fall des ICF funktioniert. Die Leistung der Rituale liegt in der Spezifikation religiöser Überzeugungen in kollektivem Erleben und Handeln, das als konzertierte und stark emotional besetzte Interaktion stattfindet und zu einer anhaltenden Plausibilisierung religiöser Bedeutungen und Symbolen beiträgt. Gemeinschaft konstituiert und bestätigt sich als Ritualgemeinschaft. Die Theologie des ICF – so der erste Punkt in den Ausführungen zu den Glaubensvorstellungen – bietet durch ihren Bezug auf Individuum und Entscheidung die Ausgangslage für eine niederschwellige Darstellung und Anwendung in der beobachteten rituellen Form. Da nicht komplexe Intepretationen im Zentrum stehen, diese als der Authentizität der Überzeugung sogar abträglich gesehen werden, sind die zu vermittelnden Inhalte auch in stark ritualisierbarer und damit auf Erleben ausgerichteter Kommunikation der Celebrations vermittelbar. Zentral ist, zweitens, die Position des Individuums in der religiösen Semantik des ICF: Betont wird die einzelne Person, ihre religiöse Entscheidung und ihre Religiosität als persönliche Beziehung und damit Bereiche, denen im Kreis der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, welche ICF besonders ansprechen will, ebenfalls in anderen Lebensbereichen eine grosse Bedeutung zukommen dürfte. Damit schliesst das ICF an Bekanntes und Relevantes an. Drittens wird mit der Figur des Individuums und seiner Entscheidung am »Schnittpunkt sozialer Kreise« angesetzt, welcher als Vehikel des Transports religiöser Deutungen in verschiedenste Lebensbereiche fungiert. Weder ein abgeschlossener gemeinschaftlicher Lebenskontext noch ein übergreifender gesellschaftlicher Anspruch ist damit als Dach oder Trägerschaft von Religion notwendig um diese im Leben ihrer Angehörigen universal von Belang werden zu lassen. Dies geht einher mit dem vierten Punkt, demjenigen der Innerweltlichkeit: Es ist nicht der ausserweltliche, rituelle Bereich, der heilsentscheidend im ICF ist, sondern das individuelle Handeln generell. Auch wenn die Welt nicht Ziel der Religiosität ist, dient sie als Ort, an welchem Bewährung erfolgen muss und von welchem dazu auch Elemente übernommen werden können. Damit ist Weltrückzug nicht notwendig und weltliches Engagement nicht von vorneherein suspekt. Die Teilnahme beim ICF lässt sich mit beruflichen oder schulischen Laufbahnen vereinbaren.

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RITUAL, INDIVIDUUM UND RELIGIÖSE GEMEINSCHAFT

Letztlich stellt, fünftens, die gesellschaftliche Umwelt jedoch auch die Kontrastfolie dar, vor welcher sich das ICF als Verband religiös qualifizierter Individuen, als Sekte im Sinne Webers, profilieren kann. Die Abgrenzung von der Welt ermöglicht die Profilierung der Gemeinschaft gegen Innen und Aussen. Dass Übertritt durch Entscheidung möglich wird, ist für das Selbstverständnis der Gemeinschaft zentral, wodurch der Modus der Gemeinschaft dem geforderten Modus der individuellen Religiosität entspricht. Die spezifische Form des Rituals wird von ICF durch deren Gestaltung und die Form der kommunizierten religiösen Inhalte geöffnet, während hochgradig generalisierbare Glaubensvorstellungen an der Figur des Individuums spezifiziert und anhand von Entscheidungen konkretisiert werden. Während also das ICF in seiner ausserweltlichen, rituellen Dimension eine inklusive Ritualgemeinschaft ist, ist er in der Dimension des Glaubens eine exklusive Gemeinschaft derer, die sich immer wieder für eine bestimmte Religiosität entscheiden.22 Die aufgezeigten Kombinationen von Generalisierung und Spezifikation, von Öffnung und Schliessung erlauben es dem ICF, in modernen Gesellschaften eine religiöse Gemeinschaft zu sein, ohne ein zahlenmässig vernachlässigbares oder nur vorübergehendes Phänomen zu sein.

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22 Bezüglich dieser gleichzeitigen Öffnung und Schliessung wären für weitere Untersuchungen die Hauskreise aufschlussreich. Durch diese bezüglich Teilnahme beschränkten Smallgroups wird das interne Spektrum erweitert. Eine Steigerung des religiösen Niveaus mit aktiverer individueller Beteiligung, welches Steigerungen des gemeinschaftlichen Engagements wird ermöglicht. 265

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AUTORINNEN

UND

AUTOREN

Arweck, Elisabeth ist promovierte Religionssoziologin und Religionswissenschaftlerin. Sie lehrt und forscht als Senior Research Fellow an der University of Warwick. Forschungsschwerpunkte: Sozialisierung von Kindern und Jugendlichen in religiösen Gemeinschaften, Neue religiöse Bewegungen sowie Methoden und Ethik in der Religionsforschung. Höpflinger, Anna-Katharina (Dr. des.) studierte Religionswissenschaft an der Universität Zürich und forscht derzeit im FWF-Projekt Graz »Communicating Bodies« über Kleidung und Religion. Forschungsschwerpunkte: Kleidung und Religion, Gender und Religion, Religionsgeschichte der Antike. Gebhardt, Winfried ist Professor für Allgemeine Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Koblenz-Landau. Forschungsschwerpunkte: Jugendsoziologie, Kultursoziologie, Religionssoziologie. Knoblauch, Hubert ist Professor für Allgemeine Soziologie/Theorie moderner Gesellschaften und Leiter des Fachgebietes Allgemeine Soziologie an der Technischen Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Wissen, Kommunikation, Qualitative Methoden, Religionssoziologie.

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FLUIDE RELIGION

Lüddeckens, Dorothea ist Assistenzprofessorin für Religionswissenschaft in Zürich und forscht zurzeit als Fellow am Lichtenberg-Kolleg der Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Religiöse Gegenwartskulturen, Zoroastrismus, Ritual Studies, qualitative Religionsforschung. Maréchal, Ann-Laurence (MA) studierte Religionswissenschaft, Vorund Frühgeschichte und Skandinavistik. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Religionswissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Neuheidentum/neugermanisches Heidentum, Vor- und frühgeschichtliche Religionen, Neue Religiosität/Gegenwartsreligiosität. Neubert, Frank (Dr.) studierte Religionswissenschaft und Indologie in Leipzig. Am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Luzern lehrt und forscht er als Oberassistent. Forschungsschwerpunkte: Moderner Hinduismus, soziologische und diskursanalytische Zugänge zu Religion sowie wissenschaftsgeschichtliche Fragen. Rademacher, Stefan (MA) studierte Religionswissenschaft und Publizistik an der Freien Universität Berlin. Er ist Doktorand und Assistent am Institut für Religionswissenschaft der Universität Bern. Forschungsschwerpunkte: »Esoterik« bzw. alternative Spiritualität, Religionssoziologie und lokale Religionsforschung. Walthert, Rafael (Dr. des.) studierte Soziologie, Religionswissenschaft und Philosophie an der Universität Zürich. Dort forscht und lehrt er Religionswissenschaft und Religionssoziologie als Assistent am Religionswissenschaftlichen Seminar. Forschungsschwerpunkte: Soziologie, Religionssoziologie nicht-christlicher Kontexte, Ritualtheorien. Winter, Franz (Dr.) studierte und forschte in Österreich, Italien und Japan und promovierte in Klassischer Philologie und Religionswissenschaft. Er arbeitet als Lektor am Institut für Religionswissenschaft der Universität Wien und als wissenschaftlicher Referent an der österreichischen »Bundesstelle für Sektenfragen«. Forschungsschwerpunkte: Kulturkontakte zwischen Europa und Asien (von der Antike bis heute), Neue religiöse Bewegungen (insbes. japanische Neureligionen) und spätantike Religionsgeschichte. 270

Sozialtheorie Ulrich Bröckling, Robert Feustel (Hg.) Das Politische denken Zeitgenössische Positionen Januar 2010, 340 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1160-1

Georg Glasze, Annika Mattissek (Hg.) Handbuch Diskurs und Raum Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung September 2009, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1155-7

Karin Kaudelka, Gerhard Kilger (Hg.) Die Arbeitswelt von morgen Wie wollen wir leben und arbeiten? Mai 2010, ca. 234 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1423-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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3) ANZ1250.p 228640271874

Sozialtheorie Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze Juni 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5

Elisabeth Mixa Body & Soul Wellness: von heilsamer Lustbarkeit und Postsexualität August 2010, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1154-0

Gabriele Winker, Nina Degele Intersektionalität Zur Analyse sozialer Ungleichheiten Juni 2009, 166 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN 978-3-8376-1149-6

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Sozialtheorie Roswitha Breckner Sozialtheorie des Bildes Zur interpretativen Analyse von Bildern und Fotografien April 2010, ca. 386 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1282-0

Hannelore Bublitz Im Beichtstuhl der Medien Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis März 2010, ca. 232 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1371-1

Michael Busch, Jan Jeskow, Rüdiger Stutz (Hg.) Zwischen Prekarisierung und Protest Die Lebenslagen und Generationsbilder von Jugendlichen in Ost und West Januar 2010, 496 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1203-5

Robert Feustel, Maximilian Schochow (Hg.) Zwischen Sprachspiel und Methode Perspektiven der Diskursanalyse April 2010, ca. 200 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1429-9

Joachim Fischer, Heike Delitz (Hg.) Die Architektur der Gesellschaft Theorien für die Architektursoziologie Mai 2009, 424 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1137-3

Markus Gamper, Linda Reschke (Hg.) Knoten und Kanten Soziale Netzwerkanalyse in Wirtschafts- und Migrationsforschung April 2010, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1311-7

Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.) Avantgarden und Politik Künstlerischer Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne August 2009, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1167-0

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