Flucht vor der Heimat – ewige Trauer oder Aufbruch zu neuen Ufern?: Leidfaden 2016 Heft 03 9783525806159, 9783647806150, 9783525701911, 9783647701912, 9783456855271, 9783525402672, 9783647402673, 3525806159

Heimat ist im Zuge von Migration und Flüchtlingskrise ein hochaktuelles Thema. Ist Heimat der Ort der Geburt und der Kin

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Flucht vor der Heimat – ewige Trauer oder Aufbruch zu neuen Ufern?: Leidfaden 2016 Heft 03
 9783525806159, 9783647806150, 9783525701911, 9783647701912, 9783456855271, 9783525402672, 9783647402673, 3525806159

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5. Jahrgang  3 | 2016 | ISSN 2192-1202

faden Leid

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

Flucht vor der Heimat – ewige Trauer oder Aufbruch zu neuen Ufern? Beate Mitzscherlich Heimatverlust und -wiedergewinn  Heiderose GärtnerSchultz Die spirituelle ­Dimension von Heimat  Annelie Keil Eine Heimat für

das Leben 

Ann-Carolin Boddenberg Notfallseelsorge bei Flüchtlingen 

Brigitte Buermann »Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl«

tagung „hoffnung – ein drahtseilakt“ Die Zeitschrift Leidfaden. Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer versteht sich als Fortbildungsorgan für all diejenigen, die Menschen in Krisen und Trauer therapeutisch, medizinisch oder seelsorgerlich begleiten. Mit der ersten Tagung für diese Zielgruppe greifen die Herausgeber das zentrale Thema „Hoffnung“ auf, das in 8 Vorträgen und 11 Workshops aus der Perspektive verschiedener Disziplinen vorgestellt und für die Praxis erarbeitet wird. zielgruppe

Trauerbegleiterinnen, Hospiz- und Palliativmitarbeiterinnen, Lebensberater, Seelsorger termin 10.03. – 11.03.2017 beginn 10.30 Uhr, Ende: 14.00 Uhr tagungsleitung Lukas Radbruch und Monika Müller weitere Referenten Martina Kern, Alfried Längle, Luise Reddemann, Franziska Röseberg, Matthias Schnegg ort Universitätsklinikum Bonn, Venusberg gebühr € 180,– frühbucherpreis € 140,– bei Anmeldung bis 1.12.2016 anmeldung bis

01.02.2017, Leidfaden Academy, Sabine Wehner ([email protected]) Leidfaden Academy veranstalter in kooperation mit Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (Lehrstuhl für Palliativmedizin), ALPHA Rheinland, Bundesverband Trauerbegleitung e. V. Das Programm der Tagung finden Sie hier:

www.v-r.de/leidfaden-tagung

EDITORIAL

Heimat ist ein hochaktuelles Thema, das wissenschaftlich immer dann besonders beachtet wird, wenn sich durch Migration kaum zu bewältigende Veränderungen ergeben wie im Zuge des Krieges im ehemaligen Jugoslawien oder derzeit in Afghanistan, in den arabischen und afrikanischen Staaten. Unsere Autorinnen und Autoren beschäftigen sich mit der grundlegenden Frage, ob Heimat der Ort der Geburt und der Kindheit ist oder der Ort, an dem man sich wohlfühlt, Erfolg und Freunde hat (Artikel von Beate Mitzscherlich). In letzterem Fall könnte der Begriff auf jeden Ort der Erde zutreffen und nicht nur geografisch geprägt sein, sondern auch zum Beispiel mit dem Arbeitsplatz identifiziert sein (Artikel von Christoph Werner) oder mit dem Ort, an dem ein Mensch sich willkommen fühlt (Artikel von Brigitte Buermann) oder spirituell eingebunden (Artikel von Heiderose Gärtner-Schultz). Andererseits wird Heimat über weite Strecken des Lebens als unveränderlich erlebt, wenn wir sie als das ansehen, was die Basis unseres Lebens darstellt: unseren eigenen  Körper (Artikel von Annelie Keil). Schwere Verletzungen und körperliche Erkrankungen zeigen, wie stark unser Gefühl, im eigenen Körper zu Hause zu sein, hiervon beeinträchtigt sein kann (Artikel von Samira Akasmou). Mit der Frage der Migration beschäftigen sich die Artikel von Haci-Halil Uslucan und Azra Dzajic-Weber zur Lebenswelt einer zweiten Generation von Migrantenfamilien. Ann-Carolin Bodden­berg schildert eindrucksvoll den Umgang mit traumatisierten Migrantenfamilien in der Notfallseelsorge und die immensen psychischen Belastungen der eingesetzten Fachkräfte. Ferner gibt es in diesem Heft persönliche Berichte von Migranten aus Kriegsgebieten in jüngster Zeit (Sawsan Teba), von Migranten aufgrund einer Umwelt­katastrophe (Nao Honekamp-­Yamamoto) oder von Migranten aus einer heute eher ungefährdeten Situation (Ewa Kulisch).

Wie verändert sich das Heimatgefühl, wenn sich die Heimat verändert (Artikel von HansiChristiane Merkel)? Und was bedeutet es für die Persönlichkeitsentwicklung, als Kind in einen anderen Kulturkreis hinein adoptiert zu sein (Artikel von Gina Hallström)? Wo und wie ein Mensch sich beheimatet, ist eine individuelle Herausforderung (Artikel von Alev Tekinay), die sich an den Wendepunkten des Lebens immer wieder neu stellt mit den unterschiedlichsten Sinnfragen, mit Gefahr und Chance. Doch allein ist all das nicht zu leisten. Als Beziehungswesen sind wir sozial und kollektiv in historische, gesellschaftliche und kulturelle Kontexte eingebunden (Artikel von Milena Klose). Umso erstaunlicher, dass Heimweh in der Trauerbegleitung weniger Beachtung findet (»Aus der Forschung« von Heidi Müller und Hildegard Willmann) oder in der Beratung (Fortbildungseinheit von Katalin Kóródi). Der Verlust von Heimat, dessen ganz unterschiedliche individuelle Bearbeitung in Trauerprozessen zum Teil über Generationen hinweg, ist der rote Faden aller Beiträge dieses Leid­fadenThemenheftes, betrachtet aus wissenschaftlicher oder persönlicher Perspektive, aus der praktischen Arbeit und in Form einer systemischen Fortbildung. Da stellt sich uns doch die Frage: Was macht Sie heimatlos? Max Frisch hat hierzu einen Fragebogen verfasst, den Sie auf den Seiten 76/77 finden.

Petra Rechenberg-Winter

Leidfaden, Heft 3 / 2016, S. 1, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Arnold Langenmayr

Inhalt 1

Editorial

4

Beate Mitzscherlich

14 4 Beate Mitzscherlich | Heimatverlust und -wiedergewinn

19 24

Heimatverlust und -wiedergewinn Annelie Keil Eine Heimat für das Leben Heiderose Gärtner-Schultz Die spirituelle Dimension von Heimat Azra Dzajic-Weber Kofferkinder und der schwierige Umgang mit Heimat

30 36

Ann-Carolin Boddenberg Notfallseelsorge bei Flüchtlingen Nao Honekamp-Yamamoto Multiple Heimatverluste im Nordosten Japans nach der »3.11.-Katastrophe«

42 19 Heiderose Gärtner-Schultz | Die spirituelle Dimension von Heimat

47

Christoph Werner Arbeitsplatzverlust als Heimatverlust Hansi-Christiane Merkel Zwischen Herkunft und Heimat – zwischen Verlassen und Verlust

54

24 Azra Dzajic-Weber Kofferkinder und der schwierige Umgang mit Heimat

Haci-Halil Uslucan Wann ist die Seele zu Hause?

42  Christoph Werner | Arbeitsplatzverlust als Heimatverlust

61

Samira Akasmou Trauer bei Verlust von körperlichen und geistigen Fähigkeiten – der Heimat in uns selbst

64 69 73 76 78

Brigitte Buermann »Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl« Gina Hallström »Adoption/Adoptivfamilie/Land/Heimat« Sawsan Teba Ersatzheimat … gibt es keine Max Frisch Fragebogen »Heimat« Ewa Kulisch Emigration gleich Heimatverlust?

83

Alev Tekinay

84

Milena Klose

Die Deutschprüfung

HEIMAT

88

Aus der Forschung: Heimweh: Was sagt die wissen-

89

Fortbildung: »Heimat – Kultur«

95

Rezension



98

schaftliche Literatur über dieses Phänomen?

BVT-Nachrichten

102 Nachruf 103

Vorschau

104 Impressum

84 Milena Klose | HEIMAT

4

Heimatverlust und -wiedergewinn Psychologische Grundlagen

Beate Mitzscherlich Wenn Heimatverlust als Problem in der psychotherapeutischen oder Beratungspraxis auftaucht, kann das sehr unterschiedliche Facetten haben: Zum einen ist dieser ein faktisches Problem von Menschen, die aufgrund von Krieg, wirtschaftlicher Not oder unmittelbarer Bedrohung von Leib und Leben ihre Heimat verlassen mussten und dort nicht nur Besitz, sondern häufig auch Angehörige und Freunde zurückgelassen oder verloren haben. Zum anderen – dies oft erst nach einer Phase der mehr oder weniger erfolgreichen Anpassung an die neuen Lebensumstände und der mehr oder weniger gelungenen Integration – brechen alte traumatische Ängste auf und es wird erkennbar, dass mit dem Verlust von Haus oder Land und selbstverständlicher sozialer und kultureller Einbindung Menschen in den Grundfesten ihrer Person erschüttert sind. Das betrifft nicht nur die Flüchtlinge oder Migranten selbst, sondern oft auch noch die zweite oder dritte Generation ihrer Nachkommen, für die das Zerrissensein zwischen einer neuen und der alten Heimat, das Gefühl, nie wirklich angekommen zu sein oder ankommen zu dürfen, oder einfach nur das Gefühl einer schmerzhaften Leerstelle mit dem Begriff von Heimat assoziiert sind. Diese grundsätzliche Erfahrung teilen die Nachkommen der aus Deutschland vertriebenen jüdischen Deutschen mit Nachfahren der Heimatvertriebenen aus Breslau oder Lemberg und mit vielen, schon vor Jahren oder erst vor einigen Monaten nach Deutschland gekommenen Flüchtlingen oder Migranten. Doch benutzen gelegentlich auch Menschen, die keine offensichtliche Migrationserfahrung haben, in der Beratungspraxis den Satz »Ich habe

meine Heimat verloren!« auf eine eher symbolische Weise, nach dem Scheitern von Beziehungen, dem Verlust naher Menschen, beruflichen und spirituellen Krisen oder anderen Erfahrungen, die mit dem Gefühl von Kontrollverlust, Isolation oder dem Sich-abgetrennt-Fühlen von signifikanten Anderen einhergehen. Ziel dieses Artikels ist es, nach dem Wesen der psychologischen Konstruktion von Heimat und Heimatverlust zu fragen und damit auch nach Ansatzpunkten für psychosoziale Unterstützung, psychologische Beratung und Psychotherapie. Heimat als historischer und politischer Begriff Dazu ist zunächst ein kleiner Exkurs in die Begriffsgeschichte des Heimatbegriffs erforderlich. In der deutschen Sprache war Heimat bis ins 18. Jahrhundert hinein ein Synonym für Grundbesitz in einer – meist dörflichen – Gemeinde; an den Besitz von Grund und Boden in einer Gemeinde war lange nicht nur das Wahlrecht, sondern bis zur Bismarck’schen Reform der Sozialgesetzgebung auch das »Heimatrecht«, der Versorgungsanspruch im Fall von Armut, Alter, Krankheit, Verwitwung und andere Unglücksfälle geknüpft. Heimat war anfangs also eher ein ökonomischer und juristischer Tatbestand: »Die neue Heimat kostete ihn wohl 1000 Gulden!« heißt es noch bei Jeremias Gotthelf. Einen Menschen als »heimatlos« zu bezeichnen hieß also in erster Linie, dass er arm und damit rechtlos war. Allerdings wurde bereits im 18. Jahrhundert auch die »Nostalgie«, die »Heimwehkrankheit« bei Schweizer Söldnern beschrieben, als eine nicht nur den

Leidfaden, Heft 3 / 2016, S. 4–13, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Umberto Boccioni, States of Mind (I), Those who Go, 1911 / Museo del Novecento, Milan, Italy /  De Agostini Picture Library / Saporetti / Bridgeman Images

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eigenen Hof, sondern auch die heimatlichen oder gar Amerika – eher schwach entwickelt blieBerge, Lebensweise, Lieder und Dialekte umfas- ben. Viele verarmte Bauern zogen in die Städte sende »krankhafte«, Kampfkraft und Korpsgeist oder wanderten gleich nach Amerika aus, das ­schwächende Sehnsucht. Heimatrecht wurde in der neuen Sozialgesetz­ Das mit dem Begriff der Heimat verknüpfte gebung abgelöst durch den Versorgungsanspruch Bild einer bäuerlich-sesshaften Lebensweise und am Wohnort, das Proletariat entstand, der wirtderer archaischer Abläufe wurde schaftliche Aufschwung führMit dem Verlust von mit dem Beginn der Modernite zum schnellen Wachstum der Haus oder Land und sierung und Industrialisierung Städte. Heimat blieb etwas für zunehmend obsolet. Hier be- selbstverständlicher sozialer die (auf dem Land) »Zurückgegann nicht nur die Romantisie- und kultureller Einbindung bliebenen«, die begannen, sich in rung, sondern auch die PsychoHeimatvereinen zu organisieren sind Menschen in den logisierung des Begriffs. Der von und dort regionale BesonderheiGrundfesten ihrer Person bäuerlicher Arbeit befreite Bürten von Wirtschaftsweise, Hauserschüttert. ger erging sich in der Heimat, bebau, Tracht und Dialekt zu »pfletrachtete sie, widmete ihr Verse, sehnte sich nach gen« oder auch nur noch zu archivieren, ehe sie ihr … aber er war mit ihr nicht mehr in einem völlig verschwanden. alltäglichen, praktischen Arbeits- und LebensAm Ende des 19. Jahrhunderts versuchte der zusammenhang verbunden. Die Vorstellung von Nationalismus, die ursprünglich an das eigene Heimat, die oft romantisch dörflich oder ländlich Ackerland und die Zugehörigkeit zur dörflichen geprägt blieb, wurde in die Innenwelt der bür- Gemeinschaft geknüpften Emotionen an das grogerlichen Subjekte verlegt. Nur hier war sie kon- ße Ganze der Nation zu binden, Heimat wurtrollierbar, während in der deutschen Kleinstaa- de ideologisch besetzt beziehungsweise zur Vaten-Realität die faktischen Bürgerrechte – auch terlandsliebe deklariert, was wenig später dazu im Vergleich zu anderen europäischen Nationen führte, dass man für die Heimat in Russland,

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Vincent van Gogh, Landscape with House and Ploughman, 1889 / State Hermitage Museum, St. Petersburg, Russia / Bridgeman Images

6   B e a t e M i t z s c h e r l i c h

Frankreich oder Nordafrika kämpfen und auch miert und damit wurde der Heimatbegriff auch sterben musste, während Frauen und alte Men- zunehmend kommerziell besetzt. Dahinter stand schen an der »Heimatfront« mehr schlecht als vor allem das Bedürfnis nach einer heilen Welt recht die  Versorgung aufrechtals Ausgleich für die ErfahrunHeimat ist der Wohnerhielten oder in Munitions- und gen von Zerstörung und die Anoder Herkunftsort und Textilfabriken den Nachschub strengungen des Wiederaufbaus, dessen mehr oder weniger hinter denen auch Fragen nach für den Krieg sicherten. romantische Verklärung, Nach dem Zweiten Weltkrieg eigener Schuld und Mitverantund den im Namen der Vaterwortung verdrängt wurden (Mitdie Zugehörigkeit zu landsliebe begangenen Kriegsscherlich und Mitscherlich 1967). Familie, Freunden oder verbrechen war der Begriff von Politisch wurde Heimat in einer anderen engen »Heimat« im wahrsten Sinne Westdeutschland nur noch im Gemeinschaft. des Wortes »verbrannt«, nicht Umfeld der Vertriebenenverbännur symbolisch, sondern auch faktisch. Ange- de thematisiert, deren Gefühl von einer ungesichts von Millionen Toten, zerstörten Städten rechten Verteilung der Belastung aus den Kriegsund einem großen Anteil von Heimatvertriebe- folgen erst mit dem »Lastenausgleich« und dem nen verschwand der Begriff von Heimat für ei- allgemein wachsenden Wohlstand partiell benige Zeit aus dem politischen Diskurs, um umso friedet wurden. In Ostdeutschland wurden die üppiger im Umfeld der scheinbar politisch harm- Klagen der zu »Umsiedlern« erklärten Heimatlosen Sehnsüchte zu wuchern: Heimatfilme und vertriebenen einerseits durch die Zuteilung von Heimatromane der Nachkriegszeit zeichneten Bodenreformland, anderseits durch das Verspreeine harmonische, unzerstörte und auch wieder chen einer besseren Welt im Sozialismus besänfdörfliche Idylle. Sie wurden massenhaft konsu- tigt, und wenn beides nicht half, durch politische

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Einschüchterung unterdrückt; so blieb die Erzählung von der verlorenen Heimat meist privat, wurde nur im Familienzusammenhang gepflegt oder zum verbindenden Element von Diasporagemeinden (Mitzscherlich 2012). Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum führten auf beiden Seiten Deutschlands dazu, dass sich Sehnsüchte eher »hinaus«, auf Mobilität, Konsum und Auslandsreisen, aber auch wieder auf das »Eigenheim«, als handfesten Beleg von Wohlstand und wirtschaftlicher Sicherheit, verlagerten. Die soziale beziehungsweise integrative Dimension des Heimatbegriffs wurde erst von der ökologischen Bewegung der 1980er Jahre wieder aufgenommen, die den Heimatbegriff erstmals »von links« besetzte, den sozial geteilten und gemeinsam zu verantwortenden Nahraum als Ausgangspunkt von Weltveränderung definierten; nicht nur in Wohngemeinschaften, Wirtschaftsgenossenschaften und ökologisch orientierten Landkommunen, sondern auch in der Gestaltung und Wiederbelebung urbaner Lebens- und Sozialräume wurde Heimat als »Gemeingut« und gemeinschaftlich zu schaffender Lebenszusammenhang wiederentdeckt. In den 1990er Jahren gab es im Zuge der Wiedervereinigung ein neues Aufflackern (auch das sehr wörtlich mit brennenden Ausländerheimen) einer nationalen Euphorie von Heimat, rechte Parteien zogen nicht nur in den neuen Bundesländern mit HeimatWahlkampfplakaten in die Parlamente, die Ausgrenzung von Ausländern, auch von solchen, die schon seit zwei Generationen in Deutschland lebten, führten zur pogromartigen Übergriffen nicht nur in Rostock und Hoyerswerda, sondern eben auch in Mölln, Solingen, Hünxe. Erst die Stabilisierung der politischen und wirtschaftlichen Situation sowie die Fokussierung auf die europäische Einigung und ein darin denkbares Europa der Regionen erlaubten kurzzeitig wieder eine Assoziation von Heimat und Offenheit. Diese allerdings ging durch die im Zuge der Globalisierung massiv wachsende wirtschaftliche und politische Unsicherheit, das Näher­rücken von

Bürgerkriegen, Flüchtlingen, Terror, aber auch Banken- und Eurokrise schnell wieder verloren: Grenzsicherung, Abschottung nach außen, Ordnungsbestrebungen jeglicher Art sollen die Heimat vor unerwünschten Risiken und Nebenwirkungen der Globalisierung, der Deutschland einen Großteil seines Wohlstandes und seiner wirtschaftlichen Stärke verdankt, schützen. Von Informationsvielfalt, permanenter Selbstoptimierung und Mobilitätszwängen überforderte Subjekte (Ehrenberg 2004), vielleicht aber auch nur um Arbeitsplatz, Eigenheim und eigene wirtschaftliche Sicherheit besorgte Bürger organisieren sich offen oder latent nicht nur gegen »Lügenpresse« und Politik, sondern auch gegen Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, weil sie schon alles/vieles verloren haben. »Dass die Einwanderer eine so starke (und oft abstrakte) Furcht bei den Einheimischen auslösen, rührt vielmehr daher, dass sie ihnen zeigen, wie relativ die an den Boden geknüpften Gewissheiten sind« (Augé 1994). Wenn man diesen Schnelldurchlauf durch die Begriffsgeschichte Revue passieren lässt, zeigt sich, dass der Begriff »Heimat« immer dann an Anziehungskraft gewinnt, wenn die realen Verhältnisse in der Heimat eher »unheim(at)lich«, unsicher oder als beunruhigend instabil erlebt werden. Mit dem Begriff von Heimat wird nicht nur die Vorstellung eines unverletzbaren – auf Eigentum und Zugehörigkeit beruhenden – persönlichen Raumes, sondern auch die einer geordneten und allseits akzeptierten sozialen Regeln folgenden Gemeinschaft und nicht zuletzt die Vorstellung einer politisch, ökologisch und spirituell »heilen Welt« verknüpft. Heimat in psychologischer und soziologischer Sicht Wenn Menschen in psychologischen oder soziologischen Studien danach befragt werden, was oder wo für sie Heimat ist, finden sich auch heute noch fast alle historischen Bedeutungen des Heimatbegriffs in der einen oder anderen Form

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wieder: Heimat ist der Wohn- oder Herkunftsort und dessen mehr oder weniger romantische Verklärung, die Zugehörigkeit zu Familie, Freunden oder einer anderen als vergleichsweise enge Gemeinschaft empfundenen Gruppe, mehr oder weniger starke damit verknüpfte Emotionen, Erfahrungen mit der politischen Besetzung des Heimatbegriffs, von kulturlandschaftlichen Besonderheiten und deren Folklorisierung, Erfahrungen von Ein- oder Ausgrenzung, aber auch von Vielfalt und darauf beruhenden Zugehörigkeiten. Unabhängig davon, ob mit quantitativen oder qualitativen Methoden erfragt (Mitzscherlich 2000), finden sich jedoch einige Gemeinsamkeiten immer wieder:

© Judith Bergmann

• Heimat wird an einen vertrauten Nahraum geknüpft. Das ist für die meisten Menschen der gegenwärtige Wohn- oder Herkunftsort (oder beide) und eventuell noch die Region. Die Verbindung mit einem Bundesland, Deutschland oder gar Europa ist erheblich schwächer und wird zumeist nicht als Heimat erlebt.

• Heimat wird im Allgemeinen mit positiven Gefühlen von Geborgenheit, Vertrautheit, Sicherheit, Aufgehobensein assoziiert. Diese sind in starkem Maß Selbstwert-stabilisierend, nur im Zuge von Ablösungsprozessen werden eher die Enge und Begrenztheit der Heimat negativ beschrieben. • Diese Gefühle von Geborgenheit, Sicherheit und Aufgehobensein sind vorwiegend an das soziale Miteinander gebunden, Heimat haben die meisten Menschen dort, wo sie mit nahen, vertrauten Menschen – in der Familie oder bei Freunden – zusammen sein können, wo sie Zugehörigkeit und Anerkennung erfahren. • Dennoch sprechen Menschen heute oft von mehreren »Heimaten« (was die deutsche Sprache gar nicht vorsieht, denn laut Duden ist »Heimat« ein Einzahlwort), die sie nach- oder nebeneinander haben beziehungsweise nennen, neben dem Herkunftsoder aktuellen Wohnort andere Orte, für die sie ein Gefühl von Heimat entwickelt haben oder entwickeln könnten.

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• Nicht zuletzt hat Heimat neben der faktischen auch eine symbolische Dimension: Nicht nur im engeren Sinn religiös gebundene Menschen beschreiben Heimat als eine eher spirituelle Erfahrung, ein Einssein mit sich oder/und der Welt, ein Zuhause-Sein bei sich und in der Welt, was gesucht, in religiösen oder spirituellen Praktiken erfahren oder eingeübt werden kann. In dieser Dimension ist der Heimatbegriff eng verknüpft mit Vorstellungen von gelungenem Leben. Wenn wir uns die einzelnen Punkte intensiver ansehen und auf dahinterstehende psychologische Dimensionen hin befragen, wäre als erste die Frage nach der Ortsbindung oder der Bedeutung von Orten in der Biografie näher zu betrachten. Die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus (1972) hat über das »Prinzip Territorialität« gesprochen, das vermutlich schon verhaltensbiologisch verankert ist, bei Menschen aber damit einhergeht, dass wir nicht nur wie die meisten Tiere Reviere kennen, markieren und verteidigen, sondern Orte »kultivieren«, das heißt, uns diese nicht nur praktisch aneignen, gestalten und verändern, sondern auch mit symbolischen Bedeutungen besetzen. Das findet sich auch in vielen entwicklungspsychologischen Studien wieder, die zeigen, wie sich Kinder Orte aneignen, diese mit persönlicher Bedeutung besetzen. Im Phänomen der »Ortsbindung« (Fuhrer und Kayser 1992) lässt sich jedoch auch für Jugendliche und Erwachsene nachweisen, dass Orte, an denen man nicht nur Zeit verbracht hat, sondern auf die man das eigene Handeln, soziale Aktivitäten und Selbstbeschreibungen ausgerichtet hat, eine erheblich höhere »Bindekraft« besitzen als Orte, zu denen man nur einen passiven Bezug hatte. Natürlich gibt es in den letzten Jahren eine Diskussion darüber, wie Mobilität und Virtualität nicht nur das Aufwachsen von Kindern beeinflussen, sondern damit auch die Bedeutung von Orten verändert wird. Während einige Autoren das Verschwinden der Orte oder zumindest einer

ganzheitlichen Erfahrung von Orten vorhersagen oder deren Bedeutungsverlust beschreiben, bestehen andere darauf, dass uns unsere Physis zwangsläufig auf die Koordinaten des physikalischen und geografischen Raumes und damit immer wieder auf Orte bezieht. Auch moderne narrationstheoretische Identitätskonzepte verweisen darauf, dass der »Schauplatz« für die eigene Lebenserzählung nicht gleichgültig ist. Heimat sind in diesem Sinn also Orte, die wir uns angeeignet haben, die durch unsere Anwesenheit verändert sind und die wir mit persönlichen Bedeutungen und Geschichten besetzt haben. Heimat als Bindungserfahrung Die zweite näher zu betrachtende Dimension ist das Heimatgefühl, das nicht nur in seiner grundsätzlich positiven Ausprägung, sondern auch in seiner Stärke mit anderen Bindungserfahrungen korrespondiert (beziehungsweise sich auch mit diesen überlagert, denn den Heimatort verlassen heißt in der Regel auch nahe Menschen verlassen). Hinter starken Emotionen stehen zumeist Grundbedürfnisse: Die Bewertung einer – in ihrer geografischen oder physikalischen Dimension zunächst neutralen – Umgebung als Heimat gibt in erster Linie Auskunft darüber, inwieweit sie mit Bedürfnissen des Subjekts nach Ruhe oder Abwechslung, sozialer Einbindung oder Rückzug, Aktivität oder Entspannung korrespondiert (Fuhrer und Kayser 1992). Der erste wesentliche Aspekt dabei ist Vertrautheit, eine vertraute Umgebung schafft Verhaltenssicherheit, sie ermöglicht uns weitgehend automatisiertes und darin entspanntes Verhalten. Menschen bilden auch in neuen Umgebungen sehr schnell Gewohnheiten und Rituale, eben um sich diesem entspannten Modus anzunähern. Heimat ist in dieser Hinsicht ein hoch ritualisierter Raum, in dem man sich selbst und anderen nicht (mehr) erklären muss, wer man ist und was man macht. Darüber hinaus ist Heimat ein Raum, in dem Geborgenheit erfahren werden kann. Geborgenheit ist

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zunächst ein physischer Zustand, wird aber von nach der Wende, bei gleicher Sprache und im den meisten Menschen auch mit der Erfahrung Grunde vergleichbarer Kultur, nahmen durch sozialen Rückhalts oder der Anwesenheit naher einen Umzug von Ost nach West oder West nach Personen verbunden. Heimat ist in diesem Sinn Ost angestiegene Werte von Ängstlichkeit und ein Ort von »Kennen, Gekannt- und Anerkannt- Depressivität erst dann wieder ab, wenn die Menwerden« (Greverus 1979). schen im Fragebogen angeben konnten: »Ich habe Auch das Hineinwachsen in eine Familie, eine neue Freunde gefunden« (Grulke et al. 2004). Nachbarschaft, eine soziale Umgebung ist zuDa die Heimaterfahrung in der globalisiernächst eine entwicklungspsychologische Leistung, ten Moderne vor allem auch eine Erfahrung die auf wechselseitiger Bindung beruht und diese von Mobilität ist, stellt sich die Frage, wie Menverstärkt. Interessant ist, dass auch Kinder, deren schen Erfahrungen von unterschiedlichen Orten frühe Bindungserfahrungen eher problematisch in ein Heimatkonzept integrieren können. Vor sind, soziale Einbindung offensichtlich brau- allem jüngere Menschen scheinen damit wechen, anstreben, manchmal lebenslang suchen. nig Schwierigkeiten zu haben: Es gibt keine eine Auch Erwachsene, die schon öfter die Erfahrung Heimat mehr, aber es gibt viele (mögliche) Heivon Brüchen, Trennungen, Verlusten in ihrem maten. Als Heimat beschrieben werden neben sozialen Umfeld gemacht haben, streben nach dem Herkunftsort alle Orte, an denen intensive einer gewissen Stabilität ihrer sozialen »Koordi- soziale und Ortsbindungen entwickelt wurden. naten«, den Menschen, die sie in Ältere Menschen, beispielsweider Welt verankern und für die se mit Migrations- oder VerMigranten der zweiten sie selbst Bedeutung haben. Ein treibungshintergrund, reservieGeneration beziehen sich Umzug, Migration, Flucht oder ren den Begriff »Heimat« meist meist auf zwei oder mehr Vertreibung zerstört in erster Linoch für den Herkunftsort, fühHeimaten. nie dieses soziale Koordinatenlen sich aber im langjährigen system. Sich am neuen Ort zu orientieren, eine Lebensmittelpunkt, der zumeist auch gegenwärneue Lebensstruktur aufzubauen, soziale Regeln tiges Zentrum sozialer Einbindung ist, »zu Hauzu lernen ist in psychologischer Hinsicht aufwen- se«, beschreiben Heimatgefühle in Bezug darauf dig genug; aber das Gefühl von Zugehörigkeit und wollen in die Herkunftsheimat in den meiswiederzuerlangen ist oft eine generationsüber- ten Fällen auch nicht mehr zurück (zumal wenn greifende Aufgabe, nicht nur auf Seiten der Zuge- dort kein sozialer Zusammenhang mehr besteht). wanderten, sondern auch auf Seiten des AufnahAuch Migranten der zweiten Generation bemelandes beziehungsweise der »autochthonen« ziehen sich meist auf zwei oder mehr Heimaten, (das heißt ja meist nur früher zugewanderten) wobei faktisch die Umgebung und die Regeln des Bevölkerung, die ebenfalls lernen muss, von sich Aufwachsens für das eigene Verhalten ebenso releverschiedene Menschen als »Ihrige«, als Teil der vant zu sein scheinen wie der meist stärker symboGemeinschaft zu betrachten. lische Bezug zur Herkunftsheimat der Eltern. OfWie stark ein Kappen der sozialen Verbindun- fensichtlich haben Menschen eine hohe Kapazität gen – hier zwischen jüdischen und nicht­jüdischen zur nicht nur praktischen, sondern auch emotioDeutschen – das Selbst entwurzeln und »boden- nalen Aneignung neuer Orte. Nicht beheimaten los« machen kann, haben Jean Améry (1977) und können sich Menschen dann, wenn sie sozial und ­Vilem Flusser (1992) – mit unterschiedlicher Be- kommunikativ isoliert werden, sich weiter bedroht wertung – eindrucksvoll beschrieben, man findet und unsicher fühlen müssen, ohne die Möglichkeit es aber auch in den Erfahrungen von Migranten praktisch-gegenständlichen Bezugs zur Heimat wieder. Selbst in der innerdeutschen Migration und damit zur Erschaffung neuer Selbsterzählun-

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gen bleiben, also in etwa in der Situation sind, die die gegenwärtige Asylpraxis regelhaft produziert.

Die letzte und psychologisch möglicherweise komplexeste Konstruktion von Heimat ist die spirituelle, religiöse oder auch teleologische. Wenn man diese nicht einfach nur als Projektion beziehungsweise Flucht aus real sehr un-heimat­ lichen Verhältnissen interpretieren will, findet sich hier – häufig bei sehr alten Menschen, aber auch bei Menschen mit sehr schwierigen und gebrochenen Heimatbiografien – ein Transzendieren von vielen Erfahrungen mit Orten und Menschen, das so etwas wie einen inneren, sicheren Ort oder zumindest die Vorstellung eines Ortes schafft, an dem das Selbst eben diese Erfahrung von Zugehörigkeit, Vertrautheit und Sinn macht und der relativ unabhängig geworden ist von aktuellen Beziehungen zu Menschen und Orten. In der Traumatherapie können in dieser Imagination des »sicheren Ortes« massive Erfahrungen von Angst oder Destruktivität gehalten werden. Aber es scheint auch grundsätzlich ein Kernaspekt der psychologischen Konstruktion von Heimat zu sein, dass ein partiell idealisiertes Bild entsteht: die Heimat, die der eigenen Person vollkommen entspricht und gerecht würde – was keine reale Umgebung leisten kann. Dieses ideale Bild dient nicht nur als imaginäre Zielvorstellung im Sinne des »fiktiven Finalismus« bei Alfred Adler, die das eigene Handeln zur Verbesserung von Heimat orientiert und ausrichtet, sondern beinhaltet eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sinn des eigenen Da- beziehungsweise Hierseins. Sinnstiftung ist in den Rahmenbedingungen einer weitgehend säkularisierten und individualisierten Welt nichts, was Umgebungen quasi automatisch produzieren oder was Gemeinschaften weitergeben, sondern Leistung des Subjekts, genauer: etwas, das nicht unbedingt geleistet werden kann, sondern erfahren werden muss, eben in der Art religiöser oder spiritueller Erfahrungen.

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fiedelpix / photocase.de

Heimat als idealer Ort

GoodwinDan / photocase.de

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Die Tatsache, dass man sich – unter Voraus- Heimat als permanenter Prozess setzung des richtigen Passes und ausreichend und Lebensaufgabe Geldes in der Tasche – als wohlhabender Europäer in der Welt frei bewegen und an fast jedem Aus dem bisher Gesagten ergibt sich logisch, dass Ort niederlassen kann, stiftet allein noch kei- es in der globalisierten und mobilen Moderne nur nen Sinn: Die Frage, wozu man da beziehungs- noch für wenige Menschen ausreichend tragfäweise hier an diesem Ort ist, ist für Menschen hig ist, den einen Herkunfts- ­beziehungsweise im jüngeren und mittleren ErGeburtsort (an dem man unter wachsenalter meist schon ausUmständen gar nicht lange gelebt Beheimatung ist reichend gut beantwortet, wenn hat) als Basis der eigenen Selbstein permanenter man weiß, für wen man da ist, verortung zu definieren. Die »staAustauschprozess in sich also sozial verbunden und bilitas loci«, die in der benediktipsychologischer, sozialer, damit beheimatet hat. Für die nischen Regel als Voraussetzung ökonomischer und letzte Lebens­phase oder schwestabilen Glaubens und stabiler ökologischer Hinsicht. rere Lebenskrisen scheint das Gemeinschaft gesehen wurde, ist allerdings nicht auszureichen; für die meisten Menschen heute hier geht es tatsächlich um eine Transzendie- ein nostalgischer, manchmal auch ein eher berung des Gegenwärtigen hin auf eine, wie auch drohlicher Traum. Wie die empirischen Befunde immer vorgestellte, bessere oder andere Welt. In zeigen, befestigen moderne Nomaden ihr Identidieser Beziehung ist Heimat also weder Vergan- tätszelt heute zumeist an mehreren »Heimaten« genheit noch Gegenwart und auch kein konkre- oder »Identitätsankernen« und kommen im Leter Ort, sondern Utopie. Ernst Bloch hat diese ben unter Umständen immer wieder in die Situutopische Dimension des Heimatbegriffs in sei- ation, neue Festpunkte zu finden, die gleichzeinem berühmten Schlusssatz des »Prinzip Hoff- tig Anknüpfungspunkte des Sozialen sind. Das ist nung« verdichtet: Heimat sei etwas, »das allen in jedoch kein Plädoyer für die »Stärke schwacher die Kindheit scheint und worin noch niemand Bindungen« (Granovetter 1973), wie es amerikawar« (Bloch 1967, S. 334). nische Soziologen in den 1960er und 1970er Jah-

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H e i m a t v e r l u s t u n d - w i e d e r g e w i n n    1 3

ren vertraten. Im Gegenteil: Halt entsteht nur in starken Bindungen. Je stürmischer die Zeiten werden und je weniger Sicherheiten es für den Einzelnen qua Geburt, Herkunft, Religions- oder Staatsangehörigkeit gibt, umso mehr entsteht Sicherheit, Vertrautheit und Geborgenheit im Sichimmer-wieder-neu-Verbinden mit Orten, Menschen, kulturellen oder geistigen Bezugssystemen. Heimat ist in diesem Sinn nicht nur etwas, »was ich mache« (Mitzscherlich 2000), sondern Beheimatung ist ein permanenter Austausch­prozess in psychologischer, sozialer, ökonomischer und ökologischer Hinsicht. Das einseitige Ausbeuten, Benutzen, Sich-Bereichern an Orten und Menschen führt nicht zu mehr Heimat, sondern zerstört sie an allen Orten und in allen Beziehungen. Sich-Beheimaten setzt den achtsamen Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen voraus, genauso wie mit den Ressourcen von sich selbst und anderen, das Erkennen und Respektieren von eigenen und fremden Grenzen und kulturellen Regeln und nicht zuletzt die Anerkennung von Verschiedenheit. Beheimatung geht einher mit dem Gefühl von Zu- und Zusammengehörigkeit (sense of community), gewonnener Handlungsfähigkeit (sense of control) und der Erfahrung von subjektivem Sinn (sense of coherence). Für die psychosoziale Praxis geht es um die Frage, wie Beheimatungsprozesse unterstützt werden können; nicht nur in Bezug auf individuell stärkende Therapie- oder Beratungsansätze, sondern auch in Form systemischer und sozialraumorientierter, tatsächlich Gemeinschaft stiftender Interventionen, in Form sozialer Aktivitäten, die zu mehr Inklusion, Empowerment und politischer Partizipation von sich im Moment noch vereinzelt, entwurzelt und daher ohnmächtig fühlenden Menschen führen können. Aus der Erfahrung von Heimatverlust entsteht unter Umständen eine besondere Sensibilität gegenüber den Gefährdungen von Heimat, aber auch eine besondere Erfahrung in Bezug auf Gelingen oder Scheitern von Beheimatungsprozessen und möglicherweise etwas, das ansonsten in der Gesellschaft weitgehend abhan-

dengekommen ist: die Fähigkeit zur U-topie. Diese individuell und gesellschaftlich produktiv zu machen, erscheint mir als wesentlich für Therapie und Beratung in Bezug auf Heimatverlust. In der Vervollständigung des Bloch’schen Zitats geht es um den »Umbau der Welt zur Heimat, ein Ort, der allen in die Kindheit scheint, und worin noch niemand war« (Bloch 1967, S. 334). Prof. Dr. Beate Mitzscherlich ist Professorin für Pflegeforschung an der Westsächsischen Hochschule Zwickau und lehrt in den Schwerpunkten Grund­lagen der Forschung, Psychologie, Kommunikation, Psychiatrische Versorgung und Netzwerkentwicklung. Sie arbeitet als freiberufliche Supervisorin und entwickelt mit Organisationen und Kommunen Konzepte im Bereich der Psychiatrischen Versorgung, Altenhilfe, Migration und Integration verschiedener Gruppen. E-Mail: [email protected] Literatur Adler, A. (1933). Menschenkenntnis. Frankfurt a. M. Améry, J. Wieviel Heimat braucht der Mensch? J. Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart. Augé, M. (1994). Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Fischer. Frankfurt a. M. Bloch, E. (1967). Das Prinzip Hoffnung. Gesamtausgabe. Bd.  5.1. Frankfurt a. M. Ehrenberg, A. (2004). Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Suhrkamp. Frankfurt a. M. Flusser, W. (1992). Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie. Bensheim/Düsseldorf. Fuhrer, U.; Kayser, F. (1992). Bindung an das Zuhause: die emotionalen Ursachen. In: Zeitschrift für Sozialpsychologie, S. 105–118. Granovetter, M. S. (1973). The strength of weak ties. In: American Journal for Sociology, 78, S. 1360–1380. Greverus, I.-M. (1972). Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen. Frankfurt a. M. Greverus, I.-M. (1979). Auf der Suche nach Heimat. München. Grulke, N.; Bailer, H.; Albani, C.; Blaser, G.; Schmutzer, G.; Geyer,  M. (2004). Migration in die Depression? Innerdeutsche Migration und psychische Befindlichkeit. In: Psychosozial, 95, S. 97–106. Mitscherlich, A.; Mitscherlich, M. (1967). Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München. Mitzscherlich, B. (2000). Heimat ist etwas, was ich mache … Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung. Herbolzheim. Mitzscherlich, B. (2012). Gespaltene Erinnerung. Die Kinder der Kriegskinder in der DDR. In: Knoch, H.; Kurth, W.; Reiß, H.; Egloff, G. (Hrsg.), Die Kinder der Kriegskinder und die späten Folgen des NS-Terrors. Heidelberg.

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Eine Heimat für das Leben Werden und Anwesenheit als leibhaftige Provokation

Annelie Keil Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehören wir? Wo bleiben wir und wie lange? Wir werden ungefragt in eine fremde Welt hineingeboren, können Familie, Zeitpunkt oder Geburtsland nicht beeinflussen und müssen zunächst »erleiden«, was uns später notwendige und schwierige Entscheidungen abverlangt. Sich im Wandel des Lebens immer wieder neu im Fremden zu beheimaten, ist eine davon! Wie aber gelingt dies im Innen wie im Außen? Welcher Ort, welche Arbeit, welche Sprache geben uns Halt, machen den Boden unter den Füßen sicherer, bieten ein Dach über dem Kopf? Worin besteht das Gefühl, angekommen zu sein, bleiben zu dürfen, sich verbunden oder heimisch zu fühlen? Welcher Ortswechsel, welcher Heimatverlust fördert das Leben eines Menschen und welcher gefährdet es? Diese und andere Fragen beunruhigen Menschen, seit sie die Erde bevölkern und auf der Suche nach einer Bleibe sind. Und ihr Wohlbefinden hängt maßgeblich davon ab, ob sie je einzeln, als Generation, als Familie, als ethnische oder religiöse Gemeinschaft, als Stamm oder Volk im Fluss der Zeit befriedigende Antworten auf ihre Lebens- und Überlebensfragen finden. Zwischen Geburt und Tod ist Leben eine nie endende Spannungsbeziehung im Ringen um das, was des Menschen Heimat auf dieser Erde sein könnte, und so bleiben Werden und Anwesenheit zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die leibhaftige und leidvolle Provokation des Lebens. Die menschliche Existenz ist und bleibt eine Krisenexistenz. Unterschiedliche Risiko- und Gefährdungslagen umstellen das Potenzial der Möglich-

keiten, das jeder Mensch in unendlicher Variation mit auf die Welt bringt. Dennoch: von Sicherheit und Garantie keine Spur. Leben hat nichts versprochen, auch wenn wir ihm ständig die Leviten lesen, weil uns seine Angebote nicht passen. Es ist keiner Vorsichtsoder Präventionsmaßnahme, sondern vor allem dem Wagnis geschuldet, leben zu wollen. »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will«, heißt es bei Albert Schweitzer in seiner Begründung der »Ehrfurcht vor dem Leben«. Leben ist ohne festen Wohnsitz, mit jedem Herzschlag in Bewegung und immer unterwegs! Es wandert von Ort zu Ort, durch die Altersstufen, knüpft Beziehungen, kämpft sich von Überraschung zu Überraschung, denn jedem Anfang wohnen der Zauber der Offenheit und die Hoffnung des Lebendigen inne. Aber die Hoffnung auf Leben ist ins Gelingen verliebt und deshalb ist Leben nicht nur unterwegs, sondern gleichzeitig immer auch vor Ort, siedelt sich an, will sesshaft werden. Menschliche Existenz ist leibhaftig und kann sich von dieser Angebundenheit als Bedingung des Überlebens nicht trennen. Sie setzt auf eine Heimat für das Leben. Verortung in der Schöpfung Lebewesen – Menschen, Tiere, Pflanzen – müssen sich verorten, um zu werden, die sie sind. Nur in dieser Anwesenheit können sie herausfinden, was es bedeutet, lebendig zu sein. Schöpfungsgeschichten wie die christliche erzählen vom Zauber der ersten Verortung. In sieben Tagen formt Gott einen großen Lebenszusammenhang, schafft Pflanzen, Tiere und das Menschenpaar, gibt ­ihnen

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Cranach-Werkstatt, Die Erschaffung der Welt, 1534 / akg-images

Schöpfungsgeschichten wie die christliche erzählen vom Zauber der ersten Verortung. In sieben Tagen formt Gott einen großen Lebens­ zusammenhang, schafft Pflanzen, Tiere und das Menschenpaar, gibt ihnen Himmel und Erde, Sonne, Mond und Sterne.

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Himmel und Erde, Sonne, Mond und Sterne. Mehr als die Aufforderung, sich zu mehren, mit dem Leben als einem umfassenden Stoffwechsel zu beginnen und sich im Schöpfungszusammenhang zu verorten, gibt es zunächst nicht. Als leibhaftige Existenz lebt Leben von der Anwesenheit vor Ort, vertraut auf seine Potenziale und materialisiert die Idee vom Leben mit jedem Atemzug, jedem Herzschlag, jedem Gefühl, jedem Gedanken! Mit dem Geschenk der nackten Geburt bekommen wir Leben nur als eine Möglichkeit, leben müssen wir es selbst. Das gilt auch für die Liebe, den Glauben und die Hoffnung, für die Aufnahme oder Beendigung von Beziehungen, gilt auch für die Frage, wie wir Orte des Lebens schaffen, verlieren oder zerstören und ob das Leben nach der Geburt und bis zum Tod einen Sinn hat. Wir bekommen die Möglichkeit zu erkennen, zu denken, zu wissen, zu handeln, uns zu wundern und transparent für den universellen Zusammenhang zu werden, der als Geheimnis der Schöpfung die Geburt eines jeden Menschen zu einem einzigartigen Augenblick von Dauer macht. Aber lieben, fühlen, denken und handeln müssen wir selbst. Jeder Mensch trägt diesen Zauber des Anfangs der Gattungsgeschichte wie seiner Lebensgeschichte in sich und muss ihn »austragen«, bis er stirbt. Leben ist so gesehen eine lebenslange »Schwangerschaft« und ein Prozess der Beheimatung, der nie endet. Es bedarf der Zeugung, einer Art Urknall, Achtsamkeit und nachhaltiger Geduld, um zu zeigen, was gemeint ist und letztlich in dem Leben steckt, das unseren eigenen Namen trägt, in dem wir zu Hause sind und zu dessen Heimat alles gehört, was zwischen Anpassung und Widerstand, Integration und Inklusion, Entwicklung und Stagnation, Krankheit und Gesundheit, Liebe und Hass, Freude und Angst, »Stirb und Werde« zur Beheimatung beigetragen hat. Und so beginnt die Beheimatung des Lebens! Es war einmal eine weibliche Eizelle, die ungeduldig darauf wartete, aus ihrem flüchtigen Leben herauszukommen und einen festen Ort zu finden,

um zu zeigen, was an Fähigkeiten in ihr steckt, um ein einzelnes menschliches Leben zu gestalten. Gespannt hielt sie zusammen mit anderen Eizellen nach einer männlichen Samenzelle Ausschau und war voller Hoffnung, dass sich eines Tages einer von den Millionen Spermienfäden auf eine Begegnung und Vereinigung einlassen würde, damit sie in gemeinsamer Entwicklungsarbeit den Wunsch eines Menschenpaares nach einem Kind erfüllen könnten. Leben ist Kontakt, Begegnung, Mut und Lust auf Zukunft und vor allem erwartungsvolle Suche nach einem Lebensort – und wenn diese fehlen, ist Leben unmöglich oder gefährdet. Leben braucht einen Anstoß zum Leben, eine Störung, um sich auf den Weg zu machen, und erfährt dabei, dass Verortung ein kontinuierlicher Entwicklungsprozess ist. Nach der Befruchtung stellte sich das kleine Ei in Kooperation mit dem mütterlichen Organismus der Herausforderung, die in der angelegten Aufgabe steckt, sich selbst unter spezifischen Voraussetzungen zu entwickeln, die eigene örtliche Lebensumwelt im mütterlichen Organismus mitzugestalten und jene einzigartige biografische Melodie zu improvisieren, die es später mit seiner Gattung verbindet und gleichzeitig einmalig und unverwechselbar macht. Man muss sich selbst vor Ort einrichten, seiner selbst mächtig werden, Heimat begründen. Eigenverantwortung ist die Antwort, die das Leben auf die spezifischen Fragen verlangt, die es jedem von uns stellt. Nichts im Lebendigen ist mechanisch, nur Reflex, nichts springt automatisch nur auf Knopfdruck von außen an. Auch die Gene funktionieren nicht wie Autopiloten, sondern brauchen ein Milieu. Auch Materie braucht ein Motiv, ist vom »objektiven Faktor Subjektivität« angetrieben. Sich im Lebenshaus beheimaten Körper, Geist und Seele sind die Werkzeuge, mit denen das Lebenshaus gebaut wird. Sie interagieren im Kontext von Anregung, Störung und Herausforderung, entwickeln sich nicht tatenlos auf

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leben will, inmitten von Leben, das leben will« (Albert Schweitzer). Neun Monate bedingungsloses Asyl, ein Mietvertrag mit Ausbildungsgarantie fürs Leben. Das kleine Ei kuschelte sich ein, schaukelte faul im warmen Wasser und nuckelte an der Pipeline, aus der Milch und Honig floss. Eine erste Vorstellung vom Paradies entstand und mit ihr die Angst, einen solchen Ort wieder zu verlieren und auf der Straße zu landen. Und schneller als gedacht kam die fristlose Kündigung. Nach neun Monaten müssen wir Haus und Hof verlassen und sollen das Licht der Welt erblicken, ohne zu wissen, ob es einen neuen verlässlichen Ort für uns geben wird, ob wir wirklich freudig erwartet werden und ob die notwendigen Ressourcen vorhanden sind, um die nächsten ­Lebensabschnitte und Lebensorte zu meistern und zu gestalten. Bindung und Entbindung Leben ist Koexistenz und soziale Existenz, wird vom Menschen entschieden und erlitten, bedeutet immer wieder Suche und teilen. Bindung und Entbindung, Lebensorte finden, gestalten und sie wieder verlassen sind die Voraussetzung dafür, ein selbstständiges Leben zu entwickeln und irgendwann auf eigenen Füßen stehen zu können – wie weit diese auch immer tragen mögen. Das Grundprinzip menschlicher Entwicklung und damit die zentrale Voraussetzung allen Lebens sind Unsicherheit und Überraschung, relative Unvorhersagbarkeit und gleichzeitig eine ungeheure Potenzialität und Kreativität. Leben ist ein Weg durch die Fremde und jeder Schritt wagt den Fall. Nur indem wir leben, lernen wir uns und das uns zugemutete wie frei entschiedene Leben kennen. Um ein Dach über dem Kopf zu finden, muss der Mensch also immer gemeinsame Sache mit der Welt machen, die ihn umgibt: sich binden, einbinden und wieder entbinden. Dass unser Leben mit einer Entbindung beginnt, haben wir kaum realisiert. Aber dieses Wissen taku / photocase.de

eine ferne Zukunft hin, sondern nur dadurch, dass sie in jedem Augenblick eine bestimmte Aufgabe und Funktion übernehmen, die sich ihrerseits im Rahmen der Gesamtentwicklung verändert. Kein festgelegter Ort, nirgends. Leben lebt jeden Augenblick von Wandel, Transformation und Vergegenwärtigung. Nicht mechanistische Reaktion, unverletzbare Robustheit und technische Funktionsfähigkeit, sondern Störbarkeit und Plastizität, Gestaltungswille, »Liebe, Arbeit und Wissen« (Wilhelm Reich) sind gefragt, wenn es um die Entwicklung und Entfaltung eines jeweils einzigartigen Lebens geht. Leben entwickelt sich nicht aus dem Stillstand heraus, das konnte das kleine befruchtete Ei schon früh registrieren, sondern verlangte ganz offensichtlich Anpassung und Widerstand im Durchleben von Krisen. Unruhestand, Ortswechsel, manchmal Flucht und Umzüge aller Art sind konstitutiv für die Entwicklung eines Lebens, das Heimat bietet. Das kleine Ei kletterte den Eileiter hinauf und nistete sich kurz darauf in der Gebärmutter ein. Man muss in die Puschen kommen, bevor man Füße hat. Mit aller Kraft grub es sich in die Plazenta ein, musste diese stören und verletzen, um zu bekommen, was es am Ort des Lebens so dringend brauchte: ein Dach über dem Kopf, Nahrung, Halt und einen liebenden Schutz. Wir beginnen unser Leben mit einer »Hausbesetzung«, kämpfen uns ins Leben hinein, bewältigen Widerstände, klammern uns fest und fühlen immer wieder die Bedrohung für unser Leben, wenn das nicht gelingt, Lebensorte uns nicht tragen oder wir vertrieben werden. Aber während das kleine Ei seinen Einzug in die neue Wohnung mit aller Kraft vorantrieb, machte es eine wunderbare Erfahrung: Es war gar nicht so schwierig, zum Leben zugelassen zu werden, auf jeden Fall nicht unmöglich. Da gab es ein anderes Lebewesen, das sich besetzen ließ und darauf vorbereitet war, dem kleinen hilflosen Winzling im eigenen Leib bedingungslos Asyl zu gewähren. Aus der Drohung »Kein Ort. Nirgends« war eine andere Erfahrung geworden: »Wir sind Leben, das

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könnte unseren endgültigen Abschied vom Leben erleichtern: Wieder ist Entbindung gefragt. Mit dem Verlassen jener ersten Lebenswelt im Mutterleib beginnt unmittelbar nach der Geburt der lebensnotwendige Versuch, die Verhandlungen mit der neuen Welt aufzunehmen, sich ihr langsam und unter ständiger Kontrolle derer, die für die Sorge zuständig sind, anzunähern, Spielräume zu entdecken, Eigensinn zu entwickeln, Übergriffe abzuwehren, Schritt für Schritt auf die eigenen Füße zu kommen und zu lernen, wie man das Leben in die eigenen Hände nehmen kann. Mit jedem Entwicklungsschritt nehmen wir das Risiko des Fallens in Kauf, denn um leben zu können, müssen wir uns vom ersten bis zum letzten Atemzug in eine Welt schon bestehender Beziehungen und Machtverhältnisse einmischen, die uns willkommen heißen, aber auch ablehnen, fördern und behindern können. Der aufrechte Gang des Menschen ist keine genetisch gesicherte, orthopädisch betreute Garantieleistung des Lebens, sondern muss lebenslang in all seinen Dimensionen körperlich, seelisch, geistig, sozial und spirituell inmitten der Herausforderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeiten von jedem Menschen erst erworben und erlernt werden. Leben lebt vom Teilen Menschen kommen als Mängelwesen und Bittsteller zur Welt. Kein Ort, der nicht erst geschaffen werden müsste, um zu überleben. Jede Generation ist darauf angewiesen, dass die Generationen, die schon da sind und das Terrain unter sich aufgeteilt haben, das Vorhandene teilen: das Dach über dem Kopf, die Nahrung, die Sprache, das Wissen, die Kultur, die Macht und die Liebe. Jeder Mensch ist darauf angewiesen, dass er erwartet wird, dass man sich ihm sorgend zuwendet, ihm Schutz gewährt und Vertrauen schenkt, dass seine Würde unantastbar bleibt, was immer in seiner Entwicklung auch geschieht. Wenn die Nabelschnur durchschnitten wird, lebt der Mensch von der Hoffnung, dass er als

Bürger und Bürgerin dieser Erde gebraucht wird und dass keine Macht der Welt ihn willkürlich vom Koexistenzminimum abschneidet. Lebenskämpfe sind deshalb immer Machtkämpfe um Liebe und materielle Ressourcen, um Anerkennung und Bedeutung, gegen Bevormundung und Unterdrückung. Das menschliche Verhältnis zur Macht strukturiert und organisiert sich in einem kontinuierlichen Prozess von Bindung und Entbindung, teilen und zuteilen und nimmt die ewige Spannungsbeziehung des Lebens zwischen Geburt und Tod in sich auf. Leben lebt vom Teilen, auch von der Teilung der Macht und vor allem vom Teilen des Heimatbodens und der Orte, die es dem Menschen ermöglichen, anwesend zu sein. »Kein Ort. Nirgends!« ist eine Art Todesurteil sowohl für jeden einzelnen Menschen wie für Gruppen, Religionen oder ganze Völker, die über die jeweiligen »Balkanrouten« dieser Welt auf der Suche nach einem Stück Heimat sind. Wir selbst könnten auf diese gefährliche Route geraten! Annelie Keil, geboren 1939, aus der Erfahrung von Krieg, Gefangenschaft, Flucht und dem Leben mit Sozialhilfe als Kind und Jugendliche viel gelernt. Studium der Politischen Wissenschaften, Soziologie, Psychologie und Pädagogik. Bis 2004 war sie Professorin für Sozial-und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bremen. Umfangreiche Medien- und Vortragstätigkeit im Bereich Gesundheit und Krankheit, Lebenskrisen und Lebenskompetenzen, Familie und Kinderförderung, Sterben und Sterbebegleitung. E-Mail: [email protected] Website: www.anneliekeil.de Literatur Keil, A. (2006). Dem Leben begegnen. Vom biologischen Überraschungsei zur eigenen Biografie. Kreuzlingen. Keil, A. (2011). Auf brüchigem Boden Land gewinnen. Biografische Antworten auf Krankheit und Krisen. München. Keil, A. (2014). Wenn die Organe ihr Schweigen brechen und die Seele streikt. Krankheit und Gesundheit neu denken. München.

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Die spirituelle Dimension von Heimat Heiderose Gärtner-Schultz

Hinführung: Heimat heute? Das Thema Heimat ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Menschen wollen ein Zuhause, einen Ort haben, der zu ihnen gehört und zu dem sie gehören. Bis heute streiten Völker untereinander um die Erde, auf der sie leben, weil diese ihnen ermöglicht, Häuser zu bauen oder Zelte aufzuschlagen und sie auch ernährt durch Weidewirtschaft oder Ackerbau. Der Begriff Heimat ist »schollengebunden«, hatte eine rechtliche Bedeutung als Aufenthalts- und Bleiberecht. In der Heimat ist man mit den Menschen zusammen, die auch dort geboren wurden. Heimat ist die »nahe Welt«. Damit ist, außer der Erde, auch der persönliche Bezugsrahmen in der Gemeinschaft gemeint, in dem Tradition und Gewohntes Sicherheit geben. Der Mensch, der kein Eigentum, keine Heimat, besaß, der war fremd und ihm wurde noch im 19. Jahrhundert das Recht auf die Hochzeit verwehrt. »Nun ade, du mein lieb Heimatland«, sang der Wanderbursche, der sich auf den Weg in die Welt machte, um seine Gesellenjahre, seine weitere Ausbildung in der »Fremde« zu absolvieren. Er zollt seinem Heimatgefühl mit dem Lied Rechnung, die Heimat wird nicht vergessen werden. Schenkt man der Soziologie Glauben, dann hat sich in den westlichen Industrieländern, auch gerade in der Bundesrepublik Deutschland, nach dem Zweiten Weltkrieg ein gesellschaftlicher Individualisierungsschub von ungeahnter Kraft vollzogen. Die Auflösung von gemeinsamen weltanschaulichen Ansichten, verbunden mit dem verlorenen Gottesbezug, der den umfassenden Referenzrahmen bildete, ist zu konstatieren. Das »Ich« wurde zum Sinnstifter des eigenen Lebens, das sich dabei im Freizeit- und Konsumangebot

orientieren muss. Sind wir bei einem postmodernen Autismus, wie manchmal formuliert wird, angekommen? Oder muss man von einer Entwurzelung sprechen? Das Fundament, die Tiefe, um wachsen und leben zu können, hat sich aufgelöst – wo ist Stabilität? Brauchen Menschen heute Gemeinschaft und Heimat oder sind sie sich selbst genug? Eine andere Form der Beheimatung, so meine These, hat in den Köpfen und Herzen der Menschen Platz genommen, das Zuhause sind spezielle Gruppen oder Schichten. Was bei dem einen der Golfclub ist, ist für den anderen die Fangemeinde eines Sängers oder der Hospiz­hilfeverein. Man sucht Gleichgesinnte, ähnliche Milieus, um Geborgenheit und Vertrauen zu spüren. Im Zuge der Globalisierung verschlägt es Menschen durch ihren Beruf in die ganze Welt. Ist Heimat heute dann da, wo man arbeitet? Sind die Menschen zu entwurzelten Wesen geworden, die in anderen Bereichen nach Verortung und Beheimatung suchen müssen? Was meint Heimat heute, wenn TUI seine »Mein Schiff«-Flotte folgendermaßen bewirbt: »Zeit zu heimaten … Dieses Stück Heimat zwischen Himmel und Meer, an dem ankommen sich wie nach Hause kommen anfühlt – oder noch besser? Dann ist es Zeit zu heimaten. Zeit für Mein Schiff.« Das Wohlfühlmoment, das Kreuzfahrtschiffe vermitteln, wird als »heimaten« verkauft. Ein Zeichen dafür, dass die Suche des modernen Menschen nach Heimat aktuell und nicht abgeschlossen ist. Heimat im Alten Testament Heimat zu haben bedeutet im Alten Testament, Land zu besitzen und mit der Gemeinschaft, in die

Leidfaden, Heft 3 / 2016, S. 19–23, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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man hinein­geboren worden ist, zu leben. Dort kann das Zelt aufgeschlagen, die Hütte gebaut werden, da haben die Tiere Weideplätze, da steht der aus Steinen aufgerichtete Altar, der an Jahwe erinnert, dem diese Heimat zu verdanken ist. Doch bevor die Israeliten in ihre Heimat, in das Gelobte Land ziehen können, leben sie als Sklaven in Ägypten und müssen sich jahrelang durch die Wüste quälen. »Das Land, in dem Milch und Honig fließt« (2. Mose 3,8), dort wollen sie hin, diese Bild ist bis heute ein Synonym für Paradies, für einen Zustand, der nie erreicht werden kann. Es strahlt Hoffnung aus auf das, was kommen soll, und setzt motivierende Energien frei. Heute sprechen wir von einer Vision, das ist die Vorstellung von einer Zukunft, die uns auf dem Weg dorthin voranträgt. Dem Heimatbegriff wird durch die »Milch und Honig«-Beschreibung eine Dimension des Unerreichbaren, Transzendenten gegeben. Die Ahnfrau Sara, Gemahlin von Abraham, wird sehr alt und stirbt in Hebron, das liegt im Land Kanaan, das Jahwe den Israeliten verspro-

Im Zuge der Globalisierung verschlägt es Menschen durch ihren Beruf in die ganze Welt. Ist Heimat heute dann da, wo man arbeitet? Sind die Menschen zu ­entwurzelten Wesen geworden, die in an­deren Bereichen nach Verortung und Beheimatung suchen müssen?

chen hat (Gen 23). Abraham und Sara lebten zunächst in der Fremde, ihnen und den Nachkommen gehört dieses Gebiet noch nicht. Wahrscheinlich hat die Sippe ihre Herden in diesem Bereich weiden lassen, ein mehr oder weniger friedlicher Übergriff auf fremdes Land, es ist eine Form der Landnahme. Als Sara nun dort stirbt, redet Abraham mit den Hethitern, denen dieses Land gehört. Er sagt zu ihnen: »Ich bin ein Fremder, lasst mich trotzdem meine Frau in dieser Erde begraben.« Die hethitischen Landbesitzer bieten Abraham an, Sara in einem der besten Gräber zu bestatten. Es handelt sich um ein Höhlengrab. Er soll sie da begraben und kann dorthin so oft zurückkehren, wie er will. Doch Abraham verhandelt weiter, er möchte die Höhle mit dem Acker, dem Feld davor, kaufen. Einen stolzen Preis hat dieses Stück Land. Abraham will das Land als Grabplatz für seine Familie erwerben. Der Handel wird vor den Augen der Repräsentanten abgeschlossen und ist rechtskräftig. Der aus Chaldäa stammende Abraham erwirbt das erste Stück Land in Kanaan. Sara ist die erste Erbin der Landverheißung Jahwes. Die Ahnin Sara liegt auf dem Land, das dem israelitischen Volk verheißen wurde. Ihr Leib wird zur Heimaterde für viele werden. Heimat ist für die Israeliten immer Land, das sie so dringend zum Leben brauchen, und ist im-

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D i e s p i r i t u e l l e D i m e n s i o n v o n H e i m a t    2 1

mer auch mehr als Land. Die geistige Heimat der Israeliten ist die Lade mit den Gesetzestafeln. Darin ist alles enthalten, was sie brauchen, nämlich Gottes Gebote und Weisungen, nach denen sie sich richten wollen und die ihnen gleichzeitig Gottes Nähe versichern, ihr Zuhause. Heimat im Neuen Testament Was sich bei Abraham als Grundcharakteristikum des biblischen Verständnisses einer gläubigen Existenz zeigt, nämlich Aufbruch und Veränderung, kehrt im Neuen Testament in anderer Weise wieder. In Lukasevangelium (9,57–62) werden drei Begebenheiten auf dem Weg Jesu berichtet: »Als sie auf ihrem Weg weiterzogen, redete ein Mann Jesus an und sagte: Ich will dir folgen, wohin du auch gehst. Jesus antwortete ihm: Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann. Zu einem anderen sagte er: Folge mir nach! Der erwiderte: Lass mich zuerst heimgehen und meinen Vater begraben. Jesus sagte zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh und verkünde das Reich Gottes! Wieder ein anderer sagte: Ich will dir nachfolgen, Herr. Zuvor aber lass mich von meiner Familie Abschied nehmen. Jesus erwiderte ihm: Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.« Wer aufbricht, verlässt seine Heimat, die Sicherheit, das Gewohnte und partizipiert an der Heimatlosigkeit Jesu. Ein Loslassen von allem, der Familie, der Verwandtschaft, gehört zur Nachfolge. Alles aufgeben bedeutet im Neuen Testament alles gewinnen, denn nur auf diese Weise ist es möglich, am Reich Gottes zu partizipieren. Petrus fragt: »Du weißt, wir haben unser Eigentum verlassen und sind dir nachgefolgt. Jesus antwortete ihnen: Amen, ich sage euch: Jeder, der um des Reiches Gottes willen Haus oder Frau, Brüder, Eltern oder Kinder verlassen hat, wird dafür schon in dieser Zeit das Vielfache erhalten und in der

kommenden Welt das ewige Leben« (Lk 18, 28– 30). »Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden« (Mt 16,25). Wer alles verlässt, folgt Jesu nach und erreicht das ewige Leben (vgl. Lk 14,25 f.). Wer nachfolgt, muss bereit sein, die Heimatlosigkeit bis hin zur Pietätlosigkeit gegenüber der Familie zu teilen (Theißen und Merz 2011, S. 199 f.). Ein Leben in der bedingungslosen Radikalität des Wandercharismatikertums wird verlangt. Alle irdischen Werte werden zugunsten der Verheißung verschmäht. Derjenige, der mit Jesus geht, ist in der Welt nicht mehr beheimatet, aber er hat die wahre Heimat gefunden (Mk 10,21). J­ esus gibt der religiösen Existenz im Aufbruch einen eschatologischen, bleibenden Inhalt. Die emotionale Dimension von Heimat Der Verlust des örtlich geprägten Heimatgefühls durch bauliche Veränderungen in den Städten zeichnet sich ab. In der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin und in der mein Elternhaus steht, ist nichts mehr so, wie es zu der Zeit war, als ich noch dort lebte und täglich bis zum Abitur in die Schule gegangen bin. Dieses Städtchen war mein Zuhause, fußläufig waren alle Geschäfte zu erreichen. Inzwischen gibt es keine einzige Einkaufmöglichkeit mehr in der Nähe des Wohnhauses, das Stadtbild hat sich komplett verändert. Die Bilder in meinem Kopf von meinem Heimatort haben mit der Stadt, die sie geworden ist, nichts mehr zu tun. Da, wo ich mich einst blind zurechtgefunden habe, ist nichts mehr so, wie es vorher war. Meine Kompetenzen, mich zurechtzufinden, sind entwertet worden. Mein ehemaliger Zeichenlehrer, ein lokaler Künstler, hat, wohl in weiser Voraussicht, Bilder vom alten »Grünstadt«, meinem Heimatort, gemalt, um die ehemaligen Ansichten unvergesslich zu machen. Erst nach vielen Jahren und ebenso vielen Veränderungen habe ich sein Anliegen verstanden und bin froh, dass ein bisschen von dem, was mir örtliche Heimat war, in Bildern weiter-

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»Dort wo die Blumen blüh’n, dort wo die Täler grün’, dort war ich einmal zuhause. Wo ich die Liebste fand, da liegt mein Heimatland, wie lang bin ich noch allein?« Für den türkischstämmigen Schauspieler Mehmet Kurtulus (bekannt als Tatortkommissar Cenk Batu) ist »Heimat kein geographischer Ort, eher ein Gefühl und auf Menschen bezogen« (Buxtehuder Tageblatt, Boulevard 15.6.2015). Beziehung leben und Geborgenheit erfahren verbin-

det er mit dem Begriff »Heimat«. Heimat ist da, wo ein Mensch sich in einem Raum und mit einer Gemeinschaft verwirklichen und etwas bewegen kann. Heimat wird zu einem subjektiven Empfinden. Das Heimatverständnis der jüngeren Generation spiegelt sich im Lied von Adel Tawil: »Komm wir bring’ die Welt zum Leuchten, egal woher du kommst. Zuhause ist da wo deine Freunde sind. Hier ist die Liebe umsonst. Ich weiß genau, dass alles besser werden kann. Wenn ich ganz fest dran glaube, dann schaff ich es irgendwann«. »Heimat« zeigt sich als Projektionsfläche für Sehnsüchte und Klischees und ist in vielerlei Hinsicht missbraucht worden, trägt zum Beispiel den Ballast von »Blut und Boden« mit sich herum. Auch heute wird mit dem Heimatgefühl gespielt, meines Erachtens wird es als Verkaufs-

Nicht gebunden zu sein an alles, was das Leben hergibt, aber verbunden zu sein mit der Erde und mit einer größeren, über die menschliche Vorstellungskraft hinausgehenden Einheit hat die Dimension der spirituellen Verortung jenseits aller Dinge.

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Joannes Janssonius, Planetary orbits, plate 18 from »Atlas coelestis seu harmonia macrocosmica« /  Private Collection / Bridgeman Images

existiert. Mir war es wichtig, an diesem Ort verheimatet zu sein, da meine Eltern als Flüchtlinge das Trauma der Heimatlosigkeit mit sich herumtrugen. Freddy Quinn verlieh diesem Gefühl in seinen sehnsuchtsvollen Liedern Ausdruck in einer emotional aufgeladenen Spätnachkriegszeit, unter anderem mit dem Song: »Schön war die Zeit«.

D i e s p i r i t u e l l e D i m e n s i o n v o n H e i m a t    2 3

strategie ge- oder benutzt, wie bei der Werbung für die Kreuzfahrtschiffe. Viele große Verkaufshäuser haben ein identisch aufgebautes »Innenleben«, damit sich in ihren Geschäften, wo diese auch sind, »ihre« Kunden zurechtfinden, sich beheimatet fühlen. Man kennt, was einen erwartet, man kann sich orientieren, weiß Bescheid, wo alles ist. Erkennungsmelodien von Produkten suggerieren Dazugehörigkeit und lassen die in der Werbung vorgespiegelten Eigenschaften im Kopf assoziieren. Es ist erkennbar, dass Menschen das Gefühl der Dazugehörigkeit brauchen, auch wenn es, wie beschrieben, häufig dazu dient, Menschen zu manipulieren. Die spirituelle Dimension von Heimat Eine Verortung, die nicht von dieser Welt ist, bedeutet vertrauend zu leben, sich geborgen zu fühlen, nicht aufgrund eines guten Beziehungs- und Freundesnetzwerkes oder von Orts- und Naturverbundenheit, sondern aufgrund eines Urvertrauens in den Urgrund des Seins. Die Christen sprechen von Gott. Zu wissen, dass jeder Mensch gewollt und geliebt ist, seine Aufgabe auf der Erde hat, aber die eigene Existenz von dieser nicht abhängt. Nicht gebunden zu sein an alles, was das Leben hergibt, aber verbunden zu sein mit der Erde und mit einer größeren, über die menschliche Vorstellungskraft hinausgehenden Einheit hat die Dimension der spirituellen Verortung jenseits aller Dinge. Dies klingt auch im Heimatverständnis im Lied von Adel Tawil an: Heimat sind zum einen Freunde und ein Ort, wo man etwas bewirken kann. Zum anderen will Tawil die Welt zum Leuchten bringen und verbessern, was nicht nur aus der Welt oder der Aktivität der Freunde geschehen kann, sondern eine transzendente Kraft und Energie andeutet, die dazu nötig ist. Der Heilige Geist ist die spirituelle Heimat des Menschen. Diese Verortung äußert sich dynamisch machtvoll, verlangt aber auch viel von einem Menschen.

Es ist die nicht fassbare Urexistenz in jedem Menschen. Im Islam gibt es 99 Namen für Gott, um die Vielfältigkeit und Unfassbarkeit Gottes zum Ausdruck zu bringen. Gott als Geheimnis zu betrachten macht deutlich, dass er sich Interpretationen und Festlegungen menschlicher Art entzieht. »Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht«, dieser Satz von Dietrich Bonhoeffer betont in der paradoxen Formulierung, was die Beschreibung als Geheimnis meint. Wenn die Beschäftigung mit Gott auf diese Art und Weise meines Erachtens auch schwieriger wird, so dient sie doch dazu, dass Menschen Gott »nicht als Lückenbüßer unserer unvollkommenen Erkenntnis figurieren«, wie Bonhoeffer schreibt. Seine Unfassbarkeit ist das Faszinierende, das nicht loslässt und immer wieder neu herausfordert und Kraft, Grundlage und Heimat gibt. Die Herausforderung für moderne Menschen und für Glaubende ist, im Ungewissen Halt zu finden. Heimat bedeutet die Auseinandersetzung mit dem Nicht-Fassbaren und auch Nicht-Vereinnahmbaren. Es heißt, sich einzulassen auf Unbekanntes und loszulassen vom Machbaren und sich fallen zu lassen, weil es mehr gibt, als unsere Ratio und unser Geist fassen kann. Geborgenheit zu spüren und Gelassenheit leben zu können heißt, eine bleibende, spirituelle Heimat zu haben. Dr. Heiderose Gärtner-Schultz, M. A., ist promovierte Theologin, Logo­the­ra­ peu­tin, Supervisorin, Tourismus-/Kreuzfahrtpfarrerin der Evangelischen Kirche in Deutschland, bietet Kunstanaloges Coaching an und publiziert Fachbücher im Bereich Theologie/Psychologie. E-Mail: [email protected] Website: www.gaertner-schultz.de Literatur Marsh, Ch. (2015). Dietrich Bonhoeffer. Der verklärte ­Fremde. Gütersloh. Theißen, G.; Merz, A. (2011). Der historische Jesus 4. Aufl. Göttingen.

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Kofferkinder und der schwierige Umgang mit Heimat Zwischen Heimatverlust, Entfremdung und Neuaneignung

Azra Dzajic-Weber

Debatte um den Heimatbegriff Über das Verhältnis von Migration und Heimat ist in Deutschland in den letzten Jahren politisch wie wissenschaftlich viel diskutiert worden, insbesondere seitdem vor etwa einem Jahrzehnt politisch anerkannt worden ist, was schon lange Realität war – dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Eine Gruppe ist dabei bisher vernachlässigt worden: die sogenannten Kofferkinder – nicht zuletzt, weil dieses Phänomen in der Migrationsdebatte bisher wenig Aufmerksamkeit gewinnen konnte. Die Schwierigkeit mit der Debatte um »Heimat« liegt schon darin begründet, dass es keine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs gibt. Mit Heimat ist im allgemeinsten Sinne die Nahwelt, eine räumlich-soziale Einheit mittlerer Reichweite gemeint. Die Vorstellung von Heimat als statische, als »heile Welt«, die auf der Dreiheit von Identität, Sicherheit und Tradition gründet, geht auf im 19. Jahrhundert entstandene Heimatbewegungen zurück, die im Widerstand gegenüber dem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess das traditionelle Landleben idealisierten. Nach diesem Verständnis bezieht sich Heimat auf den Ort, in den man hineingeboren wird, in dem die frühen Sozialisationserfahrungen stattfinden, die Identität, Charakter und Weltsicht prägen. Demgegenüber betonen moderne Betrachtungen von Heimat ein dynamisches Konzept. Heimat ist demnach die Ausbildung sozialer Zugehörigkeiten und Gruppenidentitäten, diese beruht auf einer aktiven Rolle des Individuums und muss dem-

nach nicht beschränkt sein auf den ursprünglichen Geburts- und Lebensort. Heimat schließt in der modernen Gesellschaft ebenso die Möglichkeit der Beheimatung in einer neuen Lebenswelt ein. Fünf Dimensionen scheinen im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Heimat bedeutend: 1. die räumliche Dimension: der Ort oder die Gegend, in der sich ein Individuum aufhält, in dem es lebt, sein Lebensraum;

Für die Kinder wurde der Koffer, mit dem ihre Eltern abreisten und regelmäßig zu Besuch kamen, zum vordergründigen Symbol ihrer Lebenssituation.

Leidfaden, Heft 3 / 2016, S. 24–29, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

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2. eine zeitliche Dimension: etwa die eigene Kindheit und Jugend, die im Kontext von Heimatgefühlen oft idealisiert wird; 3. die soziale Dimension: die Beziehung zu anderen Individuen und Gruppen in einem bestimmten Raum; 4. eine kulturelle Dimension: Sie bezieht sich auf Bräuche und Gewohnheiten, auf kulturelle Prägungen, die der/die Einzelne durch sein/ihr Leben in einem gewissen Lebensraum mitbekommt, dazu gehört aber auch ganz zentral die Sprache als Medium kultureller Heimat; 5. die emotionale Dimension: Heimat ist nicht zuletzt das Produkt subjektiven Empfindens, der subjektiven Einstellung zu Ort, Gesellschaft und persönlicher Entwicklung des/der Einzelnen in einem gewissen Lebensraum.

Kofferkinder – ein Phänomen der Nachkriegsmigration Was meint die Bezeichnung »Kofferkinder«? Sie bezeichnet Kinder, deren Eltern (vermeintlich) auf Zeit in ein anderes Land migriert sind und ihre Kinder im Heimatland vorübergehend zurückließen, wo sie in die Obhut von Verwandten gegeben wurden, und zwar in Bezug auf die sogenannten Gastarbeiter in Westeuropa in der Nachkriegszeit. Für diese Kinder (und Jugendlichen) wurde der Koffer, mit dem ihre Eltern abreisten und regelmäßig zu Besuch kamen, zum vordergründigen Symbol ihrer Lebenssituation. Gülcin Wilhelm, türkeistämmige Deutsche und selbst Kofferkind, hat diese Lebenssituation plastisch so beschrieben: »Die Eltern sind weg und kommen vielleicht einmal im Jahr für vier Wochen

Aus dem Film »Almanya« von Yasemin Samdereli, BRD 2011 / INTERFOTO / NG Collection

Aus dieser differenzierten Perspektive betrachtet gestaltete sich das Verhältnis von sogenannten

Kofferkindern in Deutschland zu Heimat außerordentlich vielschichtig und gebrochen.

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Colourbox

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zurück. Aber das Kind hat noch keine Vorstellung von Zeit und kann gar nicht wissen, was das bedeutet: Sie kommen im nächsten Jahr wieder.« Zum Phänomen Kofferkinder in Bezug auf die ehemaligen Gastarbeiter in Deutschland existieren keine belastbaren Gesamtzahlen, es handelt sich aber um eine größenmäßig relevante Gruppe. Schätzungen in Bezug auf die türkeistämmigen Gastarbeiter der 1960er und 1970er Jahre sprechen allein von 700.000 Kofferkindern. Nimmt man die Gastarbeiter aus anderen Herkunftsländern wie Italien, Griechenland oder etwa Jugoslawien hinzu, kann man davon ausgehen, dass sich die Gesamtzahl im Millionenbereich bewegt haben muss und damit ein bedeutender Teil der Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation Erfahrungen als Kofferkinder gemacht hat. Das Phänomen hat erst in den letzten Jahren Beachtung in Deutschland gefunden. 2011 hat Gülcin Wilhelm das erste Buch zum Thema veröffentlicht – »Generation Koffer. Die Pendelkinder der Türkei« – und Radio Bremen hat 2013 eine erste filmische Dokumentation erstellt. Gastarbeiter – Leben zwischen zwei Heimaten Die ersten Gastarbeiter aus Italien kamen Mitte der 1950er Jahre nach Abschluss des ersten Anwerbeabkommens nach Westdeutschland, es folgten Abkommen mit acht weiteren Staaten in den 1960ern, darunter 1961 mit der Türkei und als letztes 1968 mit Jugoslawien. Zunächst kamen

Die Trennungserfahrung geriet für viele Kofferkinder zur dauerhaften Beschädigung der Beziehung zu den Eltern, die oftmals mit einem Tabu belegt war.

vor allem Männer; ihre Aufenthaltsdauer war auf der Grundlage des Rotationsprinzips auf wenige Jahre beschränkt, dieses wurde jedoch bereits 1964 aufgehoben. Das Ziel eines zeitlich begrenzten Arbeitsaufenthalts, um möglichst viel Geld zur Schaffung besserer Lebensbedingungen, für einen Hausbau und Ähnliches nach der Rückkehr in die Heimat zu verdienen, blieb. Die Migration der Ehefrauen geschah weniger gezielt, oftmals als Nachzug mit der Erwägung, wenn beide Ehepartner arbeiten, verkürze sich die Dauer der Arbeitsmigration. Die Kinder blieben zunächst aus mehreren Gründen zurück in der Heimat. Bis 1964 galt ein Verbot des Familiennachzugs. Erst nach und nach gelang es den Gastarbeitern, den Schritt von Arbeiterunterkünften in eigene Wohnungen zu machen. Außerdem schien es finanziell sinnvoller, für die geplant begrenzte Zeit die Kinder in den Heimatländern zu belassen. So blieb der Kontakt zwischen Eltern und Kinder zumeist beschränkt auf Briefe (Telefone gab es in den zumeist ländlichen Regionen in den Herkunftsländern noch kaum) und auf wenige Wochen lange Besuche pro Jahr, zumeist im Sommer. Zum Nachzug der Kofferkinder in großer Zahl kam es erst nach dem Anwerbestopp 1973, als sich viele Gastarbeiter entschlossen, längerfristig in Deutschland zu bleiben. Obwohl das Leben der Gastarbeiter in Deutschland mit den Jahren zunehmend ein dauerhaftes mit der ganzen Familie wurde, blieben diese gefangen zwischen zwei Heimaten und zwischen den Zeiten. Durch die jahrzehntelange Weigerung von Politik und Gesellschaft, die Realität der entstandenen Einwanderungsgesellschaft und die ehemaligen Gastarbeiter als neue Mitbürgerinnen und Mitbürger zu akzeptieren, war dieser lange der Weg zur Annahme Deutschlands als neue Heimat auch institutionell versperrt. Somit blieben sie »zwischen den Zeiten« gefangen beziehungsweise verloren – ihren Bezugspunkt bildete die vergangene Zeit in der alten Heimat vor der Migration, während das »eigentliche Leben« in einen imaginären Zeitpunkt in der Zukunft,

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nach der Rückkehr in die »Heimat« verschoben wurde, an einen Punkt, der zeitlich immer mehr in die Ferne rückte und am Ende dann oftmals gar nicht mehr realisiert werden sollte. Mit dem späten Eingeständnis der Politik, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, und den Anpassungen unter anderem des Staatsbürgerrechts an diese Realität wurden endlich die institutionellen Voraussetzungen für die ehemaligen Gastarbeiter geschaffen, die ein endgültiges Ankommen in der Gesellschaft ermöglichten. Nach Jahrzehnten einer Dazwischen-Existenz gelang das insbesondere vielen aus der ersten Generation allerdings nur noch bedingt. Die Kofferkinder – schwieriges Verhältnis zu »Heimat« Die Migrationserfahrung der Kofferkinder und der sich darauf gründenden und entwickelnden vielschichtig-brüchigen Wahrnehmung von »Heimat« in Bezug auf das Herkunftsland und Deutschland unterscheidet sich nicht grundsätzlich von den anderen Migrationskindern, sie ist aber ergänzt und verändert durch die Erfahrung der zeitweilige Trennung von den Eltern. Die Erfahrung des Verlassenwerdens durch die Eltern stellte einen Vertrauensbruch und eine dramatische Entfremdung zwischen Eltern und Kindern dar. Sie bedeutete ein Stück Heimatverlust auf Raten sowohl hinsichtlich der sozialen Dimension von Heimat als auch der zeitlichen – denn sie trübte die spätere Erinnerung an die Kindheit in der alten Heimat. Die Trennungserfahrung geriet für viele Kofferkinder zur dauerhaften Beschädigung der Beziehung zu den Eltern, die oftmals mit einem Tabu belegt war. Dass die Eltern bei ihren jährlichen Besuchen ihre Kinder, oft auch aus schlechtem Gewissen, mit westlichem Spielzeug und moderner westlicher Kleidung überhäuften, beeinflusste die sozialen Beziehungen der Kofferkinder zu anderen Kindern. Deren Reaktion pendelte zwischen Bewunderung und Neid; Letzterer zwang viele Kof-

ferkinder in eine Außenseiterrolle und partielle soziale Entfremdung. Nach dem Nachzug beschleunigte sich diese Entfremdung der Kinder von ihrer Herkunftsgesellschaft und beeinflusste auch deren Wahrnehmung von dieser als Heimat. Zwar entwickelte sich dieser Entfremdungsprozess bei Kindern wie Eltern, doch in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Ausprägung. Mit den Jahren veränderten sich auch die Herkunftsgesellschaften, entwickelten sich weiter, modernisierten sich. Doch die Migranten blieben sozial und physisch weitgehend abgeschnitten von diesem Prozess, und zugleich übernahmen sie mit der Zeit schleichend kulturelle Prägungen in Deutschland. Während die in der Heimat verbliebenen Verwandten materielle Unterstützung und Geschenke erwarteten, waren die Gastarbeiter zugleich stigmatisiert als »Deutschländer« (Türkei) oder »Jugoschwaben« (Jugoslawien). Bei der Elterngeneration der Gastarbeiter führte das vielfach zur Konservierung einer imaginären, oftmals traditionellen Vorstellung von Heimat, die dem Zustand der Herkunftsgesellschaften von der Zeit vor der Migration entsprach. Bei den Kofferkindern, die einen bedeutenden Teil ihrer Sozialisation nun in der neuen, deutschen Heimat durchlebten, verblasste mit der Zeit die auf die Herkunftsgesellschaft gerichtete Vorstellung von Heimat, die es auch bei den regelmäßigen Besuchen nicht vermochte, ihnen ein uneingeschränktes Gefühl von Zugehörigkeit zu bieten. Aus der Trennung von den Eltern, dem Verlust eines Stücks sozialer Heimat, entwickelten sich aber auch Ressourcen, die für die aktive Beheimatung in Deutschland mobilisiert werden konnten. Die Abwesenheit der Eltern förderte die Selbstständigkeit vieler Kofferkinder. Zugleich festigte sie die Bindung unter den Geschwistern, wobei vielfach die älteren Geschwister in die Rolle des Elternersatzes schlüpften. Diese Geschwisterbeziehungen bildeten die einzige soziale Bindung, die durch die Migration in die neue Heimat keinen Bruch erfuhr.

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Durch den Nachzug der Kofferkinder nach Deutschland verkehrte sich das Verhältnis zu alter und neuer Heimat bei Eltern und Kindern paradoxerweise; nicht nur verloren die ehemaligen Kofferkinder stärker den Bezug zu ihrer alten Heimat, obwohl sie später von dort weggegangen waren als ihre Eltern, sondern zugleich überholten sie ihre Eltern in der neuen Heimat ganz schnell in punkto Integration, obwohl sie dort später angekommen waren. Das lag zum einen am Schulbesuch, der einen höheren Grad an sozialer Integration in die deutsche Gesellschaft ermöglichte als der weitgehend von (Industrie-)Arbeit geprägte Alltag der Eltern, zum anderen an dem schnellen Erwerb der deutschen Sprache. Die relativ leichte Aneignung der deutschen Sprache durch die ehemaligen Kofferkinder, und zwar in einer Qualität, die ihre Eltern ihr Leben lang nicht mehr erreichen sollten, wurde zur zentralen kulturellen Dimension der Beheimatung. Die Existenz der Elterngeneration zwischen der Entfremdung von der Herkunftsgesellschaft, die als schmerzlicher, schleichender Heimatverlust erlebt wurde, und dem Nicht-Dazugehören in Deutschland änderte sich erst schrittweise mit der Möglichkeit, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben, und der spät einsetzenden nachholenden Anerkennung der Existenz und Leistung der Gastarbeitergenerationen. Für die zweite Generation, die ehemaligen Kofferkinder, führte das Spannungsverhältnis zwischen Sozialisation in der neuen Heimat und Nicht-ganz-Dazugehören vor allem in Reaktion auf Ausländerfeindlichkeit vielfach zu einer Politisierung. Diese war zugleich Ausdruck eines selbstbewussten Einforderns, gleichberechtigter Teil der deutschen Gesellschaft sein zu wollen. Resümee Die spezifische, schmerzhafte bis traumatische Trennungserfahrung, die die Kofferkinder als Vorstufe des Abschieds von der Herkunftsgesellschaft durchlebt haben, konstituierte kein grund-

sätzlich anderes Verhältnis zu alter und neuer Heimat, als dies bei anderen Migrationskindern in Deutschland der Fall war. Dieses war ebenso primär bestimmt durch den schleichenden Abschied vom Gastarbeiterstatus auf Zeit und der um Jahrzehnte verspäteten rechtlich-institutionellen Anerkennung als Einwanderer bei anderen Migrationskindern. Aber der Bruch im Verhältnis zu den Eltern, der meist eine dauerhafte Beschädigung oder seelische Narben hinterließ, bedeutete ein Stück Verlust der sozialen Dimension von Heimat, die von der Herkunftsgesellschaft nach Deutschland transferiert wurde. Schaut man jedoch auf die Lebensgeschichte sowohl der Eltern, die oft einen ländlichen Hintergrund und niedrigen Bildungsstand hatten, als auch der Kinder, so kann festgestellt werden, dass diese Gruppe unter der ersten und zweiten Migrantengeneration in Deutschland gerade im Lichte dieser traumatischen Last eine beeindruckende Lebensleistung aufzuweisen hat, die bisher von der Mehrheitsgesellschaft weder wahrgenommen, geschweige denn ausreichend gewürdigt wurde. Dr. Azra Dzajic-Weber ist Trainerin und Beraterin für Diversity und interkulturelle Kompetenz. Sie studierte und promovierte in Slawistik und Germanistik an der Georg-August-Universität in Göttingen und war über ein Jahrzehnt in der internationalen Zusammenarbeit im In- und Ausland tätig. E-Mail: [email protected] Literatur Bausinger, H.; Köstlin, K. (Hrsg.) (1980). Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur. Neumünster. Handschuh, G. (1990). Brauchtum – Zwischen Veränderung und Tradition. In: Bundezentrale für politische Bildung: Heimat (S. 635 ff.). Bonn. Mitzscherlich, B. (1997). »Heimat ist etwas, was ich mache«. Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung. Pfaffenweiler. Neumeyer, M. (1992). Heimat. Zu Geschichte und Begriff eines Phänomens. Kiel. Wilhelm, G. (2011). Generation Koffer. Die Pendelkinder der Türkei. Berlin.

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Notfallseelsorge bei Flüchtlingen Problemfall Flüchtlinge?!

Ann-Carolin Boddenberg Flüchtlinge hat es immer gegeben; die Probleme, die im Zusammenhang mit ihnen auftreten, also auch. Warum aber ist dieses Thema zurzeit nicht nur in den Medien von immer größerem Interesse? Wo liegen die Schwierigkeiten in diesem Bereich, und welche Auswirkungen haben sie auf die Aufgaben der Notfallseelsorge? Immer wieder sind Menschen auf der Flucht gewesen. Im Krieg sind zum Beispiel viele aus dem heutigen Polen nach Deutschland geflüchtet. Auch sie haben viel Elend und schwere Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Sie wurden vertrieben und aus ihrer Heimat verbannt. »Heimatlose« nannte man sie. Es wurde mit dem Finger auf sie gezeigt. Sie wurden damals als Menschen zweiter Klasse behandelt. In Lagern und Notunterkünften zusammengepfercht wie Vieh, mussten sie zunächst unbezahlt arbeiten. Sie wurden ausgebeutet und teilweise wie Sklaven gehalten. Wer in der Pflege oder in sozialen Einrichtungen arbeitet, kennt viele dieser Leidensgeschichten. Sie sind durchweg gekennzeichnet von Verlust, Angst, Trauma, Tod. Ich bin in vielen Wohnungen gewesen, wo an der Wand das Bild eines jungen Menschen hing, der im Krieg gefallen war. Die Geschichten dazu haben fast immer etwas mit Flucht und Vertreibung zu tun, mit dem Verlust der eigenen Identität, der eigenen Vergangenheit, der Familientradition und der dazugehörigen Biografie, mit Demütigung, Folter, Vergewaltigung, Hunger und (Fremden-)Hass. Fragen, die daraus resultieren, sind: Was wird aus mir werden, wo kommen wir hin? Kann ich irgendwann wieder zurück nach Hause? Wie wird man mich in der Fremde aufnehmen? Werde ich Freunde finden, ein neues Zuhause haben? Werde

ich geliebt werden um meiner selbst willen? Werde ich Arbeit haben, Geld verdienen, um mich und meine Familie zu ernähren? Werden wir Frieden finden? Werden die Verletzungen an Leib und Seele je heilen? Den Menschen, denen wir zurzeit hier begegnen, haben sich diese Fragen auch gestellt. Sie kommen aus Kriegsgebieten, haben viel Schlim-

Leidfaden, Heft 3 / 2016, S. 30–35, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

N o t f a l l s e e l s o r g e b e i F l ü c h t l i n g e n    3 1

mes gesehen, sind oft mehrfach traumatisiert, sind mit Tod, Folter und Mord in Berührung gekommen. Sie kommen aus einem anderen Kulturkreis, sprechen nicht unsere Sprache, haben eine andere Religion. Sie sehen anders aus, kleiden sich anders, essen andere Speisen, singen andere Lieder, kennen andere Geschichten. Auch sie haben nur das Allernötigste mitnehmen können – und manchmal noch nicht mal das. Boatpeople haben oft nicht mehr als das, was sie anhaben. Sie kommen in ein fremdes Land, von dem sie nichts wissen, außer dass sie dort keine Angst mehr haben müssen, ermordet zu werden. Sie werden durch lange behördliche Verfahren geschleust, von denen sie nicht wissen, was sie zu bedeuten haben. Sie haben oft keine Papiere,

© Christiane Knoop

Wer in der Pflege oder in sozialen Einrichtungen arbeitet, kennt viele Leidens­ geschichten von Flüchtlingen. Sie sind durchweg gekenn­ zeichnet von Verlust, Angst, Trauma, Tod.

können weder lesen noch schreiben, können sich bei zwischenmenschlicher Kommunikation nur an Gesichtsausdrücken orientieren. Und doch sind es Menschen wie du und ich. Menschen, die nichts anderes wollen als Liebe, Geborgenheit, Sicherheit, Vertrauen, eine neue Zukunft, in Frieden zu leben, ein kleines Stück Freiheit, Freunde, ein neues Zuhause, wo die Kinder lernen können und ohne Gefahr erwachsen werden dürfen. Menschen mit den gleichen Gefühlen, wie wir sie auch haben, mit den gleichen Ängsten und Hoffnungen, mit den gleichen Träumen. Bei einem meiner Einsätze bin ich nicht zum ersten Mal mit Flüchtlingen zusammengekommen. Diese Einsätze sind oft schwieriger, da es keinen Dolmetscher gibt oder es lange dauert, bis sich jemand findet, der die Sprache wenigstens einigermaßen spricht – was dann immer gelingt, wenn man Menschen mit Liebe und Respekt begegnet, denn dann bedarf es oft keiner Sprache. Diesmal werde ich gerufen, weil ein Kind einen schweren häuslichen Unfall hatte. Es ist auf dem Weg ins Krankenhaus und der Rettungsdienst versucht es wiederzubeleben. Als ich auf die Kinderintensivstation komme, erfahre ich, dass dem Kind ein altes, schweres Röhrenfernsehgerät auf den Kopf gefallen ist. Dieses stand auf einem Regal in den Gemeinschaftsräumen des Flüchtlingsheims. Die Mutter sitzt im Arztzimmer und wartet. Die Ärzte stellen die Wiederbelebung ein, als das Ergebnis des CT feststeht. Die Schädeldecke ist mehrfach gebrochen, ebenso die Wirbelsäule. Das Kind ist tot. Betroffen machen wir uns auf den Weg zur Mutter, um ihr diese schlimme Nachricht zu überbringen. Ohne Sprache ist dies schwer, sie sieht aber in unseren Augen, dass ihre schlimmsten Befürchtungen eingetroffen sind. Sie fragt: »Tot?« Wir nicken. Sie schreit und rennt los in das Zimmer, in das der Rettungsdienst das Kind gebracht hatte. Ich folge ihr. Sie schubst die Schwestern zur Seite und nimmt ihren Sohn in den Arm.

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Edvard Munch, Male and Female Head, 1896 / IAM / akg-images

N o t f a l l s e e l s o r g e b e i F l ü c h t l i n g e n    3 3

Drückt ihn kurz an sich, legt ihn dann aber wieder hin und fängt an zu singen, sie tanzt um ihr Kind und berührt es immer wieder an Mund und Nase. In größeren Abständen streicht sie über Hände und Füße. Erst stehen wir alle bewegungslos daneben und schauen zu. Wir verstehen nicht, was hier passiert. Es ist uns fremd. Eigentlich dürften wir das Kind nun nicht mehr anfassen, alle Zugänge müssten so bleiben, wie sie sind. Es ist ein nicht natürlicher Todesfall, der von der Kriminalpolizei untersucht werden muss. Es muss ermittelt werden, ob es sich hierbei um einen Unfall oder einen Mord handelt. So sind die Regeln hier in Deutschland. Die Frau weiß von diesen Vorgängen nichts, sie weiß nur, dass sie handeln muss, und das schnell. Ich sehe mir das Ganze kurz an und gebe ihr zu verstehen, dass ich ihr helfen kann, wenn sie mag. Sie sieht mir in die Augen und drückt mich an sich, nimmt meine Hand und zeigt mir, was ich machen soll. Gemeinsam tanzen wir um das Kind und versuchen die Seele, die auf dem Weg zu Gott ist, wieder einzufangen und in den Körper zurückzuführen. Die Ärzte und Schwestern sowie die eingetroffenen Polizisten sehen uns verständnislos zu und wollen, dass ich die Frau dazu bewege, mit dem »Zirkus« aufzuhören. Ich versuche zu vermitteln. Eine Schwester versteht mich und hilft noch mit. Nach etwa einer Stunde gibt die Frau auf und stellt fest, dass es nichts mehr bringt. Ihr Kind ist tot, aber sie hat alles versucht, es zu retten. Sie lässt sich von mir in die Arme nehmen und fängt lautes Weinen und Wehklagen an. Es steigert sich zum Schreien. Minutenlang, es ist schwer auszuhalten, doch dafür bin ich da. Ich halte sie, bis ich nicht mehr kann, wir sinken zu Boden und bleiben dort sitzen. Irgendwann kommt der Ehemann in den Raum. Er fängt laut an zu weinen. Nach einer Weile sprechen die beiden miteinander. Leider verstehe ich sie nicht. Wir haben auch keinen Dolmetscher, der helfen könnte. Wir

setzten uns auf Stühle neben das Kind. Plötzlich dreht der Mann sich zu mir um und dankt mir; im ersten Moment verstehe ich nicht, warum oder wofür, aber dann wird mir klar, dass er sich bedankt, weil ich mitgeholfen habe die Seele wieder zurückzuholen. Als die Kripo ihre Arbeit gemacht hat, steht fest, dass es ein Unfall war. Ich bin erleichtert. Mit der Kripo kommt ein Afrikaner, der etwas Deutsch spricht; von ihm erfahre ich, dass die Familie erst seit kurzem hier ist und in den kommenden Tagen woanders hinkommen soll. Die Frau schreit wieder laut los, als sie erfährt, dass sie schon in zwei Tagen weiter nach Norddeutschland müssen. Ich brauche keine Worte, um zu verstehen, was sie denkt. Was wird mit dem Kind werden, wo soll es begraben werden? Wie kann sie es hier in der Fremde allein zurücklassen? Ich erfahre an diesem Abend von dieser Frau eine Leidensgeschichte, wie ich sie mir nicht schlimmer vorstellen könnte. In der Heimat herrscht Bürgerkrieg, ihre Eltern wurden erschossen, sie hat als neunjähriges Mädchen alles mit anschauen müssen. Sie wurde von da an in den kommenden drei Jahren wie eine Sklavin gehalten, bekam kaum zu essen und zu trinken. Bis zu ihrem 17. Lebensjahr ist sie täglich missbraucht worden. Nach der Flucht, bei der sie nichts mitnehmen konnte, kam sie in ein Flüchtlingslager, dort wurde sie erst einmal medizinisch versorgt, bekam zu essen und ein Bett. Im Lager fand sie auch ihren Bruder wieder, der schwer verletzt von einem Soldaten aufgefunden worden war. Nach zahllosen Operationen hat er überlebt und wurde von einer Frau aus dem Lager, die drei Kinder im Krieg verloren hatte, aufgenommen. Die junge Frau darf bleiben. Nach vier Monaten werden sie alle weitergereicht in ein anderes Lager. Dort herrscht am Anfang großes Gedränge. Sie lernt ihren jetzigen Mann kennen. Sie heiraten schnell und wollen weg. Durch eine Schleuserbande er-

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© Helmut Hoffmann-Menzel

fahren sie, dass sie in ein sicheres Land kommen können. Der Preis dafür ist hoch, doch sie setzten alles daran, das Geld zu beschaffen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen schaffen sie es, mit dem Bruder zusammen auf einem Treck in Richtung Norden mitgenommen zu werden. Sie müssen bis zu zwanzig Stunden am Stück laufen, durch Hitze und Regen, ohne zu essen. Viele bleiben auf der Stecke und können nicht mehr weiter. Sie werden unterwegs beschossen und immer wieder zusammengedrängt und beschimpft. Eingesperrt in dunkle Räume, manchmal tagelang ohne zu trinken. Sie erleben, dass jeden Tag jemand stirbt; das Leid ist unermesslich, aber keiner nimmt Rücksicht. Sie werden weiter getrieben. Irgendwann sind sie am Meer und werden in

Irgendwann schauen mich alle an, drehen sie nach mir um, nicken, lächeln mich freundlich an, berühren mich an den Händen, manche nehmen mich stumm in den Arm und drücken mich. Ich bin überwältigt von so viel Wärme.

kleine Boote gesteckt, viel zu viele Menschen, ohne Schutz, ohne Navigation, nur mit dem nackten Leben bekleidet. Wer es nicht schafft, wird einfach über Bord geworfen. Ein Gebet oder Gefühle gibt es schon lange nicht mehr. Im Angesicht von so viel Elend und toten Menschen stumpft man ab. Begräbt die eigenen Gefühle in sich, tief in sich. Nur die Stärksten überleben, ihr Bruder gehört nicht dazu. Er wird über Bord entsorgt wie die anderen vor ihm. Sie weint nicht mal um ihn – dazu hat sie keine Kraft mehr. Nach Tagen auf See werden sie gerettet. Von da ab werden sie weitergereicht von Lager zu Lager. Sie werden verhört wie Schwerverbrecher. Sie haben keine Papiere, die belegen könnten, wer sie sind, keine Adresse, die sie angeben können, um aufgenommen zu werden. Bei den Behörden gibt es korrupte Beamte, die sich nehmen, was sie möchten. Aber was soll man einem Menschen wegnehmen, der schon vor langer Zeit seine Würde verloren hat? Sie wird schwanger; von wem weiß sie nicht, sie hofft von ihrem Mann. Es gibt auch nette Beamte, die helfen wollen, aber nicht können. Dann gibt es unverhofft eine Möglichkeit, über die Christliche Kirche in Deutschland weiterzukommen. Sie melden sich an und haben Glück: Da sie verheiratet sind und die Frau mittlerweile hochschwanger ist, dürfen sie nach Deutschland einreisen. Sie bekommen Papiere, die sie zwar nicht lesen können, aber sie beide verstehen, die sind wichtig, die dürfen sie unter keinen Umständen verlieren. Das Kind kommt in einer Klinik zu Welt. Die Frau war noch nie in einem Haus aus Stein, Beton und Glas, alles ist neu, vollkommen anders als zu Hause. Sie versteht die Sprache nicht, es ist kalt in diesem Land, immer zu kalt, und es regnet viel. Sie hofft, bald nach Hause gehen zu können. Hier ist es zwar sicher, aber im Grunde ihres Herzens will sie wieder in ihre Heimat.

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N o t f a l l s e e l s o r g e b e i F l ü c h t l i n g e n    3 5

Sie bekommt schnell noch drei weitere Kinder, immer in einer anderen Stadt, in einem anderen Auffanglager. Sie hat die Hoffnung längst aufgegeben, dass dies einmal enden wird. So ist sie in meine Stadt gekommen, so haben wir uns durch dieses Unglück kennengelernt. Das ist ihre Geschichte, die sie mitbringt. Ich bin erschüttert und kann mir kaum vorstellen, wie ein Mensch so viel Leid ertragen kann. Nun auch noch der Tod eines Kindes. Am Abend halten wir in der Unterkunft mit einem Pfarrer zusammen eine kleine Andacht. Ich bin dazu eingeladen und bekomme eine vage Ahnung davon, was es heißt, fremd zu sein. Etwa fünfzig Personen, alle mit dunkler Hautfarbe, haben sich eingefunden. Ich stehe als einzige Weiße mittendrin. Ich verstehe die Sprache nicht, nicht die Gebete, nicht die Lieder. Ich fühle mich einsam und allein, ich bin ausgeliefert, kann mich nicht mitteilen. Irgendwann schauen mich alle an, drehen sie nach mir um, nicken, lächeln mich freundlich an, berühren mich an den Händen, manche nehmen mich stumm in den Arm und drücken mich. Ich bin überwältigt von so viel Wärme. Am nächsten Tag erfahre ich, dass die Beerdigung des Kindes noch ein paar Tage dauert. Ich versuche den Behörden klar zu machen, dass die Familie aber so lange nicht mehr hier ist. Man zuckt mit den Schultern und gibt mir zu verstehen, dass man nichts machen könne. Für die Eltern des toten Kindes ist es unzumutbar, dass sie weiterziehen. Über den Dolmetscher erfahre ich von der Frau, dass sie ihre Eltern irgendwo ohne Beerdigung zurücklassen musste, sie hat eine Schwester irgendwo verscharren müssen, sie hat ihren Bruder ins Meer werfen müssen. Doch ohne ihr Kind wird sie nicht hier weggehen, sie will es bei sich haben, sie sagt mir: »Ich kann ihn doch nicht allein lassen, er ist doch erst fünf Jahre alt. In dem Alter brauchen die Kinder doch ihre Mama.«

Nach einigem Hin und Her schaffen wir es, dass das Kind eingeäschert wird und die Urne in den Ort, wo sie später sesshaft werden, überführt wird. So wird sie nur eine Weile von ihrem Sohn getrennt sein. Möglich gemacht haben das die Menschen, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Menschen, die vor langer Zeit selbst Flüchtlinge waren und verstehen, was es bedeutet, alles zu verlieren. Alles bis auf das nackte Leben. Noch heute bewegt mich dieser Einsatz sehr, hat er mir doch deutlich aufgezeigt, was Menschen alles erlitten haben, bevor sie zu uns kommen. Mir ist klar geworden, dass es viele Menschen gibt, die eine eigene Flucht erlebt haben, mit all ihren Schrecken, aber auch mit Menschen, die die Hand ausgestreckt haben, die Mut gemacht und eine Heimat angeboten haben. Heimat, die Wahrheit wurde, die gefüllt wurde mit Menschen, mit Arbeit, mit Freunden, mit Leben. Heimat, die es möglich machte, dass Wunden heilten. Auch wenn man tief in sich immer eine Sehnsucht spürt und die Frage, was aus einem geworden wäre, wenn man nicht geflüchtet wäre. Mittlerweile konnten wir die Urne des Jungen überführen. Die Familie hat ein Zuhause gefunden. Der Mann hat Arbeit bekommen, die anderen Kinder sind im Kindergarten und in der Schule. Sie sprechen schon ganz gut Deutsch. Die Frau geht zur Schule und lernt Lesen und Schreiben, sie möchte ihren Kindern helfen und nicht als dumme Mama dastehen, wie sie selbst sagt. Es wird noch dauern, bis sie alle hier wirklich eine Heimat gefunden haben werden, aber sie haben eine Chance bekommen und sie genutzt. Ann-Carolin Boddenberg ist Fachberaterin Psychotraumatologie, Trauerbegleiterin, Leiterin der Notfallseelsorge und Mitarbeiterin im Psychosozialen Nachsorge-Team der Stadt Leverkusen, Referatsleiterin Seelsorge, Referentin für Psychotrauma an verschiedenen Instituten, Klangtherapeutin. E-Mail: Ann-Carolin.Boddenberg@ kirche-leverkusen.de

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Multiple Heimatverluste im Nordosten Japans nach der »3.11.-Katastrophe« Nao Honekamp-Yamamoto Verheerende Folgen der Erdbebenkatastrophe Die Große Erdbebenkatastrophe im Osten Japans im Jahr 2011 forderte ca. 16.000 Todesopfer, ca. 2500 Menschen sind noch vermisst und ca. 174.000 Menschen leben heute nach vier Jahren noch in Not- beziehungsweise vorläufigen Unterkünften. 94 Prozent der Todesopfer sowie 80 Prozent der totalen Gebäudezerstörung wurden direkt durch den Tsunami verursacht (Gill et al. 2013). Während Küstenregionen der Präfekturen Miyagi und Iwate durch Erdbeben sowie durch den Tsunami verheerende Schäden erlitten haben, bekam unter anderem die Präfektur Fukushima, in der sich die Atomkatastrophe ereignete (entlang deren Küste steht ein Fünftel aller japanischen Atomanlagen auf aktiven tektonischen Platten), einen zusätzlichen Schicksalsschlag mit Strahlen- sowie daraus resultierenden massiven und nur äußerst mühsam wiederherstellbaren Reputationsschäden. Viele Selbstverständlichkeiten, die identitätsstiftend waren, wurden durch diese Katastrophe vernichtet und zerstört. Die Überlebenden verloren Familienmitglieder und andere vertraute Menschen. Die früher überall typische, heute noch auf dem Land geläufige enge Form des Familienlebens, die häufig in zwei bis drei Generationen zusammen in einem Haus stattfand, war durch die Zerstörung der Familienstruktur (Personenverlust direkt durch die Katastrophe) und durch die Evakuierungssituation nicht mehr aufrechtzuerhalten und stark verändert.

Einige Erwerbstätigkeiten (unter anderem in der Agrar- und Milchwirtschaft und im Handwerk) waren zunächst nicht in der bisherigen Form auszuüben. Haus und Grund sind beim Verlust im psychologischen Sinne niemals ersetzbar und austauschbar, denn sie sind mit hochpersönlichen Bedeutungen besetzt. Sie müssen als Familien- oder sogar Ahnengut (anvertraut von der vorigen Generation) behutsam gepflegt und weitergegeben werden. Das vertraute Gemeinschaftsleben, das Gefühl der Verbundenheit mit den Nachbarn und Gemeindemitgliedern sind durch die lange Evakuierung ebenfalls

Leidfaden, Heft 3 / 2016, S. 36–41, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

John Ruskin, Stormy Sunset from Brantwood / © Ruskin Museum, Coniston, Cumbria, UK / Bridgeman Images

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zum Teil komplett vernichtet. Die häufig mit den Wohnorten verknüpften Zukunftspläne und persönlichen Lebensentwürfe sind nicht mehr realisierbar. Die Verbundenheit mit der naturreichen Landschaft der eigenen Heimat, die generell für Japaner hochbedeutsam ist, die im Lied über die Heimat gern und sentimental besungen wird1, hat massive Schäden davongetragen (Hida et al. 2013). Der Ruf der Produkte (zum Beispiel Reis, Gemüse, Milch) aus der Region, unter anderem aus Fukushima, war blitzschnell vernichtet, bevor sie aus dem logistischen Kreislauf verschwanden. Die Veröffentlichung der Messung der ra-

dioaktiven Strahlung aus den Produkten, die für Unbedenklichkeit für den Verbrauch sprechen, hat bisher nur schleppend dazu beigetragen, dass Menschen wieder Vertrauen in die Produkte aus Fukushima aufbauen konnten. Mittlerweile hat sich in Japan in der Publikation eingebürgert, Fukushima in Silbenschriften フクシマ (hier kontextuell gemeint als das radioaktiv-verseuchte Gebiet) zu schreiben, statt wie üblich im bedeutungsneutralen Logogramm 福島. Einen japanischen Ortsnamen, für den ein bewährtes Logogramm bereits existiert, in Silbenschriften umzuschreiben, besitzt einen bedeutungsverla-

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Tensai oder Jinsai: zwei Kategorien von Katastrophen Die Aspekte der Verlustsituation lassen sich in der Ursacheninterpretation und somit in dem (von Betroffenen gefühlten) Sitz der Verantwortung häufig in zwei Kategorien dichotomisiert

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Die Veröffentlichung der Messung der radioaktiven Strahlung aus den Produkten, die für Unbedenklichkeit für den Verbrauch sprechen, hat bisher nur schleppend dazu beigetragen, dass Menschen wieder Vertrauen in die Produkte aus Fukushima aufbauen konnten.

gernden Zweck. ­Typische Beispiele dafür sind Hiroshima sowie Nagasaki als Städte, die von Atombomben betroffen waren. Viele Japaner regen sich deswegen über diese Umschreibung von Fukushima als stigmatisierend und rufschädigend auf, im Sinne von gleichgestellt mit Hiroshima und Nagasaki, die völlig andere historische Hintergründe und Verantwortungen hatte.

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a­ bleiten: Tensai (= Naturkatastrohe, verbunden mit der Idee »Man kann nichts dafür«) vs. Jinsai (= von Menschen verursachte, also »man-made« Katastrophe mit der Idee »Menschliches Versäumnis/ein menschlicher Fehler liegt vor, es hätte verhindert werden können«). Während der Aspekt der Nicht-Vorhersehbarkeit der Tragweite und des Ausmaßes des Erdbebens sowie des Tsunami eher als Tensai interpretiert wird (denkt man jedoch etwa an die zu niedrig geplante Deichhöhe, da taucht der Aspekt Jinsai auch an dieser Stelle auf), werden die (Spät-)Schäden durch die Atomkatastrophe (Gefahr unsichtbar, Schäden kaum bezifferbar, das Ende nicht absehbar) und Reputationsschäden bis hin zur Stigmatisierung (nicht nur Produkte aus Fukushima und Umland, sogar die Menschen werden als »strahlungsansteckend« gemieden) häufiger als Jinsai kategorisiert. Der Gedanke an Jinsai, das heißt an potenzielle Vermeidbarkeit dieser Katastrophe, und die daraus resultierende Wut fanden bisher wenig Kanalisationsmöglichkeiten vor allem aufgrund der nicht geklärten Verantwortung mit der bisher unbeantworteten Schuldfrage: Ist TEPCO schuld als Betreiber der Atomanlage? Ist es die Präfektur Fukushima, die die Atomanlage und somit die Wirtschaft, Arbeitsplätze und die lokal  – von nicht davon profitierenden Nachbarkommunen oft beneidete – gute Konjunkturentwicklung in wenige Dörfer kommen ließ? Ist es die japanische Regierung, die solche Projekte trotz Wissens um eine Tsunamigefahr fördert, ohne Rücksicht auf Verluste? Ist es die japanische Bevölkerung, die sich nur für billigen Strom interessiert und die radioaktive Gefahr von Ballungszentren auf das Land verlagern ließ? Die Tensai-Jinsai-Dichotomie als unterschiedliche Interpretation und Ursachenerklärung des Ereignisses hat offensichtlich Einfluss auf das Gemeinschaftsleben in den jeweiligen Regionen. Die Bewohner in Fukushima äußern häufig, dass die Menschen in Miyagi wohl Glück im Unglück haben, da ihnen relativ schnell klar war, welche Schäden und Verluste sie erlitten haben und erleiden. Jeder weiß, wer starb, wer noch vermisst

ist, wer sein Haus verlor und so weiter. In der Tat zeichnet sich in den Präfekturen Iwate und Miyagi eine marginale Tendenz des Bevölkerungszuwachses ab2, das heißt, diese Kommunen gewinnen vor allem junge Menschen (aus Fukushima, aber auch aus anderen Teilen Japans) neu, die übersiedeln und eine Existenz mit Arbeit und Familie aufbauen. Die Menschen haben bitter, aber klar gesehen, dass ihr bisheriges Leben nie wieder so wie früher sein kann, und haben dann angefangen, einen neuen Alltag für sich selbst und eine neue Perspektive zu entwickeln, salopp formuliert: nach vorne zu schauen. Menschen in Teilen der Präfektur Fukushima hingegen, die ihre Häuser und Wohnungen in dem jetzigen Sperrgebiet und in dessen Umgebung noch stehen haben, haben diese Zukunftsperspektive noch lange nicht. Alles ist unklar belassen in der Grauzone, da noch nicht endgültig geklärt ist, ob ihre Heimat jemals wieder bewohnbar wird (und wenn nicht, was dann passiert), wann, für wen und wie überhaupt Heimkehr möglich sein wird, wie es mit der finanziellen Unterstützung wie Entschädigung, Schmerzensgeld und Fördermitteln weiterläuft (Gill et al. 2013). Rückkehr in die Heimat? Der damalige japanische Premierminister Noda erklärte im Dezember 2011 die Atomkatastrophe offiziell als beendet. Bereits im Herbst 2011 wurden Gesetze zur Bodenentseuchung erlassen, daraufhin begann die Arbeit der Säuberung unverzüglich, ohne jedoch vorab geklärt zu haben, wer die in den unzähligen Plastiksäcken gepackte verseuchte Erde wie lange deponiert und was damit geschehen soll. Mit einem Heimkehrplan sollten die Evakuierten in ihre Heimat wieder zurückkehren. Die Arbeit begann zeitnah, die einzelnen Häuser lassen sich gut von radioaktiven Partikeln befreien. Es wurde den Bewohnern jedoch schnell klar, dass es kaum möglich sein wird, die Wälder und Berggebiete ausreichend zu säubern, von wo aus Regenwasser und Schneeschmelze immer wieder in die Stadt­

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4 0   N a o H o n e k a m p -Ya m a m o t o

gebiete hineinfließen und die Wohnsiedlung erneut sicher radioaktiv verseuchen werden. Unter den Bewohnern aus dem Sperrgebiet und aus dessen unmittelbarer Umgebung, die ihre langsam verrottenden (immerhin strahlenfreien) Behausungen und die noch heute punktuell sehr hohen Strahlenwerte ihrer Heimat und die Tragweite der Verseuchung beobachten und das Vertrauen in die Obrigkeiten längst verloren haben (zum Beispiel durch den Beschluss, die maximale Toleranzgrenze für Strahlenbelastung für Kinder auf einmal auf zwanzigfache 20mSv höher zu stufen), gibt es immer mehr Menschen, die »nicht mehr zurück wollen, auch wenn sie dürften und könnten«. Auch die Angst vor Stigmatisierung und Rufschäden, verbunden mit dem Namen des betroffenen Heimatortes, trägt dazu bei, dass sie ihre eigene Rückkehr in die Heimat für immer unwahrscheinlicher halten. Mittlerweile gibt es jedoch konkrete Zahlen, innerhalb von wie viel Jahren die Heimkehr (gekoppelt an den Zeitpunkt der Beendigung der Entseuchung in diesem Gebiet) ermöglicht werden soll, was gleichzeitig den Zeitpunkt der Beendigung des Evakuierungserlasses und somit das Ende der Entschädigungszahlung bedeutet. In vielen Gemeinden im Sperrgebiet und dessen Umgebung haben vor allem junge Menschen und Familien mit kleinen Kindern der Heimat längst den Rücken gekehrt und sind in Hoffnung auf eine neue Perspektive in eine andere Stadt gezogen, ohne die Absicht zu haben, wieder in die alte Heimat zurückzukehren. Alte Menschen, die sich mit der eigenen Heimat hoch identifizieren und »die eigenen Knochen in der Heimaterde vergraben lassen wollen«, sowie die arme Schicht, die finanziell nicht imstande ist, aus eigener Kraft umzuziehen, werden zurückkehren. Verlust der Heimat als Verlust von Bindung Der Preis für den bereits eingetretenen Bevölkerungsschwund aus den betroffenen Regionen ist hoch, denn der Verlust der regional überliefer-

ten, über Generationen hinweg gepflegten Traditionen und immateriellen Kulturerben sowie die identitätsspendende Einbettung in das Gemeinschaftsleben, was von der gemeinschaftlichen Feldbestellung, Festivitäten bis hin zur Kindererziehung durch die Gemeinde reichte, geht einher. Verlust der Heimat bedeutet in dem Fall Verlust der (über-)lebenswichtigen Bindung zum regional-gemeinschaftlichen Eingebettetsein in das Leben auf dem Land und Verlust der Bindung zwischen Ort und Menschen (Nokemoto 2014). Diese fehlende Gewissheit über die Rückkehrmöglichkeit in die Heimat und zu ihren Häusern als Lebensgrundlage (somit Sicherheit, Geborgenheit und Heimatgefühl spendende Basis für die Menschen) erzeugte bei den Betroffenen seit vier Jahren eine besondere psychische Spannung zwischen Hoffnung (»möglicherweise können wir doch bald heimkehren«) und der dagegen sprechenden Realität und somit Entillusionierung (»wie soll das gehen, bei den hohen Strahlenwerten geht das doch nicht«) und der Angst vor der Gewissheit. Diese nagt an den mentalen Ressourcen und der Widerstandsfähigkeit der Betroffenen. Menschen, die von einer Notunterkunft zur nächsten umgesiedelt wurden und heute immer noch vorläufig dort wohnen, haben Schwierigkeiten, sich auf die Mitmenschen einzulassen und eine neue Bindung aufzubauen, da sie davon ausgehen, dass diese neue Gemeinschaft nicht von langer Dauer sein könnte. So wächst bei ihnen ein Gefühl der Entwurzelung von der Gemeinschaft, die für sie völlig fremd ist. Dieses Erleben – »das Haus, in dem ich gelebt habe, steht zwar noch, aber ich kann/darf dort nicht leben«, »es ist nicht mehr möglich, durch Umsiedlung, mit meiner Familie, Freunden und Bekannten so wie früher zusammen zu sein und sich zu treffen« – entspricht der Vorstellung eines »uneindeutigen Verlusts« (Boss 2000). Der Verlust von Sicher-mit-der-Heimat-undden-Mitmenschen-verbunden-sein, das Gefühl der Entwurzelung und der inneren Vereinsamung (trotz objektiv vorhandener Kontakte mit

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anderen Betroffenen), setzte sich auf ironische Art und Weise fort, als die Menschen aus den Notunterkünften (endlich!) in von der Kommune neu gebaute Sozialwohnungen umgesiedelt worden sind.3 Diese Wohnungen sind nach dem modernen Baustandard hergerichtet, verfügen über automatische Schließsysteme an der Eingangstür und schirmen die Alltagsgeräusche gut ab. Für die Menschen, die es traditionell nie gewohnt waren, die Haustür abzuschließen, und die in Notunterkünften im Sinne von Lager aus dünnen Metallplatten oder Holzbrettern einige Jahre gelebt haben, bedeutet diese Umsiedlung die Verabschiedung von der nach der Katastrophe neu gewohnten Umgebung und neu aufgebauten menschlichen Verbindung, kurzum von all den neu gewonnenen Quasi-Normalitäten, einst verursacht durch die abnormen Umstände der Katastrophe. Dieser Umzug fiel manchen Bewohnern schwer. Menschen, die sich damals beschwerten, dass sie etwa wegen des Schnarchens des Nachbarn nicht zur Ruhe kamen, haben sich mittlerweile auf diese enge Verbindung zu der Schicksalsgemeinde eingelassen und damit arrangiert. Nun vermissen sie nach dem Umzug sogar das Schnarchen des Nachbarn so sehr, dass sie sich über die neue Behausung beschweren und in die Notunterkunft zurück möchten. Hier haben sie erneut einen Verlust erlitten, nämlich das Gefühl der Sicherheit durch Verebundenheit mit den Gleichgesinnten. Die Statistik der japanischen Telefonseelsorge besagt, dass Anrufer aus dem Katastrophengebiet im Jahr 2011 häufig erzählt haben, dass sie trotz allem die menschliche Zuwendung, Wärme, Zuspruch und Verbundenheit aus der Bevölkerung gespürt haben. Im Jahr 2012 sind diese Angaben deutlich in das Gefühl der Vereinsamung und Isolierung sowie in lebensüberdrüssige Ideen umgeschlagen, was sich auch im Zuwachs der erfolgten Suizide (bezeichnet als »Katastrohen-zusammenhängende Suizide«) in der Präfektur Fukushima niederschlägt4.

Während die Erdbeben- und Tsunami-Opfer bereits ihre verlorene Vergangenheit betrauern, wissen die Strahlenopfer bis jetzt nicht in vollem Ausmaß, was sie unwiederbringlich verloren haben, sie wissen nicht, woran sie sind. Die Realität eines weiteren Verlusts (etwa des Zuhauses durch die endgültige Unmöglichkeit der Rückkehr oder den Verzicht darauf), die einem Trauerprozess vorausgeht, steht möglicherweise noch bevor. Die Angst, von Behörden alleingelassen zu werden, ohne sich eine neue Existenz aufbauen zu können, wird umso größer und realer, je mehr Zeit seit der Katastrophe verstrichen ist. Unverändert bleiben die Unmöglichkeit der Orientierung und die Unsicherheit um die Zukunft, die das Trauern erschweren. Nao Honekamp-Yamamoto ist Diplom­ Psychologin und Psychoanalytikerin. Sie ist außerdem Dozentin an der Ruhr Campus Academy (Universität Duisburg-Essen) für die Weiterbildung zum Trauerbegleiter. Die gebürtige Japanerin lebt seit langem mit ihrer Familie in Deutschland. E-Mail: [email protected] Literatur Boss, P. (2000). Ambiguous loss. Cambridge. Gill, T. et al. (2013). 東日本大震災の人類学. Kyoto, 人文書院. Hida, M. et al. (2013). 複合災害がもたらした 「喪失」 : 浪江町民への面接調査から。 http://www.bunken.org/jssp/conf_archive/paper_download. php?s=2013-A-0370, Abruf 27.02.2015 Nokemoto, M. (2014). 原発事故による 「ふるさとの 喪失」 は償えるのか。http://synodos.jp/fukkou/7019, Abruf 25.01.2015. Anmerkungen 1

»Furusato« = »Heimat« https://www.youtube.com/watch? v=Nnge6VSTLn4 – Zugriff am 18.03.2015. 2 ほぼ日刊イトイ新聞 http://www.1101.com/tohoku_ shigoto/yagisawa3/2015–03–17.html – Zugriff am 17.03.2015. 3 ほぼ日刊イトイ新聞 http://www.1101.com/tohoku_ shigoto/yagisawa3/2015–03–12.html – Zugriff am 12.03.2015. 4 NHK, http://www.nhk.or.jp/heart-net/tv/summary/ 2014–07/08.html – Zugriff am 02.02.2015.

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Arbeitsplatzverlust als Heimatverlust Christoph Werner

Was ist »Heimat«? – Einige Antworten

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Wenn an dieser Stelle Arbeitsplatzverlust als Heimatverlust angesprochen wird, so geschieht das in erster Linie mit dem Ziel, die große Bedeutung der Erwerbsarbeit, und um die soll es hier gehen, für die persönliche Identität herauszustellen. Arbeitsplatzverlust als Heimatverlust zu verstehen macht es leichter, den Verlust in seiner ganzen Breite zu begreifen – nicht nur als Verlust von Erwerbsmöglichkeit, sondern auch als Verlust von Zugehörigkeit, von erlebter und zugeschriebener

Kompetenz und von gesellschaftlicher Anerkennung. Stellen wir uns anderen Menschen gegenüber dar oder vor, so fehlt selten ein Hinweis auf die berufliche Situation; sie gibt einen Hinweis auf unsere soziale Stellung und zeigt auch an, worüber man sich mit uns fachkundig unterhalten kann. Viele arbeitende Menschen verbringen mehr Zeit mit ihren Kolleginnen am Arbeitsplatz als mit der Familie, Freunden und Bekannten – hier passt das Goethe-Wort aus Wilhelm Meisters Wanderjahre: »Sage mir, mit wem du umgehst, so sage ich dir, wer du bist; weiß ich, womit du dich

Leidfaden, Heft 3 / 2016, S. 42–46, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

A r b e i t s p l a t z v e r l u s t a l s H e i m a t v e r l u s t    4 3

beschäftigst, so weiß ich, was aus dir werden kann.« Und in der sogenannten Life-Event-Forschung, die die Auswirkung von bedeutsamen Lebensereignissen auf die weitere persönliche Entwicklung untersucht, etwa auf die Anfälligkeit für die Erkrankung an Depressionen, nimmt der Arbeitsplatzverlust wie der Heimatverlust als ein solches Ereignis eine wichtige Stelle ein. Nun befindet sich die Arbeitswelt wie auch die Verwendung des Begriffs der Heimat im Wandel: »Heimat, die: Land, Landesteil oder Ort, in dem man [geboren und] aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt (oft als gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend)« – so definiert der Online-Duden die erste Bedeutung des Heimatbegriffs. Auf einen um die Betonung der menschlichen Beziehungen erweiterten Heimatbegriff stoßen wir schon bei Goethe in den Gesprächen mit Eckermann: »Alle diese vortrefflichen Menschen, zu denen Sie nun ein angenehmes Verhältnis haben, das ist es, was ich eine Heimat nenne.« Dieser Aspekt taucht auch häufig in einer Umfrage auf, bei der Spiegel-Online seine Leser nach ihrem Begriff von Heimat befragte; hier nur ein Beispiel: Heimat »ist der Ort, an dem man sich nicht verstellen und verstecken muss, sich geborgen und geliebt fühlt«. Eine noch dynamischere Sicht des Begriffs »Heimat« finden wir bei Friedrich Schiller: »Der

wackre Mann findet überall seine Heimat.« Dem entspricht auf einer deutlich materielleren Ebene das Graffito »Heimat ist, wo meine Zahnbürste ist.« Und gegenwärtig – im Zeitalter der Beschleunigung und Globalisierung – wird das Wort »Heimat« nicht selten im Plural verwendet, so dass auch mehrere »Heimaten« quasi gleichzeitig möglich sind. Es antworteten zum Beispiel auf die im Rahmen eines Internationalen UNESCO-Projekttages gestellte Frage »Wenn Du in ein anderes Land umziehst: Hast Du dann zwei Heimaten?« 65 Prozent der befragten 1649 Schüler mit Ja. Charakteristika der heutigen Arbeitswelt Verstehe ich Heimat als die von mir überschaubare Umgebung mit den dazugehörigen Menschen und ihrer Art, miteinander (auch ritualisiert) umzugehen, in die ich handelnd und emotional in einer bestimmten Position eingebunden bin, so ist klar, dass der Arbeitsplatz mit allem, was dazugehört, auch Heimat darstellt. In diesem Sinne ist also Arbeitsplatzverlust auch Heimatverlust – durch beides werden wichtige (Ein-)Bindungen aufgelöst. Nun sind diese Bindungen in Zeiten zunehmender Beschleunigung und Deregulierung des Arbeitsmarktes nicht immer sicher und eindeutig. Es kommen vielmehr zwei Charakteristika der heutigen Arbeitswelt ins Spiel, die das Er-

Auch die persönlichen Arbeits­beziehungen werden konflikt- und intrigenreicher, das Gefühl der Eingebundenheit und Zugehörigkeit wird schwächer. Hier bietet Arbeit kaum Heimat mehr.

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leben und die Verarbeitung des Verlustes der Arbeitsheimat zunehmend mitbestimmen. Das erste ist die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes: Arbeitsverhältnisse bestehen heute kürzer als früher, und auch innerhalb der Betriebe ändern sich Einsatzorte, Teamzugehörigkeiten und Spielregeln schneller als früher – und dieser Trend wird sich voraussichtlich eher verstärken. Außerdem steigt die Anzahl prekärer, also unsicherer und schlecht entlohnter Beschäftigungen an. Im Einklang damit steht, dass das Gallup-Institut für 2013 bei etwa jedem sechsten Beschäftigten die innere Kündigung und für 84 Prozent der Beschäftigten nur eine geringe oder keine emotionale Bindung an den Arbeitsplatz feststellen konnte. So haben wir es in der heutigen Arbeitswelt mit einer immer größer werdenden Zahl problematischer Heimatbeziehungen zu tun. Dass die Erwerbsarbeit für den überwiegenden Teil der Bevölkerung den sozialen Status und die Existenz sichern soll, also lebensnotwendig ist, zugleich aber wenig innere Bindung daran besteht, da diese Aufgabe immer weniger erfüllt wird, ist ein Nährboden für ambivalente Haltungen und dissonante Gefühle gegenüber der Arbeit. Dies wiederum erschwert bei Arbeitsplatzverlust den Verarbeitungsprozess. Natürlich gilt all das nicht für jedes Arbeitsverhältnis, aber für viele. Ein zweites Charakteristikum der heutigen Arbeitswelt ist die Arbeitsverdichtung. Die von den Mitarbeitern geforderte Arbeitsleistung nimmt zu und damit bei begrenzter Zahl von Arbeitsplätzen auch die Konkurrenz unter den Mitarbeitern. Dies wiederum führt zu vermehrten Gefühlen der Überforderung und vermindertem Erleben von Kompetenz und es führt auch zu Kränkungs-, im Extrem sogar zu Verbitterungsgefühlen, da auch bei guten Leistungen und hohem persönlichem Engagement eine Kollegin die angestrebte Stelle bekommt, auch wenn sie nur geringfügig mehr leistet. So führt nicht nur die größere Unsicherheit von Arbeitsverhältnissen, die Bedrohung von Arbeitsheimatvertreibung, zu ambivalenten Haltungen und dissonanten Ge-

fühlen gegenüber der Arbeitssituation, auch die persönlichen Arbeitsbeziehungen werden konflikt- und intrigenreicher, das Gefühl der Eingebundenheit und Zugehörigkeit wird schwächer. Hier bietet Arbeit kaum Heimat mehr – zumindest nicht nach der Definition von Karl Jaspers: »Heimat ist da, wo ich verstehe und wo ich verstanden werde.« Verlust der Arbeitsheimat Halten wir also fest: Arbeit kann eine Heimat bieten im Sinne von Zugehörigkeit, Anerkennung, (materieller) Sicherheit und dem Erleben von Kompetenz – allesamt Voraussetzungen für ein als gelungen erlebtes Leben –, sie muss dies aber nicht und sie tut es immer weniger. Viele Menschen haben ihre Arbeitsheimat verloren, auch ohne ihren Arbeitsplatz verloren zu haben. Manche haben dies allerdings gar nicht deutlich bemerkt und empfinden eher eine diffuse Unzufriedenheit mit ihrer Arbeitssituation. Sie haben zum einen den Wunsch, ihr Bestes zu geben, strengen sich an bis zur Überforderung, um Kompetenz zu erleben und auch kompetent zu erscheinen, und erleben auf der anderen Seite Kränkungen, Verbitterung und Wut, weil ihre Leistung nie genug ist und selbst Höchstleistungen den Arbeitsplatz nicht sicherer machen würden. Was heißt dies nun für die Begleitung von Menschen, die einen Arbeitsplatzverlust zu verarbeiten haben? Natürlich muss die Begleitung eines Arbeitsplatzverlustes immer individuell ausgestaltet werden. Zu viele persönliche und situative Faktoren bestimmen dessen Verarbeitung. Auf der Persönlichkeitsseite spielen etwa die psychische Gesundheit und Belastbarkeit, das Selbstkonzept, eigene Bewältigungsstrategien, die soziale Kompetenz und die Identifikation mit der Arbeit eine Rolle. Auf der situativen Seite ist zum Beispiel wichtig: Ist der Arbeitsplatzverlust unfreiwillig, freiwillig oder gar gewollt? Geschieht er plötzlich oder war er vorauszusehen? Ist er vorübergehend oder wird er von Dauer sein? Gingen dem V ­ erlust

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© Lukas Radbruch

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l­ange und quälende Auseinandersetzungen voraus? Geschieht er in Ehren oder wird man verjagt? Ist er mit einem hohen gesellschaftlichen Ansehensverlust verbunden? Hat er deutliche materielle Folgen? Hinweise für die Begleitung von Menschen mit einem Arbeitsplatzverlust Es lassen sich aber trotz dieser jeweiligen Besonderheiten mit Blick auf das oben Gesagte hier zum Schluss einige allgemein gehaltene Hinweise geben, die bei der Begleitung von Arbeitsplatzverlust nützlich sein können: • Wie beim Verlust nahestehender Menschen ist auch beim Verlust des Arbeitsplatzes damit zu rechnen, dass dieser von mehr oder weniger diffusen, ambivalenten Gefühlen, nicht zuletzt Schuldgefühlen, begleitet wird. Nach dem Abklingen einer ersten Schockreaktion können diese Gefühle zum Thema gemacht werden – häufig stehen sie im Zusammenhang mit erlebter Kränkung und erlebtem Versagen (vergleiche dazu Wardetzki 2012). Und nicht selten findet man dabei hinter Gefühlen der Empörung das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit und die Scham darüber und hinter Gefühlen der Machtlosigkeit und Depression die Wut. • Bei der Begleitung von Trauer und Verlust können viele Therapie-/Beratungstechniken eingesetzt werden (vergleiche dazu Langen­mayr 2013). Da Erwerbsarbeit ein hohes Kränkungspotenzial hat und ein Verlust auch im Sinne von Verbitterung verarbeitet wird, soll hier, nur sehr kurz und als Anregung gedacht, auf die sogenannte Weisheitstherapie der Posttraumatischen Verbitterungsstörung hingewiesen werden (vergleiche dazu Baumann und Linden 2008). Durch sie soll Weisheit, die Fähigkeit zum Umgang mit komplexen und nicht eindeutig zu lösenden Lebenssituationen, geför-

dert werden. Dies geschieht unter anderem durch die Anleitung zum Perspektivwechsel und die zeitliche Relativierung des Verlusterlebnisses – Vorgehensweisen, die auch bei der Begleitung von Arbeitsplatzverlust sinnvoll angewandt werden können. • Erschwert wird die Begleitung von Menschen, die den Arbeitsplatz verloren haben, nicht selten auch dadurch, dass nach dem Arbeitsplatzverlust – aus finanziellen oder sozialrechtlichen Gründen – möglichst schnell ein neuer Arbeitsplatz gesucht werden muss. Dies führt dann dazu, dass eine Neuorientierung schon Thema werden muss, bevor die mit dem Arbeitsplatzverlust zusammenhängenden Gefühle einigermaßen geklärt und verarbeitet sind. Der Begleiter sollte dies in der Regel ganz klar ansprechen, verarbeitende und neuorientierende Gesprächsanteile als solche benennen und die Rückwirkung beider Gesprächsaspekte aufeinander zum Thema machen, um seinem Gegenüber die Orientierung zu erleichtern. Dr. Christoph Werner, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, ist Fachberater beim Integrationsfachdienst Essen. E-Mail: [email protected]

Literatur Baumann, K.; Linden, M. (2008). Weisheitskompetenzen und Weisheitstherapie. Die Bewältigung von Lebensbelastungen und Anpassungsstörungen. Lengerich. Eckermann, J. P. (1836–1848). Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Leipzig. Goethe, J. W. von (1821/1829). Wilhelm Meisters Wanderjahre. Langenmayr, A. (2013). Einführung in die Trauerbegleitung. Göttingen. Schiller, F. von (1857). Demetrus. (Dramafragment). Wardetzki, B. (2012). Kränkung am Arbeitsplatz. Strategien gegen Missachtung, Gerede und Mobbing. München.

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Zwischen Herkunft und Heimat – zwischen Verlassen und Verlust Einordnung eines Gefühls nach Ende der DDR

Hansi-Christiane Merkel

Mühsamer Auftakt Hätte ich doch nicht dieser Anfrage zugestimmt, über Heimatverlust mit Ende der DDR zu schreiben! Wie konnte ich nur! Musste ich doch ahnen, dass es mich in die zwiespältigsten Gefühle und nicht enden wollendes Nach-Denken stürzen wird. Schon allein die Erwähnung »DDR«, die deutsche Demokratische Republik, ruft bei mir und vielen Menschen, mögen sie in dieser Zeit und/ oder in diesem Land gelebt haben oder nicht, ein Gefühlsgeschwader, gegensätzliche Ereiferungen und endlose Diskussionen hervor. Ich hätte wissen müssen, dass es ein Unterfangen wird, das wegen seiner tiefen seelischen Verankerung, überlagert mit den individuellen Erfahrungen und persönlichen bis politischen Bewertungen, das Anfangen so schwer macht. Wahnsinn »Wahnsinn« hört man Menschen sagen, wenn sich das, was sie emotional und unmittelbar nicht fassen können, einen Ausdruck sucht. In diesem Zustand bewege ich mich beim Schreiben dieses Artikels, denn das Gewirr aus Gefühlen, Reflexionen und Erinnerungen erscheint mir als eine Wiederkehr der damaligen komplexen persönlichen Situation ab 1989 – und jetzt wieder als eine »Wahnsinnsaufgabe«. Anhaltspunkt für meinen Anfang fand ich in »Stadt der Engel« von Christa Wolf, die am 9. November 1989 schrieb:

»Danach gingen wir zu unserer Tochter. Unser Schwiegersohn empfing uns an der Wohnungs­ tür: Habt ihr schon gehört? Die Mauer ist offen. – (…) Ich hätte meinem Schwiegersohn um den Hals fallen müssen und schreien: Wahnsinn! Ich hätte in Freudentränen aus­ brechen müssen« (Wolf 2010, S. 75). Weiter geht Christa Wolf in der Erinnerung: »IMMER DIESE ZWIESPÄLTIGEN GEFÜHLE Zwiespältig? dachte ich (…) Was habe ich da wirklich gefühlt? Freude? Triumph? Erleichterung? Nein. Etwas wie Schrecken. Etwas wie Scham. Etwas wie Bedrückung. Und Resignation. Es war vorbei. Ich hatte verstanden« (S. 75). Hier deutet sich an, was unter den Begriffen »aberkannte Trauer« oder »sozial nicht anerkannte Trauer« zu beschreiben wäre. Ich möchte in diesem Zusammenhang den Begriff der »politisch aberkannten Trauer« hinzufügen. Wie Brinkmann und Paul ausführen, werden bestimmte Verluste »geringgeschätzt oder gar nicht als solche definiert« (2015, S. 11). Auch Christa Wolf hat, so meine ich, erst mit zeitlichem Abstand zum Geschehen von 1989 sich der Komplexität ihrer Gefühle bewusst werden können und den Schmerz als Verlust und ihren Prozess als Trauer beschreiben können. In ihrem Buch »Stadt der Engel« deutet sie – in einen Traum, also ins Unbewusste verlagert – an, welche Schmerzen ihr der/ein Heimatverlust

Leidfaden, Heft 3 / 2016, S. 47–53, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2192–1202

Dessau, Bahnhofshalle, 1990 akg-images / C. Schlegelmilch

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Neben dem Verlassen des Alten und dem Verlust des Vertrauten und der manchmal aufschimmernden Frage, was es gelte, bewahrt zu werden, dominierte das Thema: Aufbruch in ein neues, anderes, »wertvolleres« Leben.

(DDR) bereitet. Und sie verweist zusätzlich auf eine Empfänglichkeit für diese Schmerzen, die sie in sich trägt und als »falsche Empfindungen« bezeichnet. »Jedenfalls dauert es Jahre, Jahrzehnte, ehe eine ehemals falsche Empfindung nur noch falsch und keine Empfindung mehr ist« (2010, S. 159). Meine Deutung ist, dass sie, geboren 1929, schon sehr zeitig in ihrem Leben, im Alter von

15 Jahren, 1945, einen ersten Heimatverlust erlitt. (Christa Wolf stammt aus Landsberg an der Warthe/Neumark im heutigen Polen.) Diesen Verlust hat sie aktiv und aus ideologischen Gründen in der DDR verdrängt. Ihre dominante Mutter hatte jedoch Zeit ihres Lebens am Heimatverlust schwer zu tragen und hat diesen ihrer Tochter unbewusst vermittelt.1

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Verlust der Heimat DDR »Es ist eine Ursehnsucht im Menschen, sich einmal gemütlich niederzulassen und sich für immer einzurichten, einmal geborgen und daheim zu sein. Wo es dem Menschen gefällt, dort möchte er seine Zelte aufschlagen und immer dort bleiben« (Grün 2000, S. 25). Das Ende der DDR traf auch mich als eine Zwiegespaltene. Die DDR war meine Heimat und Herkunft, die ich in den Wirren und im Freudentaumel der friedlichen Revolution hinter mir ließ, abwertete und gleichzeitig »verloren« hatte. Allerdings nahm ich den Verlust nicht wahr. »Aber zugleich weiß er auch, dass er sich hier in dieser Welt nicht für immer ­einrichten kann. Er muss sich ständig von neuem auf den Weg machen. Er muss immer wieder aufbrechen (…) Aufbruch setzt einen Abbruch voraus« (Grün 2014, S. 25). Nichts war mehr wie früher. Nichts verlief mehr in den vertrauten Abläufen. Als wären jegliche Vorzeichen umgekehrt worden, begann sich das Leben nun radikal zu verändern. Damit war ich und waren alle DDR-Bürger/-innen beschäftigt – freudig, erwartungsfroh, angespannt und immer auch existenziell betroffen. Und ich wollte/sollte/musste aus dieser DDR heraus! Es war ein persönlicher wie gesellschaftlicher Imperativ. Einen Konjunktiv gab es nicht. Es war einerseits aktives Verlassen und andererseits Vertreibung; einerseits alternativloser und eröffneter Weg, andererseits Beerdigung. Vertreibung und Beerdigung hatten keine Gefühlsentsprechung. Neben dem Verlassen des Alten und dem Verlust des Vertrauten und der manchmal aufschimmernden Frage, was es gelte, bewahrt zu werden, dominierte das Thema: Aufbruch in ein neues, anderes, »wertvolleres« Leben. Und so hatte ich es mit zwei existenziellen, seelisch diametralen Themen zu tun. Dem Kommen-

den sah ich mit Erwartung entgegen: sich verändernd einbringen dürfen, nichts mehr hinter dem Berg halten müssen, Veränderungen bewirken können, reisen dürfen, Vorstellungen entwickeln und umsetzen können, Entwicklung, persönlich wie auch gesellschaftlich, spüren können … Es ist nur eine schmale Palette der Beschreibung der Ermöglichungen, die ich fühlen und ahnen konnte. Dem Vergangenen trauerte ich durchaus nach, ohne es so benennen zu können. Schon 1992, zur Feier meines 40. Geburtstages, sangen wir Lieder aus dem Repertoire der DDR-Zeit, Pionierlieder, sogenannte Kampflieder, Heimatlieder, russische Lieder … Wir sangen sie in einer Mischung aus Wohlgefühl ob der vertrauten und schönen Melodien und in sarkastischen Anwandlungen ob der Texte. Diese Texte waren gefühlvoll und deshalb auch gefühlsverwirrend. Wir nahmen uns die Maske des Lachens zur Hilfe: Wir hatten so etwas gesungen, ja, und – wie konnten wir nur! Es war uns im Nachhinein peinlich, aber zu diesem Zeitpunkt waren die Lieder, gleichzeitig anrührend und lächerlich, irgendwie auch zu uns gehörend. Oft kam das Wort »Heimat« darin vor, die »alten Lieder« und die alten Ideale, die sich auch jetzt in der Zeit nach der Wende nicht erfüllten. »Die Heimat hat sich schön gemacht und Tau blitzt ihr im Haar« oder »Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald. Unsere Heimat ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld, und die Vögel in der Luft und die Tiere der Erde und die Fische im Fluss sind die Heimat. Und wir lieben die Heimat, die schöne«. Oder die Nationalhymne der DDR: »Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, lass uns Dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland (…) denn es wird uns doch gelingen, dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint« oder

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»Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ und die alten Lieder singen« oder »Spaniens Himmel breitet seine Sterne, über unsern Schützengräben aus (…) Die Heimat ist weit, doch wir sind bereit zu kämpfen und siegen für dich, Freiheit!« oder »Morgens ziehen die Kolonnen in das Moor zur Arbeit hin, graben bei dem Brand der Sonne, doch zur Heimat steht der Sinn« und vieles mehr. Das alles kam unbewusst und unreflektiert. Vielleicht war da das Gefühl, das Gewesene verloren zu haben. Wer würde jemals diese Lieder wieder singen! Heimat ist ein Gefühl – Herkunft hat man »Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl«, singt Herbert Grönemeyer im Liedtitel »Heimat«. Herkunft wiederum ist ein Ort, eine Gegend, eine Familie, eine Gesellschaft – alles zugleich oder Anteile davon. Heimat ist ein wohles Gefühl, das sich jedoch in Sehnsucht, Heimweh, Melancholie, Traurigkeit verwandeln kann. Nicht, dass ich gewusst hätte, was in mir vorging. Es lässt sich aus der heutigen Perspektive allenfalls rekonstruieren. Christa Wolf konnte es 2010 so beschreiben: »Die Euphorie der Übergangszeit. Ich wollte die Menschen hier nicht enttäuschen, die erwarteten, dass im vereinten Deutschland jedermann glücklich sein müsse. Nein, von Enttäuschungen stand nichts in ihren Zeitungen. Nichts von Verlusten. Es wäre mir kleinlich vorgekommen, hier davon zu sprechen« (S. 129). Von Verlusten wurde nicht geredet. Niemand hätte es damals akzeptiert und verstehen können. Und trotzdem. Die DDR wurde zu einer Art verlorener Heimat. Ganz sicher war das nicht bei allen Menschen so. Ich vermute, dass viele die DDR verließen, wie Heranwachsende ihre Herkunfts­

familie verlassen. Man hat sie gehabt und sie hatte Entwicklungsbedingungen geboten – oder auch nicht. Jetzt ist der/die Heranwachsende so weit, die Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen. So auch ich. Ich bemühte mich um ein weiteres Studium und engagierte mich politisch. Die siebenköpfige Familie wollte versorgt sein. Heimatverlust der Mutter Was hatte es aber auf sich mit dem schwelenden Gefühl, das mich rastlos machte und mich depressiv stimmte? War es das der Heimatlosigkeit? Erst um 2005 begann der Prozess der Erkenntnis: Es musste etwas mit meiner Mutter (Hildegard Franck, geboren 1918, gestorben 1984) zu tun haben. Im Urlaub 2007 im ehemaligen Ostpreußen erfasste mich die Ahnung ihres Verlustes von Heimat. Am 23. Januar 1945 musste sie Breslau verlassen und lebte vor ihrem Tod dreißig Jahre im Erzgebirge/Sachsen. Ein Bild, das in der elterlichen Wohnung hing, repräsentiert für mich die damalige innere Situation meiner Mutter. Das »Reh im Klostergarten« (Franz Marc, 1912) ist ein Abbild ihrer Einsamkeit. Noch lange blieben mir diese »Verschlusssache« und ihre Zusammenhänge im Verborgenen, bis sie sich in mein Bewusstsein bahnten und schließlich 2013 in dem Essay »Wo ist Heimat?« mündeten (Merkel 2013). Heimatverlust 1945 »Nur vierhundert Kilometer hinter ihnen lag diese unerreichbare Welt, die immer mehr einen seltsamen Zauber anzunehmen schien, einen Zauber, der jede Erinnerung infizierte und in Schmerz verwandelte, einen Zauber, der sich nicht ernüchtern ließ, jedenfalls nicht auf die Art, wie die Alltagswelt sich ernüchtern ließ, einfach dadurch, dass man sie durchlebte. Jeder Blick zurück in diese vormalige Welt aus Bildern und Lauten, aus Düften und Licht, aus Wind und Stille

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Franz Marc, Reh im Klostergarten, 1912, Bernhard Koehler-Stiftung, 1965 / akg-images

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geschah unter Schmerzen. Wenn Leben Erinnern und Weitergehen ist, dann würde Erinnern in Zukunft immer mit diesen Schmerzen verbunden sein« (Wosniak 2013, S. 99). Auch meine Mutter könnte eine solche Sehnsucht nach Breslau und Schlesien gehabt haben. Sie kapselte diese Erinnerung an ihre Heimat jedoch ab. Das diente ihr zum Schutz und war notwendig, damit sie in der Nachkriegskrisenzeit handlungsfähig blieb. Dass sie später, im DDRSystem, unbehelligt leben konnte, dazu galt es,

­ rinnerung und Trauer zu unterdrücken und sich E anzupassen, vor allem der Kinder und des Ehemanns wegen. Anpassen hieß wiederum, die verlorene Heimat nie wieder zu erwähnen, geschweige denn offen betrauern zu dürfen. »Jeder schweigt von etwas anderem«2 Uns Kinder, und mich bewusst 2005, ereilte der »Traumaschatten« (Süss 2015) unserer Mutter. Hinzu kam die Tabuisierung der Themen Flucht, Vertreibung und der verlorenen Heimat Schlesien, das die DDR-Ideologie vorgab. Man sprach nicht

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darüber. Auch meine Mutter erwähnte ihre schlesische Heimat sehr selten. Wir fragten auch nicht. Ich bemerkte es an meiner plötzlich starken Hinwendung zu den ehemaligen deutschen Landstrichen in Polen und an meinen diffusen Gefühlen zwischen Angeregtheit und Wehmut. Das nonverbal Vermittelte durch meine Mutter brach sich allmählich Bahn. Ich konnte erfassen, dass die Trauer meiner Mutter, deren Nennung und Heilung nicht möglich waren, in mir fortbestand. Natürlich bin ich nicht die einzige, die solches spürte. Die »Heimwehtouristen« sind unter anderem ein Begriff für die Betroffenen und Nachfahren derer, denen die Trauer politisch aberkannt wurde und die nun oder anstelle ihrer Vorfahren die verlorene Heimat bereisen. Hochgerechnet fielen etwa 14 Millionen Deutsche zwischen 1944 und 1950 der Flucht und Vertreibung zum Opfer. Die sowjetische Besatzungszone und zukünftige DDR integrierte davon ca. vier Millionen, was einen Bevölkerungsanteil von 25 Prozent (in den westlichen Besatzungszonen 16 Prozent) ausmachte (Hofmann 2015). Ich kann also davon ausgehen, dass 1989 etwa ein Viertel aller DDR-Bürger/-innen familiengeschichtliche Erfahrungen hatte mit nicht anerkannter und politisch sanktionierter Trauer. Etwa 16,5 Millionen Einwohner hatte die DDR am Ende ihrer Existenz.

Dass damit vermeintlich, aber sehr wirkungsvoll, auch das einzelne Leben in diesen Zeiten entwertet und in Frage gestellt wird, wiegt nun persönlich schwer. Es greift den Selbstwert an. Alles wird nur noch an dem Maß des Widerstandes gegen das System oder an dessen Teilhabe gemessen. Stasispitzel, Parteizugehörigkeit, Mitgliedschaften oder Engagements sind einige Kategorien aus DDR-Zeiten dafür. Hinzu kommt für mich als Tochter der nur verborgen trauernden Mutter der innerlich bereitete Boden für das »zwiespältige Gefühl«, wie Christa Wolf es benennt. Die Geschichte eines Fotos meiner Mutter Das Foto mit meiner Mutter auf der Bank ist für mich nicht nur deswegen voller Trauer, weil der Friedhof in Steinheidel-Erlabrunn, auf dem sie jetzt begraben liegt, sich direkt hinter ihr befindet. Es erscheint mir wie ein Abschiedsbild, in dem sie

Heimatverlust 1989 Die innere Parallelität der Zeit nach 1945 und 1989 wird offenbar. Mutter (1945: 25 Jahre alt) wie Tochter (1989: 37 Jahre alt) verließen Systeme, denen man nichts Gutes nachsagen konnte. Beide kamen an in einer Gesellschaft, die das hinter ihnen Liegende nicht mit dem Wohlgefühl einer Heimat, allenfalls als eine Art Herkunftsland behandelte. Stärker noch: Die politischen Systeme wurden und werden verurteilt und ihre Menschenfeindlichkeit entlarvt. Differenziert wird nur wenig.

Mutter am Friedhof in Erlabrunn Foto: Gerhard Franck, ca. 1960

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sich noch einmal ihrer Sehnsucht zuwendet und – ungestillt – hinausgeht in das Reich der Toten. Es mag für sie emotional gänzlich anders gewesen sein, aber wie kommt es, dass ich es so fühle? Was hat es mit meinem Leben zu tun? Nichts, muss ich mir sagen; wirklich nichts! Ich habe mein Leben, meine Kinder und meine Beziehungen. Alles hat sich verwirklicht, was ich wollte, und ich kann mir weiterhin vieles verwirklichen. Das nehme ich nun an und nehme den Schmerz meiner Mutter nicht weiter auf mich. Sie ruht in Frieden. Mir hat es lediglich noch an dieser Gewissheit gefehlt. Jetzt wird es eine Bank in meinem Wohnort geben mit einer Inschrift für meine Mutter.

werde. Nur weiß ich sie jetzt einzuordnen als ein Erbe, mit dem ich mich aktiv befassen und von dem ich mich bewusst abgrenzen kann. Meinen Gefühlen um die DDR-Heimat wird es ähnlich ergehen. Ausgestattet mit der inneren Bereitschaft für die Trauer um Heimat weiß ich, was es zu tun gilt: Ich kann mein Erinnern anerkennen und formulieren. Es ist mein Leben gewesen, das in DDR-Zeiten mit allen nur denkbaren guten und schlechten Gefühlen verbunden war. Deswegen war es kein schlechtes oder gar unrechtes Leben. Es war mein einziges und einmaliges Leben. Dr.-Ing. Hansi-Christiane Merkel, geboren 1952 in Chemnitz, viertes von sechs Kindern des Ehepaars Dr. Hildegard und Dr. Gerhard Franck, aufgewachsen in Erlabrunn/Erzgebirge, Mutter von fünf Kindern. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin, Supervisorin und Leiterin der Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle des Bistums Dresden-Meißen in Dresden. E-Mail: [email protected] Literatur

Diese Zeichnung davon entstand vor zwei Jahren. Sie beschreibt, dass ich mich jetzt gegenüber auf diese Bank setzen kann und wie sie ins Tal schaue – mit einem großen Unterschied: Ich schaue nicht sehnsüchtig in die Ferne, sondern auf den Ort, in dem ich wohne. Ich habe ein anderes Leben und dass ich das haben kann und konnte, verdanke ich zutiefst meiner Mutter. Sie vor allem hat mich auf den Weg gebracht und gewusst, dass ich und alle ihre Kinder ihren eigenen Weg brauchen, um nicht verbittert zu enden wie sie. Es hat mich viel Kraft gekostet, das zu erkennen und zu verstehen und die Wehmut und Bitterkeit meiner Mutter nicht als meine Gefühle weiterzuleben. Es sind nun die »falschen Empfindungen«, wie Christa Wolf sie ortete. Ich trage sie in mir und weiß, dass ich sie nie ganz ablegen

Brinkmann, T. M.; Paul, C. (2015). Gesellschaftliche Systeme und ihre Trauernormen am Beispiel der aberkannten Trauer. In: Leidfaden, 3, S. 8–17. Grün, A. (2014). 50 Engel für das Jahr. Ein Inspirationsbuch. Freiburg u. a. Hofmann, G. (2015). Flucht und Vertreibung vor 70 Jahren. Wir erinnern uns – Zeitzeugen berichten. Dresden. Merkel, H.-C. (2013). Wo ist Heimat? In U. Riedel-Pfäfflin, A. Siegert, H. Novy (Hrsg.), Ich schreibe mein Leben. Kriegsfolgen im Frieden. Münster. Süss, J. (2015). Die zerbrochenen Fundamente als Last auf der Seele. Zum Nachhall von Krieg, Flucht und Vertreibung. In: Drescher, A.; Rüchel, U., Schöne, J. (Hrsg.), Bis ins vierte Glied. Transgenerationale Traumaweitergabe. Schwerin. Wolf, C. (2010). Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Berlin. Wosniak, R. (2013). Felonie. Halle. Anmerkungen 1 2

Interview Gerhard Wolf im Spiegel Nr. 18 vom 28.4.2014. Dokumentarfilm von Marc Bauder und Dörte Franke.

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Wann ist die Seele zu Hause? Sind Heimweh und Heimatgefühle noch zeitgemäß?

Haci-Halil Uslucan Der Heimweh-Begriff Der romantische Dichter Novalis, mit dem bürgerlichen Namen Georg Philipp Friedrich von Hardenberg (1772–1801), sah das eigentliche Movens der Philosophie im »Heimweh«, und zwar im »Trieb, überall zu Hause zu sein«. Wir können auch sagen im Bemühen, sich ein Haus, ein Heim auf Erden zu errichten oder dieses zu finden und es sich darin gemütlich machen. Unbehaust, unvertraut, unbeheimatet auf Erden zu sein, die quasi transzendentale Obdachlosigkeit, scheint auch eine Grunderfahrung des türkischen Sufisten Yunus Emre aus dem 13. Jahrhundert gewesen zu sein: »Ben gurbetde değilim, gurbet benim içimdedir« – »Nicht ich bin in der Fremde, sondern die Fremde ist in mir.« Wenn wir heute angesichts einer unaufhaltbaren Globalisierung und Mobilität, in der die Welt buchstäblich zum Dorf geworden ist, noch von Heimweh sprechen, wirkt das mehr als antiquiert. Heute billigen wir allenfalls Grundschulkindern bei einem Schullandaufenthalt zu, Heimweh haben zu dürfen und zurück zur Mutti zu wollen, manchmal auch in den Metropolen etwas tumb und unbeholfen wirkenden Dörflern, denen die Urbanität zu viel abverlangt. Der reife, erwachsene Mensch muss im modernen Erwerbsleben mobil sein, sich jede Umwelt aneignen und diese als die seine nennen können. Sind wir aber tatsächlich überall zu Hause? Welche Rolle spielen heute noch, in psychologischen Termini gesprochen, Ortsbindungen und Territorialität für unsere Identität und unser Wohlbefinden? Trotz der Tatsache, dass es gegenwärtig rund 230 Millionen Migranten auf der Erde gibt, dürfen wir nicht vergessen: Sesshaftigkeit bildet nach wie vor das zentrale Muster der Ortsbindung; der größte Teil der Menschheit versucht »beharrlich«, das Leben am Ort der Geburt oder zumindest in dessen relativer Nähe zu

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Im Gefühl des Heimwehs liegen eine Entwertung der gelebten Wirklichkeit und eine imaginierte Aufwertung der Vergangenheit vor.

verbringen. Im Verhältnis zur Weltbevölkerung von etwa 7 Milliarden Menschen stellen Migranten nur einen Bruchteil dar, weniger als 4 Prozent. Blicken wir auf Deutschland, sind die Verhältnisse nicht mehr ganz so asymmetrisch; hier beträgt die Rate der Personen mit Migrationshintergrund rund 20 Prozent, also etwas mehr als 16 Millionen. Die größte nationenspezifische Gruppe stellen dabei – mit knapp 3 Millionen – Menschen, deren Wurzeln mit der Türkei verbunden sind. Warum eine Fokussierung auf diese Gruppe? Erfahrungen von Leid, Trauer und Schmerz von Zuwanderern erfahren in der gesundheitspsychologischen Forschung oft eine stiefmütterliche Behandlung, obwohl ihre Zahl, wie aufgezeigt, keine vernachlässigbare Größe mehr ist. Langfristig wird sie vermutlich eher zu- als abnehmen; denn

die Bundesrepublik ist, entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis, faktisch ein Einwanderungsland geworden. Was bedeutet Heimweh und warum Heimweh der Türkeistämmigen? Als Begriff taucht Heimweh zunächst im 17. Jahrhundert in der Schweiz auf und bezeichnete Reaktionsformen schweizerischer Soldaten, die in fremden Diensten waren. Die erste Veröffentlichung hierzu stammt von dem Basler Arzt Johannes Hofer, der in seiner Dissertation von 1688 den Begriff »Heim­ wehe« mit der Nostalgie verknüpft (Frigessi ­Castelnuovo und Risso 1986). Zwar gibt es – als klinisches Bild – keine direkten Heimwehsymptome, jedoch sind Heimweherfahrungen innerhalb von Motivations- und Stimmungsveränderungen zu erklären. Es bestehen hohe Korrelationen des Heimwehs mit

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Wa n n i s t d i e S e e l e z u H a u s e ?    5 7

Angst, Depressionen, somatischen Symptomen, vergangenheitsorientiertem Grübeln und kognitivem Versagen (Fisher 1991). Die Aspekte, die an das Heimweh geknüpft sind, berühren eine breite Palette psychologischer Themen wie etwa Leid, Trennung, Verlust, Bindung und Geborgenheit. Wenngleich die Forschung zum Heimweh in Deutschland kaum ausgeprägt ist, so gibt es Konzeptualisierungsversuche verschiedener psychologischer Ansätze, die hier kurz gestreift werden. Heimweh lässt sich definitorisch zunächst verstehen als eine Sehnsucht nach zu Hause, eine Sehnsucht nach vertrauten Orten und Menschen. Somit ist Heimweh auch immer ein Ausdruck von Kontrollverlust; denn die neue Umgebung muss erst einmal angeeignet, in bekannte Muster assimiliert werden, was eine beträchtliche Menge an Stress verursacht. Ein intensives Heimweh kann aber auch eine Form des Eskapismus, eine Flucht aus den Anforderungen des Alltags sein und individuell als eine Form des emotionalen Copings betrachtet werden. So lässt sich lernpsychologisch Heimweh aus der Diskrepanz ermitteln, mit der sich die heimatliche Umgebung von der neuen unterscheidet (Unähnlichkeit des alten und neuen Lebensortes) (Gasselberger 1982). Der Kulturpsychologe Boesch fasst Heimweh als eine rückwärts gerichtete Sehnsucht, als ein Gefühl auf, dass man nicht da lebt, wo man eigentlich »hingehört« (Boesch 1998, S. 60). In der Begrifflichkeit der Psychoanalyse lässt sich im Heimweh die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies der Kindheit vermuten. Der an Heimweh Leidende idealisiert diese verlorene, vertraut empfundene Lebenswelt und benennt mit Heimat den Ort des kindlichen Glücks.

Im Gefühl des Heimwehs liegen eine Entwertung der gelebten Wirklichkeit und eine imaginierte Aufwertung der Vergangenheit vor. Befriedigungspotenziale der Gegenwart und der Zukunft werden in die Vergangenheit verlagert (Morone 1994). Und ex negativo bedeutet das: Der an Heimweh Leidende bekundet zugleich, dass ihm das Gefühl von Wärme, Zuwendung und Geborgenheit fehlt. So ist anzunehmen, dass bei Menschen, die aus ländlich-agrarischen Kontexten in neue Metropolen ziehen, eine größere Heimweherfahrung auftritt als bei Menschen, die urbanen Lebenskontexten entstammen. Denn schon seit je galten Menschen aus provinziellen Verhältnissen, die in einer beschränkten, bescheidenen, einsamen und einfachen Umgebung groß geworden sind, die folglich einen anderen Arbeitsrhythmus, ein anderes Verhältnis zur Zeit und eine andere Wahrnehmung menschlicher und gesellschaftlicher Räume hatten, deren soziokultureller Habitus sie also wenig adaptiv machte für neue Lebensumstände, als prädisponiert für Heimweh (Frigessi Castelnuovo und Risso 1986). Dieser Aspekt ist insbesondere für türkische Migranten in Deutschland relevant: So nehmen ­Kürsat-Ahlers und Ahlers (1985) an, dass rund zwei Drittel aller türkischen Migranten in Deutschland der ersten Generation aus dörflichen Provinzen Anatoliens stammen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass das Leiden an und Klagen über Heimweh zu den häufigsten psychischen Befindlichkeiten türkeistämmiger Zuwanderer zählt. Vielfach spielt es dabei keine Rolle, wie lange beziehungsweise wie kurz die Migranten schon in Deutschland sind; das heißt, das Symptom ist nicht auf einen akuten, zeitlich kurz zurückliegenden Ortswechsel zurückzuführen, sondern wird von den Betroffenen als eine beständige Belastung des Wohlbefindens erlebt. Insbesondere wenn es sich dabei um die zweite Generation handelt, die entweder keine eigene Zuwanderungsgeschichte hat oder als Kind eingewandert ist und den größten Teil der Sozialisation in Deutschland verbracht hat, stel-

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len sich die Fragen nach den Ursachen und den Folgen des Heimwehs noch drängender. Denn Heimweh birgt nicht nur individuellgesundheitliche Implikationen, und zwar derart, dass es das psychische Wohlbefinden entscheidend negativ beeinflusst, sondern auch sozialpolitische: Es betrifft die Integrationsfähigkeit und -bereitschaft von Zuwanderern. Heimweh kann auf psychologischer Ebene ein entscheidendes Hindernis gelingender Akkulturation, einer gelingenden Aneignung kultureller Orientierungen sein. Warum ist das so? Wer sich noch psychisch stark an seine Heimat gebunden fühlt, der hat es oft schwerer, sich auf seinen neuen Lebensort einzulassen, sich zu öffnen und neue Wurzeln zu schlagen. Dann kann Heimweh zu mangelndem Engagement in der neuen Heimat führen, was wiederum, durch Gefühle von erfahrener Isolierung und Entwurzelung, zu weiterem Heimweh und Sehnsucht nach vertrauten Orten und Menschen der eigenen Herkunftsregion führt. Auch wenn sich die imaginierte Wärme und Geborgenheit der Heimat letztlich als eine

I­ llusion herausstellen kann – vor allem durch Urlaubsbesuche oder bei einer endgültigen Rückkehr – und die überzogene, stilisierte Geborgenheit der Heimat zu einem gewöhnlichen, seiner Valenz befreiten Biotop reduziert wird, fungiert sie vielfach in der Fremde als ein Gegenbild, als ein Ort, an dem die Optionen des individuellen Glücks offener sind als in der gelebten Gegenwart. Studie mit türkeistämmigen Migranten zu Heimweherleben Im Folgenden werden an einer türkeistämmigen Migrantenstichprobe von N = 357 im Alter von 13 bis 66 Jahren (M = 34.3; SD = 12.3; rund zwei Drittel Frauen, ein Drittel Männer) die Ausprägungen von Heimweh im Generationen- und Geschlechtervergleich vorgestellt und diskutiert. Das Heimweherleben wird anhand der folgenden exemplarischen Items vorgestellt: Ich fühle mich hier von der Welt abgeschnitten; Ich kann nicht aufhören, an zu Hause zu denken; Ich würde gern öfter nach Hause fahren.

Tabelle 1: Deskriptive Angaben zum Heimweh und Depressivität (Angaben in Prozent) Konstrukt

Antwortformat stimmt nicht

stimmt gelegentlich

stimmt

Ich finde es zu Hause besser als hier.

34.3

16.3

49.4

Ich kann nicht aufhören, an zu Hause zu denken.

36.8

13.5

49.7

Ich würde gern öfter nach Hause fahren.

22.7

11.7

65.8

Ich fühle mich traurig und einsam, wenn ich an zu Hause denke.

49.6

15.7

34.8

Heimwehgefühle

Deutlich wird zunächst, dass die überwiegende Mehrheit der Befragten das Leben in Deutschland nicht als eine Einschränkung oder eine Abkapselung von der Welt erlebt, sondern es als eine Bereicherung und als eine Entwicklungsmöglichkeit betrachtet. So lehnten rund drei Viertel aller Befragten (75,3 Prozent) ab, sich hier von der Welt abgeschnitten zu fühlen, etwa 12 Prozent hatten

hierzu keine Meinung, weitere rund 12 Prozent fühlten jedoch explizit das eigene Leben als isoliert. Dennoch zeigen aber die anderen beiden Items, dass Heimwehgefühle recht ausgeprägt sind. So gaben rund 50 Prozent an, sie würden oft an zu Hause denken, während sich etwas über ein Drittel eher selten mit Gedanken an das Zuhause beschäftigte. Ähnliche Tendenz zeigt auch

L E I D FA D E N   – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU E R   H e f t  3  /  2 0 1 6

Wa n n i s t d i e S e e l e z u H a u s e ?    5 9

das Item »Ich würde gern öfter nach Hause fahren«: Rund zwei Drittel der Befragten (65,6 Prozent) berichteten, sie würden gern öfter in die Heimat fahren wollen, während knapp ein Viertel (22,7 Prozent) eher lose Beziehungen an die Heimat wünscht. Betrachtet man die Ergebnisse nicht nur auf der Einzelitemebene, sondern auf der Skalenmittelwertsausprägung, so lassen sich folgende Zusammenhänge erkennen: Tabelle 2: Heimweh – Mittelwerte Heimweh M

SD

männlich

2.53

0.68

weiblich

2.58

0.70

Grundschule

2.70

0.72

Mittelschule

2.62

0.68

Gymnasium

2.49

0.61

Universität

2.07

0.70

Schüler

2.29

0.58

Junior (≤ 25 J.)

2.36

0.66

Senior (> 50 J.)

2.69

0.81

säkular

2.65

0.68

religiös

2.53

0.68

Gesamtstichprobe

2.56

0.69

d

p

0.07

0.54

0.44

0.01

0.16

0.2

Mittelwerte (M), Standardabweichungen (SD), Effektstärken (d) und Signifikanzangaben (p)* Die Effektstärke- und Signifikanzmaße beziehen sich auf den Vergleich der Heimwehausprägung zwischen den Geschlechtern, den Altersgruppen und den religiösen Orientierungen.

Hier wird erkennbar, dass bei der geschlechtsspezifischen Ausprägung des Heimwehs zwar ­Frauen etwas stärkere Werte aufweisen (M = 2.60, SD = 0.69) als Männer (M = 2.53, SD = 0.70), jedoch ist dieser Unterschied statistisch nicht signifikant. Wesentlich deutlicher ist dagegen die unterschiedlich starke Ausprägung des Heimwehs in Abhängigkeit vom Bildungshintergrund. Während Menschen mit einer Grundschulbildung mit einem Wert von M = 2.74 (SD = 0.74) die stärkste Ausprägung aufweisen, gefolgt von Probanden

mit einem Realschul- oder Mittelschulabschluss mit einem Wert von M = 2.60 (SD = 0.68), zeigen Teilnehmer mit einem Universitätsabschluss mit einem Wert von M = 2.14 (SD = 0.69) die geringsten Ausprägungen. Hier sind die Differenzen statistisch auf dem p