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German Pages 176 Year 2005
Oliver Diehl / Wolfgang Muno (Hrsg.)
Venezuela unter Chävez Aufbruch oder Niedergang?
Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde • Hamburg Band 61
Oliver Diehl / Wolfgang Muno (Hrsg.)
Venezuela unter Chävez Aufbruch oder Niedergang?
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2005
Institut für Iberoamerika-Kunde * Hamburg
Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut Das Institut für Iberoamerika-Kunde bildet zusammen mit dem Institut für Allgemeine Überseeforschung, dem Institut für Asienkunde, dem Institut für Afrika-Kunde und dem Deutschen Orient-Institut den Verbund der Stiftung Deutsches Übersee-Institut in Hamburg. Aufgabe des Instituts für Iberoamerika-Kunde ist die gegenwartsbezogene Beobachtung und wissenschaftliche Untersuchung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Lateinamerika. Das Institut für Iberoamerika-Kunde ist bemüht, in seinen Publikationen verschiedene Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die jedoch grundsätzlich die Auffassung des jeweiligen Autors und nicht unbedingt die des Instituts darstellen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. (Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Hamburg; Band 61) ISBN 3-86527-1804
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2005 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Konstantin Buchholz Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis Wolfgang Muno / Oliver Diehl: Einleitung: Venezuela unter Chävez - Aufbruch oder Niedergang?
7
Wolfgang Muno: öl und Demokratie - Venezuela im 20. Jahrhundert
11
Ruth Zimmerling: Venezolanische Demokratie in den Zeiten von Chävez: „Die Schöne und das Biest"?
35
Oliver Diehl: Hugo Chävez - Charisma als soziokulturelles Phänomen
57
Andreas Boeckh: Die Außenpolitik Venezuelas: Von einer „Chaosmacht" zur regionalen Mittelmacht und zurück
85
Hans-Jürgen Burchardt: Das soziale Elend des Hugo Chävez: Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Fünften Republik
99
Beate Jungemann: Caracas zwischen Polarisierung und Globalisierung
127
Gunther Caracas,Blessing: amor a muerte - .Ästhetik der Gewalt" und ,das grausam Wirkliche' im venezolanischen Film
155
Oliver Diehl / Wolfgang Muno: Nach dem Referendum: Sieg für die,.Revolution" - Aufbruch für Venezuela?
167
Autorenverzeichnis
175
Wolfgang Muño / Oliver Diehl
Einleitung: Venezuela unter Chávez Aufbruch oder Niedergang? Despot oder Demokrat, Psychopath oder Messias? An Hugo Chávez Frías, dem Präsidenten Venezuelas, scheiden sich die Geister. Der 1954 geborene Sohn eines Dorfschullehrers, aus bescheidenen Verhältnissen stammend, wurde Berufssoldat, studierte Politikwissenschaft und fiel einer breiteren Öffentlichkeit erstmals am 4. Februar 1992 auf, als er einen Putschversuch anführte. Der Teniente Coronel eines Fallschirmjägerbataillons trat vor die laufenden Fernsehkameras, übernahm die Verantwortung für den Putschversuch und gestand dessen Scheitern ein, ,JPor ahorcó, wie er damals sagte. Einige Jahre später, nach Gefängnis und Begnadigung, gewann er 1998 mit absoluter Mehrheit die Präsidentschaftswahlen. ,¿4hora" schien gekommen. Chávez schickte sich an, Venezuela umzugestalten, seine „Revolution" fand ihren symbolischen Ausdruck in der Umbenennung Venezuelas in „Bolivarische Republik Venezuela". Chávez' radikal-revolutionärer Diskurs beschimpfte die traditionelle Elite, die er für den Niedergang Venezuelas in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht verantwortlich machte. Er geißelte Korruption, Verschwendungssucht und Misswirtschaft des Establishments und führte, zumindest rhetorisch, einen regelrechten Krieg gegen die alte Oligarchie, die er als verlängerten Arm des US-amerikanischen Imperialismus darstellte. Unter Berufung auf den venezolanischen Nationalhelden, den lateinamerikanischen Freiheitskämpfer Simón Bolívar, oft auch auf Gott und Jesus Christus, versprach Chávez, Venezuela zu retten. Der Mann, der international durch Reisen zu Saddam Hussein und Muammar Ghaddafi auffiel und Fidel Castro zu seinen persönlichen Freunden und politischen Vorbildern zählte, sagte national der Armut, dem Elend, der Unterentwicklung und dem Analphabetismus den Kampf an. Mit Hilfe des Militärs, personeller und organisatorischer Unterstützung aus Kuba sowie viel Erdölgeld baute er Schulen, sorgte für medizinische Versorgung und eröffnete Suppenküchen für die Armen, die mittlerweile über 80% der Venezolaner stellten. 7
In endlosen, stundenlangen Reden und Tiraden, die im Fernsehen Ubertragen wurden, wandte sich Chávez direkt an das Volk, el pueblo. Kleidete sich wie die Menschen des pueblo, redete wie sie, benahm sich wie sie, sang und tanzte, spielte Baseball (béisbol) wie sie, sah so aus wie sie. Von Politologen mit Schlagwörtern wie „Neopopulismus" oder delegative democracy beschrieben, verkaufte sich Chávez als Stimme und verlängerter Arm des einfachen Volkes, als ihr Erretter, und eroberte so die Herzen und Wählerstimmen. Wie einst Perón für die argentinischen descamisados, so gab Chávez Hoffnung und Selbstbewusstsein und wurde für die Armen Venezuelas zum Heilsbringer und Erlöser, zum „Messias von Caracas" (so der Titel des Artikels von Thomas Schmid in DIE ZEIT 34/2004). Für die oppositionelle, alte Elite war er vielmehr ein ungebildeter Caudillo alten Stils, ein gefährlicher Despot, el loco, ein verrückter Psychopath, der „Narziss von Caracas" (so der Titel des Artikels von Reiner Luyken in DIE ZEIT 43/2002). Wer ist Hugo Chávez? Und was bedeutet seine Regentschaft für Venezuela? Bedeutet die „Bolivarische Revolution", die Chávez propagiert und verkörpert, einen Aufbruch in bessere Zeiten, eine Demokratisierung einer unvollkommenen Demokratie, eine sozial gerechtere Welt, wie es seine Anhänger glauben? Oder ist sie nur der vorläufige Tiefpunkt des Niedergangs Venezuelas, ein Rückfall in alte, caudillistisch-populistische Zeiten, in den Despotismus, die Willkürherrschaft eines einzelnen starken Mannes, wie es die Opposition sieht? Dieser Frage ging eine Tagung des Interdisziplinären Arbeitskreises Lateinamerika der Johannes Gutenberg-Universität Mainz am 18. und 19. Juli 2003 nach. Ausgehend von dieser Tagung entstand der vorliegende Sammelband, der weitere Beiträge mit inhaltlich wichtigen Ergänzungen aufgenommen hat. Der erste Beitrag, „öl und Demokratie - Venezuela im 20. Jahrhundert" von Wolfgang Muno, gibt einen Überblick über die historische Entwicklung Venezuelas und beleuchtet die Vorgeschichte von Chávez' Aufstieg. Öl und Demokratie waren und sind die politisch-ökonomischen Kristallisationspunkte Venezuelas. Die Krise der 80er und 90er Jahre, die Chávez den Weg ebnete, steht im Mittelpunkt der Ausführungen. Ruth Zimmerling analysiert in ihrem Beitrag „Venezolanische Demokratie in den Zeiten von Chávez: ,Die Schöne und das Biest'?" die politische Demokratieperformanz von Hugo Chávez. Deren Defekte bzw. Defizite konstatiert sie als unübersehbar, wenngleich nicht neu in Venezuela. Aus kulturpsychologischer Sicht nähert sich Oliver Diehl in seinem Artikel „Hugo Chávez - Charisma als soziokulturelles Phänomen" der Person Hugo Chávez und seiner Verbindung zur venezolanischen Bevölkerung. Hier zeigt sich die Diskrepanz zwischen Elite und pueblo, die in politisch-psychologischer Hinsicht ein entscheidender Faktor für die hochgradige Polarisierung Venezuelas ist. 8
Den Blick auf die Außenpolitik richtet Andreas Boeckh in „Die Außenpolitik Venezuelas: Von einer ,Chaosmacht' zur regionalen Mittelmacht und zurück". Während Venezuela sich in den 60er und 70er Jahren als regionale Ordnungsmacht etablieren konnte, irrlichtert Chávez in der Außenpolitik mit anti-USamerikanischer Rhetorik und enger Anlehnung an Kuba. Die innenpolitischen Probleme wirken sich wiederum auch auf die außenpolitische Handlungsfähigkeit aus und machen Venezuela zum „Problemfall". In dem Beitrag „Das soziale Elend des Hugo Chávez: Die Wirtschañs- und Sozialpolitik der Fünften Republik" analysiert Hans-Jürgen Burchardt die venezolanische Wirtschafts- und Sozialpolitik unter Chávez zwischen hochtrabender Rhetorik und der traurigen Realität der „venezolanischen Krankheit", der Unfähigkeit, den ölreichtum in eine nachhaltige Entwicklung umzusetzen, an der breite Bevölkerungsschichten partizipieren können. Beate Jungemann widmet sich in ihrem Artikel „Caracas zwischen Polarisierung und Globalisierung" der Stadt- und Regionalentwicklung der venezolanischen Metropole, die auch sozioterritorial zum Epizentrum politischer Konflikte geworden ist. Abschließend wirft Gunther Blessing einen etwas anderen Blick auf ein Stück Realität Venezuelas: In „Caracas, amor a muerte - .Ästhetik der Gewalt" und ,das grausame Wirkliche' im venezolanischen Film" reflektiert er über den Spielfilm Caracas, amor a muerte des venezolanischen Regisseurs Gustavo Balza. Balza beschreibt schonungslos das Leben in den urbanizaciones und barrios von Caracas, das geprägt ist von Gewalt, Drogen und Hoffnungslosigkeit. Die cineastische Darstellung der deprimierenden Perspektivlosigkeit der venezolanischen Unterschicht zeigt den Nährboden, auf den die Versprechungen Chávez' fruchtbar fallen. Die Beiträge geben einen profunden Einblick in die aktuelle venezolanische Realität, die stellvertretend für die Probleme Lateinamerikas, den „Morbus Latinus", interpretiert werden kann. Wurde Lateinamerika nach der verlorenen Dekade der 80er Jahre in den 90er Jahren noch euphorisch auf dem Sprung ans „Ende der Geschichte" verortet, an dem Demokratie und Marktwirtschaft mehr oder weniger als Universallösungen aller Probleme angesehen wurden, so hat sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts Ernüchterung breit gemacht. Politische Probleme und Turbulenzen, unter dem Schlagwort „Defekte Demokratien" zusammengefasst, ökonomische Schwierigkeiten wie das Phänomen des regionalen Abstiegs im internationalen Vergleich und die nach wie vor ungelöste, in Lateinamerika besonders virulente soziale Frage zwangen Beobachter zu einer differenzierteren Einschätzung der lateinamerikanischen Realität vielfacher Probleme. Haiti, Bolivien, Ekuador, und nicht zuletzt Argentinien, sind nur die Länder, deren Schwierigkeiten sie gelegentlich in die deutschen Medien bringen. In den anderen Ländern des Subkontinents existieren vergleichbare, wenn auch nicht immer ebenso virulente Problemlagen. 9
Die „Bolivarische Revolution" ist die Antwort von Hugo Chävez auf Verteilungsfragen, auf Partizipationsfragen, auf Globalisierungsfragen. Mag diese Antwort in den Augen vieler Beobachter aus dem In- und Ausland höchst kritikund fragwürdig sein, so findet sie dennoch viele Unterstützer. Das Referendum am 15. August 2004 über die Abberufung Chävez' ist von einer klaren Mehrheit der Venezolaner abgeschmettert worden. Diese Unterstützer setzen ihre Hoffnung in diese Antwort. Aufgabe der Sozialwissenschaften ist es, diese Fragen, die sich auch in Europa in abgewandelter Form stellen, genauer zu untersuchen, ebenso wie die Antworten, die darauf gegeben werden. Im vorliegenden Fall geht es speziell um die Antworten, die Hugo Chävez gibt. Die Tatsache, dass Chävez das Abberufungsreferendum vom 15. August für sich entscheiden konnte und voraussichtlich noch einige Zeit im Amt bleiben wird, verleiht seinen Antworten und damit diesem Buch eine größere Aktualität. Die Beiträge entstanden im Frühsommer 2004, lediglich Einleitung und Schluss konnten noch das Referendum vom 15. August berücksichtigen. Finanziell unterstützt wurde der Druck dieses Bandes durch den Interdisziplinären Arbeitskreis Lateinamerika sowie Sondermittel der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dem Arbeitskreis sowie der Universität sei dafür herzlich gedankt. Allen Beteiligten der Tagung sowie der Drucklegung sei für ihr Engagement gedankt.
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Wolfgang Muño
Öl und Demokratie Venezuela im 20. Jahrhundert 1. Einleitung ö l und Demokratie sind die bestimmenden Faktoren venezolanischer Geschichte im 20. Jahrhundert. Während der Erdölreichtum die venezolanische Ökonomie seit den ersten Erdölfunden Ende des 19. Jahrhunderts in immer stärkerem Maße dominierte und dazu führte, dass Venezuela zeitweise das höchste Pro-KopfEinkommen Lateinamerikas verzeichnete, etablierten sich in der Politik nach der Flucht des letzten Diktators Marcos Pérez Jiménez 1958 demokratische Spielregeln. In jenem Jahr beschlossen die Führer der wichtigsten Parteien im Pacto de Punto Fijo die gemeinsame Anerkennung und Verteidigung der Demokratie und Grundlagen zukünftiger Politik in Venezuela, ölreichtum und die paktierte Demokratie ließen Venezuela zur „Schweiz Lateinamerikas" werden, herausragend im kontinentalen Vergleich durch Wohlstand und politische Stabilität. Doch schon in den 80er Jahren geriet Venezuela in die Krise; Misswirtschaft, der Rückgang der Erdöleinnahmen und der Beginn der Schuldenkrise Anfang der 80er Jahre beendeten die Erdölbonanza. Die Präsidenten Carlos Andrés Pérez und Rafael Caldera versuchten, der Krise Herr zu werden, doch Widersprüche und Unstimmigkeiten im Krisenmanagement sowie mangelnde politische Unterstützung führten immer tiefer in eine politische und sozioökonomische Krise (vgl. Faust/Muno 1998). Die Quittung kam mit den Wahlen vom Dezember 1998. Hugo Chávez Frías, ein ehemaliger Putschist, konnte mit seiner Bewegung Movimiento Quinta República (MVR) die andauernde Stimmung gegen das politische Establishment ausnutzen und wurde zum Präsidenten gewählt. Im Folgenden wird die politische und ökonomische Entwicklung Venezuelas im 20. Jahrhundert nachgezeichnet, um den historischen Hintergrund zu Chávez' Aufstieg zu erläutern. 11
2. Auf dem Weg in die Moderne In der Kolonialzeit war Venezuela bis Ende des 18. Jahrhunderts ein unbedeutendes, verlassenes Randgebiet, bis der Anbau tropischer Agrarprodukte, vor allem Kakao, es in eine dynamische Exportregion verwandelte. Unter der Führung von Simón Bolívar wurde die von Ideen der Aufklärung beeinflusste, reiche, einheimische kreolische Elite zum Motor der Unabhängigkeitskämpfe Lateinamerikas und besiegte die royalistischen Kräfte von Venezuela bis Alto Peru (zur historischen Entwicklung Venezuelas vgl. Halperin Donghi 1994; Lombardi 1985). Nach dem blutigen Unabhängigkeitskrieg kam es in Venezuela im Laufe des 19. Jahrhunderts zu Unruhen und Bürgerkriegen, das Land schwankte zwischen Anarchie und Caudillismus und wurde zum Prototyp eines politisch instabilen und ökonomisch wie kulturell rückständigen lateinamerikanischen Staates. Im 20. Jahrhundert durchlebte Venezuela grundlegende Veränderungen. Die Diktatur von José Vicente Gómez 1908 bis 1935 entwickelte sich zum Idealtypus einer personalistischen lateinamerikanischen Diktatur. Gómez beutete Venezuela wie seine private Hazienda aus. Er wurde zum reichsten Mann und größten Landbesitzer, Widerstand wurde auf brutalste Weise unterdrückt, jegliches politisches Leben wurde in den 27 Jahren seiner Diktatur verboten. Dennoch modernisierte sich Venezuela während seines Regimes in mancher Hinsicht grundlegend. Gómez entmachtete die regionalen Caudillos und stärkte dadurch die Zentralgewalt. Sozioökonomisch profitierte das Land von der gestiegenen Nachfrage nach Erdöl. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurden große Erdölvorkommen in Venezuela entdeckt, die Gómez nun gegen Konzessionsgebühren von der englischniederländischen Royal Dutch/Shell, später von der US-amerikanischen Standard Oil fördern ließ. 1920 betrug die Erdölförderung eine Million Barrel pro Jahr, 15 Jahre später 150 Millionen Barrel. Schon 1925 rangierte das Erdöl an der Spitze der Exporterlöse. Venezuela war nach den USA zum zweitgrößten Erdölproduzenten der Welt geworden; Kaifee, das bis dato wichtigste Exportprodukt, verlor an Bedeutung. Die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre verstärkte diesen Trend, da der Kaifeemarkt zusammenbrach, die Dynamik des Erdölsektors aber nur kurz unterbrochen wurde. Der Kaffeeexport ging von 1929 bis 1935 um 76% zurück, der Anteil der Landwirtschaft am BIP sank zwischen 1925 und 1936 von 34,7% auf 18,7%, der des Erdöls stieg von 9,5% auf 34,6% (vgl. Thibaut 1992). Dieser Modernisierungsprozess bewirkte eine rasante Verstädterung Venezuelas: 1920 lebten noch 80% der Venezolaner auf dem Land, 40 Jahre später betrug der städtische Bevölkerungsanteil fast 80%. Caracas wurde zum unumstrittenen Zentrum der Nation, und die Modernisierung der Armee sowie umfassende Infrastrukturmaßnahmen stellten die Kontrolle des Hinterlandes sicher. Die Staatsausgaben stiegen von 1920 bis 1930 um 257%. John Lombardi betont die modernisierende Wirkung, die Gómez' Regime aufgrund des Erdöls für Venezuela hatte: „Juan Vicente Gómez brachte Venezuela in die moderne Welt" (Lombardi 1985: 17). 12
3. Auf dem Weg zur Demokratie Nach Gómez' Tod kam es zu einer Liberalisierung des politischen Systems. Unter den Regierungen Eleazar López Contreras (1936-1941) und Isaías Medina Angarita (1941-1945) wurden Presse- und Organisationsfreiheit zugelassen, und die ersten legalen politischen Parteien entstanden: als wichtigste jener Phase 1941 die sozialdemokratisch orientierte Acción Democrática (AD), die sofort mit einer Kampagne der Massenorganisation begann. Es gelang der AD innerhalb von vier Jahren, eine landesweite Organisationsstruktur aufzubauen, zudem übernahm sie die Führungsrolle innerhalb der entstehenden Gewerkschaften, bzw. des Gewerkschaftsdachverbandes Confederación de Trabajadores de Venezuela (CTV). 1945 kam es zu Streitigkeiten zwischen Medina Angarita und der AD bezüglich der Geschwindigkeit des Demokratisierungsprozesses, die zu einem „demokratischen" Putsch der AD im Bündnis mit einer Gruppe junger Offiziere führte. Eine Junta unter dem Gründer der AD, Rómulo Betancourt, veranlasste 1946 Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung, die die AD aufgrund ihrer starken Massenbasis mit 78% der Stimmen vor der 1946 gegründeten, christdemokratisch orientierten Partei COPEI (Comité de Organización Política Electoral Independiente) und der 1945 gegründeten liberaldemokratischen Unión Republicana Democrática (URD) gewann. Auch die ersten freien Präsidentschaftsund Kongresswahlen der venezolanischen Geschichte im Dezember 1947 konnte die AD mit überwältigendem Vorsprung gewinnen. Die hegemoniale Stellung der AD, die diese politisch ausnutzte, führte zu Kritik seitens der Opposition, der Kirche und des Militärs, das die dreijährige ADDemokratie, Trienio genannt, 1948 durch einen Militärputsch beendete. Unter den nun herrschenden Militärs setzte sich Marcos Pérez Jiménez durch, der bis 1958 an der Macht blieb. ökonomisch setzte Venezuela nach wie vor auf Erdöl. Präsident Medina Angarita hatte den Zweiten Weltkrieg dazu benutzt, die venezolanische Steuerhoheit gegenüber den ausländischen ölunternehmen durchzusetzen, was zu höheren Staatseinnahmen führte. Mit Hilfe dieser Einnahmen sollte eine umfassende wirtschaftliche Entwicklung in Gang gesetzt werden. „Das öl aussäen", ,¿¡embrar el petróleo", hatte auch die AD propagiert, setzte aber populistisch auf ein verbessertes Angebot importierter Massenkonsumgüter, finanziert durch die 50%-Besteuerung der Gewinne der ölgesellschaften. Pérez Jiménez setzte die großzügige Politik von Gómez den ölkonzemen gegenüber fort. Mit zunehmender Dauer wurde das Regime autokratischer, repressiver und korrupter, woraufhin die Opposition immer größer wurde und Parteien, Gewerkschaften, Unternehmer, Kirche sowie große Teile des Militärs erfasste. Alle Oppositionsparteien verbündeten sich im Mai 1957 gegen das Regime und gründeten die Junta Patriótica mit dem Ziel, Pérez Jiménez zu stürzen. Die Gelegenheit kam am Neujahrstag 1958, als ein Putschversuch unzufriedener Mi13
litärs scheiterte. Die Junta Patriótica, unterstützt durch Gewerkschaften, Kirche und Unternehmerverbände, rief zu Demonstrationen und Streiks auf; am 22. Januar 1958 gab es einen landesweiten Generalstreik gegen das Regime. Die Militärs weigerten sich, gegen die Demonstranten vorzugehen, und Pérez Jiménez verließ am 23. Januar 1958 Venezuela. Eine Junta unter der Führung des Admiráis Wolfgang Larrazábal übernahm die Macht und leitete die Demokratisierung Venezuelas ein (vgl. dazu und zum Folgenden Levine 1978 und 1989 sowie Maihold 1988). Noch unter dem Regime von Pérez Jiménez hatten sich die Führer der drei wichtigsten Oppositionsparteien, Rómulo Betancourt (AD), Rafael Caldera (COPEI) und Jóvito Villalba (URD), unter Ausschluss der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV), heimlich in New York getroffen, um nach der Erfahrung des Scheiterns der Demokratie im Trienio die Post-Pérez-Jiménez-Zeit gemeinsam zu planen. Die Parteiführer, die alle drei der in Venezuela legendären Studentenbewegung Generación del 28 angehörten, die 1928 gegen Gómez gekämpft hatte, schlössen schließlich am 31. Oktober 1958 den Pacto de Punto Fijo, in dem sie sich grundsätzlich zur Demokratie bekannten und sich verpflichteten, die Ergebnisse der für Dezember 1958 geplanten Wahlen anzuerkennen und zu verteidigen. Zusätzlich verpflichteten sich die beteiligten Parteien auf die Bildung einer „Regierung der Nationalen Einheit" sowie auf ein gemeinsames Minimalprogramm für die neue Regierung, zu dem eine neue Verfassung, ein langfristiger Entwicklungsplan und die Einführung einer Sozialgesetzgebung gehörten (vgl. den Originaltext Pacto de Punto Fijo, abgedruckt in Síntesis 5/1988:462 ff.). Daneben wurden 1958 Abkommen mit den Gewerkschaften und den Unternehmerorganisationen sowie informell mit den Streitkräften geschlossen. Gegenstand dieser Pakte waren nicht nur politische Spielregeln, sondern auch das desarrollistische, binnenmarktorientierte Entwicklungsmodell und der Verteilungsmodus der Erdölrente zwischen den verschiedenen Gruppen. Diese Abkommen bildeten die Grundlage für die 1961 beschlossene Verfassung. Nach dem politischen Niedergang der URD entwickelte sich eine Art ZweiParteien-System zwischen AD und COPEI. Die COPEI eroberte unter Caldera 1969 zum ersten Mal das Präsidentenamt, die Machtübergabe verlief reibungslos. AD und COPEI stellten schließlich bei den Wahlen in den 70er und 80er Jahren abwechselnd den Präsidenten (vgl. Tabelle 1) und erreichten über 90% der Erststimmen und fast 80% der Zweitstimmea Die einzige Partei, die sich neben AD und COPEI etablieren konnte, war die 1971 gegründete, reformerische, demokratisch-sozialistische Partei Movimiento Al Socialismo MAS (Bewegung zum Sozialismus), die sich von der moskauorientierten PCV abspaltete und bei Parlamentswahlen zwischen 5 und 10% der Stimmen erzielte (vgl. Ellner 1989).
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Tabelle 1: Präsidenten Venezuelas 1958-1994 Rómulo Betancourt
AD
1959-1964
Raúl Leoni
AD
1964-1969
Rafael Caldera
COPEI
1969-1974
Carlos Andrés Pérez
AD
1974-1979
Luis Herrera Campíns
COPEI
1979-1984
Jaime Lusinchi
AD
1984-1989
Carlos Andrés Pérez
AD
1989-1993
Ramón Velásquez
Unabhängig
1993-1994 (Interimspräsident)
Rafael Caldera
Unabhängig
1994-1998
Hugo Chávez
Unabhängig
seit 1998
(Wiederwahl nach Ablauf von zwei Amtsperioden möglich). Quelle:
Eigene Darstellung nach Huneuus/Thibaut 1993.
4. Auf dem Weg in die Krise Das politisch-ökonomische System, das sich in Venezuela nach 1958 aufgrund des Paktes herausbildete, bezeichnet der venezolanische Politologe Juan Carlos Rey als sistema populista de conciliación, als populistisches System des Ausgleichs (Rey 1989). Die steigenden Einnahmen aus der ölrente ermöglichten die Ausweitung der im Pakt festgeschriebenen Interessenaussöhnung.1 Über ein wachsendes Klientel- und Subventionssystem wurde durch die Konzertierung der relevanten soziopolitischen Akteure, die politischen Parteien, der Untemehmerdachverband FEDECAMARAS (Federación de Cámaras de Comercio y Producción), der Gewerkschaftsdachverband CTV, die Militärs und die Kirche, ein effektives, integrierendes Konfliktmanagement betrieben. Andreas Boeckh beschreibt die „populistische Verteilungskoalition": Durch eine Vielzahl direkter und indirekter staatlicher Transfers, von denen die direkten, d. h. aber den Staatshaushalt laufenden, meist von der jeweiligen Regierungspartei auch zur Schaffung parteipolitischer Loyalitäten (Klientelismus) instrumentalisiert wurden, den geschickten Einsatz politischer Symbole, welche die „Erlösung der Massen" zum Thema hatten, und durch vergleichsweise offene Karrierepfade für die Funktionäre der Gewerkschaften und Bauernverbände in den beiden großen Parteien gelang es, die organisationsfähigen Teile der Gesellschaft politisch zu integrieren und gegenüber dem politischen System stabile und stabilitätsfördernde Loyalitäten zu schaffen (Boeckh 1988: 643).
Die ökonomische Entwicklung verlief dank der Einnahmen aus dem Erdölgeschäft stetig positiv, 1960 war das Pro-Kopf-BIP Venezuelas bereits das höchste Lateinamerikas.
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Die Verteilung der Ölrente, von der auch die Dynamik der Nichterdölsektoren abhing, übernahm wie abgesprochen der Staat. Die Regierungen verteilten in populistischer Manier Wohltätigkeiten an alle Gruppen der Gesellschaft: Es gab Nahrungsmittelsubventionen für die Bevölkerung, protektionistische Zölle und Subventionen für Unternehmer, Unterstützung für Bauern, Hightech-Waffen für die Militärs, Arbeitsplatzgarantien und übertariflichen Lohn für öffentlich Bedienstete, Stipendien und kostenlose Schulen sowie Universitäten für Schüler und Studenten. Die Ölrente und die etatistisch-desarrollistische Wirtschaftsstrategie führten zur Herausbildung einer umfassenden staatlichen Bürokratie, eines bürokratischen Entwicklungsstaates, eines Estado omnipotente, so dass das venezolanische Wirtschaftssystem mit einer Staatsquote von schließlich über 60% auch als „gemischte Wirtschaft" oder „Staatskapitalismus" bezeichnet worden ist (vgl. zum bürokratischen Entwicklungsstaat Sonntag 1988). Die staatliche Bürokratie wiederum wurde von AD und COPEI, die durch informelle Übereinkünfte der jeweiligen Oppositionspartei eine angemessene Beteiligung an den staatlichen Pfründen erlaubten, dominiert. Dieser Sachverhalt wird von den Venezolanern Partidocracia genannt: Nach eigenen Angaben haben AD und COPEI zusammen über fünf Millionen Mitglieder (fast die Hälfte der Wahlberechtigten); jeder vierte Venezolaner wiederum bezieht ein Staatsgehalt. Neben der als selbstverständlich angesehenen Besetzung der hohen und mittleren Verwaltungsämter durch die Parteien sind Korruption, Ämterpatronage und Klientelismus verbreitete Phänomene. Nach Ansicht von Nikolaus Werz gehört „das ausgeprägte Patronagesystem zu den ,partizipativen' und systemstabilisierenden Auswirkungen des Abkommens von Punto Fijo" (Werz 1983: 104).2 Seinen Höhepunkt erreichte der Estado omnipotente während der ersten Amtszeit von Carlos Andrés Pérez. War bis dato die Ölrente langsam, aber stetig gestiegen, was Venezuela ein Wirtschaftswachstum von 6,6% pro Jahr bescherte, so löste die Erdölpreisexplosion im Zuge der Ölkrise 1973 eine Boomphase aus, in deren Verlauf der Staat seinen Einfluss auf die Wirtschaft weiter ausdehnte. Die Staatseinnahmen verdreifachten sich schlagartig, zudem wurden 1975/76 die Erdöl- und die Eisenerzindustrie verstaatlicht. Mit den Öleinnahmen sollten großangelegte Entwicklungsprojekte in den Grundstoffindustrien (Petrochemie, Aluminium, Stahl) und der Energieerzeugung (Wasserkraftwerke) finanziert werden, die materielle und soziale Infrastruktur wurde ausgebaut, die Anzahl der Beschäftigten im öffentlichen Sektor ebenso wie die Löhne erhöht, das Konsumniveau allgemein angehoben (vgl. zur allgemeinen Wirtschaftsent2
Die enge Zusammenarbeit der beiden staatstragenden Parteien wird von den Venezolanern auch als „Guanábana-Politik" bezeichnet. Die Guanábana ist eine tropische Frucht mit grüner Schale und weißem Fruchtfleisch; grün ist die Parteifarbe der COPEI, weiß die der AD.
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wicklung Tabelle 2). Pérez propagierte ein „Groß-Venezuela", die Venezolaner sprachen von Venezuela saudita, von Saudi-Venezuela.3 Die Fiesta endete schon unter Pérez' Nachfolger Herrera Campins. Die ölgelder waren in Luxuskonsum und als langfristige Geldanlagen ins Ausland abgeflossen, während die Entwicklungsprojekte durch die Aufnahme günstiger, kurzfristiger öffentlicher Kredite finanziert wurden. Der Rückgang der Erdölpreise Anfang der 80er Jahre korrespondierte mit dem starken Anstieg der Zinsen auf den internationalen Kreditmärkten, so dass die öffentlichen Unternehmen die Zinsen für ihre kurzfristigen Kredite nicht mehr zahlen konnten und sich Venezuela 1983 zahlungsunfähig erklären musste. Die öleinnahmen waren 1982 und 1983 um 18 bzw. 12% gefallen, während sich die Auslandsverschuldung zwischen 1978 und 1981 von US$ 16,6 Mrd. auf US$ 32,1 Mrd. verdoppelt hatte und die Schuldendienstverpflichtungen 1983 US$ 13 Mrd. betrugen (vgl. Tabelle 2). Dazu kam eine exorbitante Kapitalflucht (die venezolanischen Privatguthaben im Ausland beliefen sich 1984 auf ca. US$ 30 Mrd.), weshalb sich die Regierung gezwungen sah, am 18. Februar 1983, dem „schwarzen Freitag" Venezuelas, den Bolívar um 300% abzuwerten. Um den rezessiven Tendenzen der Wirtschaft entgegenzuwirken, setzte die Regierung Lusinchi trotz weiter sinkender Erdölpreise (1985/86 reduzierten sich die Erdöleinnahmen um fast die Hälfte) auf eine expansive Fiskalpolitik, finanziert aus den zwischenzeitlich durch die Währungsabwertung erwirtschafteten Überschüssen, den Rückgriff auf die Währungsreserven sowie eine steigende Auslandsverschuldung. Die nachfrageorientierte Politik brachte Venezuela zwar wieder positives wirtschaftliches Wachstum, hinterließ dem neugewählten Präsidenten Pérez aber ein Land am Rande des Bankrotts. Tabelle 2: Wirtschaftsentwicklung Venezuelas 1952-1988 (a) 1952-1988 (durchschnittliche jährliche Wachstumsraten in %) 1952-73
1973-78
1978-82
1982-86
1986-88
BIP
6,6
5,9
-0,1
-0,5
4,4
BIP/Kopf
2,9
2,3
-3,1
-3,2
1,7
8,2
14,8
10,5
2,1 28,8
Inflation
Quelle: Ashoff 1992: 24.
3
Der Petrodollar-Segen, kombiniert mit einem festen Wechselkurs des Bolivar (4,3 für einen Dollar), machte aus Caracas neben Tokio eine der teuersten Städte der Welt; Venezuela erreichte den weltweit höchsten Konsum an schottischem Whiskey und importierte in großen Mengen Äpfel aus Europa. Es entstand eine für lateinamerikanische Verhältnisse breite Mittelschicht, die ihre Wochenenden auf Shopping-Tour in Miami verbrachte, wo Venezolaner den Spitznamen Damedos („Gib mir zwei") erhielten.
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(b) 1970-1988 (1980-88 Durchschnitt pro Jahr) 1970 ölpreis* 1,9 Ölexporteb 2,4 Gesamte Auslandsschuld11 k.A. Öffentliche Auslandsschuld1" 0,7 k.A. Schuldendienstquote a b
1974 10,5 10,8 k.A. 1,5 k.A.
1978 12,2 8,7 16,6 6,9 k.A.
1980-82 1983-85 1986-88 27,8 25,9 14,2 17,7 13,8 8,2 31,2 36,8 34,6 11,5 17,0 25,2 33,8 28,6 48,9
US-Dollar/Fass Mrd. US-Dollar.
Quelle: Ashoff 1992:25.
Die Versuche, das Erdöl zu „säen", d. h. mit Hilfe der Ölrente eine Diversifizierung der Wirtschaft zu erreichen, sind gescheitert; die venezolanische Ökonomie ist hochgradig abhängig vom Erdöl. Bis Mitte der 80er Jahre erwirtschafteten die Erdöleinnahmen 90 bis 95% der Exporterlöse und 60 bis 80% der Haushaltseinnahmen der Regierung. Neben der schlechten ökonomischen Bilanz schlägt besonders negativ die „düstere soziale Bilanz nach der Erdölbonanza" (Ashoff 1992: 20) zu Buche. 1988 lag das Pro-Kopf-Einkommen real um fast 10% unter demjenigen von 1970, wobei sich hinter diesen Durchschnittszahlen eine sehr ungleiche Einkommensverteilung verbirgt, die mit massiver Armut und sozialen Problemen einhergeht. Ende der 80er Jahre lebten über 50% der Venezolaner in Armut; gemessen an sozialen Indikatoren wie Kindersterblichkeit, Analphabetenquote und Einschulungsrate bot Venezuela im Vergleich mit anderen lateinamerikanischen Ländern, die nicht über die Öleinnahmen verfügen konnten, ein ungünstiges Bild. Die negative Bilanz aller Versuche, mit Hilfe der Ölrente und des bürokratischen Entwicklungsstaates die Wirtschaft zu diversifizieren und den allgemeinen Wohlstand der Venezolaner zu erreichen, fasste der mehrfache Minister und Mitbegründer der OPEC, Juan Pablo Pérez Alfonso, bereits 1976 in einem Buch zusammen, das übersetzt den Titel trägt: „Wir versinken in den Exkrementen des Teufels" (Pérez Alfonso 1976). Keine zehn Jahre nach der Ankündigung, einem „Groß-Venezuela" entgegen zu gehen, und nach einer Verfiinfzehnfachung der Ölpreise von 1970 bis 1981 sprachen die Venezolaner angesichts der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung Lateinamerikas, der massiven Abwertung des Bolivars, einer wirtschaftlichen Stagnation bzw. Rezession sowie fallender Realeinkommen zynisch vom „venezolanischen Wirtschaftswunder".
18
5. Ökonomische Krise und Reformversuche Die Präsidentschaftswahlen vom 3. Dezember 1988 gewann Carlos Andrés Pérez, der Kandidat der regierenden AD, mit 52,9% der Stimmen gegen seinen schärfsten Konkurrenten, Eduardo Fernández von der COPEI; die AD wurde wieder stärkste Partei. Im Wahlkampf hatten beide Politiker wirtschaftspolitische Programme vertreten, die auf die Notwendigkeit von Reformen hinwiesen, ohne aber ihre diesbezüglichen Aussagen, die zudem in Widerspruch zu anderen Teilen der Wahlprogramme standen, zu präzisieren, weshalb die wirtschaftspolitischen Statements von der Öffentlichkeit, wenn überhaupt, nur als Wahlrhetorik wahrgenommen wurden (vgl. die Analyse der Wahl von 1988 in Welsch/Werz 1990). Am 2. Februar 1989 trat Carlos Andrés Pérez seine zweite Amtsperiode als Präsident Venezuelas mit großem Pomp an, musste aber schon bald feststellen, dass das Land nahezu bankrott war (vgl. Ashoff 1992: 27): • Die offiziellen Devisenreserven lagen bei US$ 3 Mrd., der liquide Anteil daran betrug lediglich US$ 300 Mio. bei kurzfristigen Verbindlichkeiten von US$ 6,3 Mrd. • Die Schuldendienstquote stieg 1988 auf über 50%. • Das Leistungsbilanzdefizit erreichte 1988 9,6% des BIP. • Dem offiziellen Wechselkurs von 14,50 Bolívares pro US$ stand ein inoffizieller Wechselkurs von 42 Bolívares pro US$ gegenüber. • Real betrug der Zinssatz -15% (1988), was zu Kapitalflucht und verstärkter Inflation führte. • Die Inflation erreichte mit 40% (1987) und 35,5% (1988) für Venezuela enorm hohe Werte. • Das Defizit des öffentlichen Sektors betrug 9,3% (1988). Angesichts dieser Situation schien ein klarer Bruch mit der bisherigen Wirtschaftspolitik und die Durchführung radikaler marktorientierter Reformen, wie sie auch der IWF von dem hochverschuldeten Land vehement einforderte, die sinnvollste Option für den neuen Präsidenten. Das erste Anzeichen für den wirtschaftspolitischen Kurswechsel von Pérez war die Berufung von „Technokraten" in sein Kabinett. Mit ihnen hielten neoliberale Vorstellungen des „Washington Konsenses" Einzug in die venezolanische Wirtschaftspolitik, und am 16. Februar 1989, 14 Tage nach seinem Amtsantritt, gab Pérez die neue Wirtschaftspolitik seiner Regierung bekannt und verkündete el gran viraje, die große Wende, ihr Stabilisierungs- und Strukturanpassungsprogramm (vgl. Ashoff 1992: 29 f., Naim 1993a: 52 f.). Das sehr kurzfristig angelegte, größtenteils zwischen dem 17. Februar und dem 1. April 1989 durchgeführte, schockartige Stabilisierungsprogramm beinhaltete die Freigabe der Wechselkurse, die Abschaffung von Preiskontrollen, die 19
Einführung marktorientierter Zinsen, die Reduzierung öffentlicher Ausgaben sowie Preiserhöhungen bei öffentlichen Gütern und Dienstleistungen, eine komplette Überholung des Steuersystems, wobei die Einführung einer Mehrwertsteuer beabsichtigt war, und die Neuverhandlung der Schuldenrückzahlungen mit dem IWF. Das Stabilisierungsprogramm war als Voraussetzung für den strukturellen Umbau der venezolanischen Ökonomie gedacht, der durch ein mittelfristig geplantes Strukturanpassungsprogramm erreicht werden sollte, das Handelsliberalisierung, die Deregulierung der Wirtschafts- und Finanzmärkte ebenso wie des Arbeitsmarktes, ein umfassendes Privatisierungsprogramm sowie eine Reform der Sozialpolitik beinhaltete. Zusätzlich plante die Pérez-Regierung administrative Reformen, die auf Dezentralisierung abzielten. Innerhalb kurzer Zeit wurden wesentliche Teile des Stabilisierungsprogramms umgesetzt. 1989 wurden der Wechselkurs, die Zinsraten sowie fast alle Preise freigegeben und die Preise für öffentliche Dienstleistungen erhöht. Im August 1990 erreichte Pérez in Verhandlungen mit dem IWF erfolgreich die Umschuldung Venezuelas, wodurch die Schuldendienstquote halbiert wurde. Im gleichen Jahr reduzierte die Regierung drastisch die Zölle, verringerte Subventionen, schaffte Importlizenzen ab und liberalisierte die Bestimmungen über ausländische Investitionen und Aktienhandel. Bis 1991 wurden verschiedene Privatisierungsprojekte durchgeführt. Die staatliche Fluggesellschaft VIASA, mehrere Banken, Werften, Hotels und eine staatliche Telefongesellschaft wurde verkauft, weitere Verkäufe waren geplant. Die angekündigte Steuerreform wurde ausgearbeitet, aufgrund heftigen Widerstands im Kongress jedoch nicht umgesetzt. In der Sozialpolitik wurde die bisherige Praxis indirekter Subventionen, die die Preise von Nahrungsmitteln künstlich billig hielten, aufgegeben und durch Programme der direkten Armenhilfe, Nahrungsmittelhilfen und Schulspeisungen ersetzt. Im politischen Bereich wurde die Direktwahl von Bürgermeistern und den Gouverneuren der Bundesstaaten, die zuvor vom Präsidenten ernannt worden waren, eingeführt. Das Stabilisierungsprogramm entfaltete die beabsichtigte „schöpferische Zerstörungskraft". Mit einem Rückgang des BIP von 8,6%, einer Inflationsrate von 81%, einem Anstieg der offiziellen Arbeitslosigkeit auf fast 10% (nichtoffizielle Zahlen gehen von einer doppelt so hohen Zahl aus und schätzen die Unterbeschäftigung auf über 40%), sowie einem massiven Kaufkraftverlust der Bevölkerung (die Einkommen sanken um 11%, das verfügbare persönliche Einkommen sogar um 14%) erlebte Venezuela 1989 die schlimmste Rezession seiner Geschichte. 1990 und 1991 schloss sich daran ein bemerkenswertes Wachstum an, woran allerdings die im Zuge der Golfkrise gestiegenen Erdölpreise einen gewichtigen Anteil hatten. Das BIP wuchs um 6,5% (1990) und 10,4% (1991), womit Venezuela das weltweit höchste Wachstum erreichte. Das öffentliche Defizit wandel20
te sich ebenso wie das Leistungsbilanzdefizit in einen Überschuss, die Arbeitslosigkeit ging auf 7,8% zurück. Die Devisenreserven stiegen wieder auf US$ 13 Mrd. an, die Inflation ging ebenfalls zurück, blieb aber mit 31% (1991) immer noch auf einem für Venezuela sehr hohen Niveau (vgl. Tabelle 3). Tabelle 3: Wirtschaftsentwicklung Venezuelas (1988-1991) 1988
1989
1990
1991
5,8
-8,6
6,5
10,4
Saldo des öffentlichen Sektors *
-9,3
0,7
-9,6
-1,1 5,0
0,2
Saldo der Leistungsbilanz b
17,0
Schuldendienstquote
50,3
27,3
23,2
3,1 27,7
Inflation
BIP" 1
35,5
81,0
36,5
31,0
Arbeitslosigkeit
6,9
9,6
9,9
8,7
BIP/Kopf
3,0
-10,8
4,0
7,8
-3,6
-25,9
-4,4
-5,4
Einkommen a b
0
Wachstum in % in % des BIP
c
Veränderung des Familieneinkommens aus unselbständiger Arbeit in %.
Quelle:
Eigene Darstellung nach Ashoff 1992.
Der makroökonomisch eindrucksvollen Wachstumsbilanz stand aber eine sozial ungünstige Entwicklung gegenüber. Der damalige Industrieminister Moisés Naím räumte ein: Trotz dieser positiven Ergebnisse litt die Befriedigung elementarer Gnindbedürfnisse unter der Abschaffung der Subventionen und Preiskontrollen. Zudem schuf die Reduzierung der öffentlichen Ausgaben und die dadurch bedingte Einschränkung der Qualität und Erreichbarkeit Öffentlicher Dienstleistungen zusätzliche Schwierigkeiten für die Armen (Naim 1993c: 80).
So verbergen die scheinbar erholten Zahlen des Arbeitsmarktes, dass dahinter starke Einkommenseinbußen stehen, da viele Arbeiter gut bezahlte Arbeitsplätze verloren hatten und sich mit wesentlich schlechter bezahlten Jobs zufrieden geben mussten. Die Reallöhne waren 1990 noch unter das Lohnniveau von 1955 gesunken. Die Reform der Sozialpolitik hinkte weit hinter den Bedürfhissen und Erwartungen hinterher, nicht zuletzt aus dem einfachen Grund, dass die Abschaffung von Subventionen mit einer Unterschrift dekretiert werden kann, sozialstaatliche Maßnahmen aber, die nur Bedürftigen zugute kommen, einer sozialstaatlichen Bürokratie bedürfen, die es in Venezuela in dieser Form bis dato nicht gab und die nicht schnell und effektiv genug aufgebaut werden konnte. Die Einsparungen im öffentlichen Sektor brachten die öffentlichen Dienstleistungen im Wohnungssektor, im Gesundheits-, Erziehungs- und Transportwesen 21
an den Rand des Zusammenbruchs, eine Tatsache, die Naim mit den Worten kommentierte: „Makroökonomische Stabilisierung ohne fließendes Wasser, arbeitende Krankenhäuser und ein öffentliches Transportwesen erwirbt keine politische Unterstützung" (Naim 1993b: 171). Als besonders problematisch erwies sich die Abschaffung der Subventionen auf Nahrungsmittel, die zu einer Preissteigerung führte, die noch über der durchschnittlichen Inflationsrate lag (vgl. Tabelle 4). Tabelle 4: Preisanstieg in Venezuela 1989-1991 Inflationsrate Nahrungsmittel Quelle:
1989 81,0 103,0
1990 36,5 40,0
1991 31,0 32,4
Eigene Darstellung nach Ashoff 1992:45.
Die Einkommenseinbußen sowie die Preisanstiege bei Nahrungsmitteln führten unweigerlich zu einem Anstieg der Armut, so dass 1991 zwei Drittel der Venezolaner in Armut lebten, ein Drittel gar in kritischer Armut.
6. Politische Krise Die erste Reaktion auf el paquete, auf die Reformmaßnahmen, kam bereits am 27. Februar 1989. Am 26. Februar waren die Benzinpreise um fast 80% erhöht worden, von umgerechnet sieben auf 13 Pfennige pro Liter; die Transportpreise sollten um 30% erhöht werden, woraufhin die zumeist privaten Kleinunternehmer, die den Bustransport im Großraum Caracas organisieren, mit einer Verdreifachung der Fahrpreise reagierten, um die gestiegenen Kosten aufzufangen. Die Fahrgäste, zumeist aus ärmeren Verhältnissen, konfrontiert mit den erhöhten Fahrpreisen und der Weigerung der Busunternehmer, gesetzlich verbürgte, verbilligte Tarife für Schüler und Studenten zu akzeptieren, reagierten mit Protesten und Ausschreitungen. Rasch eskalierte die Situation. Busse gingen in Flammen auf, die Proteste weiteten sich aus, es kam zu Plünderungen. Die Unruhen griffen auf andere Städte über, während die Polizei tatenlos zusah oder sich sogar mit den Aufständischen solidarisierte. Auf die spontane soziale Explosion folgten gezielte Aktionen organisierter Banden und militanter linker Splittergruppen, woraufhin die Regierung Militär und Nationalgarde antreten ließ und den Ausnahmezustand verhängte. Der massive Schusswaffengebrauch der Militärs beendete den Volksaufstand rasch, forderte aber in den Armutsvierteln viele Todesopfer. Die Angaben über deren Anzahl schwanken zwischen offiziellen 246 Toten und weit über 1000 Toten nach Angaben von Menschenrechtsgruppen. Dieser spontane Volksaufstand, der Caracazo, führte national und international zu großer Beunruhigung, signalisierte er doch das Ende der durch die Ölrente erzeugten Pseudo-Stabilität und offenbarte die „Lateinameri22
kanisierung" Venezuelas (vgl. Werz 1990, zum Caracazo vgl. ausführlich Kornblith 1989). Trotz dieser Ereignisse änderte Pérez den Wirtschaftskurs nicht und hielt an den neoliberalen Reformen fest. Die Reformpolitik wurde quasi im Alleingang von der Regierung ohne Diskussion per Erlass und Dekret implementiert. Die relevanten politischen Akteure, die Parteien, die Gewerkschaften und die Unternehmer kritisierten sie zumindest teilweise oder lehnten sie grundsätzlich ab, wurden aber nicht konsultiert und waren auch nicht in der Lage, eine organisierte Opposition oder gar eine Alternative zu stellen. Nur in einzelnen Fällen, in denen die Opposition geeint und entschieden auftrat, konnte sich die Regierung nicht durchsetzen.4 Im Kongress ging die Spaltung der Reformgegner und -befíirworter quer durch die Parteien. Die Pro-Reformer der AD, die Renovadores, die Erneuerer, wurden von einer COPEI-Fraktion um Eduardo Fernández unterstützt. Beide sahen sich der Kritik des COPEI-Gründers Rafael Calderas ausgesetzt, der einer der Wortführer der Anti-Reform-Opposition wurde. Unterstützt wurde er nicht nur von gleichgesinnten COPEI-Abgeordneten, besonders die Ortodoxos des populistischen Mehrheitsflügels der AD, die bereits gegen die Kandidatur von Pérez gewesen waren, opponierten mit ihm. Dieser Parteiflügel war auch besonders gewerkschaftsnah, was die gewerkschaftliche und parteiliche Opposition gegenseitig verstärkte. Die CTV bezog klar Stellung gegen die mit Entlassungen und Einkommenseinbußen verbundene Wirtschaftspolitik. Die korporatistischen Jahre des Populismus hatten die Gewerkschaft jedoch „flügellahm" werden lassen, mit Funktionären, die sich besonders der Parteiführung der AD unterworfen und nur geringe Unterstützung ihrer Basis hatten. Die FEDECAMARAS war zwar grundsätzlich einer marktorientierten Reformpolitik gewogen, der erhöhte Konkurrenzdruck und die stark gesunkene Binnennachfrage führten aber schnell zu Kritik seitens einzelner Branchen. Diese Interessenkonflikte innerhalb der FEDECAMARAS erschwerten die explizite Vertretung einer politischen Position. Doch keine oppositionelle Seite legte ein kohärentes und konstruktives Alternativkonzept zur Regierungspolitik vor. Unter dem Eindruck des anarchischen, von keiner politischen oder gesellschaftlichen Gruppe gesteuerten Volksaufstandes vom 27. Februar 1989 hielten sich die politischen Akteure zudem zurück, wohl auch, um Venezuela nicht der Gefahr erneuter anomischer Auseinandersetzungen auszusetzen. Diese Schwäche der Zivilgesellschaft, die nicht in der Lage war, wichtige politische Interessen zu artikulieren, führte dazu, dass große So bei der beabsichtigten Liberalisierung des Arbeitsmarktes, die von Kongress und Gewerkschaften abgelehnt wurde. Der Kongress verabschiedete 1990 statt der Regierungsvorlage ein von Caldera vorgelegtes Arbeitsgesetz, das Naim als „Rückfall in die schlimmsten Exzesse des Populismus" kritisiert (Naim 1993c: 83).
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Teile der Bevölkerung, die mit der Regierungspolitik unzufrieden waren, ihre Unzufriedenheit auf alle etablierten politischen Akteure ausdehnten. Die Bevölkerung äußerte ihre anhaltende Unzufriedenheit bei den Direktwahlen der Gouverneure der Bundesstaaten und der Bürgermeister der Stadt- und Landgemeinden am 3. Dezember 1989, die erstmals in der Geschichte Venezuelas stattfanden (vgl. die Wahlanalyse in Welsch/Werz 1990: 111 ff.). Die Ergebnisse der Wahlen waren deutlich: Die Regierungspartei AD erlitt eine klare Niederlage, die Wahlenthaltung von 55% im nationalen Durchschnitt, in Caracas sogar von 70% der Wahlberechtigten (trotz einer bestehenden Wahlpflicht!) wurde als eindeutiger Protest, nicht nur gegen die Regierungspartei, sondern auch gegen die politischen Akteure generell verstanden. Der Unmut der Bevölkerung äußerte sich (außer bei dieser Protestwahl) in einem massiven Anstieg von Streiks und Demonstrationen, bei denen Lehrer, Krankenhausbedienstete, Universitätsdozenten, Studenten, Bauern, Apotheker, Polizisten, Hypothekenschuldner, öffentlich Bedienstete und andere Bevölkerungsgruppen gegen die schweren sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Wirtschaftspolitik protestierten. Im November 1991 fand ein Generalstreik aller Gewerkschaftsverbände statt, um gegen die Kosten der Reformen zu demonstrieren. Ungeachtet der Opposition und der Proteste verfolgte die Regierung weiterhin ihre Reformpolitik, bestärkt durch die sich einstellenden makroökonomischen Erfolge. Venezuela galt in internationalen Finanz- und Wirtschaftskreisen bereits als gelungenes Beispiel einer neoliberalen Reformpolitik unter demokratischen Bedingungen. Diese Einschätzung änderte sich mit dem Putschversuch vom 4. Februar 1992 (vgl. zu Verlauf und Analyse des Putschversuches ausführlich Sonntag/Maingón 1992). Gruppen von Eliteeinheiten der venezolanischen Armee, angeführt von Offizieren mittlerer Ränge, versuchten, den Präsidentenpalast sowie mehrere militärische Einrichtungen in Caracas und in anderen Städten des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen. Präsident Pérez konnte entkommen und gelangte zu einer privaten Fernsehstation, von wo aus er die Befehlshaber der mehrheitlich loyalen Streitkräfte kontaktierte und in einer Fernsehansprache die durch die Kämpfe verunsicherte Bevölkerung beruhigen konnte. In den frühen Morgenstunden war der Putschversuch unter Kontrolle, die von den Putschisten erhoffte Unterstützung durch die Bevölkerung hatte nicht stattgefunden, nicht zuletzt deshalb, weil es die Aufständischen nicht schafften, Femseh- oder Radiostationen unter ihre Kontrolle zu bringen.5 3
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Naim berichtet von dilettantischen Versuchen: Eine Gruppe der Aufständischen hatte versucht, eine private Fernsehstation zu erobern, musste aber feststellen, dass diese ihren Sendebetrieb drei Jahre zuvor verlagert hatte. Eine andere Gnippe eroberte den öffentlichen Fernsehsender und verlangte, eine Videokassette mit einer Ansprache an die Bevölkerung zu senden. Der Leiter des Senders konnte die Soldaten davon aberzeugen, dass dieses Vi-
Der Regierung unterlief dann aber ein folgenschwerer Fehler: Um die verbliebenen Aufständischen zur Aufgabe zu bewegen, sollte der Anführer, Oberstleutnant Hugo Chávez Frías, in einem vorbereiteten Videoband zur Kapitulation auffordern. Stattdessen ging er kurz vor Mittag am 4. Februar live und landesweit auf Sendung. In seiner Rede übernahm er die volle Verantwortung fiir den Aufstand, den er „leider" fiir gescheitert erklärte (mit dem Zusatz ,por ahora" für heute), lobte aber die „gute Arbeit" der anderen Beteiligten und forderte sie auf, die Waffen zu strecken, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Er schloss mit dem Hinweis: „Es werden neue Umstände eintreten. Das Land muss endlich einer besseren Zukunft entgegengehen."6 Naim beschreibt den Eindruck, den die Rede bei vielen Venezolanern hinterlassen hatte: Eine öffentliche Person, die ihr persönliches Versagen eingesteht und die gute Arbeit anderer lobt, die trotz Versagens und Niederlage nicht schwankt, die zu ihrer Verantwortung steht und sich nicht den Auswirkungen ihrer Handlungen zu entziehen versucht, war ein ungewöhnlicher Anblick für die Fernsehzuschauer, die die verbalen und politischen Ausweichungen der traditionellen Politiker gewöhnt waren. Aber mehr als alles andere vermittelte dieses gesendete Bild die Möglichkeit des Wechsels, des unmittelbaren Brochs mit den politischen und ökonomischen Schemen, die immer für die Probleme des Landes herhalten mussten. Ein neues Gesicht, unverbunden mit den herkömmlichen Machtstrukturen, die das politische und ökonomische Leben dominiert hatten, das anbot, die Nation zurück zum gelobten Land des Wohlstands, der Gleichheit und der Ehrlichkeit zu führen, war ein Produkt, das unbeachtet seiner Verpackung, sehr anziehend auf die Zuschauer wirken musste (Naim 1993b: ISO).
Die Anführer der Aufständischen waren gut ausgebildete Offiziere im Range von Oberstleutnants (Chávez besaß einen Universitätsabschluss in Politikwissenschaft), die seit längerer Zeit ihre Unzufriedenheit über die sozioökonomischen und politischen Zustände in Venezuela nicht verhehlt und sogar Kontakt zu linken Guerillagruppen wie der Bandera Roja oder dem Tercer Camino gesucht hatten.7
6 7
deoband ein inkompatibles Format hatte, und die Überspielung zog sich derart in die Länge, dass loyale Truppen die Situation längst unter Kontrolle hatten. Ein weiteres Beispiel für die fast lächerliche Unprofessionalität ist, dass es Pérez gelang, den Putschisten durch eine Hintertür des Präsidentenpalastes zu entkommen. Solche Fehler verleiten nicht nur Naim zu dem Urteil, es habe sich um ein „nicht sehr abgeklärtes und eher primitives Herangehen der Verschwörer" gehandelt (vgl. Naim 1993b: 176, FN 7). Abdruck der Rede in der Tageszeitung El Universal, 5. Februar 1992. Zudem waren sie auch persönlich von den ökonomischen Reformen betroffen, die auch dem Militär Opfer abverlangt hatten. Der Lebensstandard der einfachen Soldaten, Unteroffiziere und jüngeren Offiziere unterer Ränge war stark gesunken, vielfach konnten sie sich Mieten und Gesundheitsfürsorge kaum mehr leisten. Ende 1991 hatte der Kongress einen Vorschlag des Verteidigungsministeriums, der die Verbesserung sozialstaatlicher Leistungen als Ausgleich für Militäipersonal vorsah, um die Hälfte gekürzt (vgl. Ewell 1993: 124).
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Die soziale Explosion am 27. Februar 1989, die das Militär eher widerwillig niederschlagen musste, die anhaltenden Unruhen und Demonstrationen der Bevölkerung in den folgenden Jahren, wie auch die am eigenen Leib erfahrenen Kosten der Reformpolitik radikalisierten die Politisierung der Offiziere des venezolanischen Militärs, das bis dato für Lateinamerika als vorbildlich professionalisiert und zivil kontrolliert galt. Die Gruppe, die sich Movimiento Nacionalista Bolivariano Revolucionario200 nannte, kritisierte unter Berufung auf die Ideale des venezolanischen Nationalhelden Simón Bolívar die immense und strafrechtlich nicht verfolgte Korruption, den .Ausverkauf des Vaterlandes" durch die Privatisierungspolitik und die zu nachgiebige Haltung der Regierung im Grenzstreit mit Kolumbien, die Ineffizienz des öffentlichen Dienstes sowie generell die Wirtschaftspolitik, die eine große Zahl von Venezolanern in Armut ließ, und forderte die Einrichtung einer zivil-militärischen Regierung, die die Demokratie erneuern sollte. Diese Forderungen stießen auf große Sympathie bei der Bevölkerung. Besonders in den Armenvierteln und bei Studenten wurde Chávez als Held glorifiziert. Neben dem Auftritt von Chávez gab es am 4. Februar noch eine weitere bemerkenswerte Rede. Am Nachmittag übertrugen sämtliche Fernseh- und Radiostationen Venezuelas eine Sitzung des Kongresses, in der alle Parteien Pérez ihre Unterstützung versichern und der Verhängung des Ausnahmezustandes zustimmen wollten. Der angesehene Altpräsident Caldera nutzte die Gelegenheit, um in einer Rede, die ihn schließlich neben Chávez zum beliebtesten Venezolaner machen sollte, Missbilligung, aber auch Verständnis für die Putschisten zu äußern sowie eine harsche Kritik an der Regierung und besonders an der Wirtschaftspolitik, die er für die Verarmung der Bevölkerung und letztendlich auch für den Putschversuch verantwortlich machte, zu üben. Der Putschversuch und die Reden von Chávez und Caldera „elektrisierten" die Opposition. In der Zeit von Februar bis Juni gab es 451 Demonstrationen gegen Pérez, 199 davon gewalttätig; Nachbarschaftskomitees organisierten Bürgerstreiks, bei denen ein ganzer Stadtteil mitmachte; am 10. März äußerten zwei Millionen Caraqueños ihren Protest, indem sie auf Kochtöpfe und Pfannen schlugen und Lärm machten (Cacerolazo), am 8. April wiederholte sich das ganze mit Trillerpfeifen (Pitazo). Diese Proteste waren von keiner politischen Gruppierung organisiert und wie der Caracazo vom 27. Februar 1989 spontaner Ausdruck des Protestes der Bevölkerung nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen die etablierten politischen Akteure. Die parlamentarische Opposition, gestärkt in ihrer Ablehnung der Regierungspolitik, verlangte vehement eine Revidierung des wirtschaftspolitischen Kurses und den Rücktritt des Präsidenten. Unterstützung erhielt sie von Gewerkschaften, Teilen der Unternehmer sowie verschiedenen Sektoren und Gruppen der Gesellschaft, die durch die ökonomischen Reformen eine Verschlechterung ihrer ökonomischen Situation hatten hinnehmen müssen: öffentlich Bedienstete, Lehrer, Professoren, Studenten, Berufsverbände, Bauern, etc. In der 26
Forderung nach dem Rücktritt von Pérez, der nicht nur fiir die ökonomischen Einbußen, sondern nun auch für die Krise der Demokratie persönlich verantwortlich gemacht wurde, fand sich der kleinste gemeinsame Nenner einer hierin übereinstimmenden Opposition. Pérez reagierte auf die Angriffe mit kosmetischen Korrekturen der Reformpolitik, mehreren Kabinettsumbildungen und einem fehlgeschlagenen Versuch, die politische Basis seiner Regierung zu vergrößern. Insgesamt zeigte Pérez ein nervöses Schwanken zwischen decretismo und Versuchen des pactismo, um seine Regierung zu konsolidieren, doch durch die Stärkung der Opposition im Gefolge des Putschversuches war es zu einer Blockadesituation der Politik gekommen. Die Zeit der politischen Unruhen und Instabilität hielt an, zu den permanenten Demonstrationen kamen Mordanschläge hinzu, die Regierung verschärfte daraufhin die Repression. Dazu kam ein rasanter Anstieg der Kriminalität, Anzeichen einer sozialen Zersetzung, auf die die Staatsgewalt mit zunehmender Missachtung der Menschenrechte reagierte. Pérez betonte in dieser Situation seinen Willen, seine Amtsperiode bis zum vorgesehenen Ende durchzustehen und trotz des Putschversuches am Reformprogramm festzuhalten. Am 27. November 1992 putschte das Militär ein zweites Mal, wiederum erfolglos (vgl. zum November-Putschversuch Naim 1993c: 108 ff.). Einheiten der Luftwaffe, kommandiert von Generälen und hochrangigen Offizieren, griffen den Präsidentenpalast und militärische Einrichtungen in Caracas und Maracay an, wurden jedoch innerhalb eines Tages von regierungstreuen Truppen besiegt. Ein Teil der Putschisten flüchtete nach Peru, wo ihnen Asyl gewährt wurde. Der Putschversuch, der offiziellen Angaben zufolge 300 Opfer forderte, unterschied sich wesentlich von dem Putschversuch im Februar. Lancierte Informationen der Putschisten aus Peru deuten auf eine Verschwörung der Generäle mit hochrangigen Persönlichkeiten aus Kirche, Universitäten und politischen Parteien, auch aus AD und COPEI. Ziel der Erhebung war die Errichtung einer zivil-militärischen Regierung der „nationalen Einheit", die Ruhe und Ordnung wiederherstellen und das Land zurück auf den Pfad der Prosperität führen sollte. Im Gegensatz zu der Erhebung von jüngeren Offizieren mittlerer Ränge mit einem deutlichen nationalistisch-populistischen Impetus vom 4. Februar hatte die Erhebung vom 27. November einen konservativen Charakter, aufgrund der hochrangigen Beteiligung halten Sonntag/Maingón den Putschversuch fiir „eine verschärfte Wiederauflage des 4. Februar" (vgl. Sonntag/Maingón 1992: 71). Mit den Putschversuchen zeigte sich das Militär wieder als relevanter politischer Akteur in Venezuela. Die beiden Rebellionen deckten jedoch auch die interne Spaltung des Militärs in einen linkspopulistischen und einen rechtskonservativen Flügel, beide demokratiekritisch, sowie einen demokratietreuen Flügel auf. Diese Spaltung trug wesentlich zum Scheitern beider Putschversuche bei. Einige Tage nach dem zweiten Putschversuch, am 6. Dezember 1992, fanden Regional- und Kommunalwahlen statt. Obwohl die Wahlenthaltung leicht zu27
rückging, blieb sie mit über 50% immer noch sehr hoch. Klarer Verlierer war die AD, die nur noch in fünf Bundesstaaten den Gouverneursposten gewann. Die COPEI gewann zwölf, MAS zwei. Zu den Siegern zählt auch die linke, radikaldemokratische Partei LCR {La Causa Radical), die den drei Jahre zuvor überraschend eroberten Gouverneurssitz im wichtigen Industriestaat Bolívar verteidigte und völlig überraschend in Caracas das wichtigste Bürgermeisteramt des Landes gewann.8 In den folgenden Monaten verschlechterte sich das politische Klima weiter: Mordanschläge auf Oppositionspolitiker, für die Hardliner der AD verantwortlich gemacht wurden; schwere Studentenunruhen, die Schulen und Universitäten lähmten; lang andauernde Streiks von Lehrern und Justizangestellten; die Opposition im Kongress buhte Pérez anlässlich einer Rede öffentlich aus - doch weiterhin weigerte er sich beständig, den von allen Seiten erhobenen Rücktrittsforderungen nachzukommen und betonte seine Absicht, bis zu den kommenden Präsidentschaftswahlen, bzw. bis zur Amtsübergabe an einen gewählten Nachfolger im Amt zu bleiben. Die Situation kulminierte, als der Oberstaatsanwalt Venezuelas im März 1993 Anklage gegen Pérez wegen Unterschlagung erhob. Im Mai wurde Pérez, der vehement seine Unschuld betonte, vom Kongress von seinem Amt suspendiert, und Senatspräsident Octavio Lepage übernahm die Amtsgeschäfte, bis der Kongress mit AD- und COPEI-Mehrheit im Juni den angesehenen Historiker und Senator Ramón Velásquez zum Interimspräsidenten ernannte. Die Interimsregierung sah sich in ihrer etwa sechsmonatigen Amtszeit vor die Aufgabe gestellt, die politische Instabilität in den Griff zu bekommen und gleichzeitig die ökonomischen Probleme zu lösen. Während das BIP 1992 noch einmal kräftig gewachsen war (7,3%, der Privatsektor sogar um 13,1%), war die Inflation mit 31,9% auf einem hohen Niveau geblieben. Der öffentliche Sektor hatte ein Defizit in Höhe von 6,1% des BIP erwirtschaftet (vgl. Tabelle 5). 1993 war Venezuela dann in eine Rezession geraten. Mit steigender Inflation, einem öffentlichen Defizit und einem Rückgang des BIP konfrontiert, sah sich die Regierung gezwungen zu handeln. Der Kongress erließ im August 1993 ein Ermächtigungsgesetz, die Ley Habilitante, die der Regierung Vollmachten über die Durchfuhrung schneller ökonomischer Maßnahmen ohne Konsultation der Legislative erteilte. Mit diesem Gesetz konnte die Regierung Reformmaßnahmen wie die Einfuhrung einer Mehrwertsteuer durchführen, also im Wesentlichen der Wirtschaftspolitik von Pérez folgen, während die Parteien im Kongress, die sich immer gegen eine Mehrwertsteuer ausgesprochen hatten, der Öffentlichkeit gegenüber keine Verantwortung für diese Maßnahmen übernahmen. 8
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Die LCR hatte Ober die Jahre eine starke Bindung zu den neuen unabhängigen Gewerkschaften des Nuevo Sindicalismo im Industriestaat Bolivar aufgebaut. Diese syndikalistische Verbindung, zusammen mit den basisdemokratischen Ansichten der demokratischsozialistischen Partei, verschaffte der LCR einen großen Sympathieaufschwung (vgl. zur LCR Löpez Maya 1994).
Tabelle 5: Wirtschaftsentwicklung Venezuelas 1992-1993 BIP' Privatsektor" Inflation* öffentlicher Sektorb
1992 7,3 13,1 31,9 -6,1
1993 -1,0 -2,1 46,0 -6,7
a Wachstum in % b Saldo in % des BIP. Quellen: Eigene Darstellung nach Daten der Dresdner Bank Lateinamerika.
Die Parteien waren seit März mit den Vorbereitungen für den Präsidentschaftswahlkampf beschäftigt (vgl. zu den Wahlen Molina/Pérez 1994 und Welsch/ Werz 1994). AD und COPEI ließen ihre Kandidaten in Vorwahlen aussuchen, die COPEI öffiiete diese sogar für die ganze Bevölkerung. Bei der AD siegte Claudio Fermín, ehemaliger Bürgermeister von Caracas und als moderater Kritiker der neoliberalen Politik bekannt. Er führte einen zurückhaltenden Wahlkampf, in dem kaum programmatische Aussagen gemacht wurden. Die COPEI schickte den Gouverneur des Bundesstaates Zulia, Osvaldo Alvarez Paz ins Rennen. Paz, der als Kandidat der Wirtschaft galt und dementsprechend Gelder zur Verfügung hatte, startete als integrer und angesehener Regionalpolitiker, gewann aber als entschiedener Befürworter neoliberaler Reformpolitik kaum an Sympathien in der Bevölkerung. Enttäuscht über das Ergebnis der COPEI-Vorwahlen war der Pérez-Kritiker Rafael Caldera, der selbst Ambitionen als Präsidentschaftskandidat hatte. Er trat schließlich als unabhängiger Kandidat an und scharte ein buntes Spektrum an Kleinparteien von links (MAS) bis rechtsextrem um sich, die ein Wahlbündnis, die Convergencia Nacional, bildeten. Die COPEI schloss den Parteigründer daraufhin aus der Partei aus. Ein weiterer Kandidat mit Chancen war Andrés Velásquez von der LCR, Gouverneur des Bundesstaates Bolívar, der als Anti-Establishment-Kandidat auftrat und so große Sympathien erwarb. Die Wahlen gewann Caldera mit 30,5% der Stimmen, vor Fermín, Paz und Velásquez (vgl. Tabelle 6). Calderas Sieg fiel überraschend eindeutig aus. Einen Achtungserfolg erreichten auch Fermín als Kandidat der Partei des ungeliebten Präsidenten Pérez, und Velásquez; überraschend schlecht schnitt Paz ab, der in frühen Umfragen als Favorit gehandelt worden war.
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Tabelle 6: Präsidentschaftswahlen in Venezuela 1988 und 1993 1988 Kandidat Carlos Andrés Pérez (AD) Eduardo Fernández (COPEI) Teodoro Petkoff(MAS) Andrés Velásquez (LCR) Sonstige Wahlbeteiligung
% 53,0 40,4 2,7 0,3 3,4 81,9
1993 Kandidat Claudio Fermín (AD) Osvaldo Alvarez Paz (COPEI) Rafael Caldera (Convergencia) Andrés Velásquez (LCR) Sonstige Wahlbeteiligung
% 23,6 22,1 30,5 21,9 1,3 60,2
Quelle: Eigene Darstellung nach Huneeus/Thibaut 1993 und Molina/Pérez 1994.
Allerdings hatte Caldera im Parlament zunächst keine Mehrheit hinter sich (vgl. Tabelle 7). Die ihn unterstützenden Gruppierungen, Convergencia und MAS, gewannen nur 50 von 203 Abgeordneten- und elf von 50 Senatorensitzen. Tabelle 7: Parlamentswahlen in Venezuela 1988 und 1993 1988 Partei
% Senatssitze Abgeordnete
AD 43,3 COPEI 31,1 MAS 10,2 LCR 1,6 Convergencia Sonstige 8,9 Wahlbeteiligung
22 20 3 -
1 81,7%
97 67 18 3 -
16
1993 Senat" Abgeordnetenhaus* % % Sitze Sitze 24,1 16 23,3 55 22,9 14 22,6 53 24 10,9 5 10,9 9 20,7 20,8 40 13,4 6 13,6 26 8,0 9 5 60,2%
a
getrennte Wahl.
Quelle:
Eigene Darstellung nach Huneeus/Thibaut 1993, Molina/Pérez 1994.
Die Tatsache, dass die Altparteien bei den Präsidentschaftswahlen fast 50% und bei den Parlamentswahlen fast 30% der Stimmen einbüßten, ließ Kommentatoren vom Ende der Zweiparteienhegemonie in Venezuela sprechen (vgl. Molina/Pérez 1994: 87f. und Welsch/Werz 1994: 160). Umfragen zeigten, dass die Motivation zur Stimmabgabe hauptsächlich darin bestand, eine Änderung der Wirtschaftspolitik herbeizuführen und die etablierten politischen Parteien, vor allem AD und COPEI, als Mitverantwortliche für die Misere Venezuelas zu bestrafen. Caldera verkörperte nicht nur als prominenter Reformkritiker und abtrünniges COPEI-Mitglied diesen Wunsch; als erfahrener Politiker kam er auch dem Bedürfnis nach, die Regierungsmacht in be30
währte Hände zu übergeben, und repräsentierte so optimal Kontinuität und Wandel gleichzeitig. Die Regierung Caldera erreichte schließlich die Tolerierung seitens der AD und vollzog mit deren Unterstützung den versprochenen wirtschañspolitischen Wechsel, wodurch die weitere Destabilisierung des venezolanischen politischen Systems aufgehalten werden konnte. Der venezolanische Politologe Aníbal Romero beurteilte Calderas Strategie: Calderas anachronistische Wirtschaftspolitik - abzielend auf die Wiedererrichtung von Etatismus und Populismus - half, da sie Wünschen der Bevölkerung entgegenkam und dadurch die essentielle Unterstützung von AD [...], MAS und Calderas eigener Partei, der Convergencia Nacional, erreichte, die Politik für eine gewisse Zeit zu stabilisieren. Zwischen 1994 und 1996 verschlechterte die etatistische und populistische Politik des Präsidenten (Wechselkurs-, Preis- und Zinskontrollen, Protektionismus, Subventionen und ein Stop der Privatisierung) die ökonomische Situation des Landes, half aber auch, dessen politische Krise einzudämmen (Romero 1996).
Die wirtschaftliche Entwicklung9 zwang Caldera im April 1996 im Rahmen der so genannten Agenda Venezuela zu einer Rückkehr zu marktwirtschaftlicher Reformpolitik und zur Aufnahme von Verhandlungen mit dem IWF (vgl. Romero 1997). Dieser erneute Kurswechsel, Widersprüche und Unstimmigkeiten im Krisenmanagement sowie abbröckelnde politische Unterstützung führten immer tiefer in die politische und sozioökonomische Krise. Das ehemals stabile Zweiparteiensystem Venezuelas war seit Beginn der 90er Jahre durch Auflösung, Instabilität der Parteien und hohe Volatilität der Wählerstimmen gekennzeichnet (vgl. Levine/Crisp 1999; McCoy 1999).
7. Fazit: Auftritt Chávez Die venezolanische Bevölkerung lehnte den ökonomischen Kurs ebenso ab wie die etablierten Parteien und Politiker, die diesen Reformkurs verfolgten. Die Quittung kam mit den Wahlen vom Dezember 1998. Der ehemalige Putschist Chávez, von Caldera amnestiert, konnte mit seiner Bewegung Movimiento Quinta República (MVR) die andauernde Stimmung gegen das politische Establishment ausnutzen und erreichte mit 56% der Stimmen die absolute Mehrheit bei den Präsidentschaftswahlen. Schon bei den Kongresswahlen einen Monat zuvor war das 13-Parteien-Bündnis von Chávez, der Polo Patriótico, mit 37% der Stimmen als Sieger hervorgegangen. Zentrales Anliegen von Chávez waren politische Reformen, die durch eine neue Verfassung erreicht werden sollten, sowie der Kampf gegen Korruption, Patronage, Nepotismus und die schwere 9
Rezessionen 1994 (Rückgang des BIP um 2,8%) und 1996 (Rückgang des BIP um geschätzte 1%), anhaltend hohe Inflationsraten (1994: 70,8%, 1995: 56,6%, 1996: geschätzte 105%) sowie eine weiter steigende Arbeitslosigkeit (1996 offiziell ca. 15%, bei einer hohen versteckten Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung im informellen Sektor).
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sozioökonomische Krise, die mittlerweile ca. 80% der Bevölkerung in die Armut gestürzt hatte. Es scheint, als wäre die einstmals gerühmte venezolanische Demokratie eine durch die Ölrente genährte Schönwetterdemokratie gewesen, die funktionierte, solange genügend populistischer Brosamen für die Bevölkerung abfiel. Venezuela war für lateinamerikanische Verhältnisse politisch herausragend stabil und relativ demokratisch, der Ölreichtum brachte zeitweise das höchste Pro-KopfEinkommen Lateinamerikas, doch Korruption und Missmanagement der Eliten führten das Land in eine profunde sozioökonomische und politische Krise. Die venezolanische Demokratie verlor die Unterstützung der Bevölkerung, die dieser Demokratie und ihren Institutionen nunmehr äußerst kritisch gegenübersteht und stattdessen einen Ausweg aus der Misere in den Heilsversprechungen eines neuen Caudillos sucht.
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Ruth Zimmerling
Venezolanische Demokrade in den Zeiten von Chávez: „Die Schöne und das Biest?" Así que no nos hagan más el favor de decirnos lo que debemos hacer ... No traten de enseñarnos cómo debemos ser, no traten de que seamos iguales a ustedes, no pretendan que hagamos bien en veinte años lo que ustedes han hecho tan mal en dos mil.... ¡Por favor, carajos, déjennos hacer tranquilos nuestra Edad Media! Simón Bolívar1
1. Einleitung Wenn lateinamerikanische Staaten die Aufmerksamkeit der deutschen Presse finden, bedeutet das ñlr sie in aller Regel nichts Gutes. Die erhebliche mediale Aufmerksamkeit, die Venezuela in den vergangenen Jahren zuteil wurde, deutet folglich schon an, dass das Land eine massive Krise durchmacht - wenn man hier angesichts der langen Dauer überhaupt noch von „Krise" sprechen kann. Dass etwa seit Beginn des Irak-Krieges am 20. März 2003 fast überhaupt keine Nachrichten aus Venezuela mehr die deutsche Öffentlichkeit erreichen, heißt umgekehrt leider nicht, dass irgendeines der Probleme, die zu den dramatischen Ereignissen der letzten Jahre geführt haben, gelöst oder eine Lösung dafür auch nur in Sicht wäre. Aus politologischer Sicht stellt sich angesichts dieser Lage sofort die Frage nach den Ursachen und insbesondere danach, ob die Verantwortung ausschließlich bei der Person Hugo Chávez bzw. der von ihm angeführten politischen „Bewegung" zu suchen ist. Der Untertitel dieses Beitrags „Die Schöne und das Biest?" spielt darauf an, bedarf aber wohl einer Erläuterung: 1
Zu einem Franzosen, in: Gabriel García Márquez (1989): El general en su laberinto, Madrid: Mondadori, S. 132. 35
Für Demokraten, schon gar liberale, gibt es an Chävez und den von ihm geprägten aktuellen Merkmalen des venezolanischen Systems wenig Liebenswertes. Der Eindruck vom „Biest" drängt sich nur allzu leicht auf. Wer aber nicht nur liberal, sondern auch sozial eingestellt ist, hat sich vielleicht in den letzten Jahren gelegentlich bei dem hoffnungsvollen Gedanken ertappt, es möge sich doch um ein „verwunschenes Biest" handeln, das, wenn es genügend geliebt wird, sich seiner rauen Schale entledigen und zum strahlenden Prinzen wandeln könnte. Verwunschen oder nicht: Nachdem Venezuela lange Zeit - und besonders in den Jahren der Militärdiktaturen im südlichen Südamerika - bei Beobachtern geradezu als Vorbild für Demokratie in Lateinamerika galt, mag der Gedanke nahe liegen, dass sich die Analogie mit dem Märchen von der „Schönen" und dem „Biest" noch ein Stück weiter treiben lässt: In dem Sinne nämlich, dass hier wieder einmal eine „Schöne" einem (zumindest oberflächlich) ziemlich scheußlichen „Biest" verkuppelt worden sei. In dieser Version wäre die Schöne die „venezolanische Demokratie", deren Leben vermeintlich bald wieder froh und heiter wäre, wenn sie nur das ,3iest" (das ja sichtlich keine Anstalten macht, zum Prinzen zu mutieren) loswerden könnte. Mit anderen Worten: Auf den ersten Blick stellt sich die heutige Situation in Venezuela unter einem unverkennbar populistischen Präsidenten dem Betrachter als deutlicher Bruch mit dem früheren System dar, weil dieser • gewisse autoritäre und auch totalitäre Neigungen nicht verbergen kann, • 1999 sein Amt antrat und sich schon im folgenden Jahr gemäß einer nach seinen Vorstellungen maßgeschneiderten neuen Verfassung zum zweiten Mal wählen ließ (und der auch gewählt wurde, und zwar mit noch größerer Mehrheit als im Dezember 1998 (!), nämlich 60% gegenüber 56%), • dann im Frühjahr 2002 aus dem Amt geputscht wurde, • nur um zwei Tage später wieder zurückzukehren, • ohne dass bei alledem die zwei Parteien, die bis kurz zuvor das politische System des Landes dominiert hatten, auch nur die geringste Rolle gespielt hätten. In der Tat trat Chävez ja erklärtermaßen an, um genau dies zu bewerkstelligen: den Bruch mit dem bisherigen System, seine Überwindung, ja sogar ausdrücklich eine „Revolution". Und dafiir wurde er gewählt. Was für eine Revolution das sein sollte, erläuterte er wieder und wieder im Wahlkampf und auch in einem Interview, das wenige Tage nach seinem ersten Wahlsieg in der spanischen Tageszeitung El Pais abgedruckt wurde:
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In Venezuela haben wir keine Demokratie, sondern nur Bruchstücke von etwas, das ein demokratisches System hätte sein können. [...] Mein Ziel ist, dass das Land in fünf Jahren eine solide Demokratie hat [...]. 2
Daraus ergeben sich fast zwangsläufig zwei interessante Fragestellungen, nämlich: 1. die Frage, wie sich im Lichte dieses erklärten Zieles die bisherige Bilanz der Regierung Chävez darstellt - also eine Frage, die sozusagen von der Zielfestlegung aus in die Zukunft gerichtet ist; 2. aber auch eine in die Vergangenheit gerichtete Frage: Was ist in Venezuela in den letzten Jahren und Jahrzehnten geschehen? Wie lässt sich erklären, dass das Versprechen einer „Revolution" zugunsten von Demokratie zu einem erdrutschartigen Wahlsieg führen konnte in einem Land, in dem - einer weitverbreiteten Interpretation zufolge - doch schon 40 Jahren zuvor (mit dem Abkommen von Punto Fijo von 1958) eine Demokratie aus der Taufe gehoben wurde, die sich anschließend zu einer der solidesten in Lateinamerika entwickelt hat? Ich werde im Folgenden im Hinblick auf diese Fragen zunächst in groben Zügen etwas zu den Entwicklungen der letzten Jahre und der Lage in Venezuela heute (Juni 2003), nach Ablauf von etwa zwei Dritteln der von Chävez anvisierten Frist von fünf Jahren, sagen - soweit sie von außen und aus der Ferne überhaupt einschätzbar sind. Noch interessanter und auch für die Zukunft letztlich relevanter scheint mir aber die zweite Blickrichtung: die Rückschau auf die Entwicklung, die zum Wahlsieg von Chävez überhaupt erst geführt hat, der ich mich anschließend widmen möchte. Wenn man schließlich die Antworten auf beide Fragestellungen zusammenfügt, lässt sich vielleicht die übergeordnete Frage wenigstens tentativ beantworten, ob wir es tatsächlich mit einem Bruch oder nicht doch eher mit der Kontinuität des alten Systems zu tun haben und ob folglich die Metapher von der „Schönen und dem Biest" in der eingangs skizzierten „venezolanischen" Spezialfassung haltbar ist.
2. Die ersten Jahre der Regierung Chävez: Versuch einer Zwischenbilanz Hugo Chävez war also angetreten, eine „Revolution" zugunsten der Demokratie in Venezuela zu bewerkstelligen. Nun gibt es der Demokratievorstellungen viele. Die spezifische Richtung, die er sich vorstellt, hat Chävez im Wahlkampf und auch schon früher, als Protagonist des Putsches von 1992 - konkret benannt. 2
Interview mit Hugo Chävez in El Pats (Madrid), 16. Dezember 1998, S. 6.
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Sein politisches Projekt ist nicht eine in irgendeinem landläufigen Sinne demokratische, sondern ganz spezifisch eine „bolivarische" Revolution. Simón Bolívar, „der Befreier", ist ausdrücklich der Leitstern.3 Da Bolívar aber - milde ausgedrückt - gar nicht als vorbildlicher Demokrat ausgewiesen ist, ergibt sich schon hieraus ein grundlegendes Konsistenzproblem für die Position von Chávez, so dass sich erst noch erweisen muss, ob eher die demokratische oder die bolivaristische Rhetorik in der Umsetzung Vorrang erhält. Als ein bedenkliches Omen, das für letzteres zu sprechen scheint, wurde von Beobachtern schon allein die Tatsache gesehen, dass Chávez zu seinem Amtsantritt nicht nur Fidel Castro, sondern auch Marcos Pérez Jiménez, den im spanischen Exil lebenden letzten Diktator Venezuelas, eingeladen hat.4 Ob mit oder ohne Absicht: Mit derartigen symbolischen Handlungen liefert Chávez von Anfang an Kritikern und Zweiflern eine Steilvorlage nach der anderen; selbst grundsätzlich eher wohlwollende Kommentatoren äußern sich besorgt. Der argentinische Schriftsteller Tomás Eloy Martínez vergleicht ihn am Tag der Amtsübernahme in El País mit Perón, nennt ihn gar einen „Cäsar" und den „letzten autoritären Demokraten, den dieser Kontinent der wahnsinnigen Regierenden dem 20. Jahrhundert aufgedrückt hat"5. Und auch Gabriel Garcia Márquez weist in jenen Tagen auf die Möglichkeit hin, dass Chávez zum Despoten werden könnte.6 Ein Unterschied zwischen Chávez und vielen anderen Wahlsiegern - nicht nur in Venezuela - wird jedenfalls sofort sichtbar: Chávez belässt es nicht bei der Rhetorik des Wahlkampfes, sondern macht sich tatsächlich umgehend daran, seine Ideen in die Tat umzusetzen. Dafür scheint ihm die vollständige NeuKonstituierung der politischen Institutionen, und das heißt vor allem: eine ganz neue Verfassung, unerlässlich. Chávez leistet folglich - in einem weiteren gezielt symbolischen Akt - schon den Amtseid nicht einfach auf die Verfassung, sondern schwört unerhörterweise „auf diese todgeweihte Verfassung". Und unmittelbar im Anschluss an die Vereidigungszeremonie verkündet er, er werde „auf Drängen des Volkes" noch am selben Tag den Erlass für ein Referendum unterzeichnen, das über die Einberufung einer so genannten „organischen" Konstituente - d. h. einer verfassungsgebenden Versammlung, die das ganze System verändern und sogar den Kongress auflösen können soll - entscheiden solle.7 Damit war in der Tat eine „Revolution" im strengen Sinne - d. h. im Sinne einer irregulären Errichtung eines neuen Systems - eingeläutet, denn dieser Weg 3
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Weltweit wurde seine Marotte belächelt, bei offiziellen Anlässen stets neben sich einen Stuhl „für Bolívar" freizuhalten. Vgl. etwa Tomás Eloy Martínez in El País (Madrid), 2. Februar 1999, S. 11 f. Vgl. ebd. Ebd. La Nación (Buenos Aires), 31. Januar 1999, S. 1 f. Vgl. www.analitica.com/bitblio/constituyente.htm (3. Februar 1999), filr den Text des Erlasses: www.analitica.com (ebenfalls vom 3. Februar 1999).
der Verfassungsreform war selbst nicht verfassungskonform. Nach der zum Zeitpunkt von Chävez' Amtsantritt geltenden Verfassung8 konnte diese zwar durchaus „Gegenstand einer Totalrevision sein", aber dafür gab es nur ein einziges vorgesehenes Verfahren. Dieses war geregelt in Art. 246, der folgendermaßen lautete: Die Initiative muß von einem Drittel der Mitglieder des Kongresses oder von der absoluten Mehrheit der Gesetzgebenden Versammlungen aufgrund von Beschlüssen ausgehen, die in mindestens zwei Lesungen von der absoluten Mehrheit einer jeden VerSammlung gefällt wurden.
Trotzdem wurde bekanntlich, wie Chävez es wollte, das Referendum durchgeführt10 und Mitte 1999 eine verfassungsgebende Versammlung gewählt. Von deren 131 Mitgliedern gehörten 121 (also mehr als 90%) der Regierungsmehrheit an" - die Oppositionsparteien schienen in einer Art Nachwahl-Starre zu verharren. Die Konstituente konnte bei diesen Mehrheitsverhältnissen selbstverständlich sehr zügig arbeiten, und schon am 15. Dezember 1999, nur zehneinhalb Monate nach Chävez' Amtsantritt, wurde die neue Verfassung mit überwältigender Mehrheit im Referendum vom Volk bestätigt. Was hat nun diese neue Verfassung der damit konstituierten fünften, nämlich der „Bolivarischen Republik Venezuela" - von ihrem „Geburtsfehler" einmal abgesehen - im Hinblick auf Demokratie gebracht? In ihren wichtigsten Punkten beinhaltet die neue Verfassung: 8
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Verfassung von 1961 (geändert 1973 und 1983). Schon von 1989 bis 1998 arbeitete übrigens der Kongress an der Vorlage für eine Totalrevision, die aber nach den Wahlen Ende 1998 nicht mehr zum Tragen kam; vgl. dazu das Geleitwort des damaligen Präsidenten Rafael Caldera vom Frühjahr 1998 zur deutschen Übersetzung der venezolanischen Verfassung von 1961. Chávez versuchte selbstverständlich, seinen Erlass als verfassungskonform darzustellen. Dazu berief er sich auf die Volkssouveiänität (Art. 4; der Artikel bestimmte allerdings was Chávez nicht filr erwähnenswert hielt - ausdrücklich, dass das Volk diese Souveränität „durch Wahl und über die Organe der öffentlichen Gewalt ausübt"; von anderen Wegen war keine Rede) sowie auf Art. 50, der - höchst interpretationsbedürftig - besagte: „Die Aufzählung der in dieser Verfassung enthaltenen Rechte und Garantien ist nicht als Negierung anderer aufzufassen, die, obwohl sie der menschlichen Person eigen sind, nicht ausdrücklich aufgeführt sind." Chávez behauptete in seinem Erlass zum Referendum, die „originäre" Kompetenz des Volkes, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, sei just ein solches nicht explizit in der Verfassung aufgeführtes Menschenrecht („un derecho inherente a la persona humana no enumerado"). Die übergroße Bedeutung, die Chávez der Änderung der Verfassung beimaß, ist im Übrigen keineswegs eine Besonderheit seiner persönlichen politischen Vorstellungen oder der Situation in Venezuela, sondern ganz und gar typisch für Lateinamerika; vgl. dazu Garzón Valdés 1994. Mit nur 38% Wahlbeteiligung; davon stimmten ca. 90% für die verfassungsgebende Versammlung. Das „plebiszitäre Mandat" der Konstituente beruhte also tatsächlich auf dem Votum von etwa einem Drittel der wahlberechtigten Bevölkerung (vgl. Welsch/Wetz 1999). El País, 4. November 1999, S. 4.
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einerseits noch mehr Macht und eine längere Amtszeit für den Präsidenten; andererseits zwei neue „Gewalten"12, nämlich eine „Bürgergewalt" und eine „Wählergewalt", wobei letzteres allerdings im Grunde nicht mehr ist als eine neue Bezeichnung für die Nationale Wahlbehörde; erstere dagegen bedeutet eine echte Neuerung in Gestalt des so genannten „Moralischen Rats der Republik", eines höchst eigenartigen Gebildes, auf das ich hier nicht näher eingehen kann; der stärkeren Bürgerbeteiligung dient zudem die Aufnahme neuer plebiszitärer Elemente in die Verfassung - deren Problematik aus demokratietheoretischer Sicht einem studierten Politologen wie Hugo Chävez ebenso bewusst sein muss wie ihre Nützlichkeit für populistische Absichten; darunter besonders erwähnenswert ist die Einführung der Möglichkeit, jeden gewählten Staatsbediensteten nach der ersten Hälfte der jeweiligen Amtszeit durch Referendum abzuberufen.13
Nach Maßgabe dieser neuen Verfassung gab es schon im folgenden Jahr (2000) Neuwahlen, die Chävez mit großem Vorsprung gewann: Mit etwa 60% der Stimmen wurde er für nunmehr sechs Jahre wiedergewählt. Umfragedaten zeigen, dass zu dieser Zeit eine enorme Erwartung großer Bevölkerungsteile auf ihm lastete: •
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In Venezuela lag zwischen 1996 und 2000 die Zustimmung zur Demokratie als Regierungsform ganz allgemein mit fast konstant um die 60% in etwa beim lateinamerikanischen Durchschnitt, wobei bemerkenswert ist, dass es in diesen Zustimmungswerten vor und nach den Wahlen keine nennenswerte Bewegung gab. Dagegen findet man hinsichtlich der Zufriedenheit mit den konkreten Leistungen des aktuellen eigenen Systems bis 1998 relativ niedrige Werte (ca. 30-35%), dann aber um 1999/2000 eine plötzliche „Explosion" auf 55% (der dritthöchste Wert in Lateinamerika nach Uruguay und Costa Rica in diesem Zeitraum). Und schließlich zeigte sich in Venezuela ein ähnliches Muster auch für die Entwicklung der Erwartungen, dass sich die wirtschaftliche Situation des Landes einerseits und die persönliche wirtschaftliche Lage andererseits verbessern werden: bezüglich ersterem sehr niedrige, wenn auch steigende Werte für 1996-1998 (12-28%), dann aber 1999/2000 eine „Explosion" der Neben den drei seit Montesquieu universal bekannten politischen Gewalten: der gesetzgebenden, der ausführenden und der rechtsprechenden. Die neue Verfassung hat im Übrigen mit ca. 350 Artikeln noch einmal ungefähr 100 Artikel mehr als die vorherige, die ihrerseits im Vergleich mit dem GG oder gar mit der USVerfassung schon sehr lang war. Auf die generelle Problematik solch überlanger Verfassungen kann ich hier ebenso wenig eingehen wie auf die zahlreichen anderen Neuerungen, die in den vielen zusätzlichen Artikeln selbstverständlich noch zu finden sind.
Erwartung, dass sich die Lage bald verbessern wird (57%)14; und bezüglich der persönlichen Lage für 1996-1998 ebenfalls steigende, aber eher niedrige Werte - wenn auch fast doppelt so hoch wie für die Erwartungen zum Land insgesamt (konsistent mit dem üblichen Muster, dass diese Werte besser sind als die zur ökonomischen Lage des Landes insgesamt) - , nämlich 24-42% und dann 1999/2000 die „Explosion" auf 62%. • Hinzu kommen Umfrageergebnisse, die nahe legen, dass die Ungeduld groß war und sehr schnelle Ergebnisse gerade hinsichtlich der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und der prekären Lebensumstände eines großen Teils der Bevölkerung erwartet wurden. Der Zeithorizont war dabei nicht in Jahren, sondern in Monaten bemessen.15 • Es kann daher nicht Uberraschen, dass der honeymoon zwischen der Regierung Chávez und der venezolanischen Bevölkerung nicht sehr lange währte. Schon im Laufe des Jahres 2001 schlug die Stimmung deutlich um. • Von Juli bis Mitte Dezember 2001 sank die Zustimmungsrate der Bevölkerung zu Chávez von 55,8% auf 35,5%; • 44% (gegenüber 25,7% im Juli) meinten sogar, es gehe dem Land „schlechter" als vor der Amtsübernahme von Chávez im Februar 1999.16 Um den Kontext dieses Stimmungswandels besser einschätzen zu können, ist es wichtig zu wissen, dass gut eine Woche vor dieser Dezemberumfrage ein erster Generalstreik stattgefunden hatte, der aufgrund einer für Venezuela ganz und gar ungewöhnlichen gemeinsamen Unterstützung des traditionell mächtigen Gewerkschaftsverbandes CTV (Confederación de Trabajadores de Venezuela) und seines traditionellen Gegners, des noch mächtigeren Arbeitgeberverbandes FEDECÁMARAS (sowie weiterer Gruppierungen) angeblich von etwa 90% der arbeitenden Bevölkerung befolgt wurde. Der Streik richtete sich vor allem und ganz konkret gegen ein Paket von 49 Erlassen mit Gesetzeskraft - die so genannte habilitante, also eine Art „Ermächtigungsgesetz" - die die Marktwirtschaft und das Privateigentum beschnitten und massive staatliche Interventionen in die Wirtschaft vorsahen.17 Chávez hatte es mit diesem Gesetzespaket offenbar 14
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Das kann natürlich mindestens zweierlei bedeuten: (1) dass der Regierung zugetraut wird, die Lage durch entsprechende Maßnahmen effektiv zu verbessern, oder (2) dass die Situation als so schlecht eingeschätzt wird, dass sie vermeintlich Oberhaupt nur besser werden kann. Es scheint, dass viele Chávez zunächst Ersteres zutrauten. Vgl. etwa Carrasquera 2002, Tafel 20 (leider ist nicht ganz klar, wie die Tabelle zu interpretieren ist). Nach Mario Vargas Llosa, in La Nación (Buenos Aires), 29. Dezember 2001, S. 19. Mario Vargas Llosa sah in den Protesten vom Dezember 2001 selbstverständlich ein positives Zeichen dafür, „dass das venezolanische Volk aus dem populistischen Delirium aufwacht, durch das es aus Ekel und Verdiuss angesichts der Verschwendung und Unfähigkeit der vorherigen Regierungen dazu gebracht wurde, eine so unzeitgemäße und schädliche Gestalt zu unterstützen wie den Ex-Putschisten" (in: La Nación (Buenos Aires), 29. De-
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geschafft, bei großen Teilen der Bevölkerung den Eindruck hervorzurufen, dass er nicht für, sondern sehr massiv gegen ihre Interessen und ihre Vorstellungen von einer angemessenen Wirtschaftsordnung agiere. Spätestens damit war der Beginn einer Polarisierungsspirale angelegt, die sich bis heute - mit nur wenigen Atempausen und Phasen der Mäßigung - ständig nach oben geschraubt hat. Ein „Höhepunkt" - wenn man es so nennen darf - dieser Entwicklung wurde im April 2002 erreicht. Nach Straßenunruhen mit mehr als einem Dutzend Toten und massiven Rücktrittsforderungen wird Chavez von Militärs für „abgesetzt" erklärt, oder besser gesagt: Es wird behauptet, er sei freiwillig zurückgetreten; dem Kongress wird jedoch nie, wie für diesen Fall vorgeschrieben, ein schriftliches Rücktrittsgesuch vorgelegt. Chävez wird außerhalb der Hauptstadt festgesetzt, und der Unternehmer und Präsident von FEDECÄMARAS Pedro Carmona übernimmt de facto die Präsidentschaft. Nach massiven, nicht nachlassenden Straßenprotesten sowie Aktionen der Palastgarde gegen die selbsternannte de ybcto-Regierung ist Chävez jedoch zwei Tage später wieder zurück.18 Am Ende dieser „Episode" waren nach offiziellen Angaben insgesamt 45 Tote (andere Quellen sprechen sogar von mindestens 70 Toten) und Hunderte von Verletzten zu beklagen.19 Einen zweiten,.Höhepunkt" gab es dann in den Monaten um den Jahreswechsel 2002/2003, an dessen Ende nach einem etwa 60 Tage dauernden General-
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zember 2001, S. 19). Sein Sohn Alvaro stand ihm an Drastik in der Bewertung der so genannten „Ermächtigungserlasse" nicht nach: „'La Habilitante' es el pérfido mecanismo que permite a Chávez ser autoritario sin parecerlo demasiado. [...] Las 49 leyes por decreto de 'La Habilitante' han servido, en efecto, para que Chávez descargara sobre sus compatriotas una montaña de decretos que cambian la naturaleza ideológica de Venezuela." (Vargas Llosa 2002: 53). Man muss allerdings weder Vargas Llosa heißen noch Großunternehmer sein, um die habilitante als problematisch anzusehen. Zu denen, die dagegen protestierten, gehörten z. B. auch Kleinbauern, denen es ebenso wie den Großen verwehrt werden sollte, über das Stückchen Land, das ihnen gehört, frei zu verfügen und dort anzubauen, was sie wollten. Der verordnete Lizenzierungszwang für die Landwirtschaft hatte eindeutig eine stark planwirtschaftliche Note.
In der Zwischenzeit hatte Carmona zurücktreten müssen, und Chávez' Vizepräsident Diosdado Cabello war, wie in deT Verfassung für den Fall einer temporären Indisposition des Präsidenten vorgesehen, als Übergangspräsident (für wenige Stunden) eingeschworen 19 worden. Der vielleicht einzige positive Effekt von alledem war, dass in der venezolanischen Bevölkerung nach dem Entsetzen über diesen Putsch und über die Art von Aktivitäten, die der de /öcto-Präsident Carmona in den wenigen Stunden seiner Macht entfaltete und die nichts Gutes für die demokratische Zukunft einer Regierung Carmona ahnen ließen, die in den Monaten zuvor leicht gesunkenen Zustimmungswerte für die Regierungsform der Demokratie im Allgemeinen sehr stark anstiegen (von unter 60% auf 75%). Es ist bemerkenswert, dass dieser Sympathiegewinn für die Demokratie als solche nicht etwa als Reaktion auf die Erfahrungen mit der Regierung Chávez, sondern vielmehr als Reaktion auf Carmona und den Putsch zu seinen Gunsten zustande kam.
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streik das Land vor einem wirtschaftlichen Scherbenhaufen stand20 - und auch vor einem politischen Scherbenhaufen, denn die Führung der Opposition, die den Machtkampf eindeutig verloren hat und damit politisch zwar nicht die alleinige, aber doch die Hauptverantwortung für die ungeheuren Kosten der Auseinandersetzung ebenso wie für die mit dem Ergebnis verbundene Stärkung der Regierungsposition trägt, hat gezeigt, dass sie den aktuellen Herausforderungen nicht gewachsen war und weder personell noch inhaltlich eine mehrheitlich attraktive Alternative zu bieten hatte. Nach alledem lässt sich die Bilanz der Regierung Chävez hinsichtlich der Demokratisierung und der versprochenen Fortschritte im ökonomischen und sozialen Bereich bis heute stichwortartig vielleicht folgendermaßen charakterisieren: •
An der neuen Verfassung als einem adäquaten normativen Rahmen kann man, wie erläutert, begründete Zweifel haben. • Unübersehbar und von fast allen Kommentatoren mit großer Sorge beobachtet ist die extreme Polarisierung des Landes. Eine Art Schmitt'sches Freund-Feind-Denken herrscht offenbar auf beiden Seiten vor - ganz im Gegensatz zu den notwendigen demokratischen Bedingungen oder „Grundtugenden" von Pluralismus, Kompromissbereitschaft und Toleranz. • Autoritäre und totalitäre Neigungen des Präsidenten haben sich wiederholt manifestiert, etwa in seinen (nicht immer erfolgreichen) Versuchen, durch den eklatanten Missbrauch plebiszitärer Verfahren oder auch seines persönlichen Einflusses auf gewaltbereite Teile seiner Anhängerschaft die „Gleichschaltung" wesentlicher gesellschaftlicher Kräfte - etwa der Gewerkschaften oder der (allerdings überwiegend extrem Chävez-kritischen) Presse - „von oben" zu steuern, aber weitgehend aus dem Hintergrund durch Dritte betreiben zu lassen. • Zu Letzterem gehört auch die versuchte Einschüchterung der Justiz (wenn z. B. nach einem für Chävez ungünstigen Spruch des Obersten Gerichtshofs plötzlich Untersuchungsverfahren gegen sämtliche Richter dieses Gerichts wegen „Trunkenheit" angestrengt werden) oder etwa Chävez' „Drohung", die Verfassung erneut zu ändern - als könne er dies kraft seiner präsidentiellen Kompetenzen wenn schon nicht eigenhändig vollziehen, so doch quasi anordnen. • Die Korruption ist nach Einschätzung vieler Beobachter im Land nicht etwa, wie versprochen, wirksam bekämpft worden, sondern hat - auch infolge der für immer mehr Venezolaner immer schwieriger werdenden wirtschaftlichen Lage angesichts sinkender oder ausbleibender Einkommen bei zunehmender Güterknappheit und Inflation - noch schlimmere Ausmaße 20
Vgl. etwa Kurt Weyland, der schon im Januar 2003, also noch vor der Beendigung des Streiks, in Foreign Affairs prophezeite: „it will take the country many years to recover from this disastrous experience" (Weyland 2003). 43
angenommen, als man aus der Vergangenheit schon gewöhnt war. Auch die jährlich erhobenen Corruption Perception Indices von Transparency International deuten zumindest keine Verbesserung in diesem für die Demokratie so wichtigen Bereich an21: auf einer Skala von 0 bis 10 (je höher die Korruptionsanfälligkeit, die die Befragten in dem betreffenden Land wahrnehmen, desto niedriger der Index-Wert) liegt Venezuela in den Jahren 1999-2002 ohne signifikante Schwankungen bei Werten zwischen 2,5 und 2,8 und teilt sich damit einen Rang mit Ländern wie Albanien, Bolivien, Elfenbeinküste oder Rumänien im untersten Fünftel aller bewerteten Länder. • Hinzu kommt, dass 1999 der Ölpreis drastisch gestiegen ist und in den folgenden Jahren auf diesem hohen Niveau blieb - wobei unklar ist, wohin die entsprechend sehr erheblichen Mehreinnahmen des Staates geflossen sind.22 Auch ökonomisch hat es die Regierung Chavez nicht erreicht, wenigstens deutliche Zeichen für Verbesserungen zu setzen: • • • • •
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Die Inflation ist nach wie vor hoch (2002: ca. 30%), das Wachstum des BIP bestenfalls niedrig. Auch 2002 lebten ca. 70-75% der Venezolaner unterhalb der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen (offiziell: 21,4% im Jahr 2001, 16,5% im Jahr 2002; real aber vermutlich deutlich mehr). In den Jahren 2000-2002 wurden ca. US$ 15 Mrd. Privatkapital aus dem Land abgezogen.23 Nach den drastischen Einbrüchen der Wirtschaft infolge der Produktionsausfälle während des monatelangen Generalstreiks und der damit verbundenen fehlenden Deviseneinnahmen und Versorgungsengpässe und trotz der deswegen ergriffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen (Devisenbewirtschaftung, Preiskontrollen) berichtet die Presse in letzter Zeit praktisch
1996: auf Rang 46 von 50 Rängen in Transparency International's Index wahrgenommener Korruption; 1998: auf Position 77 von 85 Rängen, d. h. nur sieben von insgesamt 112 Ländern wurden als noch korrupter eingeschätzt (wegen der möglichen Mehrfachbesetzung von Rängen ist die Anzahl der Länder nicht mit der Gesamtzahl der Ränge identisch); CPI 1999: 2,6 (ca. 20 Länder noch schlechter); CPI 2000: 2,7 (wie Elfenbeinküste, Bolivien; ca. 17 Länder noch schlechter); CPI 2001: 2,8 (wie Rumänien; ca. 22 Länder noch schlechter); CPI 2002: 2,5 (wie Albanien; ca. 20 Länder noch schlichter); vgl. www.transparency.org/cpi/. Vgl. etwa Tomás Eloy Martínez in La Nación (Buenos Aires), 27. April 20)2, 17; siehe auch Giusti 2001, der von der „venezolanischen Tragödie" einer Rtickkehr zum „Petrostaat" spricht, in dem die höheren Staatserlöse aus dem Erdöl zu einen „maßlosen Anstieg der Staatsausgaben" geführt haben, sowie Rodríguez 2001, der beklagt, dass es der Chávez-Regierung erstmals in der Geschichte Venezuelas nicht gelungen sei, den enormen Anstieg der Erdölpreise zu einer Reaktivierung der Wirtschaft des Landes zu rutzen. The Economist, 10. Oktober 2002.
täglich über die zunehmende Knappheit insbesondere der Grundnahrungsmittel (Milch, Reis, Nudeln, Maismehl, Zucker u. ä.). Und zu alledem kommt dann auch noch ein offenbar stark gestiegenes Gefühl der Unsicherheit infolge einer jedenfalls wahrgenommenen, aber wohl auch realen Zunahme von Kriminalität und Gewalt im öffentlichen Raum. So berichtet die in Caracas erscheinende (allerdings äußerst kritisch gegenüber der Regierung Chävez eingestellte) Tageszeitung El Universal u. a. in der zweiten Juliwoche 2003, a) dass es in diesem Jahr bisher monatlich ca. 900 Tötungsdelikte in Venezuela gegeben habe (etwa 30 Morde pro Tag und damit deutlich mehr als im vergangenen Jahr); nur ein verschwindend geringer Prozentsatz davon werde aufgeklärt, 97% der Täter würden nie belangt; und b) dass es von Ende 1999 bis Juni 2003 nach offiziellen Angaben des venezolanischen Generalstaatsanwalts außerdem mehr als 1500 Verdachtsfälle von Tötungen durch parapolizeiliche Mordkommandos gegeben habe. Carlos Alberto Montaner, prominenter Exil-Kubaner und gnadenloser ChävezGegner, fasste dieses Bild der Lage in einem Zeitungsartikel vom 9. Juni 2003 folgendermaßen zusammen: Inzwischen wünschten 70% der Venezolaner [...], dass der Albtraum der schlechtesten Regierung, die das Land je hatte, beendet werde. [...] Die Geldentwertung, die Arbeitslosigkeit und der Mangel haben unheimlich zugenommen. Korruption und Straflosigkeit sind auf nie dagewesene Niveaus gestiegen. Die Gewalttätigkeit hat sich vervielfacht, so daß Caracas jetzt eine der gefährlichsten Städte der Welt ist. [...] Zwei Gefühlsregungen beherrschen deswegen die Venezolaner: Verzweiflung und der Wunsch zu fliehen.
Wie viele Anhänger Präsident Chävez heute (Mitte 2003) tatsächlich noch hat, ist schwer zu sagen, da die Angaben darüber - egal, von welcher venezolanischen Quelle sie stammen - nicht als „neutral" angesehen werden können. Anfang 2003 sammelte jedenfalls die Opposition nach eigenen Angaben 4,4 Mio. Unterschriften (bei insgesamt 12 Mio. Wahlberechtigten sind das etwa 35%) zugunsten eines Verfassungszusatzes, der die Amtszeit des Präsidenten wieder verkürzen sollte. Diese Initiative einer Verfassungsreform wurde jedoch hinfällig mit dem Abkommen, das Chävez am 29. Mai 2003 auf Vermittlung der OAS mit Vertretern der Opposition darüber abschloss, dass später in diesem Jahr ein Referendum über seinen Verbleib im Amt stattfinden soll. Sollte es tatsächlich zu dem Referendum kommen (was bei Redaktionsschluss dieses Beitrags nicht sicher war), könnten die plebiszitären Elemente der neuen Verfassung, die Chävez bisher zu seinen Gunsten so virtuos zu beherrschen
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wusste, am Ende möglicherweise auch sein eigenes (vorläufiges) politisches Ende besiegeln.24
3. Rückschau: Der Weg zu Chávez Nach diesem kurzen Schlaglicht auf die bisherige Amtszeit der Regierung Chávez stellt sich umso drängender die Frage, wie es 1998/99 zu der überwältigenden Zustimmung zur Person Hugo Chávez, zu seiner politischen Bewegung und zu den offensichtlich völlig illusorischen Erwartungen an sie kommen konnte. Venezuela galt bis Ende der 80er Jahre als wenn auch sicher nicht perfekte, so doch solide Demokratie; in Lateinamerika sah eigentlich nur noch Costa Rica vergleichbar „stabil demokratisch" aus.25 Tragende Säulen der Stabilität waren ein konsolidiertes Zweiparteiensystem und enorme Einnahmen aus dem Erdölaufkommen des Landes. 30 Jahre lang (1958-1989) schien das von einer sozialdemokratischen (Acción Democrática - AD) und einer christlich-sozialen (COPEY) Partei dominierte System, das gewisse konkordanzdemokratische Züge aufwies, fest etabliert Mit dem politischen Stabilitätspakt von 19S8 (Pacto de Punto Fijo) schrieben AD, COPEI und URD (die 1960 aus der Regierung ausschied und in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwand) die repräsentative Demokratie auf der Grundlage eines Parteiensystems fest, in dem eine organisierte Interessenvertretung garantiert wurde. Nach 1958 dominierte zunächst die AD, die sich aber nach den Wahlen von 1968 zweimal mit der COPEI in der Regierungsführung ablöste. Die Schwelle des von Samuel Huntington vorgeschlagenen Kriteriums für demokratische Konsolidierung - ein zweimaliger Regierungswechsel - war damit in Venezuela schon 1974 überschritten. Die Parteiführer von AD und COPEI waren im Übrigen auch in ihren jeweiligen internationalen Parteivereinigungen hochangesehen und hatten dort zeitweilig führende Positionen inne. Politische Gegenkräfte, wie die in den 60er Jahren aufgekommene und unter der ersten Präsidentschaft Calderas (1969-1974) befriedete Guerillabewegung sowie kleinere Links-Parteien blieben ohne wirkliche Bedeutung. Einen letzten Putschversuch erlebte das Land 1962 - der nächste sollte, angeführt von Hugo Chávez, erst 30 Jahre später erfolgen. In den 80er Jahren avancierte vorübergehend die „Bewegung zum Sozialismus" (Movimiento al Socialismo - MAS) zur drittstärksten politischen Kraft. Daneben wurden Stadtteilgruppen und neue Op24
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Es ist allerdings angesichts der desolaten Performance der Opposition bislang keineswegs sicher, dass Chávez oder ein von ihm persönlich ausgewählter und unterstützter Nachfolgekandidat bei Neuwahlen nicht wieder die Mehrheit erzielen würde. Hier und im Folgenden lehne ich mich streckenweise stark an einen unveröffentlichten Text an, den ich 1999 zusammen mit Klaus Bodemer verfasst habe. Zur politischen Realität in Venezuela in Vergangenheit und Gegenwart vgl. über die hier im Einzelnen zitierten Quellen auch die weitere, in der Bibliographie angeführte Literaturauswahl.
Positionsbewegungen aktiv, wozu vor allem die bei den Wahlen 1994 recht erfolgreiche Causa Radical (Causa R) gehörte. Manche Analysten wiesen allerdings schon in den 80er Jahren auf die Risiken für die Stabilität des Systems hin, die sich trotz des ölreichtums in Venezuela aus einem „Syndrom" zu ergeben schienen, das sich auch anderswo als besonders demokratiegefährdend erwiesen hat und das sich zusammensetzt aus: • • • •
großer sozialer Ungleichheit und/oder wachsender Armut; schwachen, wenig leistungsfähigen staatlichen Institutionen (was die Legitimierung des Systems über den Output bei einer Verschlechterung der Wirtschaftslage zunehmend schwierig macht); Korruption (was einerseits die effiziente Allokation von Ressourcen, andererseits den Aufbau von Vertrauen in staatliche Institutionen erschwert); Hyperpräsidentialismus und Personalismus (u. a. mit der typischen Begleiterscheinung, dass das Vertrauen in Personen erheblich größer ist als das in Institutionen).26
Und in der Tat: Ende der 80er Jahre geriet das Land in eine Krise, die weite Bereiche von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erfasste. Immer deutlicher zeigte sich, dass die Grundrechte eines modernen Rechtsstaats zwar in der Verfassung verankert waren, in der Verfassungsrealität jedoch weitgehend Makulatur blieben, und dass die venezolanische Justiz zwar formal unabhängig, tatsächlich jedoch korrupt und ineffizient war. Gleiches galt für die Sicherheitskräfte und weite Teile der öffentlichen Verwaltung.27 Die Glaubwürdigkeit der Institutionen erreichte einen Tiefpunkt. Nach einer von Friedrich Welsch erarbeiteten Übersicht hatten z. B. im April 1992 nur 18% der venezolanischen Bürger Vertrauen in den Obersten Gerichtshof, 14% in die Regierung und 12% in den Kongress.28 In den Folgejahren blieben - wie Umfragedaten des Latinobarömetro zeigen - die Einschätzungen ähnlich (www.latinobarometro.org). Bei einem Teil der venezolanischen Politiker und Intellektuellen begann sich in jenen Jahren folglich mehr und mehr die Einsicht durchzusetzen, dass der Po26
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Günter Maihold etwa äußerte sich 1988 skeptisch zur Demokratie in Venezuela: „Der starke korporative Ansatz enthält autoritäre Elemente, die zu einer so starken Abkoppelung der Regierungsebene von der Gesellschaft führen können, dass die Flexibilität des Systems bis hin zu Fragmentierung von Staat und Gesellschaft vermindert wird" (Maihold 1988: 88). Die venezolanischen Gefängnisse gelten im Übrigen als die schlimmsten in Lateinamerika; und Folter, willkürliche Verhaftungen und extrajudizielle Tötungen sind auch im „demokratischen" Venezuela keineswegs unbekannt. An der Qualität dieser „Demokratie" sind also Zweifel durchaus angebracht. Venezuela steht damit allerdings nicht allein; es ist vielmehr nur ein Beispiel unter vielen dafür, dass die vor allem seit 1989 bei Politologen in den USA und Westeuropa zu beobachtende „Demokratisierungseuphorie" völlig unbegründet ist; ausführlicher dazu Zimmerling 2003. Nach Bisbai / Nicodemo 1993, S. 111, Cuadro 1.
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pulismus und der auf der Ölrente beruhende verschwenderische Staat für viele der Fehlentwicklungen des Landes verantwortlich waren: für das unproduktive Versanden öffentlicher Gelder, die sinnlose Aufgeblähtheit und Ineffizienz der Verwaltung, die Korruption der politischen Klasse, den Immobilismus der Parteien, die Rechtsunsicherheit, hohe Kriminalitätsraten und nicht zuletzt eine von vielen als skandalös empfundene soziale Ungerechtigkeit. Kritiker begannen verstärkt, Reformen einzufordern, die im Wahlkampf von 1988 mit den Schlagwörtern: Modernisierung, Effizienz, Dezentralisierung und Demokratisierung angesprochen wurden. Dieser letzte Punkt verdient besondere Beachtung: 1988, 30 Jahre nach Punto Fijo und fast 15 Jahre nach der vermeintlich definitiven Konsolidierung der venezolanischen Demokratie, hielten es noch immer alle Parteien für nötig, dem Ziel der Demokratisierung einen herausgehobenen Platz in ihren Wahlprogrammen einzuräumen.29 Insbesondere bezüglich der Dezentralisierung gab es in den Folgejahren auch durchaus einige Fortschritte - was u. a. aber die gewiss unintendierte Folge hatte, dass AD und COPEI, die bislang von den zentralistischen Methoden der Verteilung öffentlicher Gelder durchaus profitiert hatten, weiter an Rückhalt verlo„ „ „ 30
ren. Zu Beginn seiner zweiten Amtszeit (1989) verkündete dann Carlos Andrés Pérez ziemlich überraschend und in deutlichem Gegensatz zu der Politik, die er im Wahlkampf seinen Wählern vielleicht nicht explizit versprochen, aber doch als beabsichtigt suggeriert hatte, den abrupten Abschied von der jahrzehntelangen populistischen Wirtschaftspolitik, an deren Stelle ein rigoroses wirtschaftliches Reformprogramm treten sollte. Dieses sozial höchst unausgewogene Programm, das die ärmeren Bevölkerungsschichten besonders hart traf, provozierte bekanntlich Ende Februar 1989 einen regelrechten Volksaufstand in Caracas und mehreren anderen Städten. Pérez verhängte den Ausnahmezustand und ließ die (durchaus gewaltsamen) Unruhen sehr blutig niederschlagen: Quellen sprechen von insgesamt etwa 300, andere sogar von 1000-1500 Toten allein in Caracas.31 Seitdem kam Venezuela nicht mehr zur Ruhe. Im Februar und November 1992 gab es bekanntlich zwei Putschversuche, die nur knapp scheiterten - der erste davon unter Hugo Chávez. Obwohl die Erhebungen von der Mehrheitsfraktion der Militärs niedergeschlagen wurden, gab es Anzeichen dafür, dass die Aufständischen vor allem in den ärmsten Bevölkerungsschichten, aber auch bei einem Teil der Intellektuellen Zustimmung genossen. Die Kette politisch moti29 30
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Vgl. Welsch/Weiz 1999: 7 f. Die bereits 1984 ins Leben gerufene Staatsreformkommission COPRE (Comisión Presidencial para la Reforma del Estado) legte eine Vielzahl von Studien vor, von denen einige auch umgesetzt wurden. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat nach Medienberichten erst kürzlich (Sommer 2003) 37 Familien von Opfern dieser Repressionswelle erhebliche Entschädigungssummen zugesprochen.
vierter Gewaltakte riss auch nach diesen fehlgeschlagenen Putschversuchen nicht ab. Die Militärs waren wieder ein Faktor der Politik. 1993 wurde Carlos Andrés Pérez dann infolge massiver Korruptionsvorwürfe zum Rücktritt gezwungen. Bis zum Ende der Wahlperiode amtierte, einvernehmlich vom Parlament gewählt und unspektakulär, ein Interimspräsident (Ramón J. Velásquez). Aus den Präsidentschaftswahlen Ende 1993 ging mit nur 30% der Stimmen der COPEI-Gründer Caldera - vor Claudio Fermín (AD) mit 23% und Andrés Velásquez (Causa R) mit 22% - als Sieger hervor. Caldera war allerdings nicht für die COPEI angetreten, sondern für ein sehr breites Wahlbündnis (Convergencia Nacional), das von Anhängern des Ex-Diktators Pérez Jiménez bis zum linksgerichteten MAS insgesamt 17 Parteien umfasste.32 AD und COPEI mussten gegenüber den Wahlen von 1989 Verluste von zusammen 50% hinnehmen ein eindeutiger Beleg dafür, dass sich die Erosion des tradierten Zweiparteiensystems weiter fortsetzte. Auch wirtschaftlich und sozial beschleunigte sich die Talfahrt in den 80er und 90er Jahren erheblich, praktisch alle relevanten volkswirtschaftlichen Indikatoren wiesen schließlich nach unten. Nach den Statistiken der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) ging das venezolanische BIP 19811990 im Jahresdurchschnitt um 0,7% zurück, pro Kopf der Bevölkerung waren es sogar 3,2%. In den 90er Jahren (1991-1998) wuchs zwar das BIP im Jahresdurchschnitt um 2,3%; aufgrund des Bevölkerungswachstums stagnierte jedoch das Pro-Kopf-Einkommen. Wenngleich die Inflationsrate zum Jahresende 1998 mit knapp 30% den niedrigsten Stand seit Jahren erreicht hatte, nahm sie damit noch immer eine „Spitzenposition" in Lateinamerika ein. Die offizielle Arbeitslosenrate pendelte sich seit 1995 zwischen 10% und 12% ein, was nicht alarmierend klingt. Der Anteil der Bevölkerung, der in Armut lebte, steigerte sich jedoch nach Angaben des UNDP von 26% im Jahr 1989 auf etwa 80% in den Jahren 1997/98. Auch nationale Quellen gingen von bis zu 80% Armen Mitte der 90er Jahre aus, während nach Angaben der CEPAL der Anteil der armen Haushalte 1994 bei immerhin 42% lag (1990: 34%; 1981: 22%). Mehr als 50% der erwerbstätigen Bevölkerung versuchte in jenen Jahren, in der Informalität zu überleben, da der gesetzliche Mindestlohn von weniger als US$ 200 gerade die Hälfte des Mindesternährungsbedarfs einer durchschnittlichen Familie abdeckte. Komplettiert wurde das negative Panorama durch die ständige Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen (Gesundheit, Erziehung und Bildung, öffentliche Sicherheit, Justiz), durch Klientelismus und Korruption im staatlichen wie privaten Bereich.
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Convergencia Nacional war von Caldera neu gegründet worden, nachdem er 1993 aus der (von ihm selbst in den 20er Jahren gegründeten) COPEI ausgetreten war, weil er dort als Präsidentschaftskandidat durchgefallen war. 49
Gegenüber diesem eher düsteren Gesamtbild nahmen sich Neuerungen wie etwa die Öffnung des Erdölsektors für ausländische Unternehmen, von der man sich Effizienz- und Modernisierungsgewinne versprach, die Verabschiedung eines zehnjährigen Investitionsplans bei der staatlichen Ölholding PdVSA, Fortschritte bei der politischen Dezentralisierung (insbesondere auf der kommunalen Ebene) oder die Verabschiedung von Rahmengesetzen zur Sozialversicherungsreform (1997), zur Gleichstellung der Frau (1997) und zur Strafrechtsreform (1998) eher bescheiden aus. Unter der Präsidentschaft von Caldera stieß also das zentralistische, auf den bipartidismo von AD und COPEI gegründete, im wesentlichen erdölfinanzierte Präsidialsystem mit stark populistischen Zügen endgültig an seine Grenzen. Eine dramatische Zunahme der absoluten und der relativen Armut, der unübersehbare Reformstau, die Bewegungslosigkeit der Systemparteien und der Regierung, die wachsende Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten, ihre politische Desillusionierung und die wahrgenommene Selbstbereicherung der Eliten beherrschten den Hintergrund, vor dem Ende 1998 die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfanden. Auf die damit verbundenen politischen Gefahren wies schon ein gutes Jahr vor den Wahlen der in Caracas sehr bekannte und höchst einflussreiche Jesuitenpater und Rektor der Universidad Católica Andrés Bello, Luis Ugalde, ganz deutlich hin: Er diagnostizierte „20 Jahre stetigen demokratischen Niedergang (1978-1998)" nach „20 Jahren demokratischer Fortschritte" (seit 1958) und folgerte daraus: Ganz besonders unlogisch ist die Erwartung, daß die venezolanische Bevölkerung die Politiker und die Staatsmacht lieben soll, nachdem sie gesehen hat, wie seit 1973 300 Milliarden Dollar Haushaltsgeld durch die Hände der Regierenden gegangen sind, wahrend die Menschen immer ärmer wurden. [D]ie politischen Parteien sind fest [...] mit diesem schon fast kadaverartigen Staat verknüpft!...]. Bei den nächsten Wahlen werden wir eine charismatische, unverbrauchte Persönlichkeit brauchen, die gewillt ist, nicht Illusionen zu wecken, sondern sichere Erwartungen, die ausdrücklich an bestimmte neue Maßnahmen, Anstrengungen und Vorgehensweisen gebunden sind, die anspruchsvolle Mittel mit erstrebenswerten Zielen verknüpfen. (Ugalde 1997)
An Hugo Chávez wird er dabei allerdings kaum gedacht haben. Etwa zur gleichen Zeit, zu der Ugalde die zitierten Überlegungen anstellte, im August 1997, erschien in Venezuela Analítica ein Artikel von Ignacio E. Oberto,3 in dem dieser den damals fast hysterischen Börsen-Hype der tatsächlichen ökonomischen und sozialen Situation gegenüberstellte und dazu anmerkte: 33
Abgedruckt als Dokument 30 in Lateinamerika. Analysen, Daten, Dokumentation 37 (Februar 1998), S. 145-147.
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Dieser Überschwang kontrastiert mit einer hartnackigen und explosiven Inflation, die dieses Jahr bei Ober 40% zu liegen droht; mit einem Rückgang der Realeinkommen, das die Venezolaner auf das Niveau vom Anfang der siebziger Jahre zurückwirft; mit einem Ausmaß an kritischer und extremer Armut, das Experten bei mehr als 60% ansiedeln [...]; mit dem Fehlen jeglicher sozialen Absicherung [...]; mit einer hohen Arbeitslosigkeit; [...] mit einer wenig vertrauenswürdigen Justiz; mit dem völligen Fehlen persönlicher Sicherheit; [...] und bei alledem wird völlig verkannt, wo wirtschaftlicher Liberalismus aufhört und die totale Auslieferung des Gemeinwesens an die Güte Gottes durch einen grundlegend verantwortungslosen Staat anfängt.
Angesichts dieser Ausgangslage vor der Wahl von 1998 war vorhersehbar: wenn es eine neue, nicht an die traditionellen Parteien gebundene, authentisch wirkende Option geben sollte, dann würden ihr hervorragende Wahlaussichten gewiss sein. Eine Weile sah es so aus, als gäbe es diese Option nicht etwa in der Person von Hugo Chävez, sondern in einer sehr viel „venezolanischeren" Lösung. Denn Umfragedaten (Datanälisis) besagten, dass im August 1997 - also zu der Zeit, als die beiden zitierten Autoren schrieben, etwa 15 Monate vor den Wahlen die Wahlabsicht, wenn damals Wahlen gewesen wären, folgendermaßen aussah: Irene Säez Claudio Fermin (AD) Hugo Chävez Henrique Salas Römer
44,8 % 13,1% 11,7% ca. 10 %34
Es gab also zu diesem Zeitpunkt neben Hugo Chävez mindestens eine weitere aussichtsreiche „ A n t i - P a r t e i e n - A l t e r n a t i v e " , j Gestalt der damals erst 36-jährigen Irene Säez, Bürgermeisterin von Chacao (einem der wohlhabendsten Stadtteile von Caracas), deren Bekanntheit vor allem darauf beruhte, dass sie 1981 als Miss Universum reüssiert hatte. Bis zu den Wahlen wendete sich dieses Blatt allerdings dramatisch. Wohl nicht zuletzt deswegen, weil die COPEI, die keinen eigenen Kandidaten aufgestellt hatte, sie offiziell zu unterstützen begann, verschlechterten sich die Umfrageergebnisse für Irene Säez rasant, während diejenigen von Hugo Chävez, der sehr viel deutlicher für den Bruch mit den traditionellen Parteien und Strukturen stand, entsprechend besser wurden. In allerletzter Minute unternahmen AD und COPEI einen verzweifelten Versuch, den Wahlsieg von Chävez doch noch zu verhindern: Die COPEI ließ Säez fallen; die AD musste noch drastischer vorgehen und den eigenen Präsidentschaftskandidaten, den altgedienten, uncharismatischen Parteifunktionär Alfaro Ucero, der sich störrisch weigerte, seine Kandidatur freiwillig zurückzuziehen, gar aus der Partei ausschließen, um seine Kann
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Siez und Salas Römer waren Kandidaten, die zu der Zeit offiziell unabhängig von den traditionellen Parteien waren; Fermin war der damals wahrscheinlichste Präsidentschaftskandidat der AD. 51
didatur offiziell zu annullieren. Die gemeinsame Wahlempfehlung zugunsten des „unabhängigen" Kandidaten Salas Römer (der allerdings ursprünglich aus den Reihen der COPEI stammte) brachte diesem am Ende zwar immerhin 40% der Stimmen - aber das war viel zu wenig gegenüber den 56% von Chävez.35
4. Fazit Stellt man die beiden Entwicklungsphasen „vor Chävez" und „seit Chävez" einander gegenüber, kann man sich durchaus fragen, ob es sich bei den feststellbaren Unterschieden - so groß sie im Detail auch sein mögen - nicht vielleicht doch nur um „Epiphänomene" handelt, die die grundlegende Kontinuität des venezolanischen Systems, den Fortbestand der entscheidenden effektiven Institutionen des Systems lediglich verschleiern und die schon immer vorhandenen Demokratiedefizite nur aufgrund der geänderten Rahmenbedingungen und der Kompromisslosigkeit und Radikalität von Chävez besonders deutlich aufzeigen. Es gibt durchaus plausible Argumente für eine affirmative Beantwortung dieser Frage. Chävez wollte mit seiner Idee einer „demokratischen Revolution" zur Fünften Republik zwar die von ihm konstatierten Defizite der Vierten Republik überwinden, aber - wie ein Kommentator erst kürzlich, im Jahre 3 der „Bolivarischen Republik", bemerkte: Venezuela riecht noch immer stark nach Vierter Republik, und zwar nicht von Seiten der Besiegten, sondern der Sieger. [...] Etatismus, Korruption, Unterentwicklung und viel öl. War nicht genau das die Vierte Republik? Wodurch unterscheidet sich die Fünfte davon? [...] sie unterscheidet sich in einer Hinsicht: mehr Etatismus, mehr Korruption, mehr Unterentwicklung, bei ungefähr genauso viel Öl. (Vargas Llosa 2002: SS)
Inzwischen scheint nicht einmal Letzteres mehr sicher; und auch wer hier die „Sieger" und wer die ,.Besiegten" sind, ist nicht mehr immer leicht zu unterscheiden. Unterscheiden lassen sich dagegen vielleicht abschließend zwei für die Demokratie entscheidende Wirkungszusammenhänge:
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Auch von den Parlamentswahlen, die kurz zuvor, im November 1998 stattgefunden hatten und nur mit sehr knappem Vorsprung vor der AD von Hugo Chávez' Wahlbündnis gewonnen wurden, sind einige Kuriositäten zu berichten: (1) Bemerkenswert ist z. B., dass Carlos Andrés Pérez, gegen den massive Korniptionsvorwürfe anhängig waren, quasi aus der Untersuchungshaft heraus (die aufgrund seines Alters als Hausarrest verhängt war) in seinem Heimatstaat zum Senator gewählt wurde, mit der Folge, dass er parlamentarische Immunität gewann, so dass die gegen ihn laufenden Untersuchungen ausgesetzt werden mussten (Welsch/Wetz 1999: 15). (2) Ein zweites bemerkenswertes Detail ist die Wahl von Chávez' Vater (einem Lehrer ohne politische Erfahrung) zum Gouverneur des Bundesstaates Barinas.
4.1. Zusammenhang Demokratie - Institutionen/Recht Venezuela war ab 1959 ein über viele Jahre legitim und stabil erscheinendes System. Das war in erster Linie deshalb so, weil offenbar die normativen Stützpfeiler, auf denen es beruhte, grundsätzlich und im Großen und Ganzen von einer großen Mehrheit der Venezolaner anerkannt wurden. Zu diesen akzeptierten Stützpfeilern gehörten insbesondere das Abkommen von Punto Fijo von 1958 und gewisse Vorstellungen vom einzuschlagenden Wirtschaftsmodell, aber eben auch die Überzeugung, daß die persönlichen Fähigkeiten der politischen Führer wichtiger sind als die institutionelle Grundlage des Staates, und damit konsequenterweise auch ein ausgeprägtes Mißtrauen in abstrakte allgemeine Regeln (Garzón Valdés 1988: 167).
Genau auf Letzteres aber ist wohl zu einem erheblichen Teil die heutige prekäre Lage zurückzuführen. Denn wird die Bedeutung von wirksamen Institutionen und Regeln ignoriert, dann wird ein System - jedes System - vulnerabel, wenn jene Erwartungen in die „persönlichen Fähigkeiten der politischen Führer" erst einmal nachhaltig enttäuscht wurden, wie es in Venezuela ganz sicher durch Carlos Andrés Pérez in seiner letzten Amtszeit und inzwischen ohne Zweifel in erheblichem Maße auch durch Hugo Chávez geschehen ist.36 Die vermeintliche Stabilität der venezolanischen Demokratie war also im Grunde seit jeher trügerisch. Zwei Bedingungen für ihre Aufrechterhaltung hat gerade mit Blick auf Venezuela schon vor 30 Jahren David Blank formuliert: Democracy in Venezuela [...] is practiced and maintained essentially by a minority of Community leader activists. As long as these leadership groups act in a civil manner toward one another and as long as the various mass clienteles of these leaders refer to them, the democratic process should be in no danger (David E. Blank (1973): Politics in Venezuela. Boston: Little, Brown, S. 273, zit. nach Garzón Valdés 1988: 174 f.).
Blank schrieb dies 15 Jahre nach Punto Fijo - in demselben Jahr, in dem 80% der Befragten einer Umfrage in Venezuela die Meinung äußerten, das Land werde „zum Wohle mächtiger Interessengruppen regiert". Genau das gleiche Ergebnis erbrachte die gleiche Frage auch 1996. Dass sich unter diesen Umständen die „Massenklientel" irgendwann nicht mehr auf die herrschenden politischen Führer verlässt, liegt auf der Hand. Und es kann noch nicht einmal überraschen, dass selbst die zweite Bedingung, der „zivile Umgang miteinander", dabei in Misskredit gerät - muss er doch in den Augen vieler Benachteiligter mit dafür verantwortlich sein, dass sich jahrzehntelang für die große Mehrheit der Bevölkerung nichts Grundlegendes zum Besseren geändert hat. 36
Aber vgl. auch den Fall Argentinien: Alfonsin, Menem, De la Rúa ... Garzón Valdés spricht denn auch von einer „fatalen Mißachtung der strukturellen Defizite des Systems" (1988: 174; vgl. dort auch den Verweis auf Maza Zavala, der schon 1973 bemerkte, dass die fehlende inhärente Dynamik des venezolanischen Systems auf Dauer eine Gefahr für die demokratische Stabilität darstellt). 53
4.2. Zusammenhang Demokratie - Ökonomie Carlos Fuentes erinnerte Anfang 1999 im Zusammenhang mit der ersten Wahl von Hugo Chavez an eine dringliche Lektion für ganz Lateinamerika: wenn die demokratischen Regime nicht schnell und deutlich sichtbar den Lebensstandard der Bevölkerung verbessern, wird diese ihnen ihr Vertrauen entziehen und es wieder jener anderen Tradition geben: der harten Hand, dem starken Mann, dem Autoritarismus.37
Wie dringlich diese Lektion ist, illustrierte Fuentes anhand aktueller Daten der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank, von CEPAL und UNDP, wonach • • •
3 von 5 Stadt- und 4 von 5 Landbewohnern in Lateinamerika arm sind; etwa die Hälfte der Bevölkerung Lateinamerikas (196 Mio.) von weniger als US$ 60 im Monat leben muss und fast ein Viertel (94 Mio.) sogar von weniger als US$ 30 (womit sie als „extrem arm" zu klassifizieren sind).
Venezuela hebt sich von diesen Durchschnittswerten keineswegs positiv ab. Was diese und andere Daten für die „Schönheit" der venezolanischen Demokratie in den vielen Jahren vor Ankunft des vermeintlichen „Biests" bedeuten, bringt eine Bemerkung des schon zitierten Luis Ugalde von 1997 - also ein gutes Jahr vor der Wahl von Hugo Chavez - knapp und drastisch auf den Punkt: „Eine Autorität, die nicht das öffentliche Wohl, sondern das öffentliche Elend betreibt, ist Diktatur - ganz gleich, auf welchem Weg sie an die Macht gelangt" (Ugalde 1997). Es scheint nur die konsequente Fortfuhrung dieses .jesuitischen" Gedankens zu sein, wenn Hugo Chavez kurz nach seiner Wahl das Regime seiner Vorgänger eine „als Demokratie verkleidete Diktatur" nennt. Damit ist wohl auch das Wichtigste gesagt im Hinblick auf die letzte hier noch offene Frage: Wie sieht es aus mit der eingangs ins Auge gefassten venezolanischen Neufassung von „Die Schöne und das Biest"? „Biester" gibt es bekanntlich viele - in Venezuela und anderswo, immer. Zu „Prinzen" mutieren sie selten. Eine der wichtigsten Aufgaben eines rechtfertigungsfähigen politischen Systems ist es, gerade sie zu kontrollieren und ihnen möglichst keinen politischen Spielraum zu gewähren. Schon Kant wusste klar zu formulieren (Zum ewigen Frieden, 1795), dass die Aufgabe darin besteht, selbst „ein Volk von Teufeln" so zu institutionalisieren, dass das Ergebnis ihres Agierens zum Wohle aller gereichen kann. In Venezuela gibt es sehr viel Schönes und bekanntlich auch besonders viele Schöne - das war vor Chdvez so und wird auch so bleiben. Die Demokratie allerdings gehörte bisher nicht dazu.
37
La Nación (Buenos Aires), 7. Februar 1999, Sección 7, S. 4.
54
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Oliver Diehl
Hugo Chävez Charisma als soziokulturelles Phänomen 1. Einleitung Die Auseinandersetzung mit einem Politiker wie Hugo Chävez ist für einen deutschen Sozialpsychologen kein Tabu, jedoch vor dem Hintergrund des psychologischen „Mainstreams" eher ungewöhnlich. Die Herausforderung einer Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen venezolanischen Präsidenten liegt jedoch nicht in seiner Person allein begründet. Sie geht weit Uber die Einschätzung der Persönlichkeit hinaus, da die politische Wirkung des Hugo Chävez auf einer direkten Interaktion mit kulturellen Werten und Normen seiner Anhänger beruht. Ich werde im Folgenden die Auffassung vertreten, dass Hugo Chävez als kulturelles Phänomen verstanden werden muss, in dem und an dem sich gegenwärtige und typische kulturelle Merkmale der venezolanischen Gesellschaft widerspiegeln. Die Argumentation meines Beitrags zu diesem Band wird weder politisch-soziologisch, noch persönlichkeitspsychologisch orientiert sein. Es ist der Versuch, Hugo Chävez, sein Auftreten und Handeln, in kulturellen Zusammenhang mit dem Umfeld zu bringen, in dem er agiert. Unbestreitbar bleibt jedoch, dass aus dieser Argumentation begründete Schlussfolgerungen durchaus politischen Charakter haben können, m. E. auch sollten. Im Einzelnen bleibt dies jedoch dem Leser vorbehalten. Venezuela ist mit der Präsidentschaft von Hugo Chävez ein ideologisch extrem gespaltenes Land (vgl. Carrasquero 2002). In diesem Klima nach „Objektivität" zu suchen, bleibt die vornehmste Aufgabe der Sozialwissenschaften. Es wird zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch kaum jemand von sich behaupten können, gänzlich unvoreingenommen zu sein. Chävez und seine Gegner sind zu polemisch, die Situation zu verworren. Eine psychologisch interkulturelle Refle57
xion soll deshalb beitragen, einer überhitzten Diskussion mehr inhaltliche Substanz, zumindest jedoch Orientierung zu verleihen. Dazu ist es nötig, sich von althergebrachten Klischees zu lösen und ethno-zentrische Perspektiven aufzugeben. Da es aber gerade die Ähnlichkeiten sind, die unsere vielbeschworenen kulturellen und historischen Bande zur Neuen Welt, unser Verhältnis zu den Staaten Lateinamerikas, bestimmen, muss die Andersartigkeit eines Hugo Chävez auch für den deutschen Beobachter zunächst ein schwer zu ertragendes Schauspiel sein. Machen wir uns jedoch nichts vor: Der venezolanische Präsident hat sich bislang in jeder demokratischen Wahl behaupten können und ist mit dieser Unterstützung an der Macht geblieben. Auch beim bevorstehenden Referendum wird sich wohl eine deutliche Mehrheit für die Weiterführung seiner Amtszeit bis 2006 aussprechen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu stellen, soll im Folgenden ein Blick auf das Erfolgsgeheimnis des Hugo Chävez aus sozialpsychologischer Sicht geworfen werden. Vorab sind jedoch zwei Umstände anzumerken, die in der aktuellen Situation (mit-)bedacht werden müssen. 1.) Obwohl Hugo Chavez im Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung Venezuelas steht und als Präsident eines wegen seines Ölreichtums nicht unbedeutenden Landes auf dem lateinamerikanischen Subkontinent deutlich wahrgenommen wird, bleiben er und sein Staat für die Deutschen weitgehend unbekannt. Die starke wirtschaftliche und kulturelle Orientierung Venezuelas an den Vereinigten Staaten sowie der fehlende historische Link durch deutsche Einwanderung in größerem Ausmaß haben die Vorstellung vom Karibikstaat Venezuela zwar nicht auf die einer „Bananenrepublik" reduziert, reichen jedoch nur wenig über das Sonne-StrandSalsa-Stereotyp des hierzulande beliebten Touristenziels Isla Margarita hinaus. 2.) Die Medien spielen eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des Präsidenten, den Chavistas, und der Opposition, die in einem Netzwerk unterschiedlicher Gruppierungen, der Coordinadora Democrätica - kurz CD, organisiert ist. In Übereinstimmung mit großen Teilen der venezolanischen Ober- und Mittelschicht hatten sich die Medien auf die Seite der Opposition gestellt und bereits früh die Meinung vertreten, Hugo Chävez sei für die Präsidentschaft ungeeignet. Dieser Standpunkt fand in den Protestwahlen von 1998 keine Mehrheit; die Wahlen brachten Chävez dagegen überwältigende Siege. Diese dienten ihm als Grundlage der Verfassungsreform von 1999/2000, deren Ergebnis die „Bolivarische Republik" ist. Statt sich in die Reihen der mächtigen Politikelite einzureihen, so wie es die meisten seiner Vorgänger getan hatten, provozierte der neue Präsident Hugo Chävez in immer neuen Attacken die „Oligarchen" der alten Parteisyndikate und machte sie für die desaströse Situation des Landes verantwortlich. Mit dieser nicht enden wollenden Attacke verspielte Chävez in58
nerhalb weniger Monate die spärliche Unterstützung, die man ihm in den Chefetagen der Industrie- und Dienstleistungskonzerne zugebilligt hatte. Ein medialer Machtkampf entbrannte, dessen Kompromisslosigkeit wohl von niemandem so erwartet worden war. Da die Medien in Venezuela bis auf wenige - eher unbedeutende - öffentliche Kanäle (z.B. Canal 8 - VTV-Venezolana de Televisóri) privatisiert sind, bleibt der Versuch einer neutralen Außenwahmehmung der politischen Entwicklung auch für Lateinamerikaexperten ein schwieriges Geschäft. Die privaten Anbieter berichten bewusst einseitig, aber auch die Staatskanäle sind darum bemüht, eine geschönte - ebenfalls realitätsfeme - Sicht der Dinge abzugeben. Auf höchstem Niveau bewegt sich die politische Auseinandersetzung direkt zwischen dem Medienuntemehmer Diego Cisneros (Grupo Venevisión) und Hugo Chavez, der Cisneros als „Capo" der Opposition und Drahtzieher der Konspiration gegen seine Regierung bezeichnet.1 Da sich die deutsche Berichterstattung über Venezuela in der Regel auf Informationen der privaten, nach CNN-Muster aufgezogenen, Medienkonzeme Venevisón, Globovisión, Televen und RCTV stützt, ist es nicht verwunderlich, dass auch in Deutschland ein oftmals verqueres, zumindest einseitiges, Chävez-Bild gezeichnet wird. Die Hauptthese des vorliegenden Beitrags lässt sich kurz zusammenfassen: Diskurs und Auftreten von Hugo Chävez sind nicht primär an ein Publikum aus der gebildeten Mittel- und Oberschicht oder gar ausländische Beobachter gerichtet, sondern zielen auf die demographische Mehrheit der ungebildeten und verarmten Unterschichten ab. Um Bedeutung und Intention zu verstehen, bedarf es einer „Übersetzung", sowohl für Außenstehende wie auch diejenigen, die sich als Venezolaner weit von den Kultur- und Kommunikationsstandards der Mehrheit entfernt haben. Das hier vertretene Argument ist, dass Chàvez in Einklang mit einer Reihe wichtiger soziokultureller Standards agiert, die ihn für einen Großteil der Venezolaner „attraktiv" machen. Das Schema in Abbildung 1 soll die Annahmen hierzu darstellen:
1
Um den Konflikt zwischen beiden kurz vor dem Referendum am 15. August 2004 nicht eskalieren zu lassen, musste der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter noch am 20. Juni als Vermittler filr ein Gespräch zwischen beiden eingeschaltet werden. Carter ist mit seiner Organisation „Carter Center" seit geraumer Zeit in Venezuela tätig und tritt filr die Einhaltung demokratischer Spielregeln ein.
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Abbildung 1: Analyseschema zur soziokulturellen Bindung ChävezPueblo-Oposicion
Quelle:
Eigene Darstellung.
Entscheidend ist Verbindung (1.), die es Chavez erlaubt, dem „Volk aufs Maul" zu schauen. Dagegen stützt sich die Opposition auf intellektuelle Schichten, die sich nach 25 Jahren des ökonomischen Niedergangs zu weit von der Mehrheitsrealität entfernt haben und von ihr durch eine soziokulturelle Schranke sowohl kommunikativ wie auch emotional getrennt sind (2.). Diese Schranke war in der Vergangenheit der Outgroup vorbehalten, also externen Beobachtern (4.), die sich eindeutig vom kulturellen Hintergrund der Venezolaner abhoben. Mittlerweile, so die Hypothese, hat eine Verschiebung dieser Schranke stattgefunden (3.), so dass sich auch weite Teile der Opposition in massiven Kommunikationsund Verständnisschwierigkeiten befinden (vgl. Febres et al. 1993; Serbin et al. 1993). Nur weil sich Chävez - auch durch Unfähigkeit der Oppositionsgruppierungen - dieses Zusammenhangs versichern konnte, war das Überstehen des Staatsstreichs von 2002 und des kurz darauf folgenden, drei Monate dauernden, Generalstreiks möglich. Beide Vorkommnisse haben das Land an den Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs geführt. Es geht im Folgenden jedoch nicht darum, diesen Umstand als Heroentat des venezolanischen Volkswillens zu mystifizieren (so wie es die Regierung im laufenden Wahlkampf beabsichtigt), sondern darum, mit Hilfe einer vertieften Analyse relevanter kultureller Stan-
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dards ein objektiveres Bild des Hugo Chävez zu zeichnen und sich vom gängigen Klischee abzuheben. Es wäre naiv, zu glauben, dieser Mann hätte bislang einfach Glück gehabt oder würde sich mit der Zeit selbst ins Abseits stellen.2 Dieser Vorstellung sind die politischen Eliten der so genannten Vierten Republik allzu lange gefolgt. Vielmehr sollte das Phänomen „Chävez" mit aller Ernsthaftigkeit nun auch in Deutschland diskutiert werden. Wenn sich die Anzeichen der letzten Monate bestätigen, wird Chävez nicht nur seine Amtszeit bis 2006 zu Ende führen, sondern auch die Bolivarische Revolution als Projekt konsolidieren. Nachdem er schon früh Ambitionen gezeigt hatte, weit über eine Amtszeit hinaus an der Macht zu bleiben, verkündete er beim ersten Jahrestag des gegen ihn gescheiterten Putschversuchs den 24. Juni 2021 als Datum für seinen politischen Abgang. Aus „¡Nunca me voy a ir!" (Chävez am 29.12.02) wurde das konkretere „Tengo que pedirles permiso por adelanto para irme el 24 de junio del 2021" (Chävez am 11.04.03). Dies würde bedeuten, wir hätten zunächst den Chävez der Früh-, der „Sturm- und Drangphase" erlebt, der nach Putschversuch (2002), Generalstreik (2003) und Referendum (2004) in seine - reifere - Hochphase eintritt. Dieser Chävez könnte Lateinamerika noch eine Weile erhalten bleiben und den Rest der Welt in Atem halten.3 Wenn es die Opposition nicht schafft, sich über einen authentischen, für die Mehrheit der Venezolaner glaubhaften und verständlichen Diskurs Mehrheiten zu verschaffen, wird Chävez auf absehbare Zeit die Wahlen im Land für sich entscheiden (vgl. Keller & Asoc. 2003). Für den Beobachter dieses Prozesses muss klar sein: Der politische Erfolg von Hugo Chävez ist eng mit dem persönlichen Charisma verbunden, das er auf große Teile der venezolanischen Bevölkerung ausstrahlt. Dieses Charisma kann nur idiosynkratisch, d.h. aus dem spezifisch soziokulturellen Kontext heraus interpretiert werden (vgl. Diehl 2002). Es steht der deutschen Lateinamerikaforschung gut an, sich auf diesem Feld gerade interdisziplinär - stärker zu profilieren.
2. Hugo Chävez als venezolanische Dauerkontroverse Versuch einer Annäherung In der internen politischen Auseinandersetzung mit Hugo Chävez hat die Oppositionsbewegung - gerade vor dem 11. April 2002 - versucht, die Person Chävez 2
3
Stichwort „Glück": Einschränkend sollte man zugestehen, dass die Regierung Chävez ohne die kontinuierlich hohen Rohölpreise politisch nicht Überlebt hatte, auf die ihre Vorgänger nicht hatten zählen dürfen. Die von Chävez forcierten Sozialprogramme werden fast ausschließlich über Sozialfonds gespeist, die von der staatlichen Erdölgesellschaft PdVSA finanziert werden. Allerdings mit der Prognose, ähnlich wie im Fall Muammar Ghaddafi, sich vom Saulus zum Paulus der Region zu entwickeln.
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als pathologisch abweichend darzustellen. Ob diese Argumentation als koordinierte Wahlkampfstrategie geplant und durchgeführt wurde, muss offen bleiben. Tatsache ist jedoch, dass venezolanische Fernseh- und Hörfunkprogramme seit 2001 regelmäßig Psychiater und Psychologen zur Diskussion und Ferndiagnose über den Gesundheitszustand des Präsidenten einladen. Diese „Psycho"-Argumentation gewann in dem Maße an Schärfe, wie Hugo Chavez sich polemisch polarisierend mit den Eliten Venezuelas anlegte, sie als „Oligarchen" für den sozialen Abstieg seit Ende der 70er Jahre verantwortlich machte und gleichzeitig die Annäherung an Kuba suchte.4 Die häufigen, oft stundenlangen Direkteinspielungen präsidialer Ansprachen (cadenas) in den Medien führten unter den Telenovela-verwöhnten Venezolanern schon früh zu Verwirrung.5 Hugo Chävez' Auftreten erinnerte dann auch zu stark an die Monologe Fidel Castros. Die Argumentation war oftmals nicht stringent, für Bildungsbürger eher grotesk, dafür umso provozierender belehrend. Die Parolen über eine bevorstehende „Revolution" mussten den demokratisch orientierten Venezolanern wie die Ankündigung eines Bürgerkriegs vorkommen. Kein Wunder also, dass Intellektuelle und viele Angehörige der Mittelschicht begannen, an der Seriosität ihres Präsidenten zu zweifeln. Zunächst war die Diskussion über die Pathologie nach innen gerichtet. Die Opposition ging davon aus, dass die Mehrheit der Venezolaner sich schnell vom Egomanen und Demagogen Chavez distanzieren würde. Dieses Kalkül war nicht unbegründet, denn Venezuela kann seit 1958 auf eine für lateinamerikanische Verhältnisse beeindruckende Abfolge demokratischer Wahlen zurückblicken.6 Auch wenn die Präsidenten der Vierten Republik immer wieder durch Missmanagement, Korruptionsaffären und Liebschaften auffielen und das Land in seiner schwersten ökonomischen Krise zurückließen, so war die venezolanische immer auch eine typisch lateinamerikanische Malaise. Die Eliten gingen hiermit um, ohne das demokratische System oder die Institution des Präsidenten ernsthaft zu hinterfragen. Hugo Chavez stellte dagegen eine ganz andere Herausforderung dar: Dieser Mann war demokratisch gewählt, aber keiner etablierten Gruppierung zugehörig und offensichtlich auch nicht durch diese zu kooptieren. Für die Strippenzieher der venezolanischen Politik muss allein diese Tatsache wie eine psychische Abnormität gewirkt haben. Chävez' Auftreten rüttelte zudem am liebgewonnenen Image der konsolidierten, wenn auch defizienten, Demokratie - im ökonomischen Niedergang für viele Venezolaner der Mittel- und Oberschicht ein wichtiges Identifikationskriterium, gerade dem Ausland gegenüber (vgl. Latinobarömetro 2003; Mato 1993). Es scheint deshalb nicht unlogisch, dass die Abqua4
s
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Für die US-assimilierten Eliten Venezuelas und die in ihrer Mehrheit ultra-konservativen Migranten, dem Spanien und Portugal der 50er Jahre entstammende Mittelschicht, ein Tabubruch. Auch private Sender sind zur Ausstrahlung verpflichtet, sehr zum Verdruss der Besitzer, die sich oft aktiv in der Oppositionsbewegung engagieren. Vgl. hierzu den Beitrag von Muno in diesem Band.
lifizierung der Person Hugo Chávez - bewusst oder unbewusst - mit dem Ziel betrieben wurde, die Mehrheit der Bevölkerung wieder auf den institutionellen Weg der Vierten Republik zurückzuführen und die - so das Kalkül - wenigen Hardliner des Movimiento Quinta República (MVR) als abnorme, fanatische Minderheit zu entlarven. Aus sozialpsychologischer Sicht ist diese Strategie nicht unproblematisch. Sie arbeitet mit sehr persönlichen, emotionalen Argumenten, die - gepaart mit dem enormen öffentlichen Druck der Medien - einzelnen Individuen kaum Spielraum für eigene Abwägung lässt und stark polarisiert. Die Verunglimpfung einer Person, die sich als „Robin Hood" für Arme, Globalisierungsverlierer und Angehörige der sozial „abgerutschten" Mittelschichten etabliert hat, kann gerade zu einer verstärkten Solidarisierung der Unentschlossenen mit Hugo Chávez führen. Selbst „weiche" Sympathisanten des Präsidenten werden sich kaum mit dem Argument Uberzeugen lassen, sie seien einem Neurotiker aufgesessen. Die Soziale Identitätstheorie (Tajfel/Tumer 1986) besagt, dass verstärkter sozialer Außendruck die Identifikation mit der Ingroup sogar noch verstärkt. Mitte 2004 bleibt festzuhalten, dass die Polarisierung der venezolanischen Gesellschaft zwar enorm zugenommen hat, eine Abkehr vom Loco Chávez (dem „Verrückten") doch nur in Teilen erreicht werden konnte. Hugo Chávez hat durch die Polarisierung der Medien mindestens ebenso an Sympathien gewonnen wie die Oppositionsbewegung. Diese interne Argumentationslinie der venezolanischen Opposition wurde auch in den ausländischen Medien in immer neuen Abwandlungen und Anspielungen aufgegriffen. Der Umstand ist insofern bedeutsam, als er für das europäische Verständnis des venezolanischen Präsidenten prägend war und ist. Zunächst hatte das Auftreten des Hugo Chávez in den Nachbarländern für Aufmerksamkeit gesorgt. Für die kolumbianische Wochenzeitschrift Semana ist Chávez bereits 1999 El Rey Caribe („König der Karibik"); sie spielt damit auf die ideologische Beziehung an, in der sich Chávez zum Nationalhelden Simón Bolívar sieht (vgl. Abbildung 4). Zu diesem Zeitpunkt ist Chávez bereits auffällig, aber noch nicht pathologisch. Mehr als ein Jahr später berichtet Die Zeit (Nr. 43, 2002) in einem ausführlichen Beitrag über Venezuela unter dem Titel „Der Narziss von Caracas".7 Hier ist der Übergang von Kuriosität zur Absurdität bereits vollzogen:
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In der Ausgabe Nr. 34 vom 12.8.04 erscheint eine weniger polemische Darstellung unter dem Titel „Der Messias von Caracas".
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Abbildung 4: Hugo Chàvez als „König der Karibik"
Quelle: Semana vom 2. August 1999 (Ausriss).
Chävez wird als „eklektische Mischung aus Thatcherismus und Castro-Ideologie beseeltem Tölpelmarxisten und postmodernem Showman" dargestellt (Luyken 2002). Die Beschreibungen der internationalen Presse reichen ab 2002 von „Clown" und „Witzfigur" bis zum ,.Diktator".8 Der Charakter des Präsidenten wird als messianisch, grandios, egomanisch, autoritär und mafiös, sein Führungsstil als napoleonisch, totalitär, despotisch und personalistisch gezeichnet. Psychopathologen geben für Chävez die Diagnose „nazistische Persönlichkeitsstörung" ab, so wie sie im DSM-III-R (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) zu finden ist.9 Diese fällt in die Kategorie der dramatischlaunischen Neurosen, ist durch übertriebenes Selbstwertgefühl und Verlust realistischer Einschätzung zur Wahrnehmung durch andere gekennzeichnet.
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Das Adjektiv „faschistisch" wird in Venezuela regelmäßig von beiden Seiten - Chavistas und Opposition - zur gegenseitigen Diffamierung benutzt. Den Vergleich Chävez-Hitler haben Oppositionsführer der CD mehrfach versucht, zu etablieren. Für die Psychologen unter den Lesern: Die Störung wird im DSM IV nicht mehr geführt und taucht auch im ICD 10 nicht gesondert auf.
Durch dieses immer wieder gemalte Zerrbild wird die Person Hugo Chávez, ihre Ausstrahlung und ihr Einfluss, deutlich unterschätzt. Dies hat dazu beigetragen, dass es in Deutschland zu keiner ernsthaften Analyse der soziopolitischen Entwicklung Venezuelas unter Präsident Chávez kommen konnte. Es überrascht daher nicht, dass die Medien hierzulande in den Tagen des misslungenen Putsches (11. und 12. April 2002) vorschnell mit dem Venezolaner abrechneten und ihn quasi als historischen Treppenwitz begruben. Für den interessierten Beobachter ist jedoch erstaunlich, dass die Person Chávez noch immer die politischen Fäden in der Hand hält. Kurz gefragt: Warum ist der Mann noch im Amt? Bislang konnten weder die Eliten der Medienkonglomerate, noch des Militärs oder der staatlichen Erdölgesellschaft PdVSA den Mann aus seiner Position entfernen. Auch das durch die Opposition erzwungene und von der Regierung nur sehr zögerlich akzeptierte Referendum (Opposition: referendum revocatorio; Chávez: referendum confirmatorio (!)) über die Weiterführung der Amtszeit wird Chávez wohl gewinnen. Der Opposition zugeneigte Analysten müssen mittlerweile zugestehen, dass zumindest eine Realität des Hugo Chávez keine Zweifel zulässt, nämlich die seiner fortlaufenden Präsidentschaft und erneut zunehmenden Popularität. Selbst an die Fiktion einer „Bolivarischen Revolution", deren einziger Vertreter Chávez noch vor wenigen Jahren zu sein schien, schließen sich immer mehr Venezolaner an. Psychologen müssten beim Beobachten der venezolanischen Politik von einer kognitiven Dissonanz sprechen, da sich die Medienberichterstattung über das totale Versagen der Regierung und die unveränderten Macht- bzw. Mehrheitsverhältnisse als widersprüchliche Realitäten entgegenstehen. Diese Dissonanz gilt es aufzulösen, indem die Frage beantwortet wird: Was tut dieser Mann, das Vertretern der venezolanischen Opposition und vielen ausländischen Beobachtern so lange verborgen blieb? Mit welchen Mitteln kommt er bei den Venezolanern „an"? Mit dem vorliegenden Beitrag soll keine eindeutige Antwort auf diese Frage gegeben werden, zumindest keine zwingende. Dem Leser bleibt das Urteil schließlich selbst überlassen. Wie oben bereits angedeutet, ist das Wissen um kulturelle Werte und Standards als Interpretationshilfe beim Verständnis des chavistischen Diskurses und Auftretens nützlich; fiir eine angemessene Einschätzung des Phänomens „Chávez" m.E. sogar unbedingt notwendig. Deshalb wird Hugo Chávez später in einigen Szenen selbst zu Wort kommen. Bevor aus systematischen Gründen kulturell relevante Standards in Lateinamerika und Venezuela betrachtet werden, sollen zwei Pressemeldungen des offiziellen Internet-Nachrichtendienstes Venpres die charakterliche Spannbreite der Äußerungen Chávez' deutlich machen.10 Diese reichen - wohlgemerkt in ein
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Anlass war hier die 200. Ausgabe der allsonntäglich von Chävez moderierten Sendung Alö Presidente. (Quelle: http://www.venpres.gov.ve/).
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und derselben Situation - von witzig-humorvoll-ironisch bis zu provokantaggressiv-martialisch: Meldung 1: „Naiguatá, estado Vargas, 01 Ago. Venpres: En medio de anéctodas y recuerdos, el jefe de Estado, Hugo Chávez Frías, anunció la transmisión de un „Aló Presidente" desde Cuba, cuando este domingo alcanzó la jornada audiovisual número 200 mientras conversaba con la directora de Radio Nacional de Venezuela (RNV), Elena Salcedo; la ex-directora de esta emisora, Teresa Maniglia, y el diputado, Juan Barreto, todos periodistas. El mandatario tomó conciencia, sin esconder su sorpresa, de que aún su homólogo cubano, Fidel Castro, no lo ha invitado para hacer desde la isla caribeña uno de sus programas semanales. Maniglia rememoró, que el primer programa, efectuado en la RNV [...] el presidente llegó „sensiblemente temprano, a diez para las nueve", y el programa estaba pautado para principar a las 9:00 de la mañana, cuya duración era de una hora y esto fue cuanto duró, lo cual fue otra sorpresa para Chávez". Meldung 2: „Naiguatá, estado Vargas, 01 Ago. Venpres: No permitiremos que nadie altere la buena marcha del país, que hemos recuperado, luego de las maniobras desestabilizadoras de los sectores golpistas de la oposición, en los años 2002 y 2003, advirtió Hugo Chávez Frías en la edición 200 de su jornada audiovisual „Aló Presidente", efectuado en Ciudad Robinson, antes Los Caracas. Con tal planeamiento, una vez más se adelantó a la posibilidad de que la desesperación de los sectores adversos del Gobierno Bolivariano los conduzca a propiciar el caos, lo cual descartó de plano, porque „aquel Chávez del golpe de abril no es el mismo" y tanto es así que todas las guarniciones militares del país tienen las respectivas instrucciones para repeler cualquier intento antidemocrático, de quien y cuando venga. Pese a la asesoría del gobierno de Washington, liderado por G. W. Bush; del financiamiento que éste le suministra a la oposición y al papel „lacayo" de ésta, no triunfarán en sus funestos objetivos. [...] No obstante, la certeza presidencial de que la marcha de la Revolución Bolivaríana no se detendrá, nuevamente exhortó al pueblo a mantenerse alerto, porque sólo termina con el último out"."
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Hier wird - bewusst oder unbewusst - die Rhetorik Fidel Castros imitiert, insbesondere die Diffamierung der Opposition als lacayos der USA (auch von Chävez immer wieder als imperio tituliert) sowie der allgemein militärische Anstrich der Situationsbeschreibung. Der Term out am Ende bezieht sich auf Regeln des Baseballspiels, dessen enthusiastischer Anhänger Chdvez ist. (Als Baseballer ist eT bereits gemeinsam mit Fidel Castro aufgetreten!).
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3. Kulturelle Standards in Lateinamerika Um die Interaktionsprozesse zwischen Hugo Chävez und seinen Anhängern auf sozialpsychologischer Ebene verstehen und interpretieren zu können, ist eine vertiefte Beschreibung maßgeblicher kultureller Merkmale notwendig, die die Venezolaner als soziale Einheit charakterisieren. Diese Charakterisierung kann auf zweierlei Art erfolgen: Einmal als quasi-individuelle Beschreibung eines ethnologisch-sozialen Einzelfalls (emisches Verständnis) oder als Ausprägungskombination prinzipiell in allen Kulturen anzutreffender Variablen (etisches Verständnis).12 Ohne die Kontroversen bedeutender Kulturpsychologen nachzeichnen zu wollen, werde ich im Folgenden beide Merkmalskategorien skizzieren. Für die spätere Interpretation kultureller Standards in Venezuela bleibt jedoch zu beachten, dass (1.) Kognitionsmuster über Vermittlung prägender Personen und Institutionen bereits früh internalisiert werden und im Einklang mit einer jahrzehntelangen Sozialisation stehen, sich jedoch nicht automatisch in messbares Verhalten umsetzen. (2.) Obwohl eine begrenzte Anzahl wichtiger Kulturdimensionen auch für Venezuela beschrieben werden kann, sagen die zitierten Daten nichts über ihre Vollständigkeit oder das Binnenverhältnis dieser Merkmale aus. Beide Punkte sind in der abschließenden Betrachtung als wichtige Einschränkungen zu betrachten, sollten jedoch weder Autor noch Leser vom Interpretationspfad abbringen, den die Kulturpsychologie eröffnet. Etische Merkmale Venezolaner sind keine untypischen Lateinamerikaner. Sozialpsychologisch kann davon ausgegangen werden, dass sich die relevanten Kulturmerkmale Venezuelas nicht grundlegend von denen anderer lateinamerikanischer Nationalitäten unterscheiden. Auf den etischen Kulturdimensionen Hofstedes (1993) können diese wie folgt beschrieben werden (vgl. Tabelle 1): Individualismus-Kollektivismus. Venezolaner sind ausgeprägte Kollektivisten. Für sie haben Gruppenziele eindeutig höhere Priorität als individualistische („egoistische") Erfolge. Nahezu alle persönlichen Aktivitäten werden in Gruppen vorgenommen. Personen aus dem Familien- und Freundeskreis haben mit ihren Bedürfnissen Priorität über geschäftliche Verabredungen und Terminkalender. Für die Masse der Venezolaner ist die Gemeinschaft „Leben", solitäres Verhalten dagegen „Einsamkeit" und wird entsprechend unangenehm empfunden. Individueller Lebenswandel mag in solchen Schichten vorkommen, die stark nordamerikanisch assimiliert sind, jedoch auch die aus Südeuropa zugewanderten Migranten haben eine eindeutig kollektivistische Prägung. 12
Während Etics solche Dimensionen darstellen, über die ein Vergleich unterschiedlicher Kulturen möglich wird, beschreiben Emics kulturspezifische Merkmale, deren Zusammensetzung keine direkte Gegenüberstellung zulässt.
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Machtdistanz. Latinos sind allgemein autoritäts- und klassenorientierter als Europäer. Soziale Unterschiede werden als Unterscheidungskriterien im Privatund Berufsleben salient. Ihre Überwindung ist nur in Ausnahmefallen möglich.13 Statussymbole haben große Bedeutung und werden offen zur Schau gestellt. Unsicherheitsvermeidung. Hier ist die Befundlage nicht eindeutig. Hofstede (1991) dokumentiert relativ hohe Unsicherheitsvermeidungs-Scores, während andere Autoren von einem generell flexibleren Umgang mit Unsicherheit, v.a. in Verwaltung, Planungen und Zeitorientierungen sprechen. Durch häufige Unwägbarkeiten in Wirtschaft und Politik entwickeln Lateinamerikaner einen „Instinkt" für Flexibilität und Improvisation, gleichzeitig empfinden sie Unsicherheit als Bedrohung. Maskulinität-Feminität. „Machismo" scheint ein zentrales Muster lateinamerikanischer Kultur darzustellen (Ruenzler 1988). Dahinter verbergen sich typische Ideale, Werte und Verhaltensmuster, denen die venezolanischen Männer verpflichtet sind: Würde, Ehre, Stärke; Respekt-(abilität) und die Fähigkeit, Bedürfnisse von Frau und Kindern zu befriedigen und sie zu beschützen. Allerdings muss betont werden, dass der Machismo-Begriff in Lateinamerika eine andere - weniger negativ geprägte - Bedeutung hat als in Europa.14 Zeitverständnis. Lateinamerikaner sind vor allem gegenwartsorientiert, da Handlungen in der Regel nicht mit langem Vorlauf geplant werden (können). Spontane Entscheidungen sind sowohl im beruflichen als auch im privaten Leben üblich und akzeptiert. Gleichzeitig verfolgen Latinos ein polychrones Zeitverständnis, das im Gegensatz zu der in Europa dominanten linearen Zeitvorstellung steht (Hall 1995). Zeitliche Abläufe werden als extemal bestimmt wahrgenommen und erlebt. Aktivitätsorientierung. Die hieraus resultierende .Sem-Orientierung entspricht der lateinamerikanischen Präferenz fiir spontane Verhaltensmuster, die wiederum als Ausdruck wahren „Menschseins" gewertet werden. Diese sind wichtig, um einen Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit zu schaffen, die Suche nach Gemeinschaft zu unterstützen und Raum fiir geistige Entwicklung zu schaffen. Die gegensätzliche /««-Orientierung beinhaltet nach lateinamerikanischer Interpretation die Notwendigkeit zu mechanischen, immer schnelleren Handlungen, bei denen keine ausreichende Reflexion für tiefergehende (Lebens-)Ziele mehr bleibt. Stereotype über lateinamerikanische Spontaneität und Unberechenbarkeit
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In Lateinamerika stellt das Militär den traditionellen „Aufstiegskanal" für soziale Unterschichten dar. Chävez ist hierfür ein gutes Beispiel. Frauen haben trotz der scheinbar offensichtlichen „Unterwürfigkeit" eine sehr starke Rolle im privaten Haushalt, der sehr ausgedehnt sein kann und mitunter unternehmerische Fähigkeiten verlangt (Ruenzler 1988). Die Rolle der Frau in den lateinamerikanischen Gesellschaften scheint sich jedoch immer mehr westeuropäischen Vorstellungen anzupassen.
lassen sich daher oft als typische 7«n-Interpretationen, z. B. aus der Perspektive Europas oder der USA, über das Verhalten in Se/n-Kulturen erklären. Tabelle 1: Venezuela und Lateinamerika auf den KulturdimensionenA Dimension Individualismus / Kollektivismus
Machtdistanz
UnsicherheitsVermeidung
MaskulinitSt / Feminitat
Land
Wertung
extrem niedrig
12
50
Guatemala
6
53
Ekuador
8
52
Panamá
11
51
Kolumbien
13
49
Costa Rica
15
46
Venezuela
81
6
Guatemala
95
2
Panamá
95
3
Mexiko Ekuador
81 78
5 8
Kolumbien
67
18
Venezuela
76
22
Guatemala Uruguay
101 100
3 4
El Salvador
94
6
Peru
87
9
Chile
86
10
Kolumbien
80
20
Venezuela
73
3
Mexiko
69 64
6 11
Argentinien
63 56
13 20
Brasilien
49
27
Ekuador
c
Rang"
Venezuela
Kolumbien
A B C
Score
sehr hoch
nicht eindeutig
extrem hoch
Darstellung Venezuelas und fünf weiterer lateinamerikanischer Länder als Vergleich. Rang aus 53 Kulturen (SO Ländern und drei Regionen). Rang unter den ersten/letzten 5 Plätzen als „extrem hoch / niedrig", unter den ersten 10 Plätzen „sehr hoch".
Quelle: Hofstede (1993).
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Ogliastri et al. (1999) analysierten die Merkmale lateinamerikanischer Kultur im Rahmen einer breit angelegten Befragung in 64 Ländern, die insgesamt zehn lateinamerikanische Staaten berücksichtigte.13 Insgesamt wurden in der LatinoPopulation 1400 Personen zur Einordnung wichtiger Kulturmerkmale befragt. Hierbei sollte (1.) eine Einschätzung der gegenwärtigen Situation und (2.) die Richtung möglicher Veränderungswünsche angegeben werden. Als Beschreibungsebenen werden die Hofstedischen Dimensionen leicht abgewandelt und ergänzt (vgl. Tabelle 2): Während die beiden Dimensionen Machtdistanz und Unsicherheitsvermeidung unverändert übernommen werden, unterscheiden Ogliastri et al. neben der Individualismus-Kategorie eine Form kollektiver Einstellungen, die sich vor allem auf Familien- bzw. Organisationsverbände bezieht (Colectivismo II). Auch die oft missverstandene MaskulinFe/mmn-Dimension Hofstedes wird zum einen als „männliche" Bestimmtheit (Assertiveness), hier v.a. Karriere-, Berufs- und Leistungsorientierung, zum anderen als Gleichstellung der Geschlechter (Igualdad de generös) bezeichnet. Neu hinzu kommen die Kulturdimensionen Leistungsorientierung, Zukunftsorientierung und Zwischenmenschliche Orientierung Tabelle 2: Kulturdimensionen für Lateinamerika und Venezuela
Venezuela A Lateinamerika B
Assertiveness/ Aggressivität 3.32 A 3.52 (.45)
Kollektivismus Individualismus 3.96 B 3.86 (.14)
Machtdistanz/ „Elitismo" 5.40 A 5.33 (40)
Venezuela A Lateinamerika B
Gleichstellung d. Geschlechter 3.62 B 3.41 (.25)
Kollektivismus II: Familienorient 5.53 A 5.52 (.20)
Unsicherheitsvermeidung 3.44 D 3.62 (25)
Venezuela A Lateinamerika7
Leistungsorientierung 3.32 C 3.85 (.28)
Zukunftsorientierung 3.35 C 3.54 (.28)
ZwischenmenschL Orientierung 4.25 B 4.03 (32)
A B
Mittelwert zur Beschreibung des Ist-Zustandes. Die Kategorisierung A-D entspricht der gruppierten Rangfolge für alle 64 Länder des Projekts (A = Spitzengruppe, D = Schlussgruppe). Die Wertung stellt die relative Stellung auf globaler Ebene dar. Mittelwert aller zehn ausgewählten Länder Lateinamerikas, Standardabweichung in Klammern.
Quelle: Ogliastri et al. 1999.
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16
70
Befragung im Rahmen des GLOBE-Projekts zu Kultur und Fühningsverhalten (House/Hanges et al. 1999). Die ausgewählten lateinamerikanischen Länder sind: Argentinien, Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Costa Rica, Ekuador, El Salvador, Guatemala, Mexiko, Venezuela. Orientación Humana, dt.: menschliche Orientierung.
Die Ergebnisse zeigen, dass Lateinamerika Extrempositionen in den beiden Bereichen Machtdistanz und Kollektivismus II einnimmt. Auf der anderen Seite scheinen die besonders hohen Kollektivismus-ScoKS nur die Familien- oder Gruppenorientierung zu betreffen. Bei der Verfolgung von Zielen, der eigentlichen Individualismus-Dimension, liegen die Werte für Lateinamerika eher im individuellen Bereich. Auch stimmen sie in Bezug auf stark ausgeprägten Elitismus mit denen Hofstedes überein. Eine weitere starke Stellung nimmt der Subkontinent für die Dimensionen Männliche Bestimmtheit, Leistungsorientierung und, völlig entgegen dem verbreiteten „Macho"-Image, auch für den Bereich der Gleichstellung von Mann und Frau ein. Unter dem internationalen Durchschnitt liegende Werte ergeben sich für Individualismus sowie die Bereiche Zukunfts- und Zwischenmenschliche Orientierung. Insgesamt bestätigen die aktuellen Daten einen Großteil der bereits 20 Jahre alten Ergebnisse Hofstedes zur Machtdistanz bzw. zum Zeitverständnis, korrigieren sie aber auch in Teilen. Besonders interessant, da im Widerspruch zu gängigen Stereotypen, scheint die Feststellung, dass männliche Leistungsorientierung zwar ausgeprägt, die Verwirklichung der Gleichstellung von Mann und Frau jedoch ebenso weit vorangeschritten sind. Auch kontrastieren ausgesprochen egoistisch-individualistische Grundeinstellungen mit starkem Familienbezug, der die Kultur Lateinamerikas bis heute nachhaltig prägt. Emische Merkmale Die zentralen emischen Merkmale der lateinamerikanischen Kultur werden in der Regel unter den Kategorien simpatia (Sympathie), respeto (Respekt) und vinculo (Verbindung) zusammengefasst (Fitch 1998; Montero 1990, 1992). Alle drei Faktoren bestimmen sowohl den Bereich der sozialen Wahrnehmung und Kognition als auch das Verhalten der Lateinamerikaner. Simpatia. Triandis et al. (1995, 1984) definieren simpatia als kulturelles Skript, in dem solche Handlungsmuster sozialer Interaktion festgelegt sind, die dem lateinamerikanischem Bedürfnis nach Harmonie und positiver Interaktion entsprechen. Als Pflicht zu positivem Handeln beeinflusst simpatia jedoch in starkem Maße auch soziale Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse. Lateinamerikaner attribuieren „sympathisches" Verhalten weniger auf bewusste Lernprozesse oder temporäre Gefühlslagen, sondern als besonders geschätztes und charakteristisches Persönlichkeitsmerkmal (ser simpätico). Im Zentrum von simpatia steht die Vorstellung, dass soziale Beziehungen durch gegenseitige Freundlichkeit und Harmonie geprägt sein sollten. Als den freundlichen Umgang fördernd werden solche Persönlichkeitsmerkmale geschätzt, die den Betreffenden als liebenswert, attraktiv, lustig, angenehm und zwanglos erscheinen lassen. Außerdem wird die Fähigkeit zum Teilen emotionaler Zustände als äußerst wichtiges Merkmal des Interaktionspaitners bewertet. Offene Kritik ist mit dem gebührenden, ordentlichen, freundlichen, zuvorkommenden Verhalten der simpatia nicht vereinbar und stellt für den Gegenüber ei71
ne Herabsetzung oder Beleidigung dar. Wegen der starken Gruppenorientierung liegt es nahe, simpatía als kulturspezifische Ausprägung kollektivistischer Einstellungen zu interpretieren (Triandis 1995). Nicht ohne Grund werden in den fünf lateinamerikanischen Ländern Venezuela, Kolumbien, Panamá, Ekuador und Guatemala die weltweit höchsten Kollektivismus-Werte erreicht (Hofstede 1993)." Respeto. Wünschenswerte soziale Beziehungen sind für Lateinamerikaner solche, in denen Interaktionspartner gegenseitigen Respekt (respeto) zeigen, der erworbenem bzw. zugeschriebenem Status entspricht und gegenseitiges Vertrauen (confianza) zum Ausdruck bringt (Fitch 1998). Lateinamerikanische Gesellschaften sind vertikal strukturiert. Respektvolle Beziehungen zielen daher vor allem auf die Anerkennung existierender Hierarchiesysteme, die sich aus traditionellen Werte- und Einstellungsmustern ableiten und im gleichen Maß bestehende soziale Unterschiede betonen. Auf gesellschaftlicher Ebene drückt sich dieses Verständnis in der markanten Ausprägung sozialer Klassen aus (Montero 1990), auf individueller Ebene in der Akzeptanz großer Status- und Machtgefälle (Machtdistanz). Ziel der sozialen Interaktion ist es, die Distanz zu Mitgliedern solcher Gruppen zu wahren, die unterhalb der eigenen Klasse angesiedelt sind und vertrauensvolle Verbindungen (confianza) dort zu knüpfen, wo sie die Zugehörigkeit zur eigenen sozialen Schicht vorteilhaft unterstreichen. Während die verbreitete Durchsetzung von Respekt über sichtbare Zeichen der Autorität (hacerse respetar) als Ausdruck einer oftmals gewalttätigen sozialen Wirklichkeit interpretiert werden kann, unterstreicht die Pflicht zu angemessenem Verhalten die Notwendigkeit zur Herausstellung des eigenen sozialen Prestige. Vínculo. Fitch (1998) beschreibt in einer ethno-linguistischen Untersuchung die Entstehung und Entwicklung sozialer Interaktionsmuster. Dabei identifiziert sie eine „implizite Ideologie interpersonaler Verbindungen" (Interpersonal Ideology of Connectedness) als zentrales Element lateinamerikanischer Kultur. In dieser Vorstellung definiert sich das Individuum nicht über seine individuellen Leistungen, sondern über die netzwerkartigen Kontakte, die es mit anderen Mitgliedern des eigenen Kulturkreises pflegt. Die Einzelperson definiert sich über die Summe ihrer sozialen Verbindungen. Die Ursachen für die Entwicklung dieser „Ideologie" und der ableitbaren Denk- und Verhaltensmuster liegen für Fitch in der soziopolitischen Realität Lateinamerikas. Diese erlaubt in der Regel kein Vertrauen in formalisierte oder bürokratisierte Sozialstrukturen. Kritische Situationen bergen daher für den Einzelnen sehr viel mehr Risiken als für geschlossene Gruppen. Eine Konsequenz dieser Tatsache ist, dass „Alleinsein" als unangenehmer Zustand empfunden wird und emotional negativ besetzt ist. Dagegen wird darauf Wert gelegt, sich in allen wichtigen, stressreichen oder schwierigen 17
72
Hier: Rangplatze 49-53 auf dem Individualismusindex (IDV) im Vergleich zwischen 50 Ländern und drei Regionen.
Situationen der Gesellschaft anderer zu versichern. Kollektive Werte wie Hilfe und Aufopferung stehen folgerichtig über individualistischen wie Selbstbehauptung und Durchsetzungskraft.
4. Aló Presidente'. Zur Kongruenz kultureller Werte und Symbole Das mediale Erscheinungsbild eines Hugo Chávez lässt sich im Rahmen eines schriftlichen Beitrags nur unvollständig wiedergeben. Um die Wirkung des Mannes zu verstehen, wäre eine Darbietung seines Auftretens in möglichst unterschiedlichen Situationen notwendig. Andererseits bleiben wegen der allgemein polarisierten Berichterstattung nur wenige Quellen, anhand derer das Verhältnis abzuleiten ist, das er seit fast sechs Jahren mit den Venezolanern pflegt. Als Beispiel für die kontroverse Rhetorik seien zunächst drei kurze Auszüge aus einer Rede wiedergegeben, die Chávez in der Abschlussveranstaltung zur Referendumskampagne des NO („Nein" zum revocatorio am 8. August 2004) auf der Avenida Bolívar in Caracas gegeben hat. Wie üblich war der Diskurs mit Anekdoten, historischen Bezügen, religiösen Anspielungen sowie Bolivarischen und antiimperialistischen Parolen durchsetzt: 1. militärisch: „Hoy comienza una nueva fase de la batalla de Santa Inés (Schlacht aus den venezolanischen Befreiungskriegen), es la ofensiva final hasta el 15 de agosto (Tag des Referendums), durante esta semana iremos al ataque final." 2. religiös: „(Les aseguro que el NO de nuestra campaña es) el NO de Cristo al imperialismo y el NO a los que pretenden vejar a los pobres." 3. antiimperialistisch: „Este NO es contra el imperialismo y tiene miles de años pero aquí se ha renovado. Es el mismo de nuestros abuelos que les dijeron NO al imperialismo y tiene muchos años." Obwohl die Kampagnen-Reden einen guten Eindruck vom argumentativen Repertoire geben, das Chávez in seinen öffentlichen Diskurs einzubauen weiß, sind sie doch an Schärfe so aufgeladen, dass nur bedingt die emotionale Nähe zum „Volk" (el pueblo) deutlich werden kann, mit der er seine Anhänger bindet. Um die Bedeutung kultureller Anteile im Auftreten Chávez' deutlich zu machen, bietet sich für den externen Beobachter die allsonntägliche Fernsehsendung Aló Presidente (dt. etwa „Hallo Herr Präsident") an. Mit dem Fernsehen macht sich Chávez ein Medium zu Nutze, dass seit vielen Jahren in der Hand der venezolanischen Oberschicht liegt und seit dem Beginn seiner Amtszeit massiv gegen ihn eingesetzt wird. Eine eigene Sendung gab ihm die Möglichkeit, Selbstdarstellung unter Umgehung der oppositionsdominierten Kanäle zu betreiben. Gleichzeitig garantiert das Fernsehen den kommunikativen Zugang zu 73
Wählerschichten, von denen die politische Macht und das Überleben des Hugo Chávez abhängen: Schon vor seiner Kandidatur für die Präsidentschaftswahl 1998 hatte Chávez erkannt, dass die Menschen in den barrios (die Caracenos würden sagen: en la montaña) nur über das Fernsehen zu erreichen waren. Angesichts der dringenden Notwendigkeit, ein mediales Gegengewicht zu den privaten Fernsehkanälen zu schaffen und seine Politik - gerade vor den unteren Bevölkerungsschichten zu rechtfertigen, begann Chávez bereits früh in seiner Amtszeit mit Aló Presidente. Das er dieses Experiment überhaupt einging, entspricht sicher seinem extrovertierten Naturell. Die Sendung Aló Presidente war es dann schließlich, die ihm die - für jeden Uneingeweihten, der sie einmal mitverfolgen musste, nicht ganz von der Hand zu weisende - Kritik einer narzistischen Persönlichkeitsstörung eintrug. Gegen diese Art der Neurose spricht jedoch, dass Chávez den direkten Kontakt zum pueblo venezolano offenbar ernst nimmt und der Sendung über seine gesamte bisherige Amtszeit Kontinuität verliehen hat. Im Ausland als Selbstdarstellung und Populismus verbrämt, im Inland von der Opposition als Beleg eines despotischen Regierungsstils angeprangert, ist die Sendefolge für die sozial- und kulturpsychologische Analyse eine einzigartige Dokumentensammlung:18 Jeden Sonntag eröffnet sich die Gelegenheit, Hugo Chávez über Stunden „live" mitzuerleben. Hinzu kommt, dass die Sendungen zwar vorbereitet, über weite Teile jedoch vom Präsidenten improvisiert werden. Neben einigen Notizen und geladenen Gästen trifft Chávez offenbar kaum Vorbereitungen und muss aufgrund seiner Routine wohl als bekanntester Talkmaster Venezuelas gelten. Für die schriftliche Darstellung ist noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass sich Hugo Chávez nicht an Personenkreise richtet, die aufgrund sozialer, finanzieller und edukativer Kriterien als Mittel- und Oberschicht gelten können. Chávez spricht für und mit seinen Anhängern, von denen die überwältigende Mehrheit aus der Unterschicht stammt. Nach offiziellen Statistiken leben ca. 80% der Venezolaner unter der Armutsgrenze. Chávez selbst zitiert diese Zahl häufig und setzt diese Bevölkerungsmehrheit seinen Sympathisanten gleich. Dem in Deutschland sozialisierten Beobachter muss die chavistische Rhetorik präpotent und oberflächlich, über die Maßen sprunghaft-spontan (Psychologen sprechen von „Ideenflucht"), dozierend und wenig präzise, kurzum: schwer erträglich erscheinen. In Venezuela hat die Show dagegen das Potenzial, zur Kultsendung zu avancieren. Obwohl es ein lohnendes Projekt wäre, Aló Presidente als Medienphänomen zu begutachten, kann an dieser Stelle nur eine kurze Beschreibung gegeben werden:
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,,[A16 Presidente ist eine] sechsstündige Mischung aus Bibelstunde, politischer Schulung, Phone-in und volkstümlicher Witzelei [in der Chävez als] Moderator, Hauptdarsteller und Alleinunterhalter auftritt" (Luyken 2002).
Aló Presidente startete am 23. Mai 1999 um 9 Uhr morgens im Canal RNV (Radio Nacional de Venezuela). Chávez erschien damals im olivgrünen Tarnanzug und rotem Barett seiner ehemaligen Fallschirmspringereinheit (letzteres ist mittlerweile zum Zeichen der Anhänger des MVR anvanciert, die rote Baretts bei allen öffentlichen Kundgebungen und Demonstrationen tragen). Die Sendung muss als absolute „low cost"- Veranstaltung gelten, denn neben dem Präsidenten, einigen Gästen und immer wieder wechselnden Sendeorten gibt es keine besonderen Effekte." Am 1. August 2004 „feierte" die Sendung ihr 200. Sendejubiläum. Da die Sendung in großen Teilen vom Diskurs und der Sprache des Hugo Chávez lebt, sollen vier Szenen der 141. Ausgabe beschrieben werden, die am 2. März 2003 im Bundesstaat Guayana aufgenommen wurden.20 Die Szenen sollen beispielhaft aufzeigen, welche Kulturstandards durch Chávez' Auftritte angesprochen werden. Nach einer kurzen Beschreibung von Plot und KameraEinstellung wird jede Szene zunächst dargestellt, anschließend die darin aktivierten Kulturstandards aufgelistet. Plot Hugo Chávez befindet sich auf dem Gelände der Guayanesischen Entwicklungsgesellschaft CVG (Corporación Venezolana de Guayana) mit Blick auf den „Caruachi"-Staudamm am Fluss Caroni. Anlass ist die Inbetriebnahme der ersten von insgesamt zwölf Turbinen, die die Region in Zukunft mit Strom versorgen sollen. Ort der Aufnahme ist ein offenes - offensichtlich provisorisch errichtetes - Zelt für ca. 200 Personen. Der Präsident sitzt mit seiner Ministerin für Kommunikation (Nora Uribe - inzwischen ausgetauscht), an zwei Tischen vor den ebenfalls sitzenden Zuschauern. Ihre Reaktionen lassen auf eine Anhängerschaft mit dem MVR schließen, obwohl keine Parteisymbole zur Schau gestellt werden. Wie sich später herausstellt, sind weitere Provinz- und Lokalpolitiker in der ersten Reihe anwesend. Die Atmosphäre erinnert an einen Sommerausflug, dies auch wegen der legeren Kleidung, die alle Anwesenden tragen und der vielen Kinder unter den Zuschauern.
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Ein Vergleich von Intention und Aufmachung mit der in Deutschland bekannten Sendung „Presseklub" ist nicht ganz abwegig. Allerdings hinkt der kulturpsychologisch nicht ganz uninteressante Vergleich Werner Höfer-Hugo Chävez doch stark. Im Rahmen der Tagung, der dieser Band zugmnde liegt, konnten sie anhand von Videomitschnitten dargestellt werden.
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Kamera-Einstellung Die Einstellungen konzentrieren sich zu 80% auf Hugo Chävez (frontal) und werden nur unterbrochen von: Antworten der Minister und Regionalpolitiker auf Fragen des Präsidenten (Schwenk); Einstellungen der Telefonhotline zum Erreichen des Präsidenten (Einblendung der Telefonnummer mit Hilfe eines eher primitiv anmutenden TV-Clips; Beibehaltung des Live-Tons von Chävez); Einspielungen als Kurzbeiträge (hier: Darstellung der neu zu installierenden Turbinen und Werbespot für die venezolanischen Streitkräfte).
Szene 1: Grupo Madera (Dauer: 4 Minuten) Chavez empfängt die Sprecher der (Volks-)Musikgruppe Madera, die gerade für ihn eines ihrer Lieder gesungen haben („U-A, Chävez no se va"). Die Gruppe hat eine CD erstellt, auf deren Cover auch Hugo Chävez auftaucht (Einblendung). Chävez „tauft" die CD mit dem Inhalt seines hier zufällig stehenden Wasserglases. Daraufhin ruft er die Zuschauer zum Kauf der CD auf und weißt nebenbei auf das T-Shirt eines der Sprecher hin (Aufdruck: Che Guevara). Anschließend wendet er sich dem im Hintergrund sichtbaren Fluss Caroni zu (Bezug hier: Wasser) und beginnt über die ungeahnten Möglichkeiten zu sprechen, die der Fluss für die Entwicklung Venezuelas bereithält (Bezug hier: Wasserkraft). Zwischendurch stimmt er selbst ein Volkslied an, in dem die Regionen Guayanas besungen werden. Ende der Szene: Chävez hält die CD der Gruppe Madera hoch, nennt die Songs einzeln und preist sie ein letztes Mal an, indem er ruft: „Sabroso!" Angesprochene Kulturstandards: - Kollektivismus (Volkstümlichkeit, Religiosität) - simpatia (Humor, Gesang, Optimismus) - Zeitverständnis (Improvisation) - Machtdistanz (gering: Gespräch auf „Du", quasi-familiäres Ritual) - Aktivitätsorientierung (Sein: Improvisation)
Szene 2: La Guayana (4 Minuten) Chävez redet erneut über die Möglichkeiten zur Entwicklung des Caroni und seine strategische Bedeutung für Venezuela. Plötzlich kommt eine Brise auf, und das Papier mit seinen Notizen beginnt wegzufliegen. Durch das Rauschen des Windes im Mikrophon ist Chävez kaum noch zu verstehen. Er interpretiert dies als Antwort des Flusses auf 76
seine Bemerkungen („Viva la brisa") und sinniert über die Schönheit Guayanas, dessen Sonnenuntergänge unvergleichbar seien. Zudem geht er auf die Bedeutung Guayanas in der Zeit Bolivars als Schauplatz der Befreiungskriege ein. Er singt erneut ohne große Vorbereitung. Ende der Szene: Chävez prophezeit, dass das kommende Jahr ein schwieriges, aber gutes sein werde. Angesprochene Kulturstandards: - Maskulinität / respeto (Stolz auf Land und Leute, Bolivar als Held) - simpatia (Spontaneität, Optimismus, Gesang) - Kollektivismus (Volkstümlichkeit) - Aktivitätsorientierung (Sein: spontane Visionen) - Machtdistanz (hoch: Dozieren, Belehren) Szene 3: Pregunta de Ana (10 Minuten) Chävez lässt eine erste Zuschauerfrage zu. Die Anruferin identifiziert sich als Ana aus dem Ort Chirica Vieja. Sie ist offensichtlich eine seiner Anhängerinnen und sieht sich selbst als Akteurin politischer Veränderung in ihrem Dorf. Chävez steigt in das Gespräch mit typischem Palaver ein, das ihm herzlich-natürlich von den Lippen kommt. Ana berichtet von der Entwicklung der Bolivarischen Revolution in Chirica Vieja, kommt dann aber auf das Thema Gesundheitsversorgung, um eine Bitte an den Präsidenten zu richten: Sie fragt nach einem Ambulanzfahrzeug, das für den Ort sehr wichtig wäre (die nächste Klinik liegt IS km entfernt). Chävez notiert den Wunsch und lässt den anwesenden Gouverneur zum Problem Stellung beziehen (Zusage, dass etwas gemacht wird). Dieser hinterlässt einen kompetenten und sympathischen Eindruck, steht aber offensichtlich in direktem Abhängigkeitsverhältnis zu Chävez. Chävez und Ana stimmen darin überein, dass die Bolivarische Revolution fortgeführt werden muss. Ende der Szene: Chävez verabschiedet sich bei Ana mit einem Toast auf die Frauen im Allgemeinen und die Revolutionärinnen im Besonderen. Angesprochene Kulturstandards: - simpatia (Wannherzigkeit, Mitgefühl) - Individualismus (Chävez der Entscheider und Lenker - Männlichkeit (Kokettieren mit den Frauen - Machismo) - Machtdistanz (hoch: Verhältnis Chävez-Gouvemeur - respeto) - Kollektivismus (kolloquiale Sprache, Zwiegespräch auf „Du")
Szene 4: Cristo, Kant, Constitución (4 Minuten) Chávez beginnt, aus der neben ihm liegenden Bibel zu zitieren. Jesus' Ausspruch, „da wo zwei oder drei von Euch in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter Euch" wird uminterpretiert in die Deutung, „da wo ihr (meine Unterstützer) versammelt seid, könnt ihr auch das ,Gute' (die Bolivarische Revolution) aufbauen". Wie um dies zu belegen, zieht Chávez ein Kruzifix aus der Hemdtasche. Weitere Kommentare hierzu verliert er nicht. Er wechselt das Thema, indem er ein Buch hervorhebt, das sich als Kant-Taschenbuchausgabe („Clasicos del Bolsillo") erweist. Während der Frage von Ana (vgl. Szene 3) hat er sich darin eine Passage unterstrichen, die er nun in dozierendem Stil vorliest. Es ist ein Satz, mit dem Kant auf die Verbindung von politischem und ethischem bzw. moralischem Handeln hinweist; für Chávez ein Leitsatz, der die Richtigkeit des Verfassungsprozesses seiner ersten Amtsjahre (Resultat: Bolivarische Konstitution) unterstreicht. Ende der Szene: Chávez zieht die Verfassung der Fünften Republik im Kleinformat aus der anderen Hemdtasche. Innerhalb von vier Minuten ist er vom Prediger, zum Lehrer und wieder zum Politiker mutiert. Angesprochene Kulturstandards: - Männlichkeit (Entscheidungskraft, klare Linie) Kollektivismus (Religiosität und Beziehung zum Mythos „Revolution") - Machtdistanz (Staatslenker auf der Ebene großer Philosophen) Szene 5: Pregunta de Josilea (4 Minuten) Die letzte Szene beginnt mit dem zweiten Zuschaueranruf, den Chávez entgegen nimmt. Es ist Josilea, die aus Puerto Audaz und dem dortigen Stadtteil Alta Vista anruft. Josilea entpuppt sich als eine brasilianische Einwanderin aus der Unterschicht, die mit einem Venezolaner verheiratet ist. Chávez beginnt das Gespräch erneut mit typischem Palaver. Es stellt sich heraus, das Josilea eine glühende Verehrerin von Chávez ist, die nur ihrer Bewunderung für den Präsidenten Ausdruck verleihen will. Es folgt keine konkrete Bitte. Die Szene macht deutlich, wie stark Chávez die Emotionen der einfachen Leute - hier einer Frau - einfangen kann. Josilea wiederholt, dass sie Chávez' Traum der Bolivarischen Revolution und einer gerechten Welt teilt, dass sie ihn - Chávez - für seine Taten bewundert. Ende der Szene: Chávez lobt Josilea und ruft: „ Viva la alegría!" 78
Angesprochene Kulturstandards: - simpatia (Emotionalität, Freude, Hoffnung-Optimismus) - Männlichkeit (Bewunderung, Verhältnis Mann-Frau) - Kollektivismus (Authentizität in der Beziehung, Mythos „Revolution") - Machtdistanz (Held/Idol zum Anfassen)
5. Hugo Chávez' Charisma: Wo liegt das Geheimnis? Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass Hugo Chávez in Diskurs und Auftreten sowohl die etischen Hauptmerkmale lateinamerikanischer Kultur (Kollektivismus, Machtdistanz, Unsicherheitsvermeidung, Maskulinität, Aktivitätsorientierung) wie auch die emischen Syndrome simpatia, respeto und vinculo anspricht. Die abschließende Betrachtung seines Erfolges in der venezolanischen Bevölkerung wird jedoch nicht nur durch die Mehrdimensionalität dieser Variablen bestimmt, so wie es für Kulturanalysen den Regelfall darstellt. Offensichtlich werden die einzelnen Standards von Chávez nicht eindeutig bzw. in stringenter Form angewendet. Dadurch verliert auch die Proportionalität der eingangs formulierten These: „Je mehr kulturelle Werte bedient werden, umso erfolgreicher ist er" an Gewicht, wird jedoch nicht unhaltbar. Zunächst aber zu den Eindeutigkeiten: Ganz offensichtlich ist Hugo Chávez Teil eines „venezolanischen" Kollektivismus. Durch ständige Gruppen- und Massenveranstaltungen, Palaver mit Gott und der Welt, bewusste Einbeziehung von Familien (Frauen und Kinder) in seine Auftritte und die nicht enden wollende Beschwörung des „Bolivarischen Volkes" (pueblo bolivariano) als verschworene Gemeinschaft gegen Globalisierung und Imperialismus stellt er sich in die Mitte dieses Kollektivs. Durch sein extrovertiertes, humorvolles, spontanes und v. a. für die Unterschichten natürlich wirkendes Auftreten gewinnt er eine „Sympathie", die für Latinos wesentlich mehr bedeutet als für den durchschnittlichen Mitteleuropäer. Während die Opposition politische Seriosität nach westlichem Vorbild sucht, wird Chávez zum Vertrauens-Mann der Angesprochenen. Seine Argumente gehen nicht durch den Kopf, sondern durch den Bauch (die Latinos würden sagen: durch das Herz). Gleichzeitig bedient Chávez die Vorstellung vom „Kerl", vom richtigen Mann (macho), so wie er in Lateinamerika noch immer mit stark positiven Konnotationen belegt ist. Hierbei darf nicht die Vergangenheit dieses Mannes vergessen werden, die der Mehrheit der Venezolaner noch sehr bewusst im Gedächtnis ist. Es war Chávez, der 1992 gegen die Regierung Carlos Andrés Pérez mit Waffengewalt aufbegehrte und damit das in die Tat umsetzte, was sich viele wünschten: die Abrechnung mit einem korrupten System (vgl. Sonntag / Maingón 1992). Seine darauf folgende Präsidentschaftskandidatur, die gewonnene Wahl, das Überstehen des Putsches, aber auch die Konfrontation mit den 79
USA sind immer neue Höhepunkte dieser „Männlichkeit", die von den Venezolanern weniger mit plumpem Machismo, als mit Tatkraft, Durchhaltevermögen und Vision für eine - bessere - Zukunft assoziiert wird. Als eng verbunden mit diesen Standards muss auch das Wertepaar respeto und Machtdistanz betrachtet werden. Indem Chávez deutlich macht, dass er die Zügel fest in der Hand hält, Führung zeigt (in obigem Beispiel etwa im Umgang mit seinen Ministern), entspricht er den Erwartungen und Vorstellungen des einfachen Venezolaners von klaren politischen Machtverhältnissen. Mit der Deutlichkeit seiner Ziele, Forderungen, aber auch Attacken, Verunglimpfung und Schwarz-Weiß-Malerei verschafft er sich zudem den Respekt, der in Venezuela offensichtlich notwendig ist, um Menschen politisch zu mobilisieren. Diplomatisches Taktieren scheint nach 25 Jahren politischer Kartellpolitik der ehemaligen Volksparteien AD und COPEI und dem von ihnen zu verantwortenden wirtschaftlichen Niedergang nicht mehr mehrheitsfähig. Ob dieser neue Populismus als demokratischer Rückschritt zu werten ist, muss offen bleiben. Dass die venezolanische Gesellschaft seit 1980 viele Rückschritte hinnehmen musste, steht dagegen außer Zweifel. Der Ruf nach starker Hand und „Respekt" scheint deshalb zumindest nachvollziehbar. Nun müssen aber auch kulturelle Inkongruenzen angesprochen werden, die bei näherer Betrachtung des Hugo Chávez auffallen: Da ist zum einen die mit dem Standard simpatía nicht zu vereinbarende Aggressivität, die sich vor allem im Sprachgebrauch äußert. Venezolaner haben zwar den Ruf, durchaus direkt zu sein (im Gegensatz zu ihren kolumbianischen Nachbarn), doch die Gewalt in der Sprache des Hugo Chávez ist etwas Besonderes. So besonders, dass kurz nach dem Putschversuch 2002 ein Pakt zur pacificación der Auseinandersetzung in den Medien geschlossen, jedoch auf beiden Seiten nicht lange eingehalten wurde. Mit seinen ausladenden, sprunghaften und martialischen Appellen - es sind meist Argumente, die im Rahmen einer Rede schnell wieder von versöhnlicheren Tönen abgelöst werden - verstößt Chávez eindeutig gegen kulturelle Traditionen. Er tut dies in einem weiteren Bereich, der oben als vínculo beschrieben worden ist. Chávez verletzt diese Norm seit seinem ersten politischen Erscheinen, indem er bestehende politische Netzwerke und Allianzen nicht akzeptiert und auch nach seiner Machtübernahme keine Anstalten gemacht hat, sich in einen Kordon familiär geprägter Clanstrukturen zurückzuziehen und damit sein System zu konsolidieren. Im Gegenteil: Der einzige, auf den sich Chávez wirklich zu verlassen scheint, ist er selbst. Die ständigen Solo-Auftritte, mit Aló Presidente oben beispielhaft veranschaulicht, machen ihn vielmehr zu einem Einzelkämpfer, der im lateinamerikanischen Kontext eher selten vorkommt. Eine letzte Ungereimtheit muss der Kulturpsychologe in der Spontaneität sehen, die Chávez in der direkten Wahrnehmung als seins- bzw. gegenwartsorientierten, typischen Latino ausweist. Chávez verblüfft jedoch dadurch, dass er im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger nicht nur Visionen verkündet und Phrasen 80
drischt, sondern seine Ziele auch mit Kalkül und Ausdauer durchzusetzen sucht. Der Umstand, Aló Presidente über die turbulenten letzten vier Amtsjahre hindurch regelmäßig durchgeführt zu haben, scheint mehr als nur ein zufälliges Indiz für diese Ausdauer. Bedeutender ist jedoch, dass Chávez sowohl den verfassungsgebenden Prozess als auch den Aufbau seiner „Bolivarischen Revolution" mit voller Energie betreibt und kompromisslos durchhält. Während die Opposition mit immer gleichen Argumenten die Politik der Regierung angreift, verändern die Initiativen des MVR immer mehr auch die politische und kulturelle Wirklichkeit Venezuelas. Für lateinamerikanische Verhältnisse muss dies als Ausdruck einer eher seltenen anzutreffenden Tu/i-Orientierung gewertet werden. Wo liegt also das Geheimnis? Die bisherige Erfolgsstrategie des Hugo Chávez liegt darin, kulturelle Standards in einer Kombination aufgegriffen zu haben, die gerade in den Bevölkerungsteilen Gültigkeit hat, die die „Revolution" als ihre Anhängerschaft reklamiert. Diese Werte werden von den „typisch lateinamerikanischen" Ober- und Mittelschichten jedoch nicht geteilt. Wie gerade dargelegt wurde, ist es jedoch nicht die völlige Abkehr von gängigen kulturellen Kulturstandards, sondern Veränderungen in wenigen Bereichen, die Chávez und seine Anhänger für diese Bevölkerungsteile zur Outgroup werden lässt. Chávez bedient mit seinem Diskurs eindeutig die Si/6-Kultur der Unterschicht, des venezolano común, der allerdings numerisch schon lange zur Mehrheit im Land geworden ist. Dies muss all jene erschrecken, die sich kulturell noch in alten Fahrwassern bewegen. Wer die lateinamerikanischen, v.a. auch die venezolanischen, Oberschichten kennt, weiß, wie stark diese um Abgrenzung zum gemeinen Volk bemüht sind. In den durch Mauern, Wachen und Stacheldraht abgeriegelten Stadtteilen im Osten von Caracas hat man lange eine eigene Realität gelebt.21 Hugo Chávez repräsentiert durch Herkunft, Aussehen, Auftreten und seinem naiv vorgetragenen Halbwissen genau den Prototyp des Venezolaners, den diese Schichten mit Bedacht aus ihrem eigenen und dem internationalen Bewusstsein verdrängen wollten. Chávez tritt als Indiz einer - ungern zugestandenen - Diskrepanz zwischen kulturellen Soll- und Ist-Zuständen im Gewissen der venezolanischen Gesellschaft auf. Damit ist das Phänomen „Hugo Chávez" aus psychologischer Sicht nicht die Vorhut eines Kulturwechsels, sondern verkörpert längst eingetretene Wertveränderungen, die das Land kennzeichnen: Aggressivität, Banalität, Halbwissen, Naivität, aber auch Religiosität, die Suche nach sozialer Gerechtigkeit und dem „Guten" sowie die Fähigkeit zur Begeisterung und Optimismus. Aus kulturpsychologischer Sicht macht es keinen Unterschied, wer am IS. August 2004 das Referendum gewinnt: Die Opposition muss verstehen lernen, 21
Vgl. hierzu den Beitrag von Beate Jungemann in diesem Band.
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dass die „Bolivarische Revolution" ein Produkt des Auseinanderdriftens gesellschaftlicher und kultureller Realitäten zwischen Arm und Reich ist (vgl. Abbildung 1). Die chavistas repräsentieren mit ihren Forderungen legitime Ansprüche eines Großteils der Bevölkerung; Hugo Chávez ist letztlich nur ihr Sprachrohr. Auf der anderen Seite muss der Präsident verstehen, dass er sein politisches Projekt teuer erkauft hat. Indem er sich einseitig auf „die Armen" im Land konzentriert, verspielt er den gesellschaftlichen Konsens, der für eine Umsetzung seiner Ziele dringend nötig wäre. Er wird lernen müssen, die ungeliebten „Oligarchen" in seine Politik zu integrieren. Die Rolle des Vermittlers und Versöhners kommt in Chávez' Repertoire bislang jedoch nicht vor. Aus interkultureller Perspektive ist das Phänomen „Chávez" von längerfristiger Bedeutung. Auch wenn Veränderungen von Werten und Normen nur langsam, oft über Jahrzehnte hinweg, gesellschaftliche Realität werden, so ist das Charisma des Hugo Chávez doch ein sicherer Indikator dafür, dass sich die Kulturstandards Lateinamerikas gegenwärtig im Fluss befinden. Nach der vorliegenden Betrachtung ist der venezolanische Präsident ein typischer Latino und ist es zur gleichen Zeit offenbar doch nicht, zumindest nicht immer und nicht auf allen Feldern. Gerade hier liegt wohl das Geheimnis seines Erfolges.
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Andreas Boeckh
Die Außenpolitik Venezuelas: Von einer „Chaosmacht" zur regionalen Mittelmacht und zurück 1. Einleitende Bemerkungen Venezuela hat im Laufe seiner Geschichte als Akteur im internationalen System eine höchst wechselhafte Karriere durchlaufen. Im 19. Jahrhundert und bis ins frühe 20. Jahrhundert war es das, was man heute einen failed State nennen würde, ein Staatswesen, das sich durch eine endlose Folge von Bürgerkriegen auszeichnete, und das nicht zuletzt wegen seines chaotischen Zustandes zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine gewaltige internationale Krise auslöste, deren Nachbeben seine karibischen Nachbarn stark in Mitleidenschaft zog. Es war aber auch ein Land, das in der Lage war, in der Region als Ordnungsmacht aufzutreten und eine konzeptionell gut durchdachte und kohärente Außenpolitik zu verfolgen. Heute ist das Land wieder in einem derart verheerenden Zustand, dass es erneut als Quelle der Instabilität in der Region gilt und zu besorgten Vermittlungsbemühungen im Rahmen der OAS und der sog. „Gruppe der Freunde Venezuelas" Anlass gibt. In diesem Beitrag möchte ich versuchen, die merkwürdige Karriere von einer Chaosmacht zu einer regionalen Ordnungsmacht und zurück darzustellen und dabei nach den Gründen für den außenpolitischen Aufstieg und Verfall des Landes zu fragen.
2. Konjunkturen und Parameter der venezolanischen Außenpolitik Nach der Auflösung von Gran Colombia im Jahre 1830 hat das Land lange Zeit über keine kohärente Außenpolitik verfügt. Der Zusammenbruch der Hegemonie der „Konservativen Oligarchie" im Laufe der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts stürzte Venezuela in eine „permanente Krise" (Morön 1979: 218), die auch 85
durch den Sieg der Liberalen in den Föderalistenkriegen im Jahre 1863 nicht behoben werden konnte. Allein zwischen 1858 und 1899 wurden 418 bewaffnete Auseinandersetzungen größeren Umfangs gezählt (Cördova 1979: 178). Das Land entsprach damals genau dem, was man heute als failed State oder als „Quasi-Staat" bezeichnen würde (Jackson 1990): Ein Staat, der seine Existenz vor allem seiner völkerrechtlichen Anerkennung verdankte, aber bestimmt nicht einer irgendwie gearteten Regulierungsleistung nach innen oder außen. Dieses Charakteristikum teilte Venezuela damals mit einer Reihe anderer Staaten in Zentralamerika und der Karibik. Nach dem Ende der Föderalistenkriege (1863) und bis zur Machtübernahme durch General Gomez im Jahre 1908 war es ein zentrales Anliegen der venezolanischen Außenpolitik, von vornherein nicht bedienbare Staatsanleihen auf internationalen Finanzmärkten zu platzieren und bei der anschließenden Zahlungsunfähigkeit das Land vor dem Zorn der getäuschten Anleger zu schützen. Die Anleihe von 1864 war die erste in einer langen Reihe von Krediten, deren Platzierung von der Regierung anscheinend von vornherein als Gaunerstück inszeniert worden war, da keine der in Aussicht gestellten Sicherheiten wirklich existierte. Die Erkenntnis, dass es sich bei dem venezolanischen Staat um ein Gebilde handele, das sich europäischen Maßstäben von Staatlichkeit entziehe, und dass dieser Staat keinerlei kapitalistische Regeln und Rücksichten kenne, wurde besonders eindrucksvoll von dem Beauftragten der Londoner Bank beschrieben, welche die venezolanische Anleihe vermittelt hatte, und die ihn nach Venezuela geschickt hatte, um die von der venezolanischen Regierung zugesagten Sicherheiten vor Ort pro forma zu überprüfen (Eastwick 1959, 11868). Unter der Ägide des Präsidenten Guzmän Blanco, der 1863/64 als Außenminister bei der Aushandlung der damaligen Staatsanleihen erste Erfahrungen mit den Auslandskrediten als Instrument der Selbstbereicherung hatte sammeln können, wurde diese Methode verfeinert. Guzmin Blanco was the first Venezuela!) leader to see the connection between foreign contacts and loans, national government resources, the suppression of local revolts and personal wealth (Lombardi 1982: 192).
Dass es nicht immer gelang, sich den Folgen dieser Schuldenpolitik zu entziehen, zeigte die deutsch-britisch-italienische Flottenblockade von 1902/03, die für Venezuela insofern glimpflich ausging, als es sich - wie schon zuvor bei der Guayana-Krise von 1895 - auf das Schutzschild der Monroe-Doktrin verlassen konnte. Die amerikanische Regierung hatte zwar auf der einen Seite im Prinzip nichts dagegen, dass die europäischen Mächte Venezuela mit Gewalt auf den Pfad der Tugend der kapitalistischen Zahlimgsmoral zurückführten, doch war andererseits überhaupt nichts an einer wiederholten oder längerfristigen europäischen Militärpräsenz in einer Region gelegen, in der sie massive strategische Interessen hatten (Panama-Kanal). Dies hatte jedoch nichts das Geringste damit 86
zu tun, dass man gegenüber der venezolanischen Regierung Sympathien gehegt hätte. Es war bezeichnend für den Zustand der venezolanischen Außenpolitik, dass man die Vertretung der venezolanischen Interessen bei den Verhandlungen nach der Flottenintervention dem amerikanischen Botschafter überließ.1 Die Regulierung dieser Krise und der nachfolgende Schiedsspruch des Haager Gerichtshofes war der Anlass dafür, dass die amerikanische Regierung mit der sog. RooseveltErgänzung der Monroe-Doktrin im Jahre 1904 für die Karibik de facto die Rolle des Schuldeneintreibers für die europäischen Mächte übernahm, um so weiteren europäischen Militärinterventionen einen Riegel vorzuschieben. Der Souveränitätsverlust der Dominikanischen Republik und Haitis in den Jahren 1915 und 1916 waren die späte Folge der Venezuela-Krise von 1902/03. Die Konsolidierung des Staates unter General Gómez war die Voraussetzung dafür, dass auch die Außenpolitik eine gewisse Kontinuität und Kohärenz bekam. Dank der seit 1920 stetig zunehmenden öleinnahmen konnte das Land seine gesamten Auslandsschulden zurückzahlen, was die wichtigste Belastung der venezolanischen Außenpolitik aus der Vergangenheit mit einem Schlag beseitigte (Malavé Mata 1979: 165). Die im Vergleich zu früher auffällige Korrektheit in Fragen der internationalen Verpflichtungen kann man als Reaktion auf die Erfahrungen von 1902/03 sehen. Mit der pünktlichen Bedienung externer Verpflichtungen sollten dem Land außenpolitische Freiräume verschafft werden. Der Vorgänger von General Gómez, Cipriano Castro, hatte sich mit seinen Versuchen, das in Venezuela operierende US-amerikanische Kapital zur Einhaltung von Konzessionsverträgen zu zwingen, und mit seiner nach wie vor lässigen Art des Umgangs mit dem Schuldenproblem den Zorn der amerikanischen Regierung eingehandelt. Diese zog zeitweise sogar eine militärische Intervention in Erwägung und hinderte ihn daran, nach dem Putsch von General Gómez ins Land zurückzukehren (Rabe 1982: 8-13). Da Gómez im Gegensatz zu seinem Vorgänger sehr wohl wusste, wen er sich als Feind leisten konnte, betrieb seine Regierung gegenüber dem US-amerikanischen Kapital eine regelrechte Appeasementpolitik, was dessen Operationsbedingungen und die Nicht-Sanktionierung von dessen dauernden Rechtsübertretungen anging. Damit sollten immer vermutete, aber nie nachgewiesene und wahrscheinlich auch gar nicht existente amerikanische Bestrebungen unterlaufen werden, den Bundesstaat Zulia mit seinen Ölvorkommen nach dem Muster Panamas aus dem venezolanischen Staatsverbund herauszutrennen. Zugleich aber war man bemüht, keine ausschließlichen Abhängigkeiten im ölsektor aufkommen zu lassen. Die ölförderrechte wurden nach 1918 trotz massiven Drucks der amerikanischen Regierung zwischen amerikanischen und anglo-holländischen Konzernen ausbalanciert, und sehr zum Ärger der USA ver-
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Aus venezolanischer Sicht: Rodríguez Campos (1977).
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suchte die Regierung 1924, wenn auch vergeblich, den deutschen Stinnes-Konzern ins Land zu holen (McBeth 1983: 99-101). Darüber hinaus wurde die Bedeutung des Öls für die Entwicklung des Landes und der Staatseinnahmen von Mitgliedern der politischen Elite schon früh erkannt. Der damalige Präsident des Banco de Venezuela, Vicente Lecuña, hat die Interessen des künftigen Rentierstaates schon 1918 sehr deutlich formuliert: Angesichts der Unterentwicklung des Landes könne man das Öl nicht als Rohstoff im Lande selbst nutzen, da hierfür keine Nachfrage existiere, und es seien aus dem selben Grund auch keine Linkage-Effekte des Ölsektors mit dem Rest der Ökonomie zu erwarten. Es sei daher unvermeidlich, das öl zu exportieren. Folglich lasse sich das Land allein über ein Renteneinkommen2 am Ölreichtum beteiligen. Dieses solle möglichst hoch ausfallen, denn anders als in den USA, wo das Erdöl im Lande selbst genutzt werde, liege ein niedriger Preis nicht im Interesse Venezuelas. Fortan ging es um die Rente (zunächst um die Differenzialrente) und ihre Aufteilung zwischen dem Staat als dem Grundeigentümer und den ölgesellschaften als dem Pächterkapital. Damit war ein Dauerkonflikt mit den ausländischen Ölgesellschaften vorprogrammiert, der sich nach dem Tode des Diktators (1936) zu entfalten begann und zunehmend an Schärfe gewann (ausführlich: Baptista/ Mommer 1987; Mommer 1983). Angesichts der hohen und rasch steigenden Abhängigkeit des venezolanischen Staates von den öleinnahmen musste es für die venezolanische Außenpolitik darauf ankommen, das internationale Umfeld so zu beeinflussen, dass es den venezolanischen Bestrebungen nach einer Rentenmaximierung nicht im Wege stand. Dies bedeutete zweierlei: Die wichtigsten Adressaten venezolanischer Außenpolitik waren die Staaten, in denen die in Venezuela operierenden Firmen ansässig waren, und die das venezolanische Öl abnahmen, d.h. vor allem die USA. Sieht man von den ererbten Territorialkonflikten mit zwei Nachbarländern ab (Britisch Guayana und Kolumbien), waren lateinamerikanische Staaten für die venezolanische Außenpolitik zunächst von geringer Bedeutung. Es musste sowohl darauf ankommen, die Regierungen der Länder, in denen die Ölmultis beheimatet waren, davon abzuhalten, im venezolanischen Dauerkonflikt mit den Ölfilmen immer und automatisch die Partei der Ölfirmen zu ergreifen, wie auch die Märkte in den Abnehmerländern offen zu halten. Dies bedeutete, dass die venezolanische Seite vor allem in den USA versuchte, auf allen Ebenen des sehr komplexen Entscheidungsgefüges in der Öl- und Außenpolitik durch Lobbyarbeit präsent zu sein.
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Der Begriff „Rente" war in der venezolanischen Debatte um die Einnahmen aus dem ö l sektor allerdings lange Zeit tabuisiert. Man bediente sich allerlei begrifflicher Verrenkungen („natürliches Kapital" etc.), bis dann die Krise des Rentenmodells Anfang deT 80er Jahre einen Umschwung brachte und eine offene Diskussion des Rentenproblems ermöglichte (Boeckh 1997).
Natürlich überstieg es die damaligen Möglichkeiten der venezolanischen Außenpolitik, das internationale Umfeld aktiv zu beeinflussen. Wohl aber konnte man auf Chancen reagieren, die sich aus den Veränderungen in diesem Umfeld ergaben. Eine solche Chance war der Zweite Weltkrieg, als die Alliierten auf zuverlässige Öllieferungen aus Venezuela angewiesen waren. 1943 gelang es der venezolanischen Regierung, das in den frühen Konzessionsverträgen festgelegte Besteuerungsverbot der ölfirmen gegen deren erbitterten Widerstand zu durchbrechen, wobei das amerikanische Außenministerium diesmal den ölfirmen eine größere Konzessionsbereitschaft nahe legte. Der Anteil Venezuelas am gesamten Gewinn der Konzerne schnellte mit der Ausdehnung der Steuerhoheit auf den ölsektor von ca. 19% auf 60% hoch, um sich dann für die nächsten 15 Jahre bei 50% einzupendeln (Boeckh/Hörmann 1992: 517). Nach der Ausdehnung der Steuerhoheit auf den ölsektor hing die Höhe der Besteuerung der ölfirmen im Prinzip von der Entwicklung des internationalen ölmarkts ab, d.h. von der Fähigkeit der ölkonzeme, bei zu hohen Rentenforderungen eines Produzentenlandes auf andere Förderregionen auszuweichen. Langfristig musste es daher für Venezuela darauf ankommen, die Konzessionsbedingungen beim Öl und die Renten international auf einem möglichst hohen Niveau anzugleichen. Zwei miteinander verschränkte Entwicklungen veränderten im Laufe der 50er Jahre den internationalen ölmarkt in einer für Venezuela bedrohlichen Weise und zwang das Land zu außenpolitischen Aktivitäten, die den bisherigen Rahmen sprengten. Der Verfall des Kartells der führenden ölkonzerne im Laufe der 50er Jahre zog einen Verfall der ölpreise nach sich, und die zunehmende Verquickung der protektionistischen Interessen der unabhängigen ölproduzenten in den USA mit nationalen Sicherheitsinteressen (Lübken 1995: Kap. 3) bedrohte den freien Zugang zum amerikanischen Markt. In Staaten, die sich vor allem über die Rente finanzieren, ist die Legitimierung von Herrschaft zum großen Teil eine Funktion der Höhe der Renteneinnahmen von außen und der Rentenverteilung nach innen (Pawelka 1997). Die fallenden ölpreise und damit die fallenden Staatseinnahmen aus dem ölsektor stellten das junge demokratische Regime nach 1958 mit seiner ohnehin prekären Legitimation vor die Herausforderung, das internationale Umfeld in einer Weise zu beeinflussen, dass sich die öleinnahmen wieder stabilisieren und langfristig erhöhen ließen. Die Gründung der OPEC im Jahre 1960 ging nicht zufällig auf eine venezolanische Initiative zurück, denn Venezuela verfügte über die längsten Erfahrungen als Erdölland. Zugleich versuchte die Regierung Betancourt (1959-1963), ihre Außenpolitik auch noch auf andere Weise in den Dienst der Regimestabilisierung zu stellen. Bedroht durch massive Destabilisierungsversuche sowohl durch die kubanische Regierung wie auch durch Rafael Trujillo in der Dominikanischen Republik, verschrieb sich die Regierung einer Isolierung diktatorischer Regime durch deren Nicht-Anerkennung (Betancourt-Doktrin). Damit befand sie sich durchaus im Trend der Zeit, da die Kennedy-Administration damals ebenfalls auf eine Stützung demokratischer und reformbereiter Regierungen zur Abwehr der kom89
munistischen Bedrohung setzte. Beginnend mit dem Militärputsch in Brasilien im Jahre 1964 begann jedoch in Lateinamerika mit der offenen oder stillschweigenden Unterstützung der USA eine autoritäre Regression. Ein Festhalten an der Betancourt-Doktrin hätte unter diesen Bedingungen die Selbstisolierung des Landes bedeutet, weshalb diese Doktrin aufgegeben wurde. Gleichwohl blieb es lange Zeit ein Anliegen venezolanischer Außenpolitik, Demokratisierungsprozesse im näheren und weiteren Umfeld des Landes zu fördern. Das venezolanische Engagement im Contadora-Prozess der 80er Jahre und bei den zeitgleichen Demokratisierungsbemühungen in Zentralamerika stand somit durchaus in dieser Tradition der venezolanischen Außenpolitik. In den 80er Jahren trat Venezuela zusammen mit anderen lateinamerikanischen Staaten im zentralamerikanischen Konflikt als Vermittler auf und war trotz der damals beginnenden ökonomischen Krise und der hohen ökonomischen Abhängigkeit von den USA im Gefolge der Schuldenkrise in der Lage, eine autonome und den Interessen der USA widersprechende Politik zu verfolgen. Die Gründung des Erdölproduzentenkartells war sicherlich einer der größten Erfolge der venezolanischen Außenpolitik, zumal es gelang, den Widerstand der Regierungen der Industrieländer gegen diese Maßnahme gering zu halten. Dies fiel insofern leicht, als man dort dem Kartell einiger rückständiger Entwicklungsländer nicht viel zutraute (Rabe 1982: 157-162), und da es den OPECLändern gelang, ihre Öleinnahmen zu stabilisieren und z.T. auch leicht anzuheben, ohne zunächst den Weltmarktpreis des Öls damit zu beeinflussen. Das Potential dieses Kartells wurde erst sehr viel später sichtbar, als sich von 1973 auf 1974 die Ölpreise vervierfachten. Mit der Explosion der Öleinnahmen änderte sich auch das außenpolitische Verhalten des Landes. Die venezolanische Regierung betrachtete ihr Land nun als Mittelmacht3, die ihren Ölreichtum zur Beeinflussung der angrenzenden Länder zu nutzen versuchte. Venezuela trat nach 1974 in der Region als Kreditgeber auf und lieferte Öl unter dem Weltmarktpreis an einige Länder Zentralamerikas und der Karibik (Josko de Guerón 1992: 52f.). Es gab damals sogar Äußerungen venezolanischer Politiker, die das Land in Zentralamerika in einer Hegemonialkonkurrenz zu den USA sahen. Die Politik der kompensatorischen Transfers an einige Länder der Dritten Welt in der unmittelbaren Umgebung empfahl sich auch schon deshalb, da sonst die tercermundistische Rhetorik, die man Mitte der 70er Jahren pflegte, kaum glaubwürdig gewesen wäre. Bei der Gründung des Sistema Económico Latinoamericano (SELA), dessen Gründungsdokument ebenfalls stark durch tercermundistische Positionen geprägt war (http://lanic.utexas.edu/project/sela/engdocs/panconv.htm), spielte der damalige Präsident Carlos Andrés Pérez eine führende Rolle. Der Tercermundismo war ein Vehikel, um die Durchsetzung der 3
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Zur Debatte um den Charakter des Landes als regionale Mittelmacht bzw. als „subimperialistische" Macht, siehe Cardozo de Da Silva 1987.
hohen Ölpreise als einen Sieg der Dritten Welt zu präsentieren, dem noch weitere Siege dieser Art durch andere Rohstofflcartelle folgen könnten, eine Hoffnung bzw. Befürchtung, die in der damaligen Zeit mit ihren neo-malthusianischen Visionen von Entwicklungs- und Industrieländern gleichermaßen geteilt wurde. Mit der angestrebten Durchsetzung einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung" sollten hohe Rohstoffpreise, und damit natürlich auch die hohen ölpreise, in der internationalen Politik abgesichert werden. Die Krise des rentengestützten Entwicklungsmodells zu einem Zeitpunkt, als sich der ölpreis auf seinem historischen Höhepunkt befand (ab 1980) und der nachfolgende Verfall der ölpreise sowie die Schuldenkrise, die 1983 auch Venezuela erfasste, bereiteten den Mittelmachtambitionen des Landes mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung ein vorläufiges Ende. Als Fazit kann man festhalten: Seit seiner Unabhängigkeit bis Anfang der 60er Jahre war Venezuela zu keiner Zeit in der Lage gewesen, sein internationales Umfeld aktiv zu beeinflussen. Um überhaupt auf Veränderungen in diesem Umfeld angemessen reagieren und die Chancen nutzen zu können, die sich aus diesen Veränderungen ergaben, musste aus einem failed State ein konsolidiertes Staatswesen werden. Die staatliche Konsolidierung ging dem ölboom voraus und machte diesen überhaupt erst einmal politisch möglich, wurde dann aber auch durch den Boom beschleunigt. Als es sich zeigte, dass die öleinnahmen sich ohne eine Koordinierung zwischen den erdölproduzierenden Ländern hinsichtlich der Förderbedingungen und der Rentenzahlungen langfristig nicht stabilisieren ließen, gelang es dem Land, mit der Gründung der OPEC die Strukturen der internationalen Politik und die Verteilungsmuster in den internationalen Wirtschaffsbeziehungen zu seinen Gunsten zu verändern. Dies ließ sich aber wohl nur deshalb bewerkstelligen, weil die langfristigen Folgen dieses Schrittes damals nicht absehbar waren. Mit der demokratischen Konsolidierung des Landes nach 1959 und der Stabilisierung und Steigerung der öleinnahmen in den 60er und frühen 70er Jahren gelang es Venezuela, sich als regionale Ordnungsmacht mit politischen Vorbildcharakter zu etablieren. Wie war es möglich, dass dieser Status innerhalb weniger Jahre wieder verloren ging?
3. Präsident Chävez und der Bolivarianismo Der rapide Zerfall des politischen Paktes (Karl 1987), auf dem sich die demokratische Stabilität seit 1958 gründete, führte das politische System des Puntofijismo in die Krise.4 Die Wahl des ehemaligen Putschisten Chävez zum Präsidenten war gewissermaßen dessen Gnadenschuss. Dem Amtseid auf die „moribunde Verfassung" durch den neugewählten Präsidenten folgte eine rasche und gründliche Umgestaltung der politischen Strukturen, die dem Land eine politische So benannt nach der Finca Punto Fijo von Rafael Caldera, auf welcher der Pakt besiegelt wurde.
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Regression und alle Merkmale einer „delegativen" bzw. „defekten" Demokratie verliehen (Boeckh 2000/01). Was bedeuten die politischen Transformationen für die venezolanische Außenpolitik und die Position des Landes in der internationalen Politik? Die venezolanische Außenpolitik hat seit Chävez neue Züge bekommen. Man kann zweifellos einen markanten Stilwandel feststellen. Während sie sich früher weitgehend im Stillen abspielte, ist sie heute Teil der spektakulären Politikinszenierung des Regimes, in deren Mittelpunkt die Person des Präsidenten steht Dies äußert sich einmal in einem enormen Reisepensum des Präsidenten, wobei die Auswahl der Reiseziele bis zum Putsch im April 2002 zum Teil nur dann einen Sinn ergab, wenn sie als gezielte Provokation der USA interpretiert wird. Die Provokation war eine Zeitlang geradezu zum Merkmal der präsidentiellen Außenpolitik geworden: Die heftige Liebesaffäre mit Fidel Castro und der Besuch bei und die gemeinsame Stadtrundfahrt mit Saddam Hussein zielen genauso wie die gelegentliche anti-imperialistische Rhetorik auf die USA. Das Abstimmungsverhalten Venezuelas bei Menschenrechtsfragen, die offene Opposition gegen die Verurteilung der VR China und Kubas und die mit einer antiimperialistischen Rhetorik formulierte Opposition gegen die Free Trade Area of the Americas (FTAA) haben ebenfalls für Irritationen in den USA gesorgt. Aber auch in Lateinamerika lässt der Präsident kaum ein Fass ungeöffnet: Welchen Nutzen hat Venezuela davon, sich immer wieder für einen freien Zugang Boliviens zum Meer einzusetzen? Die Brüskierungen der USA kann man in der Tradition populistischer Regime sehen, welche in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ihre Beziehungen zu Kuba gerne als symbolischen Ausweis ihrer Souveränität und Eigenständigkeit gegenüber den USA instrumentalisierten. Diese Politik hatte in der Vergangenheit und hat vermutlich auch heute im Falle von Chävez zwei Adressaten: Außenpolitisch sollte die lateinamerikanische Solidarität bzw. die Solidarität mit der Dritten Welt postuliert werden. Während in den 70er Jahren der verbale Tercermundismo angesichts der damaligen Bestrebungen, die Regeln des internationalen Handels zugunsten der Dritten Welt zu verändern, durchaus Sinn machte, zumal sich Venezuela mit seiner Ölkartellpolitik als Wegbereiter einer neuen Strategie der rohstoffexportierenden Länder präsentieren konnte, ist diese Rhetorik heute ohne Realitätsbezug. Der zweite Adressat sind Teile des heimischen Publikums, die von den Rempeleien mit dem ungeliebten Hegemon beeindruckt werden sollen. Wir haben es hier mit politischem Machismo zu tun, der nach innen gerichtet ist, und der die tatsächlichen Kräfteverhältnisse nicht berührt. Der Bolivarianismo, den das Regime als integrative Ideologie nach innen zu propagieren versucht, findet seinen Niederschlag auch in der Außenpolitik. Ähnlich wie Simon Bolivar, der einen lateinamerikanischen Großstaat anstrebte, um so Lateinamerika gegen spanische Rückeroberungsgelüste, aber auch gegen die expansive Dynamik der USA wappnen zu können, fordert die Regierung Chivez 92
eine Forcierung des lateinamerikanischen Integrationsprozesses, und sie tut dies mit einer ausgeprägt anti-imperialistischen Rhetorik. Die Vorstellungen gehen weit Uber eine ökonomische Integration hinaus, die - so der ehemalige Außenminister Rangel - als formal und rituell abqualifiziert wird (Rangel 1999): „Der bolivarische Traum, eine große Konföderation der mestizischen Nationen zu gründen, ist nach wie vor aktuell. Er ist keine Utopie." (Chävez 2001: 8). Die Idee eines Staatenbundes verbindet sich mit der Forderung nach einem gemeinsamen lateinamerikanischen (El National vom 31.8.2000) oder wenigstens nach einem venezolanisch-brasilianischen Verteidigungsbündnis als Vorstufe zu einem die gesamte Region umspannenden Gegenstück zur NATO (O Estado de Säo Paulo vom 31.8.2000). Ob sich hinter diesem grandiosen Entwurf wirklich ein lateinamerikanischer Führungsanspruch von Hugo Chävez verbirgt, wie man in der New York Times spekulierte (NYT vom 24.9.2000), oder ob dies nur rhetorische Gesten sind, die das heimische Publikum zum Adressaten haben, sei dahingestellt. Ersteres wäre eine krasse Selbstüberschätzung, und dies umso mehr, seitdem das Land seit dem Putsch vom April 2002 und mit den späteren Bemühungen um die Abwahl des Präsidenten nur noch mit sich selbst beschäftigt ist. Trotz der ins Gigantische gehenden Integrationsvisionen gibt sich die venezolanische Regierung auch mit weniger zufrieden. Das Freihandelsabkommen zwischen dem Mercosur und dem Andenpakt hat Präsident Chävez als temporärer Vorsitzender der Andengruppe unterzeichnet. Die auf der Konferenz von Rio im September 2000 versammelten zwölf Regierungschefs wurden mit dem ihm eigenen rhetorischen Bombast als „die zwölf Apostel der Integration" gefeiert (http://www.quepasacom.html).5 Mit der erneuten Hinwendung zu Zentralamerika und der Karibik, deren Länder (Kuba eingeschlossen) präferentielle ölpreise zugesichert bekamen, knüpft die venezolanische Außenpolitik an den Tendenzen der 70er Jahre an, Venezuela in der Region als Mittelmacht zu etablieren. Diese Politik wird rhetorisch in den Kontext der lateinamerikanischen Integration gestellt, dürfte aber eher dem Ziel dienen, dem Land in der Region eine herausragende Stellung zu verleihen und ihm ein wohl gesonnenes Umfeld zu verschaffen. In den 70er Jahren hat man sich mit dieser Politik nicht nur Freunde gemacht (Lanza 1980). Angesichts des rapiden politischen Verfalls des Landes seit dem Putschversuch von 2002 kann dieser Versuch als gescheitert gelten. Was nun die Integration in und die Assoziierung von immer mehr lateinamerikanischen Staaten an den Mercosur angeht, berühren sich die Zielsetzungen Venezuelas und Brasiliens. Sowohl die venezolanische wie auch die brasilianische Regierung geben zunächst einmal einer Vergrößerung des südamerikanischen Integrationsraums den Vorrang. Im Vorfeld der Konferenz in Quebec waren sich beide Länder einig, dass die von einigen Teilnehmern favorisierte Vor5
Zur Einbindung Venezuelas in die verschiedenen Integrationsschemata der Region siehe Giacalone 1997.
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Verlegung der FTAA von 2005 auf 2003 abzulehnen sei, und auch bzgl. der Einrichtung der FTAA im Jahre 2005 wurden Bedenken artikuliert. Präsident Cardoso thematisierte in seiner Rede in Quebec die amerikanische Neigung, zu nicht-tarifären Handelshemmnissen zu greifen, was eine Einigung bei den Zolltarifen entwerte, und Präsident Chävez verwies - völlig zurecht - auf die äußerst geringe Konkurrenzfähigkeit des Landes bei all jenen Wirtschaftszweigen, die nichts mit dem Erdöl zu tun haben.6 Angesichts dieser Voraussetzung brauche das Land Zeit, da sonst die Integration in die FTAA eine Desintegration der venezolanischen Wirtschaft nach sich ziehen könne (£7 National vom 23.4.2001). Auf der Konferenz von Monterrey im Januar 2004 hat der venezolanische Präsident als einziger Vorbehalte gegen das Schlussdokument zu Protokoll gegeben. Inwieweit sich Venezuela angesichts der anti-imperialistischen Rhetorik der gegenwärtigen Regierung überhaupt auf den FTAA-Prozess einlassen will, muss sich noch zeigen. Um einer völligen Isolierung auf dem Gipfel von Quebec zu entgehen, hat die Regierung dem weiteren Zeitplan und Aktionsprogramm zugestimmt, allerdings mit dem Vorbehalt, dass der Beitritt zur FTAA die Mehrheit bei einer Volksabstimmung bekommen müsse, und auch auf der Konferenz von Monterrey wurde der FTAA keine generelle Absage erteilt. Die außenwirtschaftliche Situation des Landes legt aber einen solchen Schritt nicht unbedingt nahe. Das Land ist außenwirtschaftlich ohnehin stark mit den USA verflochten, und es ist nicht zu sehen, wie die FTAA die venezolanische Position verbessern könnte.7 Das venezolanische Erdöl lässt sich auch ohne FTAA in den USA absetzen. Die an den Ölsektor angelagerten Industrien (Chemie, Kunststoffe etc.) haben in den USA jetzt schon ihren größten Markt. Im Jahre 2000 gingen 36,7% der „nicht-traditionellen" Exporte dorthin (http://www.ocei.gov.ve/). Für Venezuela könnte sich mit der FTAA eine Verbesserung ergeben, sofern diese dazu beiträgt, die amerikanische Neigung, bei Bedarf zu nicht-tarifären Handelshemmnissen zu greifen, zu reduzieren. Auch venezolanische Exporte waren in der Vergangenheit wiederholt davon betroffen. Wie schon angedeutet, liegt jedoch das eigentliche Problem für Venezuela in der geringen Konkurrenzfähigkeit all jener Industrien und Wirtschaftszweige, die nichts mit dem Öl zu tun haben. Diese hat verschiedene Ursachen, die aber allesamt nicht leicht zu beheben sind. Die chronische Überbewertung der Landeswährung ist aus politischen Gründen nur schwer veränderbar. Angesichts der hohen Importabhängigkeit des Landes, auch im Bereich der Grundnahrungsmittel, würde eine Abwertung die soziale Bilanz des Regimes bei den Armen des Landes noch schlechter ausfallen lassen, als sie ohnehin schon ist. Die Armen sind aber genau die Bevölkerungsschicht, bei welcher das Regime noch am 6
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Bei den industriellen Gütern ist Venezuela nach Ekuador das Land mit der geringsten Konkurrenzfähigkeit in Lateinamerika. Es hat zudem noch zwischen 1996 und 2000 an relativer Konkurrenzfähigkeit verloren (£7 Universal vom 24.4.2001). 1998 kamen 42,1% der venezolanischen Importe aus den USA, und 47,8% der venezolanischen Exporte gingen dorthin (http://www.infoexport.gc.ca).
ehesten Rückhalt hat. Dies stellt all jene Wirtschaftszweige, die anders als das Erdöl und die chemische Industrie nicht über enorme komparative Vorteile verfügen, vor Probleme. Hinzu kommt, dass der alarmierende Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung8 die Sicherheitskosten für die Unternehmen auf ca. 15% der Betriebskosten hochgetrieben (El Universal vom 5.3.2001) und wichtige ausländische Firmen zur Abwanderung aus Venezuela veranlasst hat. Was die Transparenz wirtschaftspolitischer Entscheidungen und deren Regelverlässlichkeit angeht, belegt Venezuela zusammen mit Guatemala und Ekuador die letzten Plätze in Lateinamerika (http://www.opacity-index.com/ind_theindex.html). Der wirtschaftliche Verfall, der durch den Streik im Winter 2002/03 noch beschleunigt wurde, hat eine ohnehin schon verheerende Situation in eine Katastrophe münden lassen. Kurzum, eine Wirtschaftspolitik, deren kurzfristigen politischen Kalküle die Kosten einer Anpassung zu vermeiden sucht und damit ins Gigantische anwachsen lässt und in die Zukunft verschiebt, der innere Zerfall des Landes und nicht zuletzt der Charakter des Regimes selbst bieten denkbar schlechte Voraussetzungen dafür, dass die Wirtschaft rasch an Konkurrenzfähigkeit gewinnt und das Land bis zum Jahre 2005 (oder zu einem späteren Zeitpunkt) integrationsfähig wird. Die erhöhten Aktivitäten des Landes im Rahmen der OPEC sind angesichts der verzweifelten wirtschaftlichen und sozialen Situation des Landes auf Anhieb verständlich. Mit einer Rückkehr zu einer Politik der Quoteneinhaltung und der Stärkung der OPEC hat das Land wohl seinen größten außenpolitischen Erfolg errungen, der sich in steigenden öleinnahmen niedergeschlagen hat. Die Irakkrise hat die ölpreise zunächst auf einem relativ hohen Niveau stabilisiert. Zugleich war das Regime bemüht, die staatliche ölgesellschaft unter die Kontrolle zu bekommen, die bislang ganz offen die Förderquoten der OPEC ignoriert und zudem durch Transferpreise dem Staat seit 1983 massiv Steuern entzogen hat (Mommer 2001). Der Machtkampf zwischen der staatlichen ölfirma PdVSA und der Regierung endete nach dem gescheiterten Produktionsstreik im Frühjahr 2003 mit der Zerschlagung der Firma. Die Regierung setzt nun wieder ganz auf eine Rentenmaximierung, um sich so verteilungspolitische Spielräume zu verschaffen. Damit löst sie aber kein einziges der wirtschaftlichen Strukturprobleme des Landes, im Gegenteil: Die Rente ist schon längst zum Entwicklungsproblem geworden (Boeckh 1997). Die Regierung kann sich damit aber politische Legitimität erkaufen, wobei sie die früher von Parteien und Verbänden und zunehmend auch von regionalen Politikgrößen gesteuerten Klientelnetze mit dem „Plan Bolivar" zentralisiert und gewissermaßen verstaatlicht hat. Der ölpreis wird damit für die Popularität und Legitimität des Regimes gerade bei der armen Bevölkerung zu einem wesentlichen Element, womit zugleich auch
g Die Anzahl der Morde hat sich zwischen 1998 und 2000 knapp verdoppelt und seit 1990 knapp vervierfacht (El Nacional vom 27.4.2001).
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die besondere Verletzlichkeit des Regimes markiert ist. Eine Verarmung der Bevölkerung war schon vor dem Streik damit nicht zu verhindern. Mit dem Putschversuch im April 2002, dem die amerikanische Regierung ohne Rücksicht auf alle Demokratieklauseln durch eine sofortige Anerkennung des neuen Regimes Legitimität verliehen hat, sind die Spielräume für die ChävezRegierung sehr eng geworden. Für eine Zeitlang ist ihre anti-imperialistische Rhetorik sehr viel moderater geworden, und auch die auf dem Gebiet der symbolischen Politik angesiedelten Rempeleien haben abgenommen. Allerdings ist in den letzten Monaten wieder eine Intensivierung der Beziehungen mit Kuba zu beobachten, was darauf hindeutet, dass der Schreck vom April 2002 verflogen ist. Nicht zuletzt angesichts der Irak-Krise ist die amerikanische Regierung aber vor allem an der Verlässlichkeit Venezuelas als Öllieferant interessiert. Außerdem befürchtet man, dass eine weitere Destabilisierung von den kolumbianischen Guerilla-Gruppen dazu genutzt werden könnte, ihr Operationsgebiet noch mehr nach Venezuela auszudehnen. Die Regimefrage ist offenkundig sekundär. Folgerichtig versucht die Regierung Chävez seitdem, sich bei jeder Gelegenheit als zuverlässiger Lieferant zu präsentieren. Während des Ölstreiks hat die Regierung unablässig ihre Liefertreue betont (New York Times 25.1.2003; Venezuela Analitica 21.3.2003) und es auch mit einer gigantischen Kraftanstrengung geschafft, die Ölproduktion schnell wieder hochzufahren. Bei dem Streik ging es der Opposition auch darum, dem Regime durch den Ruin der ölproduktion die Tolerierung durch die USA zu entziehen und die amerikanische Regierung für einen Regimewechsel zu gewinnen.
4. Abschließende Bemerkungen Man muss Venezuela heute als ein politisch labiles Land einschätzen. Der ölreichtum allein reicht nicht, um dem Land die angestrebte außenpolitische Rolle zu verschaffen. Das außenpolitische Gewicht eines Landes hängt weitgehend davon ab, ob es sich als konsolidiertes Staatswesen präsentieren kann, dessen Zielkonflikte auf der Metaebene gelöst sind. Davon ist das Land gegenwärtig weiter entfernt denn je. Die bisherigen politischen Regressionen, der politische Dauerkonflikt um den Fortbestand der Regierung, die chronischen wirtschaftlichen Probleme und das administrative Chaos bieten nach außen ein verheerendes Bild und lassen Venezuela als Quelle politischer Instabilität in der Region erscheinen. Die Bemühungen der als „Freunde Venezuelas" bezeichneten Ländergruppe, eine verfassungsmäßige Kanalisierung des Machtkonflikts im Lande zu erreichen und dessen Eskalation zu verhindern, belegen dies. Wer solcher Zuwendungen bedarf, gilt als Problemfall und nicht als regionale Führungsmacht.
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Hans-Jürgen Burchardt
Das soziale Elend des Hugo Chävez: Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Fünften Republik Mit dem Machtantritt von Hugo Chävez ging in Venezuela eine Ära zu Ende, die als der Pakt des Punto Fijo von 1958 längst in die Geschichte eingegangen war. Sie bescherte dem Land ein Vierteljahrhundert lang eine selige Dreieinigkeit zwischen ökonomischer Prosperität, sozialem Ausgleich und demokratischer Politik. Das Schmiermittel dafür war das Erdöl: Es ließ im wahrsten Sinne des Wortes den Reichtum hervorsprudeln, wurde zum Amalgam der sozialen Schichten und erleichterte das Entstehen einer „Erdöldemokratie" (Karl 1987). Und als in den 1970er Jahren die Erdölpreise fast über Nacht explodierten, brachen in Venezuela goldene Zeiten heran: Die Unternehmer wurden durch großzügige Subventionen und minimale Steuersätze reich beschenkt, während ihnen hohe Schutzzölle die Konkurrenz vom Leibe hielten. Die Erwerbstätigen verdienten die höchsten Löhne Lateinamerikas und eine geringe Inflation garantierte stabile Preise. Das Sozialwesen expandierte und zeichnete sich durch eine exzellente Qualität aus. Armut wurde als ein vorüberziehendes Randphänomen der Modernisierung verstanden, und das Proletariat zählte sich längst zur Mittelschicht (Baloyra/Martz 1979: 185). Man war sich allgemein einig, dass „Gott Venezolaner sein musste". Doch Anfang der 1980er Jahre folgte diesem Traum ein rabiates Erwachen. Trotz eines neuen Höhenflugs der Erdölpreise begann der Konjunkturmotor zu stottern; 1983 wurde das Land zahlungsunfähig. Die Rentenökonomie hatte ihre Grenzen erreicht. Zum einen war sie nicht mehr absorbierungsfähig: Wie ein vollgesogener Schwamm konnte sie kein weiteres Kapital mehr aufnehmen - die begrenzte Erschließung der Binnenmärkte forderte jetzt ihren Tribut. Zum anderen gehörten Dynamik, Innovation und unternehmerischer Geist aufgrund einer oligarchischen und wettbewerbsfeindlichen Industriestruktur sowie dank der liebgewonnenen Gewohnheit, eher staatliche Subventionen als Marktprofite zu suchen, nicht gerade zu den Tugenden der Wirtschaftsbosse Venezuelas. Fri99
sches Kapital setzte damit auch keine neuen Impulse zur Steigerung der Produktivität. Die erste Säule der Dreieinigkeit des Punto Fijo, die wirtschaftliche Stabilität, begann wegzubrechen. Danach befand sich die venezolanische Wirtschaft im Sinkflug. Die holländische Krankheit, unter der Venezuela schon seit längerem litt, wurde virulent. Mit dutch disease wird das Phänomen beschrieben, das beim Erdgasboom der Niederlande in den 1960er Jahren beobachtet und auch als „Fluch der Ressourcen" bekannt wurde: So verbuchen Länder mit einer breiten Rohstoffausstattung anfangs zwar beeindruckende Exporteinnahmen. Doch diese verführen nicht nur zu expansiven Staatsausgaben und Verschuldung, sondern erzeugen auch eine kontinuierlich überbewertete Währung, deren hoher Preis wiederum die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Binnenwirtschaft senkt. Das Land durchläuft eine Phase der Deindustrialisierung und schlittert bei sinkenden Weltmarktpreisen für seine Rohstoffe dann in eine Liquiditätskrise, die wiederum meistens in Geldabwertungen und in Haushaltskürzungen mündet. Der Rohstoffsektor wird zum vermeintlichen Rettungsanker, Stabilisierung bringt erst der nächste Anstieg der Rohstoffpreise, der wieder von einer Geldaufwertung begleitet wird und das Spiel von neuem beginnen lässt. Der Boom wird zur Krankheit. 1989 versuchte der sozialdemokratische Präsident Carlos Andrés Pérez (1989-1993), diese Krankheit mit dem Neoliberalismus auszutreiben. Indem er drastische Einschnitte im sozialen System ankündigte, legte er damit die Axt an die zweite Säule des Punto Fijo - den sozialen Ausgleich - und provozierte auf den Straßen von Caracas eine unerwartet heftige soziale Explosion. Ende Februar 1989 wurde die Stadt für mehrere Tage von gewalttätigen Unruhen, Plünderungen und Hetzjagden der Militärs heimgesucht, die einigen 100 Menschen das Leben kosteten und die später als caracazo bekannt wurden (López 1999). Die hochkochende Gewalt erschreckte nicht nur die politische Führung Venezuelas, sondern auch die lateinamerikanischen Eliten und die internationalen Organisationen. Sie führte zu der Begründung einer sozialliberalen Politik, die die neoliberalen Anpassungen sozial abfedern sollte. Dabei wurde neben der Privatisierung und Dezentralisierung der öffentlichen Dienste eine neue Form der Armutsbekämpfung entwickelt, die über die Selektion von Bedürftigen und die Fokussierung der Ressourcen auf bestimmte Förderziele den Ärmsten der Armen helfen sollte (Burchardt 2004). Die venezolanische Sozialpolitik, seit der Verfassung von 1961 als universalistisch angelegt, wurde modernisiert und auf den damals neuesten Stand der Armutsbekämpfung ausgerichtet. Wirtschaftlich führte das neoliberale Anpassungsprogramm zu einer kurzfristigen Stabilisierung, aber auch zu wachsender Armut und Unzufriedenheit. Nichts ließ das deutlicher werden als der Militärputsch von Hugo Chávez, mit dem dieser am 4. Februar 1992 versuchte, die Regierung abzusetzen. Zwar scheiterte der Putsch; er wurde aber besonders innerhalb der ärmeren Bevölkerung zum Symbol des Protests gegen die Korruption des alten Regimes und ge100
gen den Neoliberalismus. Damit begann auch die letzte Säule des Punto Fijo die Stabilität der Demokratie - zu wanken. Der nächste Präsident gewann die Wahlen nur, indem er dem Neoliberalismus und dem ancient regime, welches in der Öffentlichkeit nur noch als inkompetentes und korruptes Machtkartell wahrgenommen wurde, abschwor. Dennoch wurden 1996 mit der Agenda Venezuela neue neoliberale Strukturreformen eingeleitet, die die Glaubwürdigkeit der Politik völlig zerrütteten und enorme soziale Kosten verursachten, aber ökonomisch weitgehend eifektlos blieben und im Grunde in eine installierte Rezession mündeten. So setzte sich auch in den 1990er Jahren der Fall der Wirtschaft fort und machte Venezuela zu den wenigen Ländern der Region, in denen seit Ende der 1970er Jahre das wirtschaftliche Wachstum kontinuierlich sank: Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt (BIP) verringerte sich zwischen 1980 und 1996 auf den Stand der 1960er Jahre und das Land hatte eine Wirtschaftsperformance vorzuweisen, die der von Haiti oder Nicaragua entsprach (Crisp 2000). Auch die ökonomische Basis war völlig marode. Seit zwei Dekaden war kaum noch in die Produktionsstruktur investiert worden: Venezuela verfügte über das gleiche Produktionspotenzial wie vor 30 Jahren, hatte technologisch den Anschluss verloren und war im Grunde eines der Länder, an denen die Globalisierung bisher ohne größere Spuren vorbeigezogen war (Baptista 2003; IMD 2003; Naim 2001). Unter sozialen Gesichtspunkten waren die 1990er Jahre für Venezuela ebenfalls ein Desaster. Bei den Ausgaben für Bildung und Gesundheit gehörte das Land zu den Schlusslichtern Lateinamerikas (CEPAL 2003a). Die neoliberale Deregulierung der Arbeitsbeziehungen hatte ebenfalls ihre Wirkungen gezeigt: Im formalen Arbeitssektor hatte die Beschäftigung zwischen 1990 und 1998 um 40% abgenommen und die des informellen Sektors - in dem die Löhne circa ein Drittel niedriger liegen - war auf über 50% angestiegen (CEPAL 2000). Das durchschnittliche Realeinkommen hatte 199S einen Stand erreicht, das der Kaufkraft zu Beginn der 1950er Jahre entsprach (Baptista 1997; Carvallo 1999). Parallel dazu war die soziale Ungleichheit weiter gewachsen: Zwischen 1980 und 1998 erhöhten die 10% Reichsten ihren Anteil am Volkseinkommen von knapp 22% auf 33%, während der Anteil der 40% Ärmsten Venezuelas von 19% auf 15% gesunken ist; die ärmsten 10% besitzen heute nicht einmal 2% des Volkseinkommens. Bei einem differenzierten Blick wird deutlich, dass im Grunde die gesamte venezolanische Bevölkerung an Besitzstand verlor - außer den 5% Reichsten, die noch reicher wurden (CEPAL 1999; World Bank 2003). Diese Dynamiken hatten katastrophale Auswirkungen auf die soziale Lage. Die Kriminalität explodierte: Mitte der 1990er Jahre lag die Zahl der Tötungsdelikte doppelt so hoch wie 1980. Und die Armut stieg bis 1998 auf 81%, die extreme Armut auf 48% an. Die Konstellation der einstigen Zwei-Drittel-Gesellschaft Venezuelas hatte sich „umgedreht": Die Mittelschicht war fast halbiert worden und machte nur noch ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus (Riutort 2001a). 101
So existierte Ende der 1990er Jahre in Venezuela eine Gesellschaft, die sich durch grassierende Arbeitslosigkeit und krasse Armut, extreme Ungleichheit und ein Regime auszeichnete, welches inkompetent und korrupt war und immer weniger politische und soziale Integration gewährleistete. 20 Jahre Krise ließen in Venezuela hauptsächlich eins zurück: die Zerstörung der ökonomischen, sozialen und zuletzt auch politischen Basis des Paktes Punto Fijo. Venezuela hatte zur Jahrhundertschwelle völlig abgewirtschaftet; es war zu einem newly declined country geworden. Die drastisch gesunkene Integrationskraft des Regimes hatte den Weg freigemacht für einen outsider.
1. Mehr Gerechtigkeit wagen: Die Antworten der bolivarischen Revolution auf die soziale Frage Genau auf dieses Stimmungsbild hat Hugo Chávez gesetzt. Er kritisierte in seiner Wahlkampagne vehement den Filz und die Korruption und konzentrierte sich auf das Versprechen, die diskreditierte „Vierte Republik" mit seiner „bolivarischen Revolution" hinwegzufegen und durch eine „Fünfte Republik" zu ersetzen. Diese Ankündigungen wirkten durchaus glaubwürdig: Schon seine ethnische Verortung als Mestize war der Beweis eines Bruchs mit dem Regime. Chávez war zwar nicht der erste Präsidentschaftskandidat, der an die unteren Schichten appellierte, aber er war der erste, der ihnen selbst entstammte. Auch sein Putschversuch von 1992 ließ an seiner Entschlossenheit wenig Zweifel. Ideologisch machte er Simón Bolívar zum Kronzeugen seines Programms: Nach zwei Jahrzehnten des Institutionen- und Sittenverfalls und der konzeptionellen Orientierungslosigkeit symbolisierte dieser Bezug auf den venezolanischen Gründungsmythos Bolívar, dieses „Helden fiir alle Zwecke" (Harwich 2003), einen Neuanfang auf der Basis autochthoner Zielvorstellungen. Dieser Neuaufguss des bolivarianismo ist dabei kein kohärentes Paradigma, sondern eine unentwirrbare Mischung aus Elementen, die sich aus der venezolanischen politischen Mythologie speisen. Der Bezug auf Bolívar ist vor allem eine Berufung auf die Werte der nationalen Unabhängigkeit, der Demokratie, der Souveränität des Volkes, der sozialen Gerechtigkeit, des universalen Rechts auf Bildung und der ethnischen Gleichheit. Diese Werte wurden von einem Großteil der Bevölkerung geteilt und ließen die bolivarische Revolution zum nationalen Projekt werden (Boeckh/Graf2003). Programmatisch konzentrierte sich Chávez anfangs ganz auf eine Antipolitik, also auf die Ablehnung und Ablösung des bestehenden Regimes und vermied nach Möglichkeit, diese Imperative mit Inhalten zu beschweren. In der Wirtschaftspolitik stilisierte er sich zum vehementen Kritiker des Neoliberalismus, den er für den sozialen Abstieg der Bevölkerung verantwortlich machte. Als Alternative vertrat er nur vage sozialdemokratische Positionen, die gleichzeitig die Unabhängigkeit und die nationalen sowie sozialen Pflichten der Unternehmer betonten. In einer Politik der „zwei Hände" sollte die unsichtbare Hand des 102
Marktes Transparenz und Effizienz sichern, während die sichtbare Hand des Staates die Fehler und Schwächen des Marktes zu korrigieren hätte. Die Möglichkeit eines venezolanischen Dritten Weges wurde beschworen; der Klärung, wie dieser auszusehen hätte, allerdings sorgsam ausgewichen (Buxton 2003). Die endgültigen Konzepte der bolivarischen Revolution sollten erst in einer Verfassungsänderung präzisiert und konstituiert werden. Auf dieser neuen Verfassung sollte dann ein reformierter, apolitischer und korruptionsfreier Staat errichtet werden, der Demokratie und Privatsphäre respektiert und sich gleichzeitig seiner sozialen Verantwortung bewusst ist (MVR 1998). Vor allem mit der letzten Forderung setzte Chávez massiv auf die Sprengkraft der sozialen Ungleichheiten - kurz vor den Wahlen waren circa neun Millionen Menschen in Venezuela unterernährt. Diese Mischung aus dem definitiven Kollaps des alten Regimes, der glaubhaften Beschwörung eines nationalen Projektes - das die Agonie der letzten zwei Jahrzehnte abschütteln wollte - und der Politisierung der sozialen Ungleichheiten führte Chávez erfolgreich an die Macht. Nach dem Regierungsantritt im Februar 1999 arbeiteten die Chavisten dann auf Hochtouren die neue Verfassung aus - die tatsächlich in drei Monaten vorgelegt und in einem Plebiszit im Dezember desselben Jahres ratifiziert werden konnte. Prinzipiell sieht sich die bolivarische Verfassung den Werten des Lebens, der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Gleichheit, der Solidarität, der Demokratie, der sozialen Verantwortung, den Menschenrechten, der Ethik und dem politischen Pluralismus verpflichtet (Art. 2). Sie gibt vor, die Beziehungen nicht nur zwischen Staat und Gesellschaft, sondern auch zwischen den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft neu auszurichten und will darüber einen neuen „sozialen Bürgersinn" begründen. Der Staat wird hierbei einerseits als partizipativer Raum verstanden, in dem die Gesellschaft über vielfältige Möglichkeiten die öffentlichen Angelegenheiten mitgestalten kann - so beschäftigen sich 130 der 350 Artikel der neuen Verfassung direkt oder indirekt mit Partizipation. Der Staat wird andererseits aber auch zum Protagonisten und zentralem Garanten der sozialen Rechte ernannt, der verpflichtet ist, im ausreichenden Maße für alle Bürger Arbeit, Ausbildung, Krankenversorgung sowie Wohnraum zu garantieren und soziale Gerechtigkeit herzustellen hat (Delgado/Gómez 2001). Auch in den wirtschaftspolitischen Leitlinien der neuen Verfassung spiegelt sich der Versuch des Interessensausgleichs wider: Als wichtigste Ziele werden hier soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Effizienz, freier Wettbewerb, Umweltschutz, Produktivität und Solidarität genannt. Markt und Privateigentum werden explizit anerkannt, die Privatwirtschaft aber gleichzeitig verpflichtet, zu der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beizutragen, die als höchstes Ziel eine gerechte Verteilung des Reichtums fördern soll (Art. 299). Dem Staat wird gegenüber der Wirtschaft eine Regulierungsrolle zugestanden und insbesondere kleinen Betrieben und Kooperativen Förderung zugesichert. 103
So setzt sich die Essenz der neuen Verfassung aus drei Komponenten zusammen: Erstens die Förderung eines social citizenship, welches auf einer Universalisierung der sozialen Rechte basiert und jegliche Form der Diskriminierung ausschließt. Zweitens die Schaffung sozialer Gleichheit als erstes Ziel der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung und drittens die Gestaltung der öffentlichen Politik als partizipativer Raum fur alle Bürger. Im Jahr 2001 wurden die Leitlinien der Chavez-Regierung im Wirtschaftsund Sozialplan 2001-2007 (PDES) konkretisiert und im Strategischen Sozialplan (PES) zusätzlich die Instrumente fur die bolivarische Sozialpolitik vorgestellt: Die angestrebte Universalisierung der sozialen Rechte soll durch einen breiten allgemeinen Zugang zu den unterschiedlichen Bildungseinrichtungen, zur Gesundheitsversorgung sowie durch die öffentliche Bereitstellung von ausreichendem Wohnraum gewährleistet werden. Ein nicht ausschließlich auf formaler Erwerbstätigkeit basierendes Sozialversicherungssystem soll hierbei die Integration der informellen Beschäftigten garantieren. Weiterhin soll durch die Stärkung eines Sektors sozialen Wirtschaftens mehr Einkommensgerechtigkeit geschaffen werden. Und parallel dazu soll eine lokale Partizipationsförderung die Aneignung des Öffentlichen als kollektiven Raum stimulieren. Politiken der Dezentralisierung sowie des Aufbaus von sozialen Netzen, von Basisorganisationen und einer kritischen Öffentlichkeit sollen dann den angestrebten sozialen Bürgersinn formen helfen (RBV 2001). In der Sozialpolitik wird dazu institutionell eine Stärkung der politischen Koordination über transsektorale und intergouvernementale Kooperationen und Mehrebenenpolitiken sowie insbesondere eine Förderung von kommunaler Selbstverwaltung anvisiert. Programmatisch sollen kurzfristige karitative Maßnahmen verringert sowie Kriterien der Kontinuitäts- und Qualitätssicherung in die Sozialpolitik eingeführt werden. Konzeptionell wird die Schaffung von sozialen Räumen zur Stärkung von Chancengleichheit und von sozialer Inklusion angestrebt. In der Synthese soll Sozialpolitik nicht mehr eine abhängige Variable von ökonomischen Programmen und politischen Prozessen sein, sondern zum eigenen strukturdeterminierenden Politikfeld werden (MSDS 2002). In der Wirtschaftspolitik strebt die Fünfte Republik makroökonomische Stabilität als Fundament eines nachhaltigen und sozial ausgeglichenen Wirtschaftswachstums an, die über Geldwertstabilität und durch eine Sanierung des Staatshaushaltes über rigide Ausgabenkontrollen sowie eine Verbreiterung der Steuereinnamen erreicht werden soll. Diese Stabilität soll nach ihrer Konsolidierung dann zur Basis fur öffentliche Investitionen und höhere Sozialausgaben werden und schließlich in eine neue Infrastrukturförderung münden. Zusätzlich soll die Binnenwirtschaft über den Aufbau des Sektors sozialen Wirtschaftens angekurbelt werden. Hierzu werden ein selektiver Protektionismus, eine aktive Beschäftigungspolitik, eine Agrarreform sowie ein neues Steuer-, Zins- und Kreditsystem angestrebt, um kleine und mittelständische Unternehmen sowie die unter104
nehmerische Initiative insbesondere unter den sozial Schwachen zu fordern (MPD 2001; Vila 2003). Auf dem Papier stellen die neuen Leitbilder und Konzepte der bolivarischen Verfassung und der Fünften Republik nicht nur für die Region einen beeindruckenden Paradigmenwechsel dar: In der Sozialpolitik hat man sich von den neoliberalen Konzepten der Selektion und Fokussierung verabschiedet und ist wieder zum Universalismus zurückgekehrt. Annutsbekämpfung wird nicht nur als wohlfahrtsstaatliche Aufgabe und gesamtgesellschaftliche Verantwortung wahrgenommen, sondern auch als interdependente Determinante von Wirtschaft und Politik erkannt. Völlig zu Recht wird davon ausgegangen, dass der Zugang zu Bildung und besonders zur Grundausbildung für die soziale Mobilität zentral ist. Die soziale Frage wird auch als Verteilungsfrage behandelt und die nationale Elite stärker in die Pflicht genommen; eine Agrarreform als eine Antwort auf soziale Ungleichheit ist hier sicherlich ein Königsweg (Senghaas 2003). Die Verkoppelung der Sozialpolitik mit aktiver Beschäftigungspolitik ist aufgrund der global zu beobachtenden und auch für Venezuela empirisch belegten Korrelation zwischen Einkommensverlust und Armutszunähme wegweisend (Riutort 2001b). Und die Förderung lokaler Partizipation erkennt an, dass Armut nicht nur auf materieller Knappheit basiert, sondern politische, ethnische und geschlechtsspezifische Diskriminierungen und Exklusion ebenfalls bedeutende Verelendungsgründe sind. Insofern hat die Fünfte Republik in ihrer Sozialpolitik den neuesten Kenntnisstand aufgegriffen und verarbeitet. Die heterodox angelegte Wirtschaftspolitik beinhaltet ebenfalls Alternativen zu der vorherrschenden Doktrin: Durch die Konsolidierung der staatlichen Einnahmen Uber den Aufbau eines effektiven Steuersystems würde Venezuela nicht nur eines der wichtigsten nationalen, sondern auch regionalen Strukturgebrechen überwinden und könnte seine Volkswirtschaft auf eine neue Basis stellen. Ein selektiver Protektionismus würde dem Land sowohl die so dringend benötigten Technologietransfers garantieren, als auch das Heranreifen eigener Industriepotenziale zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit möglich machen. Und die Bedeutung makroökonomisch solider Rahmenbedingungen für die soziale Entwicklung - Inflation z. B. ist immer eine Armensteuer - wurde genauso erkannt wie die Tatsache, dass die angestrebte Demokratisierung und Ausdehnung der Binnenwirtschaft die ökonomische Stabilität und Entwicklung als Ganzes unterstützt. Denn der Sektor des sozialen Wirtschaftens kann mithelfen, den Binnenmarkt aufzufächern sowie neue Produktivitätspotenziale zu erschließen und trägt dazu bei, das rentenökonomische Modell Venezuelas zu transformieren. In der Synthese vertritt die bolivarische Revolution also den Anspruch, die verlorenengegangene Dreieinigkeit zwischen sozialem Ausgleich, demokratischer Legitimation und ökonomischer Effizienz auf einem höheren Niveau wiederherzustellen. Mit ihrer Forderung nach Universalisierung der sozialen Rechte, mehr Verteilungsgerechtigkeit sowie mit der Förderung der ökonomischen, sozialen und politischen Partizipation als Basis eines neuen Bürgersinns formu105
liert der Chavismus durchaus Leitbilder, mit denen dies gelingen könnte. Sein Erfolg wäre für die ganze Region richtungsweisend.
2. Der Chavismus als Papiertiger? Chävez hatte sich zum Sprachrohr der Armen gemacht und war für eine Verbessung der sozialen Lage angetreten. Damit wurde die Sozialpolitik zur Nagelprobe seiner Glaubwürdigkeit. Um unter Beweis zu stellen, wie ernst es der Fünften Republik mit dem Neuanfang war, wurde als erstes das institutionelle Gefüge des ancient regime geschliffen. Die Neuordnung der sozialpolitischen Zuständigkeiten war dabei unter dem Motto der Effizienzsteigerung und Rationalisierung voll auf Konzentration ausgelegt: Mehrere Ministerien wurden fusioniert und frühere Dezentralisierungsmaßnahmen administrativ ausgebremst, finanziell ausgetrocknet oder politisch sogar rückgängig gemacht. Des Weiteren wurde 1999 der Fondo Ünico Social (FUS) gegründet, der die wichtigsten sozialpolitischen Elemente der bolivarischen Revolution erstmals unter einem Dach vereinen sollte. Der FUS folgt dem Konzept der internationalen Sozialfonds, denen es seit Mitte der 1980er Jahre in vielen Entwicklungsländern relativ erfolgreich gelingt, rasch und effizient soziale Infrastruktur aufzubauen. Doch während viele internationale Sozialfonds wie auch der 1989 gegründete venezolanische Fond FONVIS eine Mischfinanzierung von mehreren Gebern (Weltbank, etc.) aufweisen und dementsprechend auch internationalen Kontrollen unterliegen (Burchardt 2003), speist sich der FUS ausschließlich aus nationalen Quellen. Ansonsten soll er ebenso ohne großen Verwaltungsaufwand eine effektive Grundversorgung armer Bevölkerungsgruppen sowie den Aufbau sozialer Infrastruktur bereitstellen (Parra/Lacruz 2003). Neben diesen Neuerungen verkündete Hugo Chävez am 27. Februar 1999 also genau zehn Jahre nach den Ereignissen des caracazo - den Plan Bolivar. Mit dem Befehl „Wohnung für Wohnung zu durchkämmen, denn der Feind ist der Hunger" rief er zu einem konzertierten Angriff der zivilen und militärischen Kräfte gegen die Armut Venezuelas auf. Gleichzeitig band er die Armee in die neue Regierungspolitik ein und öffnete ihr den Zugang zu den Provinzen und Kommunen des Landes. Der Plan Bolivar ist auf mehrere Phasen angelegt, die von einer schnellen Hilfe für prekär lebende Bevölkerungsteile über kommunale Beschäftigungspolitik in eine langfristige Industrie- und Strukturpolitik münden sollen. In der Praxis wurde als erstes eine soziale Infrastruktur aufgebaut sowie bei extremer Armut die Grundversorgung sichergestellt. Das Militär leitet das Programm bis heute unter Einsatz seiner operativen Kenntnisse und Ressourcen: Z. B. setzte die Luftwaffe bei fehlenden Straßen zeitweise Helikopter als Transportmittel ein. Mit diesem institutional setting glaubte die Fünfte Republik die Weichen für eine neue Sozialpolitik gestellt zu haben. Ergänzend wurde der Anteil der globalen Sozialausgaben am BIP zwischen 1999 und 2001 um runde 20% erhöht. 106
Ebenfalls als Ausdruck des sozialpolitischen Wandels wird der Wiederaufbau der sozialen Dienste und besonders des Bildungswesens vorangetrieben. So wurde in einem neu aufgelegten Programm zur Grundschulförderung bis Ende 2003 die 3000ste escuela bolivariana eingeweiht. Diese Initiative, die zusammen mit Alphabetisierungs- und Weiterbildungskampagnen zu einer Verbreiterung und Qualitätssteigerung der Bildung führen soll, scheint durchaus erfolgreich: Während die Einschulungsquoten für die Grundschulen in den 1990er Jahren um 13% gefallen waren, stiegen sie zwischen 1999 und 2002 wieder um über 10% an; die Dauer der durchschnittlichen Schulausbildung verlängerte sich von 7,9 Jahren im Jahre 199S auf 8,4 Jahre Ende 2002. Und da es sich bei den neuen Schulen um Ganztagsschulen mit Schulspeisung handelt, wurde zusätzlich die Ernährungssituation vieler Kinder verbessert (EGS 2003; PROVEA 2003). Zusätzlich wurden seit Mitte 2000 die Gehälter im öffentlichen Dienst sowie die Mindestlöhne - die immerhin für die Hälfte aller venezolanischen Erwerbstätigen relevant sind - jährlich um circa 20% erhöht. Im Dezember 2002 schließlich verabschiedete das Parlament ein neues Sozialversicherungssystem, das den privaten Diensten nur noch eine nachgeordnete Funktion zuweist und in ersten Bewertungen als integral, effizient, solidarisch und partizipativ eingeschätzt wird (Méndez 2003). Für den Sektor des sozialen Wirtschaftens wurden im März 2001 die Gesetzesgrundlagen für ein Mikrofinanzierungssystem geschaffen, das über sehr günstige oder zinslose Kredite ärmeren Bevölkerungsschichten Zugang zu Investitionskapital geben soll. Es wurden spezielle Banken gegründet und bis Ende 2003 darüber 70.000 Minikredite verliehen. Über Steuerbegünstigungen wurden kleine Betriebe sowie Kooperativen gefördert - ihre Zahl ist nach Regierungsangaben zwischen 1999 und 2003 von 800 auf 40.000 gestiegen. Die Agrarreform, die die hochkonzentrierte Landverteilung Venezuelas - bei der nur 3% der Eigentümer vier Fünftel der gesamten kultivierbaren Fläche besitzen - , gerechter verteilen soll, wurde im Dezember 2001 per Dekret eingeleitet. Wer nicht in der Lage ist, mehr als 80% seiner Landfläche zu bebauen, muss seither entweder erhöhte Steuern bezahlen oder kann sogar enteignet werden. 2003 wurde zusätzlich der Plan Zamora aufgelegt und bis Ende des gleichen Jahres zu zwei Dritteln abgewickelt: Insgesamt sollen 100.000 Landarbeiterfamilien aus öffentlichen Ländereien kostenlos 1,5 Mio. Hektar Pachtland erhalten; diese Verteilung begünstigte bisher circa eine halbe Million Menschen. Parallel dazu wurden für urbane Zonen gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen, um ungenutzte Flächen zu enteignen und zu bebauen - bis Ende 2003 haben circa 45.000 Familien von dieser Maßnahme profitiert (PROVEA 2003). Unter all diesen Gesichtspunkten scheint der Fünften Republik in der Sozialpolitik ein Aufbruch gelungen zu sein. Bei einer tiefergehenderen Analyse stellen sich die bolivarischen Antworten auf die soziale Frage allerdings etwas an107
ders dar. Dabei werden in der Sozialpolitik vier wichtige Konturen sichtbar, die das neue Regime auch grundsätzlich auszeichnen: Erstens gewinnt im Regiemngsalltag zunehmend eine Politik an Einfluss, die nicht auf Konsistenz und Nachhaltigkeit setzt, sondern auf rasche Effekte und Legitimationshascherei. Schon die ersten, im Juli 1999 ratifizierten Sozialprogramme der neuen Regierung waren weniger Ausdruck des Wandels, sondern vielmehr eine Fortschreibung der früheren Armutsbekämpfung unter neuen Namen. Ihre kurzfristig angelegten Maßnahmen stammten größtenteils aus der Agenda Venezuela - von Chávez einst als Ausgeburt des Raubtierkapitalismus gegeißelt. Dem folgte ein sozialpolitischer Programmaktionismus sondergleichen: So wurden in der letzten Zeit - neben vielen anderen Initiativen - die Alphabethisierungskampagnen Mission Robinson I und II, die Bildungskampagnen Mission Ribas und Mission Sucre sowie andere Programme wie der Plan Petróleo para el Pueblo, der Plan Vuelvan Caras etc. aus der Taufe gehoben. Hugo Chávez selbst hat eine ungebremste Leidenschaft entwickelt, neue Sozialprogramme zu erfinden. Beruhte die Gründung des FUS auf seiner „Intuition", versteht er einige seiner Ideen sogar als Erleuchtung, was sich dann konsequent im Programmtitel widerspiegelt: so z.B. die Ende 2003 verkündete Mission Cristo. Als eine weitere, gleichsam himmlische Eingabe gründete er im August 2003 eine neue bolivarische Universität, die schon Anfang 2004 ihre Pforten öffiien sollte. Chávez versucht mit solchen spektakulären Vorschlägen, seine soziale Verantwortung öffentlichkeitswirksam darzustellen und macht die Sozialpolitik zu einer seiner wichtigsten Legitimationsressourcen. So werden neue Maßnahmen wie z.B. die staatliche Unterstützung von Straßenkindern durch das Programm Niños de la Patria von ihm in seiner sonntägigen Femsehshow Aló Presidente im besten populistischen Stil angekündigt. Bei solchen Gelegenheiten verspricht er auch gerne Hilfe zur Linderung individueller Unglücksfälle und weist gelegentlich Untergebene vor laufenden Kameras an, konkrete Summen an Betroffene zu transferieren. Dieser Politikstil, der sich als politische Volatililät kennzeichnen lässt, setzt sich in der sozialpolitischen Praxis fort: Der Plan Bolívar zeichnete sich bisher stärker durch Spontaneität, Improvisation und Pragmatismus als durch konsistente Politik aus, wie z.B. im März 2001 die Rekrutierung von 100.000 Arbeitslosen als Bausoldaten demonstrierte. Diese gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme war zwar sehr populär, aber unzureichend vorbereitet und verpuffte ohne nennenswerte Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt. Und es muss befürchtet werden, dass sogar das Förderprogramm für die Grundschulen mehr auf eine populistisch verwertbare Erhöhung von statistischen Kennziffern (Anzahl von Schulen und Schülern) als auf eine solide Grundausbildung ausgerichtet ist. Während Chávez betont, dass die neuen bolivarischen Schulen so beliebt seien, dass sie sogar von Mittelschichtsangehörigen 108
frequentiert werden (Bilbao 2002: 59), kommen einige Untersuchungen zu ganz anderen Ergebnissen: Danach sind viele Schulen personell unterbesetzt und sowohl ihre Gebäude als auch das vorhandene Lehrmaterial befinden sich oft in einem katastrophalen Zustand (Alvarado 2003). Ein im März 2002 heftig geführter Streik im öffentlichen Gesundheitsdienst gegen die schleppende oder gar nicht stattfindende Auszahlung der Gehälter unterstreicht, dass auch im Gesundheitswesen bisher nicht ausreichend auf Konsolidierung gesetzt wird. Die staatliche Förderung für den Gesundheitsbereich oszilliert seit Beginn der Fünften Republik um 1,5% des BIP und weicht damit nicht bedeutsam von der Ausgabenpolitik früherer Regierungen ab (PROVEA 2003). Als zweite Komponente ist in der Sozialpolitik eine Zunahme institutioneller Inkohärenz zu beobachten. Als Ausdruck des politischen Wandels baute die Fünfte Republik in vielen Bereichen eigene Institutionen auf. Der Plan Bolivar und der FUS sind klassische Beispiele dieses paralelismo, wie er heute in Venezuela bezeichnet wird. Dabei stellte das Schleifen der Institutionen sowie das Auswechseln des alten Personals, das durch das frühere Regime kompromittiert war, die Regierung vor das Problem, selbst nur über ein begrenztes Reservoir an Funktionären mit dem nötigen Institutionen- und Fachwissen zu verfügen. Als Antwort darauf - und sicherlich auch aus Motiven des clientelismo castrense wurden und werden bis heute viele alte Kader durch Militärs ersetzt; erwartet man doch gerade von ihnen Disziplin, Ordnung, Effizienz, Pflichtbewusstsein und Loyalität. Doch die Armeeangehörigen sind meistens weder mit den Besonderheiten des ihnen angetragenen Politikfeldes vertraut, noch kennen sie die institutionellen Gegebenheiten und administrativen Routinen des Regierens. Dies führt(e) oft zu einer wenig abgestimmten Umsetzung der Politik. Im sozialen Bereich ist die Vielzahl der in den letzten Jahren aufgelegten Initiativen ein eklatanter Ausdruck dafür. Diese sind weder in sich kohärent noch untereinander verbunden und für den Aufbau einer konsistenten Sozialpolitik eher hinderlich als förderlich. Ein gutes Beispiel dafür ist vielleicht sogar eines der sozialpolitischen Flaggschiffe der Fünften Republik: der Ausbau des Bildungswesens durch die bolivarischen Schulen. Nach einer Begehung von 116 dieser Schulen in sieben Provinzen sollen nur 30% der zugewiesenen Mittel auch direkt die Schulen erreicht haben. Als wichtigste Gründe werden Koordinations- und Kooperationsdefizite zwischen den verschiedenen politischen Ebenen genannt (Alvarado 2003). Wurde diese Evaluierung auch von Oppositionellen durchgeführt, so dass sie nur eingeschränkt glaubwürdig ist, unterstreicht sie doch die begrenzte Aussagekraft vieler Sozialstatistiken der bolivarischen Republik. Dank der institutionellen Inkohärenz ist auch die Reform der Sozialversicherungssysteme bisher Makulatur. Denn es gibt kein solides Modell ihrer Finanzierung: Im Staatshaushalt von 2003 wurde sie nicht einmal als Kostenfaktor 109
berücksichtigt, und bisher sind keine weiteren Bemühungen erfolgt, ihre Gegenfinanzierung zu garantieren. Vielmehr wurden die Sozialversicherungssysteme Ende 2003 in bester Tradition noch stärker an die Erdöleinnahmen gekoppelt und somit die soziale Frage wieder einmal der „Gnade" der Weltmarktpreise ausgeliefert. Am stärksten von Inkohärenz ist aber der Sektor des sozialen Wirtschaftens betroffen: Die erleichterte Kreditvergabe an weniger solvente Bürger wird durch zu hohe bürokratische Hürden gebremst und die bewilligten Kreditvolumen sind oft zu klein für tragfähige unternehmerische Initiativen. Doch vor allem das Herzstück der bolivarischen Binnenwirtschaftspolitik, die Agrarreform, ist im Grunde zum Misserfolg verurteilt. Eine Agrarreform ist nicht nur ein Königsweg zur Erschließung der endogenen Entwicklungspotenziale, sondern auch ein hochdelikater Prozess, setzt sie doch eine markante Umverteilung von Macht und Ressourcen voraus. In einem demokratischen Regime wie Venezuela kann eine solche Neuverteilung nur über die Einbindung der involvierten Interessengruppen erfolgreich sein. Chavez versuchte hingegen, die Agrarreform per Dekret und über politische Polarisierung durchzusetzen. Dies musste scheitern und hat den ungelösten Konflikt um die Bodenverteilung eher verschärft. Und auch der seit 2003 stattfindenden Vergabe staatlichen Landes über den Plan Zamora wird kein Erfolg vergönnt sein, denn die verteilten Böden werden nicht als Eigentum übergeben, sondern nur verpachtet. Ihr Verkauf oder ihre Beleihung über Hypotheken ist somit nicht möglich. Doch schon die „letzte Agrarreform des 20. Jahrhunderts" (Burchardt 2000) hat wenig Zweifel daran gelassen, dass über eine Landverteilung, die primär auf Pacht basiert, langfristig keine tragfähigen Produktionsstrukturen aufzubauen sind. Desgleichen wird sich die Urbane Bodenverteilung kaum konsolidieren. Zwar artikulierte Chävez Ende 2001 sein Verständnis für unrechtmäßige Landbesetzungen und dekretierte im Februar 2002, dass Bewohner aus Elendsvierteln Eigentümer von besetzten Boden werden können. Doch dieses Dekret ist im November desselben Jahres vom Obersten Gericht als verfassungswidrig aufgehoben worden und versetzte die bisherigen Nutznießer in eine rechtlich völlig unsichere Lage, die soziale Partizipation eher torpediert als fördert. Bisher versuchte die bolivarische Revolution die Probleme, die aus der institutionellen Inkohärenz erwuchsen, mit einer starken administrativen Konzentration zu überwinden. Die daraus resultierende fehlende Transparenz und accountability in der Politik und in den Verwaltungen haben als dritten Faktor aber zu einer ausufernden Korruption und klientelistischen Mittelvergabe geführt. Auch hier ist die Sozialpolitik ein signifikantes Beispiel: Insbesondere der FUS ist seit seiner Gründung mehr durch Vetternwirtschaft und Kormptionsskandale als durch Armutsbekämpfung aufgefallen und wird immer wieder durch Vorwürfe der Veruntreuung und der Begünstigung erschüttert. Nach Schätzungen erreichten in den ersten Jahren seiner Existenz nur 45% seiner Haushaltsmittel auch wirklich die Sozialprogramme (Mujica 2002). Über den Plan Bolivar witzelt die 110
Bevölkerung, dass er seinen Namen besonders deshalb trägt, da er den Militärs und Chávezgetreuen erlaubt, ihre Taschen mit der Nationalwährung Bolívar zu füllen. Auch die neuen Kreditinstitutionen oder das Institut zur Förderung der Agrarreform stehen immer wieder unter Korruptionsverdacht, der sich nicht selten bestätigt. Internationale Analysen erhärten diese Vorwürfe: Die Nichtregierungsorganisation Transparency International wies Venezuela in ihrem Antikorruptionsranking 1999 noch den Rang 75 zu; 2002 stürzte das Land auf Rang 84 und 2003 sogar bis auf Platz 105 ab (Transparency International 2004). Als vierte Komponente lässt sich eine Paternalisierung der Beziehungen zwischen dem Staat und den sozial Schwachen beobachten. Patemalismus legitimiert sich durch Protektion, die der Herrscher seinen Anhängern gewährt und wird über Klientelismus untermauert - der Herrschende ist nicht Vorgesetzter, sondern der persönliche Herr. Genau so ein Patronage- und Klientelverhältnis zeichnete die venezolanische Sozialpolitik schon immer aus und wird jetzt durch das zivilmilitärische Bündnis des Chavismus eher noch verstärkt: Soziale Maßnahmen werden nicht als subjektloser Transfer des Staates vermittelt, sondern sind hochgradig personalisiert, werden klientelistisch vergeben und hierarchisch sowie autoritär umgesetzt. In diesem „verstaatlichten" Massenklientelismus (Boeckh 2001) ist die Zielgruppe der Urbanen Armen und Staatsangestellten weiter zum Empfänger der Gaben eines Patrons degradiert. Und dieser erscheint gelegentlich in der Uniform eines Offiziers, aber oft genug auch im Gewände des Präsidenten. Es ist müßig zu erwähnen, dass solche Beziehungsmuster wenig mit dem bolivarischen Ansatz zu tun haben, Regierungspolitik als öffentlichen Raum zu verstehen, der auf allen Ebenen demokratisch mitgestaltet werden kann. Auch die anvisierte lokale Partizipationsförderung sowie die Förderung eines sozialen Bürgersinns drohen somit auf der Strecke zu bleiben. Diese vier Momente der politischen Volatilität, der institutionellen Inkohärenz, der Korruption sowie der Paternalisierung der staatlich-zivilen Beziehungen sind nicht nur wichtige Komponenten der bolivarischen Sozialpolitik, sondern sie verbinden sich zu einem zentralen Strukturmerkmal, das die Fünfte Republik als Ganzes auszeichnet: Eine Deinstitutionalisierung als schleichender Prozess der Erosion institutioneller Legalität und demokratisch legitimierter Institutionen. Somit hat die neue Sozialpolitik wenig mit den Mustern des alten Regimes gebrochen: Weiterhin dominieren kurzfristige Programme direkter - und oft fokussierter - Hilfsmaßnahmen die Armutsbekämpfung, ohne in eine integrale und kohärente Strategie zu münden. Weiterhin ist die Sozialpolitik hochgradig zentralisiert, aber institutionell schwach und wenig konsistent ausgerichtet. Und weiterhin ist sie ein beliebtes Feld für Korruption und Klientelismus und funktionalisiert Ressourcen weitgehend für legitimatorische Zwecke. Der Bruch der Fünften Republik mit der traditionellen Sozialpolitik bleibt letztendlich auf den Diskurs beschränkt, während die Praxis sich durch Kontinuität auszeichnet. 111
Auch die bisherigen Ergebnisse der bolivarischen Sozialpolitik sind nicht ermutigend - soweit sie überhaupt halbwegs zu bestimmen sind. Denn da die soziale Lage in Venezuela sehr politisiert ist, wird über ihre Entwicklung ein wahrer Krieg der Statistiken geführt. Wollen die Anhänger von Chävez beweisen, dass er erfolgreich gegen die Armut kämpft, nennt die Opposition regelmäßig Zahlen, die unterstreichen, dass er hauptsächlich die Armen bekämpft. Führt man einen internationalen Sozialindikator ins Feld, den auch die Regierung anerkennt, sind in den ersten drei Jahren Chavismus kaum soziale Verbesserungen zu registrieren: Nach dem Human-Development-Index (HDI) der UNDP ist Venezuela 1999 vom Platz 61 im Jahr 2000 auf den Rang 69 abgestürzt und hat diesen Platz auch im Folgejahr nicht verlassen. Und auf dem UNDP-Armutsindex (HPI-1) ist das Land zwischen 2000 und 2001 vom 9. auf den 11. Platz abgerutscht (UNDP 2003). Andere Daten präzisieren diese Zahlen: Die Beschäftigung im informellen Sektor betrug Ende 2003 53% und die offene Arbeitslosigkeit erreichte einen Rekordwert von 18%. Die ab 2002 nach oben schnellende Inflation ließ die Kaufkraft der Mindestlöhne so stark schrumpfen, dass mit ihnen die Grundernährung höchstens noch zur Hälfte gesichert werden konnte. Ende 2003 hungerten deshalb nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO in Venezuela mindestens 15% der Bevölkerung (PROVEA 2003). Auch die Gewalt in den Straßen stieg weiter an: 2002 wurden im Land täglich 25 Morde gezählt - eine Zahl, die Venezuela unter die ersten Plätze der weltweiten Gewaltkriminalität katapultierte (Monteferrante 2003). Die Fünfte Republik erkennt die Verschlechterung einiger Sozialindikatoren durchaus an. Nicht ganz zu Unrecht macht sie aber dafür die negative Wirtschaftskonjunktur der letzten Jahre verantwortlich, die das BIP allein zwischen 2002 und 2003 um knapp 20% einbrechen ließ. Die Gründe dafür müssen deshalb genauer betrachtet werden.
3. Die Wirtschaftspolitik: Vom dritten Weg zur Konterrevolution Als die bolivarische Regierung im Februar 1999 antrat, hatte sie das Erbe einer tiefen Rezession zu übernehmen. Die Erdölpreise waren auf den niedrigsten Stand seit 50 Jahren gesunken und beschnitten drastisch den finanziellen Spielraum des Staates. Die Wirtschaft schrumpfte im gleichen Jahr um mehr als 6% und ließ die Arbeitslosigkeit um ein Viertel nach oben schnellen. Als wichtigste Antwort darauf verfolgte Hugo Chävez eine klassisch rentenökonomische Wirtschaftsstrategie, die sich primär darauf konzentrierte, die staatlichen Erdöleinkommen zu optimieren. Er ging außenwirtschaftlich in die Offensive, engagierte sich stärker in der OPEC und übernahm Anfang 2001 sogar deren Vorsitz. Chävez entwickelte sich dabei zum Preisfalken, der über sinkende Förderquoten steigende Preise erzielen will - eine Politik, die sich noch im gleichen Jahr auszahlte und den Ölpreis in den Folgejahren zu einem fast ungebrochenen Höhenflug verhalf. 112
Doch das war der Regierung nicht genug: Im eigenen Land pochte Chávez darauf, auch auf das staatliche Erdöluntemehmen PdVSA (Petróleos de Venezuela, S.A.) wieder vollen Zugriff zu erhalten. Zu Recht kritisierte er den venezolanischen Multi als „Staat im Staate": Denn die PdVSA war Uber internationale Gewinntransfers und dank der fehlenden Versteuerung von ausländischen Gewinnen in Venezuela ökonomisch immer selbstständiger geworden. Diese Unabhängigkeit ließ die Staatseinnahmen wie Eis in der tropischen Sonne schmelzen - so verringerte sich der staatliche Bruttoanteil an der Erdölrente von 71% im Jahr 1981 auf 39% im Jahr 2000 (Mommer 2003: 176). Die Chávez-Regierung begann nun, die Autonomie der PdVSA gesetzlich einzuhegen. Blockierte die neue Verfassung weitere Privatisierungen, zwang ein Gesetz vom Dezember 2001 das Unternehmen, auf Auslandsgewinne Steuern zu zahlen und über seine Haushaltsgebaren vollständig Auskunñ zu geben. Doch die PdVSA wäre kein Staat im Staat gewesen, wenn sie diese Regulierungen nicht als Einmischung in ihre inneren Angelegenheit angesehen hätte. Immer wieder versuchte sie Uber Diplomatie, Konspiration und Streiks die bolivarische Regierung zu destabilisieren. Anfang 2003 kam es dann zum high noon: Nach einem im Dezember 2002 begonnenen Generalstreik, der die Fünfte Republik ökonomisch in die Knie zwingen sollte, sank die Erdölproduktion auf ein Zehntel der üblichen Fördermenge. Dem Land drohte der Kollaps. Die Regierung entließ daraufhin fristlos 18.000 Streikende des Unternehmens und besetzte gleichzeitig alle strategischen Führungspositionen mit loyalen Kadern. Dieser „Staatsstreich", der später nicht nur vom höchsten Gericht Venezuelas für rechtens erklärt wurde, sondern ganz nebenbei auch eine längst fällige Rationalisierung ermöglichte, verleibte die PdVSA wieder dem Staate ein. Bald darauf verwandelte sich die PdVSA wieder zum Füllhorn für Regierungsbegehren: Unbestätigte Schätzungen kalkulieren, dass die Summe der Geldtransfers an den Zentralstaat schon im Jahr 2003 um rund ein Drittel gestiegen ist. Außerhalb des Erdölsektors verfolgte die Fünfte Republik eine Wirtschaftspolitik, die unter paradigmatischen Gesichtspunkten als heterodox bezeichnet werden kann. Anfangs knüpfte sie in vielen Aspekten an die letzte Regierung an, schien auf Geldwertstabilität ausgerichtet zu sein und hielt alle internationalen sowie nationalen Verbindlichkeiten ein. Weder fanden die von der Opposition befürchteten Enteignungen statt, noch wurden frühere Privatisierungen zurückgenommen. Als orthodox könnte zunächst einmal eine markante Gesetzesliberalisierung für ausländische Direktinvestitionen angesehen werden, die durchaus Effekte zeitigte: Seit 2000 hat sich der Zufluss an ausländischem Investitionskapital besonders im Telekommunikationssektor - sichtbar erhöht. Ebenfalls erfolgreich gelang es der Regierung, ihre internationalen Schulden abzubauen sowie ihre Devisenreserven aufzustocken. Zusätzlich wurde das Staatshaushaltsdefizit in den ersten zwei Jahren der Fünften Republik um fast zwei Drittel gesenkt und 113
die Inflationsrate fiel 2001 auf den niedrigsten Stand seit 1982 (Buxton 2003). Nach einer kurzen Ölpreisschwäche kündigte Chävez im Februar und Mai 2002 dann orthodoxe Anpassungen an, die im Kern die Nationalwährung um 85% abwerteten. Dazu kamen eine nennenswerte Kürzung der Regierungsausgaben, der Abbau von Preissubventionen sowie die Ankündigung, mit der Privatwirtschaft im Infrastruktur- und Erdölbereich besser zusammenzuarbeiten. Nicht wenige schimpfen Hugo Chävez seither einen „gewendeten Neoliberalen" (Gömez/Alarcön 2003). Auf der anderen Seite ist die Wirtschaftspolitik der Fünften Republik eindeutig interventionistisch ausgerichtet: Zwischen 1999 und 2001 sind die öffentlichen Ausgaben um mindestens ein Drittel gestiegen; die Sozialausgaben erreichten 2001 sogar ein historisches Rekordhoch. Im November 2001 verkündete Chävez auf der Basis einer parlamentarischen Sonderermächtigung (Ley Habiiitante), die ihn autorisierte, Gesetze per Dekret zu verabschieden, 24 neue Richtlinien, von denen viele staatliche Eingriffe in die Wirtschaft bedeuteten. Nach dem Putsch vom April 2002 wurde ein befristetes Kündigungsverbot für Arbeiter und öffentliche Angestellte erlassen und danach mehrmals verlängert; im August desselben Jahres kündigte die Regierung neue Schutzzölle und eine Industriepolitik der Importsubstituierung an; im Oktober schränkte sie die Autonomie der Zentralbank ein und zwang sie, halbjährlich Gewinne an die Regierung abzuführen. Als Antwort auf eine nicht abreißende Kapitalflucht wurden im Februar 2003 der Wechselkurs eingefroren und strikte Devisenkontrollen eingeführt. Inländer erhalten Devisen seitdem nur noch mit Regierungsgenehmigung. Ab dem gleichen Zeitpunkt wurden staatliche Preiskontrollen für Lebensmittel, Medizin, Mieten, private und öffentliche Dienstleitungen, Transport, etc. erlassen und bis Ende des Jahres ein Netz staatlicher Parallelmärkte für subventionierte Lebensmittel errichtet. Mit Blick auf diese Maßnahmen platzierte die konservative Heritage Foundation Venezuela auf ihren Economic Freedom Index 2004, der den Grad ökonomischer Freiheiten messen soll, von 155 untersuchten Ländern auf Rang 147. Venezuela wurde damit der letzte Platz Lateinamerikas zugewiesen; seine Wirtschaft wird sogar als verregelter angesehen als die der sozialistischen Planwirtschaft Kubas (Rang 144) (Heritage Foundation 2004). Resümiert man die verschiedenen Ansichten über die jüngere Wirtschaftsentwicklung Venezuelas, ist die bolivarische Performance entweder neoliberal oder sozialistisch oder eine Mischung aus beiden. Doch alle diese Einschätzungen irren: Denn die Wirtschaftspolitik von Chävez lässt sich überhaupt nicht über solche paradigmatische Kriterien erfassen. Die Wirklichkeit ist wesentlich banaler: Die Restwirtschaft Venezuelas ist weiterhin nichts anderes als der Appendix des Erdölsektors. Nur unter diesem Blickwickel erschließt sich die bisherige Wirtschaftsdynamik des Chavismus gänzlich: So erklärt sich die Paradoxie der gleichzeitig wachsenden Staatsausgaben und des sinkenden Haushaltsdefizits der ersten Jah114
re. Sie wurde über die gestiegenen Erdölpreise, die die Staatseinnahmen allein im Jahr 2000 um fast 50% erhöhten, finanziert. Auch die anfangs niedrige Inflation war mitnichten das Ergebnis einer neoliberalen Stabilisierungspolitik, sondern vielmehr der Virulenz der holländischen Krankheit geschuldet: Der Bolivar wurde zwischen 1999 und 2002 wieder deutlich aufgewertet und verlockte dazu, Geld günstig im Ausland anzulegen, anstatt in die scheinbar unsichere Zukunft des Landes zu investieren. Über US$ 30 Mrd. flössen so seit dem Amtsantritt Chävez bis zur Devisenregulierung Anfang 2003 aus dem Land (Santos 2003). Die Binnenliquidität wurde damit trockengelegt, und dies erklärt die seit Beginn der Fünften Republik zu beobachtende Zurückhaltung beim Konsum und noch stärker bei den Investitionen. Die abnehmende Nachfrage ließ aber nicht nur die Preise sinken, sondern verringerte auch das Produktionsangebot: So schlössen allein zwischen 1999 und 2001 über 30% der venezolanischen Industriebetriebe ihre Pforten. Statt wie beabsichtigt mit einem Sektor sozialen Wirtschaftens die Binnenökonomie zu verbreitem, verengte sich das schmale Segment der nationalen Produktion weiter. Dadurch wurde auch die Gesamtwirtschaft anfälliger, so dass schon die leichte Delle in der ölpreisentwicklung Ende 2001 das Staatshaushaltsdefizit wieder nach oben schnellen ließ und Anpassungen nötig machte. Erneut schloss sich ein klassischer Krisenzyklus der holländischen Krankheit. Die der Haushaltskürzung folgenden Maßnahmen des Staatsinterventionismus, also die Devisen-, Kapital- und Preiskontrollen, waren wenig originell und wurden durchgehend schon früher ausprobiert. Ihr erstes Ziel war nie eine ökonomische Stabilisierung, sondern eine klientelistische Versorgung bei abnehmenden Ressourcen - so waren diesmal die meisten Markteingriffe ab 2003 auf eine Mindeststabilisierung der Kaufkraft der Armen ausgerichtet. Aber ebenfalls wie früher schürten diese Regulierungen gleichzeitig den Schwarzmarkt und die Korruption. Dass es der Regierung danach nicht gelang, den rasanten Höhenflug des Erdölpreises ab März 2002, der Anfang 2004 dann sogar die 30-US-Dollar-Marke übersprang, in eine ökonomische Stabilisierung umzumünzen, hatte primär politische Gründe. Der Putsch im April 2002 und der zweimonatige Streik zum Jahreswechsel 2002/2003 kosteten das Land nach unterschiedlichen Kalkulationen bis zu 10% des BIP. So erzielte z.B. die PdVSA im Jahr 2003 ein Viertel weniger Einnahmen als im Voijahr, obwohl der ölpreis um über 15% gestiegen war. Und die völlige Verunsicherung der Bevölkerung tat ein übriges: Versuche der Regierung, nach Streikende mit den keynesianischen - natürlich erdölfinanzierten - Instrumentarien des niedrigen Zinssatzes und der expansiven Geldpolitik die Nachfrage und die Investitionen anzukurbeln, scheiterten vollständig. Im Jahr 2003 fielen die venezolanischen Binneninvestitionen um 45%, so dass die Kapitalbildung gerade einmal halb so hoch wie im regionalen Durchschnitt lag; als deutlichster Ausdruck davon verringerte sich die Zahl der venezolanischen Industriebetriebe zwischen 2002 und 2003 um weitere 40% (CEPAL 2003b). 115
Für diese wenig erfreulichen Wirtschaftergebnisse macht die Opposition ausschließlich die bolivarische Regierung verantwortlich. Die Fünfte Republik hingegen sieht als einzigen Schuldigen der Misere die Sabotage seitens der Opposition und bezichtigt diese der „Konterrevolution". Eine Wortwahl, die angesichts der Aktionen (gewaltsamer Putsch, Generalstreik) und dem erreichten Mobilisierungsgrad (Massendemonstrationen mit Millionen Menschen) nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Das Abstruse ist allerdings, dass dieser Konterrevolution zu keinem Zeitpunkt eine wirkliche Revolution vorausging. Denn die bolivarische Revolution hat weder Verstaatlichungen durchgeführt, noch sich jemals dem Ziel angenähert, die Logik der Rentenökonomie aufzubrechen. So ist es ihr weder gelungen, die traditionell schwache Privatwirtschaft des Landes zu konsolidieren, noch schaffte sie ausreichend alternative Wirtschaftszweige. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die völlig inkohärente und politisch wenig sensible Umsetzung der Agrarreform: Sie stellte für Bodenenteignungen zwar nennenswerte Entschädigungen in Aussicht, spitzte sich dann aber in der Verlautbarung von Chävez zu, dass Privateigentum nicht heilig sei; heilig wären nur die Angelegenheiten Gottes und die des Volkes. Damit wurde der traditionelle Agrarsektor vollständig verunsichert, ein neuer aber auch nicht aufgebaut. Der darauf folgende Einbruch der landwirtschaftlichen Produktion führte zu Versorgungsengpässen und macht das Land in der Ernährungsfrage heute noch stärker von Importen abhängig. Versuche, der holländischen Krankheit zu entrinnen (z.B. durch Mechanismen der sukzessiven Währungsabwertung und über einen flexiblen Protektionismus, der nicht auf billige Arbeitskraft, sondern über den Ausbau eines Bildungswesen auf hochwertige Produktion und Dienstleistungen setzt und deshalb die Erdölrente ausschließlich für öffentliche Investitionen einsetzt) haben bisher bestenfalls auf dem Papier existiert. Und dieses Papier erweist sich auch in Venezuela als geduldig. Mit der von Chävez - provozierten wie unkontrollierten - politischen Polarisierung hat die Fünfte Republik zusätzlich ihren wichtigsten Hebel aus der Hand gegeben, mit dem die Rentenlogik aufgebrochen werden kann: Nämlich mit dem Aufbau eines Steuersystems, das auch die Mittel- und Oberschichten stärker in die soziale Pflicht nimmt und die Staatsfinanzierung auf eine solide, also erdölunabhängige Grundlage stellt. Denn die ewigen Liquiditätskrisen Venezuelas werden nicht - wie so oft argumentiert - durch zu hohe öffentliche Ausgaben provoziert. Hier liegt das Land vielmehr deutlich unter dem regionalen Durchschnitt: Selbst als die bolivarische Revolution die Sozialausgaben bis zum Jahr 2001 um 25% auf einen historischen Rekordwert hochtrieb, lagen diese immer noch ein Fünftel unter dem lateinamerikanischen Vergleichswert (CEPAL 2003a). Es ist vielmehr die institutionelle Inkompetenz aller bisherigen Regierungen und der politische Unwille der Eliten, die das Entstehen eigener Quellen der Staatsfinanzierung verhinderten. So ist das Steueraufkommen Venezuelas 116
bis heute mit 20% des BIP das geringste der Region und begünstigt in skandalösem Maße die Reichen und Reichsten im Land (Boeckh 1997; Francés 2003). Eine effektive und durchsetzbare Besteuerung setzt aber immer einen gewissen gesellschaftlichen Konsens Uber die staatliche Legitimation voraus. So wird mit der momentanen Spaltung der venezolanischen Gesellschaft eine Lösung dieser Herausforderung noch unwahrscheinlicher. Der Chavismus hat also dazu beigetragen, dass im Venezuela von heute sowohl die Bearbeitung der sozialen Frage als auch die wirtschaftliche Prosperität so stark wie lange nicht mehr von einem abhängt: dem Weltmarktpreis des Erdöls.
4. Von der holländischen zur venezolanischen Krankheit? In einer historischen Retrospektive wird die fehlende Innovationskraft der bolivarischen Revolution noch sichtbarer. Im Grunde hat Venezuela heute zwei Erbsünden zu bewältigen: Zum einen die Überwindung der seit seiner Existenz bestehenden Rohstoffexportwirtschaft, bei der der Kakao und Kaffee der Kolonialzeit durch das Erdöl abgelöst wurde. Diese monostrukturelle Wirtschaft war nicht nur immer hochgradig vom Weltmarkt abhängig, sondern auch die wichtigste Einkommensquelle aller Regierungen. Wenn die Weltmarktpreise fielen, geriet bisher auch jede venezolanische Regierung - und zwar unabhängig von ihrer Politik, ihrer sozialen Basis und ihrer Legitimation - in die Krise. Erforderlich wurden dann regelmäßig strukturelle Anpassungen in Form von Ausgabensenkungen und/oder irisches Kapital in Form von Krediten. Zwar gab es immer wieder Versuche, aus dieser Logik der Rentenwirtschaft auszubrechen - doch es gelang bisher niemals, ihr zu entrinnen. Die zweite Erbsünde schließt direkt daran an: Venezuela hat seit seiner Unabhängigkeit bis heute keine ausreichend starken politischen Institutionen konsolidiert. Vielmehr ist ein regelmäßig wiederkehrender Zyklus zu beobachten, bei dem jede größere Wirtschaftskrise in eine politische Krise kumuliert, bei der dann eine neue sozioökonomische Machtkonstellation antritt, die sich durch neue politische Legitimationsmuster und Leitbilder auszeichnet, einen neuen Wirtschaftskurs verspricht und die aufgebauten Institutionen diskreditiert. Aus dieser institutionellen Diskontinuität und Unsicherheit erwuchsen in den letzten 150 Jahren in Venezuela institutionelle und individuelle Verhaltenweisen heran, die auf kurzfristige persönliche Dividenden ausgerichtet sind und die - selbst wider besseren Wissens und Wollens - die langfristige Planung oder gar Umsetzung von politischen Projekten hemmen. Dieses Verhalten, das sowohl in den staatlichen Verwaltungen als auch generell in der Bevölkerung anzutreffen ist und soziologisch als habitualisierte Situativität beschrieben werden kann, konterkariert auch soziokulturell alle Versuche, der inhärenten Logik der Rentenökonomie zu entrinnen (Lombardi 2003). Unter diesem Blickwinkel hat mit der Fünften Republik im Grunde nur ein weiterer Zyklus begonnen: Chávez glänzt nicht mit einer neuen Politik, sondern 117
durch seine Rückbesinnung auf heimische und somit anheimelnde Werte und Vorstellungen, die die „Lateinamerikanisierung" Venezuelas (Werz 1989) weiter vorantreiben. Der Chavismus ist keine Alternative zum alten Regime, sondern vielmehr sein krisenhafter Höhepunkt. Es ist dann nicht ohne Ironie, dass die „Subversion des Petroleums" (Mommer 2003) - also die von Châvez vereitelte Intention der venezolanischen Ölindustrie, dem eigenen Land seine Erdölrente zu entziehen - , bisher scheinbar der einzige ernsthafte Versuch war, Venezuela vom Joch der Rente zu befreien. Doch birgt nicht jede Krise schon ihre eigenen Lösungen in sich? Die Gegner von Châvez haben bisher noch keine Medizin gegen die holländische Krankheit vorgestellt. Während des Putsches im April 2002 gebarten sie sich nicht nur undemokratisch, sondern auch elitär und marktradikal - ihre damals mehrheitlich weiße Führungsriege symbolisierte vor allem eins: Die Rückkehr der Vierten Republik. Die Ablehnung der Bevölkerung gegenüber dem ancient regime und gegenüber nichtdemokratischen Veränderungen - letzteres musste schon Châvez zehn Jahren vorher verspüren - , erklären darum das Scheitern jenes Staatsstreichs. Seitdem ist es der Opposition weder gelungen, ihre eigene Zersplitterung zu Uberwinden, noch ein nationales Reformprojekt zu präsentieren oder glaubwürdige Anführer aufzustellen. Die Tatsache, dass sie nach dem Zerschneiden ihrer klientelistischen Beziehungen mit dem Staat gezwungen ist, in wachsendem Umfang Ressourcen aus der Privatwirtschaft und der Oberschicht anzuzapfen, lässt für die Zukunft der Demokratie wenig Gutes ahnen. Und bis heute zeichnet sich die Opposition durch eine ungebrochene Ignoranz gegenüber der sozialen Frage aus. Auch die bolivarische Revolution bietet keinen Ausweg aus dem Dilemma Venezuelas an - und noch weniger reift sie zu einem neuen Entwicklungsmodell heran. Denn die Besonderheit des Phänomens Châvez liegt nicht in seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das wirkliche Novum ist, dass es ihm gelungen ist, den Armen nicht nur eine Stimme, Würde, Hoffnung und ein neues Selbstwertgefühl zu geben, sondern all dies auch noch politisch zu mobilisieren. Für eine Region wie Lateinamerika, in der die eklatante soziale Fragmentierung und Polarisierung traditionell bisher nur wenige Spuren in der Politik hinterlassen hat (Roberts 2002), und in einer Zeit, in der die neoliberale Deregulierung der Arbeitsbeziehungen oft zu sozialer Fragmentierung und zur Schwächung der Gewerkschaften führte und wo zusätzlich eine Positionsverschiebung sozialdemokratischer Parteien in Richtung Mittelklassen zu beobachten ist (Portes/Hoffmann 2003), ist eine solche Mobilisierung durchaus beeindruckend. Denn Châvez widerlegt damit den sich verbreitenden Zukunftspessimismus, dass soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika chancenlos wäre, da die Armen heute eher schweigend litten anstatt aufzubegehren und somit über kein für Sozialreformen nötiges Konfliktpotenzial mehr verfügten (O'Donnell 1998). 118
Um diese ungewöhnliche Mobilisierung der stillen Mehrheit zu initiieren, musste Chávez ein imaginäres Kollektiv beschwören, das er national verbrämte und für den Aufbruch in eine bessere Zukunft begeisterte. Dies erreichte er über eine populistische Politik. Populismus erstarkt wie in Venezuela meist in tiefgreifenden Umbruchsituationen und ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise und der Ernüchterung gegenüber dem aktuellen politischen Status quo. Populisten wie Chávez wenden sich in ihrem Diskurs direkt an die Massen, beheizigen Baltasar Gracians Motto „Wer verführen will, muss vereinfachen", appellieren an eine Rückbesinnung auf gemeinsame Taten und Werte (Bolívar) und begründen oft ein neues Projekt (Fünfte Republik). Populismus hat dabei weder eine originäre Idee noch eine globale Theorie oder gar ein bestimmtes Menschenund Gesellschaftsbild. Er artikuliert vielmehr nur den Willen, das Gemeinwohl neu zu definieren und ist regimeneutral: Gedieh er früher oft in autoritären Systemen, ist er seit den 1980er Jahren auch in Demokratien zu beobachten und legitimierte z.B. in Lateinamerika neoliberale Anpassungspolitiken (Weyland 1999). Gerade in Lateinamerika hat Populismus eine lange Tradition - er zeichnet sich durch einen hohen Grad an Personalismus, Paternalismus und Autoritarismus aus. Da er Politik als direkte Kommunikation zwischen Volk und Führer zelebriert, werden verregelte Verfahren, politische Institutionen und intermediäre Organisationen oft als lästig empfunden und gering geschätzt. Das schwächt die institutionelle Ausstattung und Konsolidierung demokratischer Staatsstrukturen - auch hier begründet sich der zu beobachtende Prozess der Deinstitutionalisierung in Venezuela. Dieser Anti-Institutionalismus hat im Chavismus allerdings ein deutlich höheres Destabilisierungspotenzial als in anderen populistischen Regimes der Region. Denn während es letzteren in der Vergangenheit meist gelang, einen gewichtigen Teil der Unterschichten durch einen rigiden Korporatismus einzubinden, hat die bolivarische Revolution kaum Anstrengungen in diese Richtung unternommen. Weder ihre politische Bewegung Movimiento Quinta República (MVR) ist hinreichend organisiert, noch hat Chávez die Arbeiterbewegungen bisher auf seine Seite ziehen können (Ellner 2003; López 2003). Damit hat die politische Partizipation in der Fünften Republik stark akklamatorischen Charakter, ihre Unterstützung hängt von sprunghaften Stimmungslagen, den spürbaren Ergebnissen der Regierungspolitik und kurzfristigen subjektiven Präferenzen insbesondere der sozialen Unterschichten ab. Mit dieser prekären Legitimationsbasis ist der rentenwirtschaftliche Grat, auf dem der Chavismus agiert, relativ schmal. Wird die Brise eines Preisabschwungs beim Erdöl zum anhaltenden Gegenwind, muss er zwangsläufig abstürzen. Der Sieg über die holländische Krankheit ist auf einer solchen Grundlage kaum möglich (Boeckh 2003). Gelegentlich mag Populismus die Chance bieten, über die Entwicklung eines Antikonformismus gesellschaftliche Krisen zu bewältigen und ein neues soziales 119
und politisches Gleichgewicht zu schaffen (Germani 1962). Der Chavismus hat sich mit dem Vertiefen der Rentenlogik, der fortgesetzten Deinstitutionalisierung und der politischen Polarisierung aber jede Möglichkeit dafür verbaut. Hinter dieser Erkenntnis verbirgt sich eine nicht unerhebliche Bedrohung: Populismus hat in Krisen den Hang, sich in Autoritarismus zu verwandeln. Die Schwächung von demokratischen Institutionen verführt dazu genauso wie die Konzentration der Entscheidungsgewalt auf eine charismatische Führung und deren Exekutive. Die eingeschränkte Kommunikation zwischen den verschiedenen Interessengruppen - jetzt schon in der Polarisierung zu beobachten - fördert zusätzlich lernresistente Politikmuster, die für den Autoritarismus einen exzellenten Nährboden darstellen. Umfragen zufolge waren Ende 2003 schon 77% der Venezolaner der Auffassung, dass das Land mehr Autorität und Disziplin braucht, sowie 62% der Meinung, dass es anstatt vieler Gesetze und Reden nur einiger starker Führer bedürfte (Consultores 2003). Zwar wurde das demokratische Regime Venezuelas trotz der skandalierten Übergriffe auf die Presse- und Versammlungsfreiheit, trotz der Verletzungen fundamentaler Menschenrechte (PROVEA 2003), trotz der partiellen Militarisierung des Staates und trotz der seit dem Beginn der Fünften Republik zu beobachtenden Machtkonzentration bisher noch nicht substantiell eingeschränkt. Noch ist Chavez dem Bekenntnis zu Bolivar und damit zur Demokratie treu geblieben. Dies unterstreicht auch der Freedom House Index, der vorgibt, die politischen und zivilen Freiheiten aller Länder der Welt zu messen und bezüglich des Chavismus sicherlich ideologieunverdächtig ist: Er platzierte Venezuela für das Jahr 2003 mit 3,4 Punkten fast auf den gleichen Rang wie vor 10 Jahren (Freedom House 2004). Doch bei der nächsten profunden Krise wird eine autoritäre Regression - mit oder gegen Chävez - immer wahrscheinlicher. Die bolivarische Revolution könnte dann doch noch zu Berühmtheit gelangen: Denn in Lateinamerika, in dem der Neoliberalismus im letzten Vierteljahrhundert eine sichtbare Auflösung tradierter Bindungen provozierte und neu entstandene soziale Räume oft mit wenig anderem als mit Armut füllte, mehren sich die Zeichen für einen Wandel. Dieser kann über einen Prozess der Deinstitutionalisierung zweifelsohne zu einem Erstarken von Autoritarismus und Nationalismus fuhren. Fällt aber mit Venezuela eine für lange Zeit als stabil geltende Demokratie als erstes in diese Richtung, würde das Land zum Sinnbild dafür werden, wie die Ignoranz und der Egoismus nationaler Eliten gegenüber der sozialen Frage, die Inkompetenz, Macht- und Raffgier der neuen Heilsversprecher, der soziale Sprengstoff der neoliberalen Anpassung und auch die fehlende Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft zu konstruktiver Zusammenarbeit das demokratische Regime zerbröseln ließen. Und später wird bei ähnlichen Symptomen immer wieder das gleiche Leiden diagnostiziert werden: Die venezolanische Krankheit ist ausgebrochen!
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Tabelle 1 : Ausgewählte Sozial- und Wirtschaftsindikatoren Venezuelas (1989-2003) 1989 199« 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 OPECErdBIBaiket17,3 22,3 18,6 Prtis Dollar/ Barrel BIPVerinde•8,8 6,5 9,7 rungen In % Inflation 81 36,5 31 In*/. Arbeitslo9a 10,4 9,5 sigkeit Staat»haushait -1.1 -2,1 -0,1 '/• zum BIP Öflentiiche Aus21,2 25,5 26,4 gaben % am BIP Sozialausgaben 7,1 8,0 9,7 % Anteil delBIP Erziehung 3,2 3,1 3,3 % Ante« delBIP Gesundheit 1,3 1,5 1,6 •/. Anteil delBIP Quelle:
18,4 16,3 15,5 16,9 20,3 18,7 12,3 17,5 27,6 23,1 24,3 28,1
6,1
0,3
-2,3
4,0
-0,2
6,4
0,2
-6,1
3,2
2,8
-8,9
32
46
71
57
103
38
30
20
14
13
31,2 27,1
7,8
6,6
8,7
10,3 11,8 11.4 11,3 15,4 13,9 13,3 15,8 18,2
-3,8
-2,9
-7,2
-4,3
0,6
1,9
-3,8
19,7 22,4 22,4 20,6 21,9 24,7 20,4
-1,6
-1,6
-4,2
-3,3
18,8 21,1 24,5
24
10,2
8,1
7,8
7,9
V
9,9
8,5
8,6
9,7
10,3
8,2
3,8
3,3
3,5
3.3
2,1
3,5
3,2
3,2
3,3
4,3
5
1,9
1,3
U
1,0
0,8
1,4
1,3
1,3
1,3
1,5
1,6
-9,2
-3
1,5
Eigene Darstellung aus verschiedenen Quellen zusammengestellt.
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Beate Jungemann
Caracas zwischen Polarisierung und Globalisierung Caracas, die Hauptstadt Venezuelas, weist eine extrem große soziale Ungleichheit auf. Die Erdölrente ermöglichte einen gesellschaftlichen Modemisierungsprozess, der mit Beginn der 60er Jahre in ein demokratisches System eingebettet wurde. Die sozialen Probleme und Grenzen dieses Rentenmodells wurden mit der wirtschaftlichen Krise ab Mitte der 80er Jahre verstärkt in der Metropole Caracas sichtbar. Steigende Armut, anwachsende soziale Ungleichheit, sozialräumliche Segregation und politisch-administrative Fragmentierung sind die wichtigsten Phänomene dieser Entwicklung. Das Stadtbild wird immer mehr von einer Polarisierung der Lebensformen geprägt. Mit der Wahl des Staatspräsidenten Hugo Chávez Frías Ende der 90er Jahre mündete diese soziale Polarisierung in eine extrem politische Polarisierung. Caracas ist dabei heute das Epizentrum des soziopolitischen Konflikts der venezolanischen Gesellschaft. In ihm akzentuieren sich sowohl die eklatanten Gegensätze und Widersprüche der sozialen Dynamik der letzten Jahrzehnte, als auch die Konsequenzen der Globalisierungsprozesse, die die sozialen Gegensätze noch verschärfen und neue hervorbringen.
1. Von der gesellschaftlich-urbanen Modernisierung zur sozialen Polarisierung Mit der Entdeckung und Förderung des Erdöls seit den 20er Jahren ist Venezuela von einem Agrarexportland (Kaffee und Kakao) zu einem Erdölexportland geworden. Das Hauptcharakteristikum war ein beschleunigter Urbanisierungsprozess und ein damit verbundener schneller gesellschaftlicher Wandel, der sich besonders in der Entwicklung der Hauptstadt zeigte. Die Bevölkerung des
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metropolitanen Gebietes von Caracas (Area Metropolitana de Caracas - AMC)' ist von 705.000 Einwohner im Jahr 1950 auf 3.223 Mio. Einwohner im Jahr 2000 gestiegen, was heute ca. 15% der Urbanen Gesamtbevölkerung des Landes entspricht.2 Tabelle 1 : Bevölkerungsentwicklung der Area Metropolitana de Caracas (AMC) 1950-2000 (in Tausend) 1950
1961
1971
1981
705
1.360
2.159
2.586
1990 2.892
2000 3.223
Quelle: OCEI: „Censos nacionales de población y proyecciones al 30 de junio", zitiert nach Barrios 2001:69.
Einen großen Bevölkerungszuwachs verzeichnet Caracas in den 60er Jahren mit dem Beginn der Demokratie, die bis Ende der 80er Jahre eine der stabilsten Lateinamerikas war. Das Entwicklungsmodell beruhte auf einer importsubstituierenden Industrialisierung mit einem „starken" Entwicklungsstaat. Die staatliche Politik nach Beendigung der Pérez-Jimenez Diktatur (1958) war auf eine soziale Integration ausgerichtet, wobei dem Ausbau des Erziehungswesens und dadurch der demokratischen Konsolidierung einer modernen Bürgerschaft ein hoher Wert beigemessen wurde (vgl. Fernández et al. 1998). Besonders die wichtigsten politischen Parteien, die sozialdemokratische Acción Democrática (AD) und das christdemokratische Comité de Organización Política Electoral Independiente (COPEI) spielten dabei eine zentrale Rolle. Politisch waren es der Gesellschaftspakt Punto Fijo3 und die 1961 ratifizierte Verfassung, die der sozial integrativen Politik ihren Rückhalt gaben. Die venezolanische Demokratie litt jedoch von Beginn an unter einer Inkohärenz, die sich besonders in der Hauptstadt, Anziehungspunkt für die vom Land kommenden Arbeitskräfte, ausdrückte: Der sozialen Integrationspolitik über Bildung, stand keine entsprechende Integrationspolitik über eine Wohnungsforderung gegenüber.4 Unter den verschie1
2
3
4
Caracas besteht aus einem ca. 25 km langen Haupttal (El Valle) und mehreren Nebentälern; das Haupttal, früher Ciudad de Caracas (Sitz des historischen Zentrums) genannt, wird erst im Jahr 19S0 administrativ zum metropolitanen Gebiet von Caracas AMC umbenannt und erweitert. Mit dieser neuen Urbanen Grenzziehung beginnt auch die statistische Erfassung der urbanistischen, demographischen und sozioökonomischen Daten über Caracas als AMC. Im Jahr 1950 machte die Bevölkerung von Caracas noch 30% der gesamten Urbanen Bevölkerung aus. Vertreter der damaligen politischen Parteien, verschiedener gesellschaftlicher Interessensgnippen und der Militärs schlössen in Caracas den Pacto de Punto Fijo über einen grundlegenden Konsens für ein demokratisches System des Landes. Die kommunistische Partei war von diesem Pakt ausgeschlossen. Große Investitionen im sozialen Wohnungsbau stammten noch aus der Diktatur unter Pérez Jimenez, wie z. B. die Arbeiterwohnblöcke der parroquia 23 de enero. Ziel dieser Stra-
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denen Regierungen besonders seit Beginn der Demokratie wurden zwar so genannte urbanizaciones populares (Wohnsiedlungen sozialen Wohnungsbaus) errichtet und Arbeitersiedlungen von der Arbeiterbank (Banco Obrero) gebaut, diese konnten jedoch nicht annähernd die Nachfrage befriedigen. Die 60er und 70er Jahre wurden so zu Jahren des booms der Landinvasionen5, die heute den großen Teil der Armenviertel, die so genannten barrios6, ausmachen. Der damalige Entwicklungsstaat garantierte allerdings den Ausbau einer Urbanen Infrastruktur, die auch ein Netz kultureller Institutionen und öffentlicher Plätze hervorbrachte, deren Konsolidierung Ziel der staatlichen Politik der 70 Jahre gewesen ist. Die Errichtung einer so genannten „Kulturachse" (ausgehend vom Zentrum der Stadt bis in den Osten), bestehend aus Museen, Alleen, Parks, Theatern sollte die soziale Integration der Einwohner Caracas und ihr Bürgerbewusstsein als Kulturbewusstsein fördern, öffentliche schulische Einrichtungen expandierten und unterlagen ebenfalls diesen wichtigen gesellschaftlichdemokratischen Funktionen, da Schulen gefördert wurden, in denen Kinder ohne Diskriminierung aus allen Gesellschaftsschichten vorzufinden waren. Besonders profitiert hat von dieser Entwicklung die aufsteigende Mittelklasse. Aber auch die unteren Gesellschaftssektoren haben in dieser Zeit Möglichkeiten sozialer Integration über Bildung gefunden. Allerdings wurden die barrios, die einen Elendsgürtel um die Stadt bildeten, strukturell nicht in diese Förderung einbezogen und peipetuierten die Segregation bzw. soziale Ungleichheit. Von dem Erdölboom Anfang bis Mitte der 70er Jahre, von dem ein großer Teil der Gesellschaft profitierte, zog besonders auch der private Bausektor einen großen Nutzen.7 Der Staat bot ihm durch Steuerbefreiung, günstige Zinsen und Subventionen unterschiedlicher Art wirtschaftliche Anreize, was seine enorme Expansion erklärt. Diese Entwicklung veränderte die Urbanität von Caracas durch neue segregationistische Dynamiken nachhaltig. Es entstanden immer mehr neue Wohnkomplexe und Wohnviertel besonders für die gehobeneren Gesellschaftssektoren und die wachsende Mittelklasse sowie moderne Geschäfts- und Finanzviertel. Obwohl auch die ärmeren Sektoren von den Auswirkungen des Erdölpreisanstiegs profitierten (Reallohn und Sozialausgaben sind zwischen 19741978 um 25% bzw. 42% angestiegen und die Arbeitslosigkeit lag unter 5%; vgl.
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7
tegie, die den Namen „Krieg den ranchos" (ranchos sind die Hütten in den Armenvierteln) hatte, war es, die ranchos durch Wohnungen in riesigen Wohnblöcken sozialen Wohnungsbaus zu ersetzen. Diese Maßnahme reichte aber weder aus, um die Armenviertel zu ersetzen, noch war sie im Sinne der ¿orri'o-Bevölkerung (Bolívar 1998). 1959 waren ca. 1067 ha Land innerhalb der Metropole besetzt, 1978 waren es bereits 4000 ha (Bolívar 1998). Baldó und Villanueva definieren zonas de barrios als Wohngegenden, die auf invadierten Gebieten konstruiert wurden, die nicht ihren Bewohnern gehören und die keinem Urbanen Plan oder Projekt unterliegen, welcher bzw. welches die spezifischen Bedürfnisse ihrer Bewohner abdecken (zitiert nach Vallmitjana 2001). Dem privaten Wohnungsbausektor sind auch schon ftflher öffentliche Wohnungsbauauftrage Qberschrieben worden. Besonders deutlich wurde dies zu Wahlzeiten.
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Jungemann/Lacabana 1998), fehlte weiterhin eine strukturelle Antwort des Staates auf die Wohnungsprobleme der unteren Gesellschaftssektoren. Die erste Geldabwertung 1983, der so genannte schwarze Freitag, kennzeichnet den Beginn der Krise des venezolanischen Rentenmodells, womit die „schmerzvolle Transformation" des Erdöllandes begann (Boeckh 1997). Erste wirtschaftliche Restrukturierungsdynamiken wie die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und staatliche Deregulierungsmaßnahmen bei Preisen, Tarifen, Zöllen etc. hatten direkte und indirekte Konsequenzen auf dem Arbeitsmarkt. Eine Akzentuierung der sozialen Ungleichheit und Armut bei gleichzeitig zunehmender Inkohärenz des mittlerweile schwachen Wohlfahrtsstaates bestimmten von nun an zunehmend die Urbane metropolitane Entwicklungsdynamik. Die Delegitimierung des Staates und seiner Institutionen wuchs und die sozialen Aufstiegs- und Integrationserwartungen der Bevölkerung unterer Schichten nahmen zunehmend ab. Die politischen Parteien AD und COPEI, die abwechselnd die jeweilige Regierung stellten, hatten eine klientelistische und korrupte Haltung gegenüber der Bevölkerung der Armenviertel aufgebaut. Zu Wahlzeiten wurden kleinere Verbesserungsmaßnahmen umgesetzt oder irgendwelche unbedeutenden öffentlichen Gebäude oder Plätze eingeweiht. Wurden größere Wohnviertel für Arme gebaut, so waren die an der Peripherie und in erster Linie für Opfer von Regenkatastrophen bestimmt. In der Regel handelte es sich um Umsiedlungen von Gemeinden ganzer barrios in periphere, z.T. ländliche Gebiete wie im Fall der Siedlung Cartanal in die Valles del Tuy Mitte der 80er Jahre, einem der heute am meisten expandierenden peripheren Gebiete von Caracas. Auf diese Weise wurden die sozialen Probleme in den barrios nicht gelöst, sondern an die Peripherie verlegt, deren soziale Situation durch mangelnde bzw. fehlende Arbeitsplätze, Dienstleistungen und Infrastruktur noch verschärft wurde. Die Probleme der Armut in diesen peripher-urbanen Gegenden haben sich durch die zunehmenden Ansiedlungen immer mehr verdichtet. Der steigende Legitimationsverlust der staatlichen Institutionen, die in ihren Zielen und Strategien als obsolet und unklar wahrgenommen wurden und damit als unfähig, die Urbanen Konflikte zu lösen, sowie der Verlust der Glaubwürdigkeit in die traditionellen politischen Parteien und die von ihnen kontrollierten Gewerkschaften haben die wirtschaftliche Krise auch zu einer politischen Krise des Systems werden lassen, das in zentralistischer und klientelistischer Weise regiert und verwaltet wurde. So wurden die Bürgermeister und Gouverneure vom Staatspräsidenten eingesetzt und waren finanziell vollkommen vom Zentralstaat sowie dessen „Möglichkeiten", bestimmte Interessen bei der Verteilung der Erdölrente mehr zu befriedigen als andere, abhängig. Im Jahr 1989 kam es zu einem offenen Bruch mit dem Modell der importsubstituierenden Industrialisierung. Über ein neoliberal ausgerichtetes Strukturanpassungsprogramm und eine komplementäre Staatsreform mit Fokus auf Dezentralisierung wurde das bisherige Regime des Punto Fijo neu ausgerichtet. Die politischen und wirtschaftlichen Strukturmaßnahmen standen hierbei ganz 130
im Zeichen der Forderungen des Washington Consensus. Sie wurden von dem sozialdemokratischen Präsidenten Carlos Andrés Pérez ohne vorherige Diskussion implementiert und bedeuteten das Ende des sozialen Friedens und der politischen Stabilität. Auslöser des am 27. Februar in einer der Satellitenstädte von Caracas, Guarenas-Guatire, ausbrechenden Volksaufstandes, des so genannten caracazo, war die Erhöhung des Benzinpreises und damit u. a. die Verteuerung des öffentlichen Transports. Die gewaltsame, ungebremste Reaktion der Urbanen Volkssektoren (vor allem der Annenbevölkerung in Caracas, aber auch die anderer urbaner Zentren des Landes) ist als ein geballter Ausdruck der angestauten Unzufriedenheit über die immer größer werdende soziale Ungleichheit und die politische und institutionelle Unfähigkeit der Regierungen, diesen Prozess zu stoppen, zu verstehen. Die sozioterritoriale Segregation entwickelte sich immer mehr zu einem politisch zentralen Problemfeld. Die in Caracas stattfindenden Plünderungen wurden mit offenen Repressionen von Seiten der Staatsgewalt beantwortet. Die barrios hatten in den Tagen der Repression Hunderte von Toten zu beklagen. Von diesem Moment an ist die Metropole Caracas Zentrum konstanter soziopolitischer Konflikte geworden, die sich heute zu einer extremen Polarisierung der verschiedenen gesellschaftlichen Machtinteressen um die Verteilung der Erdölrente und das entsprechende Gesellschaftsmodell zugespitzt haben.
2. Caracas im Lichte der neoliberalen Anpassung Viele lateinamerikanische Metropolen sind heute von wachsender Armut, steigender sozialer Ungleichheit, einer sozialräumlichen Differenzierung und Segregation, wachsenden Umweltproblemen, Gewalt- und Kriminalitätszunahme sowie einer politisch-administrativen Fragmentierung gekennzeichnet (van Naerssen 2001; Korff 1997). Die Gestaltung der Stadtentwicklung von Caracas weist besonders seit 1989 all diese Phänomene verstärkt auf, die zum einen eine Fortschreibung der schon früher begonnenen Segregations- und Exklusionslogiken des Rentenmodells sind, zum anderen die Auswirkungen der neoliberalen Anpassung im Kontext der Globalisierung reflektieren. Wichtige Veränderungen sind hier eine zunehmende Deindustrialisierung und darauffolgende Tertiärisierung der metropolitanen Wirtschaft sowie einer Verstärkung der Rolle von Caracas als wirtschaftliches Kontroll- und Führungszentrum. Die Fortdauer der Segregations- und Exklusionslogiken ist vor allem in einer weiteren Transformation des Arbeitsmarktes und einer Pluralisierung der Lebensstile begründet. Hinzu kommt, dass der Expansions- und Dezentralisierungsprozess der Metropole deren Unregierbarkeit noch verstärkt hat.
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Politisch-administrative Dezentralisierung und Fragmentierung Der 1989 eingeleitete Dezentralisierungsprozess war in erster Linie eine institutionelle Anpassungsstrategie zur Bewältigung der Krise des politischen Systems. Die Steuerungsprobleme besonders auf der metropolitanen Ebene wurden allerdings durch die Dezentralisierungspolitik nicht gelöst; vielmehr entwickelte sich eine zunehmende politisch-administrative Fragmentierung der Stadt. Die Umsetzung der beiden wichtigsten Dezentralisierungsgesetze zu Beginn des neoliberalen Modells, die 1989 reformierte Ley Orgánica de Régimen Municipal (LORM) von 1978 und die Ley Orgánica de Descentralización, Delimitación y Transferencia (LDDT) aus dem Jahr 1989 bedeuteten für die Metropole eher eine Verdichtung ihrer Probleme statt einer Klärung und besseren Handhabung. Durch die Direktwahl der Bürgermeister und Gouverneure seit 1989 ist das politische Mandat der Lokalautoritäten direkt an die politische Legitimation gebunden. Die Übernahme von Dienstleistungsaufgaben, die vormals von der Zentralregierung ausgeführt wurden, brachten viele Probleme in diesem Prozess der Machtübertragung mit sich, wie z.B. Personaltransfer, Unterbrechung administrativer Prozesse u.a. mehr. Ein weiteres Problem stellt der Ressourcentransfer dar, der einen permanenten Konflikt zwischen der Zentralregierung und den subnationalen Ebenen mit sich bringt, sowie zwischen der Provinzregierung und der Gemeinderegierung, besonders wenn sie nicht derselben politischen Partei angehören. Auch das Fehlen eines Koordinationsmechanismus8 auf horizontaler Ebene bei Problemen, die die Metropole insgesamt betreffen, wie Sicherheit, Transport, Verkehrsprobleme, Abfallbeseitigung und Wasserversorgung, erschwert die Regierungssituation.9 Statt sich diesen Problemen zuzuwenden, fand nach Verabschiedung der LORM eine Konzentration auf die Errichtung neuer Gemeinden in der AMC statt. Das metropolitane Gebiet Caracas (Área Metropolitana de Caracas) wurde wie weiter oben schon erwähnt, im Jahr 1950 vor allem zu statistischen und Volkszählungszwecken begrenzt. Durch die Gründung der AMC wurde die Expansion des historischen Stadtkerns (Distrito Federal, heute Gemeinde Libertador) über dessen Grenzen hinaus bis in die Nachbarprovinz Miranda anerkannt {Fundación Plan Estratégico de Caracas Metropolitana - FPECM 1998). Ver-
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Obwohl die LORM die Errichtung eines distrito metropolitano vorsah, handelte es sich hierbei in erster Linie um eine parallele Institution zu den Gemeinden, die nicht den Zweck erfüllte, filr den sie vorgesehen war, weil sich ihre Funktionen kaum von denen der Gemeinden unterschied (Paiva 2001). Außerdem sah die LORM die Errichtung von so genannten mancomunidades für gemeinsame Dienstleistungen zwischen mehreren Gemeinden vor. Anstrengungen in dieser Richtung sind, jedoch ohne ersichtlichen Erfolg, besonders im Fall der Müllabfuhr, öffentlicher Transport und Wasserversorgung unternommen worden. Im Jahr 1989 wurde das metropolitane Büro für Urbane Planung aufgelöst, womit die AMC als Planungsobjekt aufhörte zu existieren, und es wurde theoretisch der Weg freigemacht für eine Planung auf regional-metropolitaner Ebene; eine Richtung, die ab Mitte der 90er Jahre immer mehr die Diskussion beherrschte, ohne eine Umsetzung zu erfahren.
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waltungspolitisch bestand die AMC von da an aus dem Departament Libertador des Distrito Federal und dem Distrito Sucre der Provinz Miranda; Baruta, El Hatillo, Chacao waren Teil des Distrito Sucre. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre gab es durch die Errichtung neuer Gemeinden folgende Veränderungen in der AMC: 1989 entstand die Gemeinde Baruta, von der sich 1991 die Gemeinde El Hatillo abtrennte, und 1992 wurde die Gemeinde Chacao gegründet. Zusammen mit den Gemeinden Libertador und Sucre bilden alle zusammen die heutige AMC bzw. das Valle de Caracas (Rodríguez 2000). Diese verwaltungspolitische Neuaufteilung der Stadt wurde in erster Linie durch politische und wirtschaftliche Interessen bestimmt und brachte eine größere Fragmentierung der Metropole mit sich. Besonders die Errichtung der Gemeinde Chacao war weder sozioökonomisch, noch demographisch gerechtfertigt. Die fünf Gemeinden, aus denen sich die AMC seither zusammensetzt, sind sowohl von ihrer Fläche als auch von ihrer Bevölkerungsgröße und -struktur sehr unterschiedlich. Tabelle 2: Àrea Metropolitana de Caracas (AMC) - Provinzen, Gemeinden und Bevölkerung Provinz Distrito Capital Miranda
Total
Gemeinde Libertador Chacao Sucre (Petare) Baruta El Hatillo
Oberflfiche (km1) 75,0 7,5 22,5 45,0 50,0 200,0
Einwohner (tausend) 1.823.200 66.9 500.9 294.9 45.8 2.731.7
Quelle: OCEI 1993. El Censo 90 en el Distrito Federal; El Censo 90 en Miranda, zitiert nach: Paiva 2001:46.
Die größten sozialen Probleme in Caracas weisen die Gemeinden Libertador und Sucre auf, die beide einen sehr hohen Anteil an barrios und damit an armer und ärmster Bevölkerung haben. Auch die verschiedenen parroquiasl0, in die die Gemeinden unterteilt sind, unterscheiden sich sehr voneinander. Repräsentativ ist für die Gemeinde Libertador z.B. die parroquia Coche, in der knapp 70% der Bevölkerung in Armut und 12% in extremer Armut leben und wo weniger als die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder von der Grundschule in die weiterführende Schule kommt.
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Die Dezentralisierung sieht als unterste Repräsentationsebene die der parroquias vor, deren Vorsitz im Rahmen der Gemeindewahlen gewählt wird.
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Die Gemeinden erhalten ihren Ressourcentransfer durch den so genannten Situado Municipal", durch welchen sich die meisten Gemeinden des Landes finanzieren. Im Fall der Gemeinden von Caracas ist die Situation anders, dort machen die eingezogenen Steuern einen bedeutenden Teil der Gemeindeeinnahmen aus, was aber von Gemeinde zu Gemeinde sehr unterschiedlich ist. Die Gemeinde Chacao, Sitz vieler ausländischer Banken, Versicherungen, Börse, Luxushotels, Geschäftsviertel, steht hierbei an erster Stelle (die Einnahmen für die Handels- und Industriesteuer lag in Chacao 1997 bei durchschnittlich US$ 500 pro Person; von den 15 Mio. Bolívares Einkommen im Jahr 1997, kamen 12 Millionen aus der Handels- und Industriesteuer) (Mitchell 1998). Als kleinste und reichste Gemeinde mit einer Sozialstruktur ohne Armenviertel, bildet sie eine ausgesprochene Enklave zwischen den anderen Gemeinden der Metropole. Die erste Direktwahl der Bürgermeister und Gouverneure hat allgemein gesehen eine positive Veränderung der politischen Landschaft auf subnationaler Ebene hervorgebracht und eine direktere Beziehung der lokalen Autoritäten zu ihren Gemeinden. Auf der anderen Seite hat paradoxerweise die Konzentration der Lokalpolitiker auf ihre eigenen Interessen, als negative Konsequenz der Dezentralisierung, eine immer größere Fragmentierung der Metropole zur Folge gehabt. Gemeinden mit ökonomischer Prosperität wie Chacao zeigen eher ein Interesse dafür, sich von den umgebenden Gemeinden abzusetzen und abzugrenzen, statt integrativ zu handeln. Erschwerend hinzu kommt der Expansionsprozess der Stadt für ein koordiniertes metropolitanes Management. Expansion der AMC zur RMC Das bis zur Krise des gesellschaftlichen Rentenmodells vorherrschende Metropolisierungsmuster12 wurde nicht einfach durch einen mit neuen Merkmalen besetzten Expansionsprozess der Metropole ersetzt, sondern es entstand ein äußerst komplexes urbanes System, in dem die soziale, territoriale und politisch-administrative Fragmentierung die regional-metropolitane Entwicklungsdynamik bestimmt.
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Der Situado Municipal ist Teil des Ressourcentransfers von der Zentralregierung auf die Provinzialregieningen, dem so genannten Situado Constitucional. Dieser macht heute mindestens 20% der jährlichen Einnahmen des Zentralstaates durch die Erdölrente aus. Von ihm werden 30% zu gleichen Teilen und 70% in Proportion zur Einwohnerzahl auf die Provinzen verteilt. Diese wiederum verteilen 50% ihres Situados zu gleichen Teilen auf die Gemeinden und 50% in Proportion zur Einwohnerzahl derselben. In den meisten Gemeinden macht der Situado Municipal durchschnittlich 68% der Einnahmen aus, eingenommene Steuern dagegen nur 13% (Mitchell 1998). Die funktionalen Beziehungen der Metropole bezogen sich auf ihr direktes peripheres Umfeld, die Informalisierung des Arbeitsmarktes war niedrig, die Beschäftigungsrate im öffentlichen Sektor war relativ hoch, ebenso wie die im Manufaktursektor, die Polarisierung der Lebensstile war längst nicht so ausgeprägt und das politisch-administrative System war zentralisiert.
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Bis Ende der 60er Jahre bildeten die verschiedenen Ansiedlungen außerhalb des Zentraltals von Caracas funktional gesehen Teil des metropolitanen Systems. Der Ausbau der vitalen Infrastruktur, des Transports und des Kommunikationssystems erhöhten die Verflechtungen mit weiter entfernten Städten. Bedingt durch diese Interdependenzen entstanden neue Ansiedlungen im Einflussbereich von Caracas: in Los Teques, Carrizal und San Antonio in der südwestlichen Berggegend, in den Valles del Tuy Medio im Süden und in den Nebentälern von Guarenas-Guatire im Osten der Stadt sowie im Litoral Central (Vargas) im Norden und in El Junquito und der Colonia Tovar im Westen. Funktional gesehen hat sich die in den 60er Jahren begonnene Expansion durch die Entwicklung der conurbanen Gebiete in den 80er Jahren weiter konsolidiert und ist zur Metropolitanen Region Caracas (RMC) geworden. Diese besteht heute aus dem Valle de Caracas (AMC mit seinen 5 Gemeinden) und den 12 angrenzenden Gemeinden, die in 4 Subregionen unterteilt werden: Altos Mirandinos, Litoral Central (heute Provinz Vargas), Guarenas-Guatire und Valles del Tuy13. Insgesamt umfasst die RMC 17 Gemeinden, die auf drei Provinzen verteilt sind (Distrito Capital, Provinz Miranda und Provinz Vargas). Im Gegensatz zur sinkenden Bevölkerungsentwicklung der AMC, wächst diese in den peripheren Subregionen zunehmend. Die Subregion, filr die das höchste Bevölkerungswachstum erwartet wird, ist die Region der Valles del Tuy Medio. Die AMC hat eine Bevölkerung von ca. 3,2 Millionen Einwohnern, die auf einer Fläche von 777 km2 leben, die Bevölkerung der gesamten RMC dagegen liegt bei 4,6 Millionen Einwohnern auf 5.270 km2 (Rodriguez 2000). Wie kann die Expansionsdynamik der AMC beschrieben werden? Der Verlust der Fähigkeit, immer neue Arbeitsplätze zu schaffen, bremst auch das Bevölkerungswachstum von Caracas (AMC). Aber wie alle lateinamerikanischen Metropolen wächst das Gebiet der AMC bedingt durch die Ausschöpfung seiner Expansionsmöglichkeiten und durch den dadurch hervorgebrachten enormen Anstieg der Bodenpreise. Das Resultat ist eine fortschreitende Ausdehnung von Aktivitäten, Funktionen und Beziehungsgeflechten über die Grenzen der AMC hinaus. Dieser Expansionsprozess ergibt sich aus folgenden Dynamiken: Ausbau des Transportsystems14 und des Netzes an Straßen und öffentlichen Verkehrsmitteln, die eine größere interurbane Mobilität der Bevölkerung erlauben; Expansion der Immobiliendynamik, die neue Wohnmöglichkeiten, besonders für den Teil der Mittelklasse, die die Mieten in der AMC nicht tragen kann, anbie13
14
Das Dekret über die Regionalisierung der Verwaltung vom 11. Juni 1969 und das Dekret Ober die Regionalisierung und Bargerpartizipation vom 14. Januar 1980 erkennen die Existenz einer Region Capital an, die sich aus insgesamt 23 Gemeinden, den Distrito Federal und die Provinz Miranda zusammensetzt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Weiterführung der Politik der Regierung Chivez zur Ausweitung des Transportssystems, sowohl durch den Bau der Zugstrecke zwischen den Valles del Tuy und Caracas, als auch dem Ausbau der Metro durch die Strecke 4, die Los Teques (Subregion Altos Mirandinos) in wenigen Minuten mit Caracas verbindet.
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tet; weitere Entstehung von Annenvierteln in den peripheren Gebieten, zum einen wegen der Erschöpfung der Auffangkapazität der Metropole, zum anderen als Ergebnis von punktuellen Umsiedlungen z.B. wegen Naturkatastrophen15; Erweiterung und Modernisierung der Geschäftsdistrikte, die zur Folge haben, dass sich sowohl die Bewohner als auch bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten weg vom Zentrum an die Peripherie bewegen und die neue Verortungslogik des Handels- und Freizeitkapitals, die dazu beiträgt, durch den Bau von Einkaufsund Freizeitzentren, neue Zentralsten in den suburbanen Gebieten entstehen zu lassen (Cariola/Lacabana 2000). Im zentralen metropolitanen Bereich (AMC) dagegen konsolidierte und konzentrierte sich die Stadt als strategisches Zentrum der wirtschaftlichen Transformationsprozesse des neoliberalen Entwicklungsmodells besonders in einer Gemeinde, die erst 1992 im Zuge der Dezentralisierungspolitik entstanden ist: Chacao. Bei dem Expansionsprozess der AMC zur RMC handelt es sich um einen unkontrollierbaren Suburbanisierungsprozess mit neuen Strukturen polyzentrischer Art und diffusen Grenzen (de Mattos 2001). Caracas als wirtschaftliches Kontroll- und Führungszentrum Tertiärisierung der Urbanen Ökonomie Die Ende der 80er Jahre in Venezuela eingeleitete Liberalisierungspolitik führte dazu, dass sich die ausländischen Direktinvestitionen im Erdölsektor (Apertura Petrolera) besonders auf die Fördergebiete im Inneren des Landes konzentrieren, während in Caracas die Kontrollaktivitäten dieser territorial sehr verzweigten Produktionsgebiete ansässig wurden. Die lokalen headquarters der transnationalen Erdölkompanien begannen sich, nachdem sie wegen der Nationalisierung der Erdölproduktion Mitte der 70er Jahre abgezogen waren, wieder in Caracas niederzulassen. Die Öffnung der venezolanischen Wirtschaft und besonders die Entwicklung im Rahmen des Strukturreformprogramms Agenda Venezuela (1996-1998) haben in den 90er Jahren allgemein zu einem beträchtlichen Anstieg der ausländischen Direktinvestitionen im Land geführt (Carrillo 2000). Dazu zählen sowohl die Investitionen im Erdölsektor, bedingt durch dessen Öffnung für asociaciones estratégicas und andere Produktionsmodalitäten, als auch ausländische Investitionen transnationaler Unternehmen anderer Produktionssektoren wie Minensektor, Industrie, Agroindustrie, Telekommunikations-, Bank- und Finanzsektor und die dazugehörigen Dienstleistungssektoren. Die Richtlinien des IX. Nationalplans und des Territorialen Ordnungsplans (Plan de Ordenamiento Territorial - POT, Dekret 2945 vom 14.10.1998) der Regierung Rafael Caldera (1994-1998) verweisen auf die strategische Rolle von Caracas 15
Nach der Naturkatastrophe im Dezember 1999 in der Provinz Vargas (Küstenprovinz der RMC), bei der Tausende von Menschen und ganze Dörfer verschüttet wurden, hat der Staat eine Umsiedlungsstrategie umgesetzt, bei der Bewohner der betroffenen Gebiete ins Landesinnere und an die Peripherie von Caracas umgesiedelt wurden, so auch in die Valles del Tuy.
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als Zentrum für die Dienstleistungsfunktion der Finanz-, Telekommunikations-, Softwareproduktions- und Consultingsektoren und zwar für diejenigen Unternehmen, für die Caracas wettbewerbsfähiger ist als andere Metropolen der Region. Im Jahr 1995 hatten von 103 ausländischen Unternehmen, die in der Hauptstadt ansässig waren, 17 ein Geschäftszentrum für die gesamte lateinamerikanische Region in Caracas, im Jahr 2000 waren es mehr als 20 (Barrios 2001). Die allgemeine Öffnung der Wirtschaft hat den Deindustrialisierungsprozess in Caracas verstärkt und eine Entwicklung und Konzentration des Tertiärsektors in der Urbanen Ökonomie mit sich gebracht. Zwischen 1989 und 1997 ist der Anteil des Sekundärsektors an der Urbanen Ökonomie von Caracas von 25% auf 20% gesunken, während der Tertiärsektor seinen Anteil von 73% auf 79% steigern konnte (Tabelle 3). Innerhalb des Tertiärsektors wiederum zeigt sich ein deutlicher Anstieg der Beschäftigungszahlen im Subsektor Transport und Kommunikation von 7,5% auf 10%; im Subsektor der höher qualifizierten Dienstleistungen ist der Anteil im selben Zeitraum von 18% auf 20% gestiegen (Tabelle 4). Die Konzentration der für die industrielle Produktion, die Erdölproduktion sowie den Minensektor strategisch wichtigen Aktivitäten in Caracas hat in erster Linie zur führenden wirtschaftlichen Rolle der Metropole als Dienstleistungszentrum für die gesamte nationale Ebene beigetragen. Welche sozioterritorialen Auswirkungen auf metropolitaner Ebene hat diese Entwicklung von Caracas als Dienstleistungs-, Führungs- und Kontrollzentrum der nationalen und international strategisch wichtigen wirtschaftlichen Aktivitäten? In erster Linie führt diese Entwicklung zu einer neuen funktionalen Differenzierung zwischen den verschiedenen territorialen Segmenten der Stadt. So gibt es einen Sektor, in dem sich die spezialisierten und weltmarktwettbewerbsfähigen Aktivitäten konzentrieren - die meisten davon direkt und indirekt entstanden in Verbindung mit der Öffnung der nationalen Erölproduktion - und einen, in dem sich international unrentable Aktivitäten wie die der Straßen- und Kleinhändler befinden. Die „globalisierten" Segmente sind in den Finanz- und Geschäftsdistrikten innerhalb der Metropole sowie in Gegenden der Stadt angesiedelt, die mit Luxushotels für Geschäftsreisende, neuen upperclass-Wohnvierteln sowie mit dazugehörigen Einkaufs- und Freizeitzentren ausgestattet sind. Die für eine entsprechende Modernisierung Urbanen Managements sowie für eine globalisierte Geschäfts- und Wohnkultur repräsentative Gemeinde ist Chacao.16 Sowohl die Konzentration gesellschaftlicher Sektoren hohen Einkommens als auch die wettbewerbsfähigen und differenzierten ökonomischen Aktivitäten, die die Gemeinde aufweist, verbinden sie direkt und ständig mit dem globalen Wirtschaftsnetz (internationale Banken, Versicherungsgesellschaften, Börse etc.). 16
Grob unterteilt kann gesagt werden, dass sich im Westen von Caracas die reicheren Wohngegenden befinden und im Osten die ärmeren; an beiden Extremen (im äußersten Westen und im äußersten Osten) befinden sich außerdem riesige Armenviertel. Kennzeichnend für die Stadt ist jedoch auch, dass sich sehr luxuriöse Viertel direkt neben barrios befinden.
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Tabelle 3: Área Metropolitana de Caracas (AMC) Tertiärisierung der Urbanen Wirtschaft 1989-1997 (in %) Wirtschaftssektoren
1997
1989
Primärsektor*
1,2
1,0
Sekundärsektor b
25,3
19,8
Tertiäersektor c
73,4
78,6
0,1
0,6
100,0
100,0
ANBE Total a b c ANBE
Landwirtschaft, Minensektor, öl; Manufakturindustrie, Elektrizität, Gas und Wasser, Konstruktion; Restliche Sektoren. Actividades No Bien Especificadas.
Quelle:
Barrios (1998b), zitiert nach Barrios 2001: 75.
Tabelle 4: Área Metropolitana de Caracas (AMC) - Restrukturierung des Tertiärsektors (1989-1997) Sektoren Handel Transport/Kommunikation
Beschäftig.ung (1989) Tausend % 283
Beschäftig ung (1997) Tausend % 327
Höhere Dienstleistungen' Konsumentendienstleistungen Öffentliche Verwaltung b
73 178 302 131
29,3 7,5 18,4 31,2 13,6
231 327 140
28,5 12,3
Total
967
100,0
1.144
100,0
a b
119
28,6 10,4 20,2
Finanzwesen, Versicherungen, Immobilien, Unternehmensdienstleistungen; Umfasst auch internationale Organisationen.
Quelle: Barrios (1998b), zitiert nach Barrios 2001: 76.
Transformation des Arbeitsmarktes Der seit der Krise des Rentenmodells begonnene Restrukturierungsprozess der Wirtschaß und des Staates erzeugte im Fall Caracas eine eindeutige Verstärkung der Informalisierung und Präkarisierung auf dem Arbeitsmarkt und eine daraus resultierende ansteigende Armut und soziale Ungleichheit. Die wichtigste Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt der Metropole ist die kontinuierliche Präkarisierung der Arbeit, die alle Segmente des Arbeitsmarktes betrifft. Sie bezieht sich in erster Linie auf die Verschlechterung der Beschäftigungsbedingungen und der Einkommen, bedingt durch die Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse. Im Jahr 1998 arbeiteten 87% der im formalen Sektor Beschäftigten in prekären Arbeitsverhältnissen, davon waren 28% 138
der im öffentlichen Sektor Tätigen und mehr als die Hälfte der in der Privatwirtschaft Arbeitenden betroffen. Am prekärsten gestalten sich die Arbeitsverhältnisse im informellen Sektor. Aber auch von den Beschäftigten, die noch nicht in prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten, die heute circa 40% aller Erwerbstätigen stellen, befinden sich ca. 30% in einer so genannten zona vulnerablel7, so dass letztendlich nur 10% aller Erwerbstätigen in Caracas einen Arbeitsplatz haben, der weder prekär noch vulnerable ist. Das zweite einschneidende Merkmal des metropolitanen Arbeitsmarktes ist sein hoher Grad an Beschäftigten im informellen Sektor, deren Anteil von 25% im Jahr 1987 auf 34% im Jahr 1998 angestiegen ist. Gleichzeitig ist der Anteil der im Privatsektor Beschäftigten von 54% auf 50% und der im öffentlichen Sektor Tätigen von 21% auf 16% abgesunken. Laut der Volkszählung (censo) aus dem Jahr 2001 arbeiten 42% der gesamten Beschäftigten im informellen Sektor (www.pnud.org.ve); Zahlen der Menschenrechtsorganisation Provea weisen für das Jahr 2003 53% auf nationaler Ebene auf (vgl. www.analitica.com/ bitbiblioteca/provea). Tabelle 5: Segmente des Arbeitsmarktes AMC (1987-1998) Segment Formal - staatlich -privat Informal Total
Beschäftigte 1987 940012 265316 674696
% 74,9 21,1 53,8
Beschäftigte 1998 1026183 249604 776579
% 65,8 16,0 49,8
314912
25,1
532642
34,2
1254204
100,0
1559367
100,0
Quelle: Cariola/Lacabana2001: 17.
Ein Drittel der im informellen Sektor Arbeitenden übt seine Tätigkeiten zuhause aus und 17% auf der Strasse bzw. auf öffentlichen Plätzen. Weitere negative Aspekte, die zur Verschlechterung der Situation auf dem metropolitanen Arbeitmarkt führen und z.T. ihren Grund im Abbau der sozialen Funktionen des Staates haben, sind: ineffiziente oder in vielen Fällen gar nicht existierende Sozialversicherungen und ein Anstieg der Anzahl von sozialer Exklusion betroffener Jugendliche durch frühzeitiges Abbrechen der Schulzeit, mangelndes Arbeitsangebot und fehlendes motivierendes Sozialisationsmilieu. Außerdem sind auf dem Arbeitsmarkt ein genereller Rückgang der Lohnarbeit, ein Anstieg der 17
Unter „BeschäftigungsVulnerabilität" verstehen Cariola und Lacabana einen nicht klar abgesteckten Bereich der sozialen Integration. Durch Senkung der Arbeitslöhne, Streichung oder Beeinträchtigung der Sozialversicherung etc. gerät der Beschäftigte in die Situation der Präkarität und vermindert damit seine Kapazität der sozialen Integration (Cariola/Lacabana 2000: 97).
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langfristigen Arbeitslosigkeit und des privaten Kleingewerbes zu verzeichnen um nur einige Phänomene mehr der Entwicklung zu nennen. Die Einkommensdisparitäten zwischen den verschiedenen Segmenten auf dem Arbeitsmarkt steigen, was die soziale Ungleichheit weiter erhöht. Die im Kleingewerbe angestellten Arbeiter haben die stärksten Einkommensverluste hinzunehmen (Cariola/Lacabana2001). Diese Transformationen auf dem Arbeitsmarkt der Metropole vergrößern und intensivieren die Armut und verstärken die soziale Heterogenität in der Stadt. Gleichzeitig intensiviert sich die soziale Exklusion. Insgesamt ist der Anteil der Armen an der metropolitanen Bevölkerung im Jahr 1987 von 40% auf 57,8% im Jahr 1998 gestiegen. Pluralisierung und Polarisierung der Lebensformen Die Exklusionslogiken, die die Armut in der Metropole bestimmen, liegen vor allem begründet: 1) in der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt (Arbeitslosigkeit, informeller Sektor, Präkarisierung); 2) in der sozialräumlichen Segregation, die auf eine Ignorierung der Probleme der Äarr/o-Entwicklung durch den früheren Entwicklungsstaat zurückzuführen ist und im Rahmen der neoliberalen Politik verstärkt wurde; 3) in der Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt, besonders unter dem Primat der neoliberalen Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen; 4) im kontinuierlichen Abbau sozialintegrativer Maßnahmen des früheren Entwicklungsstaates (besonders Sozialausgaben und Sozialmaßnahmen in Erziehung und Gesundheit, Entwicklung in Richtung auf Privatisierung der Sozialversicherungssysteme) und S) in der politisch-administrativen Fragmentierung der Metropole durch den weiter oben beschriebenen Dezentralisierungsprozess. Vor diesem Hintergrund entwickelten sich in den letzten 20 Jahren in der venezolanischen Gesellschaft sehr differenzierte Lebensstile. Die armen und verarmten Sektoren versuchen durch Überlebensstrategien, den Konsequenzen der Exklusionslogiken und damit dem sozialen Abstieg zu begegnen, während die hohen Einkommenssektoren Lebensmodi aufweisen, durch deren Aktivitäten sie direkt mit den globalen Prozessen verbunden sind und ihre alltäglichen Kulturund Konsummuster direkt aus diesen speisen. Die Mittelklassesektoren bewegen sich zwischen diesen Extremen. Das Nebeneinander der unterschiedlichen Lebensweisen verstärkt die Urbanen Fragmentierungsprozesse, fördert die Konfliktivität um die Nutzung des Territoriums und erschwert die Identifizierung der Bewohner mit einer Stadt, in der das private über dem öffentlichen Leben steht und in der die Werte einer öffentlichen bürgerlichen Kultur an Bedeutung verloren haben (Cariola/Lacabana 2000). Die Konfliktivität entsteht besonders durch die willkürliche Absperrung öffentlicher Zufahrtsstraßen zu Wohnvierteln der Mittelklasse und der Oberschicht durch ihre Anwohner. Rückzug ins Private der Mittelklassesektoren, Selbstsegregation der Reichen bei gleichzeitig „globalisierter" Lebensweise und ein sozioterritoriales Eingeschlossensein in den barrios, charakterisieren die Lebensstile in Caracas. 140
Die Selbstsegregation der höheren Einkommensgruppen in Caracas ist bisher analytisch kaum betrachtet worden. Die neuen Dynamiken der Stadt ähneln jedoch denen vieler lateinamerikanischer Metropolen: Die Reichen leben in abgeschlossenen, exklusiven Ghettos mit Privatwächtern und elektronischer Kontrolle, Stacheldrahtzäunen und Ausweiskontrollen und kapseln sich immer stärker ab. Handelt es sich um größere exklusive Wohnviertel, sind in ihnen mittlerweile ganze Einkaufszentren mit Freizeitangebot, Grünanlagen und Dienstleistungen auf höchstem Niveau anzutreffen. Im Prinzip brauchen ihre Bewohner ihr Viertel nicht verlassen, brauchen sich nicht in die „reale Welt" des metropolitanen Alltags zu begeben, der von Lärm, Schmutz, Kriminalität und extrem bedürftigen Menschen geprägt ist. Nur der Weg zur Arbeit bringt dann doch noch die Notwendigkeit des Eintretens in die anderen Segmente der Stadt mit sich. Die Untersuchung von Cariola/Lacabana (2000) über die Heterogenisierung des Verannungsprozesses in Caracas hat gezeigt, dass die betroffenen Mittelklassesektoren ganz unterschiedliche Wohn- und Lebensstrategien entwickelt haben, wofür nicht nur das Absinken ihres Einkommens ausschlaggebend ist, sondern auch das soziale und kulturelle Kapital, auf das die Familien zurückgreifen können, um entsprechende Strategien unterschiedlicher Konsum- und Lebenspraktiken zu entwickeln. So gibt es Familien, die sowohl die private ärztliche Versorgung als auch die private Bildung ihrer Kinder aufkündigen und ihre Wohnung bzw. Haus untervermieten müssen; andere Familien können ihr soziales und kulturelles Kapital nutzen und brauchen nur konjunkturell ihren Lebensstandard zu reduzieren; eine weitere Gruppe von Mittelstandsfamilien hat keine andere Wahl, als an die Pheripherie zu ziehen oder in weniger gute Wohnviertel umzusiedeln. Die „Verarmung" zeigt sich aber nicht nur auf privater Ebene, auch die Wohnviertel der Mittelklasse leiden unter der Situation, da ihre Bewohner keine Mittel haben, um eine bestimmte Qualität der Wohnanlagen aufrechtzuerhalten. Die Lebensformen der drastisch verarmten Mittelklasse, die in großen Wohnblöcken sozialen Wohnungsbaus wie El Valle oder Caricuao leben, sind stark geprägt von einer Perspektivlosigkeit ihres sozialen Abstiegs. Die Unsicherheit durch Gewalt nimmt in diesen Wohnsektoren immer mehr zu. In den barrios, die in ihrer Wohn- und Lebensform durch eine externe wie interne Segregation geprägt sind, haben die ¿»arrio-Bewohner verschiedene Mikrostrategien als Überlebensstrategien entwickelt. Dazu gehören die Besetzung von noch unbebauten Gebieten, die sich in geographischer Lage mit höchstem Risiko für die Hütten und Häuser befinden (obere Teile der Hänge, Grundstücke mit sehr steilem Gefälle, Ufer von Abwässern, was erhöhte Erdrutschgefahren mit sich bringt), als auch die Unterteilung und/oder Erweiterung der ranchos. Die Folgen sind in erster Linie eine enorme Bevölkerungsverdichtung in den barrios und eine damit verbundene weitere Verschlechterung der Lebensqualität durch Überlastung der Infrastruktur. Die meisten Äa/rz'o-Bewohner sind im informellen Sektor tätig. Viele der darin ausgeübten Tätigkeiten sind oft in irgendeiner Weise in kleinem oder großem 141
Maßstab mit Delinquenz verbunden. Diese Art der Überlebensstrategie hat sich zu Lebensformen entwickelt, die heute einen großen Teil des Alltagslebens in Caracas bestimmen und einen direkten und indirekten Einfluss auf Regeln, Erscheinungsformen und Verhaltenscodes haben (Pedrazzini/Sanchez 2001). Das alltägliche Zusammenleben in den Armenvierteln ist stark von den größer werdenden wirtschaftlichen Problemen und dem Anstieg der Gewalt betroffen, auch wenn beide Probleme immer schon in irgendeiner Form in den barrios präsent gewesen sind. Der Rückzug ins Private, verstanden als ein Prozess des territorialen Eingeschlossenseins, bedingt durch erhöhte Transportkosten und Veränderungen in den wirtschaftlichen Aktivitäten (Heimarbeit und Arbeit auf den Straßen in den barrios selber), hat sich in den letzten Jahren ebenso entwickelt wie die Veränderung in der Konstruktion von Identitäten in den Armenvierteln. Das Leben in einem barrio hat eine klare Abwertung erfahren, weil es für die Bewohner immer stigmatisierender geworden ist, dort zu leben. Hierdurch wurde das Zusammengehörigkeitsgefühl seiner Bewohner stark beeinflusst, so dass mit größer werdender Armut und Unsicherheit die positive Identität mit dem barrio immer mehr, wenn auch nicht vollständig gebrochen wurde (Cariola/Lacabana 2000).
3. Caracas unter der Chávez-Regierung Polarisierung und Unregierbarkeit der Metropole Die Zuspitzung der sozialen Gegensätze, die Unfähigkeit und die Ignoranz der Politiker, die sozialen Probleme strukturell und nachhaltig anzugehen, die Unglaubwürdigkeit und Korruption der traditionellen Parteien und staatlicher Institutionen waren wichtige Ursachen für die mehrheitliche Wahl des ehemaligen Putschisten (fehlgeschlagener Putsch vom 4.2.1992) Hugo Chávez Frías (Ellner/Hellinger 2003). Dieser versprach sowohl das Problem der Korruption als auch die Armut im Namen des Befreiungshelden Simón Bolívar und der bolivarischen Revolution zu bekämpfen. Die radikale Veränderung des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft, sprich Bürgern wird als eines ihrer wichtigsten Ziele aufgestellt. Die neue Verfassung von 1999 basiert auf den Grundsätzen eines demokratisch-partizipativen und protagonistischen politischen Systems.18 Seine Politik, besonders die Sozialpolitik", richtete Chávez von Beginn an sehr selektiv aus, denn er bezieht sich mit seinen politischen Maßnahmen in erster Linie auf die armen Bevölkerungsgruppen, denen in den vorherigen Regimen 18
Die Verfassung enthält eine Reihe von Artikeln, die sich auf die politische Partizipation und auf eine neue lokale Institutionalität beziehen. In erster Linie sind es die lokalen Planungsräte (Consejos Locales de Planificación Publica - CLPP), die einen partizipativen Planungsprozess in den Gemeinden ermöglichen sollen. In der Praxis erweisen sich diese Räte jedoch oft als sehr bürokratisch und politisch manipuliert. 19 Vgl. Aufsatz von Hans-Jürgen Burchardt in diesem Buch.
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weniger Partizipationsrechte zugestanden wurden. Chavez ist in seinem politischen Diskurs einem Freund-Feind-Schema verhaftet, das die Gesellschaft in die zu bekämpfende Oligarchie und das an die Macht zu bringende Volk einteilt. Diese extrem polarisierende Rhetorik und seine sozial selektive Politik verhalfen dazu, dass die soziale Polarisierung in eine extreme politische Polarisierung mündete und die Mittelklassesektoren, die ihn bei der Wahl unterstützten, sehr schnell von ihm Abstand nahmen. In Caracas, Sitz der Zentralregierung und der staatlichen Erdölgesellschaft, konzentriert sich neben den dominanten wirtschaftlichen und politischen Eliten des Landes und der gesellschaftlichen Oppositionssektoren, die politisierte Armenbevölkerung. Diese Konstellation macht Caracas zum Zentrum des soziopolitischen Konflikts der Gesellschaft, der sich durch eine extreme Polarisierung der verschiedenen Machtinteressen um die Verteilung der Erölrente und das entsprechende Gesellschaftsmodell charakterisiert. Plakativ ausgedrückt teilt sich Caracas in einen „reichen" Westen und einen „armen" Osten, der jeweils gegen bzw. für die aktuelle Regierung ist. Die jeweilige symbolische Nutzung und Besetzung öffentlicher Räume mit dem Ziel, das entsprechende politische Lager territorial abzugrenzen und abzustecken, hat eine Segregation nicht nur sozialer, sondern auch politischer und kultureller Art zur Folge. Die Oppositionsgegner der Regierung z. B. haben einen öffentlichen Platz im Osten der Stadt (Plaza Altamira) zum „Platz der Freiheit" ernannt, wo sie sich versammeln, Reden abhalten und sich ganz offen gegen den Rest der Bevölkerung absetzen und die Regierung diskreditieren. Dieser Platz ist in letzter Zeit oft Zentrum gewalttätiger Auseinandersetzung gewesen. Die Regierungsanhänger dagegen treffen sich unter anderem im historischen Zentrum der Stadt, an der Plaza Bolivar, wo sie eine so genannte heiße (Diskussions-)Ecke eingerichtet haben, an der allerdings Oppositionelle auch gar nicht gern gesehen werden. Die extremen sozialen Gegensätze und die ansteigende Armut, die die sozioterritoriale Fragmentierung der Metropole seit vielen Jahren perpeturieren, sind weit davon entfernt, gelöst zu werden und haben auch unter der ChdvezRegierung zu einem Anstieg der Gewalt und Kriminalität in der Stadt gefuhrt. Caracas gilt als eine der unsichersten Städte Lateinamerikas. Im Jahr 2002 wurden insgesamt 1138 Delikte auf 100.000 Einwohner registriert, im Jahr 2001 lag diese Zahl noch bei 938; die Zahl der Morde ist im Jahr 2002 im Vergleich zum Voijahr um 21% gestiegen (von 7960 auf 9617, die Mehrzahl davon in Caracas) (Provea 2003). Eines der größten Probleme des Arbeitsmarktes ist die Arbeitslosigkeit, die nach inoffiziellen Angaben nach dem zweimonatigen Generalstreik ab Dezember 2002 bei 20,7% lag (Frauenarbeitslosigkeit bei 21,1%) und nach offiziellen Daten im Dezember 2003 immer noch 15,4% betrug. Nach der Menschenrechtsorganisation Provea (2003) wurde die grassierende Arbeitslosigkeit im Jahr 2003 für die Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung das prioritär zu lösende Problem, während es vorher die Unsicherheit war. 143
Der aktuellen Regierung wird (wie schon den Regierungen zuvor) eine eher städtefeindliche Haltung angelastet (Barrios 2000; Negron 1999). Die Regionalpolitik unter dem Primat der so genannten dekonzentrierten Dezentralisierung 20 verfolgt das Ziel einer endogenen regionalen Wirtschaftsentwicklung, die sich in erster Linie auf die Subregionen des Landes im Rahmen einer nationalstaatlich gelenkten Politik bezieht, die zum einen die Förderung von landwirtschaftlichen Kooperativen und Kleinunternehmen zum Ziel hat, auf der anderen Seite aber auch den ausländischen Investitionen großen Raum lässt und sich in diesem Sinne von der neoliberalen Wirtschaftspolitik der vorherigen Regierung wenig unterscheidet. Eines der wichtigsten Ziele in der Strategie des Staates ist es, die Erdölrente mit Blick auf eine endogene wirtschaftliche Entwicklung und mit Blick auf eine „sozial gerechtere" Verteilung zu nutzen.21 Die Umsetzung dieser Strategie zeigt sich in Caracas auf verschiedene Weise: Ehemalige Verwaltungsgebäude der staatlichen Erdölgesellschaft werden als universitäre Bildungseinrichtungen benutzt (Militärakademie in Chacao und Bolivarische Universität in Baruta), und PdVSA übernimmt wichtige Aufgaben operativer und finanzieller Art bei der Durchfuhrung der neuen sozialpolitischen Strategie in den barrios.22 Somit wird die Entwicklung von Caracas in der regionalpolitischen Konzeption nicht im Sinne einer modernen Urbanen Politik gesehen, in der die Stadt als räumliche Basis einer unternehmerischen Lernfähigkeit, eine Vernetzung zwischen innovativen Unternehmen, Forschungskapazitäten und weiteren regionalen Multiplikatoren voraussetzt. Denn unter diesem Gesichtspunkt wird die Gestaltung der Urbanen institutionellen und infhistrukturellen Grundvoraussetzungen ein bedeutendes Element einer neuen modernen Stadtpolitik, von der Caracas weit entfernt ist. Für Caracas gibt es heute keine Stadtpolitik. Die Metropole wird von bestimmten nationalen wirtschaftlichen, politischen und sozialen sowie internationalen Interessen dominiert. Eine Erklärung für die fehlende Einsicht der politischen Autoritäten auf nationaler wie auf lokaler Ebene, dass Städte heute auch Zentren von Wirtschaftswachstum sind, und dass ihr wirtschaftlicher Erfolg entscheidend für die nationale Wirtschaft ist, liegt in der Rentenlogik der venezola20
21
22
Durch die Strategie der „dekonzentrierten Dezentralisierung" sollen Bevölkerung, Ressourcen und Arbeit, die sich im im Norden des Landes konzentrieren, unter Ausnutzung der jeweiligen Naturressourcen gleichmäßig auf die restlichen Regionen verteilt werden. Vgl. Cordiplan (1999). Kurz vor dem Putsch im April 2002 hatte Chävez begonnen, die Erdölgesellschaft PdVSA, mit Sitz in Caracas, ins Visier zu nehmen. Insgesamt entließ er knapp 18.000 Angestellte; und die Verwaltung wurde dezentralisiert. Der aktuelle Präsident von PdVSA, Alf Rodriguez Araque, ehemaliger OPEC-Vorsitzender und Energieminister Venezuelas, hat auf einem Seminar in Caracas Uber die neue sozialpolitische Strategie der Regierung zu der neuen Rolle der PdVSA in diesem Prozess Stellung genommen.
144
nischen Gesellschaft begründet. In Caracas sitzen die im Land tätigen internationalen Erdölunternehmen und andere transnationale Unternehmen, die in irgendeiner Weise mit dem Erdölsektor und den ihm angeschlossenen Sektoren verbunden sind. Die Stadtpolitiker fühlen sich nicht unter dem Druck, andere Strategien zur Förderung der städtischen bzw. stadtregionalen Wettbewerbsfähigkeit zu entwickeln. Aber auch andere, heute weltweit anerkannte Stadtentwicklungsstrategien wie die Aufwertung noch verbliebener Teile historischer Zeugnisse der Stadt, finden in Caracas zwar einen Platz in dem einzigen existierenden lokal-urbanen Entwicklungsplan der Metropole, dem der Gemeinde Libertador - wo das historische Zentrum der Stadt gelegen ist aber wie so oft fehlt es an der Initiative und dem wirklichen Interesse der praktischen Umsetzung. Während lokale Probleme oft lokaler Lösungen bedürfen, verlangen sie nicht selten auch die Koordinierung durch eine metropolitane Politik. Dies betrifft vor allem die Bereitstellung kollektiver Güter und Dienstleistungen (Barrios 2000), aber auch die Probleme wie immer größer werdende Segregation, Armut, Arbeitslosigkeit, informeller Sektor, Kriminalität, die Caracas beherrschen. Stattdessen hat sich jede Lokalregierung in Caracas immer mehr zu einer in sich abgeschlossenen politischen Parzelle entwickelt, was dazu beiträgt, dass die oben beschriebenen Segregationstendenzen weiter konsolidiert werden. Es existieren so viele lokalpolitische Führungsmodelle (modelo de gestión) wie es Gemeinden gibt und es ist wohl auch nicht zu erwarten, dass sich wegen den extrem unterschiedlichen sozioökonomischen Situationen und Strukturen als auch der unterschiedlichen politischen Ausrichtung in absehbarer Zeit eine alternative Entwicklung anbahnt.23 Während die „regierungstreuen" Lokalregierungen der Metropole die Umsetzung der Strategien der „bolivarischen Revolution" propagieren, verfolgen die anderen Lokalregierungen das Ziel eines „effizienten" modernen Lokalmanagements. Diese Entwicklung akzentuiert die fehlende Identität der Bewohner mit der Metropole. Das Problem der Gobernabilität der Metropole akzentuiert sich unter der aktuellen Regierung zum einen, weil die politische Polarisierung eine konsensuale Lösung verhindert und zum anderen, weil es keine politisch-administrative Lösung gibt. In Caracas existieren gemäß der Verfassung von 1999 (Art. 18) drei verschiedene politisch-territoriale Körperschaften und damit drei unterschiedliche Regierungsebenen (Delfino 2001): Der Bundesstaat Miranda mit den vier Gemeinden, die im Valle de Caracas gelegen sind, Baruta, Sucre, Chacao, El Hatillo; der Distrito Capital, der sich nur aus der Gemeinde Libertador zusammensetzt und der Distrito Metropolitano, der durch ein Gesetz 2000 neu geschaffen worden ist. Letzterer übernimmt quasi die Aufgaben der ehemaligen Regionalregierung des Distrito Federal (heute Gemeinde Libertador). Eine klare 23
Eine andere Perspektive stellen die so genannten mancomunidades in sozialterritorial homogeneren Subregionen wie den Valles del Tuy dar.
145
Kompetenzfestlegung zwischen den verschiedenen Regierungsebenen in der AMC gibt es aber nicht, ebenso wenig wie für den Oberbürgermeister (Alcalde Mayor) des Distrito Metropolitano. Auch werden weder die Figur des Metropolitanen Rates (Consejo Metropolitano) genutzt, noch die Figur der mancomunidades für Gemeinschaftsaufgaben, noch der strategische Plan von Caracas (Paiva 2001). Hinzu kommen die verschiedenen öffentlichen und privaten Dienstleistungsunternehmen, deren Einflussbereich die gesamte AMC ist. Eine Überschneidung der Kompetenzen der verschiedenen Institutionen und Körperschaften ist die Konsequenz. Der aktuellste Veränderungsvorschlag bzgl. des Gobernabilitätsproblems von Caracas kommt von der Fundación Plan Estratégico de Caracas Metropolitana (FPECM), die eine supralokale Regierung auf zwei Ebenen vorschlägt: auf der Ebene der AMC und auf der Ebene der RMA (Barrios 2001). Statt städtischer Sozialpolitik Mobilisierung der Aamo-Bevölkerung Die Konsequenzen der tiefgreifenden Urbanen Umstrukturierungsprozesse in den lateinamerikanischen Metropolen verlangen nicht nur neue Ansätze für eine städtische Wirtschafts- sondern auch für eine städtische Sozialpolitik, die auf eine strukturelle Armutsbekämpfting ausgerichtet ist. Eine Politik als Lokalpolitik in diesem Sinne ist in keiner Gemeinde der venezolanischen Metropole vorzufinden. Was man beobachten kann, sind die verschiedenen sozialpolitischen Maßnahmen24, die von der Zentralregierung ausgehen und in den regierungsfreundlichen Gemeinden, die in der Regel einen hohen Anteil an barrio-Bevölkerung haben wie im Fall der Gemeinden Libertador und Sucre, eine Umsetzung erfahren. Diese Gemeinderegierungen fördern die Umsetzung der so genannten misiones, die in den Gemeinden mit Hilfe sozialer Netzwerke funktionieren. Bei den misiones handelt es sich um eine Sozialstrategie, die die soziale Inklusion und den Aufbau einer Bürgerschaft der armen Bevölkerung zum Ziel hat. Die misiones funktionieren ohne bürokratische Einbettung in eine ministeriale Struktur und umfassen sowohl den Bildungsbereich (Alphabetisierung, Sekundärschule, Universität - Misión Robinson, Ribas, Sucre), die grundlegende Gesundheitsfürsorge (Misión Barrio Adentro) als auch den Ausbildungsbereich (Misión Vuelvan Caras) und andere Bereiche. Dieser sozialpolitische Ansatz für die arme Bevölkerung verfolgt offiziell zwei Ziele: Zum einen soll durch staatliche, zielgruppengerecht eingesetzte Subventionen (verbilligte und kostenlose Medizin, verbilligte Nahrungsmittel, Essensausgabe in den bolivarischen Schulen, Vergabe von Schulutensilien und uniformen etc.) die Armutsentwicklung wegen steigender Inflation abgefedert werden; zum anderen soll die Aarr/o-Bevölkerung speziell durch die Bildungsmissionen bessere Ausgangsbedingungen für den Arbeitsmarkt erhalten, und 24
Der Artikel von Hans-Jürgen Burchardt in diesem Buch enthalt eine Analyse der sozialpolitischen Strategie der Chàvez-Regierung.
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durch die Förderung ihrer Organisationskapazität soll die direkte Partizipation an der Lösung der konkreten kommunalen Probleme in den sich entwickelnden Partizipationsräumen eine Umsetzung erfahren. Diese Ideen stehen denen des empowerment der internationalen Entwicklungsorganisationen sehr nahe und doch gibt es Unterschiede, die im Prozess selber verhaftet sind. Es geht darum, dass die Armenbevölkerung durch eine Selbstaufwertung herbeigeführt durch ein kollektives Imaginarium sowie durch eine verfassungspolitische Grundlage - in die Lage versetzt wird, in einem sich neu konstituierenden öffentlichen Raum auf Gemeindeebene, in eigener Regie, unter Rückgriff auf eigene Ressourcen und in unterschiedlicher Form sozialer Netzwerke und kollektiver Organisation, die Lösung ihrer Probleme anzugehen. Grundvoraussetzung dieses Prozesses ist eine Neubewertung des öffentlichen Raums, ein Aufbrechen des sozialen Eingeschlossenseins in den barrios wie es früher vorherrschend war. Dieses Aufbrechen wird besonders stark seit der Umsetzung der oben genannten misiones beobachtet. Unter einer beginnenden Neubewertung und Revitalisierung des öffentlichen Raums zeigt sich dessen Bedeutung in mehrfacher Weise: der öffentliche Raum als gemeinsam gelebter Raum, d.h. die barno-Bewohner „überwinden" ihre Unsicherheit und trauen sich wieder mehr am Leben im barrio teilzunehmen; der öffentliche Raum als kollektiver Handlungsraum, um gemeinsam Lösungswege zur Beseitigimg oder Linderung der sozialen Probleme zu suchen, und der öffentliche Raum als institutioneller Raum. Letzterer bezieht sich auf eine neue qualitative Beziehung zwischen barrioBewohnera und Institutionen grundlegender Dienstleistungen wie z. B. im Fall der Wasserversorgung durch die staatliche Institution Hidrocapital. Die runden Tische, die so genannten mesas técnicas (in diesem Fall die mesas de agua) werden in den barrios gebildet und sind in einen Organisationsprozess auf lokaler Ebene eingebunden. Sie dienen dazu, auf der Basis der selbst erhobenen Informationen und Daten in den Gemeinden, deren Bedürfnisse/Nachfrage gegenüber der Dienstleistungsinstitution genau zu formulieren, zu diskutieren und zu verteidigen. Sie dienen weiterhin als Verbindungsglied zwischen staatlicher Dienstleistungsinstitution, den neuen Institutionen politischer Partizipation auf lokaler Ebene wie den lokalen Planungskomitees (Comité Local de Planificación Publica - CLPP) und den organisierten Gemeinden. In dieser neuen Dynamik wird z. B. das Wasserproblem von allen im Prozess involvierten Sektoren, sowohl von den Gemeinden, als auch von der Dienstleistungsinstitution und der lokalen Ebene politischer Entscheidungen neu und mehr und mehr als integrales Problem verstanden (Cariola/Lacabana 2004). Analoge Dynamiken findet man auch auf anderen Ebenen, die die Organisation zum Zweck der Erreichung grundlegender Dienstleistungen betreffen. In diesem Zusammenhang ist die legale Handhabung der Regulierung des Urbanen
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Landeigentums25 von großer Wichtigkeit. Ein entsprechendes Gesetz ist in der Diskussion und bisher noch nicht verabschiedet, trotzdem hat der Regulierungsprozess auf der Basis des Präsidentialdekrets Nr. 1666, vom 4.2.2002 (Gaceta Oficial Nr. 37378) begonnen. Auf seiner rechtlichen Grundlage können die Lokalregierungen Eigentumstitel an Aa/r/'o-Bewohner vergeben und zwar in erster Linie über staatliches Landeigentum. Zum Zweck der statistischen Erhebung und rechtlichen Handhabung der Titelverteilung wurden auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene entsprechende technische Büros (Unidades Técnicas de Tierras Urbanas) errichtet. Die rechtliche Regulierung der Urbanen Landeigentumssituation fordert von den barrios und urbanizaciones populares die Errichtung so genannter Landkomitees, die die Aufgabe haben, sozioökonomische Informationen über das barrio, die Aarr/o-Bevölkerung, die Wohnsituation, Geschichte des barrios und der Gemeinden sowie deren Bedürfnisse einzuholen. Zwischen 2002 und 2003 wurden ca. 40.000 Eigentumstitel (individuelle und kollektive) vergeben (der Grundstücksverkauf ist allerdings eingeschränkt), fast die Hälfte davon in Caracas. Hierfür wurden ca. 3000 Landkomitees gegründet. Das zu verabschiedende Gesetz über die Regulierung des Urbanen Landeigentums hat darüber hinaus auch eine Bedeutung, die aus dem anhaltenden metropolitanen Expansionsprozess erwachsenen Probleme mit lösen zu helfen. Der Expansionsprozess beruht zu einem Teil auf der Ausbreitung der barrios durch Invasionen in peripher-urbanen Gebieten, bedingt durch ein weiterhin unzureichendes staatliches Wohnungsangebot. Es handelt sich hierbei zu einem beachtlichen Teil um Besetzungen von staatlichem Landeigentum. Durch das Fehlen einer klaren institutionellen Antwort seitens der Regierung auf die aktuellen Invasionen hat sich eine informelle Dynamik entwickelt, die bestimmt ist von einer vom Staat vollkommen unkontrollierten Situation: Die informiertesten Besetzer siedeln sich in den Gebieten an, die die besten Möglichkeiten für eine spätere Infrastruktur haben, während die Mehrzahl der Besetzer sich dagegen mit äußerst prekären Verhältnissen abfinden muss. Allgemein haben zwischen 1998 und 2000 die meisten Invasionen in peripher-urbanen Gebieten stattgefunden; 1999 wurden allein in 2 Monaten 1694 Besetzungen registriert (Delahaye 2001). Die Partizipation der ¿»arno-Bewohner in den Landkomitees hat ihre Teilnahme auch an anderen Aktivitäten nach sich gezogen, die die Verbesserung der Lebensqualität in den barrios zur Folge haben sollen, wie die Teilnahme an Initiativen zur Beseitigung von Problemen der Wasserversorgung in den oben genannten mesas técnicas de agua, Probleme der Elektrizitätsversorgung, Abfallbeseitigung, Kooperation mit Aktivitäten im Rahmen der Gesundheitsmission Barrio Adentro, Teilnahme an den lokalen Planungsräten um nur einige zu nennen (Wilpert 2004). Diese Art sozialer Mobilisierung, Organisation und Partizi25
Es gibt zwei Gesetzesentwürfe über die Regulierung des Urbanen Landeigentums: Proyectos de Ley de Regularización de la Propiedad de la Tierra Urbana y de Urbanización de los Barrios Populares.
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pation in den Armenvierteln mit dem Ziel eine auf eigenständige und kollektive Weise nachhaltige Verbesserungen im sozialen und infrastrukturellen Bereich in den barrios zu erreichen, bietet eine Chance, eine qualitativ neue Beziehung zwischen lokalstaatlichen Institutionen und der Z>arr/'o-Bevölkerung zu entwickeln, die auf einem neuen Bürgersinn hindeutet. Wichtig ist jedoch auch zu erkennen, dass sich diese Dynamik bis heute noch abseits und ohne eine klare Artikulation mit einer kohärenten Sozialpolitik des Staates abspielt.26 Die beschriebenen Prozesse beinhalten viele Widersprüche, Ungleichzeitigkeiten und Konflikte, auf die hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann. Auch sind der Organisationsprozess und die politische Institutionenbildung auf lokaler Ebene noch kein konsolidierter und zu verallgemeinernder Prozess, sondern in den Anfängen begriffen. Aber wichtig sind vor allem zwei Dinge, erstens: Der vorherrschende gesellschaftlich politische Konflikt überschattet und beeinträchtigt diesen Partizipationsprozess von unten entscheidend (sind Lokalund Regionalregierung z. B. politische Gegner, verhindert und blockiert die Regionalregierung das Voranschreiten des Prozesses auf verschiedenste Weise); und zweitens: Die sozialpolitischen Veränderungen auf lokaler Ebene entwickeln sich in einer Parallelstruktur wie sie in den misiones zu finden ist und nicht im Rahmen einer klaren institutionellen konsistenten Erneuerung auf ministerialer Ebene. Entscheidungen im Rahmen der misiones werden direkt vom Staatspräsidenten getroffen. Der Partizipationsdynamik in den barrios, die verfassungsmäßig (Art. 182) und durch das Gesetz der Lokalen Planungsräte (Ley del Consejo Local de Planificación Pública) abgesichert ist, steht ein Rezentralisierungsprozess auf höherer politisch-administrativer Ebene entgegen. So ist bis heute das Gesetz zur Errichtung des Förderativen Regierungsrates (Art. 185 Consejo Federal de Gobierno) nicht verabschiedet worden. Dieser Rat hat die Aufgabe, den Dezentralisierungsprozess und den Transfer der Kompetenzen von der Zentral- auf die Regional- und Gemeindeebene zu koordinieren. Offene Perspektive Venezuela befindet sich seit Krisenbeginn des Rentenmodells in einem Umbruch, der mit der Machtübernahme von Chávez einen konfliktiven Höhepunkt erreicht hat. Globale und lokale Interessenskonflikte drücken sich in extremer Weise in der soziopolitischen, kulturellen, sozioterritorialen und wirtschaftlichen Dynamik der Metropole aus. Die beschriebenen neuen sozialräumlichen Segregationstendenzen in Caracas sind ein zentraler Ausdruck der Konfliktlinien 26
Das Ministerium für Familie und Sozialentwicklung konzentriert sich derzeit auf die Errichtung einer Red primaria de salud. Der Bau von 3000 so genannten Consultorios Populäres im ganzen Land, 800 davon in der RMC, ist ein Ausdruck dieser Strategie. Es handelt sich hier um ärztliche Praxen in den barrios (eigens dafür entworfene Konstruktionen), in denen kubanische Ärzte, die dort auch leben, kostenlose ärztliche Grundversorgung anbieten. 149
des sich im Wandel befindlichen Gesellschaftsmodells. Dieser Wandel manifestiert und entwickelt sich in den unterschiedlichen sozioterritorialen Orten und Gemeinden ganz verschieden, so dass wir von einer Koexistenz divergierender gesellschaftlicher Organisationsformen und Institutionsdynamiken reden können. Grundsätzlich stehen sich hierbei eine Demokratievorstellung, die die individuelle Freiheit in den Vordergrund stellt und eine, die mehr auf Partizipation setzt, frontal gegenüber. Während die dominanten Sektoren, die die individuelle Freiheit zum Mittelpunkt ihres Gesellschaftsmodells machen, sich von der Gesellschaft sozioterritorial immer mehr selbst ausschließen, erkennt man bei den Sektoren, die auf Partizipation und Selbstregierung hinarbeiten, eine immer weitere Nutzung des lokal-öffentlichen Raums. Auf den ersten Blick stehen sich zwei Entwicklungsmodelle gegenüber: eines, das eine weitere Öffnung der Wirtschaft und eine Privatisierung der staatlichen Erdölgesellschaft bevorzugt und ein Modell, das eher auf der Regulierung der nationalen Naturressourcen und dem .Ansatz' einer gerechteren gesellschaftlichen Verteilung der Erdölrente basiert. Bei genauerem Hinsehen weist jedoch auch dieser Umverteilungsversuch scheinbar unüberwindbare gesamtgesellschaftliche Widersprüche auf. Bisherige Bemühungen in diese Richtung haben keine positiven Effekte gezeitigt und insbesondere kaum die Segregationsprozesse in der Metropole verlangsamt. Die oben beschriebene Perpetuierung und Verstärkung der Segregation erweist sich als das zentrale Problemfeld in lateinamerikanischen Metropolen. Der öffentliche Raum als ein repräsentativ von allen Mitgliedern der Gesellschaft gelebter Raum wird im Fall der Metropole Caracas immer weiter verdrängt. Was dominiert, sind die sozialräumliche Segregation und der Antagonismus in der Vorstellung der zu gestaltenden Gesellschaft. Hinzu kommen die fehlende Perspektive der Stadtpolitiker, die Stadt als ganze attraktiv und damit in gewissem Sinne auch wettbewerbsfähig zu gestalten und die Besetzung von Räumen oder Raumanteilen durch einzelne Gesellschaftsgruppen wie die Straßenhändler des informellen Sektors und die Überlagerung und Durchsetzung von Privatinteressen über öffentliche Interessen, besonders im Bausektor. Mit der Entstehung neuer Räume wie den malls haben diese sich zu Orten entwickelt, wo unterschiedliche soziale Sektoren aufeinandertreffen, wo jedoch die primäre Motivation der Konsum bzw. die Illusion des Konsums ist. Der Boom der Einkaufszentren in der metropolitanen Region Caracas hat als modernes Freizeitangebot die frühere Attraktivität öffentlicher Räume wie Parks, Plätze und Fußgängerzonen längst überboten. Angst und Unsicherheit sind von allen Gesellschaftssektoren gelebte Phänomene in Caracas. In der Perzeption und Interpretation dieser Phänomene gibt es jedoch fundamentale Unterschiede mit weitreichenden gesellschaftlichen Konsequenzen, denn die Unsicherheit der gehobeneren Gesellschaftssektoren bezieht sich abstruserweise auf das „Volk" selbst, das der (oberen) Mittel- und Oberschicht mit seiner Gefolgschaft gegenüber Chävez Angst einflößt. Dabei 150
geht es nicht nur um die Angst vor Überfallen, vor der Entwendung der eigenen Reichtümer, sondern es handelt sich vielmehr um die Angst vor dem sozialen Wandel. Das heißt, die Mittel- und Oberschicht hat Angst davor, dass die armen Bevölkerungsgruppen entscheidend an der Gestaltung der Gesellschaft teilhaben. Unsicherheit und Kriminalität wird praktisch gleichgesetzt mit „dem" Volk, mit Bewohnern aus armen Vierteln. Diese Haltung erklärt die Strategien des Einmauerns, sich Abschottens, sich Einsperrens - die Selbstsegregation. Dieser Selbstausschluss vom gemeinschaftlichen und öffentlichen Leben hat einen ganz spezifischen, durch die Globalisierung herausgebildeten Lebensstil entstehen lassen, der auf bestimmten Elementen globalisierten Verhaltens beruht wie Konsumverhalten, Freizeitverhalten, Prestige- und Elitedenken. Dieser Lebensstil wird von den Oberschichtangehörigen auch als positives Lebensgefiihl an sich wahrgenommen. Die Frage ist allerdings, wann solche Habitatformen die Grenze ihrer Sozialverträglichkeit erreicht haben (Borsdorf 2000). Mit jeder Degradierung, erhöhten Unsicherheit und Privatisierung der öffentlichen Räume werden die Möglichkeit der Ausübung von Toleranz und das Erlernen von Emanzipation durch die Begegnung mit dem Fremden und dem Andersdenkenden untergraben. Dies ist ein ganz wichtiger Aspekt in Bezug auf langfristige demokratische Lösungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Konflikte, die unter den Bedingungen der derzeit vorherrschenden extremen politischen Polarisierung der venezolanischen Gesellschaft, bei der sich Regierungsanhänger und -gegner feindlich gegenüberstehen, wesentlich erschwert werden. Der Dynamik der extremen Selbstsegregation der gehobenen Gesellschaftsschichten steht in Caracas derzeit eine Dynamik der sozioterritorialen Selbstinklusion der Aarr/o-Bevölkerung gegenüber, die durch das aktuelle Regime unterstützt und gefördert wird. „Integration, so weit sie stattfindet, basiert auf Konflikten, durch die Ignoranz aufgehoben wird. Das Konfliktpotential der modernen verstädterten Gesellschaft ist ihr Integrationspotential." (Korff 1997: 33). Dominiert in Zukunft allerdings die gewaltmäßige und autoritäre Handhabung des gesellschaftlichen Grundkonflikts ohne Einbeziehung der übrigen Gesellschaftssektoren, ist jede Art der Inklusion zum Scheitern verurteilt.
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Gunther Blessing
Caracas, amor a muerte - „Ästhetik der Gewalt" und ,das grausam Wirkliche9 im venezolanischen Film „Ästhetik der Gewalt" - das passt kaum in die Imagos von Venezuela, auch wenn man nicht mehr nur Vorstellungen wie den Salto Angel, den höchsten Wasserfall der Welt, und endlose Karibikstrände mit dem südamerikanischen Land assoziiert, sondern vermehrt andere Eindrücke, die der politischen und sozialen Unruhen der letzten Jahre, das Bild eines Hugo Chävez Frias, der sich so schwer klassifizieren lässt. Der Film El Valle, besser bekannt unter dem Titel Caracas, amor a muerte zeigt jedoch, ohne in einen einförmig mimetischen Naturalismus zu verfallen, ein Stück Realität des südamerikanischen Landes. ,„Das grausam Wirkliche'2 im venezolanischen Film" kann auch kein Essay politologischer Prägung sein. In dieser Auseinandersetzung mit Venezuela wird der Zugang über die Ausdrucksformen des Mediums Film gewählt; ein Werk des jungen Regisseurs Gustavo Balza, da er uns den cinematografischen Blick eines Venezolaners auf sein Land darbietet. Das ist zugleich ein Versuch, nicht über, sondern von Venezuela zu reden. Hier hat man es mit einer ästhetischen „Textur" zu tun, und als solche soll der Film gelesen und gewürdigt werden, nämlich als Tragödie, die ihrerseits wiederum mit ihrer künstlerischen Struktur in einem komplexen Beziehungsgefüge zur extrafilmischen soziokulturellen Re-
' Gustavo Balza: Caracas, amor a muerte. Spielfilm, Venezuela, 1999. Vgl. zum Titel: Riquelme (1990): „Das grausam Wirkliche", in: ders. (Hrsg.): Zeitlandschaft im Nebel Menschenrechte, Staatsterrorismus und psychosoziale Gesundheit in Südamerika. Frankfurt/M.: Vervuert; Riquelme bezieht sich auf den ecuadorianischen Schriftsteller Jorge Enrique Adoum, der den Begriff „Lo real cruel", das .grauenerregende Wirkliche', geprägt hat, seinerseits in Anlehnung an Alejo Carpentiers „Lo real maravilloso", das programmatische Vorwort zu seinem Roman El reino de este mundo; vgl.: Carpentier (1983) [1949]: Obras completas. II., México: Siglo XXI.
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alität steht. Deswegen ist die erste Spielfilmproduktion von Gustavo Balza aber sicherlich kein politisch motivierter Film. Darüber hinaus ist wohl zunächst die Kombination von Ästhetischem und Gewalt eine Contradictio in adjecto. Kann Gewalt und ihre Darstellung denn ästhetisch sein?! Wie wird Gewalt eingefangen? Bei der späteren Analyse und im Vergleich soll hierauf eingegangen werden. Ziel dieses Beitrags ist, eine Interpretation des Filmes auszuarbeiten. Der Film liefert genügend Stoff und ist - gerade auch in seiner Komposition - vielschichtig genug. So ist es lohnend, sich etwas eingehender mit ihm zu beschäftigen. Zunächst soll kurz auf Gustavo Balza eingegangen, dann die Handlung zusammengefasst werden; schließlich werden zentrale Themenkomplexe aufgerufen sowie die Dramaturgie und die Faktur analysiert. Dazu werden einige Filme im Vergleich herangezogen, in der intermedialen Gegenüberstellung ein Roman. Gustavo Balza wurde 1965 in Caracas geboren. Er studierte Fernsehjournalismus an der Universidad Central de Venezuela (UCV). Ab 1986 studierte er Film(Wissenschaft) an der neu gegründeten Fundación del Nuevo Cine Latinoamericano (Stiftung des Neuen Lateinamerikanischen Kinos), deren Vorsitz Gabriel García Márquez innehat. 1990 erwirbt er den Abschluss an der Escuela Internacional de Cine y Televisión in San Antonio de los Baños auf Kuba. Nach einigen Kurzfilmen und der Mitarbeit an anderen Filmen produziert er mit El Valle 1999 seinen ersten Spielfilm. El Valle, vermarktet unter dem Titel Caracas, amor a muerte, erzählt die Geschichte von Aixa aus Caracas, einer schwangeren Jugendlichen, die unentschlossen ist, ob sie das ungewollte Kind austragen soll oder nicht. Der Vater, Ramón, ein junger Delinquent, wehrt sich gegen die Abtreibung und bedroht deshalb Aixa. Deren Großmutter, Carmen, will jedoch, dass sie abtreibt. Darüber hinaus befindet sich die junge Frau im Spannungsfeld der Meinungen und Handlungen von Sergio, einem mit der Familie befreundeten Arzt, der ihr „helfen" könnte, und Carmelo, dem Priester der Gemeinde, zu welcher der Wohnblock gehört. Carmelo stellt sich entschieden gegen diese fragwürdige Lösung. Aixa flüchtet sich in die Apathie der Drogensucht, während sich in ihrer sozialen Umgebung ein vehementer Konflikt entzündet. Am Ende, nach einem Selbstmordversuch, entscheidet sie sich ftir das Kind. Ramón, nach wie vor mit ihr befreundet, glaubt, dass sie im Krankenhaus ist, um abzutreiben. Er sucht und erschießt sie. Die Grundkonstellation in Balzas Film ist kurios. Vor dem realen Hintergrund eines Landes, in dem über 50% der Bevölkerung jünger als 18 Jahre alt ist, wird ein Fall repräsentativ ins Zentrum gestellt, der in Venezuela und anderen lateinamerikanischen Ländern alles andere als selten ist: eine Jugendliche unter 18 ist ungewollt schwanger. Nur geraten die damit oft zusammenhängenden Schwierigkeiten und Leiden im Alltag selten so explizit ins Blickfeld und damit ins 156
Bewusstsein. In diesem Sinne ist künstlerische „Repräsentation" hier wörtlich zu nehmen als stellvertretende Vergegenwärtigung. Das Thema der ungewollten Schwangerschaft, das gewaltsam forcierte Hin und Her zwischen Abtreibung oder Austragen des Kindes, ist Dreh- und Angelpunkt des Films. Die beiden vermeintlichen Lösungen sind mit schwerwiegenden Nachteilen verbunden. Schon der Titel suggeriert überdies, dass Liebe und Tod, wenn sie hier nicht sogar in eins fallen, so doch in enger Entsprechung stehen. ,/í/wor a muerte" heißt „Liebe zum Tod", im doppelten Wortsinne, es kann aber auch „Liebe auf den Tod" bedeuten, wie man etwa vom „Kampf auf Leben und Tod" spricht, davon, jemanden „auf den Tod nicht ausstehen" zu können. Darüber hinaus klingt die adverbiale Verwendung, „a muerte" - „unerbittlich", mit. Während man im Deutschen jemanden für sein Leben gern hat, oder unsterblich in jemanden verliebt ist, sagt man auf Spanisch ,Ja quiero a morir", so auch der Titel einer in Venezuela bekannten Salsa und eines Merengue.3 Vor dem Hintergrund der tragischen Handlung wird dem Liebestod in Caracas jedwede Aura entzogen. Der andere Titel, El Valle, bezieht sich auf einen Stadtteil von Caracas, nicht gerade der friedlichste. Nimmt man den Film etwas genauer unter die Lupe, erkennt man eine Engfiihrung von Geburt und Tod. Diese wird zum Teil durch drastisch-kühne Schnitte und Szenenabfolgen erreicht. So etwa zwischen der abschreckenden Auftaktszene, in welcher der Mörder über sein Opfer zum Priester sagt: „Er wäre besser nie geboren", und der folgenden Sequenz im Kreißsaal, mit ihren HellDunkel-Kontrasten. Die Tonspur deutet zusätzlich zur Violinmusik auch einen Herzschlag an. Die Szene4 mündet in eines der Leitmotive des Filmes, das des Kurzschlusses. Er ist überwiegend der Figur Aixa zugeordnet. Das Motiv drückt in der Symbolsprache des Bildes das gestörte Verhältnis zu ihrer Umgebung aus. Es wird noch gesteigert in den Passagen, in denen sie sich de facto gänzlich von der Umwelt abkoppelt, wenn sie in ihrem einzigen Refiigium, bezeichnenderweise der Fahrstuhlschacht, in die Drogenwelt flieht. Eine Parallelszene gegen Ende des Filmes, in der die Nähe von Geburt und Tod sinnfällig wird, spielt im Fahrstuhlschacht. In Abhebung von und Anlehnung an die unmittelbar davor eingefangene Geburt des Kindes der Mulattin Daisy, die mit ihrem Mann Anselmo im selben Wohnblock wie Aixa lebt und ein glückliches, bürgerliches Paar bilden zu können scheint, das als Kontrast, als Spiegel zu Aixa und Ramón entworfen wird, sieht man Aixa hier bei ihrem Selbstmordversuch von nach oben fahrender Kamera in fötaler Position, gleichzeitig entsteht der Eindruck eines Grabes, in dem sie liegt. Das Blackout-Motiv tritt erneut auf den Plan. Die folgende Passage zeigt, wie die junge Mutter Aixa ins Krankenhaus taumelt, nun entschlossen, ihr Kind zur Welt zu bringen. Dort tritt zur Geburt dann erneut der Tod, da Aixa erschossen wird. Nochmals verdichtet wird das in der vorletzten 3
Das Original ist vom französischen Liedermacher Francis Cabrel. Stricto sensu miisste immer von Sequenzen die Rede sein.
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Einstellung des Filmes: die glückliche Mutter Daisy mit ihrem Neugeborenen wird just in dem Moment hinter Sergio, dem Arzt, vorbei geschoben, als Ramón auf ihn zielt. Bevor Schüsse fallen, dunkelt die Szene ab. Ein in Schrecken „offenes Ende"; das heißt, die Kamera zeigt die Katastrophenszenerie nicht mehr direkt und trotzdem wird nicht verheimlicht, was vorgeht. Ramón, der Vater des Kindes, spielt die entscheidende Rolle bei der Vernetzung von Tod und Geburt. Gerade er, der malandro, der Verbrecher, der merkwürdigerweise das Kind ja haben will und sich dafür auch ausgesprochen hat („yo ya he vivido, pana") antizipiert in einer Schlüsselszene für seine Person tragisch das Ende: er hält Aixa die Pistole auf den Bauch und sagt ihr gleichzeitig: „Komm ja nicht drauf, das Kind da herauszuholen, der bleibt dort, bis Papa Gott entscheiden wird" („Cuidado con sacarte el chamo. Se queda allá hasta que papá Dios decida"). Eine zentrale Sequenz zur Verdichtung Geburt - Tod soll weiter unten analysiert werden. Ein weiteres Thema ist das Dilemma zwischen Kirche und medizinischer, pragmatischer Ethik. Der Film transportiert diesen Konflikt fast ausschließlich durch die emblematische Figurenpolarisierung Arzt - Pfarrer. In den zugespitztplakativen Dialogen der beiden wird der Streit zwischen Glauben und Wissenschaft) ausgetragen. Beide sind Personifikationen, jedoch kommt es in der Figurenzeichnung zu auffälligen Verschiebungen. Für mich ist es ein Qualitätsmerkmal des Filmes, dass hier nicht stereotype Figuren reproduziert werden. Der Pfarrer Carmelo hat nichts vom beratenden, einfühlenden Geistlichen, ganz im Gegenteil; er ist dunkel gezeichnet, lacht nie; von ihm geht gar ein gewisses Gewaltpotential aus. Die Kamera zeigt ihn vorwiegend aus der Untersicht. Seine von Gewalt nicht freie Vorgeschichte wird erwähnt, aber nichts konkretisiert. In den emotionalen Auseinandersetzungen mit Sergio auf dem Sportplatz des Wohnblocks wird er tätlich. Seine Präsenz in der Bar-Szene wirkt latent gewalttätig, dadurch gewinnen seine Aussagen, ohne dass er es - auf Figurenebene will, einen ironischen, teilweise zynischen Charakter. So zum Beispiel in der Bar bei einem der (zunächst) verbalen Schlagabtausche zwischen ihm und Sergio, von dem er sich mit den Worten verabschiedet: „Pass auf dich auf, Sergio! Die Schlange gehört nicht zu mir!" Natürlich könnte man sagen, der Priester sei der Vertreter einer Institution in einer dergestalt entmenschlichten Umgebung, dass da auch diese Einrichtung keine wirkliche Alternative darstellen kann - wie überhaupt von keiner Seite ein echter Ausweg angeboten wird, angeboten werden kann. Am Beginn der Sequenz mit dem Duell der beiden auf dem Sportplatz, als Carmelo Sergio verletzt, fragt Sergio den Geistlichen: „¿Te gusta la carajita?" damit bezieht er sich sowohl auf den Ball (im Spanischen weiblich: la pelota, la bola), etwa: „Möchtest du die Kugel haben?", als auch auf Aixa: „Gefällt dir das Mädchen?" So wird angedeutet, um wen der Konflikt zwischen den beiden im Grunde auch kreist. 158
Im Film wird einerseits die sprachliche, wenn man so will, bewusste Ebene zwischen dem Pfarrer und dem Gynäkologen gezeigt. Komplementär, beziehungsweise diametral dazu, werden aber durch die Bildersprache gleichsam als Filmogramm noch ganz andere Aussagen gemacht und Emotionen generiert. Vor dem Hintergrund der Verschränkung von Liebe und Tod besonders brisant ist die Szene, in welcher Ramón und Aixa unter Drogeneinfluss intim werden, kontrastiert oder parallelisiert mit der tierischen Sexualität im Hühnerkäfig. Die von ihnen beim Akt eingenommenen Drogen in Tablettenform werden mit dem Hühnerfutter von Carmelo, dem Priester und seiner Präsenz überblendet. Eine der aufschlussreichsten und merkwürdigsten Sequenzen des Filmes. Der Arzt Sergio wird freundlicher gezeichnet, er wird oft in leichter Obersicht in Szene gesetzt. Er scheint sich Uber seine Situation im Klaren zu sein und könnte sogar an den Arzt in Camus' La peste erinnern. In den brillanten Dialogen mit dem Geistlichen sind es die Aussagen des Arztes, die vor dem Hintergrund von Aixas Situation den Konflikt auf den Punkt bringen. Etwa wenn er auf Carmelos Aussage „Wir sind hier, das Leben zu verteidigen" entgegnet: „Welches Leben, was für ein Leben denn noch?!" Am Ende sind beide machtlos und werden vom Geschehen gezeichnet. Carmelo gibt auf (sein letzter Auftritt zeigt, wie er sich in der Kirche resigniert auf die Stufen setzt). Sergio nimmt zwar schließlich Aixa im Krankenhaus auf, er hatte sich geweigert, gegen deren Willen einen Abort vorzunehmen, sagte Aixas Großmutter dann aber doch zu, Aixa die Abtreibung nahe zu legen. Schließlich hat er sich eine Pistole gekauft und wird direkt in den bewaffneten Konflikt hineingezogen. Bei aller Drastik, die die Diskussionen zwischen Arzt und Priester bieten, sie gehen an der mutistischen Aixa vorbei. Während die Umgebung explodiert, droht Aixa zu implodieren. Mehr noch, Priester und Arzt sind Eindringlinge in der Wohnung Aixas, zugespitzt in der Einladungsszene, als - außer Ramon alle zentralen Figuren auf engstem Raum anwesend sind. Hier soll die Cumbia, die aufgelegt wird, zum Tanz aufspielen: „En tu vida me meti y ahora no me voy de allí.**5 Außerdem kann man Teile des Films so auslegen, dass sowohl Sergio, der Arzt, als auch Carmelo, der Priester, es in gewisser Weise auf Aixa abgesehen haben. Die folgenden Szenen weisen darauf hin, dass die Interessen von Arzt und Priester an Aixa keineswegs vorteilsfrei und besonders lauter sind: Es scheint oft eher um Besitzen-Wollen als um Helfen-Wollen zu gehen: Die erwähnte Szene beim Fußballspielen, der signifikante Akt des Schuhe-Bindens zwischen dem Arzt und Aixa, Carmelos vereinnahmende, quasi diabolische Blicke auf Aixa, die Szene in der Kirche, in der Carmelo sie anfasst; dann der Match-Cut mit dem Wasserglas, eine gewisse sexuelle Symbolik, die hier in der Deutung aber nicht Uberstrapaziert werden soll: Carmelo hatte Aixa ein Glas Wasser angeboten, trinkt dann selbst und setzt das Glas langsam ab, im unver5
Leider ist das in den Untertiteln der deutschen Fassung nicht übersetzt: „Ich bin in dein Leben eingedrungen, und jetzt wirst du mich nicht mehr los".
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muteten Cut in die obskure Bar ist es gerade Comiquita, der skrupellose Polizeimafioso, der mit dieser Bewegung seine Drogendeals beendet. Ein weiteres Thema ist die Orientierungslosigkeit einer jungen Generation in Venezuela, genauer: in Caracas. Wie schon konstatiert, fehlt ein wirklich positiver Gegenentwurf gänzlich. Die Lebensform von Aixas jung gebliebener Mutter mag zwar die Attitüde einer ganzen venezolanischen Generation widerspiegeln, aber gerade hierin liegt dann eben auch ein Verhängnis. Aixas Leben unterliegt einer Invasion von allen Seiten, es bleibt ihr kein wirklich persönlicher Raum, die Enge trägt zur fehlenden Intimsphäre, die Anonymität zur Isolation bei. Der Aufzugschacht, in dem Aixa oft gezeigt wird, erinnert auch an einen Käfig, zumal wenn man an den wirklichen Hühnerkäfig denkt, der im Film quasi als Versatzstück fungiert. Die Anonymität greift bis in den Titel. Dieser lautet nicht,,Aixas Liebe und Tod in Caracas", sondern Caracas steht an erster Stelle, Caracas ist vielleicht die eigentliche Protagonistin des Films, gerade in den gezeigten settings, die usurpierte Anonymität des Wohnblocks, wie es zigtausende mehr in Caracas gibt. Auch der ursprüngliche Titel El Valle zielt auf die Stadt, nicht auf die Personen). Die Aufnahmen und Kameraschwenks über den Wohnblock zeichnen sich durch die verzerrten, „unmöglichen" Dimensionen aus, die Weitwinkeleinstellung der Skyline kontrastieren mit der Enge im Appartement, das in verwaschenen, leblosen Farben porträtiert wird. Die erste und die letzte Einstellung des Films zeigen Caracas als gesichtslose Stadt, den Moloch Großstadt, der niemals schläft, um am Morgen nach der Tragödie doch wieder zu erwachen, als ob er bereit wäre für das nächste Todesdrama. So ist es nicht nur die gesichtslose, sondern auch die geschichtslose Stadt, in und nach der Geschichte von Aixa. Ausweglosigkeit ist aber auch auf der Metaebene des tragischen Konfliktes angesiedelt, dort wo es kein Entrinnen gibt. Die Tragödie kommt erst nach dem Tod des Protagonisten zum Stillstand; so will es das Genre. Ein Jahr vor der Produktion des Filmes, 1998, wurde in Caracas Alejandro Rebolledos Pin, pan, pun veröffentlicht, ein Buch, das in Venezuela schnell zum Kultroman nicht nur der jungen Generation avancierte. Alejandro Rebolledo ist der Sohn des bekannten venezolanischen Filmemachers Carlos Rebolledo (Cinemateca Nacional de Venezuela) und auf nationaler Ebene als (Szene-)Discjockey hervorgetreten. Das von der Erzählstruktur her komplexe Werk ermöglicht in den in der ersten Person erzählten Kapiteln einen aufschlussreichen Einblick in die Haltung des jungen Caraqueño Luis, der Züge des Autors trägt. Der Roman hat wohl auch deshalb so schnell Karriere gemacht, weil er das Lebensgefuhl der jungen Menschen auszudrücken vermag. Es ist dabei ein interessanter Prozess zu verzeichnen: Zunächst fing Rebolledo bei der Niederschrift den Soziolekt der jungen Leute, der gerade in Gebrauch, in Mode war, ein, wobei er ihn noch zugespitzt und an exponierten Stellen ironisiert. Schon allein durch die Niederschrift, die Literarisierung und durch den so hinzugewonnenen humoristischen Beiklang vieler eigentlich ephemerer Redewendungen konnte später der 160
Prozess in die andere Richtung verlaufen: Die junge Generation bedient sich im Rekurs auf das Buch seines Jargons. Das erwähnte Lebensgefühl könnte man zusammenfassen mit dem Begriff eines Postnihilismus, für den im Roman von Zeit zu Zeit Nietzsche als Pate herhalten muss. Postnihilismus im Sinne einer noch radikaleren Sinnentleerung und Selbstentfremdung - „No sé qué coñodemadre soy" (Rebolledo 1959: 156), sagt Luis von sich selbst; das erste Unterkapitel heißt „Limbus" - Postnihilismus zugleich aber auch in der Bedeutung einer „Überwindung" und Negation des Nihilismus in der totalen Indifferenz. Insofern kann der Erzählerprotagonist des Romans trotzdem noch Distanz zum Geschehen, zur Realität in Caracas um die Jahrtausendwende einnehmen. Das ist für die Figuren von Balzas Werk nicht möglich. Aixas Apathie ist alles andere als Indifferenz. Auch für Ramón nicht, dessen Tragik darin besteht, dass er als Schwerverbrecher, während er gleichzeitig mordet, zum Anwalt des Lebens wird, das er selbst dann mehrfach auslöscht. Als Mörder kann er aber per se nicht zum tragischen Helden avancieren. Bereits Aristoteles hatte in seiner Dramentheorie die Wahl eines mittelmäßig guten Menschen als Helden anempfohlen. Die tragische Protagonistin ist statt Ramón Aixa. In Rebolledos Roman wird gerade auch über die Sprache, die dann und wann ins Komische umschlägt, Distanz geschaffen. Balzas Film ist in seiner deprimierenden Atmosphäre beinahe völlig frei von Momenten des Comic Relief6 Das Motiv des Huhns, das einige Passagen verknüpft, wird ad absurdum geführt, es ist schlussendlich durch seine Verfremdung in einem Ambiente, in das es nicht passt, grotesk: out of place. Natürlich ist es auf dem Dorf in Venezuela üblich, die Dienste des Arztes mit Realien, also beispielsweise einem Huhn für den &7/jcoc/>0-Suppeneintopf, zu bezahlen, aber in Caracas im Klinikum erzielt dieses Relikt familiärer, dörflicher Beziehungen und Strukturen andere Wirkung, vermehrt noch vor dem Hintergrund des anonymen Wohnblocks, in dem jeder jeden nur noch auf fatale Weise kennt, wie (nicht nur) Sergio erfahren muss.7 Die Sequenz der Paarberatung beim Frauenarzt gewinnt mit Sicherheit komische Züge, aber selbst hier scheint das soziale Elend auf: Der erneute Kinderwunsch einer der Frauen hätte ganz konkrete wirtschaftliche Schwierigkeiten zur Folge. Doch dieses komische Moment blitzt nur kurz auf, wird völlig an den Rand gedrängt. Vom Tempo und von der Szenenabfolge her erinnert Pin, pan, pun im intermedialen Vergleich eher an Amores Perros (2000) des mexikanischen Regis-
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Das ist in der Dramentheorie der Terminus technicus für die Szenen der Tragödie, die in den Fall hinab zum bitteren Ende ein retardierendes, gegensätzliches Moment einwirken sollen, damit die Schrecknisse besser zu ertragen seien. Man denke an die Porter-Scene in Shakespeares Macbeth, oder an die Totengräber-Szene in Hamlet. Etwa wenn er unfreiwillig Zeuge davon wird, wie Ramón mit einem Komplizen einen brutalen Mord an zwei Insassen eines Autos, das an der Ampel halten musste, begeht.
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seurs Alejandro González Iñárritu mit Gael García Bernal in der Hauptrolle.8 Bekommt der Rezipient von Pin, pan, pun gerade eine eigentümliche Introspektion in die Figur Luis, so bleibt das Innenleben Aixas letztlich ausgespart, es wird ex negativo über die Außenwelt abgebildet. Dies hängt nicht nur mit dem Genre - hier Roman, da Film - zusammen. Luis Buñuels Großstadt-Klassiker Los olvidados (1950), der die Verbrechen und das Leiden der Straßenkinder in Mexiko City einfangt, beispielsweise operiert mit einem ganz anderen Inventarium, um seine Personen und deren Motivationen abzubilden. Balza zeichnet die Protagonistin nicht psychologistisch. In der Ästhetik der Kontraste korrespondiert ihr die Zeitlupe, die ihre Unentschlossenheit und Apathie andeuten kann. Ramón hingegen wird mit dem Motorrad und der Waffe gezeigt, zu ihm gehören die schnellen Szenen. Bei der Rezeption von Amores Perros wird aufgrund des Tempos und der impulsiven Musik (unter anderem Techno-Merengue) beim Zuschauer tendenziell Erregung und Herzklopfen hervorgerufen, aber keinesfalls Betroffenheit (außer vielleicht bei der Figur von El Chivo). Dies kann Caracas, amor a muerte leisten. Daher könnte das Werk von dieser Seite aus als filmische Tragödie im aristotelischen Sinne gelesen werden, „eleos" und „phobos", „Mitleid und Furcht" (vgl. Lessing 1972 [1767]: 411-414 u. 422) können sich des Zuschauers ermächtigen.9 Rolf Grimminger führt in seinem Aufsatz „Der Tod des Aristoteles. Über das Tragische und die Ästhetik der Gewalt" (2000: 10-23) die Konfiguration von dionysischem Rausch und apollinischer Intellektualität nach Nietzsches Ästhetik ein: Apollo beharrt auf einem abgestuften Differenzkriterium zwischen den verschiedenen Melodien der Lieder vom Tod. Den populären geht die Form der Reflexion nämlich weitgehend ab, sie wollen womöglich nur den Dionysos, den ganz zu haben aber auch ihren [medialen, G.B.] Vermittlungen nicht gelingen kann. Das Authentische lässt sich nicht vorspielen, ohne seinen Charakter [als solches, G. B.] zu verlieren (Grimminger 2000: 20).
Die genannte Reflexion könnte als Differenzkriterium zu Filmen wie der brasilianischen Cidade de Deus10 oder dem ekuadorianischen Erfolgsfilm Ratas, ratones y rateros dienen. In Lateinamerika wird oft genug das dortige Vergessen beziehungsweise die Verdrängung (zeit)geschichtlicher Ereignisse angemahnt. Man kann etwa an García Márquez' Auslegung seiner Passage aus Hundert Jahre Einsamkeit denken, in der das Massaker an den streikenden Plantagenarbeitern dargestellt ist (2001 [1967]). Der kolumbianische Autor kommentierte, es sei schon tragisch
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Dessen jüngstes Werk, El crimen del padre Amaro (Die Versuchung des Padre Amaro, 2002), kreist übrigens um einen ähnlichen Konflikt wie Caracas, amor a muerte. Nach Lessing zielt Aristoteles' Tragödienkonzept auf die Erregung von „Jammern und Schaudern", es sollte jedoch „Furcht und Mitleid" generieren. Verleihtitel in Deutschland: City ofGod.
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genug, dass solche Übergriffe vorkämen, gleichermaßen bestiirzend sei aber das Vergessen und das Übergehen zur Tagesordnung als ob nichts geschehen wäre und damit die Wiederholung des Vorgefallenen. Oder man denke an das Projekt der Katholischen Kirche Guatemalas, das Recuperación de la memoria histórica,n heißt. Cidade de Deus wurde wohl zu Recht vorgehalten, nur den Status quo abzubilden und daraus noch Kapital zu schlagen. Hat denn nun aber Gustavo Balzas Caracas-Film epische Reflexionsmomente? Wohl kaum, dann wäre Ergriffenheit so nicht möglich, das Mit-Leiden gehört zur Katastrophendramaturgie. Um den Modus Operandi des Filmes weiter aufzuschlüsseln, sollen noch andere Parameter seiner Faktur und Dramaturgie genauer angeschaut werden. Dem Film ist als Strukturprinzip die bereits erwähnte Ästhetik der Kontraste eingeschrieben, nicht nur hinsichtlich der Personenkonstellation. In einem Netz von überladenen Bezügen aufeinander und gegeneinander steht Aixa verbindungslos im Zentrum, auch wenn sie Bindungen sucht. Den meisten Hauptpersonen ordnet der Film einen spezifischen Schauplatz zu: Sergio und Carmelo stehen für ihre Institutionen, daher das Kranken-, beziehungsweise das Gotteshaus. Beide Einrichtungen werden hier fast ausschließlich im Notfall aufgesucht, der sakrale Raum scheint kein Refugium in der transzendentalen Obdachlosigkeit (Lukács) mehr sein zu können, selbst das von Jefferson aufgesuchte Kirchenasyl wird ihm nur unwillig gewährt. Der Sportplatz ist Ort der Konfrontationen zwischen Priester und Arzt, hier wird der Konflikt öffentlich; und er wird in seiner sozialen Dimension gezeigt, lockt sogar Zaungäste an. Zu Aixas Großmutter gehört die Wohnung. Beachtenswert ist, dass Ramón, dem die Straße zugewiesen ist, stets von unten nach oben zum Apartment schaut, er ist der Outsider und findet in die familiäre Struktur keinen Einlass, auch wenn er es mit Gewalt begehrt. Oben - Unten und Innen - Außen werden kontrastiert. Aixa sehen wir in den in Zeitlupe gefilmten Passagen, besonders auf den Gängen des Wohnkomplexes. Ihr Raum ist, wie bereits erwähnt, auch der Aufzugsschacht. Über weite Strecken könnte man den Eindruck gewinnen, einen Schwarzweißfilm zu sehen. Hell-Dunkel-Kontraste überwiegen, oft werden große düstere Flächen eingefangen. Als Zeit der Handlung wird der Nacht ein besonderer Stellenwert zugewiesen, dies ist das Elixier Ramóns und Jeffersons, die Candela, auch des gewalttätigen Comiquita. Das Motiv des roten Luftballons ist zunächst mit Aixas kleiner Schwester verbunden. Sie spielt damit anfangs im unaufgeblasenen Zustand, gerade dann, als es zum Streit zwischen Aixas Mutter und Großmutter kommt, der um ungewollte Schwangerschaft und damit auch um Verhütung kreist; daher sind die bildlich eingefangenen Assoziationen klar. Später steckt sich das Mädchen den " D t . : Wiedergewinnung/Aufarbeitung der geschichtlichen Erinnerung.
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aufgeblasenen Ballon sogar unter den Pullover, sie spielt also Schwangerschaft. Ganz am Ende, nach der Katastrophe im Krankenhaus, sieht man den Ballon vor der Kulisse des Häuserblocks aufsteigen. Die Interpretation überlasse ich hier dem Zuschauer, aber es ist darin wohl kaum ein Zeichen der Hoffnung zu sehen. Für die Ästhetik der Gewalt des Films - nicht zu verwechseln mit Ästhetisierung von Gewalt - besonders aufschlussreich ist die Passage, in welcher der Musiker Anselmo von den brutalen Polizisten und Drogenhändlern gezwungen wird, auf der Mandoline zu spielen. Der kubanische Musiker Compay Segundo hat einmal gesagt, kein anderes Instrument vermöge die Seele so auszudrücken, wie das die Gitarre kann. Anselmo ist der Mann der ebenfalls schwangeren Daisy. Hier ist auch die bereits behandelte Engfìihrung von Geburt und Tod auf subtilste Art und Weise gelungen. Einerseits muss hier Anselmo vor seiner fragwürdigen Klientel aufspielen. Kontrastiv sieht man in Parallelmontage seine Frau allein zu Hause, die sich wegen seiner Abwesenheit und der weit fortgeschrittenen Schwangerschaft ängstigt. Comiquita, der kriminelle Polizist sagt dabei zu Anselmo: „¿No quieres entrar al business?" [„Du willst also nicht ins Geschäft einsteigen?" - gemeint sind die Drogendeals.] „Pobre barrigona, en vez de billete le llevan bandola." [Auf Spanisch alliteriert und reimt sich das noch zusätzlich. Wörtlich: „Arme Dickbäuchige, statt Kohle bringt der ihr 'ne Mandoline mit."] „Vamos a ver qué es lo que tú le tocas a tu barrigona. ¡Toca! ¡Toca! ¡Toca!" [„Woll'n mal seh'n, was du deiner Dickbäuchigen spielst. Spiel schon, los, spiel schon!" Zu beobachten ist das Wortspiel mit dem spanischen „tocar un instmmento"„ein Instrument spielen"; zunächst heißt „tocär" anfassen, anlangen, berühren. Folglich heißt „Vamos a ver qué es lo que tú le tocas a tu barrigona" gleichzeitig: „Woll'n mal seh'n, wo du deine Dickbäuchige anlangst." Zudem wird die schwangere Daisy zu Hause so von der Kamera eingefangen, als ob sie fühlte, was vorgeht, als ob sie berührt wäre.]
Die metonymische Verschränkung von Musikinstrument, Hohlraum und Bauch der Schwangeren, beinahe simultan gezeigt, hält der Zerstörung des Instruments die Schwangere entgegen. Übrigens sagt man im Spanischen und auch im Portugiesischen dann und wann, eine Frau habe einen „cueipo de violin", einen sinnlichen Körper mit Violinenform, die Analogie ist einsichtig. Als Sergio Anselmo kurz darauf eine neue Mandoline schenkt, bleibt Anselmo im Bild und fragt: „¿Dónde sacaste esta marni?" [„Wo hast du denn das süße Mädchen her?" oder „Wo hast du denn die Hübsche her?" - er möchte wissen, wo Sergio die neue Mandoline aufgetrieben hat.] Da es sich um eine Gefäß-Inhalt-Metonymie handelt, wird auch auf das Kind und sein Schicksal angespielt. Dazu kommt, dass mittels des Kurzschlussmotivs auf Aixa verwiesen wird, die im Zentrum des Films steht. Im Kontrast wirkt die Szene besonders stark. Da ist zum einen 164
die einfühlende, sinnliche Intimität der Schwangeren: in dem Moment als Daisy, die sich den Bauch streichelt, in den Blick kommt, wird auf der Tonspur der Gesang einer Frauenstimme eingespielt. Ihr korrespondiert auch der harmonische, virtuose Umgang mit der anderen Dickbäuchigen, dem Instrument, da dann während der weiteren Parallelmontage die Tonspur mit der Mandolinenmusik weiterläuft. Schließlich kommt es zu einer Darne macabre der Mafiosi. Anselmos filigrane Fingerarbeit beim Zupfen des Instruments wird in Großaufnahme gezeigt, in Korrelation dazu Daisys feinmotorische Arbeit der Finger beim Schreiben. Erneut wird Anselmo beim Spielen gezeigt, in dem Moment heben die Kriminellen in Zeitlupe einen Stuhl und das Instrument auf, kurz wird wieder Daisy gezeigt, wie sie sorgenvoll nach oben schaut, und dann bricht brachial noch in Zeitlupe die Gewalt herein, Comiquita und sein Handlanger zerschlagen den Stuhl Uber dem Kopf von Anselmo und das Instrument auf dem Tisch. In Szene gesetzt wird nicht (direkt) die Verletzung Anselmos, sondern die Zerstörung des Instruments, als ob mit der Zerschlagung des Instruments die Harmonie zerstört würde. Die Kunst, im Wortsinne ver-körpert durch die Mandoline, scheint nicht in diese Umgebung zu passen. Auch in die Welt von Anselmo und Daisy, die im selben Wohnblock wie die Protagonisten (außer Ramón) leben, bricht die andere Wirklichkeit ein. Schlussendlich kann sich hier keiner entziehen. Es folgt das Kurzschlussmotiv. Anselmo wird kurz darauf mit Blick auf den Mandolinenkasten, als er selbst genäht wird, sagen: „A ella no hay quién la cosa" („Die kann keiner mehr zusammenflicken"), die Kamera suggeriert in einer Zoombewegung die metaphorische Verbindung von Bauch und Mandolinenkasten, eventuell auch als Antizipation des Endes von Daisy selbst und von Aixa. Durch diesen zumindest an den wesentlichen Stellen subtilen Umgang mit Gewalt beim filmischen Erzählen setzt sich Gustavo Balza von den meisten der genannten lateinamerikanischen Filme und deren Umgang mit Gewalt ab. Man könnte auch an Barbet Schröders La virgen de ¡os sicarios12 denken, einen Film mit anderer Stoßrichtung, von Beginn an. Balza entflieht der schwierigen Realität in Caracas nicht in irgendwelche seichten Scheinwelten; dies tut seine venezolanische Regiekollegin Fina Torres in Las mujeres arriba13 mit Penèlope Cruz als brasilianischer Fernseh-Gourmetköchin in den Vereinigten Staaten. Andererseits unterliegt der junge Regisseur auch und gerade in einer von Gewalt bestimmten Umwelt nicht der Versuchung, nur den Dionysos haben zu wollen.
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Dt.: Die Madonna der Auftragsmörder. Women on Top.
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Literaturverzeichnis Caipentier, Alejo (1983) [1949]: „El reino de este mundo", in: ders. (1983): Obras completas. II, México: Siglo XXI. García Márquez, Gabriel (2001) [1967]: Cien años de soledad. Madrid: Cátedra. Grimminger, Rolf (2000): „Der Tod des Aristoteles. Über das Tragische und die Ästhetik der Gewalt", in: ders. (Hrsg.) (2000): Kunst, Macht, Gewalt. München: Fink, S. 10-23. Lessing, Gotthold Ephraim (1972) [1767]: Hamburgische Dramaturgie, hrsg. v. Klaus Berghahn, Leipzig: Reclam. Rebolledo, Alejandro (1998): Pin, pan, pun. Caracas: Libros urbe. Riquelme, Horacio (1990): „Das grausam Wirkliche", in: ders. (Hrsg.) (1990): Zeitlandschafl im Nebel. Menschenrechte, Staatsterrorismus und psychosoziale Gesundheit in Südamerika. Frankfurt/M.: Vervuert.
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Oliver Diehl / Wolfgang Muño
Nach dem Referendum: Sieg für die „Revolution" - Aufbruch für Venezuela? Wieder ein Sieg für Chávez „Venezuela cambió para siempre, ya no hay retomo al pasado, la IV. República ha muerto." So begann die Ansprache von Hugo Chávez, als er am 16. August 2004 um kurz nach halb fünf Uhr morgens vom Balkon des Palacio Miraflores zu seinen Anhängern sprach. Vor weniger als einer Stunde, um 3.47 Uhr, hatte der Vorsitzende des Nationalen Wahlrates CNE (Consejo Nacional Electoral), Francisco Carrasquera, das vorläufige amtliche Endergebnis des Referendums bekannt gegeben: 4.991.483 Stimmen für das NO, 3.576.517 Stimmen für das SI. Damit war das Referendum, von Regierungsgegnern mit dem Zusatz revocatorio, von den Chávez-Befürwortern confirmatorio betitelt, für die Opposition gescheitert. Bei einer Rekord-Wahlbeteiligung von fast 80% hatte sie nur 41,75% der Wähler auf sich vereinigen können; die Chávez-Anhänger und Befürworter des NO kamen jedoch auf 58,25% der abgegebenen Stimmen.1 Damit bestätigten sich die Umfragewerte des North American Opinión ResearchInstituts, das bereits im Juni 2004 prognostiziert hatte, dass sich etwa 57% der Venezolaner für die Fortführung der jetzigen Präsidentschaft aussprechen und nur insgesamt 41% der Opposition ihre Stimme geben würden.2 Während das Ergebnis die chavistas auf den Straßen von Caracas in Jubel versetzte, machte sich bei den Sympathisanten der Coordinadora Democrática 1
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Im Jahr 1998 war Hugo Chävez mit 3.757.773 Stimmen gewählt worden. Damals lag der Anteil der NichtWähler bei knapp 56%. North American Opinion Research (2004) - Befragte insgesamt: 2.612; Fehlermarge: 23%; Datum der Befragung: 18.-25.6.2004. Bemerkenswert ist, dass eine von der Tageszeitung El National veröffentlichte Umfrage des Instituts Ultimos Noticias von Ende Juni 2003, also ein Jahr vor dem Referendum, ähnliche Zahlen suggeriert: 57% Zustimmung für den Präsidenten, 43% Ablehnung. Hieraus lässt sich eine konstant hohe Zustimmung filr Chävez, zumindest in den zwölf Monaten vordem 15. August 2004, ableiten.
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(CD) maßlose Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit und Wut über die erneute Niederlage breit. Die Bilder erinnerten an den April 2002, als Chávez nach dem missglückten Putschversuch ins Amt zurückkehrte. Die extreme Spannung, die Venezuela in den Tagen vor der Abstimmung beherrscht hatte, wich nur langsam von den Beteiligten. Allen war klar, dass der Wahlsieg für die Konsolidierung der Fünften Republik von entscheidender Bedeutung war. Noch kurz vor dem Referendum über die Fortführung der Präsidentschaft bis 2006 stand die Frage im Raum: Wird Hugo Chávez auch im Fall einer Niederlage den von ihm selbst proklamierten demokratischen Prinzipien der „Bolivarischen Revolution" treu bleiben? Wird Chávez versuchen, sich mit Gewalt an der Macht zu halten und damit als der Autokrat entlarven, als den ihn die politische Opposition seit Jahren brandmarkt? Nach dem 15. August 2004 gibt es - zunächst - keinen Grund zu weiteren Spekulationen in diese Richtung. Selbst wenn das Referendum durch einem Sieg des SI in eine Präsidentschaftswahl gemündet wäre: Hugo Chávez wäre erneut als Kandidat angetreten. Das venezolanische Verfassungsgericht hatte diese Möglichkeit im Juni 2004 noch einmal ausdrücklich bestätigt. Dagegen war die Oppositionsbewegung vor dem Referendum nicht in der Lage, eine eigene - überzeugende - personelle Alternative zu benennen. Es ist deshalb anzunehmen, dass Chávez gegenüber möglichen Bewerbern der CD erneut die meisten Stimmen erhalten hätte. Trotz des klaren Sieges der Chávez-Befurworter darf weiter daran gezweifelt werden, ob Venezuela in nächster Zeit zur Ruhe kommt. Nun ist es die Opposition, der man unterstellen muss, dass sie die Niederlage nicht akzeptieren und mit unlauteren Mitteln versuchen wird, die Regierungsarbeit zu unterlaufen. Erste Reaktionen deuten darauf hin, dass die Hardliner in der CD den Sieg des MVR (Movimiento Quinta República) auf keinen Fall hinnehmen werden. Zu groß war der Anspruch auf moralische und demokratische Überlegenheit, zu groß nun der Gesichtsverlust vor den politischen Gegnern und der internationalen Öffentlichkeit. Auch nachdem die Wahlbeobachter der OEA (Organización de los Estados Americanos) und des Carter Center keinen Anlass sehen, am vorliegenden Ergebnis zu zweifeln, ruft die Opposition fraude (Betrug) und wittert die „elektronische Manipulation". Niemand erwartet jedoch, dass eine bevorstehende - wahrscheinlich stichprobenartig durchgeführte - manuelle Auszählung der Stimmen andere Verlierer kennt als die bereits bekannten.
Gott, Bolívar und die Demokratie: Wahl im Rausch der Gefühle Zunächst bleibt festzuhalten, dass die Abstimmung zum referendo revocatorio trotz der polarisierenden Propaganda auf beiden Seiten - allgemein friedlich und fair verlaufen ist. Venezuela folgt damit einer demokratischen Tradition, die auch nach sechs Jahren Regierung Chávez die politische Kultur des Landes prägt. Das ausgeprägte Demokratieverständnis der Venezolaner muss als wirkliche Errungenschaft der politischen Entwicklung seit 1958 - dem Ende der Dik168
tatur von Marcos Pérez Jiménez - gelten, auch wenn in den letzten Jahren mit harten Bandagen gestritten wird. Gemessen an den Befürchtungen, die sich mit der Kontroverse um die Besetzung des Nationalen Wahlrats verbanden (Regierung und Opposition konnten sich nicht auf den politischen Proporz der Mitglieder einigen), hat der CNE organisatorisch und logistisch äußerst gute Arbeit geleistet. Trotzdem führten Ausfälle bei den Wahlhelfern vor Ort und die erstmalige Handhabung der eingesetzten elektronischen Zählmaschinen zu stundenlangen Wartezeiten vor den Wahllokalen. Dieses Problem konnte nur durch eine kurzfristig angeordnete Verlängerung der Öffnungszeiten kompensiert werden. Doch innerhalb weniger Stunden lag ein Ergebnis vor, das noch am gleichen Tag von der internationalen Beobachtergruppe um den ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter und den Generalsekretär der OEA, César Gaviria, als „kompatibel" mit eigenen Ausweitungen akzeptiert wurde. Beide bestätigten die „Normalität" des Urnengangs und beglückwünschten die Venezolaner zu ihrer vorbildlichen Haltung (civismo ejemplarió). Kein Zweifel: Trotz der genannten Schwierigkeiten hatten nur wenige auf eine friedliche Stimmabgabe verzichtet. Die Sympathisanten der beiden Gruppierungen lieferten sich keine gewalttätigen Auseinandersetzungen. Soweit so gut! Doch hier endet die nachvollziehbare Logik des demokratischen Konsenses in Venezuela. Es beginnt die Psychologie der politischen Konfrontation: Für Hugo Chávez und seine Bewegung war und ist die Weiterführung des eigenen politischen Projekts keine Machtfrage im eigentlichen Sinne. Sie ist eine „Glaubensfrage". In seiner Ansprache am Morgen des 16. August interpretierte Chávez das Ergebnis der Abstimmung als „die Stimme des Volkes" und diese wiederum als „die Stimme Gottes".3 Jedoch ist es nicht der religiöse Glaube, der die chavistas beseelt. Es ist vielmehr die permanente „Schlacht um Venezuela" (la batalla por Venezuela), die es immer neu zu schlagen gilt. Für Chávez garantiert der neuerliche Sieg des NO die Kontinuität der „Bolivarischen Revolution"; für seine Anhänger verwirklicht sich das geistige Erbe des libertadors und mit ihm die wahre Bestimmung Venezuelas. So oder so ähnlich ließe sich das wahre Glaubensbekenntnis der chavistas beschreiben. Damit stehen sie im Grunde aber nicht allein. Auch die Politiker der Vierte Republik haben den Mythos „Simón Bolívar" sorgfältig gepflegt. Es war doch nie tiefe innere Überzeugung, die Adecos (Funktionäre der sozialdemokratischen Acción Democrática - AD) und Copeianos (COPEI - Christdemokraten) zu den obligatorisch, quasi-religiösen Ritualen, etwa den regelmäßigen Kranzniederlegungen vor den unzähligen Denkmälern des libertadors, trieb. Die Erinnerung an Bolívar wirkte vielmehr staubig und altbacken. Chávez dagegen ehrt den Befreier mit Inbrunst und Authentizität eines „gläubigen" Militärs. Als 3
Daraufhin dankte er Gott und forderte die anwesende Menge auf, ebenfalls ein Dankgebet zu sprechen.
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charismatischer Führer - ganz im Sinne Max Webers - schafft er es, für eine aus der Unterschicht stammende Mehrheit den Bogen von den Befreiungskriegen gegen die Spanier bis zur Realität der Fünften Republik zu spannen. Zu dieser „antikapitalistischen" Vision gibt es für Chávez nur eine Alternative: die Herrschaft des „Imperiums" - gemeint sind die USA.4 Während also Chávez unter dem Banner der Revolution und Simon Bolivars antritt und dabei jedes Mal „auf Gefühl" setzt, hat sich die Opposition lange auf pragmatisch-rationale Argumente verlassen. Hierbei setzt sie auf die Ober- und Mittelschicht, die sich an nordamerikanischen oder europäischen Vorbildern orientieren. Für die Oppositionsparteien ist es die ,.Demokratie" - ohne Zweifel auch eines der zentralen venezolanischen Symbole - , die sie unter dem Dach der CD versucht, für sich zu besetzten. Die Kritik am antidemokratischen, populistischen und aggressiven Gebaren des Hugo Chávez und seines MVR mag angebracht sein, doch sie hinterlässt auch beim neutralen Beobachter einen zwiespältigen Endruck: Die Kandidaten und Anführer der CD entpuppen sich in der Regel als lang gediente Akteure der ehemals dominanten Parteien. Hier tun sich v.a. ehemals fuhrende Adecos wie etwa Carlos Ortega, Antonio Ledezma, der greise Pompeio Márquez und aus dem Hintergrund immer wieder auch ExPräsident Carlos Andrés Pérez hervor.5 Auch die Namensgebung der Opposition, Coordinadora Democática muss als semantische Anlehnung an das politische System vor 1998 und die Acción Democrática verstanden werden. Die Glaubwürdigkeit dieses Personenkreises muss deshalb als beschränkt gelten, kann jedoch fast keiner behaupten, er hätte sich nicht selbst der politischen Strickmuster des Klientelismus und der Korruption bedient. In dieser Rivalität „Kopf gegen „Bauch", „Arm" gegen „Reich", „Alt" gegen „Neu" überwiegen bei vielen Venezolanern die emotionalen Argumente des Hugo Chávez. Er versteht es, dem Land etwas zu geben, was seit dem gescheiterten Projekt des Rentierstaates, der Venezuela saudita, verloren gegangen schien: eine Zukunftsvision. Eine Perspektive, die sich nicht in der Mangelverwaltung der 1980er und 1990er Jahre erschöpft, sondern eine schillernde Entwicklung des Landes aufzeigt. Hierbei scheint es zunächst einmal unerheblich, ob diese überoptimistisch und realitätsfem klingen mag - zumal für den europäischen Beobachter. Gerade mit seinem Optimismus ist Chávez zum Symbol und zum Hoffnungsträger der vielen unteren Bevölkerungsschichten geworden, die insgesamt immerhin 80% der Bevölkerung ausmachen. Als unermüdlicher Einpeitscher seiner „Revolution" versprüht er Selbstvertrauen und Kampfeswillen, 4 5
Diese Logik erinnert an G. W. Bush, der sich als Star Wars-Fan geoutet hat. Für die chavistas ist er dagegen eine Art Darth Vader. Venpres vom 5.8.2004: "Samuel Moneada, Coordinador Internacional del Comando Maisanta reveló su inquietud en cuanto a los próximos planes de la Coordinadora Opositora con Carlos Ortega, Pedro Carmona y Carlos Andrés Pérez. "Los viejos jefes están tratando de regresar para reforzar a la debilitada Coordinadora, que en su desesperación, está buscando refuerzos en los veteranos de la violencia", señaló."
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auch über die Grenzen Venezuelas hinaus. So wird der ebenfalls als Linksnationalist gewählte und gegenwärtig nicht eben erfolgreich agierende Präsident Brasiliens, Luiz Inácio Lula da Silva, wohl vor den kommenden Wahlen einige Elemente des Chávez-Charismas übernehmen wollen. Doch ist nicht alles der Person Hugo Chávez geschuldet. Es darf nicht unterschlagen werden, dass sich die Regierung in den ersten Amtsjahren durch permanente Personalwechsel auszeichnete und sich erst nach 2002 „gefunden" hat. Mit der personellen Konstanz hat sich auch das politische Auftreten professionalisiert. Besonderen Stellenwert besitzt der Umgang mit den Medien. Hier hat die Ernennung von Jesse Chacón zum Minister für Kommunikation und Information (Juli 2003), verbunden mit einer Ausstattung seines Ressorts mit 60 Mrd. $Bs., für eine deutliche Verbesserung der Außendarstellung der Regierungsarbeit gesorgt. Seitdem hat der mediale Druck auf Chávez merklich nachgelassen, seine Rhetorik wirkt gereifter und überlegter. Zudem versprühen die regierungsnahen Medien seit Beginn des Jahres 2004 nur noch Erfolgsmeldungen über die Entwicklung im Lande, die sie als „Siege der Revolution" ausgeben. Als Beispiel sollen nur einmal die nationalen Schlagzeilen des Internetdienstes Venpres (www.venpres.gov.ve) vom - zufällig ausgewählten - 25. Juli 2004 herangezogen werden: - Chávez Frías destacó avance de las Misiones; - Centro Simón Bolívar adelanta proyectos habitacionales; - Gobierno Nacional adelanta humanización de centros penitenciarios; - Mecdy PdVSA acordan recuperar escuela Gran Colombia; - Supera metas en instalación de escuelas bolivarianas; - Metro de Los Teques estará listo para el 2006; - Inaugurado Centro Integral Simoncito en Carábobo; - Educación es el mayor logro de la revolución; - Crearán planta de basura más moderna de Venezuela. Wer die politische Tristesse und Agonie der Amtsjahre des Chávez-Vorgängers Rafael Caldera miterlebt hat, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Selbst wenn nur die Hälfte dieser Jubelprojekte umgesetzt wird, wäre dies ein riesiger Fortschritt für das Land. Nach der Rhetorik der ersten Chávez-Jahre hat offensichtlich die Phase der Umsetzung und Konsolidierung der „Revolution" begonnen, auch wenn die Dynamik des Aufbaus - in Anlehnung an die in diesem Band ausführlich dargestellte Psychologie des Hugo Chávez - zuweilen als manisch beschrieben werden muss. Doch keiner der gegenwärtigen Oppositionsführer Venezuelas, weder der technokratische Henrique Salas Römer, noch der derb auftretende Gouverneur des Bundesstaates Miranda, Enrique Mendoza, haben es bisher geschafft, die Masse der venezolanischen Unterschicht mit alternativen Projekten auf ihre Seite zu ziehen. 171
„Revolution" konsolidiert - Opposition radikalisiert Erneut hat es Hugo Chävez geschafft, sich mit verfassungsmäßigen Mitteln an der Macht zu halten. Dieser Moment der Entspannung ist im wohl vertraut. Bereits nach dem gescheiterten Putschversuch (2002) und dem Ende des Generalstreiks (2003) muss er ihn in ähnlicher Weise empfunden haben. In beiden Situationen hatte er im Konflikt mit der Opposition nur knapp die Oberhand behalten, jedoch den Moment des Triumphs nicht nutzen können, um seine eigene Politik zu konsolidieren. Nun aber erscheint Hugo Chävez mächtiger als je zuvor. Die Sozialprogramme des vergangenen Jahres, die sog. misones, haben der armen Bevölkerung erste spürbare Verbesserungen in den Bereichen Bildung und Gesundheit gebracht. Bei einem Rohölpreis von US$ 40-50 pro Barrel und einem darauf basierenden Wirtschaftswachstum von geschätzten 8-10% für 2004 können diese Leistungen noch weiter ausgebaut werden. Große Infrastrukturmaßnahmen (Straßen, Eisenbahn, Stromversorgung) sind begonnen worden. Ihre Fertigstellung soll - welche Überraschung - im übernächsten Jahr stattfinden. Vor diesem Hintergrund und der Erfahrung des Referendums kann man sich nicht vorstellen, warum Chävez die reguläre Wiederwahl im Jahr 2006 nicht gelingen sollte. Wird Hugo Chävez nach dieser Wahl auch einsichtiger sein als je zuvor? Seine ersten pathetisch-typischen Äußerungen in der Nacht des Wahlsieges trugen eindeutig konziliante Züge. Chävez rief zur „Union", Verständigung und Toleranz zwischen allen Venezolanern auf: Dieser Sieg sei ein Sieg des Volkes und somit auch einer für die Opposition. Vieles spricht dafür, dass dieses Angebot zur Verständigung ernst gemeint ist. Chävez weiß, dass ihn der permanente Wahlkampf aufzureiben droht und die Umsetzung seines eigentlichen politischen Projekts immer weiter verzögert. In den ersten sechs Jahren der ChävezRegierung gab es - bis auf 1998 - keines, das nicht durch tiefgreifende gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen gekennzeichnet war. Wenn die Regierung in dieser Zeit auch gelernt hat, sich formal „über Wasser" zu halten, so hat sie doch mit dem eigentlichen Regierungsgeschäft kaum Erfahrung sammeln können. Eine Konsolidierung der „Revolution" durch Entspannung des politischen Konflikts muss das unbedingte Ziel der kommenden zwei Jahre sein. Seine Gegner ermahnte Chävez, die demokratischen Spielregeln und damit auch den Verlust der Abstimmung zu akzeptieren. Doch gerade hier trifft er den wunden Punkt der Coordinadora Democrätica: Noch im Morgengrauen des 16. August, nur kurz nach der Veröffentlichung der Ergebnisse durch den CNE, behauptete ein Sprecher der CD, Ramos Allup, die Regierung hätte ein riesiges Täuschungsmanöver initiiert. Eine Manipulation der Wahlmaschinen durch einen ominösen „Algorhythmus" hätte das Ergebnis zum Nachteil für die CD verfälscht, das in Wirklichkeit bei 59,4% für das 57 gelegen habe. Es könne einfach nicht sein, dass „nur" 3,6 Mio. Venezolaner gegen Hugo Chävez gestimmt hätten. Das seien letztlich weniger, als für die Durchfüh172
rung des Referendums unterschrieben hätten.6 Das Wort megafraude (dt. etwa „Riesenbetrug") machte die Runde. Es scheint wie bittere Ironie, dass dieses Schlagwort zuletzt von Hugo Chävez verwandt wurde, als die Opposition damit triumphierte, genügend Unterschriften für ein Referendum zur Amtsenthebung gesammelt zu haben. Die Regierung wollte den „Sieg" ihrer Gegner nicht wahrhaben, war trotz Verifizierung der Unterschriften, den sog. reparos, schließlich aber doch gezwungen, sich dem Referendum zu stellen. Nun wird auch die CD den bitteren Sieg ihrer Gegner schlucken müssen. Die vehement vorgetragene Rhetorik kann den Eindruck nicht überdecken, dass es sich hier um Rückzugsgefechte handelt, die vor allem dem Ziel dienen, das eigene Gesicht zu wahren sowie Gefolgsleute, Geldgeber und internationale Unterstützer bei der Stange zu halten. Die entscheidende Frage wird aber sein, ob wichtige Teile der Oppositionsgruppierungen, die sich bislang unter dem Dach der CD zusammengeschlossen hatten7, aus der Fundamentalgegnerschaft zur Regierung ausscheren und einen konstruktiven Dialog suchen. Unter den bisherigen CD-Führern Pedro Carmona (2002), Carlos Ortega (2003) und Enrique Mendoza (2003) erschien dies weder möglich noch gewünscht. Mit ihrer Alles-oder-Nichts-Strategie hat die Opposition jedoch nur zur Radikalisierung der Situation beigetragen und letztlich Chävez in die Hände gespielt. Die zweite, wohl verheerende, Alternative liegt in der Möglichkeit einer weiteren Radikalisierung der Opposition hin zur Auseinandersetzung mit Waffengewalt. Vor dem Hintergrund des vermuteten Wahlbetrugs werden Stimmen laut, die fordern, zur „direkten Aktion" überzugehen. Ein Vergleich zu Kuba drängt sich spontan auf, muss aber wieder verworfen werden: Im Gegensatz zu Fidel Castro gilt Hugo Chävez als demokratisch legitimierter Präsident. Keine, wie auch immer geartete, „Exilbewegung" könnte international gegen ihn punkten. Zudem würde gewaltsames Vorgehen unweigerlich zur Eskalation mit den ohnehin gewaltbereiten Chävez-Anhänger führen. Venezuela würde über viele Jahre zu einem gefährlichen Pulverfass für die Region. Daran kann auch den grundsätzlich zur CD tendierenden USA nicht gelegen sein: Erst vor wenigen Wochen, am 6. August 2004, musste der für Lateinamerika zuständige „Antidrogenzai" John Walters nach einer Reise ins Nachbarland Kolumbien zugeben, dass der international umstrittene Plan Colombia gescheitert sei. Nicht auszudenken, wenn sich durch eine Radikalisierung der Konfliktparteien in Venezuela grenzüberschreitende Allianzen mit reaktionären „Paras" (Paramilitärs) und linksnationalen FARC-Rebellen bildeten. Es liegt deshalb in der Verantwortung der Oppositionsführer, den Moment der Niederlage als Chance für einen wirklichen, personellen wie programmati6
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Von den 3,7 Mio. Unterschriften, die die Opposition im März 2004 für das Referendum sammelte, wurden nach erneuter Auszählung und Verifizierung insgesamt nur 2,6 Mio. als gültig anerkannt. Gut 2,4 Mio. waren nötig, um das Referendum auf den Weg zu bringen. Die Coordinadora Democrática besteht aus insgesamt 25 Parteien und politischen Splittergruppen sowie etwa 21 Nicht-Regierungsorganisationen, zu denen auch der Gewerkschaftsverband CTV und die Handelskammervereinigung FEDECAMARAS gehört.
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sehen, Neuanfang zu nutzen und radikale Tendenzen bereits im Frühstadium zu kontrollieren. Noch bleibt genügend Zeit, politisch mehrheitsfahige Alternativen zu entwickeln, die im Jahr 2006 erneut zur Abstimmung stehen werden.
Lessons learned? Die Frage, ob die Konfliktparteien aus der für Lateinamerika einzigartigen Erfahrung des Referendums ihre Lektion gelernt haben, muss so kurz nach dem Ausgang der Abstimmung offen bleiben. In seiner Funktion als Präsident Venezuelas hat Hugo Chavez zumincest Anzeichen einer möglichen Versöhnungstaktik gegenüber seinen Gegnern herausgestellt; dies wohl eher aus Kalkül heraus, denn aus innerer Überzeugung. Ob er in seiner gegenwärtigen Position der Stärke Bereitschaft zeigt, auf vichtige Teilkonzepte seiner „Revolution" zu verzichten, erscheint fraglich, fir einen ernsthaften Dialog jedoch notwendig. Im Augenblick liegt es in den Reihen der Opposition, den eigenen Groll zu überwinden und Hugo Chavez beim Wort zu nehmen. Ein Toleranz- unl Kompromisskurs gegenüber den chavistas wird vielen ihrer Führer nicht gefallen. Noch weniger einfach wird die Notwendigkeit einer Vorleistung als Zeichen des guten Willens zu vermitteln sein, z.B. in Form einer ausgewogenen Berichterstattung in den privaten Medien. Der Ausgang des Referendums zwingt jedoch diejenigen zu einer Versöhnungsgeste, die keine weitere Radikalisierun; in der Gesellschaft suchen. Individuen oder Gruppen, die die Konfrontation mi? Regierung und MVR durch Gewalt auf die Spitze zu treiben suchen, müssen oine Zögern und mit Konsequenz ausgeschlossen werden, will die Opposition ncht den letzten Rest ihre Glaubwürdigkeit verspielen. Die Reaktion der Devisenmärkte hat gezeigt, dass auch das intermtionale Umfeld auf Stabilität und Kontinuität setzt. Das Experiment der ,3olivirischen Revolution" wird so lange toleriert werden wie es Hugo Chävez gelingt demokratische Mehrheiten an die Wahlurnen zu ziehen. Da dies auf absehbire Zeit der Fall sein wird, steht es ausländischen Beobachter gut an, sich differeizierter mit dem Phänomen „Chavez" auseinander setzen. Es könnte durchaus sein, dass das Experiment in Lateinamerika Nachahmer findet!
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Autorenverzeichnis Blessing, Gunther, Literaturwissenschaftler und Sprachlehrer, wissenschaftliche Hilfskraft am Zentrum für Wissenschaftliche Weiterbildung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz E-Mail: [email protected] Boeckh, Andreas, Prof. Dr., Professor am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard-Karls-Universität Tübingen E-Mail: [email protected] Burchardt, Hans-Jürgen, PD Dr., Projektleiter am Institut für IberoamerikaKunde Hamburg, Projekt: Konturen globaler Sozialpolitik: Die internationalen Sozialfonds im Vergleich E-Mail: [email protected] Diehl, Oliver, Dr., Referent für die Kooperation mit Lateinamerika im Bundesministerium für Bildung und Forschung und Lehrbeauftragter am Institut fUr Psychologie der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz E-Mail: [email protected] Jungemann, Beate, Dr., Leiterin der Abteilung für urban-regionale Entwicklung am Centro de Estudios del Desarrollo (CENDES) der Universidad Central de Venzuela, Caracas E-Mail: [email protected] Muno, Wolfgang, Dr., Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz E-Mail: [email protected] Zimmerling, Ruth, Prof. Dr., Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz E-Mail: [email protected]
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