Idylle oder Aufbruch?: Das Dorf im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Ein europäischer Vergleich [Reprint 2021 ed.] 9783112526248


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German Pages 282 [288] Year 2023

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Inhalt
Vorwort
Einleitung
I. Kapitalismus und bäuerliche Landwirtschaft. Ein Prozeß der Verbürgerlichung?
Zwischen Junkertum und Bürgertum. Der Bauer im ostelbischen Dorf im Widerstreit der Einflüsse von traditionalem Führungsanspruch des Adels und moderner kapitalistischer Gesellschaft
Bürgerlich-kapitalistische Formen in der Landwirtschaft und ihr Einfluß auf die dörfliche Produktion und Lebensweise - am Beispiel der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete
Die Entbäuerlichung des Bauern (1880 bis 1913). Dargestellt an den Regionen Magdeburger Börde, Anhalt, südliches Niedersachsen und Oldenburg
"Verbürgerlichung" und "Verstädterung" des Dorfes im 19. Jahrhundert? Das Beispiel der Bauformen in der Magdeburger Börde
Die verhinderte Modernisierung der bäuerlichen Wirtschaft im Königreich Polen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Kommerzialisierung, Verbürgerlichung und ihre Vermittler in der ländlichen Gesellschaft Ungarns, 1767-1848
Die soziale Differenzierung der lettischen Bauern auf den herzoglichen Gütern Kurlands, 1680-1820
II. Ländliche Gesellschaft und bürgerliche Kultur
Kultur-Leitbilder der bäuerlichen Oberschicht in Nordwestniedersachsen
Kleider machen Leute. Ungarische Beispiele zum gewandelten Kleidungsverhalten der dörflichen Bevölkerung im 19./20. Jahrhundert
Das bürgerliche Bild vom Bauern. Die Zeitungslektüre schwedischer Bauern in den 1870er Jahren
Der Blick der bürgerlichen Künstler auf die ländliche Lebenswelt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
Kriegervereine als Träger dörflicher Festkultur in Schleswig-Holstein
Die Advokaten auf dem Land
Landjuden - ein bürgerliches Element im Dorf?
III. Bürgerliche Ideologien und politische Praxis in der ländlichen Gesellschaft
Dörfliche Kultur: Ideologie und Wirklichkeit zwischen Reichsgründung und Faschismus
Die Formierung moderner Nationen und die Verbürgerlichung des Dorfes. Die "kleinen Nationen" im europäischen Vergleich
Die Landarbeiter in der spanischen liberalen Revolution 1800-1860. Die Grenzen einer bürgerlichen Integration
Politische Mobilisierung und Klassenstruktur der dänischen Agrargesellschaft im 19. Jahrhundert
Die Verbürgerlichung des Landgemeindewesens. Ein Umriß am Beispiel der balto-skandinavischen Länder im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus
Zum Wandel der Dorfgemeinschaft im Prozeß der Verbürgerlichung im 19. Jahrhundert
IV. Rückblick und Ausblick
Stichworte zur weiteren Diskussion und zum Vergleich
Au to ren verzeich n is
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Idylle oder Aufbruch?: Das Dorf im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Ein europäischer Vergleich [Reprint 2021 ed.]
 9783112526248

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Idylle oder Aufbruch?

Idylle oder Aufbruch? Das Dorf im bürgerlichen 19. Jahrhundert Ein europäischer Vergleich

Herausgegeben von Wolfgang Jacobeit, Josef Mooser und Bo Stràth

Akademie-Verlag Berlin

ISBN 3-05-001087-8 Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, Leipziger Straße 3-4, Berlin, DDR-1086 © Akademie-Verlag Berlin 1990 Printed in Germany Bestellnummer: 755 240 0 (9325)

Inhalt

Jürgen Kocka Vorwort

7

Wolfgang Jacobeit, Josef Mooser, Bo Strüth Einleitung

9

I. Kapitalismus u n d bäuerliche Landwirtschaft. Ein Prozeß der Verbürgerlichung? Hartmut Harnisch Zwischen Junkertum und Bürgertum. Der Bauer im ostelbischen Dorf im Widerstreit der Einflüsse von traditionalem Führungsanspruch des Adels und moderner kapitalistischer Gesellschaft

25

Hans-Heinrich Müller Bürgerlich-kapitalistische Formen in der Landwirtschaft und ihr Einfluß auf die dörfliche Produktion und Lebensweise - am Beispiel der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete

37

Walter Achilles Die Entbäuerlichung des Bauern (1880-1913). Dargestellt an den Regionen Magdeburger Börde, Anhalt, südliches Niedersachsen und Oldenburg

49

Hans-Jürgen Räch "Verbürgerlichung" und "Verstädterung" des Dorfes im 19. Jahrhundert? Das Beispiel der Bauformen in der Magdeburger Börde

53

Jacek Kochanowicz Die verhinderte Modernisierung der bäuerlichen Wirtschaft im Königreich Polen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

61

Andräs Väri Kommerzialisierung, Verbürgerlichung und ihre Vermittler in der ländlichen Gesellschaft Ungarns, 1767-1848

73

Heinrichs Strods Die soziale Differenzierung der lettischen Bauern auf den herzoglichen Gütern Kurlands, 1680-1820

83

II. Ländliche Gesellschaft u n d bürgerliche Kultur Helmut Ottenjann Kultur-Leitbilder der bäuerlichen Oberschicht in Nordwestniedersachsen Tamäs Hoffmann Kleider machen Leute. Ungarische Beispiele zum gewandelten Kleidungsverhalten der dörflichen Bevölkerung im 19./20. Jahrhundert

5

97

113

Britt Liljewall Das bürgerliche Bild vom Bauern. Die Zeitungslektüre schwedischer Bauern m den 1870er Jahren

117

Wolfgang Ruppert Der Blick der bürgerlichen Künstler auf die ländliche Lebenswelt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts

139

Kai Detlev Sievers Kriegervereine als Träger dörflicher Festkultur in Schleswig-Holstein

155

Hannes Siegrist Die Advokaten auf dem Land

169

Monika Richarz Landjuden - ein bürgerliches Element im Dorf?

181

III. Bürgerliche Ideologien und politische Praxis in der ländlichen Gesellschaft Wolfgang Kaschuba Dörfliche Kultur: Ideologie und Wirklichkeit zwischen Reichsgründung und Faschismus

193

Miroslav Hroch Die Formierung moderner Nationen und die Verbürgerlichung des Dorfes. Die "kleinen Nationen" im europäischen Vergleich

205

Jesús Millán Die Landarbeiter in der spanischen liberalen Revolution 1800-1860. Die Grenzen einer bürgerlichen Integration

215

Niels Clemmensen Politische Mobilisierung und Klassenstruktur der dänischen Agrargesellschaft im 19. Jahrhundert

231

Torkel Jansson Die Verbürgerlichung des Landgemeindewesens. Ein Umriß am Beispiel der balto-skandinavischen Länder im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus

245

Hainer Plaul Zum Wandel der Dorfgemeinschaft im Prozeß der Verbürgerlichung im 19. Jahrhundert

263

IV. Rückblick und Ausblick Hans-Jürgen Puhle Stichworte zur weiteren Diskussion und zum Vergleich

277

Autorenverzeichnis

283

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Vorwort Das 19. Jh. gilt zurecht oft als das Jahrhundert des Bürgertums. Mit Kapitalismus und Industrialisierung gewannen Kaufleute, Fabrikanten, Bankiers und andere Unternehmer an Reichtum, Ansehen und Macht. Mit dem Ausbau des Bildungssystems stiegen Professoren und Ärzte, Anwälte, Ingenieure und Wissenschaftler auf. Die bürgerliche Kultur auf städtischer Grundlage war den wirtschafts- und bildungsbürgerlichen Gruppen gemeinsam und grenzte sie gegenüber anderen sozialen Bereichen ab - vor allem zu Beginn gegenüber dem Adel, zunehmend gegenüber dem Kleinbürgertum, gegenüber den Unterschichten einschließlich der entstehenden

Arbeiterschaft

und

eben

auch

gegenüber

der

ländlichen

Gesellschaft. Andererseits gehörte es zu den Eigenarten bürgerlicher Kultur und Lebensweise, bürgerlicher Verfassungsvorstellungen und Wirtschaftsprinzipien, breite Wirkung und allgemeine Geltung zu beanspruchen. Bürgerliche Kultur drängte über das Bürgertum hinaus und versuchte, die ganze Gesellschaft zu prägen. Die Bürgerlichkeit einer Gesellschaft bemißt sich nicht zuletzt an dem Grad der Verbürgerlichung ihrer nichtbürgerlichen Sektoren. Viel ist über Verschmelzung von Adel und höherem Bürgertum in den meisten europäischen Ländern bekannt, vor allem im späten 19. und frühen 20. Jh. Über die Verbürgerlichung des Proletariats hat man lange Debatten geführt. Aber wie stand es mit der Bürgerlichkeit der Dörfer? Inwieweit drangen bürgerliche Normen und Praktiken in die ländliche Gesellschaft ein, in welche ihrer Teile und in welchen Grenzen? Wie wurden bürgerliches Wirtschaftsverhalten, bürgerliche Kultur und bürgerliche Politikformen auf ihrem Weg ins bäuerlich-kleinbäuerliche Milieu verwandelt? Welches waren die entscheidenden Kontaktstellen? Wie nahm man sich gegenseitig wahr? Und wie war es - umgekehrt - mit den ländlichen Einflüssen auf die bürgerliche Welt? Diesen wenig untersuchten Fragen gehen die folgenden Untersuchungen nach. Sie tun es vergleichend, in dem sie von Deutschland aus nach Norden, Süden und Osten blicken, während in der Forschung sonst oft der Vergleich mit dem westlichen Europa im Vordergrund steht. Die folgenden Beiträge werfen neues Licht auf die Transformation der ländlichen Gesellschaft, die ja im ganzen 19. Jh. den bürgerlich-städtischen Bereich an Umfang und Bevölkerungszahl überall in den Schatten stellte. Von ländlicher Idylle handeln die folgenden Beiträge kaum, es sei denn in den Projektionen der Bürger. Vom Aufbruch ist viel die Rede, aber auch von Abhängigkeit und Widerstand, Konflikten und Kontinuität. Selten kam es zur glatten Verbürgerlichung des ländlichen Lebens. Es behielt seine eigene Logik, so sehr es sich mit dem Neuen verflocht, das die Bürger brachten.

7

So ergeben sich gleichzeitig wichtige Rückschlüsse auf die Kraft, die Eigenarten und vor allem auf die Grenzen der bürgerlichen Prägekräfte im 19. Jh. Die folgenden Untersuchungen zur ländlichen Gesellschaft vervollkommnen die historische Erforschung des Bürgertums, die in Bielefeld ihr Zentrum gefunden und in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht hat. Berlin, Mai 1990

Jürgen Kocka

Einleitung Wolfgang Jacobeit, Josef Mooser, Bo Sträth Das Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld beherbergte 1986/87 eine interdisziplinär-international zusammengesetzte Forschungsgruppe, die sich unter der Leitung von Jürgen Kocka intensiv und kooperationsfreudig mit der vielschichtigen und nach wie vor aktuell bedeutsamen Problematik "Bürgertum, Bürgerlichkeit und bürgerliche Gesellschaft. Das 19. Jahrhundert im europäischen Vergleich" beschäftigte1. Zu den vielen Fragen, die in den Diskussionen der Forschungsgruppe immer wieder angeschnitten wurden, gehörten auch die nach den Trägern bzw. Repräsentanten von Bürgerlichkeit, nach dem Wirkungsgrad wie nach der prozessualen Spezifik der sozioökonomischen und soziokulturellen Veränderungen durch das Bürgertum im gesamtgesellschaftlichen Bezug. Das wiederum führte zu Erörterungen über die Art und Weise des Verhaltens derjenigen sozialen Schichten und Klassen, die gemeinhin als dem Bürgertum nicht zugehörige gelten, also die Angehörigen des handarbeitenden "Volkes", darunter vor allem Arbeiter sowie Bauern und andere Schichten der Landbevölkerung. Namentlich für die zuletzt genannten Gruppierungen wurde den in Bielefeld anwesenden Forschern das Erkenntnisdefizit über die Prozesse der "Verbürgerlichung" des Dorfes und seiner Bevölkerung bewußt. Sie regten daher an, im Nachgang zur Arbeit der o.g. Forschungsgruppe am ZiF eine entsprechende Tagung mit Agrarhistorikern, Volkskundlern, Sozial- und Kulturhistorikern zu diesem Problemkomplex abzuhalten und die Ergebnisse in einem Sammelband zur Diskussion zu stellen. Diese Anregung wurde aufgenommen. Das ZiF erklärte sich dankenswerterweise zur Förderung bereit und lud im Mai 1989 nach Bielefeld zu einem zweitägigen Kolloquium ein, das von den drei Herausgebern dieses Bandes geleitet wurde. Das Thema der Konferenz lautete: "Verbürgerlichung des Dorfes und der dörflichen Bevölkerung im 19. Jahrhundert. Ein europäischer Vergleich". Dieser Arbeitstitel galt als weitmaschiger konzeptioneller Rahmen für die Teilnehmer, die gebeten waren, ihn mit Ergebnissen ihrer Forschung auszufüllen. Im zweiten Schritt, in Kenntnis der Beiträge (und nach deren Überarbeitung) schälte sich dann der endgültige und programmatische Titel für den nun vorliegenden Sammelband heraus, der dem gegenwärtigen Forschungsstand vielleicht am nächsten steht: "Idylle oder Aufbruch? Das Dorf im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Ein europäischer Vergleich." Die folgenden Bemerkungen tragen thesenartigen Charakter. Sie verweisen kurz auf den Forschungsstand, erläutern die Hauptfragestellung und versuchen 9

eine gewisse Synthese der einzelnen Beiträge unter übergreifenden Themenstellungen. D i e ländliche Gesellschaft - hier auch unter dem Stichwort " D o r f mit seiner sozial differenzierten Bevölkerung aus Bauern, Tagelöhnern, Landarbeitern u.a. verstanden - spielt in den grundlegenden Vorstellungen über die

moderne

"bürgerliche Gesellschaft" eine Zwitterrolle, die lange Zeit den Blick dafür getrübt hat, wie sich "das Land" und seine Bewohner im Prozeß der Modernisierung des 19. Jh. selbst verändert haben. Einerseits erschien das Neue als Überwindung der "Idiotie des Landlebens" ( K . Marx), andererseits aber lag immer die antimodernistische "catonische" Ideologie (B. M o o r e ) quasi abrufbereit. Sie stellte den Strukturen und Krisen der Moderne bürgerlich-kapitalistischer Prägung eine angeblich soziale und moralische Gesundheit des ländlichen Lebens, eine "heile Welt" entgegen. Eine Alternative dazu bildete in gewisser Weise die besonders in Skandinavien früh entstandene Vorstellung einer progressiv-kreativen Teilhabe bäuerlicher Schichten am allgemeinen Modernisierungsprozeß. Die sozialen und politischen Bewegungen des 19. und 20. Jh. haben häufig die alten Topoi von der Rückständigkeit oder idealen Gegenwelt des Landlebens weitergetragen. Auch in den historischen Wissenschaften (namentlich in Deutschland) wirkten die dabei ausgeformten Geschichtsbilder nach. So wurden z.B. in der modernen Agrargeschichte sozialgeschichtliche Fragestellungen vernachlässigt, schienen diese doch in einer auf "Bäuerliches" fixierten Volkskunde und Heimatgeschichte aufgehoben. Die allgemeine Sozialgeschichte des 19. und 2o. Jh. wiederum richtete ihr Interesse vornehmlich auf die eigentlichen Träger "des Neuen", die städtischen Unternehmer, Arbeiter, Angestellten usw. und marginalisierte damit den agrarischen Bereich. Vielleicht aber haben jene Vorstellungen über das Landleben

den

wichtigsten

Niederschlag

in

der

Begrifflichkeit

der

"Modernisierung" selbst gefunden, die ihren Gegensatz, die "traditionelle Welt", immer als eine agrarische, dörfliche Welt begriffen hat. Bauern und ländliche Unterschichten spielten und spielen in vielen Darstellungen der Sozialgeschichte der "bürgerlichen Gesellschaft" die Rolle der "rückständigen" Verlierer. Grundlegende Revisionen eines solchen - hier natürlich vereinfachten - Bildes haben seit etwa zwei Jahrzehnten eingesetzt. Maßgeblich daran beteiligt war zunächst die Erforschung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom 16. bis ins frühe 19. Jh. Einige ihrer in unserem Zusammenhang wesentlichen Ergebnisse seien kurz angedeutet. In vielen Regionen Europas war die Differenzierung der Sozialstrukturen stark ausgeprägt. Ländliche Gewerbelandschaften entstanden und verdichteten sich, verbunden mit einem starken Bevölkerungswachstum. Diese interdependenten Prozesse lassen die ländliche Gesellschaft keineswegs nur als Objekt, sondern auch als Subjekt des Aufbruchs in die "Moderne" erscheinen. D i e ländliche Gesellschaft war beteiligt an der Herausbildung von Strukturelementen

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einer künftigen "bürgerlichen Gesellschaft", sie trug bei zur Ausdehnung von kapitalistischer Markt- und Geldwirtschaft sowie zur Entstehung der Klasse der Lohnarbeiter. Vor diesem Hintergrund rücken auch die liberalen Agrarreformen am Anfang des 19. Jh. in ein neues Licht. Nach der "Bauernbefreiung" von feudalen Zwängen werden - trotz ungünstiger Bedingungen - eine leistungsfähige Bauernwirtschaft und eine Bauern-'Klasse" sichtbar, die sich im Laufe des 19. Jh. erfolgreich auf die neuen Bedingungen einzustellen wußten, also kaum "rückständig" waren. Mittlerweile liegen auch für die zweite Hälfte des 19. Jh. eine Reihe fundierter Einzelstudien vor. Sie fordern zu einer Revision des Gesamtbildes vermeintlicher "Rückständigkeit" heraus. Sie kann sich nicht zuletzt anregen lassen von skandinavischen Vorstellungen, die Fortschrittlichkeit von Bauern als eine historische Möglichkeit betrachten. "Unternehmerische" Bauern und die Rezeption bürgerlicher Lebensweise vor allem im Prestigekonsum wie auch in Formen der Geselligkeit fanden in der Wirtschaftsgeschichte und Volkskunde große Aufmerksamkeit. Insbesondere Agrarhistoriker und Volkskundler der DDR haben in Monographien und zahlreichen Regionalstudien zur Magdeburger Börde den konkreten Prozeß der "Verbürgerlichung" des Dorfes und dessen Manifestationen herausgearbeitet 2 . Die Verallgemeinerung dieser Ergebnisse, Bedingungen, Ausmaß und Grenzen jenes Prozesses sowie dessen soziale Bedeutung und politische Auswirkung im dörflichen Kontext bedürfen freilich noch der weiteren Diskussion, zu der unser Kolloquium beizutragen suchte. Die allgemeine Problemstellung wurde von den Herausgebern in der Einladung zur Konferenz wie folgt konkretisiert: "Verbürgerlichung des Dorfes" zielt auf die Frage nach Macht und Einfluß des modernen Bürgertums auf andere, nicht-bürgerliche Gruppen und Lebensbereiche. Insofern dieser Einfluß als Indikator für die Bürgerlichkeit einer Gesamtgesellschaft genommen wird, lassen Grad und Art der Durchdringung der ländlichen Gesellschaft mit bürgerlichen Normen und Verhaltensweisen Rückschlüsse zu auf die konkrete Gestalt der "bürgerlichen Gesellschaft" im 19. Jh. Zum anderen geht es um Kontakte zwischen bürgerlichen Gruppen und ländlichen Schichten, um soziale Nähe oder Distanz zwischen ihnen, Kooperationen und Konflikte, um die Bedeutung des jeweils "Anderen" für das eigene Selbstbewußtsein. Daraus wiederum ergeben sich Fragen nach den strukturellen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Unterschieden zwischen Stadt und Land im Formierungsprozeß der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Im Mittelpunkt stehen dabei die Schichten und Gruppen der arbeitenden ländlichen Bevölkerung insgesamt in all ihren Ausprägungen wie große, mittlere und kleine Bauern, Pächter, Landarbeiter, Handwerker, Kleinhändler usw. Erst in dieser differenzierten Komplexität lassen sich Anhaltspunkte dafür finden, ob und 11

wie weit traditionelle ländliche Sozialsysteme im Prozeß der Verbürgerlichung noch eigenständige Formen der Vergesellschaftung besitzen oder ob sich die in ihnen wirksamen Determinanten der Schichten- und Klassenbildung denjenigen in den städtischen Sozialordnungen angleichen. Ebenso kommt es darauf an, möglichst genau nach denjenigen Berufs- und Statusgruppen innerhalb des Bürgertums zu fragen die typische oder regelmäßige Kontakte und Beziehungen zur ländlichen Bevölkerung hatten. Es empfiehlt sich daher, das sog. Kleinbürgertum - z.B. in Gestalt von Volksschullehrern, unteren Beamten, kleinen Händlern und Funktionären der Genossenschaften in die Reflexion der Verbürgerlichungsprozesse ebenso einzubeziehen wie die dörflichen Juden und Geistlichen. Erklärlicherweise fand diese Auffächerung der Fragestellung unterschiedliche Antworten durch die Konferenzteilnehmer, und manches mußte offen bleiben. Im folgenden werden die vorliegenden Beiträge zu Themengruppen gebündelt und resümierend vorgestellt. Eine erste Gruppe von Beiträgen steht unter dem Oberthema: und bäuerliche Landwirtschaft.

Kapitalismus

Ein Prozeß der Verbürgerlichung? Die Ausgangs-

bedingungen in den untersuchten Regionen unterschieden sich sozioökonomisch, landschaftlich-regional oder politisch bedingt in vielen Hinsichten und sie wiesen damit einhergehend - keine konformen Herrschaftsstrukturen auf. Der Übergang in bürgerlich-kapitalistische Verhältnisse erfolgte zeitlich ungleich. Die Frage der "Verbürgerlichung" wird von daher unterschiedlich beantwortet. So steht für Walter Achilles die Entwicklung der bäuerlichen Wirtschaft des 19. Jh. im Spannungsfeld von Bedarfsdeckungswirtschaft und Marktwirtschaft. Im Maße, wie sich die Marktwirtschaft durchsetzte, habe sich der Bauer die Qualitäten eines Unternehmers

aneignen

müssen.

Das

war

jedoch

eher

ein

Prozeß

der

"Entbäuerlichung" als der "Verbürgerlichung". Obwohl Bauern das für den Kapitalismus typische Gewinnstreben nicht abgesprochen werden kann, wurden sie keine reinen Unternehmer im schumpeterschen Sinn. Wirtschaftlich wurde maximale Intensitätssteigerung und Gewinnmaximierung verfehlt. Bäuerliches in hergebrachter Weise blieb auf vielen Gebieten ungebrochen. Beispielsweise wurde die Selbstversorgung trotz Intensivierung und Produktion für den Markt vor dem Ersten Weltkrieg nicht in Frage gestellt. Hartmut Harnisch betont vor allem die Gemeinsamkeiten von ländlichen und städtischen Mittelschichten. Der politisch und gesellschaftlich dominierende Großgrundbesitz konnte für den Verbürgerlichungsprozeß ebensowenig vorbildhaft werden wie etwa das Großbürgertum. Der Wandel in Kultur und Lebensweise der Bauern folgte den vom städtischen Handwerk und Kleinhandel vorgelebten Mustern. Harnisch unterstreicht die großen schichtenspezifischen Unterschiede. Die unterschiedliche mentale Bereitschaft zur Übernahme von bürgerlichen Normen und Verhaltensweisen hing mit den jeweiligen sozioökonomischen Positionen

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zusammen. Im ostelbischen Dorf waren nur bäuerliche Schichten, und zwar vor allem die Groß- und Mittelbauern Träger dieser Prozesse. Die Verwirklichung der Agrarreformen führte zur wirtschaftlichen Modernisierung, wobei der allmähliche Übergang zur als kapitalistisch anzusehenden Fruchtwechselwirtschaft einen wichtigen Faktor darstellte. Aber die Kultur und Lebensweisen blieben weiterhin bäuerlich. Am Ende des 19. Jh. stärkte das schnell hervorwachsende Genossenschaftswesen die Behauptung des kleinen dörflichen Mittelstandes gegenüber dem Großkapital. Ebenso hatten sich eine erfolgreiche Groß- und Mittelbauernschicht über alle Belastungen und Krisen hinweg behauptet und befand sich in einem unverkennbaren ökonomischen Aufschwung. Am Beispiel Sachsens unterstreicht Hans-Heinrich Müller die Bedeutung des Anbaus und der Verarbeitung von Zuckerrüben für die Verbürgerlichung der Denk- und Verhaltensweisen der Bauern. Eine Rübenzuckerfabrik von Bauern gegründet, finanziert, geleitet, d.h., Bauern als Aktionäre eines industriellen Etablissements, stellte in der Tat einen tiefgreifenden Wandel auf dem Dorf dar. Die Ergebnisse von Achilles, Harnisch und Müller ergänzen einander. Sie werden durch die Auffassung von Hans-Jürgen Räch akzentuiert, der das Geschehen in den ostelbischen Dörfern des 19. Jh. eindeutig als Erscheinungsformen des Kapitalismus in der Landwirtschaft bezeichnet wissen möchte. Die Beiträge von Jacek Kochanowicz und Andräs Väri (ansatzweise auch Heinrichs Strods) zeigen, daß in wirtschaftlich rückständigen Gebieten ohne denselben Modemisierungs- und Industrialisierungssog die groß- und mittelbäuerliche Emanzipation erheblich schwieriger war. In Polen wurde eine Modernisierung "von oben" versucht, die aber nicht mit der rasanten Dynamik der deutschen Entwicklung verglichen werden kann und die, statt bäuerliche Kräfte freizulegen, den Weg zur emanzipativen Modernisierung "von unten" blockierte. Interessanterweise erfolgte gerade in dem Teil Polens, der unter preußischer Herrschaft stand, eine Entwicklung, die an die von Achilles und Hämisch beschriebene erinnert. Am Schluß dieser ersten Themengruppe mit einem sozioökonomischen Fokus ist zu konstatieren, daß wachsende Absätzmärkte für bäuerliche Produkte und wachsende Kaufkraft der Bauern Voraussetzungen für die Freisetzung bäuerlicher Kräfte darstellten. Dies erleichterte das Entstehen und die zunehmende Verflechtung von einander überlagernden bäuerlichen und bürgerlichen Interessen. Die Richtung dieses Prozesses ist deutlich, sofern er überhaupt in Gang kam. Das heißt aber nicht, daß man von Verbürgerlichung in einem umfassenden Sinne sprechen kann oder von Bauern als Unternehmern. Im Hinblick darauf blieben allzu viele bäuerliche Besonderheiten bestehen. Der Begriff "Entbäuerlichung" scheint diese Tendenz besser zu treffen als der Ausdruck "Verbürgerlichung". Was die Gegensatzwörter im Titel dieses Bandes betrifft - Idylle oder Aufbruch -, weist die Antwort für die landwirtschaftlichen Modernisierungsgebiete ziemlich eindeutig in die

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Richtung von "Aufbruch". In den rückständigen Gebieten freilich kann weder von "Idylle" in irgendeinem Sinn noch von "Aufbruch" die Rede sein. In den Beiträgen zur Themengruppe Ländliche Gesellschaft und bürgerliche Kultur werden solche Grenzen oder Ambivalenzen im Prozeß der Verbürgerlichung noch deutlicher. Auch wenn die zunehmende Marktabhängigkeit der landwirtschaftlichen Produktion entscheidend und grundlegend die bäuerliche und dörfliche Lebensweise veränderte, ist es für mehrere Verfasser fraglich, inwieweit dieser Prozeß als Verbürgerlichung konzipiert werden kann. Müller z.B. meint, daß der "bäuerliche" Agrarkapitalismus eben bäuerlich blieb und sich mehr an den ständischen Normen bäuerlicher Lebensführung und Selbsteinschätzung orientierte als an unternehmerischen Tätigkeiten. In ähnlicher Weise äußert sich Räch: Die marktorientierten Großbauern übernahmen zwar mancherlei Anregungen für die Ausprägung ihrer Kultur und Lebensweise aus der Stadt, doch stellte für sie der Junker ein stärkeres Leitbild dar. In dieselbe Richtung argumentiert nachdrücklich Helmut Ottenjann, der an Beispielen aus Nordwestdeutschland zeigt, daß das Ordnen aller Neben- und Wirtschaftsgebäude zu einer geschlossenen Einheit ein Bauprinzip des Adels gewesen ist. Das Vorbild der Kutschfahrten fanden die Großbauern bei ihren adeligen Grundherren, nicht beim Bürger der Stadt. In der Sachkulturausstattung sind auch weitere Attitüden oberschichtig-adeliger Leitbildausrichtungen zu entdecken. Ein anderes Verhalten als diese Großbauern zeigte die Landbevölkerung in Ungarn. Tamäs Hoffmann,

aber auch András Vári verweisen auf eine "bäuerliche Verzier-

lust" in der Trachtenkleidung, die der demonstrativen Selbstaufwertung gegenüber Stadtbürgern, Großbauern und Landadel diente, und zwar unter Bedingungen, in denen die Modernisierung der bäuerlichen Wirtschaft blockiert war. Britt Liljewall untersucht am schwedischen Beispiel die Entwicklung bürgerlicher Vorstellungen über die bäuerliche Welt und zeigt damit einen interessanten skandinavischen Unterschied zur deutschen Entwicklung auf. Eine Schicht von Intellektuellen eines "Klein-Bildungsbürgertums" verbreitete weit progressivere Gesellschaftsvorstellungen auf dem Land als die nationalistischen und modernisierungskritischen deutschen Ideologen. Hier wird ein skandinavischer "Sonderweg" angedeutet. Die schwedischen Bauern fanden ein Idealbild ihrer selbst als Verbündete dieses progressiven sozialliberalen "Klein-Bildungsbürgertums". Wolfgang Huppert untersucht die ästhetische Verarbeitung der ländlichen Lebenswelt durch bürgerliche Künstler im späten 19. Jh. Ihr Zug in Künstlerkolonien auf dem Land stellte eine Reaktion auf die fortschreitende Rationalisierung der Alltagskultur in den Städten dar. Der erlebte Gegensatz zwischen den nervösen Reizen der städtischen Moderne und der Überschaubarkeit der ländlichen Lebenswelt fand seinen symbolischen Ausdruck z.B. in den Portraits "einfacher Men-

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bensweit fand seinen symbolischen Ausdruck z.B. in den Portraits "einfacher Menschen". Unübersehbar blieb jedoch die kulturelle Distanz zwischen den bürgerlichen Künstlern und ihren "Modellen". Für Kai Detlev Sievers sind die Kriegervereine ein Beispiel für die Ausdehnung bürgerlicher Leitbilder. Mit deren Festkultur wurden auch aufs Dorf nationale Werte verbreitet. Sie manifestierte sich besonders in den Feiern zum Sedantag, die wesentlich zur Indoktrination der ländlichen Bevölkerung im Sinne nationalistischer Vorstellungen beitrug. Die Veteranenverbände gerieten nach der Reichsgründung immer mehr in das Fahrwasser chauvinistischer und militaristischer Zielsetzungen und verstanden sich zunehmend als Garanten bestehender Herrschaftsverhältnisse. Diese Art Festkultur traf auf eine überkommene dörfliche Sozialverfassung, die, wenn auch bereits in Auflösung begriffen, Nährboden für neue Formen der Gesellung war. Es wäre also kurzschlüssig, die Ausbreitung des Vereinswesens und seiner Festkultur auf dem Lande als einen quasi gewaltsamen Einbruch bürgerlicher Lebensweise in eine vermeintlich intakte kulturelle Ordnung zu interpretieren. Monika Richarz und Hannes Siegrist greifen das Thema dieses Bandes von anderen Gesichtspunkten her auf. Sie fragen nach Kontakten zwichen Bürgern und Bauern, nach der Funktion solcher Kontakte im Verbürgerlichungsprozeß und schließlich danach, ob und wie bürgerliche Einflüsse und intensivere Stadt-LandBeziehungen die Position der Juden auf dem Lande veränderte. Die Landjuden unterschieden sich durch Religion, Beruf, Wertsystem, Sprache, Lebensstil und Bildung grundlegend von der Agrarbevölkerung. Mit ihnen standen sich trotz vielfältigen wirtschaftlichen Kontakten, die die Juden zu Modernisierungsagenten werden ließen, zwei weitgehend abgeschlossene Gemeinschaften gegenüber. Je stärker der Wohlstand der Landjuden zunahm, desto mehr zeigte sich bei ihnen der Einfluß städtischer, bürgerlicher Lebensformen. Ihre soziale Bezugsgruppe war das städtische jüdische Bürgertum, obwohl sie ihm nicht angehörten. Die Landjuden wurden schließlich infolge der (intergenerationellen) Abwanderung das, was sie schon vor ihrer Vertreibung gewesen waren: städtische Juden mit bürgerlichen Rechten und bürgerlichem Lebensstil. Gleichwohl wurden sie niemals wirklich Teil des deutschen Bürgertums oder als solches von diesem akzeptiert. In bezug auf Ausbildung, Arbeits- und Lebensstil gehörten die Advokaten auf dem Lande oder in Kleinstädten eher zur städtischen Welt. Ähnlich wie die Juden in der Wirtschaft übten sie eine wichtige Modernisierungsfunktion aus; sie vermittelten der Landbevölkerung den Zugang zu ihrem Recht. Freilich wirkten auch sie auf das dörfliche Leben ebensowenig stilbildend wie die Landjuden. Im frühen 19. Jh. galt der Advokat als Vertreter einer moralisch verwerflichen, gewinnorientierten Wirtschaftsgesinnung. Später, als die Bauern sich selbst auf die Marktwirt-

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schaft eingestellt hatten, ebbte diese polemische Strömung zwar ab, der Konflikt über den Preis der anwaltlichen Dienstleistung bestand jedoch weiter und wurde ideologisch aufgeladen. Paternalistische Konservative und Bürokraten verschiedenster Couleur gaben vor, die Bauern und Landbewohner zu schützen, indem sie die bürgerlich-rationalistischen und städtischen Advokaten in die Schranken wiesen. Sie betrachteten die Advokaten als (Zer-)Störer der ländlichen Idylle. Die Polemik und staatlichen Restriktionen für die Landadvokaten gewannen Züge eines Kampfes gegen die Verbürgerlichung des Dorfes. Die Berührungspunkte zur Verbreitung von traditionalistischen und nationalistischen Stilbildern und Denkmustern, die andere Autoren schildern, liegen auf der Hand. Die Themen der dritten Gruppe beziehen sich auf Bürgerliche Ideologien und politische Praxis in der ländlichen Gesellschaft. Bereits Hartmut Hämisch unterstreicht in seinem Beitrag die Ambivalenz der politischen Einstellungen sowie der Identitäts- und Loyalitätsbindung der ostelbischen Bauern. Die Annahme, daß sich die Bauern zu einem die bestehende Gesellschaftsordnung sichernden Faktor entwickelten und vertikale Solidaritätslinien zu den Großgrundbesitzern ausbildeten, blieb jedoch (zeitgenössisch) nicht unwidersprochen. Auch die umgekehrte Vorstellung, daß ungeachtet aller ökonomischer Schwierigkeiten bei ernsten sozialen Konflikten die Masse der Bauern gemeinsam mit den Arbeitern gegen die Gutsbesitzer aufstehen würde, fand Vertreter und kann sich auf historische Belege stützen. Der Topos vom Bauern als der konservativen, staats- und gesellschaftserhaltenden, moralisch gesunden Schicht des Volkes verfestigte sich erst in den 1880er Jahren. Institutionen und Organisationen wie das preußische Landesökonomiekollegium und der Verein für Socialpolitik hatten an dessen Ausbildung maßgeblichen Anteil. Die bürgerliche Welt, so Wolfgang Kaschuba, eröffnete ein "verstärktes ideologisches Sperrfeuer" und beschwor das Land als Fundament sozialer Stabilität und nationaler Größe. "Land", "Landvolk", "Dorfgemeinschaft" und "Bodenständigkeit" wurden zu tragenden Säulen eines Volksbegriffes, der - als Gegengewicht zum Aufstieg der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in den 1890er Jahren konzipiert - eine affirmative Schranke bilden sollte gegen den Klassenbegriff. In dieser Projektion geriet das "Land" zum Gegenmodell, zum Ideal einer spannungs- und konfliktlosen deutschen Gesellschaft. Statt einer "Verbürgerlichung des Dorfes" erfolgte - so Kaschuba - die "ideologische Vergesellschaftung" dörflicher Leithorizonte. Die Impulse hierzu kamen zwar aus der bürgerlichen Gesellschaft, aber die Ziele waren andere. Über Markt, Konsum, Verkehr, Schule, Militärdienst und Zeitungen wurde zwar die Isolation des Landlebens in forciertem Tempo aufgebrochen. Gleichzeitig und gegenläufig hierzu propagierten jedoch die bürgerlichen Promotoren jenes Aufbruchs, an traditionalen und bäuerlichen Leitwerten festzu-

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bindung von ökonomisch-technischer "Modernisierung" und kulturell-politischer "Nationalisierung". Kaschubas Analyse erhellt für das späte 19. und frühe 20. Jh., daß die von der bürgerlichen Gesellschaft ausgehenden wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Anstöße komplex und widersprüchlich waren und nicht als ein geradliniger Entwicklungsprozeß betrachtet werden können. Die bäuerliche Kultur umfaßt danach - in durchaus spannungsvoller Weise - zwei Szenarien: das eine umreißt eine sich wandelnde ländliche Wirklichkeit im bürgerlichen 19. Jh.; das andere zeigt in seinen Konturen ein ideologisch eingefärbtes bürgerliches Dorfbild. Die Wechselbeziehungen zwischen Strukturveränderungen in der Landwirtschaft und der von außen herangetragenen Ideologisierung des Dorfes ist zweifellos gerade im Hinblick auf Aspekte und Formen der "Verbürgerlichung des Dorfes" und das spannungsreiche und widersprüchliche Gefüge zwischen "Idylle und Aufbruch" zu beachten. In dieser Ambivalenz wurden nicht nur in Deutschland die Weichen am Ende des 19. Jh. gestellt und die weitere Entwicklung ausgerichtet. Dies wird deutlich im Beitrag von Miroslav Hroch, der die bäuerliche Teilnahme an den nationalen Bewegungen der "kleinen Nationen" Europas untersucht. Diese finden sich häufig infolge der imperialen Traditionen und politischen Strukturen. Bei aller Vielfalt im "nationalen" Engagement der Bauern war dort, scheint es, für diese der Prozeß der Entfeudalisierung der ländlichen Gesellschaft zunächst wichtiger als die Bildung der Nation. Ihre nationale Aktivierung setzte schon eine gewisse wirtschaftliche Modernisierung voraus; andererseits hat jene auch diese gefördert, vor allem durch die Vermittlung kultureller Kompetenzen. Trotz der Idealisierung der bäuerlichen Welt durch die meist städtisch-bürgerlichen Träger der Nationalbewegungen verschmolzen diese nicht vollständig mit der bäuerlichen Mentalität. Bäuerliche Aktivisten brachten in die Bewegungen eine vordem weniger bekannte konservativ-patriarchalische Note ein, die vermischt war mit Provinzialismus, Xenophobie und Antisemitismus. Ein anderes Modernisierungsmuster auf dem Lande demonstriert Jesús Millón für Spanien. Hier war im frühen 19. Jh. die Differenzierung der Agrargesellschaft in Landarbeiter, landlose Bauern, Tagelöhner, kleinere Landbesitzer und Pächter weit fortgeschritten. Angesichts der zahlreichen "unterbäuerlichen" Schichten ohne (genügend) Land auch in anderen Teilen Europas ist Milläns Frage nach den Gewinnern und Verlierern bei den liberalen Agrarreformen nicht nur im Fall Spaniens von Bedeutung. Die Antwort ist ziemlich eindeutig. Jener fundamentale Prozeß der Verbürgerlichung des Landes durch die Herstellung des freien Eigentums löste nicht das Problem der Landarmut der unteren Schichten. Vielmehr eignete sich eine neue Oligarchie aus Mitgliedern des alten Regimes und städtisch-bürgerlichen Gruppen das Land an. Der antiliberale Protest der Unterschichten verband sich nur teilweise mit der Loyalität zu denjenigen Teilen der alten Eliten, die ih-

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sich nur teilweise mit der Loyalität zu denjenigen Teilen der alten Eliten, die ihrerseits durch die liberalen Reformen bedroht waren. Seine gleichwohl konservative Zielsetzung ist nicht durch das Klischee vom kulturellen Stadt-Land-Gefälle zu erklären. Andererseits entstand freilich auch keine selbständige dauerhafte Bewegung der ländlichen Unterschichten, wohl aber ein eigenständiger Sozialprotest, der auf massive gewaltsame Repressionen stieß. Die lange Reihe von konservativen Regierungen im 19. Jh. reflektiert die Folgen einer bürgerlichen Revolution wie deren Unfähigkeit, die Mehrheit der Landbevölkerung für bürgerliche Werte zu gewinnen und unter liberalen Bedingungen in die bürgerliche Gesellschaft einzugliedern. Gewissermaßen einen Gegenpol zu diesem düsteren Bild stellt Dänemark dar. Niels Clemmensen schildert eine politisch durchsetzungsfähige Reformallianz aus bürgerlichen Liberalen und der bäuerlichen Besitzerschicht. Nach ihrem Durchbruch und dem Systemwechsel 1848 schufen sich die Bauern ihre eigenen demokratischen Organisationen. Die frühe Tendenz von einem ausgesprochenen, gegen die alte großgrundbesitzerliche Herrschaftselite gerichteten Antifeudalismus mit einem Potential für politische Zusammenarbeit mit dem Bürgertum wurde nach 1848 allmählich von einer radikaldemokratischen Tendenz abgelöst, die am Ende des Jh. Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit mit der Arbeiterklasse enthielt. In dieser Weise gewann die demokratische Massenbewegung der Bauern eine entscheidende Bedeutung für die verhältnismäßig friedliche Integration der Arbeiterbewegung in die dänische bürgerliche Demokratie. Die Grundzüge, die Clemmensen für Dänemark beschreibt, könnten im wesentlichen auf die anderen skandinavischen Länder übertragen werden. Aspekte der politischen Partizipation als Ausdruck von Prozessen der Verbürgerlichung greifen auch Torkel Jansson und Hainer Plaut auf. In Janssons komplexem Vergleich des Landgemeindewesens der balto-skandinavischen Länder zeichnen sich nicht nur die historisch bedingte Vielfalt, sondern auch zwei übergreifende Tendenzen ab: die Trennung von Kirche und Gemeindeverwaltung, also die Säkularisierung politischer Herrschaft als ein Aspekt der Verbürgerlichung und die mittels Zensuswahlrecht gefilterte soziale Homogenisierung des Zugangs zur Gemeindepolitik. Den Zusammenhang des letzteren Prozesses mit der ökonomischen Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft verdeutlicht auch Plaul am preußischen Beispiel. Im Zuge der Agrarreformen entwickelte sich eine Repräsentationsordnung im Einklang mit den machtpolitischen Interessen der Grundbesitzer. Idylle oder Aufbruch? Nicht in seiner Alternative, wohl aber in seiner dialektischen Verschränkung fängt dieser Gegensatz einige Grundzüge der Geschichte des Landes in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jh. ein. "Bürgerliche

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Gesellschaft" war im frühen 19. Jh. ein Daseinsentwurf für eine sozialökonomische Ordnung, der einen starken Kontrast zu derjenigen Lebenswelt darstellte, die bis dahin die Existenzformen der ländlichen Bevölkerung geprägt hatte. Die Strukturen und Werte dieser neuen Gesellschaft - rechtliche Gleichheit, individuelle Freiheit, Marktwirtschaft und politische Öffentlichkeit - haben die ländliche Gesellschaft zwar tiefgreifend, aber nicht vollständig verändert. Die Entfeudalisierung der Herrschaft und marktwirtschaftliche Durchdringung der Agrargesellschaft brachten in mehrfacher Hinsicht Modernisierung und Einflüsse der bürgerlichen Gesellschaft auf die bäuerliche. Diese gingen aber nicht überall in dieselbe Richtung und waren nicht eindeutig oder von derselben Stärke. Sie bedeuteten auch nicht, daß die bäuerliche Gesellschaft sich in eine bürgerliche verwandelte. Kommerzialisierung und Agrarreformen bewirkten z.B. nicht, daß die Bauern auf einmal Unternehmer im schumpeterschen Sinne wurden, selbst wenn sie sich neue Denk- und Betrachtungsweisen aneigneten. Davon unberührt erhielten sich zahlreiche alte Verhaltens- und Denkmuster. Ferner kamen viele Anregungen eher vom Adel als von bürgerlichen Gruppen. Dennoch gab es einen Aufbruch auf dem Lande, nur läßt er sich nicht in eine einfache Formel fassen. Angemessener als mit dem Bild von der Verbreitung einer kohärenten vorherrschenden Mentalität läßt sich dieser Prozeß fassen als ein Entstehen und Nebeneinander mehrerer "sozialer Logiken", die komplex ineinander verflochten und häufig widersprüchlich waren. Die "Verbürgerlichung des Dorfes" war keine Einbahnstraße. Das Landleben fügte sich andererseits auch zur Idylle. Freilich nicht in dem Sinne, daß die ländliche Bevölkerung ihr Leben als Idylle ge- bzw. erlebt hätte, sondern als ideologisches Konstrukt, das ihr von der bürgerlichen Gesellschaft übergestülpt wurde. Eigenschaften wie Ordnung, Ruhe und soziale Harmonie wurden auf das Landleben projiziert, das damit zum Kontrast zur turbulenten, unruhigen und konfliktreichen Industriegesellschaft stilisiert wurde. Hier gingen also die Einflüsse in die umgekehrte Richtung, von der bäuerlichen zur bürgerlichen Gesellschaft, sie wurden jedoch von letzterer angeregt und hatten ihrerseits verstärkende Rückwirkungen auf die (Selbst-)Vorstellungen der Landbevölkerung. Als politisch handlungsorientierter Mythos können jene Projektionen kaum überschätzt werden. Gerade die bürgerliche Idyllisierung des Landlebens ist vielleicht das stärkste Moment der "Verbürgerlichung des Dorfes". Die europäische Perspektive läßt die Unterschiede und breite Spannweite in den politischen wie auch kulturellen Konzeptionen und Auswirkungen eines im Grunde aber ähnlichen wirtschaftlichen und sozialen Wandels hervortreten. Die Variationsbreite wäre natürlich noch größer, wenn weitere, insbesondere westeuropäische Länder wie Großbritannien, Frankreich, Belgien, die Niederlande in den Vergleich hätten miteinbezogen werden können. Darauf und auf andere 19

offene Fragen weist Hans-Jürgen Puhle in seinem kritischen Kommentar hin. Doch schon mit der begrenzten Länderauswahl zeichnet sich im mittel-, ost-, nord- und südeuropäischen Kontext die Vielfalt ab, in denen die ländliche Gesellschaft aus alten Strukturen und Verhaltensformen aus- und in die "Moderne" aufbrach. Auf eine Gemeinsamkeit in diesem Aufbruch sei noch hingewiesen. Der kommerzialisierte agrarische Fortschritt hatte auch seine Schattenseiten. Er kam zunächst oder doch vorrangig den begüterten Schichten in Land und Stadt zugute, die ihn ihrerseits aktiv vorantrieben. Passiv waren in diesen Fortschritt freilich auch alle anderen Gruppen der Landbevölkerung eingebunden. Unter verändertem Vorzeichen mußten sie für Reichtum und Erfolg der "anderen" schwer arbeiten. Sie konnten freilich auch die neuen Chancen der politischen Partizipation und/oder der sozialen Mobilität aus dem Dorf hinaus für sich nutzen. Die gigantische Auswanderung nach Übersee z.B., die fast alle europäischen Länder ergriff, war bis ins späte 19. Jh. vornehmlich eine Abwanderung der landarmen Schichten und Gruppen. Sie trugen bei zum Aufstieg der Vereinigten Staaten von Amerika, der wirtschaftlichen und politischen Großmacht im Zeichen der "bürgerlichen Gesellschaft". Die Beiträge dieses Bandes dokumentieren Aspekte des Beginns eines weltweiten, multivalenten Prozesses der Transformation ländlicher Gesellschaften. Heute stehen wir im düsteren Bann seiner ökologischen Risiken. Er verlief im 19Jh. und in den meisten europäischen Ländern weit friedlicher als im 20. Jh. und in den außereuropäischen Ländern. Angesichts der politischen Gewaltsamkeit - bis hin zur Vernichtung der Bauern -, die im 20. Jh. nicht nur, aber doch auch besonders bäuerliche Gesellschaften erfaßte, gewinnt der Wandel im europäischen 19. Jh. (trotz allem) auch Züge einer nicht nur eingebildeten Idylle. Um so mehr Anlaß besteht, mit alten Stereotypen zu brechen, die scharfe Dialektik von Aufbruch und Idylle nicht zu harmonisieren und den Ort der ländlichen Welt in der Gesellschaftsgeschichte der Moderne möglichst präzise herauszuarbeiten. Wir bedanken uns als Herausgeber bei den Autoren für ihre kollegiale Mitarbeit, ebenso beim Akademie-Verlag, der dem Vorhaben von Anfang an kooperatives Interesse entgegen brachte. Die gute Zusammenarbeit mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Bielefelder ZiF hat sich abermals in schöner Weise bewährt. Ein besonderer Dank gebührt Frau Liselotte Jegerlehner für ihre präzise und umsichtige Schreib- und Korrekturarbeit bei der Herstellung der Druckvorlage. Last, but not least sei auch allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der Konferenz gedankt, die hier nicht durch Beiträge vertreten sind; namentlich gilt das für Heinz Reif, Roman Sandgruber und Heide Wunder. Sie trugen als Sektionsvorsitzende durch ihre einführenden Referate und Diskussionsleitung wesentlich zum Gelingen der Konferenz bei.

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Anmerkungen 1

Die Ergebnisse wurden unter dem Titel "Bürgertum im 19. Jh. Deutschland im europäischen Vergleich" von J. Kocka, unter Mitarbeit von U. Frevert in drei Bänden im dtv-Verlag München 1988 herausgegeben. 2 Die entsprechenden Literaturangaben sind in den Anmerkungen der Beiträge von H. Harnisch, H.-H. Müller, H. Plaul u. H.-J. Räch verzeichnet. Wichtig für das Thema ist auch die jüngst erschienene Studie von Regina Schulte: Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts. Oberbayern 1848-1910, Reinbek bei Hamburg 1989. Literatur und Forschungsstand zum Gesamtproblem der Transformation ländlicher Gesellschaften im 19. Jh. lassen sich erschließen durch W. Fischer (Hrsg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 5: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 19. Jh. bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1985; R.G. Moeller (Hrsg.), Peasants and Lords in Modern German History, London 1986; R.J. Evans und W.R. Lee (Hrsg.), The German Peasantry. Conflict and Community in Rural Society from the Eighteenth to the Twentieth Centuries, London 1989; T. Pierenkemper (Hrsg.), Landwirtschaft und industrielle Entwicklung. Zur ökonomischen Bedeutung von Bauernbefreiung, Agrarreform und Agrarrevolution, Wiesbaden 1989.

I. Kapitalismus und bäuerliche Landwirtschaft. Ein Prozeß der Verbürgerlichung?

Hartmut Harnisch

Zwischen Junkertum und Bürgertum. Der Bauer im ostelbischen Dorf im Widerstreit der Einflüsse von traditionalem Führungsanspruch des Adels und moderner kapitalistischer Gesellschaft

I. Im Jahre 1925 schrieb Fritz Beckmann, Professor für Volkswirtschaftslehre an der landwirtschaftlichen Hochschule Bonn-Poppelsdorf, über die Bauern im Kapitalismus. Einleitend betonte er, daß es auch 1926 noch undenkbar sei,"... ein einheitliches, geschlossenes Bild vom deutschen Bauern im Zeitalter des Kapitalismus zu entwerfen 1 . Zur Illustration seiner Auffassung versuchte er, das ganze Spektrum bäuerlicher Existenzen am Beispiel diametral entgegengesetzter Fälle zu umreißen und führte dazu aus: "Vollkommen verbürgerlichte Familien, deren Söhne oft das Abiturium machen und die Hochzeitsreise nach Ägypten - die trotzdem Bauern von Beruf bleiben -, stehen neben armen, gedrückten, ums tägliche Brot aus eigenem Boden ringenden Familien, denen nicht einmal die sozialen Fortschritte des Löhnertums zugute gekommen sind. Der Großbauer an der Ruhr, der Italien kennt und seiner Tochter Möbel vom Architekten im Stil der Münchner Sezession von 1921 entwerfen läßt, der Rübenbauer aus Hildesheim, der sein Auto hält, und daneben die Männer des gleichen Berufs, mit derselben Bodenfläche, die in abgeschiedenen Gegenden der Gebirgsländer, mühsam um die tägliche Nahrung ringend, von Tuberkulose dezimiert, das sind grundsätzliche Unterschiede"2. Der nach Italien reisende Großbauer und der autobesitzende Bauer aus der Hildesheimer Gegend sind besonders einprägsame Beispiele einer erfolgreich vollzogenen Verbürgerlichung. Aber selbstverständlich war auch der kümmerlich sich durchschlagende Bauer des Mittelgebirges ein Glied der kapitalistischen Gesellschaft und den Einflüssen einer Verbürgerlichung seiner Lebenswelt ausgesetzt. Beckmann hat am Beispiel des dafür zweifellos besonders gut geeigneten Ruhrgebietes den zeitlichen Ablauf und die Dimension des grundstürzenden Wandels im Leben der Bauern vom Feudaluntertanen mit geringer Marktverflechtung zum scharf kalkulierenden modernen kapitalistischen Agrarunternehmer eines voll durchrationalisierten Familienbetriebes gezeigt. Häufiger als solche die Realitäten des auf dem Lande sich vollziehenden Wandels nüchtern analysierenden Untersuchungen waren jedoch Stimmen, die die beharrenden Elemente im dörflichen Leben hervorhoben oder, wohl zutreffender, beschworen. Selbst ein Mann wie der namhafte liberal-konservative Soziologe Leopold von Wiese betonte 1931 an herausragender Stelle das im Grunde Nebensächliche des konkret historischen Geschehens: "... gegenüber der großartigen Einerleiheit des gleichsam ewigen Dorfes"3; und zu dem Phänomen des sich vor 25

seinen Augen vollziehenden sozialökonomischen Wandels auf dem Lande schrieb er: "Es gibt kein soziales Gebilde, das nicht verändernden Einflüssen von anderen sozialen Kreisen ausgesetzt wäre. Auch Hof, Dorf, Gut und Farm ändern sich (wenn auch, wie gesagt, nicht in ihren wesentlichen Grundzügen) mit der Entwicklung der Städte und des Verkehrs. Da in der Welt mehr der Wandel als das Gleiche beachtet wird, so tritt gegenwärtig diese Umgestaltung des Landbaus durch das Städtertum stärker hervor, als sich bei einem gewissenhaften Vergleich zwischen dem, was verharrt und dem, was sich ändert, ergibt. Man glaubt den Untergang der alten Dorfkultur zu beobachten." Wiese sah das jedoch anders: "Das Dorf scheint nur 'unterzugehen', wie heute so viele stille, überkommene Werte zu schwinden scheinen; in Wahrheit werden sie nur überschrien und beiseite geschoben. Ihr Leben wird noch stiller" 4 . Die Ausführungen Beckmanns einerseits und die von Wieses andererseits markieren die grundsätzlichen Positionen in der Interpretation des Problemkomplexes Dorf resp. Bauer im Kapitalismus. Im Prinzip lassen sich sämtliche Stellungnahmen zum Thema auf diese beiden Grundpositionen zurückführen. In der Wissenschaft wie auch in der breiteren Öffentlichkeit war allerdings seit der Mitte des 19. Jh. das Bild von dem ewig sich gleich bleibenden Dorf verbreitet. Grundsätzlicher Ansatzpunkt zu allen Überlegungen zum Problemkomplex der Verbürgerlichung des Dorfes kann nur die kapitalistische Entwicklung in der Landwirtschaft sein. Aber vorläufig entzieht sich dieser Verbürgerlichungsprozeß noch einer allgemein akzeptierbaren Definition, so daß hier vorerst mit der Umschreibung aus dem uns vorliegenden Problemabriß von Wolfgang Jacobeit, Josef Mooser und Bo Sträth gearbeitet werden soll, wonach sich die eigentliche Fragestellung auf die "Durchdringung der ländlichen Gesellschaft mit bürgerlichen Normen und Verhaltensweisen" 5 richtet. Selbstverständlich geht dieser Vorgang weit über den sozialökonomischen Umwandlungsprozeß hinaus. Entsprechend der regional recht unterschiedlichen Intensität in der kapitalistischen Agrarentwicklung wirkte auch der verändernde Einfluß der Stadt auf die ländliche Lebensweise und Kultur zeitlich wie regional verschieden ein. Und natürlich bedarf es kaum ausführlicher Erörterungen, daß die Adaption städtischer Lebensformen und Normen auch schichtenspezifisch sehr unterschiedlich ausgesehen haben muß. Die Möglichkeiten und die Bedürfnisse, aber auch die Notwendigkeiten, ja schließlich sogar die Zwänge zur Übernahme aus der Stadt kommender Güter des täglichen Gebrauchs nach städtischer Bedarfs- und Geschmacksbildung sowie auch der im bürgerlichen Umfeld und aus bürgerlicher Praxis entstandenen modernen Formen des Geschäfts- und Geselligkeitslebens sahen für die einzelnen Gruppen und Schichten der Landbevölkerung doch sehr verschieden aus. Das hing mit der unterschiedlichen sozialökonomischen Position zusammen und damit auch mit der materiellen Situation, dann aber

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auch mit der mentalen Bereitschaft zur Übernahme von "bürgerlichen Normen und Verhaltensweisen". Man wird dabei auch feststellen, daß sich unter den Bedingungen einer mehr und mehr kapitalistisch geprägten Gesellschaft Phänomene herausbilden, die sich als Verbürgerlichungsmentalität, Verbürgerlichungsdruck und Verbürgerlichungssog bezeichnen lassen. Und dieser Prozeß erfaßte die einzelne Familie, Gemeinde, Region auch unabhängig vom bewußten Willen der Träger dieses Vorganges. Die Problematik des Verbürgerlichungsprozesses auf dem Lande wird in seiner ganzen Komplexität deutlich, wenn man den Blick auf den Adel und die Landarmut, die beiden wichtigsten Schichten der Landbevölkerung neben der Bauernschaft, richtet. Ohne diese Dinge hier näher ausführen zu können, sei doch wenigstens angedeutet, daß die adligen Gutsherren auch nach ihrer Metamorphose zu kapitalistischen Agrarunternehmern im Zuge der bürgerlichen Agrarumwälzung zwar den Verwertungsbedingungen ihres Kapitals nach objektiv zum Großbürgertum gehörten, dennoch aber an ihren besonderen Traditionen und Wertvorstellungen festhielten. Bei einem vielfach soliden (groß-)bürgerlichen Lebensstandard war der Adel sehr auf die Wahrung seiner Sonderstellung bedacht, und die Welt des Bürgertums galt im Grunde als fremd, als nicht standesgemäß. Die proletarischen Schichten auf dem Lande, Landarbeiter, Zwerg- und Kleinbauern, blieben bis in das 20. Jh. hinein in ihrer Lebenslage derartig gedrückt und ärmlich, daß bei ihnen an eine "Durchdringung mit bürgerlichen Normen und Verhaltensweisen" entweder überhaupt nicht oder nur in eng begrenzten Teilbereichen zu denken ist. Tatsächlich konnten im ostelbischen Dorf nur die bäuerlichen Schichten, und zwar vor allem die Groß- und Mittelbauern, zum Träger des Verbürgerlichungsprozesses werden, zumal hier, abgesehen von einigen kleinen Regionen, die gewerbliche Durchdringung des platten Landes nur gering blieb. Für diese Schichten, zu denen nach der Zählung von 1895 im ostelbischen Preußen (in den Provinzen Ost- und Westpreußen, Posen, Pommern, Schlesien und Brandenburg) in den Größenklassen von 5 bis 20 Hektar 263 263 und in der von 20 bis 100 Hektar 104 071 Betriebe gehörten 6 , war von der gesamten sozialökonomischen Situation her die Möglichkeit, aber auch die Notwendigkeit zu einer mehr oder weniger konsequenten Verbürgerlichung gegeben. Ihre Einkommenslage machte eine zunächst eher zögernd und erst gegen Ende des 19. Jh. beschleunigter vor sich gehende Übernahme aus der Stadt stammender Formen der Kultur- und Lebensweise in Kleidung und Wohnung wie auch des geselligen Lebens möglich. Bei dem Versuch, Verbürgerlichungsmentalität, Verbürgerlichungsdruck oder auch Verbürgerlichungssog für das Gebiet des ostelbischen Preußens zwischen ca. 1800 und 1914 genauer zu erfassen, wird deutlich, daß es dazu kaum Forschungsvorlauf gibt. Daher können hier nur einige Fragen aufgeworfen und einige Beob27

achtungen mitgeteilt werden. U m den Gesamtprozeß überhaupt diskutieren zu können, muß nach Indikatoren und nach Kriterien des Verlaufs gefragt werden. Wir meinen, daß bei den bäuerlichen Schichten dabei der Blick vor allem auf die Modernisierung der Wirtschaft und das Hineinwachsen in neue Formen des Geschäftslebens, die Übernahme bürgerlicher Formen in Wohnung und Kleidung sowie im geselligen Leben und der Übergang zu modernen Verhaltensweisen in der Familienplanung gerichtet werden muß. Ein besonders vielschichtiges Thema stellt schließlich das Problem des politischen Verhaltens der Bauernschaft dar. Alle diese Komponenten wirkten bei dem Prozeß der Verbürgerlichung des Dorfes zusammen; wahrscheinlich werden sich noch weitere ausmachen lassen. Zunächst muß noch ein grundsätzliches Problem aufgeworfen werden, nämlich die Frage nach der Stellung der Bauern im Sozialgefüge der kapitalistischen Gesellschaft. Die aus der Auflösung des Feudalverbandes in der ersten Hälfte des 19. Jh. hervorgehenden, juristisch und ökonomisch nunmehr unabhängigen Großund Mittelbauern müssen ihrer objektiven sozialökonomischen Stellung nach als selbständige kapitalistische Kleinunternehmer angesehen werden, die in der Regel - und das trifft auch für die Mehrzahl der Großbauern zu - selbst noch harte körperliche Arbeit leisteten. In den grundsätzlichen sozialökonomischen Existenzbedingungen standen sie mit dem Handwerk und dem Kleinhandel, also den wichtigsten Schichten des Kleinbürgertums, auf einer Stufe. Sicher gab es gewichtige Unterschiede, aber die Gemeinsamkeiten waren doch im ökonomischen und politischen Alltagsleben sehr wesentlich. Die Betonung der Gemeinsamkeiten von ländlichen und städtischen Mittelschichten ist für die Diskussion des Verbürgerlichungsprozesses des Dorfes von grundsätzlicher Bedeutung. Der Vorgang als solcher kann natürlich nicht ohne den Blick auf die für den Wandel in Kultur und Lebensweise der Landbevölkerung vorbildgebenden Schichten analysiert werden. Der nach wie vor im ostelbischen Preußen auf dem Lande politisch und gesellschaftlich dominierende Großgrundbesitz konnte für diesen Wandel ebensowenig vorbildhaft werden wie etwa das Großbürgertum. Der Wandel in Kultur und Lebensweise der bäuerlichen Schichten, die Übernahme von bürgerlichen Normen und Verhaltensweisen, folgte den vom städtischen Handwerk und Kleinhandel vorgelebten Mustern. Die zahlreichen familiären Kontakte zwischen Bauern und Kleinbürgern dürften dabei eine entscheidende Funktion erlangt haben, denn hier waren am ehesten vergleichbare materielle Verhältnisse gegeben. Auch unter dem Aspekt der Verbürgerlichung des Dorfes sehe ich die Bauern vornehmlich als Bestandteil der Mittelschichten in der kapitalistischen Gesellschaft 7 . Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Verbürgerlichung des Dorfes sich eben nicht nur im Wandel von Kultur und Lebensweise manifestierte, sondern selbstverständlich muß ebensosehr die gesellschaftspolitische Seite des

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ganzen Prozesses berücksichtigt werden. Der Verbürgerlichungsprozeß des ostelbischen Dorfes im umfassenden Sinne kann in seiner ganzen Bedeutung und in seinen Auswirkungen nur verstanden werden, wenn man den dominierenden Einfluß in Rechnung setzt, den die aus dem Feudalismus überkommenen Herrschaftseliten während des gesamten Zeitraumes in der Region behaupten und auf die anderen Schichten im Dorf auszuüben vermochten.

II.

Die Mark Brandenburg ist zweifellos für Untersuchungen der Problematik

einer Verbürgerlichung des Dorfes hervorragend geeignet, kann doch angesichts des seit Beginn des 18. Jh. ständig expandierenden Berliner Marktes und der daraus resultierenden, immer intensiver werdenden Stadt-Land-Verbindungen mit einer mehr oder weniger tiefgehenden Beeinflussung der dörflichen Kultur von der Stadt her gerechnet werden. Allerdings muß festgestellt werden, daß die Agrargeschichte des 19. Jh. für diese Region, wie überhaupt für das ostelbische Preußen, nur unzureichend aufgearbeitet ist. Das gilt insbesondere für die zweite Hälfte des Jh. und muß vor allem für die Bauernschaft nachdrücklich betont werden. Bereits im 18. Jh. waren infolge des stark wachsenden Bedarfs der Hauptstadt an Agrarprodukten regelmäßige Marktfuhren für die Bauern des weiteren Umlandes selbstverständlich geworden 8 . Zum einen mußten sie als Frondienstleistung die Produkte ihrer Gutsherrschaften nach Berlin bringen, zum anderen verkauften sie dort eigene Überschüsse. Aber auch Viehhändler, Korn- und Butteraufkäufer und Höker vermittelten intensive Kontakte von der Stadt zum Dorf. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung war der Militärdienst der zahlreichen ländlichen Kantonisten in den Städten, die vielfach als Beurlaubte während der Sommermonate auf dem Lande lebten und arbeiteten. Historisch-demographische Untersuchungen belegen ebenfalls die vielfältigen Beziehungen zwischen der Bauernbevölkerung und den kleinbürgerlichen Schichten der Stadt. Beispielsweise heirateten nach den Kirchenbüchern der Gemeinde Neuholland (Kr. Oranienburg) zwischen 1730 und 1807 110 Bauerntöchter aus dem bäuerlichen Milieu heraus. Davon nahmen 49 einen Handwerksmeister aus den umliegenden Kleinstädten zum Mann und 27 heirateten nach Berlin 9 . Die Bauern von Neuholland waren persönlich frei und vergleichsweise wohlhabend, so daß die Verhältnisse kaum typisch gewesen sein dürften (weitere derartige Untersuchungen liegen für unser Gebiet nicht vor). Man kann aber mit Sicherheit annehmen, daß dieses Dorf hier eine Art Vorreiterrolle dargestellt hat und im 19. Jh. Familienverbindungen zwischen Bauern und städtischen Kleinbürgern stark zunahmen. Auf jeden Fall gab es im Umland von Berlin lange vor der kapitalistischen Agrarumwälzung des 19. Jh. auf vielfältige Weise ein breites Feld der Kontakte und damit auch von Einflußmöglichkeiten aus der Stadt auf das Dorf. 29

Die Agrarreformen des 19. Jh. haben die Orientierung der Bauern auf den Markt und damit die Stadt-Land-Beziehungen noch einmal verstärkt. In die gleiche Richtung wirkte das beschleunigte Wachstum Berlins. Die bisherige Marktintegration der Feudalbauern wurde unter dem Druck der Ablösungslasten, der die Bauern zu höchsten Anstrengungen zwang, zur stringenten Marktabhängigkeit. Der Loskauf aus der Feudalabhängigkeit sowie der 1819 einsetzende Preisverfall für Agrarprodukte zwang die Bauern geradezu in eine Modernisierung ihrer Wirtschaften hinein. Seit den dreißiger Jahren wurde deutlich, daß die Bauernschaft diese schwierige Phase insgesamt erfolgreich durchgestanden hatte, und in der Großbauernschaft lassen sich die Anfänge der Herausbildung eines bescheidenen Wohlstandes erkennen. Günstig wirkte sich hier auch für die Landwirtschaft Brandenburgs aus, daß Berlin seit den vierziger Jahren zum Mittelpunkt des preußischen Eisenbahnetzes wurde. U m Berlin herum hatten sich einige Intensitätsinseln herausgebildet, die zum Teil schon in das 18. Jh. zurückreichen. Zu nennen sind hier die unmittelbar an Berlin angrenzenden Landstriche der Kreise Niederbarnim im Norden und Teltow im Süden, ferner das Oderbruch, der Lübbenauer Spreewald, aber auch einzelne Gemeinden, wie das wegen seiner Butter- und Käseproduktion berühmte Neuholland. In den Randgebieten Berlins, aber auch im Lübbenauer Spreewald konnten sogar Kleinbauern durch Intensivkultur an dem Aufschwung teilhaben. Eine Durchdringung des Dorfes mit "bürgerlichen Normen und Verhaltensweisen" ist allerdings bis über die Jahrhundertmitte hinaus nur ansatzweise festzustellen und war nur punktuell vielleicht schon weiter fortgeschritten 10 . Allerdings muß auch die mit der fortschreitenden Verwirklichung der Agrarreformen vorankommende Modernisierung des bäuerlichen Landwirtschaftsbetriebes, insbesondere der allmähliche Übergang zu der unter den damaligen Bedingungen als kapitalistisch anzusehenden Fruchtwechselwirtschaft als Teil der Verbürgerlichung interpretiert werden. Hinsichtlich der Kultur und Lebensweise, insbesondere was Kleidung und Wohnung anbetrifft, war jedoch offenbar die überkommene bäuerliche Kultur noch weitgehend intakt. In den siebziger Jahren setzte aufgrund der überlegenen Konkurrenz aus Übersee und aus Rußland eine tiefgehende, langdauernde Agrarkrise ein, die vor allem die getreideproduzierenden Großbetriebe traf, aber auch bei den Groß- und Mittelbauern zu spürbaren Einkommensverlusten führte. Die Junker vermochten vermittels ihrer einflußreichen Interessenvertretung zwar ab 1880 Einfuhrzölle auf Getreide durchzusetzen; trotzdem blieb die Lage der Landwirtschaft schwierig. Die Bauern haben auch diese neue Krise insgesamt erfolgreich durchgestanden. Mit dem Rückhalt in der staatlichen Agrarpolitik konnten sie über eine weitere

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Intensivierung ihrer Wirtschaften bei gleichzeitig noch mehr gesteigerter Selbstausbeutung eine beträchtliche Vermehrung der Agrarproduktion erreichen. Eine ganz wesentliche Bedeutung für die Bewältigung der Agrarkrise erlangten die ländlichen Genossenschaften. Der Siegeszug des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens begann in den preußischen Ostprovinzen verhältnismäßig spät, nämlich erst in den achtziger Jahren 1 1 . In der Provinz Brandenburg wurden 1890 erst zehn ländliche Einzelgenossenschaften gezählt; 1899 waren es dann bereits 399 12 . Die Bedeutung der Genossenschaften für die bäuerliche Landwirtschaft muß sehr hoch veranschlagt werden. Zweifellos kann Heinrich Dade, einem seinerzeit führenden Agrarökonomen und Agrarpolitiker zugestimmt werden, der 1912 betonte, daß der genossenschaftliche Zusammenschluß für die Mehrzahl der Landbevölkerung eine Lebensfrage darstelle und über den ökonomischen Erfolg hinaus für den Landwirt einen Fortschritt "... auch in sozialer, politischer und geistiger Hinsicht" bedeute 1 3 . Die Genossenschaften sicherten den Bauern nicht nur günstige Kredite und den preisgünstigen Bezug von Betriebsmitteln; durch ihr Wirken wurden den Bauern vielfach auch die erforderlichen Grundkenntnisse des modernen Geschäftslebens vermittelt. In den achtziger Jahren begann dann offenbar auch im verstärkten Maße das Eindringen "bürgerlicher Normen und Verhaltensweisen" in die Schichten der Groß- und Mittelbauern. Als Ausnahmeerscheinung aufgrund besonders günstiger Standortvorteile wird man die Verhältnisse der Bauern im Nordteil des Kreises Teltow werten müssen, die 1883 Freiherr von Canstein, Generalsekretär des landwirtschaftlichen Vereins der Provinz Brandenburg, wie folgt schilderte: "Die Besitzungen zeichnen sich überdies durch stattliche Gebäude, was wohl auch eine Einwirkung der nahen Lage bei der Metropole sein dürfte, aus, und die Bauern führen in Kleidung und Lebensweise ein eigentlich nach gewöhnlichen Begriffen dem Bauernstand ungewohnt behagliches Leben, so daß viele derselben sogar Kutschen und derartige Luxussachen sich halten 14 ." Ohne Frage war das nicht typisch. Aber Canstein konnte generell eine "gegen frühere Zeiten durchschnittlich jedenfalls erhöhte Wohlhabenheit unserer Bauern" feststellen. Natürlich bildet das den Hintergrund für den Wandel in Kultur und Lebensweise, zu dem er berichtet: "Fast überall gewahrt man in den Haushaltungen derselben grössere Behaglichkeit und Bequemlichkeit. Der frühere Kienspan ist durch die Petroleum-Lampe ersetzt, die hölzerne Ofenbank vielfach schon durch ein Sopha, Gardinen finden sich an den Fenstern,

überhaupt

zeugt

die

ganze

Wohnungseinrichtung

von

erhöhten

Lebensansprüchen. Oft genug findet man Kutschwagen auf den Bauernhöfen und jedenfalls gewahrt man fast durchweg im Fall von Neu- und Reparaturbauten die Wirtschaftsgebäude zweckmässiger und solider hergestellt 1 5 . In dem gleichen Bericht wies Canstein übrigens auch auf die Beschränkung der Kinderzahlen in

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den Bauernfamilien hin, die in einigen Gegenden schon bis zum Zweikindersystem gehe. Drei Jahrzehnte später heißt es in einer volkskundlichen Darstellung: "Da überall moderne Möbel eingedrungen sind, haben sie das feste und mit Ölfarbe gestrichene Mobiliar der Vergangenheit verdrängt." Und über die Volkstrachten heißt es, die Trachtengeschichte der Mark Brandenburg sei eigentlich nur noch als Nachruf zu verstehen 16 . Die Verbürgerlichung des Dorfes war in dieser Region offenkundig in vollem Gange. Friedrich Zahn, Direktor des bayerischen statistischen Landesamtes, veröffentlichte 1911 aufgrund der Volkszählung von 1905 und der Berufs- und Betriebszählung von 1907 eine ausführliche Analyse über Wirtschaft und Gesellschaft im kaiserlichen Deutschland. Zahn betonte die große Bedeutung des Genossenschaftswesens für die Behauptung des kleinen Mittelstandes (Bauern, Handwerker, Kleingewerbetreibende) gegenüber dem Großkapital und konstatierte dabei die "Selbstbehauptung der landwirtschaftlichen Bauerngüter mit einem kräftigen Bauernstand

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. Natürlich galt das erst recht für das so

verkehrsbegünstigte Umland von Berlin. Die Groß- und Mittelbauernschaft hatte sich also über alle Belastungen und Krisen hinweg behaupten können und befand sich an der Wende zum 20. Jh. in einem unverkennbaren ökonomischen Aufschwung, der schließlich zu einer zunehmend deutlicher werdenden Verbürgerlichung des Dorfes führte. Der Untergang der alten Dorfkultur, um auf die eingangs zitierten Ausführungen v. Wieses zurückzukommen, war unübersehbar geworden. Im Gegensatz zu der bemerkenswerten ökonomischen Selbstbehauptung stand jedoch die Rolle der Bauernschaft im politisch-gesellschaftlichen Leben. III. Börnes Freiherr von Münchhausen (1874-1945), Gutsherr auf Windischleuba (südl. Leipzig) und beim Adel wie auch in weiten Kreisen des Bürgertums hochgeschätzt als Balladendichter, ließ um 1900 sein Gedicht "Das sind wir" mit den folgenden Zeilen ausklingen: "Wir wollen in stillem walten / Dem Lande sein bestes erhalten / Deutsche Bauernkraft" 18 . Zweifellos wollte Münchhausen damit dem Adel seiner Zeit Grundwerte und Grundvorstellungen vermitteln oder solche auch anmahnen. Kaum ein Jahrhundert früher hatte den Adel die "deutsche Bauernkraft" vornehmlich nur insoweit interessiert, als sie zu Feudalrentenleistungen nutzbar war. Aber um 1900 wünschte der grundbesitzende Adel tatsächlich schon lange die Erhaltung der Bauernschaft. Er brauchte sie dringend. Denn keine der anderen großen sozialen Gruppen, Schichten oder Klassen war von ihrer objektiven sozialen Interessenlage her dazu mehr geeignet, sich als Anhängerschaft, besser gesagt als Fußvolk, der Großagrarier im Kampf um die Behauptung ihrer hergebrachten Vorrangstellung in Staat und Gesellschaft gebrauchen zu lassen als die Bauernschaft.

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Die Vorstellung, daß die Bauern vor allem auch als Faktor zur Sicherung der herrschenden Staats- und Gesellschaftsordnung zu dienen hätten, wurde bezeichnenderweise genau zu dem Zeitpunkt geäußert, als der Zwang zu tiefgreifenden Reformen der Staats- und Gesellschaftsordnung das Gespenst schwerer sozialer Erschütterungen an die Wand malte. Die Minister Altenstein und Dohna betonten am 6. Juni 1809 in einem Immediatschreiben an den König:"... so ist auf der anderen Seite doch auch wohl die Vorsorge für einen Stand zu rechtfertigen, welcher nicht nur auf die Festigkeit und Sicherheit des Staates einen so bedeutenden Einfluß hat, sondern auch als die Pflantz-Schule beinahe aller übrigen Stände mit Recht angesehen werden kann

19

. Bis zum Ende der Monarchie wurde das zu

einer der Maximen der Agrarpolitik Preußens. Wenn man hört, daß bereits im Jahre 1800 das Generaldirektorium in einem Gutachten vor den unabsehbaren Folgen einer Aufhebung der Erbuntertänigkeit mit dem Argument warnte: daß man dabei die "bei ungünstigen Handels-Conjuncturen oder eintretenden LandesCalamitäten dem Staat zur Last fallenden oder der allgemeinen Sicherheit gefährlich werdenden Fabriquen-Arbeiter" nicht übersehen dürfe 2 0 , dann wird deutlich, daß im Denken der Staatsführung der Topos von der Rolle der gottesfürchtigen und königstreuen Bauern schon sehr frühzeitig ausgeprägt war. Die Vordenker des entstehenden Konservatismus wußten sehr wohl, daß sie, nachdem die Reformen einmal begonnen hatten, ihre traditionelle Vorrangstellung in Staat und Gesellschaft nur behaupten konnten, wenn eine zahlenmäßig starke und ökonomisch einigermaßen zufriedengestellte Bauernschaft erhalten blieb. Die preußischen Agrarreformen erweisen sich in diesen Zusammenhängen tatsächlich als ein Meisterwerk zur Konservierung der alten Herrschaftselite bei gleichzeitiger ökonomischer Modernisierung der Landwirtschaft. Die Bauernschaft blieb trotz aller Konflikte und trotz der schweren Loskauflasten nicht nur insgesamt erhalten, sondern mit einiger Verzögerung eröffnete sich ihr sogar die reelle Chance zu einem gewissen ökonomischen Aufschwung. Friedrich Ludwig August von der Marwitz, Gutsherr in der Mark und preußischer Kavalleriegeneral, der als einer der Begründer konservativen Denkens in Preußen gilt, konnte schon 1821 in einem Privatbrief schreiben: "es ist also nöthig, daß wir mit unsem Bauern uns auf das engste gegen die Neuerer und Geld-Menschen verbinden

21

. Das war keine gesellschaftspolitische Phantasterei, sondern die

bemerkenswert frühzeitige Einsicht in eine der Grundvoraussetzungen zur Behauptung der Vorrangstellung des Adels. Der Verlauf der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 auf dem Lande östlich der Elbe hat gezeigt, daß die Groß- und Mittelbauern nicht als starke und entschiedene revolutionäre Kräfte auftraten, selbst in Schlesien nicht. Marwitz dachte allerdings, wie er an anderer Stelle deutlich aussprach, keineswegs an ein irgendwie geartetes partnerschaftliches Bündnis zwischen Adel

33

und Bauern 2 2 . Erster und grundlegender Schritt einer wirklichen Teilhabe der Bauernschaft am politischen Leben wäre eine Landgemeindeordnung gewesen, die den ländlichen Mittelschichten das bescheidene Maß an Mitbestimmung gewährt hätte, das die Städteordnung vom 19. November 1809 den besitzenden Schichten in den Städten gebracht hatte. Eine Landgemeindeordnung von bürgerlichem Charakter, bei dem die Funktionsträger durch die Wahl der Gemeindeglieder (selbst wenn deren Kreis auf die Besitzenden beschränkt war) und nicht letztlich durch den Willen einer Feudalobrigkeit in ihr Amt kamen, blieb jedoch aus. Im Gefolge der Revolution von 1848/49 erging am 2. März 1850 das die Agrarreformen abschließend regelnde Gesetz, das auch verwirklicht wurde. Ebenfalls als Ergebnis der Revolution wurde am 11. März 1850 eine Gemeindeordnung erlassen, die jedoch niemals wirklich in Kraft trat. Am 25. Mai 1853 wurde sie wieder förmlich aufgehoben und die gutsherrliche Polizeigewalt auf dem Lande am 14. April 1856 auch formell wiederhergestellt 23 . Erst die 1872 gegen harten Widerstand der Konservativen durchgesetzte Kreisordnung brachte im ostelbischen Preußen in den Landgemeinden die Wählbarkeit von Schulzen und Schöffen sowie die Aufhebung der gutsherrlichen Polizeigewalt (jedoch nicht in den Gutsbezirken). Eine umfassende Landgemeindeordnung erging erst 1891. Jahrzehntelang hatte das Junkertum nach der juristischökonomischen Bauernbefreiung im Interesse der eigenen Machterhaltung eine "politische Bauernbefreiung" zu verhindern vermocht 24 . Dennoch galt die Bauernschaft nach den Erfahrungen von 1848/49 als eine Hauptstütze der monarchischen Ordnung, und zwar nicht nur in Preußen, wie das publizistische Wirken eines Wilhelm Heinrich Riehl beweist 25 . Inwieweit die Bauern tatsächlich 'königstreu bis auf die Knochen' waren oder, anders gefragt, worauf ihre Anhänglichkeit an Thron und Altar eigentlich beruhte, bedarf noch tiefergehender Untersuchungen. Immerhin meinte - im Gegensatz zu dieser communis opinio - 1873 der zu dieser Zeit an der Universität Bern wirkende deutsche Staatswissenschaftler Hans von Scheel, später Direktor des statistischen Reichsamtes, in einer ausführlichen Analyse der deutschen Gesellschaft, daß - ungeachtet aller gemeinsamen

ökonomischen

Schwierigkeiten von Gutsbesitzern und Bauern - bei ernsten sozialen Konflikten die Masse der Bauern wahrscheinlich gemeinsam mit den Arbeitern gegen die Gutsbesitzer gehen würde 2 6 . In den achtziger Jahren wurden in verschiedenen Gremien, wie dem preußischen Landesökonomiekollegium und im Verein für Socialpolitik, intensive Debatten über die Erhaltung und Förderung des 'Bauernstandes' geführt, wobei vor allem die bedrohlich ansteigende Verschuldung im Vordergrund stand. In diesen Diskussionen wurde endgültig der Topos vom Bauern als der konservativen, staatsund gesellschaftserhaltenden, moralisch gesunden Schicht des Volkes ausformuliert 27 und ganz unverblümt wurden alle Maßnahmen zur Erhaltung und Stärkung

34

der Bauernschaft mit den Notwendigkeiten eines Dammbaus gegen die Erfolge der revolutionären Arbeiterbewegung begründet. Leben und Wohlergehen der Bauern selber spielte in diesen Diskussionen kaum eine Rolle. Aber insgesamt erreichte diese konservative Agrarideologie, die inzwischen nicht mehr nur Anliegen des Junkertums war, sondern auch vom Besitz- und Bildungsbürgertum voll mitgetragen wurde, offenbar weithin ihre bäuerlichen Adressaten. Friedrich Engels mußte 1894 feststellen: unter den Bedingungen der sich auftürmenden Schwierigkeiten in der Landwirtschaft "wirft sich der Großgrundbesitzer zum

Vorkämpfer des Kleinbauern auf, und der Kleinbauer - im ganzen

und großen - akzeptiert diesen Vorkämpfer ^

Natürlich kann man die Auswir-

kungen dieser Konstellation in ihrer konkret-historischen Reichweite unterschiedlich bewerten. Daß sie schwerwiegend genug waren, wird niemand bestreiten können.

Anmerkungen 1

Beckmann, F., Der Bauer im Zeitalter des Kapitalismus, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Bd. 50/2, 1926, S. 719.

2

Ebd.

3

Wiese L . v., Ländliche Siedlungen, in: Handbuch der Soziologie, hrsg. v. A . Vierkandt, Stuttgart 1931, S. 525.

4

Ebd.

5

Jacobeit, W./Mooser, J./Sträth, B., Verbürgerlichung des Dorfes und der dörflichen Bevölkerung. Ein europäischer Vergleich - Probleme und Fragestellungen, S. 3 ( = Vorlage zur Konferenzvorbereitung, Bielefeld 1989).

6

Preußische Statistik (Amtliches Quellenwerk, Bd. 142). Berufs- und Gewerbezählung vom 14. Juni 1895, II. Theil, Die landwirthschaftlichen Betriebe, insbesondere die landwirthschaftlichen Hauptbetriebe, Berlin 1902, S. 41-43.

7

Z u m Problem der Mittelschichten: Lepsius, R., Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit, in: Bürger, und Bürgerlichkeit im 19. Jh., hrsg. von J. Kocka, Göttingen 1987, S. 79-100; Haupt, H.-G., Kleine und große Bürger in Deutschland und Frankreich am Ende des 19. Jh., in: Bürgertum im 19. Jh., hg von J. Kocka, 3 Bde, München 1988, hier Bd. 2, S. 252-275. Beide Autoren zählen die Bauern nicht zum Bürgertum. Dagegen wertet Jürgen Kuczynski, m.E. völlig zutreffend, sie als "... die größte Schicht innerhalb der Kleinbourgeoisie". Kuczynski, J., Zur Soziologie des imperialistischen Deutschland, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1962/11, S. 26.

8

Harnisch, H., Kapitalistische Weimar 1984, S. 27 ff.

9

Vgl. Peters, J., Enders, L., Harnisch, H., Märkische Bauerntagebücher des 18. und 19. Jh. Selbstzeugnisse von Milchviehbauern aus Neuholland, Weimar 1989.

Agrarreform

und

Industrielle

Revolution,

10 Vgl. ebd. das von J. Peters edierte Rechnungsbuch des Großbauern Karl Walter von 1860.

35

11 Müller, F., Die geschichtliche Entwicklung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens in Deutschland, Leipzig 1901, S. 276. 12 Ebd., S. 300. 13 Roscher, W., System der Volkswirtschaft, Bd. 2: Nationalökonomik des Ackerbaus und der verwandten Urproduktion, 14. Aufl., bearb. v. H. Dade, Stuttgart 1912, S. 709 f. 14 Canstein, Frhr. v., Von den bäuerlichen Erwerbs- und Wohlstandsverhältnissen in der Mark Brandenburg, in: Landwirtschaftliche Jahrbücher, Bd. XII, Supplement I (Verhandlungen der III. Session der II. Sitzungsperiode des Königl. Landes-Oekonomie-Kollegiums), Berlin 1883, S. 88. 15 Ebd. 16 Mielke, R., Äußere Volkskunde, in: Landeskunde der Provinz Brandenburg, Bd. 3, Berlin 1912, S. 65, 89. 17 Zahn, F., Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Volkszählung 1905 sowie der Berufs- und Betriebszählung 1907, in: Annalen des Deutschen Reiches, Jg. 1910/11, S. 247. 18 Münchausen, Börries Frhr. v., Die Balladen und ritterlichen Lieder, Berlin 1919, S. 212. 19 Zentrales Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg, Rep. 2.2.1, fol. 119. 20 Ebd., Rep. 96 A Geheimes Zivilkabinett, Nr. 20B, fol. 24. 21 Hier nach Harnisch, H., Probleme junkerlicher Agrarpolitik im 19. Jh., in: Wiss. Zeitschr. d. Univ. Rostock. XXI 1972, Gesellschafts- u. sprachwiss. Reihe, Jg. 21, 1972, Heft 1, S. 101. 22 Ebd. 23 Dazu generell: Heffter, H., Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jh., Stuttgart 1950, S. 330 ff. 24 Ebd., S. 555. 25 Riehl, W.H., Die bürgerliche Gesellschaft, 9. Aufl., Stuttgart 1897, S. 66 ff. 26 Scheel, H. v., Unsere socialpolitischen Parteien, III, in: Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart, Neue Folge, Bd. 9/2, 1873, S. 174. 27 Einzelnachweise sind nicht möglich; vgl. die Diskussionen in den folgenden Protokollbänden: Landwirtschaftliche Jahrbücher, Bd. XII, Supplement I (Verhandlungen der III. Session der II. Sitzungsperiode des Königl. LandesOekonomie-Kollegiums), Berlin 1883; Miaskowski, A. v., Das Erbrecht und die Grundeigentumsverteilung im Deutschen Reich (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 20), Leipzig 1882. 28 Engels, F., Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, in: MEW, Bd. 22, S. 486.

Hans-Heinrich Müller

Bürgerlich-kapitalistische Formen in der Landwirtschaft und ihr Einfluß auf die dörfliche Produktion und Lebensweise - am Beispiel der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete

"Psychologie des Bauerntums" nannte sich ein Buch, das 1905 veröffentlicht wurde, verfaßt von einem protestantischen Geistlichen und Volkskundler. Gleich im Vorwort konstatierte er, daß die Bauern "zur verschlossensten aller Bevölkerungsschichten" gehören. Der Bauer "als ländlicher Mittelstand" erscheint in der Sicht des Verfassers durchgängig als Muster konservativer Verhaltensweisen und Träger der Tradition und "aller soliden und bewährten Instinkte im Volk", dessen Psychologie von Naivität, Gottvertrauen, Bodenständigkeit, Naturwüchsigkeit, Maßhalten, Schweigsamkeit, Dogmatik, Gewohnheit, engem Gesichtskreis, Unfähigkeit historischer, politischer und geographischer Denkweise, Mißtrauen und mangelndem Geldsinn geprägt ist: "Langsam leben, langsam vorwärtsschreiten ... ist Bauernart." Der Bauernhof, folglich auch die Gemeinde oder das Dorf, ist "eine Stätte schwerkonservativer Gesinnung". Der Bauer verkörpert "Beharrung! Beharrung in seiner schätzenswerten Einseitigkeit", und im gesellschaftlichen Sinne stellen die Bauern eine "schlafende bzw. halbschlafende Schicht" dar 1 . Was hier um die Jahrhundertwende im wünschenswerten Interesse von Thron und Altar verkündet wurde, war nichts Neues. Es war nur die Wiederholung und Bewahrung agrarromantischer Ideen, wie sie auch der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl vertrat, der in seiner 1851 erschienenen "Bürgerlichen Gesellschaft" dem Mythos vom "ewigen Bauern" huldigte. Geschichtslos, von jeder Veränderung unberührt, als Individuum kaum erkennbar, zählte er den Bauern zu den "Mächten des Beharrens" und proklamierte gewissermaßen Leitsätze konservativer Politik: "Der Bauer ist die erhaltende Macht im deutschen Volke: So suche man denn auch diese Macht zu erhalten! 2 In der Beschwörung eines intakten Bauernstandes war zugleich die Warnung vor Industrialisierung, Verstädterung, Mechanisierung der Landwirtschaft, Landflucht, Proletariat enthalten, alles Erscheinungen und Prozesse, die zum Untergang des Volkes führen würden. "Die konservative Macht des Bauernstandes" zu erhalten und für die Ziele der herrschenden

konservativen

Partei

einzuspannen, war

auch

das

Anliegen

W. v. Nathusius' (Königsborn), Präsident des Landwirtschaftlichen Zentralvereins der Provinz Sachsen, eines sehr rührigen Vereins, der sich um den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt der Landwirtschaft große Verdienste erwarb. Nathusius charakterisierte 1886 in einem der gängigen Lexika den Bauern ganz im Sinne Riehls: "Verwachsen mit seinem Grund und Boden" tritt "das individuelle Leben

37

des Bauern" zurück; "Familie und Gemeinde, Herkommen und Sitte sind dem Bauern alles", er lebt in "einfachen, naturhaften und abgeschlossenen Verhältnissen klarer und freier als in den verflachten und konfusen Verhältnissen des modernen städtischen Lebens" und sucht "die Geldwirtschaft, soweit es irgend angeht, fernzuhalten". "Der religiöse Sinn des Bauern" wird "immer wieder angeregt durch seine unmittelbarste und augenfälligste Abhängigkeit von Gottes Segen", um zu schlußfolgern: "Der Bauernstand ist eine sozialpolitische Macht ersten Ranges, welche in ihren Lebensverhältnissen nicht angegriffen, sondern richtig geleitet, sich stets im konservativen Sinne geltend macht... Also nicht nur mit Rücksicht auf eine solide Steuerkraft und ein kräftiges Volksheer, sondern auch aus höheren politischen Rücksichten muß der Bauernstand gepflegt und vor innerer Zersetzung und vor demagogischen Einflüssen geschützt werden Das hier festgelegte und für Jahrzehnte gültige Bild vom Bauern und des Dorfes widersprach der Wirklichkeit, ohne verschiedene der geschilderten Charakterzüge der Bauern bestreiten zu wollen. Es konnte entstehen, weil eine Trennung von Bauer und Landwirtschaft vorgenommen wurde und der Bauer einer politischen Zwecken zur Verfügung stehenden Ideologie dienstbar gemacht worden war. Die Auffassung vom "geschichtslosen" und "ewigen" Bauern suggeriert die Vorstellung, daß die Landwirtschaft mehr den Gesetzen der Statik als denen der Dynamik unterliege. Solche Sichtweisen gingen an den tatsächlichen sozialökonomischen Entwicklungsprozessen vorbei. Tatsache ist doch, daß die Landwirtschaft und das Dorf oder die Gemeinde von der Entwicklung der Gesamtgesellschaft, die im 19. Jh. nunmal ein bürgerliches Markenzeichen trug, geprägt wurde und wird, wenngleich die Entwicklung in Stadt und Land keineswegs synchron verlief und infolge bestehender Verschiedenheiten zwischen Stadt und Land in sozialen Teilsystemen Verspätungserscheinungen

und

Anpassungsschwierigkeiten

auftreten.

Auch war die Entwicklung der Bourgeoisie, die ihren Ausgang in den Städten nahm und in den Städten konzentriert war, nicht denkbar ohne die Rationalisierung und Produktivitätssteigerung der Landwirtschaft, und auf "einem gewissen Höhepunkt der Industrie" muß "die Produktivität der Agrikultur sich relativ rascher vermehren als die der Industrie" 4 , eine Entwicklung, an der auch die Bauern beteiligt waren. Mit dem Eintritt der Landwirtschaft in das bürgerlich-kapitalistische Zeitalter muß sich nun die Landwirtschaft, "solange die bürgerlichen Verhältnisse überhaupt fortbestehen", "fortwährend in diesem Kreislauf von Konzentrierung und Zersplitterung des Bodens bewegen' 5 . Das bewirkte zugleich die kapitalistische Klassendifferenzierung der bäuerlichen Bevölkerung, die auch immer eine Polarisierung der Bauernschaft bedeutet und mit dem Abstieg bestimmter Schichten des Dorfes in das Land- und Industrieproletariat oder dem Aufstieg von Bauern in die "Dorfbourgeoisie" auch eine "Entbäuerlichung der Bauern" zur Folge hat. Unmit-

38

telbar mit den Agrarreformen, die die moderne kapitalistische Agrarproduktion einleitete, und mit dem Differenzierungsprozeß war das beschleunigte Hineinwachsen der Bauern in die Warenproduktion und Geldwirtschaft verknüpft. Schon allein die Ablösung und Rentenverschuldung zwang die Bauern, jährlich hohe Leistungen aus dem Gewinn in Geld beizubringen, und "im Tempo der Anpassung an die Forderungen der kapitalistischen Gesellschaft schlägt er den Bourgeois in wenigen Jahrzehnten" 6 . Die erstaunliche Anpassungsfähigkeit der Bauernschaft an die kapitalistisch-bürgerliche Gesellschaft, die sich z.B. im geschickten Reagieren auf Getreidepreissteigerungen, in der Spezialisierung der Produktion, im Einstieg in landwirtschaftliche Nebenindustrien oder in der Beschäftigung von Lohnarbeitern zeigte, war auch deshalb möglich geworden, weil sich viele Bauern, insbesondere Mittel- und Großbauern, recht schnell in Unternehmer, nicht selten auch in Rentnertypen, verwandelten und das Prinzip der eigenen Bedarfsdeckung zugunsten des vollständigen Erwerbsprinzips aufgaben. In der Landwirtschaft vollzog sich schon relativ frühzeitig ein Übergang zu kapitalistischen Unternehmerformen, wie es Fritz Beckmann am Beispiel des Ruhrgebietes eindrucksvoll demonstrierte 7 . Sehr gut läßt sich das auch in der Provinz Sachsen, in der geradezu eine musterhafte Verknüpfung von Agrarwirtschaft und Industrie herrschte, verfolgen, wo der Anbau und die Verarbeitung von Zuckerrüben Kapitalgesellschaften förderte und größere Teile der Bauernschaft und des Dorfes an dieser Entwicklung partizipierten und einer "Verbürgerlichung" in ihrer Denk- und Verhaltensweise unterlagen. Waren ursprünglich städtische Industrielle und Kaufleute, die ihre erworbenen Kapitalien gewinnbringend in der Landwirtschaft anlegten, die Initiatoren von Zuckerfabriken und anderen gewerblichen Unternehmen, seit Mitte der 30er Jahre bürgerliche Domänenpächter und Großgrundbesitzer, die teilweise aus dem Bauernstand hervorgingen, Inhaber von Zuckerfabriken, so schließen sich bald auch Bauern zu Kapitalvereinigungen zum Anbau und zur Verarbeitung von Zuckerrüben zusammen. Bereits 1838 gründeten 4 Ackermänner (50-75 ha), 7 Halbspänner (25-37 ha), 2 Kossäten (5-7,5 ha), 2 Gastwirte und ein Schmiedemeister aus Klein Wanzleben in der Magdeburger Börde sowie 2 Handwerker aus dem benachbarten Seehausen eine Zuckerfabrik auf der Basis eines Aktienvereins und zeichneten ca. 200 Taler j e Aktie, insgesamt 15 000 Taler 8 . Man braucht wohl nur wenig Vorstellungskraft, um zu begreifen, daß hier Groß-, Mittel- und auch Kleinbauern eine kapitalistisch-bürgerliche Denkweise erfaßt hatte und ganz im Gegensatz zu den Auffassungen Nathusius' sie den Geldgeschäften nicht fernstanden, j a sie begriffen nicht nur den Wert blanker Taler, sondern auch eines Stückes "Papier", eben einer zinstragenden Aktie. Eine Rübenzuckerfabrik von Bauern gegründet, finanziert, geleitet, Aktionäre eines industriellen Etablissements - welch ein tiefgreifender Wandel hatte sich doch auf dem

39

Dorfe, in der Lebensweise und im Denken bäuerlicher Produzenten vollzogen. Offenbarte sich damit nicht auch ein neues Lebensgefühl? Man war nicht mehr Bauer, sondern nannte sich "Ökonom", "Landwirt" oder "Gutsbesitzer" und betätigte sich auch als "Unternehmer"; eine neue Denkungsart reflektierte sich darin, die schon sehr frühzeitig die Bördedörfer "heimsuchte". Bereits 1817 fand sich über dem Torbogen zum Hof des Christian Körner in Klein Rodensieben die Inschrift "Es blühe die Oeconomie" 9 , die auf die Gesamtentwicklung des 19. Jh. bezogen, eine ausgeprägt kapitalistisch-bürgerliche Gesinnung in der bäuerlichen Landwirtschaft der Provinz Sachsen und in angrenzenden Gebieten verrät. Das bäuerliche Unternehmen in Klein Wanzleben machte Schule. Schon ein Jahr später, 1839, gründeten "Ackerleute" in Etgersleben eine Rübenzuckerfabrik und zur gleichen Zeit entschlossen sich auch die "Ackerleute und Halbspänner" in Ochtmersleben und Großottersleben, ihre bäuerliche Tätigkeit mit der Rübenzuckerfabrikation zu vereinigen 10 . Aus der Klein Wanzleber Bauern-Aktien-Fabrik ist dann Matthias Christian Rabbethge hervorgegangen, ein kapitalistischer Unternehmer reinsten Wassers, der der Zuckerfabrik und der später angegliederten Rübensamenzucht zur Weltgeltung verhalf, wobei die Rübensamenzucht bis 1914 eine nahezu unangefochtene Monopolstellung einnahm. Rabbethge hat sich als Sohn eines Kossäten (ca. 12,5 ha) aus dem "Torbogen-Oeconomie-Dorf" Klein Rodensieben, ausgestattet mit starkem Erwerbssinn, mit eigener Kraft zu einem der Maßgeblichen im Bereich der Rübenzuckerindustrie entwickelt. Er verkaufte 1843 die väterliche Wirtschaft, pachtete in Dreileben das Ackergut Nr. 7 (ca. 50 ha) für jährlich 670 Taler, um 1847 in Klein Wanzleben das ungefähr 75 große Wernecksche Bauerngut zu kaufen und gleichzeitig 10 Aktien der Zuckerfabrik im Werte von 3900 Taler in seinen Besitz zu bringen; beides bildete den Grundstock für den raschen Aufstieg des zukünftigen Weltunternehmens, das die landwirtschaftliche und soziale Lage der näheren Umgebung von Grund auf umkrempelte. In Rabbethge manifestiert sich in symptomatischer Weise die Entwicklung von einem Kleinbauern über den Pächter und Großbauern zu einem kapitalistischen Großunternehmer, ein typischer Repräsentant der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jh. in der Provinz Sachsen 11 . Die Gründung von Zuckerfabriken und anderen gewerblichen Verarbeitungsstätten und der notwendig gewordene Betrieb eines intensiven Ackerbaus war natürlich an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Der Bauer August Koch aus dem Dorf Schönerwerda bei Artern, der 1863 die 24,4 ha große väterliche Wirtschaft übernahm und bis 1900 durch Kauf und Pacht auf 90,4 ha vergrößerte (davon 17,7% Pachtland) und Teilhaber einer Zuckerfabrik war, die 1856 in Roßleben (Unstrut) entstand, nannte die wichtigsten Voraussetzungen, die er und sein Vater "als außergewöhnliche Fortschritte erlebten": 1. die Ablösung der Fronen und Naturalleistungen, womit "eine neue Ackerverfassung" ins Leben trat, die "mit

40

Macht kommen mußte" und "weite Kreise der Landwirtschaft" in die "reine Geldwirtschaft" zog, und 2. "die Separation der arg zerstückelten Flur", die den Bauern erst zum wirklich freien Herrn seiner Wirtschaft machte. Aus der Beseitigung der überlieferten feudalen Verhältnisse ergab sich der "dritte große Fortschritt": der Anbau von Zuckerrüben und ihre Verarbeitung in Zuckerfabriken, mit der eine neue produktivitätssteigernde Fruchtfolge auf den Äckern einkehrte. Koch betrachtete die "Vereinsfabrik", der sein Vater mit 5 ha Rübenanbaupflicht beigetreten war, als günstige Kapitalanlage, da ihm bewußt geworden, "daß man sich in Zeiten der Geldwirtschaft auch 'arm' sparen konnte". Schließlich "kam der vierte außergewöhnliche Fortschritt" hinzu, der, zwar nur von lokaler Bedeutung, ganz stark "kapitalistischen Geist" der Bauern erkennen läßt: die Unstrut-Regulierung 1857/58, die ebenfalls mittelst einer "Kapitalgesellschaft", bestehend aus Bauern und Rittergutsbesitzern mehrerer Unstrut-Dörfer, ausgeführt wurde, die gegen Ausgabe von "Obligationen" 2 Millionen Mark aufbrachte und 5000 ha Land entwässerte und in wertvolles Kulturland verwandelte. "Hand in Hand mit diesen außergewöhnlichen Fortschritten, die nicht nur unser Heimattal betrafen, ging eine Veränderung der landwirtschaftlichen Denkungsart... Der Blick wurde weiter und ein gewaltiges Bildungsstreben trat überall zu Tage

12

.

Die Veränderungen in der bäuerlichen Denkweise schlössen auch Risikobereitschaft ein. Zumindest kann man es den Worten des Grafen Helldorf, Vertreter der Provinz Sachsen in der preußischen Abgeordnetenkammer, entnehmen, als er am 14.4.1858 feststellte, daß bäuerliche "Zuckerfabrikations-Associationen" nicht nur "ihre ganze Wirtschaft dem Rübenbau angemessen verändern müssen, sie haben (auch) ihre Ersparnisse und außerdem noch geborgte Gelder ... zum Aufbau der Fabriken verwendet". 1 '' Die "Ersparnisse" dürften in der Regel aus den erzielten Überschüssen der Marktproduktion gestammt haben, d.h. also, die Bauern waren auf die Unterhaltung ständiger städtischer Marktbeziehungen (Magdeburg, Halle, Bernburg, Nordhausen, Halberstadt, Sangerhausen, Braunschweig, Hannover u.a.) angewiesen, die zugleich ein "Einfallstor" städtisch-bürgerlicher Denkund Verhaltensweise darstellten. Erwähnen wir als Beispiel bäuerlicher Kapitalakkumulation die Zuckerfabrik Neunfinger (Bernburg), 1850 von 4 Domänenpächtern gegründet. 1857 kauften 7 Bauern aus Latdorf (33, 38, 62, 72, 74 und 94 ha) 7 von insgesamt 15 Anteilen. Von diesen Latdorfer Bauern sind auch die Ablösungssummen bekannt. Sie hatten auf Grund der Gesetzgebung jährlich zu leisten: 269, 303, 534, 542, 531, 553 und 786 Mark. Es waren im Vergleich zu anderen Provinzen beachtliche Renten. Dennoch stellten diese Renten offensichtlich keine schwerwiegenden Hemmnisse für die Entwicklung der betreffenden landwirtschaftlichen Betriebe dar, wenn wir bedenken, daß 3 dieser Ablösungsrenten zahlenden Bauern je 27 000, 2 Bauern je 40 500 und 2 Bauern je 13 500 Mark für Aktien ausgaben 14 .

41

Es waren aber nicht nur kapitalkräftige Großbauern, die in die gewinnbringende Zuckerproduktion einstiegen, sondern auch viele Klein- und Mittelbauern erkannten darin eine vorteilhafte Kapitalanlage und günstige Verwertung ihres Bodens. Überhaupt betrug der Anteil bäuerlichen Kapitals an der Zuckerindustrie in der Provinz Sachsen, in Hannover, Braunschweig und Anhalt (1841: 48; 1851: 131; 1861 165; 1871: 214; 1881: 227; 1891: 236 Fabriken), die wichtige Impulse für die allgemeine Industrialisierung ausübte und mit zu den größten Investitionsträgern während der Industriellen Revolution zählte, etwa 60 bis 80%. So gehörten zu den Kapitalgebern der 1865 etablierten Zuckerfabrik Erdeborn bei Eisleben 1 Amtmann, 4 Rittergutsbesitzer und 29 Bauern. Die 33 Aktionäre, die 1857 die Zuckerfabrik Wendessen (Braunschweig) ins Leben riefen, hatten folgende soziale Stellung: 3 Rittergutsbesitzer, 2 Amtmänner, 2 Gutspächter und Ökonomen, 5 Ackermänner, 7 Halbspänner, 10 Kossäten, 1 Zimmermeister, 1 Mühlenbesitzer und 2 Kaufleute. Noch vielgestaltiger war die Zusammensetzung der Teilhaber der Zuckerfabrik Twülpstedt, die 1883 ihre Tätigkeit aufnahm: 28 Ackermänner, 7 Halbackermänner und -spänner, 13 Großkossäten, 27 Vollköter und Kossäten, 8 Stückenköter, Halbstückenköter und Kleinkossäten, 9 Brinksitzer, 18 Anbauer, 11 Handwerker, 8 Gastwirte, 5 Kaufleute, 1 Ökonom, 1 Bankier, 1 Fuhrmann, 1 Particulier und 8 Mühlen-, Ziegelei-, Brennerei- und Brauereibesitzer 15 . Wer wollte bestreiten, daß hier nicht ein breites Spektrum des Dorfes vertreten ist? Führen wir noch die Grundbesitzverhältnisse der Gesellschafter einiger zwischen 1858 und 1883 in Braunschweig und Hannover gegründeten Zuckerfabriken an, die recht eindrucksvoll das Bild einer breiten dörflichen Aktienstreuung in der Zuckerindustrie vermitteln:

Grundbesitzverhältnisse von Aktionären einiger Zuckerfabrikanten in Hannover und Braunschweig 16 .

Fabrik

Besitzgrößen

(prozentualer Anteil)

unter 20 ha

20-100 ha

Groß-Düngen

33,5

52

14

Weetzen

45

20

35

Barum

10

70

20

Peine

37,3

51

11,7

Fallersleben

20

50

30

Othfresen

50

40

10

Nordstemmen

15

44

33

42

über 100 ha

Nichtrübenbauer

0,5

8

So erstaunlich der hohe Anteil bäuerlichen Kapitals auch ist, die treibenden Kräfte zur Gründung von Zuckerfabriken, zumindest in der Zeit von 1840 bis 1870, waren in der Regel kapitalistische Gutsbesitzer, Domänenpächter und Industrielle, die zumeist auch die leitenden Stellungen in den Unternehmen oder Aufsichtsräten einnahmen und einen beherrschenden Einfluß auf die Produktion und ihre Entwicklung und auf soziale Verhaltensweisen in den für sie zuständigen Dörfern ausübten. Nach

1870 beobachten

wir jedoch

eine

Zunahme

reiner

"Bauernfabriken", die ihren Aktionären oft 10 und mehr Prozent Dividende zahlten. So bildeten 1875 fünf "Ackergutsbesitzer" den Vorstand der bereits 1868 errichteten Aktienzuckerfabrik Ottleben (Krs. Oschersleben). In das Gesellschaftskapital teilten sich 32 Groß- und Mittelbauern 17 . Hierin reflektiert sich Unternehmergeist vieler Bauern, die mit Hilfe assoziierten Kapitals zur kapitalistischen Großproduktion übergingen und bürgerliches Geschäftsgebaren, wie Buchhaltung, Geldverkehr mit Sparkassen, Banken und Firmen, Verkehr mit Steuerbehörden, Notaren, Ministerien, Transportunternehmen u.a.m. beherrschten bzw. darin recht gut bewandert waren. Der bäuerlich-kapitalistische Erwerbstrieb und bäuerliches Aktienkapital griffen bald auch auf andere Wirtschaftszweige, wie Malzfabrikation, Spiritus- und Stärkeproduktion, Tabak- und Zichoriendarren, Obst- und Gemüseverwertung, verschiedentlich Ziegeleien, gegen Ende des 19. Jh. Milchwirtschaft, über. Die kapitalistische Entwicklung der Landwirtschaft und in der landwirtschaftlichen Verarbeitungsindustrie schuf, um Bauer Koch zu zitieren, "Verhältnisse, die doch manchmal stärker als die Menschen sind" 18 . Der zunehmende und große Bedarf der Fabriken an Zuckerrüben, der "besten Geldfrucht", und die den Verarbeitungsbetrieben innewohnenden kapitalistischen Vergrößerungstendenzen trieben die Bauern geradezu zwangsläufig zum verstärkten Rübenanbau, der strengen Fabrikvorschriften unterlag und bis Mitte der 70er Jahre oft einem Raubbau am Boden gleichkam. Nicht selten wurde die Hälfte bis zwei Drittel der Ackerfläche mit Rüben bestellt, weil sich so das zum Leitmotiv erhobene Streben nach Profit, die günstigste Verwertung von Kapital und die Erzielung hoher und höchster Bodenrenten am "rationellsten" verwirklichen ließ. Doch die nicht ausbleibenden Schäden für die Landwirtschaft ("Rübenmüdigkeit") und die zeitweilige Stillegung der Fabriken infolge Ertragseinbußen zwangen die Bauern und Gutsbesitzer und Fabrikinhaber zum Übergang zu einer geregelten Fruchtfolge, in der aber außer Getreide- und Rübenbau auch andere "Handelsgewächse" wie Kohl, Speisekartoffeln, Zwiebeln, Mohn, Kümmel, Rübensamen u.a. relativ stark berücksichtigt wurden, alles Früchte, die als Folge verbesserter Verkehrsverhältnisse größere Aufnahme fanden und städtische Marktbeziehungen intensivierten. Je näher der Markt, desto empfänglicher war der Bauer für den Kapitalismus, und der Verkauf von Getreide,

43

Hackfrüchten und Handelsgewächsen war zum reinen Selbstzweck geworden, was auch schon Orientierung am Weltmarkt (Zuckerbörse) einschloß. Das Eindringen der kapitalistischen Wirtschaftsweise in die bäuerliche Landwirtschaft und der Zuckerrübe als ihr Schrittmacher rief auch eine starke Bewegung in den Pacht- und Besitzverhältnissen hervor. Zuckerfabriken kauften im Interesse besserer Rentabilität und Gewinnerwartungen Bauerngüter auf oder erwarben bäuerliches Pachtland, wobei die gebotenen hohen Kauf- und Pachtpreise ein äußerst "verlockendes und verführerisches Mittel" bildeten. Die Folge war, daß eine nicht unbeträchtliche Zahl von Groß- und Mittelbauern ihre Landwirtschaft gänzlich aufgaben und von ihren Pachtrenten oder Verkaufssummen auf dem Lande oder in der Stadt als Rentner lebten und ein Teil von ihnen Zeit und Vermögen der Spekulation widmete. "Allein im Kreis Wanzleben werden für 1864 insgesamt 194 männliche 'Rentiers und andere aus eigenen Mitteln lebende selbständige Personen' gezählt, wovon 133 auf dem Lande und 61 in den Städten leben (hinzu kommen noch 252 Privatieren, von denen 188 auf dem Lande und 64 in den Städten leben; mithin also 446 Personen). Für den Kreis Neuhaidensleben werden etwa zur selben Zeit (1861) 123 Rentiers genannt, davon 17 in den 'Börde'-Dörfern Althaldensleben, Alvensleben, Eilsleben, Groppendorf, Hakenstedt und Vahldorf' 1 9 . Auch Graf Helldorf informierte die preußische Abgeordnetenkammer, daß der Bauer angesichts hoher Kauf- und Pachtpreise es vorzog, "sein Gut zu einem enormen Preis zu verkaufen und von den Zinsen als Rentier zu leben ... Ich glaube beispielsweise, nicht zu viel zu behaupten, daß jetzt in meiner Vaterstadt Halle wohl hundert solcher Rentiers leben, und in Magdeburg soll es noch ärger sein 2 0 . Dieser "Rentnertyp" dürfte aber auch daraus resultieren, daß der Bauer sein Betriebsergebnis unbefriedigend fand, wenn er es mit seinem wachsenden Arbeitsaufwand verglich, welcher die komplizierte Leitung eines kapitalistischen Betriebes verursachte. Solche Bauern pflegten dann Stücke ihres Landes zu verpachten, wodurch es ihnen gelang, die bestehenden Lebensansprüche beizubehalten und die Arbeitsmühen zu verringern. Für den grundbesitzenden Bauern bestand daher die Möglichkeit, nicht nur Unternehmergewinn,

sondern

auch

Pachtrente zu erzielen. Dies wiederum gab einer Schicht von Kleinbauern mit Unternehmerqualitäten die Gelegenheit, auf dem Wege der Pachtung durch die Entwicklung rationeller Betriebe ihr Einkommen zu erhöhen. Gleichzeitig pachteten größere Bauern oder kauften kurze Zeit nach Gründung der Fabrik häufig auch bäuerliche Wirtschaften, um eine größere Menge Rüben für die Fabrik produzieren zu können und nach dem Erwerb einer entsprechenden Zahl von Aktien möglichst viel Einfluß auf das Unternehmen und Ansehen bei ihresgleichen zu gewinnen. So konnte man um das Jahr 1864 die Bildung größerer Wirtschaften im M a r t felder Seekreis beobachten, in anderen Bezirken der Provinz Sachsen etwa 10 Jahre später, z.B. im Regierungsbezirk Merseburg 21 .

44

Die Entwicklung der Rübenkultur seit etwa 1840 und die industrielle Rübenverarbeitung beeinflußte nicht nur entscheidend die landwirtschaftliche Produktion, sondern auch die bäuerliche und dörfliche Lebensweise. Die moderne Landwirtschaft mit ihrem zunehmenden betriebsfremden Verbrauch benötigte natürlich ein allgemein höheres Bildungsniveau. Die bisherigen Dorfschulen, die nur Elementarwissen in Lesen, Schreiben und Rechnen vermittelten, genügten den neuen Anforderungen nicht mehr und bedurften einer Verbesserung des Unterrichts. In der ersten Hälfte des 19. Jh. übernahmen daher auch städtische Privatlehrer die Ausbildung der Söhne und Töchter wohlhabender Bördebauern. 1848 vereinigten sich "einige Familien zur Annahme eines Privatlehrers für ihre Kinder" in Niederndodeleben 2 2 . Erfolgversprechender und rationeller war jedoch der Besuch städtischer Schulen. Wanzleber und Magdeburger "höhere" Schulen zählten schon seit der Jahrhundertmitte zahlreiche Kinder aus Bördedörfern zu ihren Schülern. Die Söhne des Bauern Koch aus Schönerwerda "erhielten eine angemessene Bildung und Fachausbildung" in Artern, Merseburg und Helmstedt und absolvierten ein Praktikum in anderen Landwirtschaftsbetrieben. "Die Töchter haben die Volksschulen und die städtischen Mittelschulen besucht, nachher kamen sie in fremde Wirtschaften, um sich in neue Verhältnisse schicken zu lernen. Beide sind in Freyburg a.U. an tüchtige Bürger-Bauern verheiratet" 23 . Und in manchen Fällen begannen Söhne wohlhabender Bauern ein Universitätsstudium aufzunehmen. Der größte Teil der Rübenbauern, aber nicht nur sie, besaßen im letzten Drittel des 19. Jh. ein ausreichendes ökonomisches Wissen, um, wie Paul Gutknecht, der selbst aus großbäuerlichen Kreisen stammte und promoviert hatte, schrieb, mit "dem Rechenstift" umzugehen und in der Lage waren, den "kaufmännischen Betrieb" ihrer Wirtschaft zu bewältigen 24 . Eine durchkapitalisierte Landwirtschaft, wie sie die mitteldeutschen Rübenbezirke verkörperte, wo sich die Zuckerproduktion zu einer der ergiebigsten Profitquellen entwickelte, spiegelte sich natürlich im entsprechenden Sozialverhalten, wie Prestigedenken, Repräsentationsbedürfnis oder in der Nacheiferung bürgerlichen Geschmacks, wider. Es entwickelten sich verbürgerlichte Familien, die eine entsprechende bürgerliche Lebensweise an den Tag legten - und die trotzdem in den meisten Fällen Bauern von Beruf blieben. Wir erleben Großbauern, auch nicht wenige wohlhabende Mittelbauern, auf Reisen in "die Nähe und die Ferne", um entweder Wirtschaftsvergleiche anzustellen oder Erholung in bekannten Badeorten oder in fremden Ländern zu suchen oder in Italien eigene Krankheiten oder die ihrer Familienangehörigen auszukurieren 25 . Am stärksten äußerte sich der ökonomische und soziale Bewußtseinswandel und das neue Repräsentationsbedürfnis vieler Bauern in der kapitalistischen Bautätigkeit nach 1850, besonders aber nach 1870, wo städtische Architektur in die Dörfer einzog und traditionelle bäuerliche Wohnkultur zu sprengen begann. Be-

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kannt waren die sog. "Rübenpaläste", villenartige Wohnhäuser, die nicht selten eine Kapitalanlage von 80 000 bis 100 000 und mehr Goldmark je Haus repräsentierten und in denen ein "Comptoir" oder "Kontor" die Visitenkarte kapitalistischer Wirtschaftsweise abgab.

Das

Dorfbild wurde

aber

auch

zunehmend

von

"Kasernen" bestimmt, in denen schamlos ausgebeutete Wanderarbeiter aus Ostelbien, Polen oder Rußland, die bereits ein reines Landarbeiterproletariat darstellten, einquartiert waren - eine wichtige Akkumulationsquelle der kapitalistisch wirtschaftenden Gutsbesitzer und Großbauern, die zugleich den Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat, also der bürgerlichen Gesellschaft, im Dorfe auf "architektonische" Weise demonstrierte. Bürgerliche Verhaltensweisen der Bauern wie auch zunehmendes Landproletariat führten dazu, daß sich in Dörfern zahlreiche "Kaufmannsläden" ansiedelten, die mit ihrem vielfältigeren Angebot an Nahrungsmitteln, "Kolonialwaren" und industriellen Erzeugnissen weit über den bisherigen bäuerlichen bzw. dörflichen Grundbedarf hinausgingen und damit auch ein "Stück Stadt ins Dorf' holten 26 , was sich wiederum auf die Zubereitung der Mahlzeiten, Eßkultur, Kaffee- und Teestunden auswirkte. Marktproduktion, "reine Geldwirtschaft" und "Kapitalgesellschaften", später Genossenschaften, bewirkten eine erstaunlich schnelle Durchkapitalisierung der Landwirtschaft in der Provinz Sachsen und in angrenzenden Gebieten und zeugen vom Gegenteil "langsamen Vorwärtsschreitens" der Bauern im Sinne der eingangs zitierten konservativen Autoren. Kapitalistische Produktionsverhältnisse und Klassendifferenzierung "separierten" auch stärkstens die dörflichen Besitzverhältnisse mit all ihren "bürgerlichen" oder proletarischen Attributen: Großgrundbesitz und "Dorfbourgeoisie" (Großbauern), Kleinbürgertum (Klein- und Mittelbauern) und Land- und Dorfarmut bzw. Landproletariat, eine Einteilung, wie sie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft am Ende des 19. Jh. entsprach. Bedeutet aber Kapitalismus in all seinen Erscheinungsformen auf dem Dorfe auch eine "Verbürgerlichung des Dorfes"? Oder verhielt es sich vielmehr so, wie es in der Charakterisierung westfälischer Bauern durch Josef Mooser zum Ausdruck kommt: "Trotz der partiellen Orientierung an bürgerlichem Lebensstil wäre es daher übertrieben, von einer 'Verbürgerlichung' der Bauern

zu sprechen. Es war

eher eine 'Verjunkerung' - wenigstens bis in die Mitte des 19. Jh. - und dort, wo, wie in Minden-Ravensberg, der Adel schwach war. Wie der ostelbische Landjunker blieb der westfälische Vollbauer sozial und politisch 'höchst altmodisch', obwohl er ökonomisch 'modern' geworden war. Ihr Agrarkapitalismus blieb m.a.W. ein spezifisch bäuerlicher, der sich an den 'ständischen' Normen bäuerlicher Lebensführung und Selbsteinschätzung orientierte" 27 . Gewiß spielten ständische Normen auch nach 1850 und selbst in den kapitalistischen Rübenprovinzen eine größere Rolle. So wurde das soziale Ansehen auf dem Dorf viel stärker von der Größe des Grundeigentums bestimmt als vom un-

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ternehmerischen und

wirtschaftlichen Erfolg des Betriebes.

Daher

waren

"Unternehmer" auf dem Lande auch weniger tonangebend als in der Stadt, so daß z.B. ein hochverschuldeter Großbauer, dem in Wirklichkeit kaum noch etwas gehörte, immer noch ein größeres Ansehen besitzen konnte als ein tüchtiger, erfolgreicher, kapitalkräftiger Pächter, der seinen Erfolg bürgerlichen Tugenden verdankte. Insofern war die kapitalistisch-bürgerliche Entwicklung doch nicht in alle bäuerlichen Lebensbereiche eingedrungen und hat bürgerliche Werturteile zum "Maß aller Dinge" gemacht. Ökonomische Auffassungen hatten überlieferte ständische Normen und Verhaltensweisen noch nicht restlos verdrängt. Ferner gilt zu beachten, daß die "reine Geldwirtschaft" fast nur im Betrieb Anwendung fand, jedoch kaum auf den Hof ausgedehnt wurde. Im Interesse der Hoferben wurde der Grund und Boden und das Gebäude- und Viehinventar nicht zum tatsächlichen Kapitalwert bilanziert, sondern nur zu einer mäßigen Taxe veranschlagt, wie er unter "Brüdern und Schwestern" wert war. Schließlich gab es Unterschiede zur Stadt dahingehend, daß die Bauernschaft im großen und ganzen in ihrer beruflichen Tätigkeit in gewisser Weise einheitlich geprägt blieb. Und Klein-, Mittel- und Großbauern lebten zusammen in derselben Gemeinde und waren voneinander nicht soweit getrennt wie die Arbeiter, die im Osten der Stadt, und der Fabrikant, der im Westen der Stadt wohnte. Auch zwischen dem Landarbeiter und dem größeren Bauern, auch unter einem Teil der kapitalistischen Rübenbauern und Zuckerfabrikaktionäre, bestand noch manche Gemeinsamkeit der Arbeit im Betrieb, die in der Industrie nur in ihrer Frühheit und industriellen Pionierarbeit vorhanden

Anmerkungen 1

l'Houet, A., Psychologie des Bauerntums, 3. Aufl., Tübingen 1935, S. IV, 6, 27, 35, 240 f., 350 (1. Aufl. 1905, 2. Aufl. 1920).

2

Riehl, W.H., Die bürgerliche Gesellschaft. Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik, Bd. 2, 2. Aufl., Stuttgart-Tübingen 1854, S. 119.

3

Deutsche Encyklopädie. Ein neues Universallexikon für alle Gebiete des Wissens, Bd. 2, Leipzig 1886, S. 256 ff.

4

Marx, K., Theorien über den Mehrwert, T. 2, Berlin 1959, S. 10.

5

Marx, K./Engels, F., Werke, Bd. 7, Berlin 1960, S. 290.

6

Beckmann, F., Der Bauer im Zeitalter des Kapitalismus, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Jg. 50, 2. Halbbd., 1926, S. 737.

7

Ebd., S. 33 ff.

8

Agrarmuseum der Magdeburger Börde Ummendorf, Gründungsakte der Zuckerfabrik Klein Wanzleben, 1838.

9

Räch, H,-J., Zur Lebensweise und Kultur der Bauern unter den Bedingungen des Kapitalismus der freien Konkurrenz (etwa 1830-1900), in: Räch, H.-J. u.

47

Weissei, B. (Hrsg.), Bauer und Landarbeiter im Kapitalismus in der Magdeburger Börde, Berlin 1982, S. 46. 10 Keber, A., Der Regierungsbezirk Magdeburg. Historisch, geographisch, statistisch und topographisch, Halberstadt 1843, S. 115 f. 11 Diestel, D. u. Müller, H.-H., Die Zuckerfabrik Klein Wanzleben (von ihrer Gründung bis 1917/18), in: Räch, H J . u. Weissei, B. (Hrsg.), Landwirtschaft und Kapitalismus, 2. Halbbd., Berlin 1979, S. 65 f. 12 Koch, A., Ein landwirtschaftlicher Rückblick auf die letzten 60 Jahre und auf 25jährige Betriebsergebnisse einer Bauernwirtschaft, Halle 1910, S. 6 ff. ( = Arbeiten der Landwirtschaftskammer für die Provinz Sachsen, H. 16). 13 Zentrales Staatsarchiv der DDR, Dienststelle Merseburg (ZStA Merseburg), Rep. 164a, Nr. 135a, Bd. II, Bl. 156. 14 Frommelt, J., Latdorf. Ein Beitrag zur Geschichte des Großbauerntums im Kreis Bernburg, phil. Diss. Leipzig 1940, S. 142 ff. 15 Hagelberg, G.B. u. Müller, H.-H., Kapitalgesellschaften für Anbau und Verarbeitung von Zuckerrüben in Deutschland im 19. Jh., in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1974, T. 4, S 113 ff. 16 Henze, L., Über die Organisationsformen und Finanzierungsmethoden der deutschen Rohzuckerfabriken, staatsw. Diss. Göttingen 1920, S. 28. 17 Staatsarchiv Magdeburg, Rep. H, Neindorf, Nr. 3260. 18 Koch, A., Landwirtschaftlicher Rückblick, S. 56. 19 Plaul, H., Landarbeiterleben im 19. Jh., Berlin 1979, S. 79 f. 20 ZStA Merseburg, Rep. 164a, Nr. 135a, Bl. 156. 21 Zeitschrift des landwirtschaftlichen Centrai-Vereins der Provinz Sachsen, Jg. 1866, S. 129 u. Jg. 1876, S. 101; vgl. auch Humbert, G., Agrarstatistische Untersuchungen über den Einfluß des Zuckerrübenbaues auf Land- und Volkswirtschaft, Jena 1877, S. 104 ( = Sammlung nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle, Bd. 1). 22 Räch, H.-J., Lebensweise, S. 49. 23 Koch, A., Landwirtschaftlicher Rückblick, S. 16. 24 Gutknecht, P., Studien über die technische Organisation der Landwirtschaft unter dem Einfluß des intensiven Hackfruchtbaues (phil. Diss. Gießen), Berlin 1907, S. 38. 25 Koch, A., Landwirtschaftlicher Rückblick, S. 58 u. 63. 26 Räch, H.-J., Lebensweise, S. 66. 27 Mooser, J., Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984, S. 226. 28 Albrecht, G., Das deutsche Bauerntum im Zeitalter des Kapitalismus, in: Grundriß der Sozialökonomik, IX. Abt., T. 1, Tübingen 1926, S. 56 ff; Niehaus, H., Der Bauer in der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, Köln-Opladen 1948.

Walter Achilles

Die Entbäuerlichung des Bauern (1880 bis 1913). Dargestellt an den Regionen Magdeburger Börde, Anhalt, südliches Niedersachsen und Oldenburg

Auch wenn das Begriffspaar Bedarfsdeckungswirtschaft/Marktwirtschaft aus zwei Idealtypen von einiger Realitätsferne besteht, ist es doch geeignet, den hier zu skizzierenden Wandel in seinem Kern zu erfassen. Mit diesem Begriffspaar ist die Annahme verbunden, daß sich das Wesen der Bauern in der Bedarfsdeckungswirtschaft

entwickelte

und

verfestigte,

während

die

Marktwirtschaft

einen

Unternehmer erfordert, dessen Handlungsweise zumindest in den wesentlichen Zügen in allen Produktionsbereichen übereinstimmt. In dem Maße, wie sich die Marktwirtschaft in der Landwirtschaft durchsetzte, müßte der Bauer sein bisheriges Tun und Fühlen aufgeben und sich die nicht mehr berufsspezifischen Qualitäten eines Unternehmers angeeignet haben. Es hätte der Prozeß der Entbäuerlichung des Bauern begonnen. Ob er mit der Verbürgerlichung des Dorfes gleichzusetzen

ist, dürfte eine kaum

zu beantwortende

Frage

sein.

Die

"unterbäuerliche" Schicht wurde ebenso wie die auf dem Dorfe ansässige "Oberschicht" von einer anderen Mentalität geprägt. Um den Prozeß der Entbäuerlichung

deutlicher herausarbeiten zu können,

erschien es zweckmäßig, sich der Spanne zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg zuzuwenden, weil in ihr zum ersten Mal größere produktionstechnische Fortschritte in der Landwirtschaft zu beobachten sind. Außerdem wurden Regionen ausgewählt, in denen dieser Fortschritt den Reichsdurchschnitt erheblich übertraf oder - wie in Oldenburg - ihn ebenso deutlich unterbot. Das Auseinanderklaffen der Entwicklungstrends zeigt bei dieser Auswahl besonders anschaulich, auf welch unterschiedlichen Wegen und mit welch abweichender Geschwindigkeit die Entbäuerlichung des Bauern voranschreiten konnte. Zu diesem Zweck mußte ein umfangreiches statistisches Material aufgearbeitet werden, das hier aus Platzgründen nicht vorgestellt werden kann. Es ist jedoch inzwischen vollständig publiziert, so daß der Verweis genügt und an dieser Stelle nur noch eine Zusammenfassung gegeben zu werden braucht 1 : Im allgemeinen wird der Intensivierungsprozeß in der Landwirtschaft während des 19. Jh. auf die Formel reduziert, man sei von der Dreifelderwirtschaft zum Thaerschen Fruchtwechsel übergegangen. Mag das auch für einige Güter zutreffen, so muß jedoch die Verallgemeinerung - besonders für die bäuerliche Landwirtschaft abgelehnt werden. Diese Zurückweisung läßt sich eindeutig mit dem statistischen Material belegen, das für das 19. Jh. vorliegt. Im Hinblick auf diesen Sachverhalt

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waren die Sozial- und Wirtschaftshistoriker wie Volkskundler in der D D R richtig beraten, sich der Aufnahme und Verbreitung des Anbaus der Zuckerrübe in der Magdeburger B ö r d e zuzuwenden, weil nur mit dieser Pflanze die höchste Intensitätsstufe im Ackerbau erreicht werden konnte. E s ist aber auch in diesem Falle unzulässig, die für diese Region gewonnenen Ergebnisse zu verallgemeinern. Nur in 9 Provinzen und Territorien des Deutschen Reiches wurden mehr als 4 % der Nutzfläche mit Zuckerrüben bestellt, und mit einem Anteil von 2,2% fällt der Reichsdurchschnitt nicht beeindruckend aus. D i e Frucht, mit der die Intensitätssteigerung in der Landwirtschaft wirklich erfolgte, war die Kartoffel, deren Anbau 1913 immerhin 13,6% der Nutzfläche erforderte. Berücksichtigt man den unterschiedlichen Arbeitsbedarf von R ü b e n und Kartoffeln und faßt beide zu einer Relativzahl zusammen, so fällt auf, daß damals die Güter mit einer höheren Intensität als die Bauernbetriebe wirtschafteten. D i e Erklärung ist in der unterschiedlichen Arbeitsorganisation zu suchen. Erstere setzten in Anhalt, der Magdeburger Börde und im südlichen Niedersachsen Wanderarbeiter ein, mit denen sie die Arbeitsspitzen, vor allem in der Ernte, brechen konnten. D e r B a u e r stieß also bei der Entfaltung unternehmerischer Fähigkeiten eher auf Grenzen als der Bewirtschafter eines Großbetriebes. Indem die Bauern aber durch einen ausgedehnteren Kartoffelbau den geringeren Anbau von Zuckerrüben auszugleichen suchten, bewiesen sie, daß eine Gewinnmaximierung nicht außerhalb ihres Gesichtskreises lag. Hinzu kam im Regierungsbezirk Hildesheim und im Herzogtum Braunschweig, daß hier die Bauern selbst die Initiativen ergriffen und Zuckerfabriken in der Rechtsform von Aktiengesellschaften gründeten. Als Aktionär öffnete sich für sie wenigstens einen Spalt breit die Welt des Kommerzes. Außerdem mußte die R ü b e zum ersten Mal in der Geschichte der Landwirtschaft zur G ä n z e außerhalb des Betriebes verwertet werden, wodurch die Marktverflechtung nicht unerheblich anstieg. D i e Oldenburger Bauern nahmen an diesem Wandel so gut wie gar nicht teil. Auf Zuckerrüben verzichteten sie ganz und der Kartoffelbau blieb mit 8,6% erheblich hinter dem Reichsdurchschnitt zurück, dagegen hielten sie beim extensiven Getreide mit einem Anteil von 73,5% die Spitzenstellung im Reich. Erreichte der Rübenanbau auch nur einen mäßigen Umfang, so zwang er doch die Landwirte, erneut aus ihrer Welt herauszutreten und Kontakt zur Industrie zu suchen. R ü b e n müssen gedrillt und gehackt, Kartoffeln gehäufelt und gehackt werden. D a z u sind Drill- und Hackmaschinen erforderlich. Hildesheim und Braunschweig, die Magdeburger B ö r d e und Anhalt übertrafen beim Einsatz dieser Maschinen die anderen Regionen im Deutschen Reich ganz erheblich. In Oldenburg hingegen setzte man noch keine Drillmaschinen ein. Noch eine weitere Brücke wurde zwischen Industrie und Landwirtschaft geschlagen. Rüben und Kartoffeln zählen zwar zu den Blattfrüchten und sind dementsprechend garefördernd,

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sie sind jedoch im Gegensatz zu den von Thaer propagierten humuszehrend, so daß der Landwirt zur Zufuhr von Handelsdünger gezwungen wird. Neben dem einheimischen Kali wurden "Chilisalpeter" und Guano verwendet, die beide aus Übersee importiert werden mußten. Die Düngung mit diesen Zusatzstoffen war erst zu verwirklichen, nachdem der Seetransport entsprechend entwickelt und das Eisenbahnnetz ausgebaut worden war. Lenkt man wieder den Blick auf den Wandel des Bauern zum Unternehmer, so überrascht bereits beim Ackerbau eine Feststellung: Im Bezirk Hildesheim erreichte der Weizenanteil den Spitzenwert, obwohl bereits im benachbarten Braunschweig die Bodengüte höher einzustufen ist und auch der Hackfruchtanteil höher lag. Noch einmal deutlich geringer fiel der Weizenanbau in der Magdeburger Börde und in Anhalt aus, und hierfür vermögen die Landbauwissenschaften keine Erklärung zu liefern. Sie muß vielmehr im menschlichen Bereich gesucht werden. Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil diese merkwürdige Erscheinung gleichfalls in der Viehhaltung zu beobachten ist. Vergleicht man die Ergebnisse der Viehzählung in den Jahren 1882 und 1907, so wuchs die Rindviehhaltung in den einzelnen Regionen in recht unterschiedlicher Weise. In Hildesheim wurden die Bestände am stärksten aufgestockt, in Anhalt am geringsten. Es nahm auch den letzten Platz bei der weit umfangreicheren Ausdehnung der Schweinehaltung ein. Wenig geschah auch in Braunschweig, weit mehr im angrenzenden Hildesheim, und diesmal besetzten die Oldenburger mit deutlichem Abstand die Spitzenposition. Die Schlußfolgerungen liegen auf der Hand: Den Bauern und Landwirten, die im Berichtszeitraum wirtschafteten, kann das für den Kapitalismus typische Gewinnstreben keinesfalls abgesprochen werden. Die vor dem Ersten Weltkrieg bekannten Arten der Intensivierung wurden aber nur zum Teil und nicht planmäßig ausgeschöpft. Infolgedessen wurde auch die maximale Intensitätssteigerung und damit die Gewinnmaximierung verfehlt. Der Bauer änderte durchaus seine Verhaltens- und Wirtschaftsweise, wurde aber noch kein reiner Unternehmer. Noch war bäuerliches Denken auf vielen Gebieten ungebrochen. So wurde die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln durch die Intensivierung noch nicht in Frage gestellt. Wie der Erste Weltkrieg beweist, war in dieser Hinsicht die Abhängigkeit der Landwirtschaft von Industrieprodukten praktisch bedeutungslos. Das Denken in Generationen wurde eher gefördert, konnte man doch den Hof mit gestiegener Rentabilität dem Erben übergeben. Fleiß, Ausdauer und Zähigkeit sind Eigenschaften, die bereits im intensiven Ackerbau, aber auch in einer umfangreicheren Viehhaltung einen höheren Stellenwert als zuvor besitzen. Womöglich waren es die Sparsamkeit und Vorsicht der Bauern, die sie hinderten, den Handelsdüngereinsatz zu optimieren. Hierfür fehlte auch die nötige theoretische Vorbildung. Dennoch erwirtschaftete man Gewinne, die damals nicht mehr

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zur Produktionssteigerung in die Betriebe reinvestiert werden konnten; deshalb bauten die Großbauern protzige Rübenburgen. Abschließend ist noch eins zu bedenken: Die landwirtschaftliche Betriebslehre hatte die Lehre von der relativen Vorzüglichkeit einzelner Betriebszweige noch nicht entwickelt. Wie ein Blick in die Lehrbücher der Zeit beweist, wurde Landwirtschaft noch rezepturmäßig betrieben. So lag es nahe, daß die Intensivierung nicht nur nach rationalen Grundsätzen, sondern auch mit einer gewissen Zufälligkeit vorangetrieben wurde. Sie erfuhr eine regional spezifische Ausprägung. Diese wurde übernommen, weil gerade bei den Bauern der Gruppenkonformismus besonders stark ausgeprägt ist. Unter diesen Umständen mußte die Optimierung des Kulturartenverhältnisses auf dem Acker oder gar des ganzen Betriebes in jener Zeit noch ein Fernziel bleiben. Mehr als eine partielle Gewinnmaximierung war damals noch nicht zu erwarten.

Anmerkungen 1

Achilles, W., Die Entbäuerlichung des Bauern 1882-1907. Dargestellt an den Regionen Magdeburger Börde, Anhalt, südliches Niedersachsen und Oldenburg, in: VSWG Bd. 76, 1989, S. 185-201. Hier auch die benutzten Quellen und die verwendete Literatur.

Hans-Jürgen Racli

"Verbürgerlichung" und "Verstädterung" des Dorfes im 19. Jahrhundert? Das Beispiel der Bauformen in der Magdeburger Börde

Die jüngst abgeschlossenen "Untersuchungen zur Lebensweise und Kultur der werktätigen Dorfbevölkerung in der Magdeburger Börde

1

haben mit dazu beige-

tragen, daß das noch vor wenigen Jahrzehnten auch in der DDR weit verbreitete verschwommene und mit zahlreichen Agrar-Romantizismen durchsetzte Bild von der Rückständigkeit des Landlebens überwunden werden konnte. Die vor allem von Volkskundlern und Agrarhistorikern verfaßten Studien enthalten mehr oder weniger offene Polemiken nicht nur gegen einseitige Darstellungen der Verhältnisse im 20. Jh., sondern auch gegen Einschätzungen der Situation im 18. und 19. Jh. Am Beispiel eines freilich ganz außergewöhnlichen Territoriums, das sich von anderen deutschen Landschaften, wie z.B. der Mark Brandenburg, und selbst von den meisten, ebenfalls zur preußischen Provinz Sachsen gehörenden Regionen, wie etwa dem oberen Eichsfeld im thüringischen Reg.-Bez. Erfurt, erheblich unterschied, konnte nachgewiesen werden, daß sich mit der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse bereits im Verlaufe des 19. Jh. die Dörfer grundlegend veränderten. Hier in der Magdeburger Börde dominierten seit der Mitte des 19. Jh. nicht mehr die traditionellen strohgedeckten Fachwerkbauten das Ortsbild, sondern in zunehmendem Maße gewerbliche Einrichtungen wie Zichoriendarren (seit 1796) und Zuckerfabriken (verstärkt seit 1835), aber auch Kalkbrennereien, Ziegeleien und Schnapsbrennereien sowie Eisenbahnstationen und palastartige Wohnbauten der Großbauern neben Landarbeiterkasernen und proletarischen Wohnvierteln. Gegen Ende des 19. Jh. hatten die meisten Dörfer ihren einstigen ländlichen Charakter weitgehend verloren. Es gab gepflasterte Straßen, teilweise sogar Bürgersteige. Mindestens alle größeren Gemeinden wiesen Kaufmannsläden, Fleischer, Bäcker, Handwerker und Gewerbetreibende auf. Nicht selten existierten in einem Ort mehrere Gaststätten, oftmals mit Vereinszimmer und Festsaal. Schnell - und oft mit einem kritischen Unterton - hieß es, die Dörfer würden "verstädtern". Nun waren dies in der Tat Elemente, die nicht in das traditionelle, d.h. feudalzeitlich geprägte Dorf gehörten. Aber es waren zumeist auch keine Bestandteile der alten Städte. Hier wie dort entstanden sie erst im Zusammenhang mit der Industriellen Revolution. Bis dahin äußerten sich die Veränderungen, die sich seit dem Ende des 18. Jh. und verstärkt seit den bürgerlichen Agrarreformen zu Beginn des 19. Jh. in der Landwirtschaft vollzogen, jedoch noch in erstaunlich traditionellen Formen. So verdrängten z.B. bei den Wohnhäusern der großen Bauern

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zweistöckige Bauten aus Bruchstein zwar zunehmend die Vorgänger aus Lehmfachwerk; auch unterschieden sich Größe, Fassadengestaltung und Qualität des Innenausbaus ganz erheblich von den älteren Gebäuden. Insgesamt wurden damit aber an einem ohnehin schon vorhandenen Haustyp eigentlich nur Verbesserungen vorgenommen. Diese konnten freilich einen beachtlichen Umfang einnehmen und kündeten durchaus den Anbruch einer neuen Zeit an, sie sprengten jedoch nicht den traditionellen Rahmen. Im Gegenteil, sie waren Ausdruck dafür, daß es im Zusammenhang mit dem Übergang zu kapitalistischen Produktionsverhältnissen, die die feudalzeitlichen Hemmnisse beseitigten, zunächst erst einmal zu einer bisher nicht gekannten Entfaltung der überlieferten kulturellen Erscheinungsformen kam, an der in abgestufter Weise auch die Mittel- und Kleinbauern teilnahmen. 2 Vergleichbare Prozesse ließen sich selbst anhand der Wirtschaftsgebäude, aber auch am Beispiel der Tracht und anderer Bereiche belegen. Der Zeitpunkt der letzten großen Blüte traditioneller, d.h. feudalzeitlich geprägter Volkskultur scheint geradezu ein Gradmesser für den Stand der Durchsetzung des Kapitalismus in der Landwirtschaft zu sein. Im Zusammenhang mit den neuen ökonomischen Erfordernissen und Möglichkeiten verstärkten sich schon in dieser Frühzeit der bürgerlichen Gesellschaft die Kontakte mit dem Markt, erreichten die Stadt-Land-Beziehungen eine höhere Stufe. Demzufolge vergrößerte sich der städtische Einfluß, der im baulichen Bereich - vor allem bei den Großbauern - u.a. in der Übernahme einzelner moderner, also zeittypischer Schmuckformen zum Ausdruck kam, z.B. in klassizistischen Fassaden- und Torbogengestaltungen mit Lisenen, angedeuteten oder echten Kapitellen, profilierten Fenster- und Türgewänden, aus Sandstein gehauenen Amphoren, Vasen und Kugeln als Giebel- oder Torbogenkrönung usw. Nun hatte sich aber auch im vorangegangenen Zeitraum die dörfliche Kultur und speziell das ländliche Bauwesen nicht völlig autochthon entwickelt. So übertrugen beispielsweise die Zimmerleute schon frühzeitig Schmuckelemente des im 15./16. Jh. in den Harzstädten in großer Blüte stehenden Fachwerks in die umliegenden Agrarregionen. Im 18. Jh. tauchten auch in der Magdeburger Börde barocke Stilelemente an den Bauernhäusern auf. Niemand sprach oder spricht deshalb von einer "Verstädterung" des Dorfes. Da der in der Feudalzeit gesellschaftlich produzierte Reichtum sich in den Städten konzentrierte, bildeten sie die Mittelpunkte von Wirtschaft und Handel, Politik und Kultur. Hier entstanden die entwickeltsten Formen aller Bereiche gesellschaftlichen Lebens. Diesem Vorbild versuchte auf dem Lande nachzueifern, wer dazu ökonomisch und rechtlich in der Lage war. Und das galt durchaus nicht nur für das Bauwesen. So übernahm man im 16. Jh. aus Magdeburg Elemente der bürgerlichen Kleidung und entwickelte daraus die Bördetracht, in die im Verlaufe des 18. Jh. die aus der Stadt kommende Backenmütze und Anfang des 19. Jh. das modische Busentuch u.a. eingefügt wurden.

54

Gewiß, vielfach traten die einzelen Kulturelemente mit einer zeitlichen Phasenverschiebung und zudem oft noch modifiziert in den Dörfern auf, dennoch bleibt die städtische Herkunft unbestritten. Trotzdem wird dieser Prozeß weder für die Feudalzeit noch für die Übergangsperiode bis zur Mitte des 19. Jh.

mit

"Verstädterung" gekennzeichnet. Warum nun aber plötzlich für die zweite Hälfte des 19. Jh.? Und durch wen geschieht dies? Zunächst muß darauf hingewiesen werden, daß in den Dörfern der Magdeburger Börde um 1850 tatsächlich ein Bruch zu verzeichnen ist. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse hatten sich weitgehend durchgesetzt. Neue ökonomische Bedürfnisse, aber auch neue bautechnische Möglichkeiten und kulturelle Ansprüche bewirkten die Errichtung bisher auf dem Lande nicht bekannter Bauformen. So wie sich "der Oekonom ... vom Empiriker zum fachlich gebildeten Landwirt emporgeschwungen [hat] und fast alle Wissenschaften ... mit der Landwirtschaft in Verbindung [setzte]", so macht er sich "auch die Bauwissenschaft ... mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln der Landwirtschaft dienstbar 3 . Begünstigt durch die 1868 eingeführte "unbedingte" Gewerbefreiheit, die die bis dahin noch stark zünftlerisch geprägten Fesseln im Bauhandwerk auflöste, standen dem ländlichen Baugeschehen keinerlei von der Stadt abweichende Beschränkungen im Wege. Die prosperierende Landwirtschaft und die mit ihr verbundene verarbeitende Industrie brauchten keinerlei Rücksicht auf ältere Normen zu nehmen. Stadt und Land unterlagen nahezu gleichartigen Baubedingungen. So schössen in den Dörfern der Magdeburger Börde fast zeitgleich mit der aufblühenden Industrie in Magdeburg und anderen Städten Bauwerke empor, die es zuvor weder dort noch hier gegeben hatte. Neben den Zichoriendarren waren es vor allem Zuckerfabriken, aber auch Schnapsbrennereien, Brauereien, Kalkbrennereien, Ziegeleien und später Molkereien. Hinzu kamen seit 1843 Eisenbahnlinien mit Bahnhöfen oder gepflasterte Straßen und nicht zuletzt neuartige Wohn- und Wirtschaftsbauten innerhalb oder am Rande der Gemeinden. Zumeist handelte es sich um Bauformen, die früher in den alten Städten ebenso fehlten wie auf dem Lande. Sie sind ein Produkt des 19. Jh. und unterscheiden sich oft durchaus von den vergleichbaren Bauten in der Stadt, stellen eigenständige Lösungen dar. Die Wohnhäuser von Großbauern beispielsweise, die kurz nach 1850, vor allem aber im letzten Drittel des 19. Jh. errichtet wurden, unterscheiden sich grundsätzlich von ihren Vorgängerbauten. Neben der zuvor nicht bekannten Gebäudegröße und der umfangreichen Verwendung neuer Baumaterialien sowie der Ausstattung der Fassaden und Innenräume mit "städtischem" Zierat zeugt davon insbesondere der neuartige Grundriß. Vorbild für die spezifische Raumordnung dieser "Zuckerrübenpaläste", wie sie noch heute im Volksmund genannt werden, war jedoch weniger die vom städtischen Bourgeois bevorzugte prachtvolle Villa mit zentralem Foyer, sondern eher das dörfliche Gutshaus des 18. oder frühen 19.

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Jh. Parallelen zu den für "herrschaftliche Gebäude" Ende des 18. Jh. propagierten "Musterplänen", die neben mehreren Gesellschaftszimmern im Erdgeschoß und der Küche, den Gesindestuben und weiteren Wirtschaftsräumen im Kellergeschoß ("Souterrain") auch einen Festsaal vorsahen 4 , sind offensichtlich. In einem Bauhandbuch des Jahres 1891 heißt es sogar ausdrücklich: "Die Unterscheidung zwischen Bauerngütern und Rittergütern ist für die baulichen Bedürfnisse nicht kennzeichnend, ... [da] die am Grund und Boden haftenden ständischen Rechte der Rittergüter ... auf den Bau des Wohnhauses ohne Einfluß sind 5 . Andererseits unterscheidet sich der Bau allein durch die Verwendung zahlreicher, den neuesten wissenschaftlich-technischen Erkenntnissen entsprechender

Konstruktionselemente

und dem modischen Geschmack der Zeit folgender Schmuckformen nicht unerheblich vom feudalzeitlichen Gutshaus. Ganz zu schweigen von dem Geist, der in diesem Haus herrschte und der sich in der Anlage eines speziellen Raumes, des Kontors, ausdrückt. Es ist weder ein feudales Gutshaus noch eine städtische Villa, sondern eine Mischung aus beiden, eine eigenständige, der Dorfbourgeoisie adäquate Bauform. Natürlich kann und soll nicht bestritten werden, daß manche Anregung für die Kultur und Lebensweise der Großbauern aus der Stadt übernommen wurde, aber sicherlich war der Junker doch ein stärkeres Leitbild. Indizien dafür sind etwa die Vorliebe für die Jagd, die Taubenhaltung 6 , die Joppe und die Reitstiefel. Aber auch das Gegenstück, die Landarbeiterkate, ist nicht aus der Stadt entlehnt. Sie bildete

sich schon im Spätfeudalismus

aus dem

Bauernhaustyp

"Mitteldeutsches Ernhaus" heraus 7 und diente damals als Unterkunft für die Deputatarbeiter der Güter und Vorwerke. Im ersten Drittel des 19. Jh. entwickelte sie sich zum massenhaft errichteten Wohnhaus für die "doppelt freien", aber kontraktgebundenen und betriebsintegrierten Landarbeiter der Güter und Großbauernwirtschaften. Diese als "Werkswohnungen" anzusehenden Bauten dominierten in der Magdeburger Börde bereits, als es in der Stadt noch gar keine vergleichbaren Häuser gab. Seit der Mitte des 19. Jh. traten vor allem in den Guts- und Zuckerfabrikdörfern zu den älteren, stets einstöckigen Katen neue, nun zwei- und teilweise sogar dreistöckige Gebäude hinzu, die als "Leutehaus" oder "Kaserne" bezeichnet wurden und - mindestens äußerlich - Ähnlichkeiten mit den Wohnetablissements für die Arbeiter der städtischen Großbetriebe aufwiesen. Der Grundriß stimmte jedoch weitgehend mit den älteren ländlichen Vorbildern überein oder stellte eine modifizierte Variante dar. Auch waren diese Bauten stets mit Nebenbauten, vor allem kleinen Stallungen, Schuppen, später auch Trockenklosetts u.a. zu einem mehr oder weniger geschlossenen Gehöft mit Innenhof verbunden, so daß eine dörfliche Spezifik gewahrt blieb. Schon bald nach 1850 entstanden in zahlreichen Dörfern der Magdeburger Börde weitere Wohnhäuser, die als Unterkunft für die nur saisonal in der Land-

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Wirtschaft oder den Zuckerfabriken beschäftigten Arbeiter gedacht waren. Ohne auf die verschiedenen Erscheinungsformen in diesem Zusammenhang genauer einzugehen 8 , sei doch festgestellt, daß auch für diesen Bautyp in der Frühzeit keine vergleichbaren Häuser aus der Stadt bekannt sind, er also nicht von dort übernommen sein kann. Erst die späteren "Schnitter"- oder "Polen-Kasernen" wiesen eine weitgehende Übereinstimmung mit den Unterkünften der ledigen Arbeiter in den Kolonien der Bergbaugebiete auf. Obwohl also weder die "Zuckerrübenpaläste" der Großbauern noch die verschiedenen Arbeiterkasernen, aber auch nicht die modernen, mit Flachdach, Aufzug, Remisen u.a. versehenen Ställe und Scheunen aus der Stadt übernommen wurden, dienten gerade sie - neben den ländlichen Fabriken - immer wieder als Beispiel für die "Verstädterung" des Dorfes, die den "Untergang der Dorfkultur" kennzeichnen würde. "Gebäude städtischen Charakters, kasernenartig angelegt, mit flachem Pappdach, verunstalten gar nicht so selten Dorf und Landschaftsbild in erschreckender Weise. Die alte geschlossene Dorfanlage wird entstellt durch Straßenzüge nach dem Bahnhof, nach Kohlengruben und örtlichen Industriewerken 9 . Die großen und kleineren Bauern, die Handwerker und Gewerbetreibenden, die in der Landwirtschaft oder Industrie tätigen Arbeiter beklagten jedoch nicht die Überwindung der älteren dörflichen Zustände. Der größte Teil der Dorfbevölkerung war sogar stolz auf die oft mühsam errungenen Fortschritte. Bedauert wurde die Entwicklung auf dem Lande lediglich von konservativen Ideologen, die im Interesse des städtischen Bürgertums ein Gegenbild für die bedrohliche Lage in den städtischen Ballungsgebieten mit starkem Proletariat entwarfen. Sie bewirkten eine bewußte Idyllisierung des Landlebens und demzufolge eine Verunglimpfung der im 19. Jh. auf dem Lande errichteten Verhältnisse, deren Hauptmangel die angebliche "Verstädterung" wäre. Es ist jedoch keine "Verstädterung", sondern der angemessene Ausdruck für ein sich unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen erfolgreich entwickelndes, agrarisch strukturiertes Dorf. Anders war die Situation in denjenigen Dörfern, die unmittelbar vor den Toren der Großstädte lagen. Sie erlebten teilweise direkte Eingriffe aus der Stadt. Anlaß konnte die Verlagerung im Ausbau befindlicher Industriebetriebe sein. So erwarb beispielsweise die zunächst in der Altstadt ansässige "Magdeburger Dampfschiffahrts-Companie" im Jahre 1838 in der Gemeinde Buckau ein Territorium und errichtete an der Elbe eine Werft sowie in geringer Entfernung dazu eine Werkstatt zum Bau von Dampfmaschinen. Das sich daraus entwickelnde Werk beschäftigte im Jahre 1847 schon annähernd 800 Arbeiter und war damit zur zweitgrößten Maschinenfabrik Preußens hinter Borsig in Berlin aufgestiegen 10 . Wenig später folgten die Eisengießerei und Maschinfabrik von Gruson (1855), die Fabriken zum Bau von Plattenfedermanometern (Schäffer & Budenberg, 1859) oder Lokomobilen (R. Wolf, 1862) usw. Güterbahnhof und Wasserwerk, Mietshäuser

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und gepflasterte Straßen kamen hinzu. Binnen weniger Jahre hatte sich das kleine Dorf durch Einfluß von außen zu einem stadtähnlichen Gebilde gemausert. Ähnliche Prozesse vollzogen sich in vielen Vorortgemeinden von Großstädten. In diesen Fällen handelt es sich tatsächlich um eine Verstädterung, die besonders deutlich im Berliner Raum zu verfolgen ist 11 . Wieder anders lagen die Verhältnisse in etlichen Dörfern der südlichen Magdeburger Börde. Zwar gab es hier auch kleine Städte wie Staßfurt und Egeln, doch bewirkten weder sie noch die Landwirtschaft den entscheidenden Wandel im 19. Jh. Dieser wurde zunächst durch den Braunkohlen- und dann durch den sich rasch

ausweitenden

Salzbergbau

herbeigeführt.

Obwohl

die

Landwirtschaft

weiterhin ihren Platz behielt, bestimmten nun die gewerblichen Einrichtungen und die Bergarbeiterhäuser zunehmend die Siedlungsstruktur. Diese Industriedörfer, wie sie in noch stärkerer Ausprägung in Sachsen und anderen Regionen anzutreffen sind, gehören gleichfalls zu den Orten, denen eine "Verstädterung" nachgesagt wird. Aber auch sie haben wenig Elemente direkt aus der Stadt übernommen. Es sind eigenständige Erscheinungsformen, die sich nach der Auflösung der feudalzeitlichen Strukturen herausbilden und seit dem 19. Jh. diese Siedlungen prägen. Durch die Dominanz der Arbeiter innerhalb der Gesamtbevölkerung kann hier eher von einer "Verproletarisierung" als von einer "Verbürgerlichung" gesprochen werden. Mit allen

diesen Dörfern

nicht vergleichbar

sind einzelne

abseits,

in

"vergessenen Winkeln" liegende Orte, in denen es aus verschiedenen Gründen nicht zu einer kapitalistischen Entfaltung der Landwirtschaft oder anderer, auf dem Lande ansässiger Gewerbe und Industrien kam. Teilweise betraf dies ganze Landstriche, die als "Reliktgebiete" von der Volkskunde besonders gern untersucht und als Beispiel für eine ungestörte, also noch "heile" Agrarregion dargestellt wurden. Es sollte jedoch bedacht werden, daß auch hier trotz der Bewahrung und Weiterführung zahlreicher traditioneller Elemente der Geist der Zeit nicht ganz vorbeigestrichen war. Vielfach resultierte ja das Zurückbleiben gerade aus dem Aufblühen anderer Regionen, stand also mit den sich dort vollziehenden Prozessen in direktem Zusammenhang. Die Disproportionalität der Entwicklung kennzeichnete geradezu den kapitalistischen Weg auch in der Landwirtschaft. Nicht selten stellten diese zurückgebliebenen Gebiete ein wichtiges Arbeitskräftereservoir für die Betriebe in den führenden Agrarlandschaften, wie etwa die "Sachsengänger" aus dem Eichsfeld in die Magdeburger Börde belegen. Für die neue Ära charakteristische dörfliche Bauten, die nur scheinbar städtischer Herkunft waren, drangen in diese Regionen zwar in geringerem Umfange ein, fehlten aber auch hier nicht völlig. So unterschiedlich die Entwicklung in den einzelnen Dörfern auch verlaufen sein mag, bewirkte das 19. Jh. in allen einen bedeutsamen Wandel. Zunächst

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drückte sich das baulich noch weitestgehend in einer Weiterführung und Modifizierung der überlieferten Gebäudetypen aus, erst später drangen immer mehr neue Formen ein, die dem feudalzeitlich geprägten Dorf wesensfremd gewesen waren. Die enger werdende Verflechtung von Stadt und Land ermöglichte, daß die neuesten bautechnischen Errungenschaften und das modische Beiwerk nahezu gleichzeitig überall zur Verfügung standen. Die wesentlich verbesserten ökonomischen Rahmenbedingungen und die veränderte Situation im Baugewerbe erlaubten, daß sie auch genutzt wurden. Da sich äußerlich mancherlei Ähnlichkeiten mit den

Neubauten

in

den

Städten

ergaben,

entstand

der

Eindruck

einer

"Verstädterung", die jedoch nur in einigen Vororten der Großstädte eintrat. Die meisten Gemeinden bewahrten ihren dörflichen Charakter, der sich freilich nach 1850 erheblich wandelte und seitdem immer stärker durch zeitgemäße Bauten geprägt wurde. So verdeutlichen gerade sie anschaulich die Zwiespältigkeit des Kulturfortschritts im 19. Jh. und widerspiegeln die neue Gesellschaftsstruktur, die auch auf dem Lande zu einer stärkeren Differenzierung innerhalb der Dorfbewohner geführt hat. Ähnlich wie in den großen Städten, wo Bourgeoisie, Kleinbürgertum und Proletariat die wichtigsten sozialen Klassen bildeten, standen sich auch in den ländlichen Gemeinden die Dorfbourgeoisie (Junker, Großbauern und Teile der Mittelbauern sowie Fabrikbesitzer u.a.), ein dörfliches Kleinbürgertum (kleine Mittelbauern, Kleinbauern, Handwerker und Gewerbetreibende) und die verschiedenen proletarischen Schichten mehr oder weniger scharf voneinander getrennt gegenüber. Demzufolge bestimmten die ihnen adäquaten Bauten das neue Ortsbild. Mit dem Kapitalismus trat sowohl eine "Verbürgerlichung" als auch eine "Verproletarisierung" des Dorfes ein. Die ländliche Gesellschaft wurde von bürgerlichen und proletarischen Normen und Verhaltensweisen durchdrungen. Das auch von der Volkskunde mitgeformte Bild "von der Rückständigkeit oder idealen Gegenwelt des Landlebens" (Jacobeit/Mooser/Sträth) stimmte schon lange nicht mehr. So jedoch wie mit dem Terminus "Verstädterung" der Wandel im Baubereich eher verunklärt als verdeutlicht wird, so kennzeichnet m.E. auch die Anwendung der Formel von der "Verbürgerlichung des Dorfes" die grundlegenden Wandlungsprozesse im 19. Jh. nur unvollkommen. Man sollte eindeutiger vom "Dorf im Kapitalismus" sprechen.

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Anmerkungen 1

Räch, H.-J. u. Weissei, B. (Hrsg.), Landwirtschaft und Kapitalismus. Zur Entwicklung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse in der Magdeburger Börde vom Ausgang des 18. Jh. bis zum Ende des ersten Weltkrieges, 2 Bde., Berlin 1978/79; diess. (Hrsg.), Bauer und Landarbeiter im Kapitalismus in der Magdeburger Börde. Zur Geschichte des dörflichen Alltags vom Ausgang des 18. Jh. bis zum Beginn des 20. Jh., Berlin 1982; diess. u. Plaul, H. (Hrsg.), Die werktätige Dorfbevölkerung in der Magdeburger Börde. Studien zum dörflichen Alltag vom Beginn des 20. Jh. bis zum Anfang der 60er Jahre, Berlin 1986; diess. (Hrsg.), Das Leben der Werktätigen in der Magdeburger Börde. Studien zum dörflichen Alltag vom Beginn des 20. Jh. bis zum Anfang der 60er Jahre, Berlin 1987.

2

Räch, H.-J., Bauernhaus, Landarbeiterkaten und Schnitterkaserne. Zur Geschichte von Bauen und Wohnen der ländlichen Agrarproduzenten in der Magdeburger Börde des 19. Jh., Berlin 1974, S. 46 ff.

3

Wanderley, G., Die ländlichen Wirtschaftsgebäude in ihrer Construktion, ihrer Anlage und Einrichtung, Halle 1876, S. 2.

4

So z.B. Meinert, F., Die landwirtschaftliche Bauwissenschaft, Halle 1796/97, Bd. 2, S. 140 und 248.

5

Tiedemann, L. v., Das landwirtschaftliche Bauwesen. Handbuch der Bautechniker, 2. Aufl., Halle 1891, S. 470.

6

Räch, H.-J., Ältere Taubenhäuser und Taubenpfeiler im Gebiet um Magdeburg, in: Magdeburger Blätter. Jahresschrift für Heimat- und Kulturgeschichte im Bezirk Magdeburg, 1985, S. 67-76.

7

Räch, H.-J., Bauernhaus, S. 27. Für die Mark Brandenburg detaillierter nachgewiesen bei Räch, H.-J., Die Wohnbauten der Gutstagelöhner im östlichen Brandenburg. Ein volkskundliches Problem des 19. und 20. Jh., in: Jacobeit, W. u. Nedo, P. (Hrsg.), Probleme und Methoden volkskundlicher Gegenwartsforschung, Berlin 1969, S. 133-144.

8

Vgl. dazu ausführlicher Räch, H.-J., Schnitterkasernen in der Magdeburger Börde. Die Unterkünfte der landwirtschaftlichen Saisonarbeiter in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jh., in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 17. Bd. (N.F. Bd. 2), 1975, S. 171-192.

9

Stegmann, E., Aus dem Volks- und Brauchtum Magdeburgs und der Börde, Magdeburg o.J. (1936), S. 55.

10 Gericke, H.O. u. Wille, M., Von der "Alten Bude" zum faschistischen Konzern. Betriebsgeschichte des Stammwerkes VEB Schwermaschinenbau "Karl Liebknecht" Magdeburg. Kombinat für Dieselmotoren und Industrieanlagen, Teil 1 (1836-1945), Magdeburg 1982, S. 11. 11 Räch, H.-J., Die Dörfer in Berlin. Ein Handbuch der ehemaligen Landgemeinden im Stadtgebiet von Berlin, Berlin 1988.

Jacek Kochanowicz

Die verhinderte Modernisierung der bäuerlichen Wirtschaft im Königreich Polen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts*

Die Modernisierung der bäuerlichen Wirtschaft gilt als notwendige Voraussetzung für die Verbürgerlichung der Bauernschaft. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht die These, daß die Modernisierung der bäuerlichen Ökonomie unter bestimmten Bedingungen gerade durch den Modernisierungsprozeß in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens blockiert werden kann. Im Falle Polens ist sehr deutlich zu unterscheiden zwischen der Epoche vor der Teilung - sie endete 1795 - und dem späteren Zeitraum. Ein ernstzunehmender Modernisierungsprozeß, der in den westeuropäischen Ländern bereits recht weit fortgeschritten war, begann in Polen erst nach dem Niedergang des Bundes zwischen Polen und Litauen. Polen scheint sich gut dafür zu eignen, die Auswirkungen einer "Modernisierung von oben" auf die bäuerliche Wirtschaft zu untersuchen. Dieses Beispiel hat aber nicht nur Bedeutung für Polen, da es sich um einen staatlich eingeleiteten Modernisierungsprozeß handelt, wie es ihn in rückständigen Gebieten sowohl im vergangenen als auch in diesem Jahrhundert häufig gegeben hat. Nach theoretischen Überlegungen zur Logik der Modernisierung bäuerlicher Wirtschaft werde ich kurz auf die Lage der Bauern in Polen vor der Teilung sowie auf die Veränderungen in der ersten Hälfte des 19. Jh. eingehen. Dann konzentriere ich mich auf die Mikroanalyse der bäuerlichen Wirtschaft in den 1820er Jahren, um abschließend die Mechanismen aufzuzeigen, die den Modernisierungsprozeß blockierten.

Die Theorie: Bauern und Farmer Wenn wir vom "Bauern" sprechen, meinen wir einen Ackerbau treibenden Produzenten, der danach strebt, sich und seine Familie zu ernähren, und zwar in erster Linie unter Ausnutzung der Arbeitskraft eben dieser Familie 1 . Er will überleben und sich sowohl im biologischen wie im sozialen Sinne reproduzieren. Er bedient sich traditioneller Produktionstechniken, seine Produktions- oder Input-Faktoren sind "natürlich", da sie weder auf dem Markt erworben noch von der Industrie zur Verfügung gestellt werden. Er ist ein Selbstversorger, aber seine Produktivität ist niedrig. Jeder Ernterückgang versetzt ihn in eine dramatische Lage. Folglich konzentrieren sich seine Planungen auf das Überleben; er versucht, Risiken auf ein Mindestmaß zu reduzieren, nicht jedoch Erzeugung und Gewinn zu maximieren.

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Sein wirtschaftliches Verhalten ist eingebettet in seine "kleine Tradition": er ist Analphabet, seine Bildung eignet er sich aus mündlichen Überlieferungen an, seine Lebensweise übernimmt er vom Vater und von älteren Leuten. Sein Wissen von der Welt beschränkt sich auf das Dorf, das Kirchspiel und das herrschaftliche Gut, zu dem er gehört. Nur durch die Kirche ist er mit der "großen Tradition" verbunden, seine wenigen flüchtigen Eindrücke von der 'großen weiten Welt' sammelt er

auf

dem

örtlichen

Jahrmarkt

oder

bei vorbeiziehenden

Vagabunden,

Hausierern usw. Das Leben der Bauern wird gleichzeitig dennoch stark durch die Außenwelt beeinflußt: Pachtgelder, der Zehnt an die Kirche sowie Steuern sind zu zahlen, Gutsherren und Staatsbeamten ist zu gehorchen. Der Bauer kauft sehr wenig, muß aber verkaufen, um seinen Zahlungsverpflichtungen nachkommen zu können. Dadurch ist er nicht nur vom Wetter und von den Ernten abhängig, sondern auch von den Gesetzen des Marktes. Er strebt nach Autarkie, erreicht dieses Ziel in vielen Fällen jedoch nicht; durch Mißernten oder zuwenig Land wird er gezwungen, Geld zu verdienen, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Mit wachsendem demographischen Druck tritt dieser Fall immer häufiger ein. Bereits vor der Ernte nimmt er - häufig vom örtlichen Wucherer oder von seinem Gutsherrn - Kredit für Lebensmittel auf. Im Gegensatz dazu produziert der moderne Farmer, um zu verkaufen und Gewinn zu machen. Er nutzt moderne, von der Industrie angebotene Technologien, die er auf dem Markt mit Hilfe von Banken erworben hat. Er betrachtet seinen Hof als eine Form der Kapitalanlage, nicht als eine Art und Weise, sein Leben zu fristen. Die Marktzwänge drängen ihn, Risiken auf sich zu nehmen und neue Wege zu gehen. Er muß nicht nur Produzent, sondern auch Unternehmer sein. In kultureller Hinsicht unterscheidet er sich nicht von einem Stadtbewohner. Er ist gebildet, seine Lebensweise wurzelt nicht in lokalen, sondern in nationalen Traditionen, die durch ein formales Schulsystem vermittelt werden, das in modernen Industriegesellschaften eine wesentliche Rolle spielt. Idealtypen sind in der Realität wahrscheinlich nicht zu finden, die Entwicklung führt jedoch tatsächlich von der Bauern- zur Farmerlandwirtschaft. Im kontinentalen Westeuropa setzte der größte Teil dieser Entwicklung erst recht spät ein, nämlich nach der sogenannten zweiten Industriellen Revolution (1870-1914). Zu dieser Zeit wurde damit begonnen, industrielle Produktionsmittel in größerem Umfang in der Landwirtschaft anzuwenden. Als Folge wanderte überflüssig gewordene landwirtschaftliche Bevölkerung in die Städte ab. Für Eugène Weber sind Frankreichs ländliche Gebiete in den 1870er Jahren im großen und ganzen noch "rückständige" Lokalgesellschaften; erst danach begannen - seiner Ansicht nach die Bauern sich in "moderne" Franzosen zu verwandeln. Henri Mendras setzt das "Ende der Bauern" sogar erst nach dem Zweiten Weltkrieg an 2 .

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Der Modernisierungsprozeß begann jedoch nicht erst mit der Industriellen Revolution, sondern viel früher. Schon im frühneuzeitlichen Europa gab es Bauern, die unter günstigen Bedingungen ihr wirtschaftliches Verhalten änderten. Sie strebten nach Gewinn und betrachteten ihren Besitz als Kapital, waren sogar gerne

bereit,

gewisse

Risiken

zu

tragen

und

Neuerungen

durchzuführen.

Besömmerung der Brache, Änderungen der Fruchtfolge, Bewässerung usw. sind bekannte Beispiele für neue Methoden in der Landwirtschaft. Es gab aber auch Aktivitäten neben dem Ackerbau, die seit einiger Zeit unter dem Begriff "ProtoIndustrialisierung" zusammengefaßt werden. In Anlehnung an diesen Begriff kann man von einem allgemeineren Prozeß der "Proto-Modernisierung" der bäuerlichen Wirtschaft sprechen. Folglich bezeichne ich als "Proto-Farmer" jene, die sich - im ökonomischen Sinne des Wortes - wie moderne Farmer verhalten, obwohl sie keine modernen, industriellen Technologien verwenden. Sie bildeten freilich nur eine kleine Minderheit im traditionellen Lebensgefüge auf dem Lande (selbst im heutigen Ungarn zählen höchstens 10% der Landbevölkerung zu einer solchen Kategorie 3 ). Der Entstehungsprozeß der Proto-Farmer, der von uns mit Verbürgerlichung gleichgesetzt wird, steht nicht im Widerspruch zur Möglichkeit eines parallelen Proletarisierungsprozesses in der ländlichen Gesellschaft. Die Gleichzeitigkeit dieser beiden Prozesse ist ein grundlegendes Element der traditionellen marxistischen Interpretation der Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft. ( D i e marxistische Theorie ist auf der anderen Seite jedoch in zweierlei Hinsicht falsch: sie assoziiert die Modernisierung der bäuerlichen Wirtschaft zu eng mit der "Kulakisierung", d.h. mit der Verwendung familienfremder Lohnarbeiter auf den größeren Höfen, und verbindet die Proletarisierung mit der Teilung der Bauernhöfe, wobei die Rolle des demographischen Drucks außer acht gelassen wird.) Hier einige Beispiele für den frühen Modernisierungsprozeß: die Niederlande im 17. Jh., die Freibauern in Britannien, Katalonien, Dithmarschen, der Pariser Region, im Königreich Preußen mit der Zulawy Region im Weichseldelta. Die Voraussetzungen für diese Entwicklung bilden städtische Absatzmärkte für landwirtschaftliche Produkte und günstige soziale und politische Bedingungen. Im Grunde sollte man annehmen, daß freie Bauern bessere Möglichkeiten für eine Modernisierung haben, tatsächlich gibt es jedoch auch Fälle persönlich abhängiger, unfreier landwirtschaftlicher Unternehmer.

Zweite Leibeigenschaft, Staat und

Proto-Modernisierung

Die zweite Leibeigenschaft östlich der Elbe ist allgemein bekannt 4 . Die Besonderheit in Polen bestand in der Rolle, die der Staat spielte, oder besser, die er nicht spielte. Dieser Staat war ganz eindeutig "vormodern". Im Gegensatz zu ande-

63

ren europäischen Ländern entwickelte sich in Polen kein Absolutismus. Theoretisch war Polen eine "Republik des Adels" mit einem gewählten König. In der Praxis wurde das Land jedoch durch eine Oligarchie von Magnaten regiert. Alle wesentlichen Merkmale eines modernen Staates - Beamtenschaft, Berufsarmee und Steuersystem - waren in weit geringerem Maße entwickelt als in den Nachbarländern. Polen war ein "Staat, bestehend aus Gütern", kein Steuerstaat; öffentliche Ausgaben wurden im wesentlichen durch Übereignung von Land und nicht durch Steuern finanziert. Für die Bauern ergaben sich zwei Konsequenzen aus diesem "schwachen" Staat: sie genossen keinerlei staatlichen Schutz, da sie der patrimonialen Gerichtsbarkeit unterstanden; auf der anderen Seite zahlten sie fast keine Steuern, wurden nicht zum Wehrdienst eingezogen und nicht von der Polizei gesucht, wenn sie einer Gutsherrschaft entflohen waren. Die niedrigen Steuern übten keinen Zwang aus, größere Mengen an Produkten zu verkaufen. Der bäuerliche Hof war ein Teil der Gutswirtschaft und bildete die Grundlage für unbezahlte Arbeitsleistungen bzw. Frondienste. Die Logik dieses Systems verhinderte die Entstehung einer wohlhabenden Bauernschaft 5 . Gleichwohl gibt es auch dafür Beispiele, aber gewöhnlich nicht innerhalb der feudalen Gutsherrschaft 6 . Testamente von Bauern aus der Vorgebirgsregion zeigen reiche Bauern; ein anderes Beispiel sind die "gburs" von Zulawy; niederländische Siedler, die angeworben wurden, um ganz besonders schwierige Böden zu bearbeiten, sind ebenfalls zu erwähnen; des weiteren eine Anzahl Müller und Gastwirte innerhalb der Gutsherrschaften. In den südlichen Regionen entwickelte sich eine Proto-Industrialisierung mit einigen ländlichen Unternehmern. Alle diese einzelnen Beispiele bilden jedoch keinen Strom, der stark genug wäre, um von einem Prozeß der Proto-Modernisierung oder Verbürgerlichung größeren Umfangs sprechen zu können.

Modernisierung "von oben" Im Jahre 1795 brach der Staat zusammen, der dann 1807 als Herzogtum Warschau teilweise restauriert wurde. Aus einem Teil davon entstand 1815 das Königreich Polen, welches bis zum Aufstand gegen Rußland im Jahre 1830 seine Autonomie behielt. Das Herzogtum war der erste polnische Staat, der als "modern" bezeichnet werden kann; er erhielt seine Verfassung von Napoleon. Neue Regierungs- und Verwaltungsformen sowie der Code Civile wurden eingeführt 7 , die Bauern für frei erklärt. Ein bezahlter, zentralisierter Verwaltungsapparat ersetzte die adlige Selbstverwaltung und ein Heer aus Wehrdienstpflichtigen trat an die Stelle der

levée en masse. Die Wirtschaft erlebte ebenfalls einen Modernisierungsprozeß, die Bourgeoisie, im wesentlichen ausländischer Herkunft, entfaltete sich 8 . Diese kapitalisti-

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sehen Unternehmer waren als Heereslieferanten oder Pächter staatlicher Monopole (Salz) mit dem Staat verbunden. Zu Zeiten des Königreichs strebten sie nach einem adligen Status, kauften Land und erhielten Titel 9 . Die wirtschaftliche Organisation der Güter erfuhr einen gewissen Wandel 10 . Die Forstwirtschaft wurde rationalisiert, die Züchtung von Schafen erneuert, Frondienste in Geldleistungen umgewandelt, die Drei-Felder-Wirtschaft wich einer komplexeren Fruchtfolge. Kartoffeln machten die Brennereien rentabler, so daß viele neue Anlagen errichtet wurden. Eine aktive staatliche Wirtschaftspolitik mit dem Ziel, Industrie anzusiedeln, bildete den dritten Aspekt der Modernisierung. Die Doktrin über den gewinnträchtigen und wünschenswerten Agrarexport war bereits Ende des 18. Jh. fraglich geworden 11 . Es stellte sich jedoch schnell heraus, daß mit einer spontanen Entwicklung der Industrie nicht gerechnet werden konnte und staatliches Eingreifen daher notwendig war. Eine solche Politik wurde von Prinz Drucki-Lubecki, Finanzminister während der 1820er Jahre, durchgesetzt, der die Errichtung staatlicher Eisenhütten in Gang brachte, den Aufbau einer privaten Textilindustrie unterstützte sowie ausgedehnte Straßen- und Kanalbauarbeiten anordnete 12 . Die Ergebnisse waren umstritten. Technologisch gesehen waren die Industriezweige nicht modern; sie gründeten auf Holzkohle und Wolle, nicht auf Koks und Baumwolle. Wenn auch die Textilindustrie erfolgreich war, floß doch ein großer Teil der für Eisenhütten aufgewandten Mittel in die Taschen skrupelloser Sub-Unternehmer, die eher daran interessiert waren, Gelder aus dem Staatshaushalt zu schöpfen, als den Projekten zum Erfolg zu verhelfen. All diese immens kostspieligen Modernisierungsprozesse wurden faktisch von den Bauern finanziert. Die Steuern stiegen beträchtlich 13 . Wie bereits vor den Teilungen entrichteten die Bauern die Herdsteuer; dazu kamen die neue Steuer für das Heer und recht beträchtliche indirekte Steuern. Die Salzsteuer betrug 6 0 % des Verbraucherpreises. Obwohl es sich überwiegend um alte Formen von Steuern handelte, lag die Pro-Kopf-Besteuerung im Jahre 1812 zehn mal höher als im Jahre 1768.

Die Lage der Bauern Mit der Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahre 1807 hatte sich die rechtliche Stellung des Bauernstandes geändert 14 . Durch den Code Napoleon wurde der bürgerliche Begriff des vollen und unteilbaren Eigentums eingeführt. Sehr schnell erhob sich die Frage nach dem Besitzrecht der Bauern an Grund und Boden. Bisher waren ihre Ansprüche auf das Land durch die Macht der Gewohneit geregelt. Da das neue Recht weder diese anerkannte noch den Vorstellungen des Adels entgegenkam, wurden Gesetze erlassen, welche die neuen Regeln in Übereinstimmung

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mit den Forderungen der Gutsherren interpretierten. Ein Dekret des Prinzen vom Dezember 1807 legte fest, daß der Adel vollen Besitzanspruch auf die Ländereien habe, und zwar sowohl auf das Guts- als auch das Bauernland. Die Bauern konnten nun einfach vertrieben werden. Als die Gutsherren neue Fruchtfolgen einführten und daher interessiert daran waren, die verstreuten Ländereien der Gutswirtschaft zusammenzulegen, wurde das Bauernlegen eine weit verbreitete Erscheinung. Die Bauern waren frei; die Freiheit wurde jedoch in einem engen Sinne ausgelegt, nämlich als Freiheit, den Hof zu verlassen, wenn Land, Haus, Zugtiere und Saatgetreide dem Besitzer zurückgegeben und die Schulden bezahlt waren. Durch die Verfügung von 1810 wurde ein Bauer, der das Dorf verlassen wollte, verpflichtet, die Erlaubnis des Gutsbesitzers und Bürgermeisters der Gemeinde einzuholen - üblicherweise und seit 1815 auch gesetzlich waren dieses ein und dieselbe Person. Diejenigen, die widerrechtlich fortgingen, wurden als Landstreicher verfolgt. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Gutsherren und Bauern basierten nun auf "freiwilligen Verträgen". Der Code Napoleon erkannte weder Arbeitspflichten noch Maßnahmen an, durch die Bauern zur Arbeit gezwungen werden konnten. Um dieses Problem zu lösen, wurde die administrative Amtsgewalt der Gutsherrn auf den Dörfern sehr großzügig ausgelegt. Die Lage der Bauern wurde aber auch durch andere Faktoren bestimmt. In der ersten Hälfte des 19. Jh. waren die Preise niedrig, hauptsächlich infolge der englischen Kornzollgesetze15. Die Marktfaktoren wirkten also exogen. Schwieriger ist das Problem der Bevölkerungsentwicklung zu interpretieren. Selbst Angaben über die Gesamteinwohnerzahl sind umstritten und die Strukturen des generativen Verhaltens (Geburten, Heiraten, Sterblichkeit) unbekannt, da es für diesen Zeitraum keine wissenschaftlichen Untersuchungen auf der Grundlage der Kirchenbücher gibt. Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung im Königreich Polen Jahr

Offizielle Bevölkerung (in 1000)

Bevölker.dichte 0 (Ew./km )

1820 1830

3 520 3 998

27 31

1840 1850

4 488 4 811

35 37

Berichtigte Bevölkerung (in 1000) 4 600

Bevölk.dichte (Ew./km 2 ) 36

Quelle: Gieysztorowa, I., Ludnosc (Bevölkerung), in: Enzyklopedia Historii Gospodarczej Polski do 1945 roku, Warschau 1981, S. 434 66

Offizielle und berichtigte Bevölkerungsdaten finden wir in Tabelle 1. Es gibt Gründe anzunehmen, daß die Überbevölkerung auf dem Lande zunahm. Wenn die Bevölkerungsdichte 36 Einwohner pro Quadratkilometer betrug, so war diese vergleichbar mit der Situation um 1790 in dem durch die erste Teilung geschrumpften 'Kleinen Polen'. Das war ein Gebiet, das von flüchtenden Bauern auf der Suche nach neuen Herren gemieden wurde und in dem die Gutsherren auch nicht nach entflohenen Leibeigenen suchten 16 . Der Bevölkerungsanstieg ist teilweise mit dem Zustrom ausländischer Siedler zu erklären. Ob es daneben Veränderungen im natürlichen Bevölkerungswachstum gab, wissen wir nicht. Der Anstieg der Gesamtbevölkerungszahl zwischen 1810 und 1827 betrug nach einer Schätzung 16 % 1 7 . Derselbe Autor schätzt die Zahl der Bauern ohne Land im Jahre 1827 auf 1 Mill. Selbst wenn man diese Zahl auf 0,8 Mill. reduziert, indem man annimmt, daß ein Teil von ihnen auf eine Erbschaft wartete, machten sie doch immerhin 30% der gesamten ländlichen Bevölkerung aus. Dieser dringende Bedarf an Land versetzte die Gutsherren in eine günstige Lage. Das erklärt zum Teil, warum der Adel sich der Abschaffung der Leibeigenschaft nicht widersetzte, gleichzeitig jedoch versuchte, sich die vollen Eigentumsrechte an den Ländereien zu sichern. Zusammenfassend betrachtet, ergeben die ersten 30 Jahre des 19. Jh. ein recht trostloses Bild: eine fragwürdige Freiheit, weniger Schutz durch den Gutsherrn, weniger bäuerlicher Zugang zu Ackerland und Wald, niedrige Preise und hohe Steuern. Wie reagierte darauf die bäuerliche Wirtschaft?

Anpassungsformen der bäuerlichen Wirtschaft Im folgenden wird eine Schätzung über das Produktionsvolumen eines bäuerlichen Haushalts sowie der überschüssigen verkauften Erträge mit den Ausgaben, die der Haushalt gehabt haben muß, verglichen 18 . Meine Schätzungen stützen sich auf Daten, die bei der Revision der Staatsdomänen im Jahre 1823 erhoben wurden. Als Beispiel dienen 6 Dörfer der Domäne Kakolownica in der Nähe von Lublin. Berücksichtigt wird nur ein Typ bäuerlicher Betriebe von etwa 6 Hektar, der mehr oder weniger als ein typischer "mittlerer Betrieb" angesehen werden kann. In jenen 6 Dörfern gab es 212 Betriebe dieser Größenordnung, auf denen 1413 Personen lebten. Daraus ergibt sich eine Durchschnittszahl von 7,5 Personen pro Haushalt; davon waren 2,9 männlichen Geschlechts und älter als 10 Jahre, 3,1 Personen der gleichen Altersgruppen waren weiblich, 1,5 waren Kinder; weiterhin gab es eine verschwindend kleine Zahl von Gesinde. Zu diesen Betrieben gehörten durchschnittlich 1,2 Ochsen, 1,7 Kühe, 1,6 Kälber, 1,8 Schweine und 4,9 Schafe. Die wichtigste Pflicht bildeten 52 Tage Fronarbeit pro Jahr; daneben waren die

67

Tabelle 2:

Produktionsvolumen und Überschüsse einer Bauernwirtschaft (in korzec) Produktionsvolumen

Überschüsse

1822

1824

1822

1824

Roggen

12,8

14,8

-0,44

1,56

Gerste

2,8

3,7

0,18

1,08

Hafer

5,4

8,0

0,43

0,19

Hirse

. 1,3

Fruchtart

Buchweizen Erbsen

0,9

-0,40

-0,21

0,7

0,9

0,93

0,53

0,2

0,4

-0,35

-0,50

Korcez = traditionelles Hohlmaß von 80-100 kg. Quelle:

Kochanowicz, J., Panszczyzniane gospodarstwo chlopskie w Krölestwie Polskim w pierwszej polowie X I X w. (Bäuerliche Wirtschaft im Königreich Polen während der ersten Hälfte des 19. Jh.), Warschau 1981

Bauern zu zusätzlichen Erntearbeiten, Marktfuhren für Produkte der Domänenwirtschaft u.a. verpflichtet. Ferner waren kleine Mengen von Naturalien abzuliefern. Die Schätzungen über Produktionsvolumen und Überschußbeiträge sind für 2 Jahre in Tabelle 2 dargestellt; dabei repräsentiert 1822 ein Jahr schlechter Ernte mit entsprechend hohen Preisen und 1824 ein Jahr mit guter Ernte und niedrigen Preisen. Die Angaben wurden wie folgt berechnet: Das Produktionsvolumen ergibt sich aus der (in der verwendeten Quelle angegebenen) Aussaatmenge, multipliziert mit dem (aus anderen Quellen bekannten) Vielfachen der Erträge 1 9 . Die Überschußerträge ergeben sich nach Abzug der Mengen für das Saatgut, die menschliche Ernährung 2 0 und des Zehnten. Es gab nur sehr geringe Überschüsse. Vor einer weiteren Interpretation müssen diese mit den Mindestausgaben der Haushalte verglichen werden: Steuern und andere, teils vom Gutsherrn auferlegte Zwangsabgaben für Salz und Alkohol. Der Pro-Kopf-Betrag für Salz ergibt sich, wenn man die jährlichen Einkünfte aus dem Salzmonopol durch die Anzahl der Bewohner des Königsreichs teilt. Den entsprechenden Betrag pro Person für Alkohol erhält man, wenn die Einnahmen des Gutes aus dem Verkauf alkoholischer Getränke durch die Zahl der Dorfbewohner geteilt werden. Für einen durchschnittlichen Haushalt ergaben sich demnach folgende Ausgaben: Steuern und andere Zahlungen 45,01 Zlotys pro Jahr, alkoholische Getränke 31,27, Salz 31,27 insgesamt also 107,5 Zlotys. Unter der Annahme, daß nur Korn verkauft wurde, mußten im Jahre 1822 bei hohen Preisen - 5 9 % des von einem Durchschnittsbetrieb geernteten Roggens veräußert werden, um diese Ausgaben zu decken; im Jahre 1824 - bei niedrigen 68

Preisen - waren es 114%. Obwohl sich die Lebensbedingungen der Bauern verschlechterten, gelang es ihnen doch, irgendwie zu überleben. Offenbar standen ihnen folgende Anpassungsmöglichkeiten offen: a) Konsumverzicht, b) Änderungen der Produktionsstruktur, c) Produktion von nichtlandwirtschaftlichen Gütern, d) Lohneinkommen außerhalb der Landwirtschaft. Die erste Möglichkeit war wahrscheinlich am weitesten verbreitet, ist jedoch mit Ausnahme jener extremen Fälle, wo Menschen hungerten, am schwierigsten zu untersuchen 21 . In der Zeit vor den Teilungen, als nur geringe Steuern erhoben wurden, konnten die Bauern ihren Konsum durch Anpassung der verkauften Überschüsse relativ stabil halten. Nun trat die gegenteilige Situation ein. Die hohen Steuern zwangen sie zum Verkauf, und der Verbrauch mußte angepaßt werden. In Hinsicht auf die Produktionsstruktur beschränkten sich die Änderungen auf die Einführung der Kartoffel. Die Bauern behielten die Dreifelderwirtschaft bei, pflanzten aber Kartoffeln auf den Brachfeldern. Das Gesamtvolumen der Kartoffelernte im Königreich Polen erreichte im Jahre 1827 5 0 % der Kornernte 2 2 , wobei jedoch unbekannt ist, welche Menge davon auf den Gütern und wieviel von den Bauern erzeugt wurde. Die Quellen für die hier untersuchten Dörfer bieten aber zahlreiche Hinweise auf einen bäuerlichen Kartoffelanbau. Unter Berücksichtigung des Arbeitsaufwandes wird wohl die erzeugte Menge pro Haushalt und Jahr 500 kg nicht überschritten haben, während der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch an Kartoffeln in den 1820er Jahren auf 70 kg geschätzt wird. Im Blick auf die Frage nach verkäuflichen Überschüssen liegt folgende Hypothese nahe: Kartoffeln wurden zum eigenen Verbrauch angebaut, wogegen ein beachtlicher Teil des Getreides verkauft wurde. Die möglichen Verkaufsgüter beschränkten sich freilich nicht auf Korn. Die Bauern verkauften auch Eier, Geflügel, Butter sowie nichtlandwirtschaftliche Produkte: einfache Küchenartikel, Siebe, Körbe usw., vor allem aber Flachs 2 3 . Die letzte Möglichkeit bildeten Lohneinkommen außerhalb der Landwirtschaft. Zeitgenossen erkannten, daß sie für das Überleben der Bauern notwendig waren, und die Behörden versuchten sogar, die Arbeiten zu organisieren, insbesondere im Zusammenhang mit den oben erwähnten Industrialisierungsprojekten. Nach Smialowski nutzten bis zu 3 0 % der Landbevölkerung insgesamt und bis zu 6 0 % der Bewohner in Regionen mit Schwerindustrie diese Arbeitsmöglichkeiten. Die besondere Nachfrage nach Transportmitteln eröffnete gute Chancen für Bauern, die Pferde besaßen. Daneben benötigten die verarbeitende Industrie, die Forstwirtschaft und der Straßenbau ebenfalls bäuerliche Lohnarbeiter. Außerhalb des staatlichen Sektors gab es eine entsprechende Nachfrage auch durch einige private Güter, die im Zuge ihrer Modernisierungsmaßnahmen die Frondienste durch Lohnarbeiter ersetzten 2 4 .

69

Schlußbemerkungen Die allgemeine Lage der Bauernschaft im Königreich Polen verschlechterte sich in der ersten Hälfte des 19. Jh. deutlich. Das gründete im Zusammenspiel von ungünstiger Preisentwicklung, demographischem Druck, dem Modernisierungsprozeß der Gutswirtschaften und einer staatlich angeordneten "Modernisierung von oben". Die Bauern paßten sich den neuen Verhältnissen durch Konsumverzicht und Mehrarbeit an. Die Kartoffel, eine neue arbeitsintensive Frucht, ermöglichte das Überleben, während Einkünfte aus nichtlandwirtschaftlicher Lohnarbeit oder aus nichtlandwirtschaftlicher Produktion halfen, das Geld für die Steuern aufzubringen. Wie intensiv die Suche nach zusätzlichen Geldquellen war, zeigt die Tatsache, daß der bäuerliche Flachsanbau in jenen Regionen besonders stark verbreitet war, in denen es außerhalb der Hauswirtschaft keine Verdienstmöglichkeiten gab. Daraus läßt sich die allgemeine Schlußfolgerung ziehen, daß die bäuerliche Wirtschaft zwar ihre Intensität steigerte, aber nicht "moderner" wurde. Die Bauern konzentrierten sich nach wie vor auf das Überleben, sie verwandelten sich nicht in "Proto-Farmer". Es gab keinen Verbürgerlichungsprozeß auf breiter Ebene. Die schlichte Tatsache, daß wohlhabende Bauern von den aufgeklärten Vertretern des Landadels als nachahmenswerte Beispiele dargestellt wurden, zeigt, daß es sich nur um Ausnahmen handelte. Die Hemmnisse auf dem Weg zu einer möglichen Modernisierung der bäuerlichen Wirtschaft resultierten teilweise aus den Bemühungen des Staates, andere Segmente der Gesellschaft - Verwaltung, Armee oder Industrie - zu modernisieren. Das war möglicherweise nur schwer zu vermeiden. Die bäuerliche Wirtschaft wurde zum Opfer eines Modernisierungsmusters, wie es häufig in rückständigen Gebieten zu finden ist. In einem armen Land fehlen Kapital und Märkte für die spontane Entwicklung der Industrie, so daß der Staat eine führende Rolle übernimmt. Seine wichtigste Einnahmequelle bilden Steuern, die zum größten Teil von den Bauern aufgebracht werden. Dies führt zu einer weiteren Schwächung der Kaufkraft von Bauern und verschließt ihnen den Zugang zu Industriegütern. Die Industrie sieht sich daher gezwungen, nach anderen Absatzmärkten zu suchen entweder im Ausland oder auf speziellen, vom Staat selbst geschaffenen Märkten, besonders im Bereich der Rüstung. Der Modernisierungsprozeß wird geleitet von einer Bürokratie, die der natürliche Bundesgenosse der Großgrundbesitzer ist und sich zu einer Änderung ihrer Politik erst dann bereit findet, wenn Bauernunruhen drohen. Das schwache Bürgertum, das sich im Verlauf einer solchen Entwicklung bildet, imitiert das Verhalten der Grundbesitzer und investiert einen Teil des Kapitals in Grund und Boden oder im Ausland. Dieser Typ von Modernisierung fördert weder ein langfristiges Wirtschaftswachstum noch die politische oder kulturelle Emanzipation der Bauern. Auf der anderen Seite kann er jedoch zu gewalt-

70

tätigen Bauernaufständen führen. Beispiele dafür finden sich in den langsam entstehenden, latent bleibenden Bauernbewegungen im Königreich Polen während der ersten Hälfte des 19. Jh. oder in den offenen Bauernaufständen später in Rußland, dem extremsten Beispiel für einen solchen Modernisierungstyp 25 . Man kann sich fragen, ob die Emanzipation der Bauern und hier besonders die persönliche Freiheit die Modernisierung der Bauernwirtschaft gefördert hat. Ein Vergleich mit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts läßt einen interessanten Schluß zu. In den Landesteilen Polens, die unter russischer und österreichischer Herrschaft standen, blockierten demographischer Druck, die Steuerlast und eine schwache Urbanisierung immer noch den Modernisierungsprozeß der bäuerlichen Wirtschaft. Im Gegensatz dazu bietet das unter preußischer Herrschaft stehende Polen ein Beispiel für erfolgreiche Modernisierung und Verbürgerlichung. Riesige Absätzmärkte für Lebensmittel und ein gewaltiger Bedarf an Arbeitskräften in Deutschland, durch Schutzzölle vor der auswärtigen Konkurrenz geschützt, ermöglichten den überschüssigen Arbeitskräften die Abwanderung aus der Landwirtschaft und den verbleibenden Bauern einen langsamen Übergang zum Farmer. Dieser Erfolg ist um so bemerkenswerter, als er unter den ungünstigen politischen und kulturellen Bedingungen der Germanisierung eintrat. Eines der Mittel zur Durchsetzung der Germanisierung waren jedoch die Schulen. Folglich war hier das Bildungsniveau weitaus höher als in den anderen Teilen Polens, was vermutlich für den Modernisierungsprozeß von erheblicher Bedeutung war.

Anmerkungen *

Übersetzung aus dem Englischen von M. Kämper, Bielefeld.

1

Das theoretische Konzept des "Bauern" i.S. von "peasant" bzw. "bäuerlicher Wirtschaft" wurde von einer Reihe von Autoren entwickelt, darunter A.V. Chayanov, W.I. Thomas, F. Znaniecki, P. Sorokin, R. Redfield, E. Wolf und T. Shanin.

2

Weber, E., Peasants into Frenchmen. The Modernization of Rural France, 1870-1914, Stanford 1976; Mendras, H., La fin des paysans. Changement et innovation dans les sociétés rurales françaises, Paris 1970

3

Szelenyi, I., Socialist Entrepreneurs. Embourgeoisement in Rural Hungary, Madison 1988.

4

Die fast unübersehbare Literatur wird zusammengefaßt von Inglot, S. (Hrsg.), Historia chlopöw polskich (Geschichte der Bauern in Polen), Bd. 1, Warschau 1970; vgl. ferner Kochanowicz, J., L'exploitation paysanne en Pologne à la charnière des XVIII e et XIX e siècles. Théorie, histoire, historiographie, in: Acta Poloniae Historica, Bd. 57, 1988.

5

Kula, W., An Economic Theory of the Feudal System. Towards a Model of the Polish Economy 1500-1800, London 1976.

6

Zytkowicz, L., Uwagi o bogaceniu si chlopöw (Zur Entstehung bäuerlichen Reichtums), in: Historyka, Bd. 13,1983.

71

7

Vgl. Sobocinski, W., Historia ustroju i prawa Ksiestwa Warszawskiego (Rechts- und Verfassungsgeschichte des Herzogtums Warschau), Torun 1964. 8 Vgl. Ihnatowicz, I., Przemysl, handel, finanse (Industrie, Händen, Finanzen), in: Kieniewicz, St. (Hrsg.), Polska XIX wiëku. Panstwo, spoleczenstwo, kultura, Warschau 1977.

9

Vgl. die ausgezeichnete Untersuchung von Jedlicki, J., Klejnot i bariery spoleczne (Soziale Mobilität im eisernen Gewand), Warschau 1968.

10 Vgl. die zusammenfassende Debatte in Baranowski, B. u.a., Histoire de l'économie rurale en Pologne jusqu'à 1864, Wroclaw 1966. 11 Görski, J., Polska mysl ekonomiczna a rozwôj gospodarczy (Wirtschaftspolitisches Denken und ökonomische Entwicklung in Polen), Warschau 1963; Jedlicki, J., Jakiej cywilizacji Polacy potrzebuja (Welche Kultur brauchen die Polen?), Warschau 1988. 12 Jedlicki, J., Nieudana pröba kapitalistycznej industrializacji (Eine mißlungene kapitalistische Industrialisierung), Warschau 1964. 13 Zoltowski, St., Die Finanzen des Herzogtums Warschau, Posen 1890; Radziszewski, H., Skarb i organizacja wladz skarbowych w Krölestwie Polskim (Staatshaushalt und Finanzverwaltung im Königreich Polen), Warschau 1907. 14 Vgl. Inglot, S. (Hrsg.), Historia chlopöw polskich. 15 Strzeszewski, C., Kryzys rolniczy na ziemiach Ksiestwa Warszawskiego i Krölestwa Kongresowego (Die Agrarkrise im Herzogtum Warschau und in Kongreßpolen), Lublin 1934. 16 Vgl. Kochanowicz, J., Exploitation paysanne, S. 223 ff. 17 Kirkor-Kiedroniowa, Z., Wloscianie i ich sprawa w dobie organizacyjnej i konstytucyjnej Krölestwa Polskiego (Bauern und Bauernpolitik im Verfassungssystem des Königreichs Polen), Krakau 1912, S. 50. 18 Der folgende Absatz gründet auf Kochanowicz, J., Panszczyzniane gospodarstwo chlopskie w Krölestwie Polskim w pierwszej polowie XIX w. (Bäuerliche Wirtschaft im Königreich Polen während der ersten Hälfte des 19. Jh.), Warschau 1981. 19 Kostrowicka, I., Produkcja roslinna w Krölestwie Polskim 1815-1864 (Bodenerzeugung im Königreich Polen 1815-1864), Warschau 1962. 20 Sobczak, T., Przelom w konsumpcji spozywczej w Krölestwie Polskim w XIX wieku (Ernährungswandel im Königreich Polen im 19. Jh.), Warschau 1968. 21 Bukowski, S., Lata glodu i kleski. Z badan nad polozeniem ludnosci Krölestwa Polskiego w polowie XIX w. (Jahre des Hungers und Unglücks. Studien zur Lage der Bevölkerung im Königreich Polen), Lodz 1971. 22 Baranowski, B., Poczatki i rozpowszechnianie ziemniaka na ziemiach srodkowej Polski (Einführung und Verbreitung der Kartoffel in Polen), Lodz 1960. 23 Kula, W., Wloscianski przemysl domowy tkacki w Krölestwie Polskim w latach 1846-1865 (Bäuerliches Leinengewerbe im Königreich Polen 1846-1865), Przeglad Socjologiczny 1938. 24 Smialowski, J., Zarobkowanie pozarolnicze ludnosci rolniczej w Krölestwie Polskim w latach przeduwlaszceniowych (Nichtlandwirtschaftliche Einkommen der bäuerlichen Bevölkerung im Königreich Polen in der Zeit vor der Emanzipation), Lodz 1973. 25 Vgl. Gerschenkron, A., Russia: Agrarian Policies and Industrialization, 18641914, in: ders., Continuity in History and Other Essays, Cambridge 1968.

72

Andràs Vàri

Kommerzialisierung, Verbürgerlichung und ihre Vermittler in der ländlichen Gesellschaft Ungarns, 1767-1848

Kommerzialisierung bedeutet hier den Vorgang der wachsenden Marktgebundenheit der Produktion. Dieser Prozeß verläuft bei weitem nicht geradlinig; der große ungarische Viehhandel im 16./17. Jh. war mindestens so stark marktgebunden wie die bäuerliche Kornproduktion am Ende des 19. Jh. 1 . Die Dimension des Vergleichs ist die Tiefe der Einflußnahme des Marktgeschehens auf die bäuerliche Produktion. Die relevante Untersuchungsebene ist der einzelne bäuerliche Betrieb - gerade aber auf dieser Ebene sind die Forschungsergebnisse spärlich. Zu oft wird dagegen zu vordergründig von den postulierten sozialen Auswirkungen der Kommerzialisierung, z.B. von der sich vertiefenden gesellschaftlichen Differenzierung, auf das Fortschreiten der Kommerzialisierung zurückgeschlossen, obwohl gerade jene Differenzierung sowohl kulturell als auch durch die staatlichen Maßnahmen und rechtlichen Regulierungen mitbestimmt wird. Umgekehrt läßt sich auch behaupten, daß nicht einmal eine vollkapitalistische Landwirtschaft bzw. Wirtschaft begrifflich notwendigerweise an eine bestimmte soziale Struktur gebunden ist: sogar die Allgegenwart des Prinzips der Gleichgewichtspreise sagt an sich noch nichts über einander gegenüberstehende Wirtschaftsakteure aus. Sie können von Individuen, aber auch von Familien, Sippen, Gemeinden, religiösen oder ethnischen Gruppen qua Gruppen verkörpert werden. Last but not least: Jegliche moderne ökonomische Analyse eines vollkommerzialisierten Systems beruht auf Verbraucherpräferenzen, im Endeffekt auf Wertvorstellungen der historischen Subjekte. Auch in diesem "ökonomischen" Paradigma entwickelt sich das System der Märkte auf Grund unterschiedlicher Wertsysteme, ist mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen kompatibel und hat keinen teleologisch vorausbestimmten Entwicklungsgang. Dies macht es freilich nicht überflüssig, die Auswirkungen der Kommerzialisierungsvorgänge auf die soziale Struktur zu untersuchen. Der Begriff einer durchkommerzialisierten Wirtschaftsstruktur läßt sich nicht nur mit ziemlicher Genauigkeit definieren; auch deren Komponenten lassen sich mit den Prinzipien des Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage, Kosten und Nutzen, Opfer und Vorteile formal beschreiben. In der Tat erzielte die neoklassisch ausgerichtete Ökonomie der letzten Jahrzehnte, die "rational-choice"Schule, die größten Erfolge dank der Eindeutigkeit und Formalisierbarkeit ihres Paradigmas, in der Anwendung desselben auf immer weitere, bisher als "marktunabhängig" gedachte Themenbereiche - auf die sog. Externalien, Mode-

73

und Prestigekonsumtion, Korruption, Wahlverhalten, Gewaltanwendung, bis hin etwas gewagter - auf die eheliche Verbindung 2 . Eine solche analytische Schärfe kann der Begriff "bürgerliche Gesellschaft" nie erreichen. Sein Anwendungsbereich ist ein anderer: er hat mit Zielvorstellungen und Deutungsmustern bzw. mit ihren Aneignungsprozessen zu tun. Es lohnt sich also, "bürgerliche Gesellschaft" weniger als reelle Größe, sondern eher - mit viel mehr Rücksicht auf die Möglichkeit der unterschiedlichen, schichten-, kultur- und epochenspezifischen Sinngebungen von Zeitgenossen wie Historikern - als Zielvorstellung oder "Daseinsentwurf' (J. Kocka) anzusehen. In dieser Sichtweise steht "bürgerliche Gesellschaft" als "Chiffre für eine Utopie, für ein Modell wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ordnung, das in Absetzung vom Absolutismus, von geburtsständischen Privilegien und klerikaler Dominanz die Prinzipien von individueller Freiheit und Gleichheit realisieren, das Zusammenleben der Menschen nach Maßgabe der Vernunft, auf der Grundlage rechtlich geregelter Leistungskonkurrenz (im ökonomischen Bereich: Marktwirtschaft) gewährleisten und die staatliche Macht im Sinne des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates einerseits rechtlich begrenzen und andererseits über Öffentlichkeit, Wahlen und Repräsentationsorgane an den Willen mündiger Bürger zurückbinden sollte"3. Da Kommerzialisierung als wirtschaftlicher Prozeß und "freie Marktwirtschaft" als Teil eines "Daseinsentwurfs" von bürgerlicher «Gesellschaft unterschiedlicher Untersuchungsmethodik zugänglich sind, soll das eine Phänomen nicht als Beweis für das andere erachtet werden, in unserem Kontext also Marktgebundenheit der bäuerlichen Produktion nicht mit Verbürgerlichung des Dorfes gleichgesetzt werden oder umgekehrt.

I.

Als logischer Ausgangspunkt der Kommerzialisierungsvorgänge bietet sich in

Ungarn der Abschluß der wirtschaftlichen Rekonstruktion nach der Befreiung von der Türkenherrschaft an. Im engeren Sinne, als Abschluß der Wiederbesiedlung fällt dies - regional sehr unterschiedlich - in die Mitte des 18. Jh., im weiteren Sinne jedoch, gemessen am Erreichen des Entwicklungsstandes der Produktion, der ohne die Kriegseinwirkungen zu erwarten gewesen wäre, wurde die Wirtschaftsrekonstruktion - wiederum mit großen regionalen Abweichungen - erst später, im letzten Drittel des 18. Jh. abgeschlossen. Um diese Zeit sind die während der Türkenkriege und in der folgenden Rekonstruktionsphase vorherrschenden, weitgehend kommerzialisierten Wirtschaftssysteme (vor allem die extensive Viehmast) in manchen Gegenden schon im Niedergang begriffen, Vergetreidung und ihre Kommerzialisierung setzen ein, entfalten sich aber erst später. Sowohl die Vergetreidung als auch der Prozeß der bäuerlichen Marktintegration waren z.B. in deutschen Landschaften um diese Zeit schon weiter vorangeschritten. Ein solcher Phasenunterschied bedeutet an sich nicht unbedingt eine Rückständigkeit der 74

Kommerzialisierung: extensivere Produktionssysteme können u.U. auch weniger feudal- und tiefer marktgebunden sein als intensivere 4 . Das Urbarium von Maria Theresia im Jahre 1767 legte die institutionellen Rahmenbedingungen für die Kommerzialisierung von herrschaftlichen wie bäuerlichen Betrieben fest. Das eigentliche Ziel dieser rechtlichen Neuordnung der ungarischen Agrargesellschaft war allem Anschein nach die Behauptung der landesfürstlichen Kompetenz in den Beziehungen zwischen Untertanen und feudaler Obrigkeit 5 . Als ein Schritt zur Herstellung einer allgemeinen unmittelbaren Staatsuntertänigkeit wies diese Maßnahme zwar in die Richtung einer bürgerlichen Gesellschaft; für die

Kommerzialisierung

von

bäuerlichen

und

herrschaftlichen

Betrieben aber hat sie sehr ungleiche Voraussetzungen geschaffen. Nicht nur überstieg das nunmehr gesetzlich vorgeschriebene Maß an Fronarbeit in weiten Teilen des Landes den vorher üblichen Umfang. Infolge dieser Maßnahme wurden - regional unterschiedlich - auch bedeutende Teile des Ackerlandes den Bauern entzogen. Darüber hinaus und vor allem entstand jene Ungleichheit deswegen, weil allem Land, das nicht bäuerlicher Acker, Wiese oder Garten gewesen war, der rechtliche Charakter des Allodialbesitzes zugesprochen wurde und dadurch das Geflecht der Nutzungsrechte an den um 1767 noch großen, extensiv genutzten Landstrichen

einem

potentiell

bürgerlichen

Privateigentumsbegriff

weichen

mußte. Ein deutliches Indiz dafür ist der Bedeutungswandel von "Puszta" im Sinne von "Ödland" oder "Wüstung" im 18. Jh. zum "herrschaftlichen Vorwerk" im 19. Jh. Diese rechtliche "Flurbereinigung" hat nicht nur das Gefüge der

lokalen

Gewohnheitsrechte gesprengt, sondern auch bis dahin landeseinheitliche, jedoch nicht in den Landesgesetzen verankerte Rechtskategorien beseitigt. Die sonst weitgehend frei verfügbare bäuerliche Rodung wurde entweder dem Hufen- oder dem herrschaftlichen Allodialbesitz angegliedert. Aus den sich meist dynamisch entwickelnden,

mit

beträchtlichen

Selbstverwaltungsrechten

ausgestatteten

"Oppida" (Ackerbürgerstädten) entstanden herrschaftsuntertänige Mediatstädte. Andererseits wurde jedoch durch das Urbarium auch dem zum Hufenbesitz erklärten bäuerlichen Ackerland ein gewisser Rechtsschutz zuteil 6 . Im wesentlichen ist der Latifundienbesitz auf diesen Grundlagen groß geworden. Er baute die bis dahin nur begrenzte Eigenproduktion aus und vervielfachte sein Einkommen. Die großen Besitzungen, die bis dahin eher als Rentensammler funktionierten, benötigten ab Ende des 18. Jh. eine bürokratische Gutsverwaltung, um räumlich zerstreut liegende Produktionsstätten mit unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen (vom Korn- und Weinbau bis zu "Industrie'-Anlagen) zentral lenken und überwachen zu können. Die aus dieser Entwicklung hervorgehende Schicht der Wirtschaftsbeamten setzten die zeitgenössischen Statistiker in der ersten Hälfte des 19. Jh. mit der Zahl der vorhandenen Ortschaften gleich. Läßt man die Geistlichen außer Acht, stellten damit die Angehörigen dieser Schicht die be-

75

deutendste Gruppe unter den potentiellen Vermittlern bürgerlicher Kultur auf dem Lande 7 . Die Kommerzialisierung der bäuerlichen Produktion erfolgte aus den schon skizzierten ungünstigen Gründen wahrscheinlich mit einer gewissen Verspätung, aber in gleichen konjunkturellen Schüben: die erste Welle kam während der napoleonischen Kriegsphase, die zweite im Vormärz. Die Ergebnisse waren, vor allem in der ersten Phase, alles andere als spektakulär. Die Ressourcen der Bauernwirtschaften mußten für die Erweiterung des Ackerbodens eingesetzt werden. Der größte argrartechnische Fortschritt der Epoche bestand im allgemeinen Übergang von der Zwei- zur Dreifelderwirtschaft 8 . Sowohl bäuerliche Arbeitskraft als auch Bodenareale wurden durch die gestiegenen herrschaftlichen Anforderungen in Anspruch genommen. Die mittelbaren Auswirkungen der herrschaftlichen Betriebserweiterung waren nicht minder folgenschwer: der zügige Ausbau der herrschaftlichen Handelsmonopolisierung, gerade in den lukrativsten Handelszweigen wie z.B. dem Getränkehandel, blockierte die nächstfolgende Expansionsstufe für die hie und da vorhandenen unternehmerisch eingestellten großen Wirte 9 . Die Handelsmonopolisierung erfolgte aufgrund feudaler Vorrechte (regalia minora). Sie brachte jedoch meistens die Gutsbeamten in arge Bedrängnis, da die Handelsund "Industrie"-Berechtigungen wie auch die Anlagen schwer zu kontrollieren waren und aus diesem Grunde auch verpachtet wurden. Diese Pächter von Krügen, Gewölben, Fleischbänken, Pottaschesiedereien, Glashütten usw. waren vielfach Ortsfremde, oft auch Juden, die ihr Tätigkeitsfeld nicht nur auf die gepachteten Betriebe begrenzten. Krugpächter kauften z.B. Vieh und Tabak auf, gewährten Kredit und vermittelten Industriewaren an die dörfliche Kundschaft. In dieser Hinsicht paßten sie sich an die Bedürfnisse ihrer dörflichen Abnehmer an. Sie konnten aber auch - vielleicht durch Ratschläge, vielleicht durch ihr eigenes Verhalten, aber ganz bestimmt durch ihre Kauf- und Verkaufsangebote - mancherlei Anregungen geben. Auf diese Weise trieben sie eine Art von Erziehung für den Markt und waren nicht nur Vermittler von Waren, sondern Vermittlungsinstanzen der Kommerzialisierung überhaupt. Andererseits waren sie als Pächter jedoch darauf bedacht, die ländliche Bevölkerung von ihren monopolisierten Tätigkeitsbereichen fernzuhalten - wenn nötig durch Einsatz von Polizeigewalt. Diese Pächter waren - nach ihren Nachlaßinventaren zu urteilen - an der städtisch-bürgerlichen Kultur orientiert. Ihre Vermittlerrolle in Hinsicht auf Bereiche der bürgerlichen Kultur wird jedoch für gering gehalten, denn als Juden oder Griechen waren sie Fremde im Dorf. Doch spielte hier nicht nur die ethnisch-religiöse Komponente eine Rolle. Sie waren auch - ebenso wie Pächter ungarischer Herkunft - nur wenig in die dörfliche Gesellschaft integriert. Ohne über Grundeigentum zu verfügen, waren ihre Pachtrechte gleichsam auf dem Flugsand der örtlichen Machtverhältnisse gebaut. Infolgedessen mußten sie ihre Unternehmen li-

76

quid und leicht auflösbar sowie sich selbst gewissermaßen stets fluchtbereit halten 1 0 . In der ersten Hälfte des 19. Jh. konnten bäuerliche Schichten in unterschiedlichen Regionen ausreichende Geldüberschüsse erzielen, um sich neue Konsummuster vor allem im Bereich der Kleidung, aber auch bei Möbeln anzueignen 11 . Die dabei auftretenden Stilrichtungen waren andere als die bis dahin üblichen in der Geschmacksgemeinschaft zwischen ländlichen Kleinadeligen und Bauern. Ungarische Volkskundler behaupten aber, daß damals nicht "städtisch-bürgerliche Elemente in die bäuerliche materielle Kultur hineingebracht", sondern daß gerade ihr bäuerlicher Charakter vertieft worden sei. In der Tat gab es eine Epoche "bäuerlicher Verzierlust", deren Formenvielfalt zum beliebtesten Gegenstand der späteren volkskundlichen Forschungen geworden ist. Der sozioökomonische Hintergrund bestand jedoch darin, daß es der Mehrheit der Bauern unmöglich war, "ihren immer anachronistischer werdenden bäuerlichen Status zu verlassen, ... jedoch die wirtschaftliche Konjunktur ... wenigstens den wohlhabenden Bauern realen Grund gab", ihre Lebensweise positiv, optimistisch zu gestalten 12 . Das bedeutet also, daß die im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs gestärkten, vornehmlich großbäuerlichen Schichten nicht nur die Wahl hatten, sich traditionelle adelige oder moderne bürgerliche Kulturelemente anzueignen, sondern sie durchaus ihre kulturelle Eigenständigkeit vertiefen und die Distanz zu anderen Kulturformen sogar vergrößern konnten. Sucht man aber nach potentiellen Vermittlungsinstanzen von Verbürgerlichung auf dem Lande, so wird es notwendig, das Verhältnis der verschiedenen "ständischen" 13 Segmente zueinander zu klären.

II.

Bei der Suche nach Vermittlungsinstanzen von Verbürgerlichung auf dem

Lande stößt man zuerst auf die Schwierigkeit, Maßstäbe für den internationalen Vergleich zu finden. Vor allem diese Lage macht es notwendig, statt einer Fallstudie eher eine essayistische Schilderung der ungarischen Verhältnisse zu versuchen. Für den deutschen Kontext hat Hermann Bausinger eine subtile Analyse der Integrationskraft und der dahinter verborgenen Abgrenzungsfunktion von bürgerlicher Kultur geleistet, die die Vermittlungs- und Aneignungsprozesse bestimmten 1 4 . Die Integrations- und Abgrenzungsfunktionen hat er jedoch vor allem in bezug auf die Arbeiterschaft herausgearbeitet, da sich die prinzipielle Offenheit von bürgerlicher Kultur den Bauern gegenüber problemlos hätte aufrechterhalten lassen 1 5 . Die Übergänge von dieser Schicht in die der Bürger wäre ohnehin sehr selten gewesen. Demgegenüber hat Thomas Nipperdey mit Recht die Bedeutung von partiellen Verbürgerlichungsprozessen gerade im bäuerlichen Kontext betont, wo bestimmte Elemente von Bürgerlichkeit angeeignet worden sind, andere jedoch nicht 16 . 77

Ebensolche partiellen Verbürgerlichungsprozesse spielen im ungarischen Kontext der ersten Hälfte des 19. Jh. eine große Rolle, vor allem bei den potentiellen Vermittlern selbst, nämlich bei den "bildungsbürgerlichen" Schichten, die hier mit ein wenig Ironie eher als "Bildungsherren" zu bezeichnen wären. In Ungarn haben alle Komponenten des Dreieckverhältnisses Adel - Bauer - Bildungsbürger (bzw. "Bildungsherren") sich von denen der deutschen Gebiete unterschieden. Die liberale adelige Rollenauffassung ist zwar ein bedeutendes Stück der bildungsbürgerlichen entgegengekommen, hat sie jedoch im wesentlichen assimiliert. Weil der Adel nicht nur den Rahmen der dörflichen Verbürgerlichung absteckte, sondern einerseits weiterhin traditionelle Wertmuster ausstrahlte, andererseits sich partiell verbürgerlichte und diese Verbürgerlichung wenigstens theoretisch auch weitervermitteln konnte, ist es unumgänglich, hier auch die adeligen Rollenveränderungen zu berücksichtigen.

III. Der Adel spielte nicht nur wegen der großen Zahl seiner Angehörigen in Ungarn eine andere Rolle als im sonstigen Europa, sondern auch aufgrund seiner Struktur und Stellung in der Agrargesellschaft. Die Adelsqualität erstreckte sich in Ungarn auf niedrigere Stufen der sozialen Hierarchie als anderswo. Dabei sind für den fremden Betrachter adelige Schuhmacher vielleicht noch leichter vorzustellen als z.B. die Distanz des Komitatsadels, der "bene possessionati" zur ländlichen Aristokratie und zum Großgrundbesitz. Diese Distanz wird augenfällig bei den mittleren und höheren Beamten eines Komitats, die oft nicht einmal über ein halbes Dorf, sondern lediglich über 5-10 Häuslerstellen und etwas ausgedehnteren Weinbesitz verfügten 1 7 . Solche Adelige sonderten sich von den Bauern ihres Wohnsitzes sehr stark ab, sie haben diese auf der Straße und auf dem Feld schikaniert, jedoch nicht in der Weise beherrscht, wie es demgegenüber in aristokratischen Großbetrieben aus wirtschaftlichen Gründen notwendig und üblich war. Vielleicht gerade weil ihre Macht - im Gegensatz zu den sich langsam bürokratisierenden Großbetrieben - personengebunden blieb und dies tagtäglich ihren bäuerlichen Nachbarn vor Augen geführt wurde, konnten sie als Sinnbild guten, vornehmen, eben "herrschaftlichen" Lebens, wenn auch mit Einschränkungen, gelten. Auch auf die "Bildungsbürger" hat der Adel eine Anziehungskraft ausgeübt. Dahinter verbarg sich eine gewisse Kompatibilität der adeligen "Rollen" mit denen der Gebildeten, der "Honoratioren", wie auch ein gewisser Wandel im Stellenwert von bürgerlichen Gelehrten bzw. Honoratioren. Es war vor allem die politische Praxis des Komitatsadels, bürgerliche Verhaltensweisen zu antizipieren. Seine Vertreter hatten bis 1848 die gesamte Verwaltung fest in der Hand und übten sie oft als eine Art Willkürherrschaft aus. Für die "communitas comitatus" war sie jedoch eine billige, relativ effiziente und als demokratisch zu bezeichnende Selbstverwaltung. Das Zentralorgan des Komitats war 78

die Generalkongregation, in der jeder Adelige stimmberechtigt war. Die Amtsträger wurden gewählt und nicht kooptiert. Diese politische Praxis im Alltag bildete die Grundlage für eine "adelige Aufklärung, die weit mehr als nur eine geistige Modeerscheinung war. Montesquieu, Voltaire und Rousseau lieferten das gedankliche und verbale Arsenal für die ständische Argumentation gegen die Position des Herrschers. Das Naturrecht und der Gesellschaftsvertrag fanden Eingang in ihre Vorstellungen. Aber diese Argumentationselemente wurden zum Teil unvollständig übernommen, zum anderen Teil bewußt oder unbewußt der eigenen ständischen Stellung gemäß interpretiert 18 . Die Entwicklung bis 1848 führte auch zur Übernahme liberalen Gedankenguts. Sozialgeschichtlich gesehen war das Heranwachsen einer immer zahlreicher werdenden Schicht professioneller Angestellter der Komitate - Ärzte, Landmesser, Ingenieure - mindestens genau so wichtig. Diese brauchten - im Gegensatz zu den Amtsträgern - zwar nicht adeliger Herkunft zu sein. Für ihre erfolgreiche Anpassung an dieses Milieu mußten sie aber entweder nobilitiert werden oder einen anderen Weg ständischer Emanzipation finden. Aus dieser Situation heraus bedeutete die Konstituierung der Professionalisten und Bildungsbürger zum Honoratiorenstand eine schrittweise rechtliche Gleichstellung mit dem Adel. Sie genossen nicht nur die adeligen Steuer-, Einquartierungs- und sonstigen -befreiungen sowie eine erweiterte "Prozeßfähigkeit", sondern erhielten in den 1840er Jahren - je nach Komitat und Beruf - auch Teilnahme- und Wahlrecht auf den Generalkongregationen des Adels 19 . Diese Entwicklung wurde vermutlich dadurch erleichtert, daß auch für die Adeligen die Bedeutung von Bildung und eines intellektuellen Berufs gestiegen war. Der große und mittlere Großgrundbesitz konnte sich nämlich weit schneller modernisieren als die Besitzungen der Kleinadeligen, die nicht selten den Arrondierangsbestrebungen des aristokratischen Großgrundbesitzes zum Opfer fielen 20 . Auch wo der Besitz noch erhalten blieb, mußten sich die Kleinadeligen früher oder später zwischem dem mageren Einkommen und der unsicheren Zukunft ihres Landbesitzes und einer professionellen Orientierung entscheiden. Eine bukolische Lebensführung blieb zwar nach wie vor ihr Ideal, das aber nur bedingt mit der langen Abwesenheit infolge Studien und Dienst vereinbar war 21 . Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß diese Entwicklung ein eigennütziges Manöver des Adels dargestellt hätte. Die entsprechenden Forderungen von professionellen Vertretern der Honoratiorenberufe finden sich in der zeitgenössischen Publizistik zuhauf. Das Zusammenwirken von vorgegebenen gesellschaftlichen Hierarchien und den Strukturen des Marktes für die Leistungen von Professionalisten hat die Entwicklung bestimmt. Die quantitativ größte Schicht von "Bildungsherren" auf dem Lande waren die herrschaftlichen Wirtschaftsbeamten 22 . Als Privatangestellte der Herrschaften gehörten sie unter den sich zum "Honoratiorenstand" konsolidierenden Gruppen zu 79

den niedrigsten. Ihnen fehlten, da die meisten von ihnen nicht auf landwirtschaftlichen Hochschulen, sondern in der Praxis ausgebildet waren, auch die fachbezogenen Bildungspatente. U m so hartnäckiger pochten sie daher auf die Bedeutung ihres Fachwissens. Die zeitgenössische Polemik um die Lage und Bedeutung der Wirtschaftsbeamten übertrifft, wenigstens dem Umfang nach, die Auseinandersetzung um Ärzte und Anwälte bei weitem. Ein Drittel bis zur Hälfte von ihnen sind nichtadeliger Abstammung gewesen, ihre Herrenstellung gegenüber den Bauern war jedoch unverkennbar. Diese Macht stellte nur zum Teil eine kleinadelige Erbschaft dar: sie wurde revitalisiert, vertieft und generalisiert durch die Bedürfnisse des aristokratischen Großbetriebes, in dessen Dienst die Wirtschaftsbeamten ja standen. Dies förderte kaum eine mögliche Vermittlerrolle von Verbürgerlichung. Persönliche, sogar verwandtschaftliche Beziehungen waren jedoch zwischen Bauern und Beamten keineswegs ausgeschlossen. Beim jetzigen Forschungsstand kann nur vermutet werden, daß die stets sehr umsichtigen, aber prinzipiell innovationsfreudigen Beamten den bäuerlichen Umgang mit neuer Agrotechnik und den Umgang mit der Natur beeinflußen konnten. Das bildet freilich nur einen Teilaspekt von Verbürgerlichung. In bezug auf den Adel meinte der Begriff vor allem die politische Praxis. Die "Herrenstellung" der Beamten gegenüber den Bauern läßt sich aber weder als modern noch als bürgerlich bezeichnen.

IV. Die Hinweise auf potentielle Vermittler von Verbürgerlichung führen also im ungarischen Kontext sowohl bei wirtschafts- als auch bei bildungsbürgerlichen Gruppen im wesentlichen zu Fehlanzeigen. Es fragt sich, ob dies irgendwie spezifisch ungarisch gewesen ist, oder ob vielleicht die Staatsnähe von großen Teilen der deutschen bildungsbürgerlichen Gruppen eine im Vergleich zu Ungarn noch stärkere Abgrenzung der bürgerlichen Schichten "nach unten" hervorgerufen hat. Die ungarische sozialgeschichtliche Forschung bleibt bei diesen "Fehlanzeigen" nicht stehen. Sie versucht vielmehr, Verbürgerlichung mit sozialer Mobilität und diese wiederum mit räumlicher Mobilität in ihren Zusammenhängen zu untersuchen. Es hat den Anschein, daß der gewöhnliche Weg eines Bauern in eine höhere soziale Stellung mit einem Schritt in Richtung auf die Kleinstädte bzw. die lokalen Marktzentren begonnen hat. In der Tat scheinen, in Umkehrung des antiken Bildes, alle Wege der ungarischen Verbürgerlichungsprozesse in die "Oppida", also in die Ackerbürgerstädte zu führen. Nicht der Weltmarkt für Getreide, sondern diese lokalen Marktzentren mit einem Transportgewerbe und kommerzialisiertem Weinbau boten den dörflichen Aufsteigern gleichsam eine Treppe, und zwar in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. Deren Stufen bildeten die kommerzielle Landwirtschaft, das Handwerk und eine höhere Bildung. Denn diese

80

Kleinstädte waren auch Wohnorte von Honoratioren und Herrschaftsbeamten sowie häufig Standorte der höheren Schulen 23 . Die Untersuchungen orientieren sich zum großen Teil an einem historisch-anthropologischen Kulturbegriff: Wirtschaftliches Verhalten und wirtschaftliche Beziehungen der Menschen sind Aspekte der gemeinsamen Deutungs- und Handlungsmuster. Die Verpflichtung auf einen bürgerlichen "Daseinsentwurf' wird dadurch operationalisierbar. Diese Sichtweise ist hervorragend geeignet, die Übersetzungs-, Deutungs- und Umdeutungsfunktion der kleinstädtischen Gesellschaft bei der Vermittlung von bürgerlichen Werten herauszuarbeiten. Der "Preis" dafür ist aber, daß sie weitgehend an die kleinräumige Lokalkultur gebunden ist. Verhalten und kulturelle Sinngebungen sind für die Historiker, im Gegensatz zu den Anthropologen, nur bei einem dichten Quellenstand einigermaßen direkt zu beobachten; meist werden ihre Objektivierungen in der Wohnkultur, Kleidung usw. oder ihre Eckdaten wie Heiratsalter und sonstige demographische Indikatoren betrachtet. U m eine Kultur im anthropologischen Sinne interpretieren zu können, ist der Forscher auf den systematischen Vergleich von zerstreuten Hinweisen eines räumlich begrenzten Beziehungsgefüges angewiesen. Die internationale Vergleichbarkeit der Ergebnisse dieser Forschungsrichtung wird also nur dann ersichtlich, wenn die unterschiedlichen Ergebnisse der Analysen von verschiedenen lokalen Kulturen systematisch aneinander gereiht werden. Anmerkungen 1

Hofer, T., Europäische Analogien der Entwicklung von RinderzuchtMonokultur in der Großen Ungarischen Tiefebene, in: Studien zur deutschen und ungarischen Wirtschaftsentwicklung (16.-20. Jh.), hrsg. v. V. Zimänyi, Budapest 1985, S. 89-102; Makkai, L., Der Weg der ungarischen Mastviehzucht vom Nomadismus zum Kapitalismus, in: Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege. Festschrift für H. Kellenbenz, hrsg. v. J. Schneider, Bd. 2, Stuttgart 1978; Kiss, N.I., Die Bedeutung der ungarischen Viehzucht für Ungarn und Mitteleuropa vom 16. bis zum 18. Jh., in: Internationaler Ochsenhandel (1350-1750), hrsg. v. E. Westermann (Akten des 7th International Economic History Congress), Edinburgh 1978.

2

Vgl. Rose-Ackermann, S., Corruption. A Study in Political Economy, New York 1978; Becker, G.S., A Theory of Social Interaction, in: Journal of Political Economy, Jg. 82, 1974, S. 1063-1091; Stigler, G. u. Becker, G.S., De Gustibus non est Disputandum, in: The American Economic Review, Jg. 67, 1977, S. 76-90.

3

Kocka, J., Bürger und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jh., in: ders. (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jh., Göttingen 1987, S. 29; ders., Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jh. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten, in: ders. (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jh. Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde., München 1988, hier Bd. 1, S. 11-76.

4

Vgl. Anm. 2.

5

Szabö, D., A magyarorszägi urberrendezes törtenete Märia Terezia koräban (Die Geschichte der Urbarregulierung unter Maria Theresia), Budapest 1933.

81

6

Varga, J., Typen und Probleme des bäuerlichen Grundbesitzes in Ungarn 1767-1848, in: Studia Histórica, Bd. 56, 1965; für die Ackerbürgerstädte vgl.: Bácskai, V., A város és társadalma a XVIII. században, 1720-1828 (Die Stadt und ihre Gesellschaft im 18. Jh.), in: Kaposvár - Várostorténeti tanulmányo (Kaposvár - Stadtgeschichtliche Forschungen), hrsg. v. J. Kanyar, Kaposvár 1975.

7

Vári, A., A nagybirtok bürokratizálódása (Die Biirokratisierung des Großgrundbesitzes), m: Torténelmi Szemle (im Druck); ders., Privatangestellte in der ersten Hälfte des 19. Jh.: Ersatzbürger? in: Bürgertum in der Habsburgermonarchie, hrsg. v. E. Bruckmüller, H. Stekl, P. Urbanitsch (im Druck).

8

Orosz, I., Die landwirtschaftliche Produktion in Ungarn 1790-1848, in: Agrártorténeti Szemle, Jg. 13, 1971, Supplementband.

9

Vári, A., Der handelsmonopolisierende Großgrundbesitz u. seine sozialgeschichtlichen Auswirkungen im 18. u. 19. Jh., in: Der Binnenhandel und die wirtschaftliche Entwicklung, hrsg. v. S. Gyimesi, Budapest 1989, S. 273-291; ders., A gróf Károlyi család nagykárolyi birtokkerületének jövedelmei és gazdálkodása 1760-1791 (Einkommen und Wirtschaft des Herrschaftsbezirks Nagykároly der gräflichen Károlyi Familie), Diss. Budapest 1983.

10 Vgl. Anm. 7, 9. 11 Kresz, M., Magyar parasztviselet (Ungarische Bauernkleidung), Budapest 1960. 12 Hofer, T., Három szakasz a magyar népi kultúra XIX-XX. századi torténetében (Drei Epochen in der Geschichte der ungarischen Volkskultur im 19./20. Jh.), in: Ethnographia Jg. 86, 1975, S. 398-414, Zitat S. 408. 13 Ich folge bei diesem Begriff Rüschemeyer, D., Bourgeoisie, Staat und Bildungsbürgertum. Idealtypische Modelle für die vergleichende Erforschung von Bürgertum und Bürgerlichkeit, in: Bürger und Bürgerlichkeit, hrsg. v. J. Kocka, S. 102. 14 Bausinger, H., Bürgerlichkeit und Kultur, in: ebd., S. 121-142. 15 Ebd., S. 132 f. 16 Nipperdey, Th., Kommentar: "Bürgerlich" als Kultur, in: ebd., S. 146. 17 Benda, G., Egy Zala megyei köznemesi gazdaság és család a XVIII. század kozepén (Eine kleinadelige Wirtschaft und Familie im Komitat Zala um die Mitte des 18. Jh.), in: Agrártorténeti Szemle, Jg. 25,1983, S. 1-84. 18 Haselsteiner, H., Joseph II. und die Komitate Ungarns, Wien 1983, S. 23. 19 Vörös, K., A modern értelmiség kezdetei Magyarországon (Die Anfänge der modernen Intelligenz in Ungarn), in: Valóság Jg. 18, 1975, S. 19-20. 20 Vgl. Mályusz, E., A reformkor nemzedéke (Die Generation des Vormärz), in: Századok 1923, S. 16-74. 21 Vgl. Splényi Béla, Emlékiratai (Memoiren von Béla Splényi), Budapest 1984. 22 Vgl. Anm. 7, 9. 23 Diese Hinweise stützen sich auf noch im Gange befindliche Forschungen von Gyula Benda und seiner Forschungsgruppe. Bei ihm möchte ich mich an dieser Stelle bedanken.

Heinrichs Strods

Die soziale Differenzierung der lettischen Bauern auf den herzoglichen Gütern Kurlands, 1680-1820

Die Geschichtswissenschaft in Lettland hat in den Nachkriegsjahren ihre besondere Aufmerksamkeit der Sozialgeschichte des lettischen Volkes gewidmet. Diese Forschungen waren jedoch von mehreren Einschränkungen beeinflußt. Erstens erfaßten sie relativ kurze Zeitabschnitte. Zweitens waren sie hauptsächlich dem 19. Jh. gewidmet. Drittens wurden für Forschungen über die soziale Struktur keine statistischen Massendaten genutzt. Viertens fehlten dazu auch Spezialisten für historische Demographie, die mit Computern hätten arbeiten können. Erst in jüngster Zeit gibt es Voraussetzungen, um die erwähnten Einschränkungen zu beseitigen. Unter den ungefähr 30 000 Akten des 1903 gegründeten Kurländischen Landesarchivs, die 1919 von der Bermondtarmee aus Jelgava weggeführt worden waren, befand sich auch ein Teil des Kurländischen Herzogarchivs. 1 1971 gab die Regierung der DDR das Kurländische Landesarchiv an Lettland zurück. Das Archiv wurde im zentralen historischen Staatsarchiv in Riga untergebracht und in mehrjähriger Arbeit für die wissenschaftliche Benützung geordnet. Das ehemalige Kurländische Landesarchiv ist in den Bestand mehrerer ehemaliger Fonds dieses Archivs aufgenommen, wobei die Revisionsakten der herzoglichen Güter mit ihren Beilagen - den Wackenbüchern - sich im Fonds 6999 des Archivs befinden. 2 Die herzoglichen Güter Kurlands, die ungefähr ein Drittel der Anzahl der Güter des Herzogtums, später des Gouvernements, ausmachten, bildeten eine Ausnahme im Baltikum. In keinem anderen Teil seines Territoriums existierte eine so große Anzahl von Staatsgütern. Im Gegensatz zu privaten Gütern wurden auf den herzoglichen (Kron-)Gütern in bestimmten Zeitabständen, besonders bei Stärkung der administrativen Macht, gemäß einer einheitlichen Instruktion, Revisionen durchgeführt. Diese fanden gewöhnlich unter der Leitung von Burgherren durch zwei Beamte der Kameralverwaltung sowie im Beisein eines Gutsbesitzers und eines Bauern statt. 3 Revisionen wurden durchgeführt bei Veränderung der Rechtslage der Pächter der herzoglichen Güter oder aber im Falle bedeutenderer Klagen der Bauern. In der Inventarbeilage befinden sich die Wackenbücher, in denen die Anzahl der Bauern und ihr Besitz angegeben sind. Die Angaben über die Differenzierung der Bauern sind für 54 Güter erarbeitet worden. Die Anzahl der herzoglichen Güter und ihre Veränderungen zwischen 1680 und 1830 sind nicht sicher bekannt. Aber es kann angenommen werden, daß von 140 "Domänen-Bereichen" im Jahre 16734 die Zahl der Güter sich auf 116 in der Mitte des 18. Jh. verringerte 5 und sich auf 169 im Jahre 1827 und 183 im Jahre

83

1866 erhöhte. 6 Im Ergebnis ist die Differenzierung der Bauern auf der Grundlage von ungefähr 3 0 % der Güter berechnet worden. Das ist eine genügende Anzahl, um die Ergebnisse als repräsentativ zu betrachten. Auf diesen 54 Gütern wurden 389 Inventarisierungen durchgeführt, und zwar in unterschiedlichen Zeitabständen von 2-5 bzw. 16-25 Jahren. Die größte Anzahl von Revisionen (78,2%) fand in Zeitabständen von 6-10 bzw. 11-15 Jahren statt. Inventarisierungen gab es auf Gütern in 51-100 Jahren (67,9%) und 101-150 Jahren (24,5%). Insgesamt 257 Inventarisierungen

wurden

in

Zeitabständen

von

7-164

Jahren

aktenkundig

(Schriftwechsel 1656-1820). Im Ergebnis geben die Quellen eine ausreichende Übersicht über die sozialen Prozesse auf den Bauernhöfen. Was die Fragen der Differenzierung der Bauern (d.h. hier: der Gesamtheit der Wirte und Knechte) betrifft, so sind in den Inventarverzeichnissen im allgemeinen 10 Daten angegeben: Anzahl der Wirte, Anzahl ihrer Frauen, Söhne und Töchter (Wirtsfamilien), Anzahl der verheirateten Knechte, Anzahl von deren Frauen, Söhne und Töchter (Knechtsfamilien) und schließlich sind auch die ledigen Knechte und Mägde verzeichnet. Insgesamt konnten aus den 389 Wackenbüchern der ausgewerteten 54 Güter theoretisch 210 060 Zahlen über die Differenzierung der Bauern erbracht werden. Aber in mehreren Wackenbüchern ist nur die Anzahl der Wirte und Knechte angegeben, ohne Erwähnung ihrer Familienangehörigen. Zuweilen ist die Anzahl der Knechte, der ledigen Knechte und Mägde überhaupt nicht bekannt, insbesondere, wenn die Wackenbücher in Eile zusammengestellt worden waren. In vielen Fällen sind die Inventarbücher beschädigt gewesen und ihre Texte unleserlich geworden. Im Ergebnis haben wir 155 181 (73,9%) Daten erhalten. Das ist die größte Anzahl für die demographische Erforschung dieser Zeit, über die jemals die Forschung verfügen konnte. Diese Daten sind ziemlich sicher, da die Wackenbücher offizielle Dokumente darstellten, laut denen die Bauern Fronarbeit, Abgaben an das Gut, die Kirche und Gemeinde leisteten. Die Bearbeitung der Daten mit einem Computer im Rechenzentrum der Staatsuniversität Lettland führte die Studentin der physikalisch-mathematischen Fakultät, I. Lude, unter der Leitung des Dozenten E. Ikaunieks und des Verfassers durch. Die Rechnungen bezogen sich auf folgende Problemkreise: 1.

Anzahl der Wirte und die Dynamik ihres spezifischen Verhältnisses in bezug zu den übrigen Bauern,

2.

die Dynamik der Anzahl der Familienangehörigen der Wirte in bezug zu den übrigen Bauern,

3.

die Dynamik der Anzahl und des spezifischen Verhältnisses der verheirateten Knechte zu den übrigen Bauern,

4.

desgleichen der Familienangehörigen der verheirateten Knechte in bezug zu den übrigen Bauern,

5.

desgleichen der ledigen Knechte und Mägde in bezug zu den übrigen Bauern, 84

6.

die Größe und das Tempo der Differenzierung der Bauern auf den großen, mittleren und kleinen Gütern.

Der erste Problemkreis bezieht sich auf die Vergrößerung der Anzahl der Bauern auf den herzoglichen Gütern Kurlands. Jedoch gibt unsere Quelle auf diese Frage keine unmittelbare Antwort. Man erhält nur eine gewisse indirekte Antwort,

Tabelle 1:

Die Dynamik der Einwohnerzahl der herzoglichen und privaten Güter in Kurland, 1680-1820

Nr.

Jahre

Kleine Güter (bis 100 Bauern)

absolut

1

2

Mittlere Güter (101-500 Bauern)

absolut

%

3

4

5

%

6

Große Güter (mehr als 500 Bauern)

absolut

Insgesamt

%

7

8

9

1.

1680-1690

5

0

0

0

0

0

2.

1690-1700

11

37,9

13

44,8

5

17,3

3.

1700-1710

1

16,6

3

50,0

2

33,4

6

4.

1710-1720

15

22,4

36

53,7

16

23,9

67

5.

1720-1730

15

17,4

44

51,2

27

31,4

86

6.

1730-1740

9

9,7

63

67,7

21

22,6

93

7.

1740-1750

23

27,7

55

66,3

5

6,0

83

8.

1750-1760

11

8,7

70

55,1

46

36,2

127

5 29

9.

1760-1770

1

0,6

82

49,1

84

50,3

167

10.

1770-1780

1

1,0

32

35,2

58

53,8

91

11.

1780-1790

1

1,0

34

35,8

60

63,2

95

12.

1790-1800

1

1,1

44

50,0

43

48,9

88

13.

1800-1810

0

0,0

35

51,5

33

48,5

68

14.

1810-1820

0

0,0

31

65,9

16

34,1

47 1052

indem man die Vergrößerung der Anzahl der Bauern auf den Gütern erforscht. Aufgrund dieses Ergebnisses wurde versucht, zu errechnen, wieviel kleine (bis 100 Bauern), mittlere (101 bis 500 Bauern) und große (über 500 Bauern) Güter es gab. D a Angaben über mehrere Jahre zur Gesamtzahl der Bauern unvollständig sind, werden

in

Tabelle

1 auch

Güter

mit 85

unbestimmter

und

hypothetischer

Tabelle 2:

Die Umwandlung von kleinen Gütern in mittlere und von mittleren in große 1701-1825

Nr.

Jahre

Umwandlung in mittlere

Umwandlung in große

%

absolut

absolut

%

Insgesamt

absolut

%

1.1701-1725

0

0

1

6,3

1

3,2

2. 1726-1750

2

13,3

2

12,4

4

12,9

3. 1751-1775

10

66,7

8

50,0

18

58,1

4.1776-1800

2

13,3

4

25,0

6

19,4

5. 1800-1825

1

6,7

1

6,3

2

6,4

Insgesamt

15

100,0

16

100,0

31

100,0

Einwohnerzahl errechnet. Die Aneinanderreihung großer, mittlerer und kleiner Güter nach Einwohnerzahl in zehn Jahren zeigt, daß sich die Anzahl kleiner Güter von 37,9% im letzten Jahrzehnt des 17. Jh. im Verlauf von hundert Jahren bis auf 1,1% im letzten Jahrzehnt des 18. Jh. verringerte. Das zeugt von wenigstens zwei Erscheinungen: im Ergebnis der Vergrößerung der Anzahl Bauern verwandelten sich die kleinen Güter nach den Verheerungen der Pest 1710 (besonders in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, als die Wirtschaften den Zustand vor der Pest erreicht hatten) in mittlere und die mittleren in große Güter. Wenn auch auf den Privatgütern am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jh. eine Optimierung der Gutswirtschaften stattfand, die sich in der Verringerung der Zahl der allerkleinsten und allergrößten Güter und dem rapiden Anwachsen der Halbgüter (kleinen Güter) offenbarte 7 , so waren auf den herzoglichen Gütern diese Vorgänge nicht zu beobachten. Aus Tabelle 2 ist die Veränderung der Größenstruktur der Güter zu ersehen: 15 kleine Güter wuchsen zu mittleren und 16 mittlere zu großen; insgesamt veränderten somit 31 Güter (58,5%) ihren Status. Es ist kennzeichnend, daß zwischen 1751 und 1775 mehr als die Hälfte (58,1%) der Besitzungen zu Gütern mit einer größeren Bevölkerung wurden. Vermutlich waren zu dieser Zeit die Bevölkerungsverluste infolge von Krieg und Pest ausgeglichen. Wir haben keine unmittelbaren statistischen Beweise dafür, was die Verwandlung zu mittleren oder großen Gütern - das Anwachsen der Anzahl von Wirtsfamilien, Knechtsfamilien oder der ledigen Knechte - bedingt hat. Wir werden jedoch sehen, daß hauptsächlich das

86

Tabelle 3:

Der Bestand und die Zusammensetzung der Bauern, 1690-1820 Wirte und ihre Familien

Nr.

Knechte und ihre Familien

Jahre absolut

%

absolut

%

Ledige Knechte und Mägde absolut

%

Insgesamt

100%

1. 1690-1700

115

73,3

33

21,0

9

5,7

157

2. 1710-1720

723

57,9

423

33,9

102

8,2

1248

3. 1720-1730

4504

62,8

2197

30,6

469

6,6

7171

4. 1730-1740

6102

59,7

2927

28,7

1191

11,6

10220

5. 1740-1750

2085

53,1

1335

34,0

506

12,9

3926

6. 1750-1760

8580

50,3

6248

36,6

2226

13,1

17054

7. 1760-1770

14625

42,2

13417

41,7

4311

13,3

32353

8. 1770-1780

8194

41,7

8941

45,5

2508

12,8

19643

9. 1780-1790

8696

37,5

11371

49,0

3138

13,5

23205

10. 1790-1800

6113

33,6

9580

52,8

2472

13,6

18165

11. 1800-1810

3896

29,1

7522

66,2

1972

14,7

13390

12. 1810-1820

2261

27,7

4516

55,4

1373

16,9

8150

Insgesamt

66394

42,8

68510

44,1

20277

13,1

155181

Anwachsen der Anzahl der verheirateten und ledigen Knechte diese Änderung bewirkte. Zweitens bekommen wir eine Vorstellung über die Dynamik der Zahl und das spezifische Gewicht der Bauern - der Wirte und ihrer Familienangehörigen, der Knechte und ihrer Familienangehörigen wie auch der ledigen Knechte und Mägde - im Verlauf von 130 Jahren. Aus Tabelle 3 ist zu ersehen, daß der Anteil der Familienangehörigen der Wirte sich von 73,3% in den Jahren 1690-1700 auf 27,7% in den Jahren 1810-1820 verminderte, d.h. der Prozentanteil war fast zweimal kleiner. Der Anteil der verheirateten Knechte und ihrer Familienangehörigen vergrößerte sich hingegen im selben Zeitraum von 21% auf 55,4%, d.h. der Prozentanteil war anderthalbmal größer. Besonders erhöhte sich die Zahl der ledigen Knechte und Mägde - ihr Prozentanteil war fast zweimal größer. Drittens erhalten wir eine Vorstellung über die Dynamik der Anzahl der Wirte und Knechte. In Tabelle 4 wird die Anzahl der Wirte und

ihrer

Familienangehörigen mit der Anzahl der verheirateten Knechte und ihrer Familienangehörigen in den Jahrzehnten von 1690 bis 1820 verglichen, d.h. im

87

Tabelle 4:

Anzahl der Wirte und Knechte sowie ihrer Familienangehörigen auf den herzoglichen Gütern, 1690-1820

Anzahl der Wirte

Nr.

Knechte, ihre Frauen, Kinder, ledige Knechte und Mägde

Knechte usw. pro Wirt

Jahre absolut

%

absolut

%

1.

1690-1700

23

35,4

42

64,6

1,82

2.

1710-1720

159

23,2

525

76,8

3,30

3.

1720-1730

977

26,8

2666

73,2

2,72

4.

1730-1740

1243

23,2

4118

76,8

3,31

5.

1740-1750

435

19,1

1841

80,9

4,23

6.

1750-1760

1845

17,9

8474

82,1

4,59

7.

1760-1770

3004

14,5

17772

85,5

5,91

8.

1770-1780

1734

13,1

11449

86,9

6,06 7,81

9.

1780-1790

1857

11,3

14509

88,7

10.

1790-1800

1287

9,6

12052

90,4

9,36

11.

1800-1810

871

8,4

9494

91,6

10,90

12.

1810-1820

622

9,6

5889

90,4

9,46

Insgesamt

13857

88787

Verlauf von 130 Jahren. Insgesamt wurden 13 857 Wirte sowie 87 787 Knechte mit ihren Angehörigen (einschließlich lediger Knechte und Mägde), d.h. zusammen 102 644 Bauern erfaßt. Tabelle 4 läßt gleichfalls erkennen, daß sich der Anteil der Wirte und ihrer Familienangehörigen von 35,4% im letzten Jahrzehnt des 17. Jh. auf 9,6% nach hundert Jahren - im letzten Jahrzehnt des 18. Jh. - verringert hat. In derselben Zeit vergrößerte sich der Anteil der Knechte und ihrer Familienangehörigen von 64,6% auf 90,4% der Gesamtzahl der Familienangehörigen der Wirte und Knechte. Das ist auch verständlich. Die Zahl der Wirte wuchs relativ geringer, während die durchschnittliche Zahl der Familienangehörigen der Knechte pro Wirt sich von 1,8 auf 9,3 vergrößerte, d.h. um das Fünffache.

88

Die Untersuchung erlaubt ebenfalls, die Dynamik der durchschnittlichen Größe von Wirts- und Knechtsfamilien im Verlauf von 130 Jahren zu analysieren. Auf Tabelle 5 sieht man, daß die Wirtsfamilien mit durchschnittlich 3,6 bis 5 Menschen größer waren als die Knechtsfamilien mit durchschnittlich 2,3 bis 3,3 Menschen. Das ist zu erklären mit den Schwierigkeiten der Wohnverhältnisse der

Tabelle 5:

Dynamik der durchschnittlichen Größe der Wirts- und Knechtsfamilien, 1690-1820

Wirte

Nr.

Knechte (angenommen, daß jeder Knecht eine Frau hat)

Jahre Wirte

ihre Familien

durchschnittliche Größe

Knechte

ihre Familien

durchschnittliche Größe

1.

1690-1700

23

115

5

14

33

2,3

2.

1710-1720

159

723

4,5

127

423

3,3

3.

1720-1730

977

4504

4,6

658

2197

3,3

4.

1730-1740

1243

6102

4,9

1069

2927

2,7

5.

1740-1750

435

2085

4,8

477

1335

2,8

6.

1750-1760

1845

8580

4,6

2117

6248

2,9

7.

1760-1770

3004

14625

4,9

4492

13417

3,0

8.

1770-1780

1734

8194

4,7

2865

8941

3,1

9.

1780-1790

1857

8696

4,7

3835

11371

3,0

10.

1790-1800

1287

6113

4,7

3263

9580

2,9

11.

1810-1820

871

3896

4,6

2495

7522

3,0

12.

1810-1820

622

2261

3,6

1523

4516

3,0

Durchschnittlich

13857

66394

4,8

22935

68510

3,0

Knechtsfamilien in den Gesindestuben und der geringen Kinderzahl infolge des Weggangs der Kinder, die schon im Alter von 10 Jahren als Hirtenjungen, Jungknechte oder Mägde arbeiteten. Verheiratete Kinder aus Knechtsfamilien unterhielten schon im 18. Jh. selten ihre Eltern. Die Struktur ihrer Familie näherte sich der Kernfamilie. Die Größe der Wirtsfamilien, wenn auch im Ganzen stabil, hatte

89

Tabelle 6:

Dynamik des relativen Verhältnisses zwischen Gesinde (Jungknechte und Mägde) und verheirateten Knechten, 1690-1820

Nr.

Jahre

Absolute Zahl

Index

1.

1690-1700

1,80

100

2.

1710-1720

0,62

34

3.

1720-1730

0,53

34

4.

1730-1740

1,51

84

5.

1740-1750

1,33

74

6.

1750-1760

1,11

62

7.

1760-1770

0,95

53

8.

1770-1780

0,78

43

9.

1780-1790

0,85

47

10.

1790-1800

0,81

45

11.

1800-1810

0,80

44

12.

1810-1820

0,93

52

dennoch eine Tendenz zur Verminderung, vermutlich durch Einschränkung der Kinderzahl und damit der Hoferben. Die beständige Lohnarbeitskraft der Wirte bestand aus verheirateten Knechten samt deren Frauen sowie aus ledigem Gesinde, d.h. Jungknechten und Mägden. In der bisherigen historischen Literatur Lettlands wurden die Beziehungen zwischen diesen Gruppen und ihre Dynamik nicht untersucht. Fünftens erlaubt die Quelle das relative Verhältnis zwischen ledigem Gesinde und verheirateten Knechten zu untersuchen (Tabelle 6). Nach dem Fallen dieses Verhältnisses in den ersten zwei Jahrzehnten des 18. Jh., als im Gefolge der Pestepidemie ledige Knechte und Mägde in Not geratene Bauernhöfe aufnehmen und Familien gründen konnten, vergrößerte sich zwischen 1730 und 1760 das relative Verhältnis zwischen verheirateten Jungknechten und Mägden und den verheirateten Knechten und näherte sich dem Niveau am Ende des 17. Jh. Durchschnittlich kamen in der zweiten Hälfte des 18. Jh. ein lediger Knecht oder eine ledige Magd auf eine verheiratete Knechtsfamilie. Im ganzen war das relative Verhältnis der Ledigen zu den Verheirateten nach 1730 eher stabil und betrug 44% bis 84% des Niveaus des letzten Jahrzehnts des 17. Jh. Unter den ledigen Knechten und Mägden gab es Leute im Alter von 20 bis 70 Jahren. Die Anzahl der verheirateten Knechte vergrößerte sich wie die Zahl des Gesindes (vgl. Tabelle 3). Das zeigt,

90

Tabelle 7:

Nr.

Kinderzahl in Wirts- und Knechtsfamilien, 1690-1820

Jahre

Durchschnittliche Kinderzahl in Knechtsfamilien

Durchschnittliche Kinderzahl in Wirtsfamilien

%

%

Kinder der Knechtsfamilien in % der Kinder in Wirtsfamilien

1.

1690-1700

1,50

0,18

12

2.

1700-1710

1,27

0,64

50

3.

1720-1730

1,31

0,70

53

4.

1730-1740

1,55

0,37

30

5.

1740-1750

1,47

0,40

27

6.

1750-1760

1,38

0,48

35

7.

1760-1770

1,46

0,51

35

8.

1770-1780

1,39

0,56

40

9.

1780-1790

1,38

0,48

35

10.

1790-1800

1,38

0,47

34

11.

1800-1810

1,29

0,51

39

12.

1810-1820

1,27

0,48

38

daß ein immer größerer Teil der Knechte von der Zugehörigkeit zur besitzenden Bauernschaft ausgeschlossen wurde. Beim Vergleich der Kinderzahl in Wirts- und Knechtsfamilien (Tabelle 7) sehen wir, daß es in Knechtsfamilien durchschnittlich 88% bis 47% weniger Kinder als in Wirtsfamilien gab. Die größten Schwankungen sind an der Wende vom 17. zum 18. Jh. festzustellen. So war im letzten Jahrzehnt des 17. Jh., als das relative Gewicht des ledigen Gesindes am größten war (Tabelle 6) und die Anzahl der verheirateten Knechte die kleinste, die Kinderzahl in Knechtsfamilien sehr gering - durchschnittlich kam nur ein Kind auf fünf Familien. Im ersten und zweiten Jahrzehnt des 18. Jh. vergrößerte sich im Zusammenhang mit dem gewöhnlich nach Pestepidemien zu beobachtenden Geburtenboom die durchschnittliche Kinderzahl in Knechtsfamilien bis auf ein Kind je zwei Familien. Man kann annehmen, daß es in jeder Knechtsfamilie wenigstens ein Kind gab. Diese Kinderzahl konnte jedoch die Reproduktion des Knecht-'Standes" nur zu ungefähr 50% sichern. Die übrigen 50% rekrutierten sich aus den jüngeren Kindern der Wirte, die nicht Hoferben waren und nach Erreichung der Volljährigkeit zu Knechten wurden (ein Kind aus jeder Familie). Außerdem waren die Möglichkeiten der Erziehung in Knechtsfamilien, wo die Kinder schon im Alter von 10 Jahren arbeiten gingen, äußerst gering.

91

Im ganzen gab es in Knechtsfamilien weniger Kinder als in Wirtsfamilien. Man kann jedoch nicht von einem Einfluß des sozialen Status der Bauern auf die Geburtenzahl schließen. Wenn Wirtsfamilien durchschnittlich nur 20% und Knechtsfamilien 80% der Bauern ausmachten, kann man folgern, daß diese Sozialstruktur die Reproduktion der Bauern verschlechterte. Unter diesem Aspekt verschlimmerte sich die Lage zu Beginn des 19. Jh. noch, als die Wirtsfamilien 9,6%, die Knechtsfamilien aber 90,4% der Bauern stellten. Die lettischen Bauern in Kurland (Kurzeme), die eigentlich den größten Teil des lettischen Volkes darstellten, waren gemäß ihrer wirtschaftlichen Lage in der Landwirtschaft sozial differenziert. Die Anzahl der Wirte und ihrer Familienangehörigen vergrößerte sich angesichts des Instituts des Anerbenrechts hauptsächlich auf Kosten der Knechte. D a die Knechte keine Möglichkeiten für Erziehung und Unterricht ihrer Kinder hatten, entstand während des ganzen 18. Jh. eine demographische Struktur, die die zahlenmäßige Vergrößerung des lettischen Volkes behinderte. Das niedrige Tempo des Wachsens der lettischen Bauernbevölkerung war bedingt erstens durch die Vergrößerung der Anzahl der Knechte, die, wie wir gesehen haben, weniger Kinder hatten, und zweitens durch die Vergrößerung der Anzahl lediger Knechte und Mägde sowie drittens durch die Verdrängung der jüngeren Söhne und Töchter der Wirte in die Gruppe der Knechte. 8 Die Erforschung der Dynamik der Einwohnerdichte, der Veränderungen, der Anzahl und Größe der Bauernwirtschaften, der Gutswirtschaften, der für die Formation der ländlichen Einwohner allerdings nicht kennzeichnenden Oberschicht und der Herausbildung eines kleinen Landeigentums in den Jahren 1680-1820: all diese Aspekte weisen auf Entwicklungen hin, die schließlich zur Bildung neuer sozialökonomischer Beziehungen führen konnten. 9 Es ist kennzeichnend, daß diese Veränderungen anfänglich von den Gutsherren selbst - mit der Absicht, ihre Herrschaft zu sichern - angestoßen wurden und unter Umständen erfolgten, die in anderen europäischen Ländern schon eine neue Gesellschaft entstehen ließ. Einzelne Elemente der neuen Sozialstruktur waren dabei durchaus nicht neu, bekamen aber eine solche Verbreitung und Kraft, daß sie die sozialökonomische Gesamtstruktur auf dem Lande veränderten. Notwendig wurden radikale Reformen der ländlichen Lebensordnung. Die sozial-ökonomischen Strukturveränderungen im 19. Jh. liquidierten jedoch nicht die mächtigen Gutswirtschaften selbst, die später zu Junkerwirtschaften wurden.

92

Anmerkungen 1

Stafenhagen, O., Das Kurländische Landesarchiv. Arbeiten des 1. Baltischen Historiker-Tages zu Riga, 1908; Kurzemes zemes arhivs. - LKV, 19193. sleja.

2

Historisches Zentralarchiv Lettlands ( = HZL), 6999. Bestand, 44. Findbuch.

3

Ziegenhorn, C.G., Staatsrecht der Herzogthümer Kurland und Semgallen, Königsberg 1772, Beilage, S. 259, 301 u.a.

4

Juskevics, J., Hercoga Jekaba laikmets Kurzeme, Riga, 1931, S. 146. ff.

5

Hahn, J., Die bäuerlichen Verhältnisse auf den herzoglichen Domänen Kurlands im XVI. und XVII. Jh., Karlsruhe 1911, S. 6f.

6

Strods, H., Kurzemes krona zemes un zemnieki 1795-1861, Riga 1987, 30 ff.

7

Strods, H., Zemnieku un muizu saimniecibu skaita un strukturas izmainas Latvij.a (18. gs. beigas-19. gs. I puse), Riga 1984, S. 88 ff.

8

Strods, H., Soziale Struktur der lettischen Bauernschaft in Kurland (17341813), in: Geschichte der UDSSR, H. 3,1984, S. 151.

9

Vgl. Strods, H., Die agrarwirtschaftliche Struktur Lettlands am Ausgang des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jh., in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas Bd. 32, 1988, S. 219-234.

II. Ländliche Gesellschaft und bürgerliche Kultur

Helmut Ottenjann

Kultur-Leitbilder der bäuerlichen Oberschicht in Nordwestniedersachsen

In der akademischen Beschäftigung mit den einzelnen Bereichen der ländlichen Volkskultur herrschte lange Zeit die unumstößliche Vorstellung vermeintlich zeitloser Dauer und autochthoner Herkunft. Als Inbegriff des Altartigen und Unwandelbaren galt auch in der Geschichtswissenschaft lange der Bauer, der angeblich seit uralten Zeiten den Naturkräften getrotzt und von Generation zu Generation seinen Hof in ewig gleicher Weise bewirtschaftet habe. Die neuere und neueste Geschichtsschreibung - vor allem repräsentiert durch Agrarhistoriker, Alltagskultur-Historiker und durch Volkskundler - ist in der Lage, dieses völlig einseitige und überholte Vorurteil zu revidieren, die Geschichte der Bevölkerung im ländlichen Raum als selbst erlebte und erlittene Geschichte zu begreifen und ihre Eigenleistungen und Wandlungsfähigkeit respektvoll zu würdigen 1 . Das

neue

facettenreiche

Geschichtsmosaik

der

unterschiedlichen

Be-

völkerungsschichten im ländlichen Raum - der Bauern, Landarbeiter, Landhandwerker, des Gesindes und der Kaufleute, der Geistlichen und Gelehrten in Bauerschaften, Dörfern und Kleinstädten - kann auch in Zukunft nicht hinreichend objektiv beschrieben werden ohne die Dokumentation und Erforschung der Geschichtsquellen dieser Bevölkerungsgruppen, der materiellen Quellen aus der Bau-, Wohn-, Geräte- und Kleidungskultur sowie der archivalischen Quellen wie Briefe, Anschreibebücher, Tagebücher, Nachlaßverzeichnisse, Autobiographien, Bücher und Schriften sowie Verwaltungs- und Vereinsprotokolle. All diese Quellengattungen, im "kombinierten Wissenschaftszugriff' befragt, versetzen uns in die Lage, ein differenziertes Bild vom Wandel in Wirtschaft und Kultur des ländlichen Raumes nachzuzeichnen, die exogenen innovativen Kultur- und Wirtschaftsströme in die jeweilige Region hinein freizulegen und deren endogene Adaptionen eigengeprägter Kulturentfaltungen nachzuzeichnen und zu würdigen. Auf der Suche nach bedeutenden Perioden des Umbruchs - die in hohem Maße auch den Stellenwert des Wandels im 19. Jh. verdeutlichen oder relativieren - in der Geschichte des ländlichen Raumes in Nordwestdeutschland und im speziellen Fall des nordwestlichen Niedersachsens, stößt man alsbald auf folgende Epochen einer tiefgreifenden Wende 2 : 1. Die Umbruchphase im Hochmittelalter während des 11. bis 13. Jh. mit der Konstituierung des grundherrlich abhängigen, aber eigenwirtschaftenden Bauern. 2. Die frühneuzeitliche Konsolidierung der Territorialherrschaft in nachreformatorischer Zeit (16. und 17. Jh.), begleitet von der Verfestigung regionaler Kultur-

97

und Normen-Strukturfaktoren sowie der Ausformung regionaler bzw. kleinregionaler Kulturräume; in unserem Falle der Entstehung der unverwechselbaren regionalen ländlichen Kultur. 3.

Den Ausstieg aus alteuropäischen Verfassungs-

und Normenstrukturen und den Einstieg in neue gemeindliche Ordnungen und großregionale Kulturmuster in der Zeit zwischen 1790 und 1850. 4. Den großen Umbruch nach 1850, die Epoche der Industrialisierung und speziell der Mechanisierung sowie der agrarökonomischen

Strukturveränderungen in der

Land-

wirtschaft. Was ist in diesem Zusammenhang ein Bauer und seit wann tritt das Bauerntum historisch in Erscheinung? Bekanntlich löst sich zu Beginn des Hochmittelalters die Villikation auf; die bisherigen Grundherren verkleinern ihre Eigenwirtschaften und verleihen den Grund und Boden an einzelne Bauern, die dafür Abgaben zu leisten haben. Mit der Konstituierung dieser Grundherrschaft beginnt die eigentliche Geschichte des Bauernstandes. Der Bauer ist also in erster Linie ein selbständiger, wenn auch bis weit in die Neuzeit zugleich ein grundherrlich abhängiger Produzent von pflanzlichen und tierischen Nahrungsmitteln und Rohstoffen. Verfassungsrechtlich ist der Bauer vom direkten politischen Leben ausgeschlossen, wird im Ständestaat von seinem jeweiligen Grundherrn - Adel und Klerus - vertreten, und in der ständisch-hierarchisch gegliederten Pyramide mit Adel und Klerus an der Spitze und nachgerückter Bürgerschaft steht er an unterer Position. Im Verlauf der Jahrhunderte erkämpfen sich die Bauern - sehr unterschiedlich in den jeweiligen Territorien - zunehmend Rechte in der Eigenwirtschaft und der individuellen Entfaltungsmöglichkeit in Haus, Hof und Familie, so daß man verallgemeinernd nicht mehr von "dem" Bauern sprechen kann. In vielen Teilen des Weser-Ems-Gebietes sind annähernd 20-30% der Bauern gegen Ende des 18. Jh. durch Freikauf aus der ständisch-feudalen Welt ausgeschieden. Aber nicht nur gravierende verfassungsrechtliche Unterschiede gliedern die bäuerliche Gesellschaft, sondern auch die Einteilung der Bauern, Haus- und Grundbesitzer entsprechend ihrem Anteil an dem noch in Gemeinbesitz befindlichen Grund und Boden, den Marken. In unserer Region kann die besitzbäuerliche Bevölkerung entsprechend ihrer Erbesqualität in vier Hauptgruppen eingestuft werden, in Voll- und Halberben, in Erb- und Markkötter 3 . Während die Brinksitzer trotz ihres Landbesitzes im wirtschaftlichen Sinn schon nicht mehr als bäuerliche Existenzen aufgefaßt werden können, da der größte Teil ihres Einkommens nicht mehr aus eigener Landwirtschaft stammte, bildete sich seit dem 16. Jh. eine prozentual wirklich bedeutende ländliche Unterschicht aus, die Heuerlinge, die spätestens seit dem 18. Jh. den größten Anteil an der ländlichen Bevölkerung in der Geestregion des nordwestlichen Niedersachsens stellten.

98

Vom Mittelalter bis zum 19. Jh. vollzieht sich also im ländlichen Raum Nordwestniedersachsens in politischer und demographischer Hinsicht ein gravierender Wandel. Es gibt Großbauern und Kleinstbauern, freie und grundherrlich abhängige Bauern; die besitzbäuerliche Schicht wird schließlich zunehmend seit dem 16. Jh. eine von der nichtbesitzbäuerlichen Unterschicht überflügelte Minderheit. Die für viele Neuerungen entscheidende Epoche des Hochmittelalters begründete auch die Kirchspielsverfassung und ordnete bestimmte Bauerschaften zum Kirchspielsdorf als der gemeindlichen Selbstverwaltungsinstanz; aber im Weser-Ems-Gebiet hat der spätmittelalterliche/frühneuzeitliche Bauer nicht mehr sein "Zuhause" im Dorf selbst, sondern wohnt und wirtschaftet in Streusiedlung. Im nordwestlichen Niedersachsen ist das Dorf also nicht ein Bauerndorf, sondern ein Dorfzentrum für Kirche und Verwaltung, Handel und Handwerk. Die eigentliche Siedlungseinheit, gemeindlich-verfassungsrechtlich dem jeweiligen Kirchspiel und Kirchspielsdorf zugeordnet, ist die Bauerschaft, in der die besitzbäuerliche und nichtbesitzbäuerliche Bevölkerung mit geregelten unterschiedlichen Rechten und Pflichten miteinander lebt und wirtschaftet. Die mittelalterliche Sachkultur der ländlichen Bevölkerung ist mehr oder minder nur noch in Resten überliefert, reicht aber aus, um Kontinuitäten oder Wandlungsprozesse bis zur Frühen Neuzeit aufzuzeigen. Die historische Sachkultur des 16. bis frühen 19. Jh. dagegen ist noch in respektablen Mengen überliefert, so daß für viele Regionen nach entsprechend systematischer Quellendokumentation kulturelle Innovations- und Diffusionsabläufe in räumlicher, zeitlicher und schichtenspezifischer Hinsicht nachgezeichnet werden können. Sachzeugen aus den Perioden des Biedermeier und des Historismus, also von ca. 1850 bis 1914, sind sogar noch massenhaft überliefert und entsprechend auskunftsfreudig - wenn man sie nach der Methode der "kombinierten Quellenanalyse" hinterfragt.

Die Sachgutquelle Haus im ländlichen

Raum

Haus und Hof als oikos, als Verband für Familie und Gesinde im Siedlungsgefüge, sind ein Spiegelbild der Geschichte im kleinen. Die Sachquelle "Haus" spricht bei quantitativer und qualitativer Kulturanalyse eine Sprache, die in den Archivalien nicht dokumentiert ist. Das Haus auf dem Lande in seiner großräumigen Genese und kleinräumigen Eigenprägung, das Haus als eigenständiger Kulturindikator verdient auch in dieser Perspektive eine kurze Erwähnung. Gegenüber dem frühmittelalterlichen Fronhof- oder Villikationssystem gewährte das neue Ordnungs- und Ständeprinzip der Grundherrschaft den Bauern trotz Leibeigenschaft größere persönliche Freiheiten im und am Haus. Dieser Drang nach persönlicher Freiheit und Kulturentfaltung steigerte sich im Verlauf der Jahrhunderte merklich, verlief aber in den einzelnen Räumen, auch des We-

99

ser-Ems-Gebietes, sehr verschiedenartig und mit höchst unterschiedlichem Erfolg. Mehr als 800 Jahre dauerte es, bis Bauern endgültig vom feudalabhängigen NurBesitzer von Grund und Boden zum freien Eigentümer von Person und Hof werden konnten 4 . In der Struktur des mittelalterlichen Ständestaates, in der unterschiedlichen und ungleichen Freiheit und Verfassung von Stadt und Land und in der standesspezifischen, eigengeprägten Wirtschafts- und Lebensform der bäuerlichen Bevölkerung liegt es begründet, wenn seit dem Hochmittelalter die Kunst-, Kultur- und Technikentwicklung auf dem Lande einerseits konsequent adeligkirchlich-oberschichtig, andererseits städtisch-oberschichtig ausgerichtet verläuft. Erst im Verlauf des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit nach mehr und mehr erkämpften kleineren und größeren Freiheiten, gelingt es der bäuerlichen Bevölkerung, vernehmbar stärkeres Eigenprofil zu gewinnen und unverwechselbare, regionalgeprägte Kreativität in der Sachkultur zu entfalten. Seit dem Hochmittelalter ist im weitaus überwiegenden Teil des heutigen Landes Niedersachsen, also auch im Weser-Ems-Gebiet, als bäuerliches Wohnund Wirtschaftsgebäude das sog. niederdeutsche Hallenhaus verbreitet. Während bis ins 16. und 17. Jh. engregionale, landschaftstypische Eigenprägungen in der Grundrißgestaltung, Raumgliederung, Gefügekonstrunktion und Auszier der Häuser noch nicht vorkommen, all diese Gestaltungselemente in großen Landschaftsräumen vielmehr sehr ähnlich ausgeformt werden, ändert sich das gegen Ende des 17. Jh. merklich in einigen Regionen, beispielsweise im Osnabrücker Artland. Denn als sich um 1700 das Einkommen und die persönlichen Freiheiten der besitzbäuerlichen Oberschicht in bestimmten Regionen verbesserten, suchte sie, wie die vermögenden Bürgerschichten in der Stadt, ihr gestiegenes Selbstbewußtsein und eine spürbare Prosperität durch aufwendigere Hausauszier, vor allem durch eine signifikante Giebelbauweise, nach außen zu demonstrieren 5 . Als bestes Beispiel einer frühen eigenständigen "Giebelbaukunst" in Niedersachsen konnte anhand einer durch das Museumsdorf Cloppenburg durchgeführten systematischen Erfassung ländlicher Baukultur im Altlandkreis Bersenbrück mehr als 5 000 Hausobjekte wurden erfaßt - das Osnabrücker Artland herausgestellt werden 6 . Das Artland, die drei Kirchspiele Badbergen, Gehrde und Menslage sowie die nahegelegene Stadt Quakenbrück umfassend, entwickelte auf den überaus ertragreichen Getreideböden und fruchtbaren Wiesen eine gewinnträchtige Landwirtschaft. Die religiöse Eigenwilligkeit des protestantischen Artlandes in katholischer Umgebung suchte durch besondere Wirtschaftskraft nach augenfälligen Ausdrucksformen. Die Entwicklung der regionalgeprägten Artländer Baukultur, die am Ende des 17. Jh. begann, um 1750 einen ersten, um 1800 einen zweiten, noch größeren und nach 1880 einen letzten Höhepunkt ihrer Baukonjunktur erreichte, wurde von der besitzbäuerlichen Schicht getragen. Zum besonderen Markenzeichen ihrer Prospe-

100

rität wird der Wirtschaftsgiebel, an dem die gestaffelte Erbesqualität erkennbar wird, denn der Giebel des Voll- und Halberben wurde wesentlich repräsentativer gestaltet als der des Erb- und Markkötters. Zu ergänzen ist, daß hierzulande nicht nur die Bürger in den mittleren und kleineren Städten ihre Häuser in Fachwerkbauweise und noch nicht ausschließlich in Ziegelbauweise errichteten, sondern auch der Landadel vom 16. bis zum Ende des 18. Jh. seine Wohn- und Wirtschaftsbauten in Fachwerkkonstruktion erstellte. Reichlich verwendetes Bauholz und engmaschiges Fachwerk verschafften hier Ansehen und waren Ausdruck der erreichten Sozialstellung. Leitbild bäuerlicher Bautradition ist in dieser Region vom 16. bis zum Ende des 19. Jh. die Baukultur sowohl des Adels als auch des Bürgertums; diese oberschichtigen Vorbilder wurden für bäuerliche Bedürfnisse vom Landhandwerker in der Region, in Absprache mit dem Bauern und unter Berücksichtigung der Tradition, umgeformt und zu einer regionalgeprägten ländlichen Baukultur weiterentwickelt. Oberschichtig-adelige Vorbilder für die bäuerliche Baukultur sind auch bei anderen Gestaltungsprinzipien zu entdecken. Die Artländer Hofanlage - einzigartig im gesamten Verbreitungsgebiet des niederdeutschen Hallenhauses - gewann klar geordnete Strukturen durch die Schaffung eines "Voahlts", des Innenhofes, der durch winklig aneinander geordnete Nebengebäude geschaffen wurde 7 . Dies Ordnen aller Neben- und Wirtschaftsgebäude zu einer geschlossenen Baueinheit ist ein Bauprinzip des Adels, das der Landadel noch im 18. Jh. keineswegs aufgegeben hat. Die geschlossene Hofanlage mit hohem Einfahrtstor steigert offensichtlich den Sozialstatus des Bauern und erweitert das Recht, gegebenenfalls den freien Zutritt durch Schließen der Hoftore zu verwehren. Mehr als die Hälfte aller Artländer Bauerngehöfte erreichen diese im 18. Jh. entwickelte Hofanlage praktisch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh.; die oberschichtig-adelige bauplanerische Vorgabe bleibt hier also leitbildbestimmend bis um 1900. In der "Bauernkultur" des Osnabrücker Nordlandes sind auch weitere Formelemente oberschichtig-adeliger Leitbildausrichtung in der Sachkulturausstattung zu entdecken. Der Rokoko-Ziergarten des Adels, charakterisiert durch figurativ geschnittene, gut zwei Meter hohe Taxusanlagen mit zierlicher Buchsbaumeinfassung, wurde bei jedem großen Artländer Bauernhof nach 1800 angelegt, von professionellen Gärtnern betreut und bis zum Ersten Weltkrieg liebevoll gepflegt; einige repräsentative Beispiele sind noch heute zu besichtigen. Als der Artländer Bauer um 1832 seine volle Freiheit über Person, Haus und Hof erlangt hat, steigt er für Kirchgangs- und Visitenfahrten vom Ackerwagen mit Festtagsbestückung auf die Kutsche um, auf Landauer oder Halbchaise, ein Gefährt, das zu dieser Zeit ca. 350 Reichstaler kostete - nach heutigem Gegenwert wesentlich teurer als ein Auto der gehobenen Mittelklasse. Das Vorbild der

101

Kutschfahrten findet dieser Bauer bei seinem adeligen Grundherrn, nicht beim Bürger der Stadt oder beim Bewohner des Dorfes. Die zeitübliche Konstruktion dieses Kutschwagens beherrscht der Wagenbauer auch auf dem Lande, dessen Werkstatt nicht nur in der Stadt oder im Dorf, sondern auch in der Bauerschaft zu finden ist. Die Konstruktions- und Ausstattungspläne für diese repräsentativen Wagen erreichten den Landhandwerker

keineswegs später

als den

Stadt-

handwerker, beide hatten - dank Fachliteratur, Prospekten und Ausbildungsweg den gleich schnellen Zugriff auf den neuen Trend. Mit Blick auf ein weiteres Sachkulturelement möchte ich auf die Problematik des Begriffs "Verbürgerlichung" aufmerksam machen. Es ist ein rational nicht leicht ergründbares Phänomen, aber ein Faktum, daß der Bauer im niederdeutschen Hallenhaus auf der Geest zwischen Weser und Ems in der Regel erst zwischen 1850 und 1900 mit der jahrhundertealten Tradition des Wohnens im Rauchhaus bricht und einen Kamin-Schornstein im Herdraum errichtet 8 . Früher als im Bürgerhaus ist die Kaminkultur im Adelshaus verbreitet und auch der Landadel kennt diese Wohn-, Wärme- und Kochsituation seit dem ausgehenden Mittelalter. Mit anderen Worten, es ist danach Ausschau zu halten, wer welche Neuerungen zuerst adaptiert, wie sich kulturelle Diffusionsabläufe regional und sozial differenzieren lassen. Der tüchtige Bauer hat gegebenenfalls einen ebenso schnellen und wirkungsvollen Zugriff auf Neuerungen seiner Zeit wie die Bevölkerungsschichten der Stadt; beide aber, Bürger und Bauern, sind bereit, ein neues,

großregional

ausgerichtetes Kulturmuster anzuerkennen und ihren Zwecken entsprechend zu adaptieren. Die Erforschung der bäuerlichen Baukultur nach Vorbild und Abbild, nach Innovation und Diffusion, ist bis in viele Einzelheiten hinein ebenso wie für das Artland auch für andere Kulturregionen im Weser-Ems-Gebiet möglich. Das kann beispielhaft ein Blick auf die Bauernhäuser der Butjadinger-Region zeigen (zwischen Unterweser und Jadebusen). In diesem Gebiet wurde bis zum 17. Jh. noch traditionell das Fachwerk-Hallenhaus mit Krüppelwalm und Reetbedachung als bäuerliches Wohn- und Wirtschaftsgebäude verwendet. Aber durch viele Bilddokumente läßt sich belegen, daß auf gräflichen Vorwerken schon um 1600 monumentale Gulfscheunen mit Backsteinmauerwerk und mit Ziegelbedachung gebaut wurden. Auf den zahlreichen "planmäßig" angelegten herrschaftlichen Vorwerken dieser Region ist auch zu beobachten, daß stets zwei gleich große, langgestreckte Wohn- und Wirtschaftsgebäude nebeneinander stehen, ein neuer Wirtschaftstyp, der dann für bäuerliche Anwesen dieser Landschaft im 18. und 19. Jh. charakteristisch wird 9 . Eines dieser beiden monumentalen landwirtschaftlichen Gebäude ist stets als Gulfscheune angelegt, die die großen Mengen an Getreide später an Heuvorräten für die dann auf Viehwirtschaft ausgerichteten Betriebe aufzunehmen in der Lage ist. Die für das Butjadinger Land charakteristischen

102

Doppelanlagen von Hof und Gulfscheune sind demnach leitbildgerecht nach den Wirtschafts- und Bauweisen der gräflichen Vorwerke Oldenburgs ausgerichtet. Der Artländer Bauer, der in der zweiten Hälfte des 19. Jh. ebenso kapitalkräftig wird wie sein Butjadinger Standesgenosse, entwickelt in diesem Zeitraum einen kräftig ansteigenden Wohnkomfort, bleibt aber in seinem angestammten Bauernhaus wohnen. Viele der Butjadinger Bauern der Oberschicht ziehen jedoch nach 1850 aus ihrer an sich schon großräumigen Doppelhaus-Hofanlage aus und errichten mit neuem Mobiliar und in neu gestalteten Innenräumen eine Villa neben ihren herkömmlichen monumentalen Wohn- und Wirtschaftsräumen. Wiederum erhebt sich die Frage, ob hier eine einspurige Fährte von Bürgern zu Bauern gezogen werden darf, oder ob dieser Vorgang nicht doch komplexer ausgedeutet werden muß? Baumeister und Entwerfer dieser Villen auf dem Lande sind Landbaumeister. Sie werden seit der ersten Hälfte des 19. Jh. in privaten und später staatlichen Baugewerkeschulen meisterlich ausgebildet, sind ausgestattet mit reichlichen Kenntnissen über großregional anwendbare Techniken in Architektur und Kunst und bilden sich selber fort mit Hilfe der Fachliteratur, der Zeitschriften und Zeitungen sowie der Prospekte und Kataloge. Adel und Patrizier sowie Bürger unterschiedlicher Schichten lassen sich in den Städten Häuser bauen, die auf vorstrukturierte Quellen weitverbreiteter Vorbild- und Vorlagenkultur zurückgreifen. Analysiert man die Dekor- und Fassadengestaltungen dieser allüberall verbreiteten und von den führenden Sozialschichten gemeinhin akzeptierten und adaptierten Vorlagenarchitektur in der Zeit vom Biedermeier bis zum Historismus, von 1850 bis 1914, genauer, ist man verblüfft, daß diese Kreationen in hohem Maße von Architekten stammen, die zunächst für höfische Aufträge und Wünsche arbeiteten 1 0 . Die oberschichtig-adeligen Kultur- und Kunstelemente werden durch Bücher, Zeitschriften und Prospekte popularisiert, und diese Kulturströme treffen den ländlichen Raum direkt, ohne den Umweg über die Stadt. Dazu ein alltägliches Beispiel: Als der Artländer Bauer Laging im Jahre 1893 für seine neue Wohnung eine zeitgemäße Eingangstür wünschte, lieferte ihm der in der Nachbarschaft wohnende Baumeister Lürding aus Andorf dafür eine detaillierte maßstabsgetreue Zeichnung 11 . Die exakte Vorlage für diese Zeichnung und Vorgabe für den Tischler bildete das maßstabsgetreue Vorlagenblatt des Jahres 1870 der Karlsruher Technikanstalt. Die dem herrschenden Zeittrend ganz und gar entsprechende Haustür wurde in Karlsruhe erdacht und in Andorf direkt an den Kunden vermittelt, wie sicherlich auch auf ähnliche Weise zur gleichen oder auch späteren Zeit bei Bürger-, Patrizier- und Adelshäusern in Stadt und Land. Auch an zwei Beispielen der Innenraum-Gestaltung, der Ausmalung der einzelnen Wände und Decken in Bauernhaus-Villen kann gezeigt werden, daß die im 19. Jh. großregional gültigen Kulturmuster fast gleichzeitig in Adels- oder Bauern-

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häusern übernommen wurden. Die Innendekoration der Räume eines Bauernhauses bei Elsfleth enthält neoklassizistische Wandmalereien mit antiken Motiven, wie sie in ähnlicher Form auch im Schloß des Großherzogs zu Oldenburg anzutreffen sind, und die Wandmalereien aller Räume einer Bauernhaus-Villa in Butjadingen - entlehnt den weitverbreiteten Katalogen für Maler von Lange in Berlin etc. - sind nach Dekorfülle und Qualität auch in Adels- und Patriziervillen Nordwestdeutschlands anzutreffen. Hier verläuft die Vermittlung wie im Falle der Butjadinger Bauernvillen nachweisbar über Katalog und heimisches Handwerk 1 2 .

Das Möbel als Kulturindikator Das Mobiliar, speziell das Möbel gilt mehr oder minder für alle Sozialschichten in Stadt und Land als unentbehrlicher Hausrat, als wesentlicher Teil der Wohnkultur und

dementsprechend

auch

als

Indikator

für

exogene

und

endogene

Kulturabläufe. D a die besitzbäuerliche Bevölkerung offensichtlich mehr Stauraum zur Verfügung hat als städtische Schichten und der Wechsel der jeweiligen Familie auf dem Hof im Verlauf der Generationen wesentlich seltener vorkommt als in der Stadt, hat sich im ländlichen Bereich ein Fundus an historischen Möbeln gebildet, der aufgrund unserer systematischen Erhebung für Niedersachsen auf ca. 30-40 000 Objekte allein für den Zeitraum vom 16. bis zum 19. Jh. geschätzt werden kann; über 8 000 Exemplare dieser Möbelkultur wurden bereits durch unser Museum fotodokumentarisch festgehalten. Über Beginn, Wandel und Ende dieser ländlichen regionalgeprägten Möbelkultur

können hier nur geraffte

Äußerungen vorgetragen werden, detaillierte Analysen für Nordwestniedersachsen liegen vor 13 . Auf zwei Forschungsergebnisse sei aufmerksam gemacht. Sie sind für das Verständnis des Phänomens des Ausstiegs aus großregionaler (sprich niederrheinischer, westfälischer oder ostfälischer) Kulturverbreitung und des Einstiegs in engregionale Kulturausprägung (sprich kirchspielsbestimmte Artländer, Ammerländer oder Hümmlinger Kulturregion etc.) in der Zeit um 1600 und dann wiederum des Ausstiegs aus kleinregionaler Kulturprägung in großregionaler Kulturakzeptanz nach 1800 von grundlegender Bedeutung. Fast ein Jahrhundert früher als im aufwendigen Hausbau ist die Ausformung engregional-begrenzter Formen- und Dekorelemente am historischen Möbel ablesbar. In prosperierenden ländlichen Regionen wie dem Artland und Ammerland hat sich in der Zeit um 1600, jedoch nicht früher, in weniger bevorteilten Landstrichen wie dem Hümmling und Oldenburger Münsterland dagegen erst gut ein Jahrhundert später, eine regionalgeprägte, eigenständige Möbelkultur im ländlichen Raum herausgebildet, ein im zeitlichen Ablauf bis vor einigen Jahren verkanntes Kulturphänomen.

104

Das ablesbare Eigengepräge am Möbel des ländlichen Raumes darf nicht zu der Fehlinterpretation führen, sie sei das Ergebnis einer autochthonen Kulturentfaltung. Eher das Gegenteil ist der Fall. Es ist der Möbel- und Wohnkulturforschung gelungen - und zwar anhand der quantitativen und qualitativen Sachkulturanalyse und aufgrund der archivalischen seriellen Inventarforschung - die einzelnen Phasen innovativer Kulturimpulse und der Diffusion in die verschiedenen Regionen hinein nachzuzeichnen. Das kann - in geraffter Form - folgendermaßen formuliert werden: Alle mittelalterlichen Möbeltypen bäuerlicher Provenienz sind zunächst oberschichtig geformt, in der Mehrzahl der Fälle kirchlich-klösterlich-adelig. Mit zunehmendem Einfluß der Renaissance wird die Formenvielfalt und der Verzierungsreichtum des Möbels erheblich gesteigert 14 . Besteller dieser Möbelgattungen sind zunächst wieder die Oberschichten, vor allem Adel und Kirche, in stark zunehmendem Maße auch die vermögenden Bürgerschichten großer Städte. Seit dem 17. und 18. Jh. wird die flandrisch-niederländische Kultur prägendes Vorbild für die Möbel- und Wohnkultur der Städte Nordwestdeutschlands und mit geringer Verspätung auch der besitzbäuerlichen Schichten Nordwestniedersachsens 15 . Diese Kulturimpulse laufen von Westeuropa über die Hansestädte, für unseren Raum z.B. über Bremen und Oldenburg. Kulturvermittler dieser Novationen sind einerseits das Zunfthandwerk mit direkter Verbindung zum Landhandwerk, andererseits die immer reichlicher produzierten Blattdrucke aus Oberzentren, die tief bis in den ländlichen Raum vordringen und deren Ausbreitung im 18. Jh. nochmals erheblich gesteigert wird 16 . Die Kulturvermittlung über Papier-Medien läuft oftmals von Oberzentren aus in den ländlichen Raum, ohne den städtischen Umweg zu nehmen. Je nach Vermögen und Sozialschicht werden die Kulturimpulse in Stadt und Land unterschiedlich schnell rezipiert, die besitzbäuerlichen Schichten stehen dabei anderen Sozialschichten der Stadt in quantitativer, qualitativer und zeitlicher Hinsicht keineswegs nach. Mit Blick auf Vorbild und Abbild in der Möbel- und Wohnkultur und im Hinblick auf den Begriff "Verbürgerlichung" kann man für den ländlichen Raum Nordwestniedersachsens die These aufstellen, daß bereits um 1600 alles Mobiliar oberschichtig vorgeformt wurde, diese Kultur also adelig-kirchlich-bürgerlich ausgerichtet war. Ohne die verschiedenen Kulturströme im einzelnen zu differenzieren, könnte man - sehr verallgemeinernd - formulieren: Die ländliche Möbelkultur liegt schon seit dem frühen 17. Jh. im Trend der "Verbürgerlichung", und nicht erst im 19. Jh. Hier zeigt sich die Problematik des "Verbürgerlichungs"-Begriffs, so man ihn nicht eindeutig definiert. In diesem Zusammenhang verweise ich auf ein weiteres Forschungsergebnis regionaler Kulturentfaltung, ablesbar an der ländlichen Möbelproduktion. Für viele Gebiete Niedersachsens gilt die Mitte des 19. Jh. als die Zeitmarke für das

105

Ende der engregionalen Kulturausprägungen 17 . Für das Oldenburger Ammerland und das Osnabrücker Artland ist aber nachweisbar, daß dieser Umbruch schon um 1815 erfolgt. Mit einer Verspätung von gut einer ganzen Generation tritt diese Zäsur dann auch im Oldenburger Münsterland und im Hümmling - Landschaften, in denen die Bauernbefreiung erst um 1850 gelingt - ein. Die Ammerländer und Artländer Möbelproduzenten finden für Kastentruhen, viertürige Kleiderschränke, Brotschränke, offene Anrichten, eisenbeschlagene Koffer etc. keine Käufer mehr. Das über Jahrhunderte gefragte, fast unvergängliche Eichenholz ist im Möbelbau nach dieser Zeit nicht mehr attraktiv. Das Ende einer regional ausgerichteten, einer "altartig-traditionellen" Sachkultur ist endgültig. Es ist mit Nachdruck darauf zu verweisen, daß trotz des fast abrupten Umsteigens auf neue Möbelstile und Möbelproduktionsweisen auch im ländlichen Raum ab 1815 die bestehenden Werkstätten nicht nur weiterproduzieren, sondern die Möbelherstellung im ländlichen Raum entsprechend den neuen Wohnwünschen sogar erheblich steigern. Die Mengen der auch von ihnen produzierten und von ländlichen Käuferschichten angeschafften Möbel nehmen im Zeitraum von 1800 bis 1900 ständig zu. Diese Wende, auch in einem neuen Möblierungsmuster faßbar, kommt einer Zäsur gleich, wie sie für dieselben Regionen um 1600 festgestellt werden konnte. Die Wende im Möblierungsmuster bürgerlicher wie ländlicher Schichten kennzeichnet - stellvertretend für viele andere Typen - vor allem das Sofa. Bei adeligen und bürgerlichen Schichten in der zweiten Hälfte des 18. Jh. en vogue, wird es nach 1800 Inbegriff "bürgerlich-biedermeierlicher" Wohnkultur. Den Anschreibebüchern und Hausarchiven der ländlicher Handwerker 1 8 ist mit Blick auf Kunden- und Sozialstruktur des ländlichen Raumes und auf Wege der Kulturvermittlung Wesentliches zu entnehmen: a) Für den Landhandwerker im Dorf und in der Bauerschaft - ergibt sich gegen Ende des 18. Jh. folgende Sozialstruktur der Kundschaft entsprechend ihrer BesteJlmenge: nichtbäuerliche ländliche Oberschicht, sog. Honoratiorenschicht; besitzbäuerliche Schicht der Colonen; Handwerksmeister

und

Kötter; nichtbesitzbäuerliche

Gruppe

-

Brinksitzer,

Heuerleute etc. b) Der Landhandwerker produziert für alle vier Gruppen, bestimmte Möbeltypen kann er zunächst für die ländliche Honoratiorenschicht herstellen, sodann für die Bauern, schließlich auch für Landhandwerker etc. Die Produktion des Sofas setzt auf dem Lande nicht viel später ein als in der Stadt, oftmals erwirbt die besitzbäuerliche Schicht dieses Möbel ebenso früh wie beispielsweise die Handwerksmeister in der Stadt. Die Vorlagen für solche Möbel befinden sich früh im Zugriff des Landhandwerkers, stehen aber auch im Haus des Bestellers zur Verfügung; dazu als Beleg nur der Brief eines Artländer Landtischlers, der in einer Bauerschaft wohnt: "Stets im Besitz der neuesten Designs, die ich aus Journalen etc. entlehne, habe ich bei heutiger gediegener Arbeit, mir immer noch die Zufriedenheit meiner Abnehmer in der Nähe und Ferne zu erfreuen gehabt.

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Lese- und Schreibfähigkeit der Landbewohner prosperierender Regionen zwischen Weser und Ems stellen die bislang geltenden Vorstellungen gewissermaßen auf den Kopf; denn um 1800 sind nicht - wie früher angenommen gut 70-80% der ländlichen Bevölkerung als Analphabeten zu klassifizieren, sondern ganz im Gegenteil als "alphabetisiert" anzusprechen 25 . Infolge des relativ hohen Standards der Alphabetisierung - und solche Zentren der Literarisierung in wohlhabenden ländlichen Regionen gab es auch in der Krummhörn in Ostfriesland, im Jeverland, in der Wesermarsch oder im Alten Land bei Hamburg - wurde es möglich, ohne direkte Abhängigkeit von der Stadt das Know-how der Zeit zu rezipieren und für die eigene Region umzusetzen. Zu diesem Aspekt einen Seitenblick auf die Tanz- und Musikkultur im ländlichen Raum: Bei der Suche nach Privatarchivalien entdeckte und publizierte das Cloppenburger Museum aus dem Artland stammende Tanz- und Notenbücher mit über 300 Musikstücken aus dem 18. und frühen 19. Jh., darunter über 200 verschiedene Tänze und Tanzmelodien. Durch Schriftvergleich konnte nachgewiesen werden, daß ein Gutteil dieser Noten und Liedtexte von den Bauern selbst abgeschrieben wurde. "Der" Bauer dieser Gegend konnte also nicht nur schreiben und rechnen, sondern auch musizieren und Noten lesen. Durch andere Archivalien konnte ferner nachgewiesen werden, daß viele Artländer Bauern in der ersten Hälfte des 19. Jh. sowohl das Klavierspiel erlernten als auch in der eigenen Region gefertigte Klaviere kauften 26 . In der gängigen Tanzliteratur wird weithin die Meinung vertreten, daß Bauern sich bei fröhlichen Anlässen stets an "althergebrachten Volkstänzen" erfreuten. Die bei den Artländer Tanzmeisterfamilien aufgefundenen Aktenunterlagen wie Tanzchoreographien nebst entsprechenden Melodien vermitteln jedoch ein neues Bild. Schon gegen 1790 tanzte dort die besitzbäuerliche Schicht zusammen mit der handwerklichen Oberschicht modische "Gesellschaftstänze" wie Menuett, Anglaise, Française, Cotillon und Contratanz. Speziell für das Artland, aber auch für andere Landstriche Nordwestniedersachens, kann gesagt werden, daß vermögende Schichten im ländlichen Raum gegen Ende des 18. Jh. nicht sangen und tanzten, weil ihnen ihre "Volksseele" überquoll, sondern weil sie sich für kulturelle Erscheinungen ihrer Gegenwart interessierten. Vorbild ist nicht der bürgerliche, sondern der im höfischen Bereich übliche Gesellschaftstanz. Erneut läßt sich damit unterstreichen, daß prosperierende Landregionen in Niedersachsen schon um 1800 wie in der Möbel-, Kleider- und Schreibkultur auch in der Musikkultur oberschichtig zeitorientiert lebten.

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Anmerkungen 1

Rösener, W., Bauern im Mittelalter, München 1985.

2

Hartinger, W., Epochen der deutschen Volkskultur, in: Ethnologia Europaea, Bd. 15, 1985, S. 53-92. Wiegelmann, G., Wandel der Alltagskultur seit dem Mittelalter (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, H. 55), Münster 1987.

3

Kaiser, H. u. Ottenjann, H., Museumsführer mit Anhang zur Vor- und Nachbereitung des Museumsbesuches. Museumsdorf Cloppenburg - Niedersächsisches Freilichtmuseum, Cloppenburg 1988, S. 128 ff.

4

Rösener, W., Grundherrschaft und Bauerntum im hochmittelalterlichen Westfalen, in: Westfälische Zeitschrift, Bd. 139, 1989, S. 9-41.

5

Kaiser, H. u. Ottenjann, H., Der Bauernhausgiebel. Zur Entstehung regionaler Identität. Hümmling, Ammerland, Artland, Oldenburger, Münsterland, Cloppenburg 1986.

6

Gläntzer, V., Baukonjunkturen und Baunovationen im Altlandkreis Bersenbrück, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde, Bd. 25, 1979, S. 11-34.

7

Ottenjann, H. (Hrsg.), Zur Bau-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Artlandes im 18. und 19. Jh., in: Materialien zur Volkskultur - nordwestliches Niedersachsen, H. 1, Cloppenburg 1979.

8

Kaiser, H., Herdfeuer und Herdgerät im Rauchhaus, Wohnen damals, in: Materialien zur Volkskultur - nordwestliches Niedersachsen, H. 2, Cloppenburg 1980.

9

Ottenjann, H., Zur historischen Sachkultur im Oldenburger Land, in: Geschichte des Landes Oldenburg, ein Handbuch, Oldenburg 1987.

10 Ein Beispiel: Werke der höheren Baukunst. Für die Ausführung erfunden und dargestellt von Schinkel, Königl. Preussischem Ober-Landes-Baudirektor usw., 1839. 11 Nach Archivalien des Niedersächsischen Freilichtmuseums Cloppenburg. 12 Fotodokumentation des Niedersächsischen Freilichtmuseums Cloppenburg. 13 Ottenjann, H., Beginn, Wandel und Ende regionaler Kulturausprägung. Zur Periodisierung der sog. Volkskultur, in: Wandel der Alltagskultur, hrsg. v. Wiegelmann, G., Münster 1987. 14 Ottenjann, H., Möbeltischlerei im nordwestlichen Niedersachsen. Städtische Einflüsse und ländliches Eigenverhalten, in: Museum und Kulturgeschichte, Festschrift für Wilhelm Hansen, Münster 1978. 15 Ottenjann, H., Erforschung und Dokumentation der historischen Volkskultur Niedersachsens, Cloppenburg 1987. 16 Heinemeyer, E., Möbel aus dem Oldenburger Münsterland und dem angrenzenden Artland im Landesmuseum Oldenburg, in: Jb. für das Oldenburger Münsterland 1988, S. 69 ff. 17 Vgl.Anm. 13. 18 Ottenjann, H. u. Wiegelmann, G. (Hrsg.), Alte Tagebücher und Anschreibebücher. Quellen zum Alltag der ländlichen Bevölkerung in Nordwesteuropa, Münster 1982. 19 Ottenjann, H., Buchführungssysteme ländlicher Werkstätten. Zum Biedermeiertrend in der Möbelkultur des Osnabrücker Artlandes, in: ders. u. Wiegelmann, G. (Hrsg.), Alte Tagebücher, S. 189.

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20 Ottenjann, H., Lebensbilder aus dem ländlichen Biedermeier. Sonntagskleidung auf dem Lande. Die Scherenschnitte des Silhouetteurs Dilly aus dem nordwestlichen Niedersachsen, Cloppenburg 1984. 21 Vgl. Anm. 20. 22 Schenda, R., Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910, München 1977. 23 Ziessow, K.-H., Ländliche Lesekultur im 18. und 19. Jh. Das Kirchspiel Menslage und seine Lesegesellschaften 1790-1840 (Materialien zur Volkskultur - nordwestliches Niedersachsen, H. 12 u. 13), Cloppenburg 1988. 24 Heinemeyer, E. u. Ottenjann, H., Alte Bauernmöbel. Volkstümliche Möbel aus dem nordwestlichen Niedersachsen, Cloppenburg 1978. 25 Vgl. Anm. 23. 26 Braun, H., Tänze und Gebrauchsmusik in Musizierhandschriften des 18. und frühen 19. Jh. aus dem Artland (Materialien zur Volkskultur - nordwestliches Niedersachsen, H. 9), Cloppenburg 1984.

Tamás

Hoffmann

Kleider machen Leute. Ungarische Beispiele zum gewandelten Kleidungsverhalten der dörflichen Bevölkerung im 19./20. Jahrhundert*

Untersuchungen zur Problematik der Verbürgerlichung der Dorfbevölkerung bieten neue Möglichkeiten für den volkskundlichen Erkenntnisgewinn. Dies sei am Beispiel von Festtrachten dargelegt. Für das Tragen von Festtrachten galt in der traditionellen Gesellschaft des 18. Jh. noch das Prinzip "Kleider machen Leute". Dementsprechend unterschieden sich einzelne Schichten und Gruppen in fast allen europäischen Ländern voneinander, und nur in der Arbeitsbekleidung gab es gewisse Übereinstimmungen. Ganz anders in den Industriegesellschaften von heute: das "Festkleid" des Universitätsprofessors, des Drehers, des Gärtners oder des Steuerbeamten usw. unterscheidet sich prinzipiell fast überhaupt nicht voneinander, während die Arbeitsbekleidung je nach Beruf unterschiedliche Merkmale aufweist. In der Kleidung trat also eine ganz grundlegende Wandlung ein. In diesem irreversiblen Prozeß der "Verbürgerlichung" legte auch in Ungarn seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. die Mehrheit der Bevölkerung ihre traditionelle Tracht ab und assimilierte sich unter dem Einfluß der Mode die internationalen Kleidungsgewohnheiten. Es gab aber auch Ausnahmen, die darin bestanden, Werte der Vergangenheit, also Traditionen, in die Moderne "hinüberzuretten", und dies nach oft örtlich-regional bedingten Umständen. Die Bevölkerung von Särköz entlang des unteren Verlaufs der ungarischen Donau war noch ausgesprochen arm, als 1848 die Bauernbefreiung einsetzte. Danach wurde die Donau reguliert und die Bewohner wurden durch die Trockenlegung sumpfigen Geländes zu Besitzern von umfangreichen, fruchtbaren Ländereien. Der Ausbau der Dampfschiffahrt und Eisenbahn integrierte diese Menschen in den Getreideexporthandel, der seit Mitte des vorigen Jh. die größten Energien in der ungarischen Agrarentwicklung freisetzte. Dies alles führte u.a. dazu, daß sich die Festtracht dieser Bevölkerung innerhalb von zwanzig Jahren enorm veränderte. So ließen sich die Frauen Kleider aus Lyoner Seide von dörflichen Näherinnen anfertigen und behängten sich mit viel Silberschmuck. In den Kleidungsgewohnheiten der Männer erfolgte hingegen kein bedeutender Wandel. Übertriebener Silberschmuck und die Einfuhr französischer Seide deuten einerseits auf die veränderte gesellschaftliche Lage der Frauen hin, verweisen andererseits aber auch darauf, daß Investitionen in die technische Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft ausblieben. Eine Geburtenbeschränkung war unter diesen Bauern

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schon seit mehr als hundert Jahren üblich. Das wiederum bedingte die Abnahme der Bevölkerungszahl, was unter den neuen Umständen wahrscheinlich der Erhaltung des plötzlichen Wohlstandes, also des relativ großen Grundbesitzes diente. Ein anderes Beispiel kommt nicht aus den ehemals armen und dann reich gewordenen Dörfern des Särköz, sondern aus einem Marktflecken mit einer langen Geschichte, aus Mezökövesd. Diese Siedlung liegt im Nordosten Ungarns, im Schnittpunkt von Gebirge und Tiefebene. Ihre Bewohner betrieben noch in der ersten Hälfte des vorigen Jh. eine extensive Rindviehhaltung. Der mit den 60er Jahren einsetzende Getreidebau eröffnete neue Lebensstrategien. Unter ihnen spielte Geld eine nicht zu unterschätzende Rolle. Auch hier wurde es vor allem für Kleider ausgegeben und weniger für wirtschaftliche Investitionen. Bezeichnend wurde eine festliche Frauentracht aus Seide mit reicher Seidenstickerei. Die Stickerei - als Beweis des Fleißes der Frauen - erreicht eine so große Bedeutung, daß sie auch auf der Unterwäsche der Männer erscheint. Die Muster stammen aus islamischen Vorlagen. Aber der Fleiß der Frauen kompensiert nicht alles. Die sozialstatistischen Daten beweisen die zunehmende Verarmung und Proletarisierung der Agrarbevölkerung. Dieses Agrarproletariat fand am Ort keine Arbeitsgelegenheiten mehr. Es ging zum fernen Großgrundbesitz in Dienst, wo es in einem halben Jahr Saisonarbeiten verrichtete. Der sauer verdiente Lohn wurde besonders für Kleiderstoffe und Schmucksachen ausgegeben. Von den Landarbeiterfrauen bestickt, entstanden prachtvolle Festtrachten, die verkauft wurden. U m die Jahrhundertwende waren bereits eigene Märkte dafür entstanden. Das Agrarproletariat sparte nicht den Lohn, sondern kaufte und erzeugte dafür Kleider. Wenn es Geld brauchte, verkaufte es sie. Die Deckung für Hausbau und Möbelkauf bildete also die gestickte Tracht der Frauen. Auch die Stickerei selbst wurde zu einer Quelle des Gelderwerbs. Hausierende Händler bauten dafür allmählich verlagsähnliche Betriebsorganisationen auf. Die offiziellen "Bewahrer" der sog. Volkskunst entdeckten nun diese Gemeinschaften der Stickerinnen und erklärten sie zu Hütern eines nationalen Identitätsbewußtseins. Es ist kein Zufall, daß die airport art mit ihrem Angebot an solchen Stickereien noch heute ein gewinnbringender Erwerbszweig ist. Der Handel exportiert "Volkskunst"-Güter im Werte von drei Millionen $ nach Übersee, und das Verlagssystem funktioniert nach wie vor (heute gehören zur Stickereiausrüstung natürlich auch die programmgesteuerten Näh- und Stickmaschinen). Die Kleidungs- und Stickkultur diente weiter dazu, daß die Armen an den kirchlichen Feiertagen mit den Reichen gleichgekleidet erscheinen konnten und dieses Vortäuschen von Gleichheit zu einem integralen Teil der Lebensstrategie wurde. Zwischen den Weltkriegen erreichte die Stickerei-Mode ein solches Ausmaß, daß Jesuiten auf dem Marktplätzen Kleider verbrannten.

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Dieses zweite Beispiel vor allem deutet darauf hin, daß die "Volkstracht" zur Zeit des Übergangs ins kapitalistische Zeitalter in der Kultur derjenigen Gruppen eine Rolle zu spielen beginnt, die durch den Prozeß der

ökonomischen

"Verbürgerlichung" an den Rand gedrängt werden. Andere Beispiele könnten diese Tatsache mit ähnlicher Deutlichkeit belegen. Volkstrachten als Repräsentationserscheinungen betonten die Zugehörigkeit ihrer Träger zum Land, zum Bauerntum usw., nicht zur eigentlichen Industriegesellschaft. Die Menschen schlössen sich zunächst aus dem zwar unumgänglichen Prozeß aus, den wir als die Umschichtung zur Industriegesellschaft oder als Verbürgerlichung des Dorfes bezeichnen können. Sie taten dies mehrheitlich wahrscheinlich auch deshalb, weil dieser Prozeß selbst sehr langsam vor sich ging. Wenn man ihn künstlich beschleunigen will, wie es in der Vergangenheit und Gegenwart geschehen ist, entstehen Deformationen mit entsprechenden negativen Folgen. Trotzdem darf man nicht daran vorbeigehen, daß der historische Umgestaltungsprozeß der allseitigen Verbürgerlichung des Dorfes und seiner Menschen unumkehrbar ist. Unter diesen Voraussetzungen steht die Volkskunde als konkret historisch arbeitende Disziplin vor neuen Aufgaben.

Anmerkungen *

Die folgenden Ausführungen sind Teil der wissenschaftlichen Ergebnisse einer interdisziplinär konzipierten volkskundlich-historischen Ausstellung des "Magyar Neprajzi-Müzeum" in Budapest 1987/88, die der Entwicklung der ungarischen "Volkskultur" vom 18. Jh. bis in die Gegenwart gewidmet war und der Fragestellung unserer Konferenz in mannigfacher Weise entsprach.

Britt Liljewall

Das bürgerliche Bild vom Bauern. Die Zeitungslektüre schwedischer Bauern in den 1870er Jahren*

Die Beziehungen zwischen Bürgern und Bauern im 19. Jh. werden oft in zu starkem Maß als ein Versuch des Bürgertums geschildert, die Bauern zu verbürgerlichen. In Schweden, einem Land mit einem schwachen und zersplitterten Bürgertum und einer starken Bauernschaft, ist es offensichtlich, daß dies eine zu einfache Sicht der Entwicklung wäre. Die entscheidende Frage ist, welcher Teil des zersplitterten Bürgertums die Bauern zu beeinflussen versuchte. In Schweden war es vor allem die in diesem Aufsatz 'Klein-Bildungsbürgertum' genannte Gruppe, die als Verbreiterin von Ideologie unter der ländlichen Bevölkerung wirksam war. Die Eigeninteressen

dieser

Gruppe

müssen in

die Analyse

der

sogenannten

Verbürgerlichung der Bauern miteinbezogen werden.

Schweden um 1870 Um 1870 befand sich Schweden in einer Zeit großen Wandels. Die Konjunktur blühte und Kapital war reichlich vorhanden. Dies war der Anfang der großen Industrialisierung. Nach den schlechten Erntejahren vor 1870 erlebte auch die Landwirtschaft gute Zeiten. Noch war Schweden ein Agrarland. Etwa 85% der Bevölkerung wohnte auf dem Lande und ca. 70% der Gesamtbevölkerung war in der Landwirtschaft beschäftigt. Die frühe Industrialisierung fand meistens in ländlichen Gebieten statt, und erst nach 1890 kann man von einer eigentlichen Urbanisierung sprechen. Seit Anfang des 18. Jh. konnte man Staatsgüter kaufen. Gegen Ende des Jh. hatte der Adel sein alleiniges Recht auf steuerfreien Boden verloren und Bauern sowie nichtadligen Standespersonen wurde erlaubt, 'adeligen' Boden zu kaufen. Es zeigte sich, daß viele Bauern die Chancen zur Expansion nutzen konnten, die die neue Bodengesetzgebung des 18. Jh. eröffnete 1 . Eine Konzentration und Kapitalisierung der Güter fanden statt; es entstand eine wachsende Schicht von Großbauern und bürgerlichen Grundbesitzern. Markenteilung und andere Agrarreformen verstärkten diese Tendenz. Daraus ergab sich eine soziale Spaltung der landwirtschaftlichen Bevölkerung: eine wirtschaftlich immer stärkere Grundbesitzerschicht stand einer immer größeren besitzlosen Gruppe, vor allem Kätnern und Häuslern, gegenüber. Der zeitliche Abstand zwischen der "agrarischen Revolution" um 1800 und der "industriellen Revolution" um 1900 war in Schweden lang. Die Periode mit ratio-

117

neiler Landwirtschaft vor dem endgültigen Durchbruch der Industrialisierung zog sich über mehrere Generationen hin 2 . Unter den Großbauern und den zahlreichen mittelgroßen Bauern waren jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jh. noch Familienlandwirtschaften vorherrschend (besonders in Westschweden), ohne oder mit wenigen Tagelöhnern. Die zunehmend sich ausprägende Differenzierung in der schwedischen Landbevölkerung infolge des wachsenden Handels mit Boden und Bodenerzeugnissen ging also nie so weit, daß die Familienlandwirtschaft als ökonomisch und sozial funktionierende Einheit verschwand. Deren Effektivität und Fähigkeit zu überleben waren offenbar groß 3 . Die Überschußproduktion wurde verkauft, das Konsumverhalten blieb traditionell 4 . Der wirtschaftliche Teilaspekt des Klassenbewußtseins der schwedischen Bauern beruhte auf dem Handel mit Boden und Agrarprodukten, aber nur in begrenztem Umfang auf Handel mit Arbeitskraft. Die Armut unter den wachsenden besitzlosen Gruppen bildete die Kehrseite dieser Entwicklung und wurde zum vorherrschenden und immer sichtbareren gesellschaftlichen Problem. Politisch stellten die schwedischen Bauern seit dem Mittelalter einen der vier Stände im Reichstag. Nach jahrzehntelangen Reformversuchen ersetzte der neue Zweikammerreichstag 1866 den alten Ständereichstag. Die neue Elite von Großbauern verbündete sich mit dem Bürgertum bei der durchgreifenden politischen Reformarbeit 1840-1865. Das soll nicht heißen, daß die Bauern liberal wurden, sondern vielmehr, daß zusammenfallende Interessen als Basis für die gemeinsame Reformarbeit vorhanden waren. In der ersten, direkt gewählten zweiten Kammer des neuen Reichstags waren 96 Bauern unter insgesamt 194 Mitgliedern. Die neuen Abstimmungsgesetze gaben nämlich der großen Masse von bäuerlichen Bodenbesitzern das Stimmrecht. Im Zweikammerreichstag flössen die Interessen vom Lande in der Lantmannaparti

zusammen, einer Gruppe, deren ideologischer Ur-

sprung unklar war und blieb. Das Bürgertum empfand sich als Sieger und wurde als solcher in Schweden wie auch im übrigen Westeuropa angesehen, obwohl das schwedische Bürgertum international gesehen politisch und sozial schwach war 5 . Von 1850 bis 1870 waren der politische Liberalismus mit seinen staatsbürgerlichen Gleichheitsidealen und der wirtschaftliche Liberalismus mit marktwirtschaftlichem Gedankengut und freier Konkurrenz in erfolgreicher Reformarbeit vereinigt. Beiden Richtungen brachte dieses Gewinn, z.B. die Reform der Volksvertretung und den Freihandel. Nach 1870 kam aber ein Dauerproblem der liberalen Politik zum Vorschein. Der wirtschaftliche Liberalismus wirkte genau in die entgegengesetzte Richtung wie die Ideale des politischen Liberalismus. Eine Spaltung des Bürgertums in einen links- und einen rechtsliberalen Teil wurde deutlich. Der Linksliberalismus

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war weiterhin radikal in politischen Fragen, aber vorsichtig in wirtschaftlichen Fragen, manchmal sogar kritisch gegenüber dem immer stärkeren Kapitalismus. Der Rechtsliberalismus wurde in politischen Fragen konservativ, aber wirtschaftlich radikal. Der Linksliberalismus glaubte nicht mehr an die Möglichkeit des Wohlstands für alle aufgrund vollständiger marktwirtschaftlicher Freiheit. Der Weg zum vollwertigen Bürgerrecht für immer mehr Menschen durch ökonomisches Wachstum - und damit zur Möglichkeit, die für die Staatsbürgerschaft notwendige Bildung zu erobern - wurde blockiert. Die Linksliberalen mußten also neue Wege für eine erweiterte Demokratisierung suchen. Aktive Arbeit für Volksbildung wurde eine zentrale Angelegenheit. Das gedruckte Wort - das Steckenpferd des Liberalismus - wurde der wichtigste meinungsbildende Faktor, nicht zuletzt deshalb, weil dank der historischen Rolle der Staatskirche jeder lesen konnte. Die Presse wuchs explosiv. 1865 erschienen 199 verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, 1884 waren es 3506. Angesichts der damaligen schwedischen Bevölkerungsstruktur kamen damit die Zeitungen auch bei der Landbevölkerung gut an. Die Presse war hauptsächlich bürgerlich, aber welcher Teil des Bürgertums beherrschte die Zeitungen, die die Bauern lasen? Um die schwedische Entwicklung zu verstehen, ist nicht nur die Rolle von Bauern und Bürgern wichtig. Innerhalb der schnell wachsenden Volksbewegungen (folkrörelsema - die politisch-ideologische Konnotation von folk ist eine andere als im deutschen "Volks"-Begriff), entstand eine radikale Sozial- und Kulturkritik. Eine erste Blütezeit erlebten diese Bewegungen von Freikirchen, Abstinenzlervereinen und Arbeiterbewegungen während der 1870er Jahre. Die hohe Mobilisierung schloß auch große Teile der Mittelschichten ein und führte damit zur Spaltung des Bürgertums. Die schwedischen Volksbewegungen etablierten ein Wertesystem, das eine gegenkulturelle Alternative zu der von König Oskar II. verkörperten bürgerlichen Ordnung darstellte. Gleichheitsideen, Idealismus und Puritanismus kennzeichneten alle Volksbewegungen ohne Rücksicht auf ihre besonderen Ziele 7 . Die Linksliberalen wurden weitgehend tonangebend in den frühen Volksbewegungen. In einem agrarischen Land wie Schweden mußten die Volksbewegungen um 1870 ihre Basis auf dem Lande suchen. Auf allen Gebieten der skizzierten Entwicklung stellten die Bauern einen Schlüsselfaktor dar. Die Klassenzugehörigkeit der schwedischen Bauern war unklar. Wirtschaftlich waren sie keine wirklichen Kapitalisten und politisch hatten sie nach den Gemeinde- und Reichstagsreformen allen Grund, das Erreichte zu verteidigen. Aus dem Gesichtspunkt des Bürgertums war die Zugehörigkeit der Bauern ein entscheidendes und schwer zu beurteilendes Problem. Würden sich die Bauern ideologisch am Bürgertum orientieren und sich politisch mit ihm verbinden? Wenn ja, mit welchem Teil des Bürgertums? Oder würden sie sich mit den

119

immer lautstärkeren Besitzlosen solidarisieren - einer wachsenden Schicht auf dem Lande wie in den Städten? Welche Bedingungen gab es, damit das ideologisch zersplitterte Bürgertum eine kulturelle Hegemonie entwickeln konnte, und wie haben die Bauern diese Bedingungen beeinflußt? Um welche Hegemonie und welchen Teil des Bürgertums handelte es sich in diesem Falle? Aus dieser Perspektive werde ich den Teil bürgerlicher Presse untersuchen, der von der ländlichen Bevölkerung gelesen wurde. Die Zeitungen und ihre Leser Die Expansion der Presse um 1870 machte auch die Landbevölkerung zu Zeitungslesern. Man weiß jedoch noch wenig, wer die Zeitungen kaufte und was sie beinhalteten. Die Zeitungen wurden zu dieser Zeit auf dem Lande größtenteils von 'Kommissionären' verteilt8. Diese Form von privat organisierten, kollektiven Abonnements macht es heute sehr schwer, festzustellen, wer die Zeitungen erhielt. Ein Vertreter auf dem Lande war der Tagebuchverfasser Carl Andersson 9 in Upphärad 10 im westlichen Västergötland. In seinem Tagebuch findet man genau geführte Bestell- und Verteilerlisten, so daß man sich ein klares Bild von den Zeitungslesern in der Gemeinde bilden kann. Die Zahlen, die in dem Tagebuch aufgeführt werden, sind natürlich Minimalzahlen für die vorhandenen Zeitungen, aber offenbar war Carl Andersson der hauptsächliche Zeitungsvermittler 11 . Ein Vergleich von Carl Anderssons Abonnementslisten mit anderen in urbanisierten Gebieten zeigt, daß wir hier ein repräsentatives Bild von der Auswahl der Zeitungen für die ländliche Bevölkerung haben 12 . In den Jahren von 1870 bis 1877 vermittelte Carl Andersson insgesamt 323 Abonnements, verteilt auf 32 Zeitungen. Schon ihre Titel verraten viel von den Absichten der Herausgeber und welches Verhältnis zu den Lesern sie wünschten. Sechs Zeitungen haben in ihren Namen vän, 'Freund' (Arbetarens Vän, Barnens Vän, Bokvännen, Familjevännen, Folkvännen und Församlingsvännen). Das assoziierte Nähe und Gemeinsamkeit. Vän wurde sowohl in der Rhetorik der Freikirchen häufig verwendet, sogar für ein so ungleiches Verhältnis wie zwischen Jesus und den Gläubigen, als auch in den frühen liberalen Arbeitervereinen, die für die Arbeiter waren, aber kaum von ihnen geschaffen worden waren. Vän konnte also sehr wohl verwendet werden für ein ungleiches Verhältnis in Richtung von oben nach unten, mit dem Zweck, die niederen Gruppen auf die eigenen Bedingungen zu verpflichten. Sechs Titel enthalten das Wort folk (Allehanda för Folket, Folkets Häfder, Folkvännen, Illustrerat Folkblad, Land oder Folk och Läsning för folket). Die Bedeutung dieses Wortes in den germanischen Sprachen ist ambivalent. Erstens gibt 120

es die romantische Vorstellung vom folk als einem ursprünglich reinen Zustand, bewundernswert in seiner Widerstandskraft gegen die zerstörerischen Kräfte der Zivilisation. Das führt zu Gesellschaftskritik, Nationalismus, Rassenideen und damit auch zu dem Wunsch, modernisierende Entwicklungstendenzen gewaltsam zu unterbrechen. Statt dessen baut man auf dem "echt Volkstümlichen" auf. Der andere Inhalt von folk betrifft das Allumfassende, das die Selbständigkeit und das Recht des einzelnen betont, ohne jeden anderen Herrn als das gebietende folk selbst. In dieser Bedeutung gibt es eine starke demokratische und egalitäre Konnotation, in die auch eine Vorstellung von den Interessen von unteren Klassen einfließt. Das folk gilt als eine zusammenhaltende Kraft für klassenübergreifende Bewegungen von unten, die eher für als gegen eine Modernisierung kämpfen. In Schweden ist folk in dieser letzteren Bedeutung während des 20. Jh. die vorherrschende politische Metapher gewesen. Die Sozialdemokraten haben z.B. folk betont und den Begriff klass vermieden. Der Metapher folkhemmet (das Volksheim) sind widerstrebende Elemente eingeordnet und für die Verwirklichung des "Volksheims" Gruppeninteressen beiseite geschoben worden 13 . Die hier untersuchten Zeitungen deuten an, daß dieser demokratische und egalitäre Inhalt des Begriffs folk schon im 19. Jh. vorhanden war. Von den 32 Zeitungen in Upphärad waren einige besonders populär, unter denen wiederum das Svenska Veckobladet herausragt (vgl. Tabelle). Die Verteilung der identifizierten Abonnenten zwischen Bodenbesitzern und Besitzlosen zeigt nicht überraschend, daß die Bauern vorherrschten. Sie kauften

Tabelle:

Die populärsten Zeitungen in Upphärad 1870-1877. Anzahl der Abonnements und Anzahl der identifizierten Abonnenen

Zeitung Svenska Veckobladet Kinder- u. Jugendzeitungen Allmogebladet Budbäraren Förr och Nu Arbetarens Vän

Anzahl Jahre 8 8 4 7 7 3

(insgesamt Quelle: Das Tagebuch von Carl Andersson 121

Abonnements

Abonnenten

94 70 56 25 19 10

84 46 49 22 15 10

270 323

226 244)

ca. 70% der Erwachsenenzeitungen. Einen gewissen Teil, etwa 20%, findet man aber bei der besitzlosen Unterklasse der ländlichen Bevölkerung. Beinahe die Hälfte der Bauernhaushalte in der Gemeinde (39 von ca. 100) kommen in den Listen von Carl Andersson wenigstens einmal vor. Dagegen werden nur etwa jeder zehnte Haushalt (24 von ca. 200) unter den Besitzlosen erwähnt. Für die Zeitungsvermittler waren also die Bauern und noch nicht die Besitzlosen die wichtigsten Kunden. Svenska Veckobladet14

nannte sich das "Organ für die Freunde und Förderer

der Volksaufklärung" und richtete sich ausdrücklich "an die arbeitende Bevölkerung unseres Landes". Als Motto führte die Zeitung: "Gottesfurcht, Sittsamkeit, Aufklärung, Freiheit und Wohlstand haben immer ein Heim in unserer schwedischen Heimat." Die Haltung war relativ vorurteilsfrei, z.B. gegenüber Aberglauben und Verfolgung. Sie enthielt umfassende und anspruchsvolle Artikelserien, z.B. "Wohlstandslehre" und "Über Gerichtsverfahren bei Zivilprozessen". Die Zeitung macht einen verhältnismäßig modernen Eindruck im Vergleich mit den übrigen Zeitungen; so wird z.B. das Religiöse und Moralische weniger hervorgehoben. Svenska Veckobladet ist als 'Volkszeitung' charakterisiert worden, d.h. als ein Zwischending zwischen Familien-, Nachrichten- und Erbauungsblatt. Rentabilität durch Massenproduktion und niedriger Preis waren die Vermarktungsstrategien der Volkzeitungen. Es ging um die 'Demokratisierung des Lesens' mit Hilfe des Preises 15 . Die Zeitung wurde von Petter Carlsson Kjellberg herausgegeben, dem Sohn eines Zollinspektors und Halbbruder des bekannteren Isidor Kjellberg, ein Wahlrechtsreformer und der Begründer der liberalen Zeitung Östgöten. P.C. Kjellberg war auch tätig als Lehrer, Uhrmacher und Erfinder. Journalist wurde er durch Kontakte mit der linksliberalen Göteborgs Handels- och Sjöfartstidning. In den vier anderen populären Zeitungen in Upphärad herrschten Erzählungen und Aufklärungsartikel vor. Ihre Herausgeber waren Personen bürgerlicher, oft kleinbürgerlicher Herkunft, die gleichzeitig in den Volksbewegungen tätig waren. Drei waren freikirchliche Pastoren und der vierte ein Abstinenzler. Es wäre zu grob und einfach, die populärsten Zeitungen als bürgerliches Sprachrohr zu betrachten. Die verantwortlichen Herausgeber kamen aus der kleinbürgerlichen Schicht und waren mit den frühen Volksbewegungen verbunden, mit den Bildungsvereinen, Erbauungs- und Abstinenzlerbewegungen. Es kann daher kein genauerer Absender als "das Bürgertum" angegeben werden. Es war nicht die wirtschaftliche Elite des Bürgertums oder das traditionelle Bildungsbürgertum, sondern das Kleinbürgertum mit ideellen und moralischen Interessen, deren politische Anschauung bereits als Linksliberalismus gekennzeichnet worden ist. Diese Gruppe schuf die Zeitungen in den umwälzenden Jahren nach 1870 für die ländliche Bevölkerung. Vielleicht kann man sie ein Klein-Bildungsbürgertum

122

nennen 1 6 .

Über die Grenzen dessen, was in die Zeitungen aufgenommen wurde, entschieden - bewußt oder unbewußt - die gesellschaftlichen Wertschätzungen. Das galt auch für die fiktiven Stoffe wie Novellen und Erzählungen. Die Absender waren damit homogen genug, um den Inhalt der Zeitungen zu einem einzigen, geschlossenen Bild zu formen.

Das Bild für das Gute und das Böse Welches Bild von Bauern verbreiteten die Zeitungen unter der ländlichen Bevölkerung? Was sagt dieses Bild über das Verhältnis zwischen Bürgertum und Bauern? War das Ideal ein verbürgerlichter Bauer? Was sagt dieses Bild über das Bürgertum selbst? Der Wille einer sozialen Schicht, sich entweder zu integrieren oder gegen andere Gruppen abzugrenzen, ist wichtig für den Charakter der geschichtlichen Entwicklung. Eine Analyse des Bildes der Bauern im Vergleich zu bürgerlichen Idealen sollte eine Beurteilung des bürgerlichen Willens, die ländliche Bevölkerung zu integrieren, ermöglichen. In diesem Zusammenhang kann man sich auf Antonio Gramscis Theorie der kulturellen Hegemonie stützen 17 . Es handelt sich um den Versuch einer führenden BClasse, ihre Hegemonie zu erhalten, aber auch um den Versuch gegenkultureller Gruppen, eine neue Vorherrschaft zu etablieren durch Allianzen mit anderen Gruppen. In beiden Fällen handelt es sich in einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft stets darum, die eigenen Werte und Normen zu verbreiten, und diesen die Ideen von anderen Gruppen zu integrieren, um die eigene Überzeugungskraft zu verstärken. Ein Weltbild, das glaubwürdig für große Teile der Bevölkerung sein soll, muß eine kulturelle Hegemonie ohne Gewalt erringen. So kann auch die innere Zersplitterung des wachsenden Bürgertums mit einem gegenkulturellen 'Klein-Bildungsbürgertum' in die Analyse einbezogen werden. Der Drang, andere soziale Formationen heranzuziehen, um Stärke zu gewinnen, der Grad und die Art der Identifikation sowie das Bedürfnis, Grenzen zu setzen, zeigen die Erwartungen des Absenders gegenüber den Bauern in bezug auf die soziale und politische Entwicklung. Für die nähere Analyse des Bildes von den Bauern sind die fünf häufigsten Erwachsenenzeitungen in Upphärad in dem jeweiligen Spitzenjahr ausgewählt worden 18 . Der Schwerpunkt der Inhaltsanalyse liegt bei repräsentativen, fiktiven, zeitgenössischen Erzählungen, in denen die sozialen, wirtschaftlichen und familiären Verhältnise des Landvolkes geschildert werden. In dieser Art von Text findet man ein Totalbild von Individuen im sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umfeld. Daneben wird auch der nicht-fiktive Stoff berücksichtigt.

123

Der eigentlichen Analyse müssen ein paar methodische Bemerkungen vorausgeschickt werden: - Der Grad von Realismus in den Novellen ist uninteressant für die Fragestellungen. Interessant ist nur das gedruckte Bild, wie der Leser es vorfindet. - Der Inhalt der Novellen und die Tatsache, daß das Gute im Menschen oder die guten Menschen siegen, charakterisiert die Texte als moralische Erzählungen. Die schablonenhafte Personen- und Umgebungszeichnung enthüllt den Charakter der Trivialliteratur. Moralische Erzählungen und/oder Trivialliteratur eignen sich außerordentlich gut, um die Erwartungshaltung des Absenders zu entziffern, gerade weil der Unterschied zwischen Gut und Böse so deutlich dargestellt wird. - Die meisten Novellen sind also 'schwarz-weiß' gezeichnet. Die Hauptpersonen können nach dem moralischen Charakter der Personen eingeteilt werden in 'Weiße', d.h. die durchgehend Guten, Edlen und Makellosen, und deren Gegenteil, in 'Schwarze'. - Zur Verfassertechnik der Trivialliteratur gehört, daß eine gute Figur nicht nur Gutes und Rechtes tut, sondern daß auch seine Rolle als Vertreter für die richtige Seite im Einklang mit seinem Charakter geformt wird. Die Art, mit Menschen zu verkehren, wie man spricht, wie man sich anzieht, wie man seine Umgebung formt usw. sind Symbole, gewählt, um die Funktion und das Image der guten Person in der Erzählung zu verstärken. Dasselbe gilt auch für die böse Person. - In der Analyse ergeben diese Symbole in den Novellen zusammen mit dem Eindruck von dem nicht-fiktiven Teil ein System, ein Bild des guten bzw. bösen Bauern. Übergreifende Symbole Ein guter Bauer war immer nüchtern, gläubig und national. Diese Züge dürften die übergreifenden Symbole für gute Menschen sein - und deren Gegenteil für böse - ohne Rücksicht auf ihre klassenspezifische Zugehörigkeit. Eine Analyse aus der oben diskutierten Perspektive muß aber mit sozialen Vorzeichen erfolgen. Charaktereigenschaften von allen Guten, ohne Rücksicht auf ihre sozialen Verhältnisse, sagen wenig aus über die Verhältnisse zwischen den Gruppen. Man könnte sagen, daß sie auf einer 'höheren' Ebene liegen als die soziale Schichtung. Im folgenden werden diese übergreifenden Symbole im großen ganzen bei der Analyse ausgeschlossen. Für das Gesamtbild des guten/bösen Bauern sind sie jedoch wichtig.

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Soziale Symbole Im Hinblick auf die Fragestellungen interessiert besonders, wie die Verhältnisse zwischen Bauern und anderen Schichten dargestellt werden. Meistens siegt die Person aus der ländlichen Bevölkerung, wenn diese einem Vertreter der anderen Gruppe - meist Bürgern - gegenübergestellt wird. Ein gutes Beispiel findet man in der Novelle "Der Dichter und der Bauer" (Skalden och bonden). Ein den Sinn des Lebens suchender intellektueller Städter ist zufällig zu Besuch in der fremden ländlichen Umgebung. Er hat starke Vorurteile über die ländliche Bevölkerung, aber es gelingt ihm, nachdem er den guten Bauern und seine Welt kennengelernt hat, seinem Leben eine neue Richtung zu geben und ein besseres "Muster für sich selbst" zu schaffen. Einen ähnlichen Fall zeigt "Das Herrenhaus und die Kate" (Herrgärden och torpstugan).

Der Patron, ein ehemaliger Geschäftsmann aus

Stockholm, lernt Genügsamkeit und Mäßigkeit von seinem Kätner Gustaf, und verkauft sein Gut, um diese Ideale auf einem kleinen Hof zu verwirklichen. Die Sympathien sind also auffallend oft auf Seiten der ländlichen Bevölkerung, wenn es in der Novelle um Streitigkeiten zwischen Bürgern und Bauern geht. Die Lebensweise der Menschen auf dem Lande wird hier als richtungsweisendes Ideal für das Bürgertum dargestellt. Unverkennbar streben die Zeitungen auch in ihren nicht-fiktiven Berichten danach, das Selbstvertrauen der Bauern zu stärken. Im Jahr 1872 werden mehrere bäuerliche Reichstagsmitglieder in Svenska

Veckobladet

porträtiert. Von Nils

Strindlund wird z.B. behauptet, daß er sich "keineswegs, weder von 'hoch' noch 'niedrig', führen lasse". Ende 1872 beginnt in derselben Zeitung eine umfassende Serie über die Geschichte der ländlichen Bevölkerung. Auch die sozialen Aufsteiger, gewissermaßen die mobilen Grenzfälle zwischen Bauern und Bürgern, enthüllen soziale Haltungen. Personen mit gesellschaftlichem Ehrgeiz sind auffallend oft 'schwarz' und wenig erfolgreich in ihrem Streben. Zwei typische Grenzfälle sind der Müllersohn Per, der Inspektor wird, und der Bauernsohn Anders, der das Abitur machen soll. In beiden Fällen haben die Väter den Ehrgeiz, ihre Söhne zu verbürgerlichen; aber alles schlägt völlig fehl. Angst und Widerwille umgeben diejenigen, die versuchen, ihren sozialen Ursprung zu verlassen. Streben nach Aufstieg innerhalb des eigenen Standes wird dagegen positiv bewertet. Eine Idealgestalt ist der Bauer, der sich vertieft, Schöffe und Reichstagsabgeordneter wird, d.h., er kommt in traditionelle Spitzenpositionen für Bauern. Einige von den sozial Beweglichen, z.B. der Schullehrer Olof, sind aber blendend 'weiß'. Aufgrund seines Berufes scheint Olof zum Bürgertum zu gehören. Alles deutet jedoch darauf hin, daß er bäuerlicher Herkunft ist, "vertraut mit Landwirtschaft, Gartenbau und Landvermessung", und die Möglichkeit hat, ent-

125

weder "Schullehrer oder freier und selbständiger Bauer" zu werden. Sein älterer Kollege in der Gemeinde ist ein früherer Universitätsstudent, und seine Darstellung bietet ein Zerrbild zweckloser Bildung. Dagegen wird als positiver Kontrast der junge, seminaristisch ausgebildete Schullehrer gestellt. Der anerkannte Bildungsgang für Schullehrer und die ländliche Bevölkerung waren die Seminarien und Volkshochschulen - nicht die Gymnasien und Universitäten. Auch im nicht-fiktiven Stoff der Zeitungen spielten Bildungsfragen eine wesentliche Rolle. Die Volkshochschule wird als ein alternativer Bildungsgang für das Volk dargestellt. Das Ziel der Studien sollte nicht sein, die "Klasse" zu verlassen, sondern durch die Studien "bessere Lebensgewohnheiten" zu entwickeln und "Sinn für das Höhere und Edlere, ungeachtet dessen aber die Lust für körperliche Arbeit nicht zu verlieren". Svenska Veckobladet betreibt auch eine große Aktion, um die Verhältnisse der Volksschullehrer zu verbessern. Dieser Beruf sollte innerhalb des 'Klein-Bildungsbürgertums' und der frühen Volksbewegungen führend werden. Die Zusammefassung dieses zersplitterten Bildes ergibt folgende soziale Botschaft: Es ist positiv, der ländlichen Bevölkerung anzugehören. In bezug auf Zufriedenheit und Möglichkeit zum Glück wird das Landleben als Vorbild für das Bürgertum dargestellt. Soziale Mobilität ist keine Bedingung für ein gutes Leben. Versuche, das Bauernleben zu verlassen, sind schwer und gefährlich. Stabile soziale Gruppierungen und klare Grenzen schaffen glückliche Menschen. Bei fester Verankerung in der Bauernschaft bestehen jedoch Möglichkeiten für einen bedeutenden und selbständigen Einsatz in der Gesellschaft. Der soziale Aufstieg mißlingt meist, wenigstens wenn man dabei den traditionell bürgerlichen Weg wählt. Die Grenzfälle werden von ihrer ursprünglichen Klasse ausgeschlossen und nicht in die neue aufgenommen. Gerade durch die soziale Stellung zwischen den beiden Klassen werden sie schwach. Dagegen herrscht ein gutes Verhältnis und gegenseitiger Respekt im Verkehr zwischen verschiedenen Schichten bei 'weißen' Personen. Gute Beziehungen kann man auch in einer sozial und wirtschaftlich ungleichen Gesellschaft schaffen, wenn man die richtigen individuellen Fähigkeiten besitzt. Gleichheit ist keine kollektive, sondern eine individuelle Frage, keine politische oder wirtschaftliche, sondern eine moralische.

Wirtschaftliche

Symbole

Sparsamkeit als positives und Verschwendung als negatives Symbol sind sozial übergreifend, ebenso wie Abstinenz, Glaube und Nationalismus. Auch die Reichen müssen maßvoll sein und ihr Eigentum richtig verwalten. Eine Analyse von Sparsamkeit bzw. Verschwendung ist also sozial gesehen nicht aufschlußreich.

126

Hier sollen aber noch einige ökonomische Haltungen besprochen werden. Welche kapitalistischen/antikapitalistischen

Eigenschaften unter der

Landbevölkerung

kann man in den Zeitungen finden, und wie werden sie bewertet? Welche wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den ländlichen Schichten werden besonders betont? Obwohl der erfolgreiche Bauer Elias sparsam ist - er ist ja 'weiß'

finden wir

bei ihm eine ganz andere Einstellung als das traditionelle Sparen. Die sog. Hausherrenvereine (Husbondeföreningama), für die Elias ein engagierter Vorkämpfer ist, entwickelten damals die dominierenden Ideen, wie das Problem der Armut zu lösen sei. Von Pfarrern in der Novelle erfahren wir, daß jedermann, auch der Besitzlose, für sich und seine Familie sparen könne. U m die Besitzlosen zum Sparen zu locken, sollte die Gemeinde jedem Kind einen Grundstock schenken. Wenn Knechte und Tagelöhner sparten, konnte der Arbeitgeber seinen Untergebenen eine Summe einbezahlen. Man setzte die alte Bauerntradition der freiwilligen Gaben bei größeren Familienfesten fort. Die Gaben erhielt jetzt aber der 'Hausherrenverein' statt die Eltern. Die Vereine zahlten ihre Gelder bei den Renten- und Kapitalversicherungsanstalten ein, die freilich von anderen Gruppen als den Sparern kontrolliert wurden 1 9 . Dieses System besitzt mehrere moderne Züge. Es handelt sich um ein freiwilliges soziales Versicherungssystem, an dem auch die öffentliche Hand z.B. durch die Einzahlungen der Gemeinde beteiligt ist. Außerdem werden die örtlichen 'Hausherrenvereine' als bürgerliche Öffentlichkeit organisiert, als Vereine mit Satzungen, Vorstand und allem, was dazu gehört. Gleichzeitig baut die Idee auf die alte Tradition der sozialen Verantwortung des Hausherrn für seine Untergebenen auf. Der Zweck ist offenbar. Es ging darum, daß die vielen Armen selbst zur wirtschaftlichen Lösung des Armenproblems beitrugen. Wenn man den Novellen glauben darf, war der soziale Druck auf die Besitzlosen groß, sich dem 'Hausherrenverein' anzuschließen. Einzahlungen erfolgten bei mehr oder weniger öffentlichen Gelegenheiten, wie z.B. der Katechisation 20 . Wenn die Armen selbst sparten, seien es Knechte, Tagelöhner oder andere Besitzlose, nahm natürlich das Risiko ab, daß sie der Armenfürsorge, d.h. hauptsächlich den Gutsbesitzern, zur Last fielen. Soweit die eine Seite. Die andere betrifft die Kapitalschöpfung. Die Rentenanstalten investierten ihre angesammelten Mittel. Die Gelder wurden hauptsächlich bei Bauern angelegt, die ihre Landwirtschaften entwickeln wollten 21 . Es waren also gesparte Mittel von den Armen, die für die weitere Kapitalisierung auf dem Lande zur Verfügung standen, und damit die ökonomischen Unterschiede vergrößerten. Elias' Gegenpol in der Novelle, der 'Schwarze Peter', der als Trinker dargestellt wird, hat den kapitalistischen Zug in den 'Hausherrenvereinen' durchschaut.

127

"Mit trotziger Geste und Mine schreit er aus vollem Hals: 'Das, gute Freunde, sind nur Dummheiten: man betrügt uns um unser Geld, man legt uns herein...'." Diesen Ausfall macht er während der Katechisation, also in der Öffentlichkeit. Das ist eine revolutionäre Handlung. Indem die protestierende Person ganz 'schwarz' ist, können ihre Argumente jedoch nicht durchschlagen und die Kritik wird völlig ungefährlich. Elias war ein kraftvoller Anhänger der 'Hausherrenvereine'. Er nützt das System für seine eigenen wirtschaftlichen Pläne und leiht aus dem Rentenfond des 'Hausherrenvereins', um seine Landwirtschaft zu erweitern und zu verbessern. Sein Ziel erläutert er, indem er sagt: "Hier sehen Sie, Herr Pastor, daß die Leibrentensache auch uns Bauern zu Unternehmungslust und Wohlergehen verhelfen kann." Das Motiv 'Hausherrenverein' kehrt in vielen Novellen wieder. Die Kampagne für diese wurde auch als Neuigkeit verbreitet. In jeder zweiten Nummer von Svenska Veckobladet wird die Bildung solcher Vereine in verschiedenen Orten im Lande veröffentlicht mit deutlichen Ermahnungen, dem guten Beispiel zu folgen. Häufig sind damit Kommentare verbunden wie: "Diese nützlichen Einrichtungen, die sicher eine große Zukunft vor sich haben ..." oder: "Die gute Sache geht, Gottseidank, vorwärts!" Klar antirevolutionär ist die Erzählung von der wirtschaftlichen Auflehnung des Kätners Janne Höglund. Mit Hilfe einer Elfe ist es ihm gelungen, allen Überfluß in der Welt abzuschaffen. Hinter Jannes Versuch, auf diese Art wirtschaftlichen Ausgleich zu schaffen, findet man die Unzufriedenheit der unteren Klasse mit der herrschenden wirtschaftlichen Ordnung. Eine Inspiration durch marxistische Ideen ist wahrscheinlich. Die Ausbeutungstheorie steht hinter Jannes Klagen: "Um ihnen [den Reichen] Überfluß zu schaffen, hat man uns [den Armen] das Notwendigste geraubt." Jannes unbeholfener Versuch, wirtschaftliche Gleichheit durch Entfernung von allem Überfluß zu schaffen, trifft aber auch die Armen. Wenn der Überfluß verschwindet, entsteht Mangel an Arbeit und damit noch größere Armut. Die einfache Lösung besteht darin, zu der ungleichen Verteilung zurückzukehren. Der 'Trick' ist, daß dieses nicht mit Zwang geschieht, sondern auf Wunsch des reuigen Janne selbst: Es ist das Beste für uns] Wir haben Gewinn von dem wirtschaftlichen Ungleichgewicht! Die Triebkraft der gesamten Volkswirtschaft ist der Konsum von Überfluß, und dieser ist notwendig, um uns Arme nicht noch ärmer zu machen. Das herrschende wirtschaftliche System ist unsertwegen notwendig, uns Armen zuliebe. Im Jahre 1872 wird der Sozialismus in den Zeitungen Upphärads eingeläutet 2 2 . Karl Marx wird - mit Bild - in einem umfassenden Artikel beinahe als klein-

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bürgerliche Idealgestalt vorgestellt: "Er besitzt ein ansehnliches Vermögen und lebt ein bequemes Leben, aber keineswegs im Überfluß. Seinem Wesen nach ist er ein milder und freundlicher Mann." Nachrichten von der Internationalen Arbeiterassoziation kehren mehrere Male wieder, freilich in einem gehässigen Ton: "furchtbare Gesellschaft", "Scheußlichkeit", "grenzenloser Hochmut". Antisozialistische Botschaften wurden auch in gebundener Form vorgestellt: "Hört nicht auf diese irreführenden Rufe, die von dem rohen gedankenlosen Haufen ausgehen, die von Haß, Unterdrückung und Rache sprechen. Nein, Brüder, wendet euch weg von diesen!" Eine umfassende Artikelserie in Svenska Veckobladet 1872 unter dem Titel "Wohlstandslehre" propagiert, anders als man vermuten könnte, die liberale Volkswirtschaft. Die herrschende Eigentumsverteilung bringe Gewinn für alle. "Die Reichen sind selten nutzlose Verbraucher, weil sie normalerweise, um ihre Einnahmen zu erhöhen, einen großen Teil ihrer Zeit verwenden, um Werte zu erzeugen." Immer wieder verteidigt die Zeitung die herrschende wirtschaftliche Ordnung. Der Leser soll nicht glauben, daß die obere Klasse es besser habe: "Glaubt nicht, Brüder, daß Wonne allein des Reichen, des Mächtigen Los ist. Nein, auch sie müssen einen dornenvollen Pfad gehen viel mehr als wir es je verstehen." Jannes Lösungsversuch stört dieses ganze System. Ihm geht es nicht um einen Versuch, nur seine eigenen Verhältnisse zu verändern, sondern er spricht für eine ganze Klasse. Deshalb ist er gefährlich. Man kann seine eigene wirtschaftliche Situation ändern, wenn man die richtigen Fähigkeiten hat, aber man geht unter, wenn man die herrschende wirtschaftliche Ordnung stört. Die Toleranz ist groß, wenn es um Personen geht, aber klein, wenn es sich um das Kollektiv handelt. Man merkt den Unterschied z.B. bei der Vorstellung der Persönlichkeit von Karl Marx und der Internationalen Arbeiterassoziation. Der Bauer Elias und der Kätner Janne, die obere bzw. untere Klasse der ländlichen Gesellschaft, sprechen sich schließlich beide für das kapitalistische System aus. Traditionelle individuelle Sparsamkeit, Zufriedenheit und Passivität für die Unterklasse, und modernes kapitalistisches Handeln für die besitzenden Bauern werden als positive Leitbilder dargestellt. Mehr als bei der Schilderung sozialer Verhältnisse werden im Blick auf wirtschaftliche Haltungen gemeinsame Werte zwischen Bauern und Bürgern hervorgehoben und eine gemeinsame Grenze gegenüber den Armen gezogen.

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Familienverhältnisse Idealtypisch kann der traditionelle Bauernhaushalt als eine Einheit von Produktion, Konsum und Reproduktion mit folgenden Merkmalen verstanden werden. Mehrere Generationen sowie Herrschaft und Dienende leben in einer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Einheit. Die Arbeitsverteilung zwischen den Geschlechtern ist streng, aber auch die Frau hat Teil an der wirtschaftlichen Verantwortung. Eine starke, selbständige und aktive Frau ist ein Plus für den Haushalt. Die private Sphäre ist nicht deutlich von der öffentlichen getrennt. Die Familie wird eher vom Nutzen zusammengehalten als von Gefühlen. Die Erziehung der Kinder erfolgt durch die Sozialisation der Arbeit. Die Disziplinierung von Gefühlen und Bedürfnissen wird nicht betont. Wie werden demgegenüber die Familien in den Zeitungen dargestellt? Wie unterscheiden sich die Züge der 'weißen' und 'schwarzen' Familien? Der Abstand zwischen dem Idealtyp und der Lebensweise der 'weißen' Familien ist weit. Das zeigt die Erzählung "Der Dichter und der Bauer". Der Mann, Moser, ist der Aktive. Er war auf einer Marktreise, und als er nach Hause kommt, erwartet ihn seine Familie an der Haustür. Die gefühlsmäßige Nähe zwischen Eltern und Kindern ist groß. Der Vater "beugte sich, um das eine nach dem anderen zu umarmen", und den kranken Lieblingssohn nimmt er "in seine starken Arme mit einem Ausruf von zärtlicher Rührung". Die starke Ritualisierung beim Mittagessen erhöht den Eindruck, daß es sich kaum um eine traditionelle Bauernfamilie handelt. "Die Ankunft des Essens weckte ihn (Moser) aus seinen Träumen; er holte seinem Gast einen Stuhl [...] das Klappern der Löffel, bald ersetzt durch Messer und Gabeln, welche den geräucherten Speck zerschnitten, den die Bauersfrau servierte." Die Frau wird in ihrem Verhältnis zum Mann fast wie ein Kind dargestellt. Sie wagt erst spät, ihm zu erzählen, daß der Familienhund verschwunden sei. Der Mann handelt sofort und geht in die Dunkelheit hinaus, um ihn zu suchen. Den ganzen Tag hat die Frau nur gewartet, nicht gehandelt. Jetzt wartet sie ängstlich und passiv in der Küche auf die Rückkehr des Mannes. Die Idee, ihm zu helfen, kommt nicht von ihr, sondern vom Dichter, dem zweiten Mann in der Geschichte. Auch in anderen Novellen wird ein bürgerliches Familienleben im Volk beschrieben. Der Altersunterschied zwischen den Ehepartnern in "Die Stimme des Gewissens" ist groß; aber das soll ein Vorteil sein, denn diejenigen Ehen gelten als die glücklichsten, "wo die Frau wesentlich jünger als der Mann ist, wenn er völlig sicher ist, daß ihre Gedanken und ihre Blicke die Ehe nie verlassen". Die Ehe baut ausdrücklich auf Gefühlen auf. "Die Neigung - denn Liebe heißt es nie unter der ländlichen Bevölkerung, wenn man es auch so im Herzen fühlt - hatte diese Wahl entschieden."

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Auch die 'schwarze' Familie weicht vom traditionellen Muster ab, freilich ohne bürgerlich zu sein: Anna in "Der Schullehrer und seine Verlobte" bricht deutlich mit traditionellen und bürgerlichen Frauenidealen. Sie läßt ihren Verlobten, den Schullehrer Olof, im Stich, und - was noch schlimmer ist - fühlt sich physisch zu dem stattlichen Per hingezogen. "Das Blut floß schneller in ihren Adern", und "ihre Ohren sausten, wenn er in der Nähe war". Als Pers Frau gelingt es Anna nicht einmal, die 'heilige' Familie zusammenzuhalten - der Sohn läuft fort. Annas erste Handlung nach ihrer Gesinnungsänderung, als ihr der enttäuschte Schullehrer verziehen hat - wenn sie 'weiß' wird - ist die Erfüllung der bürgerlichen Frauenrolle, indem sie ihrem Mann zu Willen ist. Sie will ihm den ersehnten Alkohol beschaffen, was sie vorher verweigert hat. Die bürgerliche Geschlechterrolle ist hier also stärker als das übergreifende positive Symbol der Abstinenz. Daß Annas schockierendes Angebot den Mann zu einem enthaltsamen Leben bekehrt, ist eine andere Geschichte - oder will vielmehr zeigen, wie weit eine Frau kommen kann, wenn sie ihre 'bürgerliche' Rolle spielt. Zusammenfassend kann man sagen, daß der Abstand zum Idealtyp der traditionellen Bauernfamilie sehr groß ist, sowohl in 'weißen' wie 'schwarzen' Familien. Durchgehend werden z.B. Kernfamilien geschildert. Ein Bild von der Arbeit oder von den Beziehungen zwischen Bauer Knechten oder Mägden erhalten wir kaum. Die Kinder erscheinen nur als Gegenstand starker und liebevoller Gefühle. Das bürgerliche Familienideal beherrscht die Schilderung der Verhältnisse unter der 'weißen' ländlichen Bevölkerung. Z u ihren hervorstechenden Zügen zählen Reinlichkeit, Schönheitssinn, Intimität der Familie und Ritualisierung des Alltagslebens. Unter den 'schwarzen' Familien gibt es deutliche Abweichungen von den bürgerlichen Idealen. Das bedeutet nicht - wie das Beispiel von Anna zeigt - daß sie 'bäuerlich' geschildert werden. 'Bäuerlich' ist nicht gleich 'schwarz'. Innerhalb des Haushalts, der Familie und der Umwelt werden verbürgerlichte Bauern idealisiert.

Das Bild von Bauern als Metapher Die bisher geschilderten Aspekte lassen sich wie folgt zu einem Bild des guten Bauern zusammenfügen: Ein religiöser, enthaltsamer, nationalistischer und zivilisierter Mensch tritt in den Zeitungen hervor. Er hat, ohne Rücksicht auf soziale Stellung und wirtschaftliche Lage, reiche Möglichkeiten eines guten Lebens. Die Verantwortung, diese Möglichkeiten auszuschöpfen, liegt in seiner Persönlichkeit, nicht in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Das gute Leben ist eine Frage von Moral. Der Idealismus wird betont auf Kosten des Materialismus. Der gute Bauer hat die Möglichkeit, seine eigene Position zu verändern und die Bedingungen für

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andere taugliche Individuen zu reformieren. Der Individualismus schließt also gesellschaftliche Anteilnahme nicht aus. Moralismus ist das Instrument der Anpassung an die gewünschte gesellschaftliche Veränderung. Mit diesem Kompaß kann man teils graduelle Veränderungen bejahen wie auch gewalttätige Störungen verhindern. Modernisierung, ja, aber ohne zu große Überschreitung von wirtschaftlichen und sozialen Grenzen, und eine Modernisierung, die gerade die Interessen der Mittelgruppe berücksichtigt. Durch die Betonung der Persönlichkeit bei Veränderungen und des Kollektivs beim Bewahren wird das Bild zusammengehalten. Der Individualismus kann in verschiedene Richtungen weisen. Er kann emanzipierend sein und damit eine Bedingung für größere Gleichheit, aber auch ein Werkzeug für Egoismus und Unterdrückung und damit antidemokratisch wirken. Mit dem religiös gefärbten Moralismus will der Absender den Individualismus in die erstgenannte Richtung lenken und verhindern, daß sich letztere entwickelt. Auch bei Unterschieden in der äußeren gesellschaftlichen Stellung können Persönlichkeiten aus verschiedenen Schichten - Bürger und Bauern, Kätner und Großbauern - menschlich gesehen gleich sein und einander bereichern. Dieses wird durch eine gleichgestellte Haltung nach oben und unten bei persönlichen Verhältnissen dargestellt - weder Kriecherei noch Unterdrückung. Auch unter den Bauern gibt es Vorbilder für die oberen Schichten. Ein Bauer hat also guten Grund für eigenes Selbstvertrauen 23 . Dieses Bild der 1870er Jahre vom guten Bauern war nicht gänzlich neu. Es handelt sich um ein altbekanntes Bild, aufs neue von oben nach unten verbreitet. Im 18. Jh. versuchten Volkserzieher unter den Beamten, Gelehrten und Aristokraten, das Volk zu Nutzen, Fortschritt und Fleiß zu führen 2 4 . Die Pfarrer der lutherischen Staatskirche hatten jahrhundertelang versucht, die Welt des "ganzen Hauses" (Hustavlan) mit Gleichgewicht, sozialer Abgrenzung und Gehorsam dem Bewußtsein der Bevölkerung einzuprägen 25 . Schon Gustaf Wasa hatte - nicht zuletzt aus finanziellen Gründen - im 16. Jh. eifrig versucht, die Bevölkerung zu einem sparsamen, fleißigen und zufriedenen

Ideal zu überreden 2 ^. Weitere Beispiele

finden sich leicht, und die Fäden könnten weiter zurückverfolgt werden. Das Neue im aktuellen Bild liegt in Akzenten. Sparsamkeit - ja, aber auf eine effektivere Weise. Zufriedenheit - ja, aber nicht aus Gehorsam, Angst oder Glauben an eine für immer gegebene Ordnung, sondern aufgrund der persönlichen Überzeugung, da das vorhandene Leben eine gute Alternative ist und Möglichkeiten bietet. Gleichgewicht und soziale Abgrenzung - ja, wenn es um das Gesamtbild geht, aber auch Möglichkeiten für die individuelle Entwicklung. Glaube - ja, aber mit einem innerlichen, persönlichen Glauben, der das Alltagsleben positiv beeinflußt. Es handelt sich nicht um einen Bruch mit der 'normalen' schwedischen und

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lutherischen Lebensweise. Der Ausdruck 'Erweckung innerhalb der Kirche' entspricht diesem Ideal gut. Die religiöse Formensprache blieb erhalten und machte das Bild wohlbekannt für Absender wie Empfänger. Die Akzentverschiebungen enthüllen eine offene und demokratische Gesellschaft, deren Handlungsspielraum größer ist als früher. Zugleich wechselten die Absender des Bildes. Statt von der Obrigkeit und Oberschicht wurde es jetzt verbreitet gewissermaßen von dem Nachbarn in der nächst höheren Etage. Neue Gruppen wurden im Laufe der Zeit als Ideologieverbreiter integriert - vielleicht auch eine Form von Demokratisierung. Vom Empfänger aus gesehen war seine Anziehungskraft wahrscheinlich größer bei einem sozial nahestehenden Absender wie den 'Klein-Bildungsbürgern'. Die inhaltlichen Akzentverschiebungen und der Wechsel der Absender vereinten Kontinuität und Veränderung. Das bildet offenbar eine Parallele zu der ruhigen und allmählichen doch nicht konfliktfreien - Modernisierung in Schweden seit der Jahrhundertwende. Jenes Bild sollte weiterleben, als es galt, die Arbeiter zu integrieren. Sie wurden von einem ähnlichen Bild beeinflußt, sogar von ihren eigenen Leitern als Absender 2 7 . Bis jetzt habe ich das Wort 'Bild' verwendet. In einem Deutungsversuch werde ich das Bild als eine Metapher behandeln 2 8 . Zwischen Metapher und Wirklichkeit besteht eine doppelte Verbindung. Teils entsteht sie aus der Wirklichkeit, ohne ein Abbild von dieser zu sein, teils beeinflußt das Auftreten einer kraftvollen Metapher die Wirklichkeit. Sie kann Interessen vermiteln, z.B. Unterwerfung (die Metapher 'Königreich von Gottes Gnaden') oder Teilnahme (die Metapher 'das Volksheim'). Sie besitzt also eine handlungsorientierende Kraft. U m eine gesellschaftlich wirkende Kraft zu werden, muß die Metapher allgemein sein. Es handelt sich um eine langlebige Vorstellung, die von vielen vertreten wird. Metaphern können von zwei Seiten betrachtet werden. Einerseits geht es um ihre Entstehung, Gestaltung und Entwicklung, andererseits um menschliche Handlungen unter dem Einfluß der Metapher. Hier handelt es sich hauptsächlich um ersteres, um die Gestaltung einer Metapher und deren historischen Hintergrund. Das oben herausgearbeitete Bild des Bauern war eine allgemeine und zugleich widersprüchliche Metapher: Ein guter Bauer kann offenbar reich oder arm, kapitalistisch eingestellt oder wirtschaftlich vorsichtig sein, verbürgerlicht auf gewissen Gebieten, aber auch beeinflußt von der traditionellen Bauernkultur auf anderen Gebieten. Diese scheinbar unklare Metapher kann teilweise verstanden werden, wenn man sie in Beziehung setzt zu der Unsicherheit über die gesellschaftliche Rolle der Bauern in den 1870er Jahren. Konservativ oder radikal, ökonomisch liberal oder traditionell, im Bündnis mit der Ober- oder Unterschicht? U m zu verstehen, warum die relativ homogenen Absender der Zeitungen nicht deutlichere

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Signale an und über die ländliche Bevölkerung gaben, muß man auch die Absender selbst in die Deutung miteinbeziehen. In den Jahren um 1870 stand Schweden am Scheideweg. Das galt nicht nur für die Bauern, sondern auch, wie eingangs erwähnt, für das Bürgertum und den Liberalismus. Erst wenn man die Metapher auch als Ausdruck dieser Aufsplitterung betrachtet, erhält man eine Perspektive für eine kohärente Deutung. In das 'klein-bildungsbürgerliche' Bauernbild werden die eigenen Verhältnisse des Bürgertums projiziert. Die kritischen Züge der Zeitungen können dann gedeutet werden als idealistische bürgerliche Ansicht über die materialistische Entwicklung, der man fremd und kritisch gegenüberstand. Im zweigeteilten Bürgertum können kapitalistische Großbauern manchmal abschreckend, manchmal aber auch als vorbildlich erscheinen. In dieser Perspektive kann das traditionelle Bauernleben eine erstrebenswerte, gemäßigte Alternative zum materialistischen, bürgerlichen Leben darstellen und soziale Zufriedenheit statt Karrierismus zum Ideal werden. Gerade selbstbewußte und selbständige Bauern werden ein Teil in der komplexen bürgerlichen Lebensanschauung. Die Bauernmetapher kann also als Beitrag zur Debatte zwischen zwei bürgerlichen Haltungen gesehen werden. Ein guter Bauer ist kein verbürgerlichter Bauer im Sinne der Bourgeoisie. Deshalb wird in der Metapher zwar die Gefahr einer Störung des sozialen und wirtschaftlichen, aber nicht des kulturellen Gleichgewichts betont. Der mobile 'weiße' Bauer, der die Schicht der Bauern verläßt, wird nicht Geschäftsmann, bürgerlicher Gutsbesitzer, Industrieller oder anderweitig kapitalistisch tätig, sondern er wird Schullehrer, Landvermesser oder Ingenieur. Wer dagegen nach Höherem strebt, hat immer Mißerfolg 2 9 . Gleichwohl kann von einer Identifikation zwischen (niederem) Bürgertum und (oberer) Bauernschicht nicht die Rede sein. Die sozialen Grenzziehungen und der Widerwille gegen Überschreitungen sprechen eine deutliche Sprache. Die Verschmelzung der Bauern mit dem niederen Bürgertum hätte gewissermaßen dessen Selbstmord im Streben nach kultureller Hegemonie bedeutet. Das Bauernbild des schwedischen 'Klein-Bildungsbürgertums' bietet ein Beispiel für Gramscis Theorie über eine gegenkulturelle Schicht, die eine Hegemonie der eigenen Ideen durch die Integration der Ideen von unteren Schichten zu steigern sucht. Umgekehrt und zugespitzt könnte man sagen, daß es darum ging, zu verhindern, daß die Bauern die kapitalistische und großbürgerliche Seite in dem internen bürgerlichen Streit verstärkten. Statt dessen galt es, die Bauern mit dem idealistischen niederen Bürgertum zu alliieren, ohne sie in Bürger zu verwandeln. Die zivilisierte Lebensweise, typisch für die Haltung aller 'weißen' Bauern, ist gerade eine Mahnung, daß sie bürgerlich auftreten sollen als gewissermaßen salonfähige Partner in der Zusammenarbeit. In dieser Perspektive ist es natürlich, daß ein Widerwille gegen soziale Mobilität dann fehlt, wenn z.B. ein Kätner zum bodenbesitzenden Bauern wird. So läßt

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sich die ländliche Bevölkerung weiterhin als Einheit darstellen. Wenn jedoch Tendenzen von kollektivem sozialem Protest berührt werden, werden Grenzen innerhalb der ländlichen Bevölkerung errichtet. Natürlich kommen solche Proteste immer von den Eigentumslosen, und gegen sie vereinen sich die Bauern mit den oberen Schichten der Gesellschaft, um die bestehende Ordnung zu erhalten. Das gilt besonders bei den politisch wichtigen Fragen, z.B. bei der Lösung des Armenproblems und beim Widerstand gegen den Sozialismus. Das Verhältnis zwischen Bauern und Bürgern spielt eine wesentliche Rolle in den Modernisierungstheorien. Nach Barrington Moore Jr. ist der normale Weg zur westlichen Demokratie, daß die Bauern als selbständige Gruppe verschwinden. Diese Entwicklung setzt ein starkes Bürgertum voraus. Moore meint, daß die Gruppe der Bauern erhalten bleibt, wenn die kommerziellen Interessen der bodenbesitzenden Oberschicht gering sind. Die Bauern sind entweder "a tremendous problem for democracy and at worst the reservoir for a peasant revolution", oder die Bauern müssen 'von oben' an den Boden gebunden werden. Eine große selbständige Bauernklasse ist also nach Moore unvereinbar mit einer demokratischen Entwicklung30. Allgemeine Theorien zeigen natürlich immer Mängel bei der Konfrontation mit der Empirie. Dieses wird ganz deutlich, wenn man die Entwicklung der schwedischen Bauern und deren Rolle auf dem Weg zur heutigen demokratischen Gesellschaft betrachtet 31 . Die politisch und sozial schwachen Oberschichten sowie das wirtschaftlich spät entwickelte schwedische Bürgertum ließen eine große Bauernklasse zu - soweit ist Barrington Moore beizupflichten. Die Bauernklasse wurde aber in Schweden nicht unterdrückt und nicht revolutionär. Die von Moore erwartete Entwicklung fand vielleicht aus folgenden Gründen nicht statt: Die Oberschichten waren schwach. Die politischen Traditionen der Bauern stark. Die Bauern gewannen durch den Abstand zwischen agrarischer und industrieller Revolution Zeit, ein eigenes Klassenbewußtsein zu entwickeln. Dazu kommt, daß das schwache Großbürgertum auch Raum schuf für ein einflußreiches Kleinbürgertum mit linksliberalen Idealen. Genau diese bürgerliche Schicht nahm um 1870 eine Schlüsselposition als meinungsbildender Faktor ein. Das 'Klein-Bildungsbürgertum' war tonangebend in jenem Teil der Presse, der die ländliche Bevölkerung erreichte, wie auch innerhalb der Volksbewegungen für die unteren Gruppen. Die Untersuchung zeigt, daß die unteren bürgerlichen Schichten während der Entwicklung eines starken Linksliberalismus die Bauernklasse berücksichtigen. Die Schichtung sowohl im Bürgertum als auch in der ländlichen Bevölkerung verringerte die Polarisierung in der Gesamtgesellschaft und schuf Gruppen wie Kleinbürger und Bauern mit Familienwirtschaft, zwischen denen Bedingungen für eine Interessengemeinschaft gegeben waren. In seiner Unruhe über die sozialen

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Verhältnisse, im Widerwillen gegen eine weitergehende kapitalistische Entwicklung, in der Verteidigung von schon errungenen Siegen durch weitere vorsichtige Demokratisierung und in den Volksbildungsbestrebungen wollte das niedere Bürgertum sich mit den Bauern treffen. Das verhältnismäßig schwache und zersplitterte schwedische Bürgertum und die starke Bauernschaft verhinderten nicht die Entwicklung der bürgerlichen Demokratie. Es gibt also keinen Normalweg zur bürgerlichen Demokratie. Eine Metapher muß man, im Unterschied zu einem Bild, konzentriert ausdrücken können: Die schwedischen Bauern fanden in den Zeitungen ein Idealbild ihrer selbst als Verbündete des 'Klein-Bildungsbürgertums'. Anmerkungen *

Übersetzung mit Hilfe von Frank Bärthel und Jürgen Brockstedt.

1

Kyle, J., Striden om hemmanen, Studier kring 1700-talets skatteköp i västra Sverige, Göteborg 1987, untersucht die Aufteilung der Staatsgüter zwischen Bauern und anderen Gruppen. Carlsson, S., Bonden i svensk historia, Del III, Stockholm 1956, S. 192 ff., diskutiert wird die Bedeutung der Adelsgüter für die Bauern.

2

Die Bedeutung des zeitlichen Abstandes von mehreren Generationen zwischen den beiden 'Revolutionen' für die Entstehung eines bäuerlichen Klassenbewußtseins betont Wähling, V., By og land. Omkring dynamikken i forholdet mellem socio-ökonomisk basis, Organisation, klasser og ideologi i Danmark i det 19. ärhundrede - forsök tili en syntese, in: Holmgaard, J. (Hrsg.), Det grundtvigske bondemiljö, Aalborg 1978, S. 4 ff.

3

Forscher wie Chayanov, A.V., The theory of peasant economy, Homewood, III. 1966, S. 238 ff., und de Vries, J., The Dutch rural economy in the Golden Age 1500-1700, New Häven 1974, S. 3 ff., haben, mit verschiedenen Ausgangspunkten, die wirtschaftlichen Vorteile der Familienlandwirtschaft im Vergleich mit kapitalistischen Landwirtschaftsformen diskutiert. S. auch Winberg, Chr., Grenverket, Studier rörande jord, släktskapssystem och ständsprivilegier, Stockholm 1985, S. 206, und dort angeführte Literatur.

4

Liljewall, B., En allmogefamiljs agerande i en tid av förändring, in Rig, 1989, S. 37 ff.

5

Therborn, G., Borgarklass och byräkrati i Sverige: antechmingar om en selskenshistoria, Lund 1989.

6

Wallin, G., Valrörelser och valresultat. Andrakammarvalen i Sverige 18661884, Stockholm 1961, S. 341.

7

Darüber hinaus entwickelten sie infolge interner Interessendivergenzen und Mehrfachmitgliedschaften die Fähigkeit zum Kompromiß und zur Integration, die die Zusammenarbeit zwischen Linksliberalen und Sozialdemokraten bis 1920 auszeichnete; vgl. Sträth, B., Die bürgerliche Gesellschaft Schwedens im 19. Jh., in: J. Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jh. Deutschland im europäischen Vergleich, München 1988, Bd. 1, S. 239 ff.

8

Die Zeitung Svenska Veckobladet hatte 1872 eine Auflage von 40 000 Exemplaren (1875 = 55 000). Von diesen wurden etwa 9 000 durch die Post direkt den Abonnenten zugestellt, 2-300 wurden als Einzelnummern in Stockholm verkauft, während der Hauptteil zu den Vertretern auf dem Lande verschickt

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wurde (Svenska Veckobladet, Nr. 8, 1872 bzw. Johannesson, E., Den läsande familjen, Stockholm 1980, S. 95). 9

Nordiska museets Archiv, Svenska bondedagböcker 20 B. Das Tagebuch wird näher untersucht in: Liljewall, B., op. cit.

10 In Upphärad war die ländliche Bevölkerung vorherrschend; sie hatte häufige Kontakte mit anderen sozialen Schichten durch die Überschußproduktion vor allem von Hafer, der über Häfen am Göta Älv verkauft wurde. Die Höfe waren verhältnismäßig klein, aber gleich groß. Dagegen gab es einen wirtschaftlichen Abstand zwischen den Bauern und der im Verhältnis zum schwedischen Durchschnitt großen Gruppe von Besitzlosen. 11 Die Listen von Carl Andersson enthalten Abonnenten aus allen Teilen der Gemeinde und sozialen Schichten. Upphärad besaß vor dem Bau der Eisenbahn 1877 kein Postamt. Der nächste Buchhandel, der eine andere Abonnementsmöglichkeit bot, lag in Vänersborg, 40 km vom Upphärad entfernt. Rein physisch gab es also vieles, das tatsächlich seine Dominanz als Zeitungsvermittler bestätigt. Dazu kommt die soziale Stellung seiner Familie. Der Vater war Schöffe und Kirchenältester und ihm waren die meisten Ehrenaufträge anvertraut. Einen Hinweis, daß die Listen von Carl Andersson tatsächlich die Mehrheit der zugänglichen Zeitungen umfaßten, erhält man, wenn man die relative Zahl von Zeitungen in Upphärad mit Schätzungen für ganz Schweden vergleicht. Man hat berechnet, daß im Jahre 1875 jeder zehnte schwedische Haushalt eine Zeitung oder Zeitschrift hielt. Im Jahre 1884 gab es in den Städten mehr als eine Zeitung pro vier Haushalte. (Wallin, G., S. 343). In Upphärad kam nach den Listen Carl Anderssons 1870-1877 durchschnittlich eine Zeitung auf acht Haushalte. 12 Vgl. Johannesson, E., op.cit., S. 257 (Liste von Sundsvall, einer kleinen Stadt in starker Industrialisierung begriffen) bzw. S. 210 ff. (Untersuchung der Abonnenten in Västeris und Växjö - kleine Städte) Malmberg, H., Bidrag tili en beskrifning öfver Ytterlännäs socken, Uppsala 1875, S. 28 ff bsw. 70 (Ytterlännas war eine Gemeinde in Norrland mit mehreren bruk, d.h. protoindustriellen Gewerken mit einer charakteristischen patriarchalischen sozialen Ordnung). Der Vergleich zeigt, daß die Auswahl der Zeitungen in Upphärad im großen ganzen repräsentativ für die ländliche Bevölkerung Schwedens sein müßte. Die Abweichungen hängen mit dem verschiedenen Grad der Urbanisierung zusammen. 13 Die Diskussion um den Begriff folk war intensiv. Siehe z.B. Sträth, B., Industrial Change and State Power: Metaphors and the Organisation of Society, Manuskript, 1989, mit einem Vergleich von 'Volk' und folk (Kap. 4,6) bzw. Trägärdn, L., Varieties of Volkish Ideologies: Sweden and Germany 18981933, in: Sträth, B. (Hrsg.), Language and teh Construction of Class Identities, Göteborg 1990.. 14 Grundlage für die Charakterisierung ist - außer den Zeitungen selber - Lundstedt, B., Sveriges periodiska litteratur 1695-1896, Stockholm 1899; Svenskt biografiskt lexikon, Stockholm 1918-1987; Svenska kvinnor och män, Stockholm 1942-1955; Johannesson, E., op. cit. 15 Johannesson, E., Den läsande familjen, S. 95. Hier ist auch angedeutet, daß die 'Volkszeitungen' meistens in ländlichen Gebieten verbreitet wurden. 16 U m die gesellschaftliche Bedeutung dieses 'Klein-Bildungsbürgertums' zu illustrieren, einige Zahlen: 1911 gehörten 25% der Abgeordneten der direkt gewählten Zweiten Kammer im Reichstag Freikirchen an und 64% stützten die Abstinenzler. Zwischen 1922 und 1937 stieg die Anzahl der Reichstagsmitglieder mit Ausbildung auf den Volkshochschulen von 13% auf 22%. 17 Gramsci, A., Selections from the Prison Notebooks, New York 1971 bzw. Letters from Prison, New York 1973. Für eine Präsentation von Gramscis Theorien als historisches Analysewerkzeug siehe Jackson Lears, T.J., The Concept

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of Cultural Hegemony: Problems and Possibilities, in: The American Historical Review, Bd. 90,1985, S. 567 ff. 18 Svenska Veckobladet 1872; Allmogebladet 1875; Arbetarens van 1876.

1872; Förr och nu 1875; Budbäraren

19 Die Zinsen wurden - anders als bei den Sparkassen - nicht ausbezahlt, sondern flössen in einen Fond, der nur in Notfällen in Anspruch genommen wurde. 20 Die Katechisation (husförhöret) erfolgte in Gemeinschaft von zehn bis fünfzig Haushalten. 21 Jansson, T., Adertonhundratalets associationer. Forskning och problem kring ett sprängfullt tomrum eller sammanslutningsprinciper och föreningsformer mellan tvä samhällsformationer c:a 1800-1870, Stockholm 1985, S. 44 f. 22 Z.B. Svenska Veckobladet, 1872, Nr. 2-3; Allmogebladet, auch Arbetarens vän, 1876, S. 46.

1872, S. 38 bzw. 72. S.

23 Die Übereinstimmung zwischen dem hier vorgestellten Bild und der Einstellung der zeitgenössischen kulturellen linksliberalen Elite (z.B. vertreten durch S.A. Hedlund, Adolf Hedin und Karl Staaff) ist groß (vgl. Strith, B., Industrial Change and State Power). Meine Untersuchung zeigt, daß das linksliberale Bild in einer vereinfachten und religiösen Variante tatsächlich die große Masse des Volkes erreichte. 24 Sörbom, P., Läsning för Folket. Studier i tidig svensk folkbildningshistoria, Stockholm 1971, S. 13 ff. 25 Pleijel, H., Frän hustavlans tid, Lund 1951. 26 S. z.B. Svalenias, J., Gustav Vasa, Stockholm 1950, S. 265 ff. bzw. Malmstedt, G., Statsmakt och folkkultur. Aufsatz, Historisches Institut, Universität Göteborg, 1985. 27 S. z.B. Berggren, H., Proletärna vid Mimers brunn. Bildning och politisk mobilitet inom arbetarrörelsen 1906-1920, in: Historisk tidskrift (Schweden), Bd. 108,1988, S. 178 ff. 28 Zu Metaphern in der Geschichtswissenschaft s. z.B. Koselleck, R. (Hrsg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979; ders., Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1985; Petterson, O., Metaforernas makt, Stockholm 1987, S. 9 ff. 29 Der Übergang zwischen Bauern und Bürgertum läßt einen biochemischen Begriff assoziieren: semipermeabel, d.h. "die Eigenschaft einer ... Schicht, für gewisse Stoffe selektiv durchlässig zu sein. Die Durchlässigkeit wird bestimmt von der ... Struktur,... Größe und Ladung" (Bra Böckers Lexikon). 30 Moore, B. Jr., Social Origins of Dictatorship and Democracy. Lord and Peasant in the Making of the Modern World, Middlesex 1966, S. 413 ff. (bes. S. 420). 31 Tilton, T., The Social Origins of Liberal Democracy. The Swedish Case, in: Americal Political Science Review, 1974, S. 565 ff., hat dieses beobachtet. Auch Österud, Ö., Agrarian Structure and Peasant Politics in Scandinavia. A Comparative Study of Rural Response to Economic Change, Oslo 1978, S. 54 f., bringt skandinavische Abweichungen von Moores Theorie.

Wolfgang Huppert

Der Blick der bürgerlichen Künstler auf die ländliche Lebenswelt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts

I. Auch die Wahrnehmung der Künstler ist in die Kulturgeschichte eingebunden. Ihr Blick auf die ländliche Lebenswelt und die Thematisierung neuer Sujets ist ein Aspekt der Wahrnehmungsgeschichte und verdient Aufmerksamkeit, weil diese neue und spezifische Formung des Blicks nicht unabhängig von den gesellschaftlichen und zivilisatorischen Transformationen der Zeit verstanden werden kann 1 . Hier soll der Frage nachgegangen werden, ob mit der zunehmenden kulturellen Dominanz des Bürgertums im letzten Drittel des 19. Jh. eine spezifisch "bürgerliche" Beziehung zur ländlichen Lebenswelt ihren malerischen Ausdruck fand und ob sich in dieser Perspektive eine "Verbürgerlichung" des Bildes vollzog. Dabei beschränke ich mich auf die Malerei, obwohl auch mit dem damals neuen technischen Medium der Fotografie in ähnlicher Weise "die Natur" als Motiv entdeckt wurde. Die Bilderwelt, die die Menschen der ländlichen Lebenswelt selbst besaßen 2 , muß dagegen außer Betracht bleiben. Der Gebrauch des hier eingeführten Begriffs "Blick" bedarf einer weiteren Vorbemerkung. Die kulturelle Form des Blickes konstituiert sich immer in Wahrnehmungsmustern, die der Auswahl von Ausschnitten aus der sichtbaren Wirklichkeit zugrunde liegen 3 . Nicht darstellbar ist die Totalität der Erscheinungen, so daß die "bildwürdige" Szene von anderen, "nicht bildwürdigen" unterschieden werden muß. Der Auswahlvorgang richtet sich auf "Einstellungen", die als "reizvoll" gelten. Diese können entweder als Bildidee dienen und in eine fiktive Komposition eingehen oder direkt "vor der Natur" (Pleinairmalerei) in eine bildnerische Form umgesetzt werden. Daher interessiert in diesem Zusammenhang, welche Eindrücke aus der vielfältigen ländlichen Lebenswelt aufgenommen und zum Bildthema gemacht wurden. Es lassen sich mehrere Phasen unterscheiden, in denen sich die Wahrnehmungsmuster verschoben. Im 17. und 18. Jh. waren im Medium der Malerei ideale Vorstellungsbilder entworfen worden, die als Genres teilweise auch im 19. Jh. weiter gepflegt wurden 4 . Die idyllisierende Malerei Ferdinand Kobells beispielsweise zeigte das Leben von Hirten in der Natur, die ihre Herden an Bächen unter Bäumen hüteten. Zwar gab es auch in diesen Sujets einen Bezug des Idealen zum Realen 5 , doch verschob sich dieses Verhältnis im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jh. hin zur Wirklichkeit. Es entstand eine Landschaftsmalerei, die Ausschnitte aus der realen ländlichen Lebenswelt und der Natur zum Bildgegenstand erklärte. An-

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Stöße dazu k a m e n aus der vorausgegangenen Entwicklung in England durch Künstler wie J o h n Constable. Entsprechend begannen die Maler Landschaftsausschnitte "vor der Natur" zu malen. Ein typisches Motiv, das seit den 1820er Jahren auf zahlreichen Bildern variiert wurde, ist der sog. Malerische Winkel auf der Insel Frauenchiemsee 6 . Aber erst nach den 1860er/70er Jahren gewann die direkte Wahrnehmung der Natur und die Zuwendung zu den ländlichen Menschen und ihrer Kultur eine stärkere Bedeutung. In das Z e n t r u m der künstlerischen Bemühung rückte die authentische Darstellung des realen Bildgegenstandes. Darin äußerte sich eine Gegenbewegung zu

den

zeitgenössisch

dominanten

idealistischen

Konventionen

und

der

Lebensferne des formalen Akademismus der Ateliermalerei, der sich oft in der Stimmigkeit der Brauntöne erschöpfte 7 . Schließlich erreichte die Kultivierung der realen Natur eine weitere Stufe, als nach 1880 an verschiedenen Orten Künstlerkolonien gegründet wurden. Sogar für den Durchbruch zur Abstraktion nach 1905 besaß die ländliche Lebenswelt eine inspirierende Bedeutung, wie exemplarisch an der Arbeit der Künstlergruppe um Kandinsky in der Murnauer Vorgebirgslandschaft in Oberbayern zu sehen ist, die als "Blaue Reiter" Berühmtheit erlangte 8 . Dort vollzog sich auch der Paradigmenwechsel in der Beziehung zum Bildgegenstand: Es kam den Malern nicht mehr darauf an, ein präzises Abbild der ländlichen Lebenswelt zu entwerfen, sondern ihr Interesse richtete sich auf den bildnerischen Ausdruck ihrer individuellen Empfindungen und Stimmungen.

II.

Im wachsenden Kunstmarkt

des 19. Jh. hatte sich das G e n r e

der

"Bauernmalerei" etabliert. Deren Bildinhalte bewegten sich meist im engen Rahmen einiger immer wieder variierter Sujets: "Vor dem Wirtshaus im Gebirg" (z.B. Heinrich Birkel), "Hirtin mit Herde" (z.B. Friedrich Voltz 1835), "Vieh im Dorf, am Dorfteich oder an einer Furt" (z.B. Friedrich Voltz), "Pflügender Bauer in einer Landschaft", "Sommerlandschaft mit Erntewagen", "Schäfer mit H e r d e vor aufgehendem Mond im Winter" (z.B. Adolf Stademann 1885). D e r in diesem Bildgenre entworfene Blick blieb von idyllisierenden Topoi verengt. Selbst der von den Zeitgenossen gefeierte Münchner Maler Franz Defregger orientierte sich an diesen Konventionen, wenngleich er die Menschen seiner Tiroler H e i m a t bereits stärker als Subjekte in ihrer bäuerlichen Lebenswelt der Stube und des Dorfes darstellte. Seit den 1870er Jahren entwickelte sich eine neuartige Beziehung bürgerlicher Künstler zur ländlichen Lebenswelt und ihren Menschen. Zunächst hatten innovative "Außenseiter" wie etwa Wilhelm Leibi wesentlichen Anteil hieran, der 1873/74 aus der Künstlermetropole München in das Dorf Graßlfing in der N ä h e des Dachauer Mooses und schließlich 1875/77 nach Schondorf a m Ammersee 140

zog9. Mit diesem Ortswechsel wich Leibi teilweise vor der Übermacht der Münchner Traditionalisten um Lenbach aus, die seine Malerei abfällig kommentierten, teilweise begab er sich damit auf die Suche nach einer originären Erfahrung jenseits der Münchner Ateliers. 1869 hatte Leibi sein erstes bedeutendes "Bildnis Mina Gedon" auf der 1. Internationalen Kunstausteilung in München ausstellen können. Die Porträtierte war die Gattin eines in der Kunstszene einflußreichen Architekten. Leibi malte die schwangere Frau realistisch - so wie diese tatsächlich aussah -, mit roten Flecken im Gesicht, ohne jede Verschönerung. Diese radikale Darstellung der visuellen "Wahrheit" brachte dem jungen Künstler einerseits die begeisterte Zustimmung des ebenfalls ausstellenden französischen Realisten Gustave Courbet ein, andererseits verstieß diese, der Wahrnehmung des Auges folgende Malweise gegen die dominanten Geschmackcodes der deutschen Malerzunft und des Kunstpublikums. In der dörflichen Lebenswelt begann Leibi ländliche Menschen zu seinem Thema zu machen. Ein Gemälde wie die "Zwei Bäuerinnen" (1874/75) verdeutlicht, daß sein Interesse dabei weniger der Individualität der Personen als der reich geschmückten Tracht galt, die in den Bildmittelpunkt gerückt ist. Wenig später porträtierte er ein "Mädchen mit weißem Kopftuch" (1875/77) in einer ungewöhnlichen Nahperspektive des Gesichts, mit sehr engem Kopfausschnitt, in einer Malweise, die die präzise Näherung an das physisch Sichtbare anstrebte. Mit diesen Bildern hatte Leibi sich in seinem Blick auf die ländliche Lebenswelt bereits von den zeitgenössischen Konventionen gelöst. Er produzierte nicht für den Kunstmarkt und die Sehweisen des deutschen Publikums, sondern suchte seine Anerkennung bei den französischen Realisten im Umfeld Courbets 10 und in dem Freundeskreis, der sich um ihn gesammelt hatte 11 . Von den Freunden dieser Jahre öffnete sich insbesondere Wilhelm Trübner für Themen der realen ländlichen Lebenswelt unter Verzicht auf transzendierende oder idyllisierende Überhöhung. Beispielhaft für diese Haltung ist sein Gemälde "Dogge am Weßlinger See" (1876), das einen unspektakulären Landschaftsausschnitt mit seinem Hund ins Bild setzt. Der Betrachter gewinnt den Eindruck, der Maler habe einen Moment auf seinem Spaziergang festhalten wollen, wofür in späteren Jahrzehnten die Aufnahme mit der Fotokamera selbstverständlich wurde. Der Individualist Leibi führte die Arbeiten an einem Realismus der ländlichen Lebenswelt auch in den folgenden Jahrzehnten fort. Als "sperriger Sonderling aus Profession" (Norbert Miller) 12 wählte er das Leben in den kleinen Orten des Alpenvorlands, um Motive einer "unbeschädigten" Landschaft und ihrer Menschen zu malen. Zugleich verraten seine Bilder einen hohen Grad an bewußter Inszenierung. Dies ist an dem 1890 fertiggestellten Gemälde "In der Bauernstube" abzulesen, das einen Mann und seine Frau in Tracht im Winkel einer bäuerlichen

141

Stube zeigt. Ihre Kleider sind im Detail minutiös gezeichnet und so ausgebreitet, als wollte Leibi mit der materiellen Erscheinung die Realität selbst im Bild aufheben. Auch sein bekanntestes Gemälde "Drei Frauen in der Kirche", an dem er zwischen 1879 und 1882 in der Dorfkirche von Berbling bei Bad Aibling malte, spiegelt den Willen zur Authentizität wider. Die Frauen, deren Namen uns überliefert sind, mußten in den drei Jahren der Bildentstehung immer wieder Modell sitzen. Sie wurden zwar dafür bezahlt, aber die zeitraubende Mühe und Anstrengung ist als intensive Ruhe im Bild präsent. Leibi stellte auch sie in ihrer bäuerlichen Kleidung dar und bildete das Chorgestühl und die darüber liegende Wand realitätsgetreu ab. Die Gesichtszüge der Frauen sind exakt gemalt, obwohl diese nicht primär als Individuen gemeint waren. Vielmehr repräsentiert ihre unterschiedliche Generationenzugehörigkeit drei verschiedene Andachtsformen. Die Frauen werden zu einem Gleichnis für die innere Harmonie der religiösen Andacht. Als Sohn eines Domkapellmeisters mag Leibi in seiner Erinnerung ähnliche Szenen des Gebets aus der Kölner Kindheit bewahrt haben, die in die Stimmigkeit des Bildes mit eingegangen sind. Wenn auch der Objektcharakter des Gebetsstuhles oder der Kleidung sich dem Betrachter realistisch darbieten, so blieb Leibi dennoch der inszenierende Dramaturg dieser Szene. Sein Blick auf die Menschen und die an ihnen wahrgenommenen Haltungen schuf die Bildwirklichkeit. Er verzichtete auf publikumswirksame Formen zugunsten einer neuen ästhetischen Intensität. In der kunsttheoretischen

Begründung

sollte

dagegen

als

Beurteilungskriterium

nur

das

"Malerische" als Maßstab gelten ("reine Malerei") 13 . Leibi blieb in hohem Maße ein bürgerlicher Individualist, ein Bohemien auf dem Land, der seinen Blick im Bildmedium zu einer intensiven ästhetischen Erfahrung der ländlichen Lebenswelt kultivierte und erst nach der Fertigstellung des Gemäldes begann, durch den Verkauf seinen Kostenaufwand und Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Die Öffnung des Kanons von Bildsujets für die Vielfalt der Natur und die Authentizität der ländlichen Menschen verstärkte sich mit der schubartigen Gründung von Künstlerkolonien seit den 1880er Jahren. Deren Bedeutungszunahme ging mit einer Phase der kreativen Suche nach neuen Formen der Wahrnehmung und einer adäquaten ästhetischen Umsetzung einher, die bis kurz nach der Jahrhundertwende anhielt. Es läßt sich belegen, daß sich in dieser Tendenz eine "Verbürgerlichung des Blicks" ausdrückte. A m Beispiel zweier Orte, die als "malerisch" galten und an denen sich Künstlerkolonien bildeten, können wir die Beziehung dieser Künstler zu den ländlichen Regionen näher erkunden.

142

Schon seit dem entstehenden Interesse an der Landschaftsmalerei um 1830/40 hatte die Landschaft um Dachau an Attraktivität für die Münchner Maler gewonnen 1 4 . Der nahe bei der Großstadt gelegene Ausflugsort war leicht erreichbar, und "das Moos", die Moorlandschaft in seiner Umgebung, zog mehr und mehr Künstler zu vorübergehenden Studien an 1 5 . In diesen Jahren besuchten Dachau unter anderen Christian Morgenstern, Carl Spitzweg, Max Liebermann, Lovis Corinth, Max Slevogt. Eine Künstlerkolonie bildete sich jedoch erst in den späten 1880er Jahren. Adolf Holzel, ihr wichtigster Impulsgeber, entschloß sich 1888 zur Niederlassung. Dachaus Blütezeit und Ausstrahlung als Ort künstlerischer Innovationen reichte in zeitlicher Parallelität mit Worpswede - bis etwa 1905. Danach erstarrte der kreative Prozeß der Entfaltung neuer Ausdruckssprachen. Zwar tradierte sich der Publikumsmythos vom "Künstlerort Dachau", doch die Malerei verlor sich in provinziellem Epigonentum, das in den 1920er Jahren Übergänge zur deutschnationalen Heimatkunst aufweist. In der kreativen Phase um 1890/1900 allerdings lockte der Formen- und Kontrastreichtum des Dachauer Mooses mit seinen intensiven Licht- und Witterungsbedingungen und wechselnden Stimmungen die Maler an. Für einen Teil der Künstler gehörten die Menschen der traditional-bäuerlichen Kultur zu dieser Landschaft. Teilweise reduzierte sie die Wahrnehmung der bürgerlichen Künstler sogar zu einem Teil der Natur. Die Tracht avancierte in diesen Jahren zu einem vielfach aufgenommenen Motiv1®, mit dem sich - neben Leibi - bereits 1885 Adolf Holzel auseinandersetzte. Er porträtierte eine Dachauerin, die in Tracht auf dem Bettkasten im Winkel ihrer Schlafkammer sitzt und in einer aufgeschlagenen Bibel liest. Auch Holzel ging es ebenso wenig wie Leibi um die Individualität der Frau, die ihm Modell stand. Daher bezeichnete er dieses Bild mit dem Topos "Hausandacht". Ähnlich wie bei Leibis Gemälde "Die drei Frauen" war es die tatsächliche oder projizierte Geschlossenheit des religiösen Weltbildes, in dem die Frau mit den Erfahrungen ihres Alltags Besinnung suchte, die dem Künstler als bildwürdig erschien. Holzel skizzierte häufig im Ort mit direktem Blick auf das Motiv. Daraus erwuchs seine enge Beziehung zur Region und ihren Menschen. Die von ihm gegründete Malschule florierte und steigerte Dachaus Ruf als Künstlerkolonie. Im Laufe der Jahre lernten hier zahlreiche "höhere Töchter" 17 , denen aufgrund ihres Geschlechts die Aufnahme in die Akademien noch verwehrt war, die Techniken des Malens "vor der Natur". Wenngleich die Dachauer Künstler sich auch in der kurzzeitig gebildeten Ausstellungsgruppe Neu-Dachau unter einem gemeinsamen ästhetischen Programm präsentierten 1 8 , blieben sie bürgerliche Individualisten. Zusammengehalten wurden sie lediglich durch ihre Arbeit am selben Ort und ihre Begeisterung für die Schönheiten der Landschaft, des Städtchens und der regionalen Kultur.

143

Spätestens um 1900 verschob sich Hölzeis Interesse an der Landschaftsmalerei von der realistischen Abbildung zu Formen der Abstraktion. Um 1905 wandte er sich gänzlich von seiner ehemaligen Zielvorstellung ab und konzentrierte sich auf die Erprobung abstrakter Farbklänge. Im gleichen Jahr verließ er Dachau, nachdem er einen Ruf an die Kunstakademie Stuttgart erhalten hatte. Er vollzog mit dieser Entwicklung zur ästhetischen Moderne die Verschiebung des Wahrnehmungsinteresses der bürgerlichen Künstler vom ländlichen Realismus zur Abstraktion mit, die die Stimmung des künstlerischen Subjekts zum eigentlichen Gegenstand der Darstellung erhob. Im Unterschied zu Dachau war Worpswede bis zur Entstehung der Künstlerkolonie völlig unbekannt. Aus den Quellen ist die Annäherung an den Ort gut belegt, da die Künstler sich in Briefen an Verwandte und Freunde mitteilten und im Tagebuch ein selbstreflexives Medium schufen 19 . Es begann zufällig: Die Tochter des Worpsweder Kaufmanns, die sich bei ihrer Tante in Düsseldorf aufhielt und dort Mackensen traf, lud diesen zu einem Besuch in ihr Elternhaus ein. 1884 fuhr der damals mittellose Student der Düsseldorfer Akademie in das abgelegene Dorf, 25 Kilometer von Bremen entfernt. Schon bei seiner Anreise beeindruckte ihn die nuancenreiche Landschaft des Teufelsmoors und die Ästhetik der Bauernhäuser. 1886 und 1887 wiederholte er den Besuch zu sommerlichen Studien. In einem Brief vom 17. August 1887 an Otto Modersohn beschrieb er die Eindrücke, die in Worpswede auf ihn einströmten. Es lohnt, diesen Text hinsichtlich der Wahrnehmungsperspektive des Künstlers zur Landschaft und ihren Menschen genau zu lesen: "Wie herrlich es hier ist, lieber Otto, kann ich Dir gar nicht beschreiben. Ach, wieviel großartiger ist doch diese Ebene gegen das Gebirge. Und wie originell ist erst diese Ebene mit allen ihren Eigentümlichkeiten! - Die Leute schon so zu sehen ist famos; nun denke Dir aber diese interessantesten Leute bei einem Missionsfest, tief andächtig unter freiem Himmel. Heute morgen fuhren wir per Wagen nach einem nahen Ort, und ich hörte bis 6 Uhr abends vier Prediger. - Das heißt, ich skizzierte während dieser Predigten die andächtigen Leute. Ich bin ganz selig, lieber Otto, in dem Gedanken, später ein Bild davon malen zu können. Morgen früh ziehe ich los und mache Studien zu einer Zeichnung, die Modelle sind die interessantesten, die ich mir denken kann. Mittags speisten wir mit 7 Pastoren am Tisch, von denen werde ich auch mehrere zeichnen. Landschaftlich ist die Gegend ungeheuer reizvoll; Strohdächer und leuchtend rote Ziegeldächer sind bunt durcheinander geworfen"20. Obwohl Mackensen von dem Gesehenen emotional berührt war, verstand er sich als Beobachter, der aus der Distanz des erkennenden Zeichners den optischen Eindruck in eine bildliche Form umzusetzen bemüht war. Seine Perspektive war mehrdimensional: Ihn begeisterte die religiöse Andacht der ländlichen Gemein-

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schaft, aber noch mehr seine Chance, eine derart eindrucksstarke Szene künstlerisch wiedergeben zu können. Bis 1895 arbeitete er dieses aus der Wahrnehmung der ländlichen Realität gewonnene Motiv zu einem großformatigen Gemälde aus. Erst zwei Jahre nach dem Erlebnis des Gottesdienstes im Moor entschied sich Mackensen dazu, über die Besuche im Sommer und Herbst hinaus den Ort zu seinem ständigen Aufenthaltsort zu machen. Otto Modersohn und Hans am Ende fühlten sich gleichfalls von den Lebens- und Arbeitsbedingungen des Ortes angezogen. Es bildete sich schnell eine kleine Gruppe aus diesen Malern, die sich in der wichtigsten Phase ihrer künstlerischen Entwicklung zusammenfanden. Etwas später schlössen sich Vogeler, Vinnen und Overbeck an 2 1 . Worpswede war damals ein "zurückgebliebener" Landstrich, den die industriell-technische Moderne noch nicht erreicht hatte, der geradezu als Gegenpol hierzu erfahren werden konnte. Die bis dahin in der Stadt ansässigen Künstler genossen dort die Intensität der Natur. Auch die Alltagskultur und die Lebensweise der Moorbauern und der armen Moorkolonisten schienen einem Bedürfnis nach schlichter "Ursprünglichkeit" und Konzentration auf die wesentlichen Bezüge des Lebens zu entsprechen. Die Arbeit der "Einheimischen" war hart. Das Torfstechen, der Transport des Torfes und die Arbeit an den Moorkanälen glich einem ständigen Ringen mit einer noch nicht "zivilisierten" Natur. Von dieser engen Beziehung der ländlichen Menschen zu ihrer Landschaft scheint eine romantische Faszination auf die bürgerlichen Künstler ausgegangen zu sein. Im Kontrast zu den "nervösen" Reizen der Städte wurde hier der Alltag von der Wechselwirkung von Ruhe und Intensität geprägt. In dem kleinen Ort entstand eine dialektische Spannung von Nähe und Distanz zwischen den Künstlern und den Menschen dieser Landschaft, die aber keineswegs selbstverständlich zum Bildsujet gemacht wurden. Am ausgeprägtesten stellte Mackensen die "einfachen Menschen" in naturalistischer Malweise als Subjekte ihres Alltagslebens dar: den Holzschuhschnitzer, die alte Frau beim Spinnen etc. Fritz Overbeck hingegen konzentrierte sich auf die Formen und die Einbettung der traditional-bäuerlichen Architektur in die Landschaft oder auf das Moor und verbannte die Menschen aus seinem Blick. Ein Beispiel für diese Wahrnehmung ist sein Gemälde "Im Moor" von 1904. Es baut auf dem Kontrast zwischen dem dunklen schweren Boden und einem ins intensive Blau gesteigerten Himmel auf. Die Pfützen spiegeln die weißen leichten Wolken. Birken und aufgeschichtete Torfhaufen geben figürliche Konturen und farbliche Kontraste. Das rostbraune Gras wirkt aufgrund leichter Züge zur Abstraktion dynamisch in den Landschaftsraum. Unter den Worpswedern war Paula Modersohn-Becker wegen ihrer in die Entwicklungsgeschichte der Moderne hineinreichenden Malweise und Bildauffas-

145

sung ein Sonderfall. Sie schloß sich der Gruppe zu einem Zeitpunkt an, als deren Anerkennung bereits stieg und sie sich eigene künstlerische Entfaltung versprechen konnte. Ihre Beziehung zu Otto Modersohn befriedigte sie in der Überschaubarkeit des Ortes nur teilweise. Die längeren Aufenthalte in der Metropole Paris waren ein Versuch, mit dem Spannungsverhältnis zwischen der zivilisatorischen Moderne der Großstadt und der traditional-ländlichen Ruhe des abgeschiedenen Dorfes umzugehen. Ihren Durchbruch als Künstlergruppe erlebten die "Worpsweder" auf der Münchner Kunstausstellung von 1895, auf der sie als eines der Saisonereignisse galten. Mackensens Gemälde "Gottesdienst im Moor" wurde von der konservativen Münchner Künstlergenossenschaft unter dem Vorsitz Lenbachs ausgezeichnet. Offenbar kamen die Worpsweder mit diesem Blick auf die Natur und die ländliche Lebenswelt dem romantischen Bedürfnis des Bürgertums am Sujet entgegen und überzeugten gleichzeitig durch die malerische Ausführung ihrer Bilder. Interessanterweise stellten sie nicht auf der gleichzeitigen Konkurrenzausstellung

der

Münchner Sezession aus, in der sich unter dem Präsidium des Dachauers Ludwig Dill die Opposition gegen die Kunstdiktatur des Akademismus

zusammen-

gefunden hatte. Die Gemeinschaft der Künstlergruppe beruhte auf dem gemeinsamen "Blick", der Wahrnehmung der ländlichen Lebenswelt und der Natur. Der Zusammenhalt der "Worpsweder" erschöpfte sich jedoch bereits 1902/03. 1903 verließ Vinnen die Vereinigung, 1905 zog Overbeck fort, 1909 nahm Mackensen einen Ruf an die Weimarer Akademie an. Die Künstlerkolonien von Dachau und Worpswede zählten um 1900 zu den bekanntesten, ihre Gesamtzahl in Deutschland lag aber wesentlich höher. In dem von Gerhard Wietek herausgegebenen Sammelband 2 2 sind insgesamt 18 Kolonien an Nord- und Ostsee, im Riesengebierge und um Frankfurt a.M. (Kronberg i. Taunus) erfaßt. Allein im Umkreis der damals noch unbestritten

führenden

"Kunststadt München" entwickelten sich Frauenchiemsee und Dachau, nach 1908 Murnau (für die Gruppe um Kandinsky) zu attraktiven Orten für Künstler auf dem Land. Die von der Münchner Akademie ausgehenden Sommerschulen in Brannenburg oder Ostenberg hatten schon vor der Jahrhundertmitte beachtliche Anziehungskraft ausgelöst. In den Künstlerkolonien grenzten sich die Künstlerindividuen trotz des Gruppenbezugs nahezu immer in ihrem malerischen Selbstverständnis voneinander ab, wenn auch die räumliche oder vielfach freundschaftliche Nähe in den Szenen befruchtenden und anregenden Austausch ermöglichte. Gemeinsame Treffpunkte bildeten sich überwiegend in Dorfgasthäusern, in denen gleichzeitig die Bauern verkehrten. Dort siedelten sich Stammtische an, manchmal auch Künstlergesell-

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schaffen in der aus der Stadt gewohnten Form bürgerlicher Geselligkeitsvereine, wie etwa in Ostenberg. Aus der autobiographischen Literatur zahlreicher Künstler der Kolonien von Dachau und Worpswede geht die Vorbildfunktion von Barbizon eindeutig hervor. So notierte Otto Modersohn an seinem 23. Geburtstag in sein Tagebuch: "In den seligsten Stunden in Soest, wenn ich von meinem Ideal träumte, standen Rousseau, Daubigny, Corot immer im Hintergrund"23. Daher verspricht der vergleichende Blick auf diese Künstlerkolonie einigen Ertrag, wenn man nach der dort entwickelten Thematisierung der neuen Sujets der ländlichen Lebenswelt fragt. Als malerisches Motiv war die Landschaft um Barbizon erst gegen 1800 entdeckt worden. 60 Kilometer von Paris entfernt gelegen, bot der Ort im Wald von Fontainebleau innovativen Künstlern vor allem zwischen 1840 und 1850 einen regionalen Bezug. Zum Zeitpunkt der Entstehung der deutschen Künstlerkolonien, dreißig bis vierzig Jahre später also, war Barbizon für die Generation von Mackensen und Modersohn bereits zum vorbildhaften Mythos aufgestiegen, an dem sie sich orientierten. Auch in Barbizon wirkte die Natur als Reiz, der die Wahrnehmungskraft der Maler herausforderte: Schluchten, weite Täler, Waldgebiete, liebliche Wiesen, Tiere und ländliche Menschen boten dem Auge spannungsreiche Abwechslung. Ähnlich wie später bei den Dachauern und Worpswedern wurden auch in Barbizon die Stimmungen der Natur zum Thema der künstlerischen Kreativität erhoben. Angesichts der Vielfalt der ländlichen Lebenswelt differenzierten sich auch die Blicke der Maler. Die Künstler von Barbizon verarbeiteten diese Natureindrücke in unterschiedlichen bildnerischen Formen. Insofern kann von einer Schule von Barbizon nicht gesprochen werden 24 . Maler wie z.B. Daubigny oder Theodore Rousseau beschäftigten sich vorwiegend mit der Landschaft und deren wechselnden Lichtverhältnissen. Jean-François Millet (1814-1873) hingegen wurde als "Bauernmaler" berühmt 25 . Er liebte die Ebene und zeichnete "vor der Natur", während die Gemälde selbst im Atelier entstanden. Sein Interesse galt dem bäuerlichen Alltag. Die Menschen wurden von ihm so ins Bild gesetzt, daß sie eine wuchtige statuarische Figürlichkeit an der Grenze zum Pathos erhielten. Ein Beispiel dafür ist "Der Baumpfropfer" (Le Greffeur) von 1885. Eine klare Komposition zeigt eine Bauernfamilie vor einem schlichten Bauernhaus. Der Mann pfropft gerade einem Baum einen Zweig ein, die Frau hält ein Kleinkind auf dem Arm und sieht der Arbeit anteilnehmend zu. Werkzeug und Holz liegen am Boden. Die symbolische Dimension dieser Inszenierung einer bäuerlichen Lebensgemeinschaft wurde als Hinweis auf die Fruchtbarkeit des Lebens interpretiert. Auch hier sind die einfachen ländlichen Menschen uneingeschränkt bildwürdig und gerade in ihrem Alltagsleben eine Quelle der Inspiration für den Maler. Zugleich wird ihre 147

Realität zu einer Metapher für die Einbettung in ein geschlossenes religiöses Weltbild verarbeitet. Wie sehr sich Millet als Interpret dieses Weltbildes sieht, macht er in einem Text deutlich: "Die Auffassung eines Gegenstandes ist die Hauptsache, und ihr muß sich alles fügen. Eine Atmosphäre muß das Ganze durchdringen. Wir sollten unsere Eindrücke direkt vor der Natur empfangen, welcher Art sie auch sein möchten, wie auch unser Temperament sei. Man muß von ihr erfüllt und gesättigt sein und nur das denken, was sie einem zu denken gibt. Man muß glauben, daß sie reich genug ist, um alles zu bestreiten. Und woher sollte man schöpfen, wenn nicht aus der Quelle? ... Der wahre Künstler hat die Mission, die Reichtümer der Natur, die er entdeckt hat, denen zu offenbaren, die die Sprache der Natur nicht verstehen ... Es ist ein unendlicher Hochmut oder eine unendliche Torheit, wenn der Mensch glaubt, er könne die sogenannten Fehler und den schlechten Geschmack der Natur verbessern. Was rechtfertigt diese Anmaßung? Vor denen, die ihre Schönheiten nicht lieben und verstehen, verschleiert die Natur ihr Antlitz, sie kann ihnen nur bedingt begegnen ... Da wir die Natur nicht verstehen, wollen wir sie aus Rache verleumden. Auf sie können die Worte des Propheten angewendet werden: Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. Die Natur gibt sich rückhaltlos denen, die nach ihr verlangen, aber sie ist eine eifersüchtige Herrscherin und will allein geliebt sein ... Dem Menschen steht das ganze Arsenal der Natur zur Verfügung, und sein Geist macht sie nutzbar. Hat nicht jedes Ding in der Schöpfung seinen Platz und seine Stunde? Wer kann behaupten, eine Kartoffel sei geringer als ein Granatapfel? II faut bien sentir. Wer auf andere wirken will, muß selbst empfinden, oder sein Werk wird, so überlegt es sein mag, kein Leben atmen, sondern dem tönenden Erz und der klingenden Schelle gleichen

III.

26

.

Es bleibt nach den Kriterien zu fragen, die den Ausdruck "bürgerliche

Künstler" rechtfertigen. Einen Anhaltspunkt bietet die soziale Herkunft der Maler, die eine überwiegende Zugehörigkeit zum Bürgertum ausweist. Unter den Worpswedern gab es einen hohen Anteil von vermögenden Bürgersöhnen 2 7 . Fritz Overbeck entstammte einer wohlhabenden Bremer Familie, sein Vater war erster technischer Direktor des Norddeutschen Lloyd. Hans am Endes Vater war Militärpfarrer. Heinrich Vogeler kam aus einer gutsituierten und gebildeten Bremer Kaufmannsfamilie, was ihm ermöglichte, sich das Anwesen Barkenhoff zu kaufen. Sein Wissen als Geschäftsmann ermöglichte ihm, die von ihm entworfenen kunstgewerblichen Produkte mit dem wachsenden Ruf der Künstlerkolonie geschickt zu vermarkten. Dem für die Generation um 1900 typischen weiten Gestaltungsbegriff entsprechend betätigte er sich als Maler, Architekt, Möbeldesigner und Buchgestalter. Lediglich Mackensen verfügte über keinen bürgerlichen Hintergrund. Er konnte die ersten Jahre des Studiums an der Düsseldorfer 148

Akademie nur über einen Freitisch durchstehen, bis er das mütterliche Erbteil eines Freundes bei dessen Ableben erbte. Unter den bedeutenderen Dachauer Malern überwog gleichfalls das bürgerliche Herkommen; beispielsweise war Holzel Sohn eines Verlagsbuchhändlers 28 , Arthur Langhammer Sohn eines Kreisgerichtssekretärs 29 . Ein ähnlicher Befund ergibt sich bei den bekannteren Künstlern von Barbizon. Daubigny war der Sohn eines Landschaftsmalers, Constant Toyon Sohn eines Porzellanmalers, Jules Dubrés Vater war Porzellanfabrikant; Jean-François Millet allerdings stammte von normannischen Bauern ab, woraus sich sein starker emotionaler Bezug zu den ländlichen Menschen und ihrer Arbeit erklärt. Auch wenn die elterlichen Vermögen eine gewisse Unabhängigkeit schufen, war der Verkauf der Bilder bei den Künstlern gleichwohl ein ökonomisch erwünschtes Ziel. Wie sehr die "Autonomie" der Kunst und die Realitäten des Kunstmarktes ineinandergriffen, ist sogar bei Wilhelm Leibi zu sehen. Obwohl ihm die Entwicklung einer "reinen Malerei" (Ruhmer) zugeschrieben wird, die sich nicht gegenüber ihren Auftraggebern oder Publikum legitimiert, sondern ausschließlich an der ästhetischen Sprachlichkeit des Bildmediums selbst mißt, war er - trotz seines zurückgezogenen Lebensstils im Alpenvorland - auf ausreichende Einkünfte angewiesen. Leibi suchte diese sowohl durch gelegentliche Porträtaufträge als auch über die Preise seiner Bilder zu erzielen. Beispielsweise wollte er zunächst die "Drei Frauen in der Kirche" nicht unter 100 000 Mark verkaufen, weil während der dreijährigen Arbeitsphase erhebliche Kosten für die Modelle angefallen waren. Da die Leibische Malerei auf dem Kunstmarkt der 1880er Jahre jedoch beim deutschen Publikum nach wie vor keine angemessene Anerkennung fand, mußte er seine Preisvorstellung schließlich um mehr als die Hälfte reduzieren, um das Bild verkaufen zu können. Als ein wesentliches Merkmal der sozialgeschichtlichen Stellung dieser Künstler muß der Umstand bewertet werden, daß sie als selbständige Verkäufer ihrer Bilder auf dem Kunstmarkt auftraten. Die Anerkennung durch Fachleute, durch Kunstkritiker und Käufer setzte jedoch die überindividuelle Akzeptanz der angebotenen Sehweise voraus, die sich bei der Präsentation im Medium der Ausstellungen erweisen mußte. In diesem Zusammenhang liegt die kulturelle Funktion der Künstler: Ihre Kompetenz zur Formung des "Blickes" im Medium der Malerei prägte die Bildvorstellungen des Bürgertums von der ländlichen Lebenswelt. Die überwiegend bürgerliche Herkunft der Künstler und die Akzeptanz ihrer Sehweisen durch das bürgerliche Publikum legitimiert somit die Einordnung dieser Bildproduzenten als bürgerliche Künstler. Der Zeitpunkt der Entstehung des neuen "Blickes" bedarf einer umfassenderen kulturgeschichtlichen Erklärung. Er ist mit Entwicklungstendenzen verbunden, die

149

in zwei sich spezialisierenden Wissenschaftsfeldern zum Ausdruck kommen, der Naturwissenschaft und der Volkskunde. Mit der Durchsetzung des technisch-industriellen Weltbildes im Verlauf des 19. Jh. gewann die Naturwissenschaft auch gesamtkulturell an Gewicht. Die damit entwickelten Paradigmen zur immer differenzierteren Erkenntnis und Aneignung der Natur formten in erheblicher Weise das Weltbild des Bürgertums 3 0 . Auch für die Maler von Dachau und Worpswede bildete die Erkundung der Natur, die Veränderung der Landschaft und der Objektwelt durch Regen, Dunst, Nebel und jahreszeitliches Wachstum einen wichtigen Aspekt der Wahrnehmung. Die Natur sollte im ästhetischen Prozeß "wahr" dargestellt werden. Die Künstler richteten ihre Staffelei "vor der Natur" ein. Sie vertrauten auf ihren individuellen Blick. Dabei glich die experimentelle Wahl des Standortes und die Perspektive einer Versuchsanordnung, mit der die Farbnuancen, die Formen und die ästhetische Wertigkeit der Hell-Dunkel-Kontraste, wie sie die Natur zu einem bestimmten Zeitpunkt aufwies, eingefangen werden sollten. Otto Modersohns Gemälde "Die Wolke" von 1890 ist ein anschauliches Beispiel für die Dominanz naturwissenschaftlicher Erkenntniskriterien beim Versuch der Gestaltung des Blickes mit bildnerischen Mitteln. Noch einige Jahre später notierte er in einem Tagebucheintrag vom 27. Februar 1895 seine Auffassung vom Zusammenhang zwischen seinem naturwissenschaftlichen Grundverständnis und dem Vorgehen als Maler: "Die Natur zeigt überall ein Wesen, eine Erscheinung, die mit Menschenwerk nichts zu tun hat. Dem muß der Maler Ausdruck geben. Das Bild muß ähnlich entstehen, wie die Natur selbst, möchte ich sagen. So kann etwas entstehen, was der Natur in etwa ebenbürtig verwandt ist ... man muß die Gesetze studieren, kennenzulernen suchen, nach denen in der Natur sich Farbe und Form gestalten. Die Natur im ganzen erfassen ... in der Natur liegt das große Urgesetz, aus dem der Künstler schöpft" 31 . Der erkundende Blick auf ein Gegenstandsfeld und dessen ästhetisierende Gefühls- und Stimmungsaufladung wurde in zahlreichen ungewöhnlichen Ausschnitten und damit noch nicht verbrauchten Sehweisen erprobt, die uns die Formenwelt einer Landschaft mit Bäumen, Wasser und Vegetation vor Augen bringt. Als exemplarisch für diesen Blick kann das Gemälde "Birken an der Amper im Dachauer Moos" von Ludwig Dill gelten 3 2 . Eine strenge Komposition schuf mittels des Bildausschnitts eine Perspektive, die Bäume in einer monumentalen Wirkung ihrer Formen zeigt. Die Landschaftsatmosphäre wurde in silbrig-goldbraunen Abstufungen zu klangartiger Stimmigkeit gebracht. Mit der Wahl der neuen Bildmotive vollzog sich also eine Öffnung der Wahrnehmungsmuster: Die Naheinstellung auf Baum- und Tümpellandschaften und die Erhebung "einfacher Menschen" und ihres kulturellen Habitus zur Bildwürdigkeit bedeutete die Abkehr von den Normen des Akademismus.

150

Eine weitere Schicht dieser Malerei kann aus der Einbindung der Künstler in die allgemeine Tendenz des Bürgertums erklärt werden, die ländliche Lebenswelt neu wahrzunehmen. In der Folge der massiven Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jh. entwickelte sich eine " G r o ß s t a d t f e i n d s c h a f t d i e dialektisch hierzu ein mildes Licht auf die Reste der ländlich-traditionalen Kultur warf. Diese projektive und ästhetisierende Bedeutungsaufladung stellte eine Reaktion auf die fortschreitende Industrialisierung und Rationalisierung der Alltagskultur in den Städten dar. J e kulturell ferner das Bürgertum von den Inseln der vorindustriellen Lebensform lebte, desto mehr konnte aus der Distanz die Kultivierung dieses Blickes stattfinden. So gewann die Volkskunde nicht zufällig in den 1880er Jahren an Gewicht, vor allem W.H. Riehl unterstützte dieses verklärende Projektionsbedürfnis. Die Ästhetisierung des Blickes auf die ländliche Lebenswelt hatte ihre Voraussetzungen in einer kulturellen Wahrnehmungsbereitschaft. Den Erfahrungshintergrund bildete beispielsweise der Unterschied zwischen der mit der Mode schnell wechselnden Kleidung des städtischen Bürgertums und der mit Tradition codierten Tracht, die - in regionaler Differenzierung - die Bindung an Heimat zu signalisieren schien und in diesem Kontext als Chiffre für "Geborgenheit" gelesen wurde. Diese Bedeutungsaufladung der Tracht korrespondierte mit den emotionalen "Kosten" der bürgerlichen Individualisierung. Die kulturelle Funktion der Maler lag darin, auch dieser Perspektive des Bürgertums eine Bildform zu geben. Der erlebte Gegensatz zwischen den "nervösen" Reizen der städtischen Moderne und der Überschaubarkeit der ländlichen Lebenswelt fand seinen symbolischen Ausdruck darin, daß die porträtierten ländlichen Menschen meist in religiös überhöhten Gesten der Ruhe gezeigt wurden. Unübersehbar bleibt jedoch die kulturelle Distanz zwischen den bürgerlichen Künstlern und den bäuerlichen Menschen. Sofern sie Modell saßen, blieben sie Objekte der Beobachtung, die bezahlt wurden, als eine Stimulans im Prozeß der Bildentstehung. In einem über die Künstlerkolonien hinausreichenden Zusammenhang vollzog sich seit den 1880er Jahren jedoch eine Wahrnehmungsöffnung zur Bildwürdigkeit der Unterschichten. Die neuen Sujets der sog. Arme-Leute-Malerei zeigten die ländlichen Menschen auch illusionslos. Ein Beispiel dafür ist "Der Austräglerin Ende" von Carl Johann Becker-Gundahl. E r malte eine alte Frau auf dem Totenbett. Das Bild verzichtet auf jede ästhetische Beschönigung und vermittelt die Härte des Lebens alter Menschen auf dem Lande, sofern sie arm waren. Nach 1900 festigte sich der verklärende Heimatbegriff, der die Romantisierung und Rückgewinnung der geschlossenen "heilen" Welt der überkommenen altständischen Kultur propagierte. In der deutschnationalen Subkultur verstärkte sich im Verlauf der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jh. der projektive Bezug zum bäuer-

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liehen Leben, als scheinbare Alternative zur Industriegesellschaft. Im Gefolge der Bedeutungsverschiebung zu einer politischen Semantik gewann der Blick auf die ländliche Lebenswelt auch eine andere Qualität, wie sich beispielhaft an Mackensen verfolgen läßt, der die nationalsozialistische Apologie des heroischen Stereotyps im Kontext der Volkstumsideologie in den 1930er Jahren mitvollzog.

Anmerkungen 1

Aus diesem Ansatz ergibt sich ein relativierender Widerspruch zur Autonomie-These der Kunstgeschichte. Statt dessen geht es um die Analyse der ästhetischen Produktion in ihren kultur- und sozialgeschichtlichen Bezügen.

2

Dabei ist weniger von Gemälden, sondern überwiegend von Drucken, billigen Reproduktionen und vereinzelt von Fotografien auszugehen. Vgl. Brückner, W., Die Bilderfabrik. Dokumentation zur Kunst- und Sozialgeschichte der industriellen Wandschmuckherstellung zwischen 1845 u. 1973 am Beispiel eines Großunternehmens, veranstaltet vom Institut f. Volkskunde der Universität Frankfurt a.M. und dem Historischen Museum Frankfurt a.M. 1973; ders., Elfenreigen Hochzeitstraum. Die Öldruckfabrikation 1880-1940. Mit einem Beitrag von W. Stubenvoll, Köln 1974.

3

Daß die Wahrnehmungsmuster keineswegs so individuell sind wie der Individualitätsmythos der bürgerlichen Künstlerrolle behauptet, ergibt sich nicht nur aus der Gattungstradition, sondern auch aus kulturellen Wahrnehmungsmustern, deren Grenzen allenfalls erweitert werden. Vgl. zum Problem der Sujets und ihrer Bedeutungen: Bourdieu, P., Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie, Frankfurt a.M. 1981; ders., Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M. 1984.

4

Vgl. zu den Übergängen: Münchner Landschaftsmalerei 1800-1850, Katalog der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München 8. März bis 20. Mai 1979, hg. von A. Zweite; ferner: Eberle, M., Individuum und Landschaft. Zur Entstehung und Entwicklung der Landschaftsmalerei, Gießen 19863; Bätschmann, O., Entfernung der Natur. Landschaftsmalerei 1750-1910, Köln 1989; Geller, H., 150 Jahre deutsche Landschaftsmalerei. Ihre Entwicklung von 1800 bis zur Gegenwart, Erfurt 1951; Wichmann, H., Meister - Schüler - Themen. Münchner Landschaftsmalerei im 19. Jh., Herrsching 1981.

5

Wichmann, H., Meister, S. 14.

6

Zu Frauenchiemsee vgl. Sailer, A., Frauenchiemsee in Oberbayern, in: Wietek, G. (Hrsg.), Deutsche Künstlerkolonien u. Künstlerorte, München 1976, S. 28 ff.

7

Ein hochinteressantes frühes Gegenbeispiel ist das Bild "Der rote Schirm" (1860), mit dem der junge Franz Lenbach noch mit "modernen" Wahrnehmungsmöglichkeiten experimentierte. Allerdings dominierte zu diesem Zeitpunkt noch seine eigene Sozialisation auf dem Lande um Schrobenhausen. Er wurde seit den späten 1860er Jahren zum Protagonisten der altmeisterlichen Malerei. Vgl. Ranke, W., Franz von Lenbach, Köln 1986; ders., Franz von Lenbach 1836-1904, Katalog der Städtischen Galerie im Lenbachhaus München, 1986/87.

8

Zusammenfassend: Kandinsky und München. Begegnungen und Wandlungen 1896-1914, Katalog der Städtischen Galerie im Lenbachhaus München, hg. v. A. Zweite, München 1982.

9

Langer, A., Wilhelm Leibi, Leipzig 1961; Keller, H., Wilhelm Leibi. Ein Kölner Maler in Bayern, Köln 1980. 152

10 Vgl. Herding K., (Hrsg.), Realismus als Widerspruch. Die Wirklichkeit in Courbets Malerei, Frankfurt a.M. 1978; Courbet in Deutschland, Ausstellungskatalog der Hamburger Kunsthalle 1978, hg. v. W. Hofmann in Verbindung mit K. Herding; vgl. auch zur Entwicklung in Deutschland die begriffliche Untersuchung zu Realismus/Naturalismus von Schmoll, gen. Eisenwerth, in: Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jh., Bd. 1, hg. von H. Koopmann u. J.A. Schmoll, gen. Eisenwerth, Frankfurt a.M. 1971. 11 Wilhelm Leibi und sein Kreis, Ausstellungskatalog der Städtischen Galerie im Lenbachhaus München 25. Juli bis 29. September 1974, hg. von M. Petzet, München 1974. 12 Miller, N., Flachsenfingen statt Paris. Französischer und deutscher Realismus im 19. Jh., in: K. Gollwitz u. K. Herding, Malerei u. Theorie. Das CourbetColloquium 1979, Frankfurt a.M. 1980, S. 227 ff. 13 Vgl. Ruhmer, E., Der Leibl-Rreis u. die Reine Malerei, Rosenheim 1984, S. 9. 14 Dachau zusammenfassend: Thiemann-Stoedtner, O., Dachauer Maler. Der Künstlerort Dachau von 1801-1946, Dachau 1981; Venzmer, W., Dachau bei München, in: Wietek, G. (Hrsg.), Künstlerkolonien, S. 46 ff. 15 Stoss, I. u. Dorner, P., Die Amperauen bei Pollenhof. Ein Dachauer Malermotiv, in: Amperland, Jg. 14, 1978, S. 343-345. 16 Brückner, B., Die alte Dachauer Frauentracht in ihren Originalquellen, in der trachtenkundlichen Literatur u. in verwandten regionalen Ausprägungen, in: Amperland, Jg. 7, 1971, S. 213-216. 17 Etwa fünfzig Künstlerinnen konnten sich so entfalten, daß sie später in Verbindung mit der Dachauer Malerei namentlich gewürdigt wurden; vgl. Thiemann-Stoedtner, O., Dachauer Maler, S. 40. 18 Venzmer, W., Neu-Dachau. 1895-1905. Ludwig Dill, Adolf Holzel, Arthur Langhammer in der Künstlerkolonie Dachau, Ausstellungskatalog Dachau 1984. 19 Vgl. Worpswede. Eine deutsche Künstlerkolonie um 1900, Ottersberg-Fischerhude, 1986; Kirsch, H.-Chr., Worpswede. Die Geschichte einer deutschen Künstlerkolonie, München 1987; Boulboulle, G. u. Zeiss, M., Worpswede. Geschichte eines Künstlerdorfes, Köln 1989. 20

Zit. nach Worpswede. Eine deutsche Künstlerkolonie, S. 12.

21

Weltge-Wortmann, S., Die ersten Maler in Worpswede. (Eine Biographie des Künstlerdorfes), Worpswede 1979; Worpswede. Aus der Frühzeit der Künstlerkolonie. Ausstellungskatalog der Kunsthalle Bremen 1970.

22

Wietek, G. (Hrsg.), Künstlerkolonien; vgl. auch Wiederspahn, A., Die Rronberger Malerkolonie, Frankfurt a.M. 1976.

23

Zit. nach: Worpswede. Eine deutsche Künstlerkolonie, S. 12.

24

Vgl. Zurück zur Natur. Die Künstlerkolonie von Barbizon. Ihre Vorgeschichte und ihre Auswirkungen, Ausstellungskatalog der Kunsthalle Bremen 1978; Bühler, H.-P., Die Schule von Barbizon. Französische Landschaftsmalerei im 19. Jh., München 1979; vgl. ferner die Kataloge der internationalen Ausstellungen, zuletzt: The John Tillotson Bequest. Paintings and Drawings of the Barbizon School, Fritz William Museum Cambridge 1986.

25

Zusammenfassend: Busch, G., Millet, in: Zurück zur Natur. Die Künstlerkolonie von Barbizon.

26

Zit. ebd., S. 59 f.

27

Angaben nach: Worpswede. Eine deutsche Künstlerkolonie, passim.

28 Thiemann-Stoedtner, O., Dachauer Maler, S. 220.

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29 Ebd., S. 243. 30 Zum Zusammenhang von naturwissenschaftlich-technischen Innovationen und der ästhetischen Produktion vgl. Asendorf, Chr., Ströme u. Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1989. 31 Zit. nach: Worpswede. Eine deutsche Künstlerkolonie, S. 134. 32 Diese Sehweise ist insbesondere für die zu Beginn der 1890er Jahre einsetzende Naturwahrnehmung charakteristisch; vgl. Dürr, B., Kunst u. Künstler in Dachau u. im Amperland 1890-1930, Ausstellungskatalog Haimhausen 1981/82. 33 Vgl. Bergmann, K., Agrarromantik und Großstadtfeindlichkeit, Meisenheim am Glan 1970.

Kai Detlev Sievers

Kriegervereine als Träger dörflicher Festkultur in Schleswig-Holstein

Neueste Forschungen haben ergeben, daß unter den vielen Vereinen während des Zweiten Deutschen Kaiserreiches keiner eine solche Massenbasis erreichte wie der Kriegerverein 1 . Es gab wohl kaum eine deutsche Stadt, in der er nicht vertreten war. Aber auch auf dem Land waren Veteranenverbände zahlreich. Im Zusammenhang mit der Gesamtthematik dieses Buches taucht daher die Frage auf, welche Rolle diese ursprünglich stadtbürgerlichen Zusammenschlüsse, die nach Aufbau und Zwecksetzung eindeutig dem Typus des bürgerlichen Vereins zuzuordnen sind, im Dorf gespielt haben und welcher Art ihr Einfluß auf die dörfliche Gruppenkultur gewesen ist. Die Entstehungsgeschichte des Vereinswesens hängt bekanntlich aufs engste mit dem Zeitalter der Aufklärung zusammen, in dem bürgerliche Kräfte, vom Gedanken des Naturrechts ausgehend, die bis dahin geltenden ständischen Ordnungsstrukturen ins Wanken brachten. Überlieferte korporativ-genossenschaftliche Vereinigungen wie Gilden, Zünfte, Nachbarschaften und schließlich auch das Institut des "Ganzen Hauses" wurden nun überwunden. An ihre Stelle trat das Ideal der freien, privaten, vertraglich vereinbarten Assoziation aufgeklärter Menschen, für die allein Bildung und Leistung maßgeblich waren. Aus diesen Ideen entwickelten sich am Ende des 18. Jh. jene sog. Gesellschaften, die wie die Hamburger Patriotische Gesellschaft von 1765 gemeinnützigen Zwecken diente 2 . Im Laufe des 19. Jh. entfaltete sich ein äußerst differenziertes Vereinswesen als neues Prinzip der Vergesellschaftung. Man hat in diesem Zusammenhang vom Verein als Strukturprinzip der bürgerlicher Gesellschaft des 19. Jh. schlechthin gesprochen 3 . Es kann daher wohl kaum einem Zweifel unterliegen, daß das Vereinswesen entwicklungsgeschichtlich aus der Stadt hervorging und zur typischen Ausdrucksform der neuen Urbanen Lebensform wurde 4 . Vereine stellten die dominante bürgerliche Organisationsform dar. Allenthalben schössen Freizeit-, Geselligkeits- und Kulturvereine wie Pilze aus dem Boden. Sie beschleunigten dadurch einerseits den Prozeß der Individualisierung, Dekorporierung und Emanzipation, halfen aber andererseits, verlorengegangene zwischenmenschliche Bindungen neu zu knüpfen und emotionale Bedürfnisse zu befriedigen 5 . Gerade angesichts der zunehmenden Entfremdung des Menschen im Zuge des Industrialisierungsprozesses wurden sie dringend notwendig. Wenn der Ursprung des Vereins demnach in städtischen Lebensformen zu sehen ist, so blieb das Vereinswesen doch keineswegs auf die Stadt beschränkt 6 . Denn im 19. Jh. gab es schon relativ früh, d.h. in den dreißiger Jahren, erste Ver-

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eine auch auf dem Land. Das waren vor allem agrarwirtschaftliche Vereinigungen, die von Adeligen, Pfarrern und Bürgerlichen gegründet wurden, die aber häufig noch bäuerliche Mitgliedschaften ausschlössen7. Es ist nicht ganz einfach herauszufinden, wann der Vereinsgedanke auf dem Land sozusagen flächendeckend Fuß faßte und unter welchen Voraussetzungen bzw. wie die bürgerliche Vereinskultur in den Dörfern rezipiert wurde. Gewiß hing das von den jeweiligen sozialen und ökonomischen Bedingungen des Ortes ab. Man kann vermuten, daß es stadtorientierte, der Modernisierung gegenüber aufgeschlossene Kräfte waren, die den Vereinsgedanken aufs Land trugen. Ernst Wallner hat für den Landkreis Heidelberg festgestellt, daß bestimmte sozialaktive Persönlichkeiten wie Pfarrer, Lehrer, Bürgermeister, Fabrikanten und städtische Zuzügler Vereine nach städtischem Vorbild in Dörfern gründeten und damit akkulturationsfördernd im Sinne des städtischen Vorbildes wirkten 8 . Dabei wird man davon ausgehen müssen, daß Vereinsgründungen zunächst auf beträchtliche Schwierigkeiten stießen. Denn ein intaktes Bauerndorf hatte solange kein Bedürfnis nach einer neuen Form organisierter Gesellung, wie die vorhandenen gruppenhaften Zusammenschlüsse von Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Burschen- und Mädchenschaften ihre sozialen Funktionen erfüllten. Je kleiner der Ort war, desto eher dürfte das der Fall gewesen sein, und auch die räumliche Entfernung von der Stadt wird eine Rolle dabei gespielt haben. Erst mit der zunehmenden Differenzierung der dörflichen Sozialstruktur unter dem Einfluß der Stadtnähe und durch die Übernahme bürgerlicher Wirtschaftsweise und -rationalität sowie urbaner Sachgüter bahnte sich zunächst an der Peripherie rein ländlicher Gebiete ein Wandel an 9 . Erleichternd wirkte sich der Umstand aus, daß dörfliche Nachbarschaften ihrer Organisationsform nach Vereinen strukturell nahe standen 10 . Wallner hat abermals für den Landkreis Heidelberg beschrieben, welche Vereine im Laufe der Zeit auf das Land vordrangen. Das waren zunächst Lesegesellschaften, seit der Mitte des 19. Jh. Gesangvereine, ab 1865 Freiwillige Feuerwehren, weniger Musikvereine. Gegen Ende des Jh. kamen in Gemeinden mit überwiegend nicht-bäuerlicher Bevölkerung Sport- und Turnvereine dazu. Für sein Untersuchungsgebiet hat er einige wesentliche Faktoren herausgearbeitet, die für die Diffusion bürgerlicher Vereine maßgeblich waren und die sich mit Einschränkungen wohl verallgemeinern lassen. Danach galten als vereinsfördernd: Stadtnähe, gute Verkehrsverbindungen zu städtischen Innovationszentren und Dörfer mit einer Einwohnerzahl nicht unter 600. Außerdem war es von Vorteil, wenn die bäuerliche Bevölkerung nicht dominierte, weil gerade sie an traditionellen Formen der Gesellung festhielt. Denn selbst wenn Bauern zunehmend agrarkapitalistisch wirtschafteten und Mitglieder landwirtschaftlicher Genossenschaften wurden, so bewahrten sie doch gern ihren traditionellen Stil z.B. im Heiratsverhalten und ge-

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genüber Familie und Nachbarschaft 11 . Dagegen bevorzugten in Handwerk und Gewerbe Tätige die Geselligkeit des Vereinslebens. Zusammenfassend kann man sagen, daß sich auf dem Lande der bürgerliche Verein im Laufe des 19. Jh. als bestimmende sozialintegrative Organisation allmählich weitgehend durchsetzte. Er trug damit wesentlich zu einer andersartigen Wertevermittlung bei und half, die neuentstehende Kontinuität der "Dorfkultur" zu wahren 1 2 . Wenn hier von Werten die Rede war, so sind damit nicht nur die traditionellen bürgerlichen Normvorstellungen gemeint, sondern auch und vor allem jene leitbildhaften politischen Ideen des 19. Jh., die wir als nationalen Gedanken bezeichnen. Er spielt im Vereinsleben dieser Zeit eine zentrale Rolle. Das soll an einem markanten Beispiel demonstriert werden: An den Kriegervereinen. Sie waren in Stadt und Land Träger einer nationalistisch-militaristischen Ideologie, die in ganz besonderem Maße zur Indoktrination der Bevölkerung des Zweiten Deutschen Kaiserreiches beitrug. In Schleswig-Holstein war insofern eine besondere Situation gegeben, als hier nach der unglücklich verlaufenden Erhebung von 1848/50 gegen Dänemark sehr bald das Bedürfnis nach Zusammenschlüssen ehemaliger Soldaten entstanden war. Die Mehrzahl der Gründungen setzte unter dem Einfluß der augustenburgischen Bewegung ein. Sie trat vehement für einen selbständigen Staat Schleswig-Holstein ein und bediente sich in der politischen Auseinandersetzung mit Preußen vor allem der Kampfgenossenverbände. Diese fanden in den Städten rasche Verbreitung. Auf dem Lande, wo damals noch 70% der Bevölkerung lebten, waren die Kriegervereine nur mit 28% ihrer Mitglieder vertreten. Das Kriegervereinswesen konzentrierte sich deutlich auf die 26 mittleren und kleinen Städte in den Herzogtümern. Übrigens belief sich die Gesamtzahl der Mitglieder 1869 bei einer Bevölkerung von knapp einer Million Menschen nur auf 7.813. Das waren nur 0,78% 13 . Warum gab es in Schleswig-Holstein zu dieser Zeit so auffallend wenige Kampfgenossenverbände auf dem Land? Die Gründe liegen sicherlich in dem geringen Urbanisierungsgrad der vorwiegend agrarisch geprägten Region, und insofern stellt die geringe Verbreitung der Kriegervereine auf den Dörfern geradezu einen Indikator für den niedrigen Grad der Verbürgerlichung dar, den die ländlich geprägten Gebiete in den Herzogtümern bis dahin erreicht hatten. Die Diffusion der Veteranenvereine läßt erkennen, daß sie von den Städten ausgehend zunächst Ortschaften mittlerer Größe von 1.000 bis 3.000 Einwohnern erreichte, also kleine Städte und Flecken 14 . Dieses Phänomen erklärt sich dadurch, daß das soziale Beziehungssystem hier überschaubar war. Die Eingesessenen besaßen von Kindheit an enge soziale Kontakte untereinander. Man sah sich fast täglich auf der Straße, bei der Arbeit oder anläßlich privater und öffentlicher Zusammenkünfte, z.B. auf Festlichkeiten. Das persönliche Gespräch war also jederzeit möglich. Die in diesen

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Gemeinden lebenden Angehörigen des Besitz- und Bildungsbürgertums wie Kaufleute, Handwerker, Apotheker, Ärzte, Lehrer und mittlere Beamte konnten als lokale Führungsschicht das enggeknüpfte Kommunikationssystem nutzen und die Urbanisierung des Ortes durch Vereinsgründungen vorantreiben. Auf diese Kreise war denn auch im wesentlichen die Gründung der lokalen Kampfgenossenvereine zurückzuführen 15 . Erst nach dem Deutsch-Französischen Krieg kam es zu einem wahren Boom von Kriegervereinsgründungen. Sie beruhten auf dem Bedürfnis, gemeinschaftlich erlebte und durchlittene Gefahren und Lebensbedrohungen des Krieges zu bewältigen und das neugewonnene Gefühl der Kameradschaft zu erhalten, aber auch soziale Solidarität zu pflegen und sich in Notsituationen beizustehen. Als die Erinnerungen an die Kampfhandlungen allmählich zur Legende verblaßten, trat an ihre Stelle das gemeinsam durchgestandene Schicksal einer mehrjährigen harten militärischen Ausbildung in von der Heimat weit entfernten Garnisonsstädten. Was den jungen Wehrpflichtigen dort zwangsweise an militärischen Verhaltensweisen eingedrillt worden war, hatte zwar wenig mit bürgerlichen Idealen wie Freiheit und Selbstbestimmung zu tun. Aber inzwischen hatte sich eine entscheidende Veränderung im bürgerlichen Wertbild ergeben. Mit der Reichsgründung war die von weiten Teilen des Bürgertums erstrebte Einigung Deutschlands erreicht worden, und an die Stelle des Anspruchs auf gestaltende politische Mitwirkung trat kompensatorisch die Begeisterung für den nationalen Gedanken und Deutschlands Größe. Der Dienst fürs Vaterland in des Königs Rock war namentlich in Preußen zu einer hohen bürgerlichen Tugend geworden. Keine Organisation aber war geeigneter, diesen Gedanken zu pflegen, als die Kriegervereine. Da die militärische Ausbildung in der Regel in Städten stattfand, stellte die Militärdienstzeit für viele junge Männer vom Land oft den ersten, meist auch den einzigen längerdauernden Ausflug ins Urbane Leben dar, der sie mit bürgerlicher Kultur und Lebensweise in Berührung brachte. Wenn man bedenkt, daß viele Männer vom Land Wehrdienst geleistet hatten, wird klar, daß sich den Kriegervereinen ein weites Rekrutierungsfeld für Mitgliedschaften bot. War es nach der gerade für die ländliche Gesellschaft noch geltenden patriarchalischen Ordnung ohnehin üblich, daß sich nur Männer am Vereinsleben beteiligten, ergab die Natur der Sache, daß in Veteranenverbände lediglich aufgenommen wurde, wer gedient hatte. Damit besaßen diese Vereinigungen einerseits eine gewisse Exklusivität gegenüber anderen, und das entsprach durchaus bäuerlichem Denken. Auf der anderen Seite herrschte im Kriegerverein wie in den meisten Vereinen das bürgerliche Egalitätsprinzip, das zumindest formal die sozialen Grenzen zwischen den Mitgliedern aufhob. Hofbesitzer und Landarbeiter, die doch im dörflichen Kosmos sonst Welten voneinander trennten, befanden sich hier auf gleicher gesellschaftlicher Ebene. Auch dies war ein Stück Verbürgerlichung des Dorfes.

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Die Verbreitung des Kriegervereinswesens auf dem Lande verlief regional unterschiedlich. Während Gerhard Birk für die Magdeburger Börde nachweisen kann, daß sich die ersten Kampfgenossenvereine nicht in den vier Städten des Kreises Wanzleben bildeten, sondern in Dörfern mit vorwiegend bäuerlicher Bevölkerung 16 , sah es in Schleswig-Holstein anders aus. Zwar beteiligte sich das flache Land nach 1871 mehr als zuvor an Vereinsgründungen, aber die Zentren lagen doch in Kleinstädten, Flecken und größeren Dörfern 1 7 . Mit der Ausbreitung von Vereinen auf dem Lande gelangten auch deren kulturelle Objektivationen in die Dörfer. Das waren vor allem ein bestimmter Wertekanon und dessen Reflexion in Einstellungen und Verhaltensweisen. Nun wäre es gewiß falsch davon auszugehen, daß die städtische Vereinskultur bruchlos akzeptiert wurde. Ernst Wallner hat vielmehr überzeugend dargelegt, daß eine "landgemeindespezifische Rezeption 1 8 stattfand. Denn schließlich stellte die dörfliche Lebenswelt kulturell kein Vakuum dar, sondern hielt eine Menge Handlungsmuster bereit, die an feste Regeln gebunden waren. Das agrarisch bestimmte Dasein kannte eine Fülle von sach- und termingebundenen Brauchformen, deren Einhaltung je nach Konformität und Verbindlichkeit mehr oder minder strengen Sanktionen unterlag 19 . In dieses von Familie, Nachbarschaft und Verwandtschaftsverhältnissen dominierte Netzwerk fügte sich der Verein mit seinen familien- und schichtenübergreifenden Strukturen und seinen liberalen Grundvorstellungen behutsam ein. Das ist ihm relativ schnell gelungen. Allerdings wissen wir wenig über Konflikte und Spannungen zwischen den traditionellen Trägergruppen und den Vereinen. Daß sich gerade Kriegervereine schon bald einen festen Platz im dörflichen Leben eroberten, hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß sie auf vorhandene traditionelle Verhaltensweisen zurückgreifen konnten, die sie freilich auf ihre Weise spezifisch überformten. Das läßt sich am Beispiel von Festen und Feiern deutlich erkennen. Denn die Festkultur erhielt durch Vereine im allgemeinen und durch Kriegervereine im besonderen nun ein anderes Gesicht. Feste und Feiern waren in der vorindustriellen Gesellschaft ein integrativer Bestandteil des städtischen wie dörflichen Lebens. Es gab in dieser Hinsicht zwar deutliche Unterschiede zwischen Stadt und Land, aber ebenso auffällige Übereinstimmungen. Auf dem Lande bestimmten brauchtümliche Feste des Kirchenjahres und des agrarischen Zyklus die Termine im Jahresverlauf. Sie prägten den dörflichen Rhythmus. Träger der Festveranstaltungen waren in Dorf und Stadt ständisch abgesicherte Gruppen: Bauern und gelegentlich Knechte, Kaufleute, selbständige Handwerker und zünftige Gesellen. Dagegen spielten Kätner, Insten, Gesinde und Tagelöhner auf dem Lande wie Dienstboten und Arbeitsleute in der Stadt beim Festgeschehen eine marginale Rolle. Sie waren höchstens Staffage. Mit dem Aufkommen des nationalen Gedankens Anfang des 19. Jh. wandelte sich der Charakter des Festwesens in Deutschland. Seit den Befreiungskriegen

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fand die Verherrlichung von Heroengestalten wie Luther, Schiller, Goethe und anderen zunehmend statt. Als "Deutscheste der Deutschen" wurden sie zu Führergestalten auf dem Weg zur Einigung der Nation 20 . Nach der Reichsgründung wurde diese Tendenz verstärkt fortgesetzt. Aber nun trat infolge der Erlebnisse militärischer Siege das Kriegerische und Heldische in den Vordergrund und wurde zur beherrschenden mentalen Ausdrucksform einer ganzen Epoche. Das Festwesen erhielt dadurch seine entscheidende Prägung. In Preußen vor allem rückten drei Termine im Festkalender an die vorderste Stelle: der Geburtstag des preußischen Königs und deutschen Kaisers, der Reichsgründungstag am 28. Januar und der Sedantag am 2. September. Volkstümlich im eigentlichen Sinn ist das Sedanfest niemals geworden, weil ihm die Integrationskraft fehlte, über Parteien- und Konfessionsstreit hinweg alle Kreise der Bevölkerung miteinander zu vereinen 21 . Dennoch spielten die Veranstaltungen zum 2. September unter den Festen im Zweiten Deutschen Kaiserreich eine herausragende Rolle. Idee und Gestaltung stammten aus dem Gedankengut eines sich dem Nationalstaat eng verbunden fühlenden Bürgertums. In der Stadt fanden daher auch die ersten großen Feiern zum Sedantag statt. Erst allmählich drangen sie in die dörfliche Welt ein. Patriotische Feste und Feiern wurden somit zu den signifikantesten Merkmalen des Kaiserreiches. In keinem Abschnitt der deutschen Geschichte ist man so festfreudig gewesen22. Dabei wurde betont auf dramatische Gestaltungsmöglichkeiten zurückgegriffen. Das galt sowohl für Kaisersgeburtstag, Reichsgründung und Sedantag als auch für Denkmalsenthüllungen und Einweihungsfeiern repräsentativer Gebäude und technischer Bauwerke. Da dramatische Handlungen das Bedürfnis nach Schaulust, Spannung, Kontrast und Identifikation mit Handlungen und Personen sowie nach kollektivem Kommunikationserlebnis in den wechselseitigen Bezügen zwischen Darsteller und Zuschauer erfüllen, waren sie auch politisch einsetzbar. Sie vermittelten dem Publikum über gehobenen Sprachduktus, Musik, Kostümierung und mit Hilfe architektonischer und anderer künstlerischer Mittel Grundregeln wünschenswerten Verhaltens. Auf diese Weise konnte nationales Gedankengut in breite Kreise getragen werden. Vor allem mit den Vereinen gelangte diese bürgerliche Festkultur auch aufs Dorf, und es waren die Kriegervereine, die mit ihren Festveranstaltungen eine wichtige Rolle bei der Vermittlung nationaler Werte spielten. Die Nationalfeiertage im Zweiten Deutschen Kaiserreich zeugten weniger von selbständiger Festinitiative als von dem Bemühen des Staates, sich nach innen und außen darzustellen. Neben einem gewissen Fundus volkstümlicher Festelemente wie Tanz, Gesang und Wettspielen etablierte sich immer stärker ein dem Hofzeremoniell verwandter offizieller Feierstil, der auf einem festgelegten Repertoire von Handlungselementen aufbaute: Zapfenstreich, Weckruf, Gottesdienst, Militärparade, Diners, Bälle für die Honoratioren. Auch Kirchen- und Schulfeiern ge160

hörten zum Standard solcher Veranstaltungen 23 . Die Organisation lag meist in den Händen der Kriegervereine. In den Städten Schleswig-Holsteins wurde der Geburtstag Wilhelm I. am 22. März mit großem nationalem Pomp begangen. Auf dem Lande ging alles bescheidener zu. Nur als der 100. Geburtstag Wilhelm I. in memoriam gefeiert werden sollte, unternahm die preußische Regierung erhebliche Anstrengungen, um daraus eine Demonstration der nationalen Sammlung in der ganzen Provinz zu machen. Sie war darum bemüht, auch die kleinste Gemeinde mit einzubeziehen. Das scheint weitgehend gelungen zu sein. Selbst in Nordschleswig, wo ein großer Teil der ländlichen Bevölkerung prodänisch gesinnt war, beteiligte man sich auf den Dörfern an den Feierlichkeiten 2 4 . In besonderer Weise wirkten die Kriegervereine an der Gestaltung der Sedantage mit. Gerhard Birk berichtet, daß in den reichen Dörfern der Magdeburger Börde aus diesem Anlaß "bewaffnete Umzüge mit mitreißender Marschmusik" stattfanden und daß nach dem Genuß von Freibier nationalistische und militaristische Lieder gesungen wurden 25 . Wo es keinen Kriegerverein gab, wurde wenigstens in der Schule eine Feierstunde abgehalten und anschließend unterrichtsfrei gegeben. Aus größeren ländlichen Gemeinden in Schleswig-Holstein kennen wir den Ablauf von Sedanfeiern zum Teil genauer. Als Beispiel sei das ostholsteinische Dorf Schönwalde genannt. In dieser von seiner Sozial- und Wirtschaftsstruktur noch stark agrarisch geprägten und gutsherrschaftlich verwalteten Gemeinde beging man am 1. September 1895 eine Sedanfeier, die weit über das Maß des sonst üblichen Engagements für diesen Tag hinausging. Träger der Veranstaltung war hauptsächlich der Kriegerverein von 1848/50 und 1870/71 mit 36 Mitgliedern 26 . Außerdem beteiligten sich die Liedertafel von 1872 und die Freiwillige Feuerwehr. Nach zeitgenössischen Berichten gelang es den Organisatoren, mehr als 800 Teilnehmer auf die Beine zu bringen. Offenbar lockte das Ereignis auch Besucher von auswärts herbei. Das Fest verlief nun in folgender Weise: Zur Eröffnung hielt der Ortsgeistliche einen Feldgottesdienst in der Nähe des Pastorats. Danach übernahm der Vorsitzende des Gesangvereins mit einer Ansprache die Heldenehrung unter der Friedenseiche. Sie klang mit einem Kaiserhoch und dem Gesang der Hymne "Heil Dir im Siegerkranz" aus. Daran schloß sich der Festmarsch durch das Dorf unter Führung des Bauernvogtes zum Festplatz an. Dort sangen die Mitglieder der Liedertafel, und der Organist hielt eine Rede auf das Vaterland. Nach dem Festakt ging man zum unterhaltenden Teil über. Dazu gehörte das für Schleswig-Holstein landschaftstypische Ringreiten. Für die Frauen waren Gewinnschießen und für die jüngste Generation Kinderspiele vorgesehen. Mit Einbruch der Dunkelheit kam es in einem eigens dafür errichteten Pavillon zur Vorführung damals so beliebter "Lebender Bilder". Die Themen lauteten: "Landwehrmanns Abschied" und "Des Hauptmanns Tod". Zur Erläute-

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rung dienten musikalisch untermalte Prologe. Den Abschluß des Festes bildete gegen 10 Uhr abends ein Feuerwerk mit anschließendem Fackelzug zur Friedenseiche, wo der Dorfschullehrer der Verdienste der Kampfgenossen gedachte und sie hochleben ließ. Die erwachsene Jugend vergnügte sich beim Tanz bis 5 Uhr früh 27 . Analysiert man das Festgeschehen nach Inhalt, Struktur und Trägergruppen, ergibt sich Folgendes: Sinn und Zweck des Festes war die Verinnerlichung nationaler Größe und Einheit. Dazu bediente man sich bestimmter Handlungselemente wie des Feldgottesdienstes, der dem Gesamtgeschehen die notwendige religiöse Weihe gab. Ferner wären die verschiedenen öffentlichen Ansprachen zu nennen. Sie waren, seitdem sich in den Städten am Ausgang des 18. Jh. eine bürgerliche Öffentlichkeit gebildet hatte 28 , vor allem zur Verbreitung liberaldemokratischen Gedankenguts üblich geworden und geeignet, politische Inhalte einer größeren Zuhörerschaft in öffentlicher Rede zu vermitteln. Für die dörfliche Kommunikation hatte die öffentliche Ansprache als Medium bislang keine Rolle gespielt. Aber mit der Vereinskultur drang sie nun auch aufs Dorf und wurde zum bevorzugten Handlungselement bei Nationalfesten. Auch die "Lebenden Bilder" mit Text- und Musikbegleitung waren bürgerlicher Import. Auf antike Vorbilder zurückgehend, hatten sie seit dem Mittelalter bei geistlichen und weltlichen Aufführungen in den Städten eine Rolle gespielt und wurden nun auch im 19. Jh. zu einem typischen Bestandteil bürgerlicher Vereinsfestlichkeiten29. Das gleiche gilt für Fackelumzüge. Zwar war die Fackel als Lichtträger und reinigendes Feuer im ländlichen Frühlingsbrauch und bei vielen Jahresfeiern längst bekannt 30 . Aber als Demonstrations- und Huldigungsmittel ging der Fackelzug im 19. Jh. doch wohl eher auf das Protestverhalten der oppositionellen, bürgerlichen Studentenschaft der Vormärzzeit zurück. Auch das Feuerwerk als brillantes Lichtspiel gehörte zu den adaptierten Errungenschaften des Bürgertums, das mit diesem ursprünglich höfischen Festbrauchtum eigenen Glanz und Reichtum dokumentierte. Alle genannten Handlungselemente des Sedantages stammten nicht aus der Brauchwelt des dörflichen Lebenskosmos, sondern aus bürgerlicher Wurzel. Hinzu kamen typisch militärische Zeremonien wie Feldgottesdienst, Heldenehrung und Festmarsch. Die Sedanfeier enthielt jedoch ebenfalls Handlungselemente des traditionellen dörflichen Brauchkanons. Dazu zählte das Ringreiten der Männer und der Tanz der Jugend. Gerade das Ringreiten als typisch agonales Spiel mit kämpferischen Zügen 31 eignete sich dazu, den eher ernsthaften, weihevollen Charakter des Sedanfestes aufzulockern und zu einem Volksfest zu machen. Die Struktur des Festgeschehens wies eine deutliche Zweiteilung auf. Dem offiziellen Teil mit Gottesdienst, Ansprachen, Gesang, Ehrungen und Umzug stand der volkstümliche mit Spiel, Tanz und Aufführungen gegenüber. Beide Teile waren jedoch nicht streng voneinander getrennt, sondern ineinander verschränkt, so 162

daß Ernstes und Heiteres aufeinander folgten. Die Hauptakteure des Schönwalder Sedantages rekrutierten sich aus Persönlichkeiten, die wie der Geistliche, der Lehrer und der Organist ihre Berufsausbildung in der Stadt erhalten hatten, also gewohnt waren, zu organisieren und in der Öffentlichkeit aufzutreten. Verhaltensweisen, die eher bürgerlichem als bäuerlichem Lebenszuschnitt entsprachen. Vermutlich gehörte auch der Vorsitzende der Liedertafel in diesen Kreis. Bezeichnenderweise begnügte sich der Bauernvogt, obgleich er doch der einzige Vertreter der Dorfobrigkeit war, mit der repräsentativen Rolle, den Festzug anzuführen. Die eigentliche Gestaltung des Festes lag demnach in den H ä n d e n von Männern, die nicht ortsgebürtig, sondern zugewandert waren. W e n n m a n zudem bedenkt, daß die Vereine wesentlich an der Festorganisation mitwirkten, wird deutlich, wie stark bürgerliches D e n k e n und bürgerliche Verhaltensweisen am Sedantag die dörfliche Bevölkerung beeinflußten. Wie sehr gerade die Dorfjugend durch die jährlichen Sedanfeste politisch und kulturell indoktriniert wurde, geht auch aus dem Bericht eines Bewohners des Schleswiger Dorfes Bünstorf hervor, der aus der Rückerinnerung an das in seiner Kindheit am E n d e des 19. Jh. erlebte Sedanfest entstanden ist: "Dann versammelte sich abends, wenn es dunkel wurde, das ganze Dorf oben auf der Schanze hinter der Mühle, d e m höchsten Punkt in der Nähe von Bünstorf. Wir Kinder gingen voran mit selbstgemachten Fackeln, die aus mit Petroleum getränkter Torferde auf Forken oder gabelförmigen Stöcken bestanden. Auf der Schanze wurde ein großes Feuer, Teertonne und Busch, angezündet. Thedsen (Der Lehrer, K.D.S.) hielt eine vaterländische Rede, und die ganze Versammlung sang vaterländische Lieder. U n d rings herum grüßten am Horizont die Sedanfeuer der umliegenden Ortschaften32. Hier wird die zentrale Funktion des Dorfschullehrers bei der Durchsetzung der nationalen Festkultur noch einmal deutlich. Die Lehrer gehörten, wie schon Theodor Fontane in seinem "Stechlin" an der Figur des Krippenstapel gezeigt hat, zu den geistigen Führungskräften auf dem Lande 3 3 . Sie brachten bürgerliches Bildungsgut aus der Stadt mit, wo sie ihre Ausbildung erhalten hatten, und wirkten auf d e m Dorf als Vermittlungsagenten Urbanen Lebensstils, Kraft ihres Amtes waren sie zudem Träger der herrschenden Ideologie, auch wenn sie dieser mitunter persönlich kritisch gegenüberstanden 3 4 . Noch ein letztes konstitutives

Element bürgerlicher Vereinskultur, das auf

dem Land Verbreitung fand, sei genannt: die Stiftungsfeste. G e r a d e Kriegervereine haben auf sie stets großen Wert gelegt. In den Städten boten sie dadurch, daß Repräsentanten der Zivil- und Militärbehörden daran teilnahmen, die Möglichkeit, das Prestige des Vereins zu erhöhen. Auch in größeren Landgemeinden beging m a n Stiftungsfeste mit großem Aufwand. U m die Bedeutung der Kriegervereine auf dem Lande zu steigern, kam m a n überdies auf die Idee, Stiftungsfeste auf

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überörtlicher Ebene und im großen Rahmen zu feiern. Als der Kreisverband der Kampfgenossenschaften in Norderdithmarschen 1895 25 Jahre bestand, beging er sein Jubiläum in dem etwa 1000 Einwohner zählenden Dorf Pahlhude. Gäste aus nah und fern trafen ein, und Pahlhude erlebte ein Fest wie noch nie. Der deutsch-baltische Schriftsteller Siegfried von Vegesack hat ein solches Stiftungsfest aus der Distanz dichterischer Freiheit mit unüberhörbarer Ironie karikiert. In seiner 1925 erschienenen Gedichtsammlung "Die kleine Welt vom Turm gesehen" beschreibt er den Verlauf einer "Veteranenfeier" respektlos mit folgenden Worten: Veteranen-Feier Heute feiert der Veteranenverein Sein Stiftungsfest! Sein Stiftungsfest! Knittrige Hose ums knickrige Bein, Rote Fäuste in weiße Handschuh gepreßt. Schärpengeschmückt, Rückengebückt, Haltet, haltet die Fahne fest! Achtung! Alles in Reih und Glied! Bum-bum, und die Musik setzt ein. Böllerschüsse. Der Festzug zieht Immer zu zwein, immer zu zwein. Stolpernd im Takt Trottelt befrackt Einer hinter dem andern drein. Halt vor dem Kriegerdenkmal aus Stein Jungfrauen stehen im Blumenflor neben dem Männergesangverein. Der Herr Amtmann redet. Und dann im Chor: "Die Wacht am Rhein!" Und groß und klein Starrt und starrt schwitzend zur Fahne empor. Achtung! Alles in Reih und Glied! Bum-bum, und die Musik setzt ein. Böllerschüsse, der Festzug zieht, Immer zu zwein, immer zu zwein, Fest und treu Zum Bürgerbräu, Heute gibt es Vollbier und Gänseklein!-'-'

164

Zusammenfassend läßt sich feststellen: Mit der Ausbreitung des bürgerlichen Vereinswesens gelangte in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in Deutschland eine Festkultur aufs Dorf, wie es sie in dieser Weise dort bislang noch nicht gegeben hatte. Sie manifestierte sich an politischen Veranstaltungen, vor allem dem Sedantag, die wesentlich zur Indoktrination nun auch der ländlichen Bevölkerung im Sinne nationalistischer Vorstellungen beitrugen. Die Veteranenverbände, die wesentlich daran beteiligt waren, hatten - wie sich am Beispiel Schleswig-Holsteins nachweisen ließ - zwar teilweise eine durchaus liberaldemokratische Wurzel, gerieten aber nach der Reichsgründung immer mehr in das Fahrwasser chauvinistischer und militaristischer Zielsetzungen und empfanden sich daher zunehmend als Garanten bestehender Herrschaftsverhältnisse. Dies war eine Spielart bürgerlicher Kultur, wie sie nur im überhitzten Klima des an politischen und sozialen Spannungen so reichen Zweiten Deutschen Kaiserreiches gedeihen konnte. Aber man darf dabei nicht übersehen, daß diese Festkultur auf eine überkommene dörfliche Sozialverfassung traf, die bereits in Auflösung begriffen war. Es bestand daher das Bedürfnis nach neuen Formen der Gesellung, wie sie z.B. von Kriegervereinen geboten wurden. Es wäre deshalb kurzschlüssig, die Ausbreitung des Vereinswesens und seiner Festkultur auf dem Lande als einen quasi gewaltsamen Einbruch bürgerlicher Lebensweise in ein intaktes kulturelles System zu interpretieren. Eher muß man davon ausgehen, daß der Boden für das Neue in der ländlichen Gesellschaft längst vorbereitet war und daß die nationalistisch geprägten Vereinsfeste deshalb auf breite Zustimmung stießen. Anmerkungen 1 2

Zimmermann, H.-P., Der feste Wall gegen die rote Flut. Kriegervereine in Schleswig-Holstein 1864-1914, Kiel 1989. Nipperdey, Th., Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. u. frühen 19. Jh.. Eine Fallstudie zur Modernisierung I, in: ders., Gesellschaft, Kultur u. Theorie, Göttingen 1976, S. 183; Freudenthal, H., Vereine in Hamburg. Ein Beitrag zur Geschichte und Volkskunde der Geselligkeit, Hamburg 1969, S. 33 ff.

3

Sievert, H.-J., Vereinswesen in der deutschen Soziologie, in: Dann, O. (Hrsg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, München 1984, S. 153 f.; vgl. auch Jacobeit, S. u. Jacobeit, W., Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes 1810-1900, Leipzig 1987, S. 306 ff.

4

Ebd., S. 157.

5 6

Nipperdey, Th., Verein, S. 177. Lehmann, A., Zur volkskundlichen Vereinsforschung, in: Dann, O. (Hrsg.), Vereinswesen, S. 63. Tenfelde, K., Die Entfaltung des Vereinswesens während der Industriellen Revolution in Deutschland (1850-1873), in: Dann, O. (Hrsg.), Vereinswesen,

7

165

8

Wallner, E.M., Die Rezeption stadtbürgerlichen Vereinswesens durch die Bevölkerung auf dem Lande, in: Wiegelmann, G. (Hrsg.), Kultureller Wandel im 19. Jh. Verhandlungen des 18. Deutschen Volkskunde-Kongresses in Trier vom 13. bis 18. September 1971, Göttingen 1973, S. 165 f.; Sievert, H.-J., Vereinswesen, S. 157.

9

Wallner, E.M., Die Rezeption stadtbürgerlichen Vereinswesens, S. 164.

10 Tenfelde, K., Entfaltung des Vereinswesens, S. 72. 11 Nipperdey, Th., Kommentar: "Bürgerlich" als Kultur, in: Kocka, J. (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jh., Göttingen 1987, S. 146. 12 Jauch, D., Die Wandlungen des Vereinslebens in ländlichen Gemeinden Südwestdeutschlands, in: Zs. f. Agrargeschichte und Agrarsoziologie 28, 1980, S. 48-77, S. 64, 67. 13 Zimmermann, H.-P., Der feste Wall, S. 839 (Anhang 7, Tab. 2). 14 Ebd., S. 259. 15 Ebd., S. 260. 16 Birk, G., Zur Entwicklung des regionalen Vereinswesens unter besonderer Berücksichtigung des Kreises Wanzleben, in: Räch, H.-J. u. Weissei, B. (Hrsg.), Bauer u. Landarbeiter im Kapitalismus in der Magdeburger Börde. Zur Geschichte des dörflichen Alltags vom Ausgang des 18. Jh. bis zum Beginn des 20. Jh., Berlin 1982, S. 267. 17 Zimmermann, H.-P., Der feste Wall, S. 283. 18 Wallner, E.M., Rezeption stadtbürgerlichen Vereinswesens, S. 168. 19 Scharfe, M., Zum Rügebrauch, in: Hessische Blätter f. Volkskunde, Jg. 61, 1970, S. 50. 20 Vondung, K., Magie u. Manipulation. Ideologischer Kult u. politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971, S. 7. 21 Schellach, F., Sedan- u. Kaisergeburtstagsfeste, in: Düding, D. u.a. (Hrsg.), Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek 1988, S. 284. 22 Sievers, K.D., Staatliche Feiern als dramatische Handlungen. Grundsteinlegung u. Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals 1887 u. 1895, in: Lehmann, A. u. Kuntz, A. (Hrsg.), Sichtweisen der Volkskunde. Zur Geschichte u. Forschungspraxis einer Disziplin, Berlin 1988, S. 161. 23 Schellach, F., Sedan- u. Kaisergeburtstagsfeste, S. 294; Zimmermann, H.-P., Der feste Wall, S. 930. 24 Zimmermann, H.-P., Der feste Wall, S. 459. 25 Birk, G., Entwicklung des regionalen Vereinswesen, S. 275. 26 Zimmermann, H.-P., Der feste Wall, S. 795 (Anhang 3, Tab. 1). 27 Michaelsen, H., So feiert man in Schönwalde den Sedantag, in: Jahrbuch f. Heimatkunde im Kreis Oldenburg-Holstein, 1969, S. 113 f. 28 Vgl. dazu Habermas, J., Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962. 29 Kindermann, H., Theatergeschichte Europas, Bd. 1, Salzburg 19662, S. 328 f. 30 Freudenthal, H., Das Feuer im deutschen Glauben und Brauch, Berlin 1931. 31 Vgl. dazu Kretzenbacher, L., Ringreiten, Rolandspiel u. Kufenstechen, Klagenfurt 1966. 32 Schröder, E., Aus meiner Bünsdorfer Schulzeit 1876-1882, in: Jahrbuch der Heimatgemeinschaft des Kreises Eckernförde, 1955, S. 115. 166

33 Fontane, Th., Der Stechlin, in: Theodor Fontane, Werke in fünf Bänden (Nymphenburger Ausgabe), Bd. 4, München 1974, S. 58-64. 34 Vgl. dazu Christiansen, J., "Die Heimat". Analyse einer regionalen Zeitschrift u. ihres Umfeldes, Neumünster 1980. 35 Zit. nach Deckart, G. u. Kapfhammer, G. (Hrsg.), Bayerisches Lesebuch, Geschichten, Szenen u. Gedichte aus fünf Jh., München 1971, S. 267 f.

Hannes Siegrist

Die Advokaten auf dem Land

Advokaten oder Rechtsanwälte gehörten im 19. und frühen 20. Jh. zu den typischen Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft und des Bürgertums 1 . Zwar waren sie eher eine städtische Berufsgruppe, die sich an Orten mit einer höheren Dichte von Handel und Verkehr und einem Gericht konzentrierte. Indem kleine und mittelgroße Städte im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung als Gewerbe-, Handels- und Verwaltungszentren symbiotisch mit dem Land verbunden waren, gewannen indessen klein- und mittelstädtische Advokaten - zusammen mit ihren weniger zahlreichen Kollegen in den Dörfern - eine besondere Bedeutung als soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Vermittler zwischen Stadt und Land, Staat und ländlicher Gesellschaft, Bürgertum und agrarischen Ober- und Mittelschichten. Gerade wegen dieser Vermittlerrolle oder Zwischenposition erscheint mir die Figur des Advokaten als besonders geeignet, die komplexe Problematik der "Verbürgerlichung" des Landes zu diskutieren.

Staat, Advokaten und bürgerliche Rechte auf dem Lande Zu den Kernelementen einer (liberalen) Vorstellung von bürgerlicher Gesellschaft gehören u.a. Rechtsstaatlichkeit, freie Advokatur und unbehinderter Zugang des Bürgers zur Rechtshilfe. 2 An solchen Elementen läßt sich ablesen, wie weit der Prozeß der "Verbürgerlichung des Landes" in rechtlich-politischer Beziehung fortgeschritten war. Bürokratische Obrigkeitsstaaten wie Preußen, Bayern oder die Habsburger Monarchie suchten durch eine Politik des Numerus clausus und der staatlichen Zuweisung des Wohnortes die Advokaten zu überwachen. Anwaltsstellen wurden vorzugsweise in den mittleren und großen Städten mit Gerichtssitz vergeben, denn die Landadvokaten galten als besonders schlecht kontrollierbar. Eine solche Advokatenpolitik lief darauf hinaus, den Landbürgern, Dorfbewohnern und Bauern den Zugang zu Recht und Rechtsberatung zu erschweren. Diese Abneigung der Obrigkeit gegen die Advokaten hatte ältere und jüngere Wurzeln. Daß Land- und sog. Winkeladvokaten die Rechtsprechung der Gerichte und Fürsten 'behinderten', war seit spätestens dem 16. Jh. ein ständig wiederholter Allgemeinplatz. Als der bürokratische Zentralstaat im 18. und frühen 19. Jh. das Recht systematisierte und den Rechtspflegeapparat reorganisierte, erschien ihm der Rechtsanwalt, d.h. der Vertreter der Individuen, als potentieller Störenfried in einer Rechtsprechung, die in erster Linie der Erfüllung staatlicher Ziele diente. Eine bevormundende Obrigkeit wollte im Interesse des Allgemeinwohls gerade

169

die Landbevölkerung von der 'Prozeßsucht' abhalten, indem sie einerseits die Zahl der 'zum Prozessieren anstiftenden' Advokaten beschränkte, andererseits die ernannten Advokaten für die Loyalität gegenüber Staat und Gesetzen mit einer sicheren Stellung und einem standesgemäßen Einkommen entschädigte. Je nach Agrarverfassung, Besitz- und Sozialstruktur in den einzelnen Regionen setzten diese Staaten die Akzente ihrer Anwaltspolitik verschieden. In den östlichen preußischen und österreichischen Gebieten mit Gutsherrschaft oder lange fortbestehender Patrimonialgerichtsbarkeit entfielen im 19. Jh. auf einen Anwalt um die 20-30 000 Einwohner 3 . In den westlichen preußischen Provinzen und in Bayern - Gebieten mit stärkeren Schichten von Besitzbauern - schwankte die Advokatendichte je nach Region zwischen 1:5 000 und 1:20 000. Im ländlichen Niederbayern, auf dessen Advokaten ich wiederholt zurückkommen werde, betrug das Verhältnis Advokat:Einwohner um 1870 im Bezirksgerichtskreis Landshut 1:14 000, im Bezirk Deggendorf 1:18 000, im Bezirk Pfarrkirchen 1:19 500 4 . Wenn in der Stadt Landshut z.B. auf einen Anwalt nur 2 000 Einwohner entfielen, verweist dies auf das allgemeine Phänomen, daß Advokaten eher eine städtische Gruppe waren und daß deshalb prinzipiell für Stadtbewohner der Zugang zur Rechtsberatung leichter war. Das vorerst statistisch begründete Argument vom staatlich erschwerten Zugang zur Rechtsberatung mag auf den ersten Blick oberflächlich erscheinen. Es gewinnt aber an Plausibilität, wenn wir zusätzlich wirtschaftlich weithin ähnliche Staaten in den Vergleich einbeziehen, in denen die Advokatur ein freier Beruf war. Im Königreich Hannover z.B. ernannte der Staat zwar die sog. Anwälte (Prozeßvertreter) in beschränkter Zahl, als Advokat (allgemeine Rechtsberater, der vor Gericht vor allem die rechtliche Würdigung des Falles vornahm) konnte sich indessen jeder staatlich geprüfte Jurist niederlassen. In diesem System, in dem es mehr auf die Marktkräfte von Angebot und Nachfrage ankam, entfielen in der Mitte des 19. Jh. auf einen Anwalt oder Advokaten rund 2 000 Einwohner 5 . In 180 Orten waren Advokaten ansässig, in 58 Dörfern praktizierte allerdings nur einer, in 126 Ortschaften konnte man sich an einen bis maximal drei wenden. Obwohl auch hier gut die Hälfte der Advokaten in eindeutig städtischer Umgebung wirkte 6 , war der Zugang zur Rechtsberatung auf dem Lande leichter als etwa in Bayern. Die Justizbehörde griff im Königreich Hannover nicht in die Märkte der Advokaten ein; die Überlegung, daß man die Bevölkerung vom Prozessieren abhalten könnte, indem man ihr mehr Anwälte verweigerte, war aber auch hier nicht fremd: Anfang der 1850er Jahre bat ein Obergerichtsanwalt aus Hannover das Justizministerium um Versetzung vom überfüllten juristischen Dienstleistungsmarkt der Stadt Hannover nach Ärzen. Auf Empfehlung des Staatsanwaltes in Hameln wurde das Gesuch abgelehnt, da "kein Bedürfnis des Publikums bestehe" und

170

keine "auskömmliche Existenz" gegeben sei. Der Antragsteller sei auch nicht der richtige Mann für Ärzen, dessen Bevölkerung seit der Aufhebung des vormaligen Amtes im Jahre 1823 "fast ganz ohne polizeiliche Aufsicht" gewesen und deshalb "sehr verwildert" sei. Dort herrschten "Prozeß- und Trunksucht". In dem Moment, wo die "Verrohung" durch die neue Landgendarmerie-Station und die erneute Entsendung eines Amtsrichters im Rahmen der Gerichtsreform behoben werden sollte, sei es nicht ratsam, einen Anwalt dorthin zu schicken, "dessen Charakter nicht fleckenlos" sei. Dies würde den "Ansätzen zur Besserung

hinderlich

entgegenwirken" 7 . Auf einem ähnlichen Niveau wie in Hannover und einigen weiteren deutschen Klein- und Mittelstaaten lag die Verhältniszahl Einwohner pro Advokat in manchen schweizerischen Kantonen, wo seit den liberalen Reformen des frühen 19. Jh. Advokaten auch auf dem Lande relativ ungehindert praktizieren konnten. Im agrarischen Kanton Bern etwa entfielen 1846 durchschnittlich auf einen Anwalt 2 700 Einwohner 8 . Für mehr Gleichheit des Landes und der Landbürger hatten auch diesbezüglich die Liberalen und die Freisinnigen (Radikalen) gesorgt, deren Reformen in den 1830er und 1840er Jahren die Privilegien des städtischen Patriziats und dessen Herrschaft über das Land endgültig aufgehoben hatten. Advokaten aus Landstädten wie Burgdorf und Thun hatten den Protest des "Landes", d.h. der rechtlich und politisch benachteiligten Landbewohner, angeführt. Als Kleinstadthonoratioren trugen sie unter der Fahne des Liberalismus "den Konflikt zwischen privilegierter Hauptstadt und empordrängenden ländlichen Oberschichten" aus 7 . Die früheren bernischen Gesetze hatten noch zwischen den gebildeteren städtischen Advokaten ("Fürsprechern") und den geringer qualifizierten und mit weniger Kompetenzen ausgestatteten ländlichen "Rechtsagenten" unterschieden. Deshalb

lebten

1846,

sechs

Jahre

nach

Inkrafttreten

des

liberalen

Advokatengesetzes, immer noch 86% der höher gebildeten Advokaten in den Städten, zwei Drittel der Rechtsagenten praktizierten dagegen als typische Landanwälte in den größeren Bauerndörfern. Mit der Liberalisierung und Öffnung der Universität für Landbürger verschwand in der Folge diese Bildungsdifferenz zusehends. Söhnen von besitzenden Bauern und Kleinstadthonoratioren wurde durch die besseren Bildungschancen der Weg in den Advokatenberuf geebnet, der das Sprungbrett für eine richterliche oder politische Karriere bildete 10 .

Markt und Vertrauen Wo der Staat auf dem Land nicht steuernd eingriff, waren die Advokaten den Zwängen des Marktes und der informellen sozialen Kontrolle stärker ausgesetzt. Sie mußten sich das Vertrauen der Klienten selbst erwerben. Manche Advokaten 171

wurden auf dem freien Markt hoch geschätzte juristische Ratgeber und Vertrauensleute einer ganzen Gegend 11 . Fachliche Kenntnisse und soziale Kompetenz waren dabei ebenso wichtig wie eine gute Gesundheit. Zwei Stunden Wanderung zum Gerichtssitz in Hameln, schrieb ein Advokat aus Ärzen, seien für seine schwache Gesundheit zu viel, er habe schon mehrfach kleine Zivilverfahren nicht annehmen können, weil der Aufwand in keinem Verhältnis zum Ertrag gestanden hätte 12 . Wegen der stärkeren sozialen Kontrolle auf dem Lande und dem höheren Prestige der Stadtadvokaten vertrauten manche Bauern bzw. Landbewohner ihre Rechtsgeschäfte einem Anwalt in der Stadt an. In Norden (Königreich Hannover) lebten drei Advokaten mit sehr unregelmäßiger Beschäftigung, beobachtete ein junger Advokat, der sich nach einem Tätigkeitsort umsah. Die Leute aber würden diesen nicht ganz trauen und suchten sich lieber einen Anwalt in der benachbarten Stadt Aurich 13 . Einem Advokaten in Lilienthal bescheinigte die Landdrostei Stade 1851, daß er im Gegensatz zu vielen Kollegen das Vertrauen der Landleute genieße, die sonst ihre "wichtigsten Angelegenheiten" nicht dem "zunächst wohnenden Advocaten" anvertrauten, sondern den "renommierten Anwälden" in der Stadt 14 . Besonders an Markttagen füllten sich die Warteräume solcher Advokaten mit Leuten vom Land. Nachdem die einheitliche deutsche Rechtsanwaltsordnung von 1878 geprüften Rechtsanwälten das Praktizieren auf einem relativ freien Markt überlassen hatte, zog es gegen Ende des Jahrhunderts junge bayerische und preußische Juristen, die weder in der Verwaltung und Justiz unterkamen, noch sich zur zahlreichen Advokatenschaft in den Städten gesellen wollten, aufs Land. Weil Preußen und Bayern trotz grundsätzlicher Freiheit der Advokatur am Lokalisierungsprinzip, d.h. der Einschränkung der Prozeßberechtigung auf einen Gerichtsbezirk festhielten, beklagten sich solche Amtsgerichtsanwälte über schlechte Erwerbschancen und verlangten in einer Protestbewegung die Ausdehnung ihrer Praxis durch gleichzeitige Zulassung am höheren Gericht. Weil sie gegen den Staat nichts erreichten, setzten sie sich wenigstens mit Disziplinarverfahren beim Ehrengericht der Anwaltskammer gegen die Konkurrenz der Stadtanwälte zur Wehr, denen sie nachzuweisen suchten, daß diese in nicht standesgemäßer Weise auf dem Land Kunden warben. Von diesem Konflikt zwischen Stadt- und Landadvokaten handelt die folgende Geschichte eines Disziplinarverfahrens, das junge Landanwälte bei der Anwaltskammer München gegen einen Advokaten aus Landshut anstrengten. Die Anwaltskammer des Oberlandesgerichtsbezirks München warf in einem ehrengerichtlichen Verfahren dem als intelligent, vermögend und ehrenhaft geltenden Landshuter Advokaten Karl Hotter (1865-1920) Kontakte mit Schleppern auf dem Lande vor, mit denen sich jede "familiäre" Verbindung schon aus moralischen Gründen verbiete. Der Uhrmacher und "Winkeladvokat" Robl aus Moos172

bürg, ein Mann von zweifelhafter moralischer Qualität, habe Hotter Klienten zugeführt. Es habe sich herumgesprochen, daß Hotter in Moosburg eine "Filiale unterhalte". Ferner habe der Beschuldigte 1907 in der "Kurzschen Wirtschaft" in Neumarkt am

Sonntag jeweils sog. Amtstage gehalten. Die

Ratsuchenden

sammelten sich in der Wirtschaft, Hotter erteilte in einem Nebenzimmer Rechtsrat an Leute, die ihm von einem "Zutreiber" oder der Wirtin empfohlen worden waren. Besonders peinlich war der Vorwurf, daß sich Advokat Hotter von seinem "Zutreiber",

der

als

ein

schlecht

beleumundeter

"Schuldenmacher"

und

"Schnapssäufer" mit einem schmierigen, unsauberen und unangenehmen Äußeren geschildert wurde, Essen bezahlen ließ. Das ehrengerichtliche Verfahren endete für Hotter glimpflich, vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil die jungen Landadvokaten im Ehrengericht untervertreten waren und weil derartige Formen der Klientenwerbung auf dem bayerischen Land ihre Tradition hatten 1 5 . Die Vertrauensbeziehung des Landbewohners oder Bauern zum Anwalt konnte auf der sozialen Distanz beruhen, die ihrerseits auf einen Bildungs- und Wissensunterschied zurückging. Der Advokat galt dann als Angehöriger einer höheren, vorwiegend in der Stadt anzutreffenden Kultur und als Experte für Rechtsund Machtfragen, der helfen konnte. Eine Bibliothek mochte da manchen Klienten schon beeindrucken, da sie den Besitz eines höheren Wissens sichtbar anzeigte. Erforderlich war aber auch eine bestimmte soziokulturelle Nähe, die sich auf gemeinsame Kenntnisse oder Interessen stützte oder auf einer Gemeinsamkeit von Gefühlen oder Symbolen beruhte. Der Advokat - ob er in der Stadt wohnte oder nicht - mußte dem Landbewohner symbolisch etwas entgegenkommen, wie dies ein Anwalt aus dem schweizerischen Agrarkanton Luzern für das frühe 19. Jh. schildert: Die Landbevölkerung habe die Gerichtsszenen mit dem Auftritt des Anwaltes als Unterhaltung in ihrem sonst eintönigen Leben genossen. Manche Klienten hielten denjenigen Anwalt für gut, der die Gegenseite inklusive Advokat heruntermachte und beschimpfte. Dies habe ihnen das Gefühl gegeben, daß der Anwalt sich für sie wirklich einsetzte. Erst nach und nach hätten sich einige Advokaten geeinigt, diesen "Unsinn" aufzugeben und "sich gegenseitig mit Achtung zu begegnen" 16 . Daß die Rhetorik die Barriere zwischen Juristen und Laien, 'Gebildeten' und 'Volk' überwinden half, berichtet für Bayern am Ende des 19. Jh. der Schriftsteller und frühere Advokat Ludwig Thoma: "Es gab damals in Traunstein ein paar Advokaten, die sich an Saftigkeiten überboten und dafür sorgten, daß ihre bajuwarischen Bonmots die Runde machten. Keiner wollte leiden, daß der andere der größere war, und ich hegte manchmal den Verdacht, daß ihre Derbheiten nicht frisch aus dem Gemüth sprudelten, sondern sorgsam vorbereitet waren. Dem Publikum gefielen sie" 17 . Nach Thoma kannten "höchstens noch die Pfarrer" die Bauern so gut wie die Advokaten 18 .

173

Die Beziehungen zwischen Advokaten und Landbewohnern beruhten - partiell zumindest - indessen auch auf gemeinsamen Interessen, Erfahrungen und Tätigkeiten. Über rechtliche und geschäftliche Funktionen gerieten die Advokaten auf dem Lande in die Rolle des Modernisierungsagenten. In der ersten Hälfte des 19. Jh. wirkten sie bei der Abwicklung der Lastenablösung und der Aufhebung der feudalen Bindungen mit. Sie führten dabei nicht nur Prozesse, sondern erstellten Inventaríen und Verträge, klärten Rechtsansprüche ab und vermittelten Kredite. Auch später besorgten sie nicht nur Rechtsgeschäfte im engeren Sinn, sondern sie engagierten sich in vielfältiger Weise als Vermittler. Einzelne beteiligten sich am Aufbau von Hypothekenbanken und in den Vorständen und Aufsichtsräten von Sparkassen. Andere fungierten als Agenten von Feuer- und Viehversicherungen. Je höher die Advokatendichte war, um so mehr betrieben die Advokaten Nebenfunktionen in Wirtschaft und Verwaltung. In Gebieten mit freier Advokatur bildete sich so die Figur des vielseitig einsetzbaren Advokaten heraus. Über diese Funktionen verstärkte sich die Nähe zu anderen bürgerlichen Gruppen, aber auch zu den besitzenden Bauern, den Bauern-Bürgern, die 'ihren' Advokaten bald auch Ämter in Verbänden und Vereinen anboten und politische Mandate übertrugen. Die wirtschaftliche Modernisierung auf dem Lande, Kapitalisierung, Kommerzialisierung und damit einhergehende soziale Veränderungen und Bedürfnisse führten dazu, daß Advokaten vielfältige Funktionen und Rollen übernahmen und zu typischen Exponenten des Bürgertums wurden 19 , dem sich auch Teile der ländlichen und bäuerlichen Besitzerschichten zugesellten. Die Anwälte beteiligten sich auch in dieser Weise am Prozeß der "Verbürgerlichung" des Landes oder des Dorfes. Manche Advokaten verfügten nicht nur über geistiges Kapital, sondern auch über materiellen Besitz. Allerdings war die Verbindung von landwirtschaftlichem Besitz und Advokatenberuf in Deutschland und der Schweiz weniger üblich; Gutsbesitzer-Advokaten, die zumindest teilweise auf dem Land lebten und in der dörflichen Gesellschaft wirkten, waren eher die Ausnahme. In Italien dagegen war die Verbindung von - meist nicht selbst bewirtschaftetem - agrarischem Besitz und Advokatenberuf aus zwei Gründen häufiger 20 . Stärker und länger als anderswo investierte das italienische Bürgertum noch in Land und Landwirtschaft. Und die Söhne von Landbesitzern wurden öfter Advokaten. Der italienische grundbesitzende Advokat lebte indessen auch in der Stadt, die Beziehung zum Land lief entweder über Verwalter oder Pächter. Kollektivbiographische Studien über die soziale Herkunft der Advokaten in ausgewählten deutschen und schweizerischen Städten ergeben, daß der Anteil der Bauern- und Gutsbesitzersöhne unter den Advokaten selbst in Landstädten zehn Prozent kaum je überstieg 21 . Etwas häufiger waren Bauern und Gutsbesitzersöhne unter den Advokaten ausnahmsweise in Gebieten mit einem breiten, politisch und sozial selbstbewußten Bürger-Bauerntum vertreten, wo der Advokat gleichzeitig 174

als respektabler bürgerlicher Beruf galt. So z.B. zeitweise im bernischen Land sowie im Kanton Luzern, wo selbst von den Advokaten der Hauptstadt jeder vierte ein Bauer- oder Gutsbesitzersohn war 22 . In Deutschland und der Schweiz bildeten Advokaten, die aus einem dörflichen Milieu stammten, eine je nach Region und Zeit größere oder kleinere Minderheit 23 . Von den Landshuter Advokaten des Zeitraums 1860 bis 1920 z.B. stammte nur jeder vierte aus einem Dorf. Der typische niederbayerische Stadtadvokat kam aus einer bayerischen Klein- oder Mittelstadt wie Kronach, Regen, Kempten, Landshut, Erlangen oder Passau. Advokaten vom Land oder aus Landstädten übernahmen vielfach auch die Funktion des politischen Vermittlers zwischen Stadt und Land, Zentrum und Peripherie. Wie weit sich die Figur des Advokaten-Politikers durchsetzte, hing indessen von politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Die bernischen Advokaten z.B. waren im Kantonsparlament (Legislative) mehr als doppelt so stark vertreten als ihre bayerischen Kollegen in der bayerischen Zweiten Kammer. Überdies rekrutierte sich stets ein großer Teil (bisweilen über die Hälfte) der bernischen Regierungsmitglieder aus der Advokatenschaft, was für Bayern undenkbar war. Wenn die bayerischen Advokaten nicht zur eigentlichen politischen Klasse gehörten, so lag dies zum einen am Wahlrecht, das die politischen Partizipationsrechte in Stadt und Staat an Grundbesitz bzw. darauf beruhende Steuerleistungen band 2 4 ; zum anderen daran, daß die bis 1878 als Quasi-Staatsdiener betrachteten Advokaten ihre Wahl zum Abgeordneten nur annehmen konnten, wenn der König zustimmte. Die Rolle der Bürokratie und des Adels taten ein übriges, daß in Bayern und manchen anderen deutschen Regionen die politische Bedeutung der Advokaten sich in engen Grenzen hielt. In der Schweiz konnten die Advokaten vergleichsweise ungehindert in der Politik tätig werden. Der klein- und mittelstädtische Advokat wurde geradezu zum homo politicus auf allen Ebenen. In ausgesprochen ländlichen Kantonen waren im Zeitraum 1848-1920 oft mehr als fünfzig Prozent der gewählten National- und Ständeräte ursprünglich Advokaten 2 5 . Sehr hoch lag der Prozentsatz der Advokaten unter den Parlamentariern auch in Italien, der italienische Advokat galt zeitweise geradezu als der Repräsentant der agrarischen und ländlichen Regionen (vor allem des Südens) und der entsprechenden Klientel 26 . Daß Advokaten diese Rolle in Deutschland kaum in diesem Maße ausfüllen konnten, geht schon aus der vergleichsweise geringen Advokatenvertretung in den nationalen Parlamenten hervor 2 7 .

175

Spannungen zwischen Advokaten und Bauern und ihre ideologische Stilisierung In bezug auf Ausbildung, Arbeits- und Lebensstil gehörten die Advokaten eher zur städtischen Welt. Weil Art und Tauschwert des juristischen Wissens für Laien nicht leicht einzuschätzen waren, bekamen auch Bauern immer wieder das Gefühl, der Advokat beute sie wirtschaftlich aus. Im frühen 19. Jh. galt der Advokat auf dem Lande bisweilen gar als Vertreter einer moralisch verwerflichen, gewinnorientierten Wirtschaftsgesinnung. Später, als die Bauern sich selbst auf die Marktwirtschaft eingestellt hatten, ebbte wenigstens diese Polemik gegen die Advokaten ab. Der Konflikt über den Preis der anwaltlichen Dienstleistung wurde stets auch mit sozialen und moralischen Argumenten ausgetragen: Die Advokaten könnten, wenn die Gebühren für die Bezahlung der Kutschenfahrt zu einem entfernten Gericht nicht reichten, ja auch zu Fuß gehen, meinte z.B. ein bernischer Großrat vom Land in der Debatte um die Advokatengebühren 1850. Sie müßten dann abends "einige Flaschen Champagner weniger trinken", früher aufstehen und etwas marschieren, was ihnen ganz gut tue. '"Morgenstund hat Gold im Mund'. Wenn ein Landmann 100-300 Franken vormachen will, so muß er immer an der Spitze seiner Arbeiter stehen. Wenn ein Advokat fleißig ist, so kann er viel vormachen. - Man sagt, die Herren Advokaten würden keinen großen Gewinn mehr machen. Ich glaube, die Herren seien selbst daran schuld; wenn man immer auf der Kneipe ist, erst um 12 Uhr ins Bett geht, so ist es dann allerdings nicht möglich. Wie viele gibt es, die nichts anderes tun als saufen und fressen! - Wenn auch die Herren nicht von Braten und Hühnchen, Tauben und Champagner den Magen vollgestopft haben, so leben sie nur um desto länger!" 28 Mit der Bezeichnung "Herren" rückte der Großrat die Advokaten in die Nähe der abgehalfterten patrizischen Herren, die ihren aristokratischen Lebensstil 'auf Kosten des Landes' geführt hatten. Andere titulierten die Advokaten dagegen als "Halbherren" 29 , denn diese hatten im Gegensatz zu den alten Herren weder soziale Vorrechte noch besondere Herrschaftsbefugnisse. Zu einem richtigen Herrn (gleich ob patrizisch oder modern bürgerlich) gehörte in jedem Fall auch Besitz, das geistige Kapital des Advokaten stellte in der ländlichen Gesellschaft, wo materieller Besitz an erster Steller stand, für sich allein noch keinen hohen Wert dar. "Halbherr" meinte so auch den liberalen, gebildeten, bürgerlichen Städter, der sich in die Politik einmischte, ohne durch Besitz oder Tradition legitimiert zu sein. Die Advokaten jedenfalls hatten sich vom Geruch des Halbherrentums zu befreien, was ihnen in weiten Gebieten so gut gelang, daß sie bald als respektierte "Herren Advokaten" galten. Zuvor hatten sie noch Angriffe auf die Idee des bürgerlichen Rechtsstaats und die dazu gehörende Rolle des Rechtsanwaltes abzuwehren. Als die bernischen

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5

Anwaltschaft und Advokatur konnten von einer Person kumuliert werden. Diese Trennung der Funktionen in Advokat und Anwalt bestand auch in Rheinpreußen (bis 1878), Frankreich, Italien.

6

Sechzig Prozent der Advokaten wohnten in 28 Orten (Städten). Quelle: Rechtsanwälte im Königreich Hannover 1840-1851, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover (STAH), Justizministerium Hann 26a, 63781.

7

STAH, Justizministerium Hann 26a, 6830: Personalakte Dr. Ernst Müller, Bericht des Staatsanwaltes betr. Gesuch Müller vom 15.10.1853.

8

Um die Mitte des 19. Jh. entfielen in den bernischen Städten auf einen Advokaten einige hundert Einwohner.

9

Mesmer, B., Burgdorf und Thun: bernische Kleinstädte im 19. Jh., in: Burgdorfer Jahrbuch, 1985, S. 112-132, bes. S. 115f.

10 Advokatenzahl nach Staatshandbuch Bern, 1845; Bevölkerungszahl laut Volkszählung 1846, Staatsarchiv Bern, BB XHIa 212. Zur Geschichte der Advokaten: Dübi, A., Die Geschichte der bernischen Anwaltschaft, Bern 1955. 11 Siegel, M. (Hrsg.), Die gesammten Materialien zu der Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878, Leipzig 1883, S. 46 (über das frühere Königreich Hannover). 12 STAH, Justizministerium Hann 26a, 6842: Personalakte Dr. Nicol (geb. 1806), Gesuche um Versetzung 1839,1848. 13 STAH, Justizministerium Hann 26a: Personalakte 7039, E.F.H. Warnebold (geb. 1828). Über die 1850er Jahre. 14 STAH, Justizministerium Hann 26a, 6635: Personalakte Dr. von der Hellen (geb. 1806). Bericht zum Gesuch vom 28. Mai 1851. 15 Ehrengerichtsurteil der Anwaltskammer OLG-Bezirk München, 30.11., 2.12.1912; Nr. 58969. Personalakte Karl Hotter 1865-1920, Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MJu 21061; Staatsarchiv Landshut, 167/2, 1664. 16 Baumann, Lorenz, Erinnerungen aus dem Leben eines verstorbenen Luzerner Advokaten, Luzern 1853, S. 15. 17 Thoma, L., Erinnerungen, München, 19803, S. 105. Thoma war von 1893 bis 1897 Advokat in Dachau, zuvor Rechtspraktikant in Traunstein. 18 Ders., Vom Advokaten zum Literaten. Unbekannte kommentiert von R. Lemp, München 1979, S. 182.

Briefe, hrsg. und

19 Bürgertum wird hier verstanden als eine Formation, die durch wirtschaftliche und politische Interessen, Erfahrungen und soziale Beziehungen sowie partielle kulturelle Gemeinsamkeiten zusammengehalten wird. 20 So jedenfalls deutet es die italienische Literatur immer wieder an, systematische Untersuchungen dazu fehlen. Siehe z.B. Spini, G. und Casali, A., Firenze, Rom und Bari, 1986, S. 181; Banti, M. A., Terra e denaro. Una borghesia padana deU'Ottocento, Venedig 1989. 21 Dies aufgrund eigener, noch unveröffentlichter kollektiv-biographischer Studien in verschiedenen deutschen, schweizerischen und italienischen Städten. Vgl. dazu Anmerkung 1. 22 Den Aufstieg vom Rebbauernsohn aus dem Dorf zum Advokaten und bernischen Regierungsrat (kantonalen Minister) schildert z.B. die kleine Schrift "Alfred Scheurer (1840-1921). Persönliche Aufzeichnungen", hrsg. von der Familie Scheurer, Bern 1923. Sowie: Bundesrat Karl Scheurer. Aus seinem Leben, in: Bundesrat Karl Scheurer, Tagebücher 1914-1929, hrsg. von H. Böschenstein, Bern 1971, S. 9-137. 23 Die Abgrenzung von Kleinstädten und Dörfern fällt gerade im internationalen Vergleich enorm schwer. "Dorf meint hier Orte bis zu etwa 1-2000 Einwohnern, die keinen wirklich kleinstädtischen Charakter hatten. 179

24 Preißler, P. R., Wirtschaft und Gesellschaft Landshuts in der Zeit von 18341914, Diss. rer. pol. Universität Erlangen-Nürnberg, o.0.1973, S. 229-235. 25 Gruner, E. und Frei, K., Die schweizerische Bundesversammlung 1848-1920, Bern 1966, Bd. 2, S. 174. 26 Farneti, P., Sistema politico e società civile. Saggi di teoria e ricerca politica, Turin 1971. 27 Best, H., Recruitment, Careers and Legislative Behavior of German Parlamentarians, 1848-1953, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung, Bd. 23, 1982, S. 20-54, bes. S. 26. 28 Großrat Beutler von Heimenschwand, Tagblatt des Grossen Rates (Bern) 1850, S. 563. 29 Tagblatt des Grossen Rates 1848, Nr. 71, S. 6. Zitiert nach Dübi, Anita, Die Geschichte der bernischen Anwaltschaft, Bern 1955, S. 189. 30 Zu Person und Werk von Gotthelf, der genauso wie der erwähnte Ludwig Thoma später als "Bauerndichter" (fehl-)interpretiert wurde, siehe Fehr, Karl, Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius), Stuttgart 1967. 31 Dürrenmatt, Hans Ulrich, Die Kritik Jeremias Gotthelfs am zeitgenössischen bernischen Recht, Zürich 1947, S. 13-16. 32 Ebenda, S. 130, 170f. 33 Fehr, Gotthelf, S. 33.

Monika Richarz Landjuden - ein bürgerliches Element im Dorf? Juden werden in der Historiographie zumeist als Stadtbewohner schlechthin gesehen, als geprägt von Geldwirtschaft und urbanem Lebensstil. Dies hat seine Berechtigung.

Bevorzugten

doch

Juden

überall

dort,

wo

sie

über

Niederlassungsfreiheit verfügten, die städtische Ansiedlung, die ihnen bessere Möglichkeiten

gewährte

zur

Bildung

einer

jüdischen

Gemeinde

und

zur

individuellen wirtschaftlichen Entfaltung. Man kann jedoch nicht übersehen, daß Juden in vielen Teilen des Deutschen Reiches jahrhundertelang nicht in Städten geduldet wurden und daher zur Ansiedlung auf dem flachen Land gezwungen waren. Als die wirtschaftlich erstarkten Städte im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit sich immer weiter gegen die Landesherren durchsetzten, vertrieben sie in großem Umfang die Juden gänzlich aus ihren Mauern. Diese flüchteten auf das Land und fanden hier zumeist beim Kleinadel Aufnahme, der in den sog. Schutzjuden willkommene Einnahmequellen sah. Diese erzwungene ländliche Siedlung der Juden bestand vor allem in Süd- und Westdeutschland fort, bis im Zuge der Emanzipation Juden Freizügigkeit und Gemeindebürgerrecht gewährt wurden. Das war zumeist erst nach der Mitte des 19. Jh. der Fall 1 . So begann ab etwa 1860 die Abwanderung der Juden in die Städte, gefördert durch die Industrialisierung und die dadurch verursachte Expansion des Handelssektors. Allein zwischen 1882 und 1900 verminderte sich der Prozentsatz der Landjuden um ein Drittel im Reichsdurchschnitt 2 . Keine andere Bevölkerungsgruppe erfuhr eine so radikale Urbanisierung wie die jüdische. Das Interim des Landjudentums war beendet, jedoch hatte es vielerorts mehr als 400 Jahre gedauert. Die historische Erforschung der Landjuden steht noch am Anfang, denn lange hat sich die Geschichtsschreibung ausschließlich auf das städtische Judentum und seine

Eliten

konzentriert.

Diese

haben

wirtschaftlich

und

kulturell

große

Einzelleistungen vollbracht und entsprechendes Quellenmaterial hinterlassen. Das Ansehen der Landjuden dagegen war wie das der Ostjuden sehr gering, denn sie galten als eine arme, aussterbende und von der Geschichte überholte Gruppe. Da in der Weimarer Republik bereits zwei Drittel aller Juden in Großstädten lebten, verdeckte diese Tatsache die lange Geschichte des Landjudentums. Erst in den letzten Jahren wuchs das Forschungsinteresse an den jüdischen Dorfbewohnern. Gefördert wurde dies in Deutschland vor allem durch die materiellen

Überreste

der jüdischen

Landgemeinden,

wie

Synagogen

und

Friedhöfe, und durch das wachsende Bedürfnis der Nachkriegsgeneration, sich mit der

Geschichte

der

Juden

in

Deutschland 181

auf

kommunaler

Ebene

auseinanderzusetzen. Noch existierende Landsynagogen wurden in mehreren Fällen restauriert, und es entstanden Dutzende von Monographien über jüdische Dorfgemeinden 3 .

Kranken

diese

vielfach

von

Heimatforschern

verfaßten

Darstellungen auch oft an einer Methodik, der strukturelle Analysen und Vergleiche fremd sind, so konnten sie doch Quellen erschließen und ein weitergehendes Interesse wachrufen. Die bis heute wichtigste Publikation zum Landjudentum ist die schon 1969 erschienene Untersuchung von Utz Jeggle über Judendörfer in Württemberg,

die eine grundlegende Analyse der

sozialen

Beziehungen zwischen Landjuden und bäuerlicher Bevölkerung vorlegt 4 . Die Landjuden bildeten eine kulturell, sozial und religiös

traditioneller

lebende Gemeinschaft als das inhomogene städtische Judentum. In mancher Beziehung, wie etwa der Berufsstruktur, wiesen die Landjuden auch nach der Emanzipation noch voremanzipatorische Züge auf. Landjuden lebten immer zwischen zwei sozialen Bezugsgruppen,

der Agrarbevölkerung

ihrer

Dörfer

einerseits und den städtischen Juden andererseits, mit denen sie Handels- und Heiratsbeziehungen unterhielten. In diesen beiden Sozialbeziehungen war die Position der Landjuden jedoch jeweils eine entgegengesetzte. Das städtische Judentum fühlte sich den Dorfjuden überlegen und sah auf sie als arm und ungebildet herab, während die Landjuden im Verhältnis zur Agrarbevölkerung seit Mitte des 19. Jh. zumeist die wirtschaftlich und kulturell Höherstehenden waren. Der Ambivalenz dieser zwei Sozialbeziehungen entsprach die Doppelfunktion der Landjuden. Sie bildeten in den Dörfern Agenten der Moderne, vermittelten durch ihre Stadt-Land-Mobilität städtische Konsumgüter, technische Errungenschaften und Urbane Lebensformen auf das Land, bewahrten aber in ihren Dorfgemeinden gleichzeitig

eine

enge Gruppenbindung

und jüdische Traditionen,

die

das

städtische jüdische Bürgertum zumeist schon aufgegeben hatte. Also zugleich modern und traditionell lebend, orientierten sich die Landjuden im Grunde am städtischen Judentum, dessen permanentes Reservoir sie bildeten und mit dem sie schließlich zum größten Teil verschmolzen. Aus historischen Gründen gestaltete sich die Verteilung der Landjuden im Deutschen

Reich

sehr unterschiedlich.

Landjuden

waren im

19. Jh.

ganz

überwiegend in Süd- und Westdeutschland ansässig, weniger in Preußen, wo Juden seit ihrer Wiederzulassung 1671 die städtische Ansiedlung erlaubt war. Die klassischen Regionen der Landjuden bildeten Baden, Württemberg, Franken, Hessen, Westfalen, die Rheinprovinz und die Pfalz. In Preußen lebten 1817 nur 16% der Juden auf dem Lande, doch in der neu erworbenen Rheinprovinz waren zwei Drittel aller Juden in Landgemeinden ansässig 5 . Den höchsten Anteil jüdischer Landbevölkerung wies 1832 das Königreich Württemberg auf mit 92%. Hundert Jahre später waren noch immer 2 1 % der württembergischen Juden Dorfbewohner 6 . Bis etwa 1855 befand sich die größte jüdische

182

Gemeinde

Württembergs nicht in der Residenzstadt Stuttgart, sondern im Dorf Jebenhausen, wo Juden 4 5 % der Dorfbewohner ausmachten 7 . Ein solch hoher Anteil von Juden an der Bevölkerung einzelner, meist ehemals ritterschaftlicher Dörfer war nichts ungewöhnliches. In Mainfranken gab es 1813 allein 27 Dörfer und in Oberfranken 1852 mindestens 15 Dörfer mit einer jüdischen Bevölkerung von 20-45 % 8 . Diese dichte Besiedlung einiger Regionen und einzelner Gemeinden mit Landjuden hatte zur Folge, daß die jüdischen Händler, soweit sie nicht die Auswanderung vorzogen,

eine

starke

regionale

Mobilität

entwickeln

mußten,

um

eigene

Handelsbezirke aufzubauen. Als die Juden sich nach der Vertreibung aus den Städten zwangsweise auf dem Lande hatten niederlassen müssen, bedeutete dies für sie den zumindest teilweisen Verlust ihrer alten Handelsbeziehungen und damit Verarmung und den Zwang zu wirtschaftlicher Neuorientierung. Ihre Handelspartner waren jetzt überwiegend die gerade in Süd- und Westdeutschland vorherrschenden Kleinbauern und die "unterbäuerlichen" Schichten - beide angewiesen auf Kredit. Der Handel mit Vieh, Geld und mit Agrarprodukten bildete bald die Haupterwerbsquelle der Juden auf dem Lande 9 . Einige wenige Juden wurden auch Dorfhandwerker,

zumeist

Metzger, wobei sie Vieh- und Fleischhandel mit Schlachten verbanden. Vom Bodenerwerb bis zur Emanzipation generell ausgeschlossen, blieb den Landjuden praktisch nur der Klein- und Hausierhandel als Basis eines meist kümmerlichen Nahrungserwerbs. Gegenüber der Agrarbevölkerung vertraten die Juden in ihrem Erwerbsleben

zwei

den

Bauern

fremde

Prinzipien:

Kapitalwirtschaft

und

Mobilität. Die Landjuden waren immer auch die "Bankiers" der Agrarbevölkerung, da sie wegen der geringen Kapitalbildung der Bauern und wegen des Pauperismus der "unterbäuerlichen" Schichten jederzeit bereit sein mußten, auf Kredit zu verkaufen, andererseits aber die bäuerlichen Produkte sofort bar bezahlten. Dieses Grundprinzip galt noch im 19. Jh. Im dörflichen Wertsystem verkörperte für die christliche Landbevölkerung der Bodenbesitz die Garantie des Überlebens, für die Juden aber, vom Landerwerb ausgeschlossen, war das Handelskapital die Basis ihrer

Existenz.

lebensnotwendigen

Allein

Kapital

landesherrlichen

ermöglichte Schutzes.

ihnen So

an

den

Erwerb

des

kapitalwirtschaftliches

Denken gewöhnt, waren die Landjuden hierin den Bauern weit überlegen. Welchen sozialen

Sprengstoff dies barg, zeigte sich im Vormärz,

als die

Agrarreformen die Bauern teilweise schon zu selbständigen Kleinunternehmern machten und diese mit ihren Schulden allen Schwankungen der Ernten und der Marktkonjunktur voll ausgeliefert waren. Nicht zufällig kam es in dieser Zeit zu antijüdischen Ausschreitungen auf dem Lande 1 0 . Die Landjuden übten bis weit ins 19. Jh. ihren Handel im Umherziehen aus, und ihre Handelstätigkeit bestand vorwiegend in der Vermittlung zwischen der Agrarbevölkerung

und

den

städtischen

183

Märkten

mit

ihren

wachsenden

Absatzmöglichkeiten und zunehmenden Angeboten an Industrieprodukten. Die Funktion der Landjuden in der Agrarökonomie war also eine doppelte. Einerseits vertrieben die Landjuden Vieh und bäuerliche Agrarprodukte wie Getreide, Wein, Hopfen usw. auf den regionalen und überregionalen Märkten; andererseits versorgten sie durch Hausierhandel und im Kaiserreich schon überwiegend durch Ladengeschäfte die ländliche Bevölkerung mit städtischen Industrieprodukten wie Stoffen, Konfektion, Schuhen, Eisenwaren, Maschinen und Düngemitteln. Je weiter das Eisenbahnnetz

ausgebaut wurde und je mehr

die

industrielle

Konsumgüterproduktion zunahm, desto stärker wurden die Juden zu Mittlern zwischen ländlicher und städtischer Ökonomie. Landjuden suchten sich jetzt möglichst in

der

entfernungen

wuchsen,

Nähe

von Bahnstationen ihre

niederzulassen.

Stadt-Land-Mobilität

stieg

Ihre

zugleich

Handelsmit

der

Abhängigkeit vom städtischen Markt. Das bedeutete auch höheren Kapitalbedarf und höheren Umsatz. Den meisten Landjuden gelang mit der Ausweitung des Warenmarktes und der Entstehung der städtischen Ballungszentren in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in der Tat ein bisher unvorstellbarer wirtschaftlicher Aufstieg. Waren sie zu Beginn des Jahrhunderts meist fast kapitallose Hausierer mit dem Bündel auf dem Rücken gewesen, so besaßen sie im Kaiserreich oft eigene Läden und gehörten zu den mittleren oder oberen Steuerzahlern der Dörfer 1 1 . Dieser wirtschaftliche und soziale Aufstieg zusammen mit der intensiven Bindung zur Stadt führten zu bürgerlichen Zügen im Leben der Landjuden, die es hier genauer aufzuzeigen gilt. Blieben die Dorfjuden auch in den Augen ihrer städtischen Glaubensgenossen weiterhin die Viehjuden vom Lande, so sind doch bürgerliche Normen und Kulturformen von ihnen angenommen und auf dem Lande gelebt worden. Es ist vielleicht sehr erstaunlich, Landjuden überhaupt mit einem Begriff wie Verbürgerlichung in Zusammenhang zu bringen, gilt dieser doch schon für städtische Juden nur im eingeschränkten Sinne. Der ständischen Gesellschaft und damit dem alten Stadtbürgertum hatten Juden niemals angehören können. Mit Emanzipation und sozialem Aufstieg strebten die städtischen Juden in das entstehende Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, wurden von diesem jedoch weitgehend aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Juden konnten im Kaiserreich nur in Ausnahmefällen Beamte, Offiziere und Professoren werden, was die sozialen Schranken markiert, die das städtische Bürgertum errichtete. Die Folge war, daß die Juden ein eigenes jüdisches Bürgertum schufen, das zwar über Bildung und Besitz verfügte, aber nicht über Führungspositionen und politischen Einfluß. Dieses jüdische Bürgertum existierte weitgehend quasi außerhalb des Bürgertums, hatte sich aber seinen Werten und Verhaltensnormen angepaßt unter innerer Beibehaltung gewisser jüdischer Traditionselemente, die nach außen eher verdeckt wurden.

184

Es war dieses städtische jüdische Bürgertum, von dem die Landjuden beeinflußt wurden. Doch auch im Kaiserreich blieben sie sehr viel "jüdischer" in ihrer Religiosität, ihrer Berufswahl sowie Kleidung und Sprache als die städtischen Juden 1 2 . Sie hielten weiterhin generell an den Vorschriften des orthodoxen Judentums fest, lebten koscher und heiligten den Sabbat. Sie hoben sich im Dorf als eigene Gemeinschaft von der Agrarbevölkerung deutlich ab und unterhielten keine Heiratsbeziehungen mit ihr. Die Landjuden blieben immer als Juden erkennbar und suchten nicht, sich der sozialen Umgebung zu assimilieren. Allen Umerziehungsversuchen der Behörden zum Trotz hielten sie am Handelsberuf fest, nicht zuletzt weil allein dieser auf dem Lande wirtschaftliche Aussichten bot. Im Kaiserreich waren Landjuden immer noch zu 90% Händler, während dieser Berufsgruppe nur noch gut die Hälfte aller Juden angehörte 1 3 . Der verbreitetste jüdische Beruf auf dem Lande war auch um 1900 noch der des Viehhändlers, den z.B. in Baden ein Drittel der Juden im Hauptberuf ausübte und ein weiteres Drittel im Nebenberuf 1 4 . Dieses Beharren in voremanzipatorischen

Formen

schloß jedoch nicht aus, daß gleichzeitig gewisse städtische Lebensformen übernommen wurden, die sich hiermit vereinbaren ließen. Die Verbindung von traditionellen und modernen Elementen war im Gegenteil ein besonderes Charakteristikum der Landjuden. Welche städtischen Einflüsse sind bei den

Landjuden im

Kaiserreich

erkennbar? Diese Frage ist vor allem mit Hilfe autobiographischer Zeugnisse zu beantworten,

aber

auch

staatliche

Akten,

statistische

Erhebungen

zur

Demographie und Überreste jüdischer Dorfkultur ermöglichen Aufschlüsse. Zu untersuchen sind hier vor allem die Bereiche Familie, Bildung und materielle Kultur, die wahrscheinlich am stärksten bürgerlichen Vorbildern folgten. Durch die jüdische Religion und den Handelsberuf hatte die jüdische Familie auf dem Dorf eine von der bäuerlichen Familie abweichende Struktur in bezug auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Der Ehemann war, sofern er kein Ladengeschäft hatte, während der ganzen Woche in seinem Handelsbezirk unterwegs und kam erst am Freitag zum Sabbat nach Hause. Seine Ehefrau bearbeitete nicht wie die Bäuerin den Acker, sondern ihre Aufgabe war in erster Linie die Führung des koscheren Haushaltes, die Vorbereitung des Sabbats und die Erziehung der Kinder. Da die jüdische Religion Haushalt und Familienleben bis in Einzelheiten bestimmte, wurde die Häuslichkeit viel stärker betont und gepflegt als in den bäuerlichen Haushalten. Zum Sabbat gehört ein aufwendiges Essen an schöner Tafel mit anschließendem Genuß der Sabbatruhe im Kreise der Familie. Hier gab es also eine religiöse Tradition von Festlichkeit und Muße, die viele Ansätze zur Verbürgerlichung bot. Die jüdische Frau auf dem Lande erscheint in amtlichen Berichten häufig als der Putzsucht und dem Müßiggang ergeben, da sie keine Feldarbeit verrichtete,

185

sich modisch, d.h. städtisch kleidete und am Sabbat durch Spazierengehen Muße demonstrierte 15 . Die Lebensform der jüdischen Landfrau war von der der städtischen Jüdin strukturell kaum unterschieden. Beide arbeiteten, wenn die Familie nicht zu gut situiert war, im Ladengeschäft mit oder übernahmen die Buchführung. Nicht selten geschah es, daß jüdische Städterinnen auf das Land heirateten, vor allem, wenn ihre Mitgift zu klein war, um in eine sozial gleichrangige Familie in der Stadt einzuheiraten. Da es im Dorf zu wenig potentielle jüdische Ehepartner gab und die jüdischen Ehen bis ins 20. Jh. meist durch Vermittlung zustande kamen, war es nicht ungewöhnlich, daß Ehefrauen aus größeren Entfernungen und auch aus Städten kamen 16 . In zwei untersuchten badischen Dörfern (Nonnenweier und Altdorf) stammten während des Kaiserreichs weniger als die Hälfte der Ehefrauen aus dem Dorf selbst 17 . In Altdorf kamen 7% der christlichen, aber 36% der jüdischen Ehefrauen aus Orten, die mehr als 15 Kilometer entfernt lagen. Waren die jüdischen Ehefrauen in der Stadt aufgewachsen, brachten sie nicht nur städtische Moden ins Dorf, sondern sprachen manchmal Französisch, waren belesen, hatten kulturelle Interessen und eine starke Motivation für die gute Ausbildung ihrer Kinder. Julius Frank beschreibt in seinen Jugenderinnerungen, wie enttäuscht seine Mutter war, als sie durch die Ehe in ein fränkisches Dorf kam, wie sie aber ihr Zeitungsabonnement beibehielt, Klassiker las und ihren Sohn auf das Gynmasium schickte18. Die Fruchtbarkeit der jüdischen Ehen auf dem Lande war in der ersten Hälfte des 19. Jh. extrem hoch. Soweit man aus einigen Einzeluntersuchungen schließen kann, sank sie jedoch im Kaiserreich unter die Geburtenraten der christlichen Dorfbevölkerung, wenn sie auch deutlich höher blieb als die des städtischen Judentums. Beispielsweise gebaren 1870-1899 in Altdorf jüdische Ehefrauen über 30 nur noch durchschnittlich 2,1 Kinder, während die christlichen Frauen in diesem Alter noch 4,2 Kinder zur Welt brachten 19 . Diese Tatsache ist ein deutlicher Hinweis auf die Ausübung von Geburtenkontrolle als Resultat städtischer Einflüsse. Als Motiv für die Geburtenkontrolle wird in erster Linie der Wille zum sozialen Aufstieg, wenn nicht gar zur Urbanisierung angenommen werden können. Weniger Kinder zu haben, erlaubte deren bessere Ausbildung zu städtischen Berufen. Kein Landjude konnte im Kaiserreich noch davon ausgehen, daß auch die nächste Generation ausschließlich auf dem Dorf leben werde, da nur in der Stadt die wirtschaftlichen Aussichten wuchsen, die jüdischen Landgemeinden aber bereits deutlich im Rückgang waren. Die Kleidung und Nahrung der Dorfjuden unterschied sich nicht nur am Sabbat von derjenigen der Bauern. Die Viehhändler trugen stets Hüte und lebten während der Woche sehr frugal, da sie koschere Kost von zu Hause mitnehmen oder unterwegs selbst bereiten mußten. Um so größer waren dann die Aufwendungen für die traditionellen Sabbat- und Festspeisen, die die Frauen vor

186

Beginn des Sabbat zubereiteten 2 0 . Die festliche Sabbattafel war möglichst mit gutem Geschirr und Leinen gedeckt und wies immer den meist silbernen Sabbatleuchter auf und den silbernen Becher für den vorgeschriebenen Wein. Diese Stücke wurden vererbt und gehörten zum stolzen Besitz auch armer Familien. Am Sabbat trug die Familie ihre besten Kleider und spazierte damit durch das Dorf. War diese betonte Festkultur religiös bedingt, so wurde doch ihre Ausstattung eine städtische, da die Waren des gehobenen Bedarfs in der Stadt erworben wurden. Die starke Mobilität der jüdischen Händler erlaubte es ihnen jederzeit, Kleidung und Nahrung städtischer Produktion auf das Land zu bringen, sei es für den Eigenbedarf, sei es für den Vertrieb. Der Konsum städtischer Waren allein

bedeutete

jedoch

noch

keine

Verbürgerlichung,

konnte

sie

aber

symbolisieren, wenn gleichzeitig ein gewisses Vermögen und ein Streben nach bürgerlicher Bildung vorhanden waren. In der sozialen Oberschicht der Landjuden nahmen solche Züge im Kaiserreich stark zu und führten oft zur Abwanderung dieser Familien vom Land in die Stadt. Man könnte hier geradezu von einer Verbürgerlichung vor der Urbanisierung sprechen 21 . In der Wohnkultur der Landjuden zeigt sich noch deutlicher, wie die städtischbürgerlichen Einflüsse mit dem sozialen Aufstieg zunahmen. Traditionell hatten viele Händler auf dem Lande Häuser mit Stall und Scheune gehabt zur Unterbringung Jahrhunderts

der

Handelstiere,

errichteten

die

der

Streu

vermögenderen

und

des

Futters.

Ende

Händler

jedoch

villenartige

des

Wohnhäuser nach städtischem Vorbild, wie man sie heute noch etwa im südbadischen Judendorf Gailingen sehen kann 2 2 . Von bürgerlichen Ansprüchen zeugten auch die Einrichtungen der Häuser. Julius Frank schreibt als Sohn des Gemeindevorstehers im fränkischen Dorf Steinach darüber: "Die Ausstattung der Räume war bei den Juden wesentlich besser als bei den Bauern. Die Wände waren tapeziert, und zur Einrichtung gehörten meist auch ein Sofa, Polsterstühle und ein 'Sekretär'. Im Hause meiner Eltern und in einigen anderen gab es außerdem noch eine 'gute Stube' mit anschließendem Gästeschlafzimmer" 23 . Diese Schilderung eines Interieurs um 1890 läßt deutlich bürgerliche Standards im Lebensstil erkennen, wie sie für die dörfliche Oberschicht der Landjuden im Kaiserreich als typisch angesehen werden können. Franks Vater war ein Pferdehändler, der einen eleganten Zweispänner mit silberbeschlagenem Zaumzeug für die Pferde fuhr und seinen Sohn auf das Gymnasium schickte. Die Familie verließ 1904 das Dorf. Wichtigstes Kriterium der Verbürgerlichung des Landjuden war der Drang zur Bildung, der vor allem als Wille zur besseren Ausbildung der Kinder sichtbar wurde. Bildung hatte als religiöses Element in der jüdischen Gesellschaft von jeher einen hohen Stellenwert. Die religiöse Pflicht zum Lernen der Tora führte zur sozialen Hochschätzung des Lernens und der Talmudgelehrten. Seit Ende des 18. Jh. wurde mit Beginn der jüdischen Aufklärungsbewegung das soziale Prestige

187

religiöser Bildung zunehmend auf eine säkulare übertragen, die zuvor fast keine Rolle im jüdischen Erziehungswesen

gespielt hatte. Die städtischen

Juden

schickten ihre Söhne in wachsendem Umfang auf Gymnasien und Universitäten und entdeckten Bildung auch als Mittel zum sozialen Aufstieg 24 . Sobald den Landjuden die Freizügigkeit gewährt wurde, begannen auch sie, eine bessere Ausbildung für ihre Kinder zu erstreben. Dies aber bedeutete immer, daß entweder die ganze Familie oder der Schüler bzw. Lehrling in die Stadt übersiedelte. Bildung wurde so zu einem wichtigen Motor der Urbanisierung. Den Anstoß für den Umzug in die Stadt scheinen nicht selten die Ehefrauen gegeben zu haben, die kulturelle Interessen pflegten. Eduard Silbermann schreibt über seine Mutter, die von Lichtenfels ins oberfränkische Dorf Kolmsdorf geheiratet hatte: "Sie hielt sich in Bezug auf die neue Belletristik soweit als möglich auf dem laufenden und war bis zu ihrem Lebensende eine eifrige Leserin der Frankfurter Zeitung, und dies neben ihrer reich zugemessenen Tätigkeit im Geschäft und in der Haushaltung ... Sie drang darauf, daß die Knaben auch eine höhere Ausbildung, als sie die Volksschule gewährt, erhielten ... Nachdem das Gesetz vom Jahre 1861 freie Bahn geschaffen hatte, ließ meine Mutter nicht ab, meinen etwas bedenklichen Vater zu bestürmen, sein Domizil nach Bamberg zu verlegen" 25 . Silbermann, der Sohn eines ländlichen Manufakturwarenhändlers, machte

in Bamberg

das Abitur

und wurde

später

Senatspräsident

beim

Oberlandesgericht München. Zog die Familie nicht selbst in die Stadt, gab sie die Söhne dort in Pension oder mutete ihnen lange Schulwege zu. Der Arzt Samuel Spiro

berichtete

in

Jugenderinnerungen

an

sein

hessisches

Heimatdorf

Schenklengsfeld um 1895: "Die wohlhabenden Juden hatten den begreiflichen Wunsch, ihren Kindern eine höhere Schulbildung zuteil werden zu lassen, und so wurden denn einige Kinder in das Gymnasium der benachbarten Kreisstadt Hersfeld geschickt, darunter ich, das 'Wunderkind' ... Die Entfernung betrug 14 km, und man mußte eineinhalb bis zwei Stunden mit dem Pferdewagen dorthin fahren" 2 6 . Um 1900 besuchten etwa 5 % der Söhne von Landjuden das Gymnasium, die meisten jedoch absolvierten eine Lehrzeit bei einer möglichst angesehenen städtischen Firma oder gingen auf eine Handelsschule 27 . Von ihnen allen kehrte gewöhnlich keiner auf das Dorf zurück. Bessere Ausbildung wurde identisch mit Stadtleben und sozialem Aufstieg für diese Söhne der Landjuden. Noch in den endlosen Emanzipationsdebatten der Landtage des Vormärz waren Armut und Unbildung der Landjuden oft als Argument gegen die Fortführung der Emanzipation verwendet worden. Diese Landjuden haben dann innerhalb von nur zwei Generationen einen wirtschaftlichen Aufstieg und eine Verbürgerlichung ihrer Oberschicht erreicht, die sie zum größten Teil in die Städte abwandern ließ. Die meisten Landjuden kamen auf der Suche nach einer besseren Ausbildung durch intergenerationelle Mobilität in die Stadt. Bildung und Besitz,

188

diese

Grundlagen

des

modernen

Bürgertums,

waren

die

Vehikel

ihrer

Verbürgerlichung, die auf dem Lande begann, aber erst in der Stadt ihr Ziel fand. Die Landjuden wurden damit wieder, was sie vor Jahrhunderten gewesen waren: städtische Juden, die jetzt bürgerliche Rechte und bürgerlichen Lebensstil besaßen, aber niemals wirklich als Teil des deutschen Bürgertums akzeptiert werden sollten.

Anmerkungen Dieser Aufsatz entstand im Zuge einer Untersuchung über Landjuden in Südwestdeutschland, die von der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart gefördert wird. 1

So die Tabelle "Übersicht der Emanzipationsvorgänge 1808-1871", in: Toury, J., Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847-1871 (Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte Universität Tel Aviv), Düsseldorf 1977, S. 384-88.

2

Der Anteil der Juden, die in Orten mit weniger als 2000 Einwohnern lebten, fiel von 27% auf 17,9%. Vgl. Barkai, A., German-Jewish Migrations in the Nineteenth Century, 1830-1910, in: Leo Baeck Institute Year Book Bd. 30, 1985, S. 302. Die jüdischen Vereine und Gemeinden in Deutschland (Veröffentlichungen des Bureaus für Statistik der Juden, H. 3), Berlin 1906, S. 74.

3

S. hierzu Germania Judaica, Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums, Bestandskatalog I, Regional- und Lokalgeschichte, Köln 1988.

4

Jeggle, U., Judendörfer in Württemberg, Tübingen 1969.

5

Silbergleit,H., Die Bevölkerungs- und Berufsverhältnisse der Juden im Deutschen Reich, Bd. I Preußen, Berlin 1930, S. 11 (Einleitung).

6

Sauer, P., Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, S. 11.

7

Tänzer, A., Die Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen, neu hrsg. von K.-H. Rueß, Stuttgart 1988, S. 97 und Sauer, P., Jüdische Gemeinden in Württemberg, S. 83,167.

8

Krug, G., Die Juden in Mainfranken zu Beginn des 19. Jh. Statistische Untersuchungen zu ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation, in: Brandt, H.-H. (Hrsg.), Zwischen Schutzherrschaft und Emanzipation. Studien zur Geschichte der mainfränkischen Juden im 19. Jh., Würzburg 1987, S. 54. Guth, K. (Hrsg.), unter Mitarbeit von Groiss-Lau, E. und Krzywinski, U., Jüdische Landgemeinden in Oberfranken (1800-1942), Bamberg 1988, Tabelle S. 393.

9

Zur Wirtschaftstätigkeit der Juden auf dem Lande s. Richarz, M., Emancipation and Continuity. German Jews in the Rural Economy, in: Revolution and Evolution. 1848 in German-Jewish History, hrsg. von W. Mosse u.a.(Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Institutes 39), Tübingen 1981; dies., Viehhandel und Landjuden. Eine symbiotische Wirtschaftsbeziehung in Südwestdeutschland, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 1990, im Auftrag des Salomon Ludwig Steinheim Instituts hrsg. von J. Schoeps erschienen, München 1990.

10 Erb, R. und Bergmann, W., Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland, 1780-1860, Berlin 1989, S. 217 ff.

189

11 Zum sozialen Aufstieg der Landjuden s. Toury, J., Soziale Geschichte, S. 7584; Jeggle, U„ Judendörfer, S. 183-190. 12 Zur Lebensform der Dorfjuden im 19. Jh. vgl. die Erinnerungen von Landjuden in: Richarz, M. (Hrsg.), Jüdisches Leben in Deutschland, Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte, Bd. I (1780-1871), Stuttgart 1976, S. 137176, Bd. II (Kaiserreich), Stuttgart 1979, S. 137-168,190-200. 13 Nur vorübergehend konnten Juden gezwungen werden (Toury, J., Soziale waren in 93 badischen Landgemeinden tätig. Vgl. Jüdische Statistik, hrsg. vom 1903, S. 192.

im Vormärz in Handwerksberufe Geschichte, S. 71 ff). Im Jahr 1900 nur 8% der Juden nicht im Handel Verein für Jüdische Statistik, Berlin

14 Ebd., S. 196-201. 15 Jeggle, U., Judendörfer, S. 164 f., zitiert vier Beispiele. 16 Kaplan, M., For Love or Money. The Marriage Strategies of Jews in Imperial Germany, in: Leo Baeck Institute Year Book Bd. 28, 1983, S. 263-300, hier S. 277. 17 Goldstein, A., Some Demographic Characteristics of Village Jews in Germany: Nonnenweier 1800-1931, in: Modern Jewish Fertility, hrsg. von P. Ritterband, Leiden 1981, S. 120; dies., Determinations of Change and Response among Jews and Catholics in a Nineteenth Century German Village (Jewish Social Studies, Monograph Series number 3), New York 1984, S. 33. 18 Richarz, M. (Hrsg.), Jüdisches Leben, Bd. II, S. 194. 19 Goldstein, A., Determinations, S. 26 f. Vgl. dazu auch dies., Demographic Characteristics, S. 127 und Lowenstein, St., Voluntary and Involuntary Limitation of Fertility in Nineteenth Century Bavarian Jewry, in: Modern Jewish Fertility, hrsg. von P. Ritterband, S. 102. 20 Cahnmann, W., Der Dorf- und Kleinstadtjude als Typus, in: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 70,1974, S. 184 ff. 21 In ähnlichem Sinne: Lowenstein, St., The Rural Community and the Urbanization of German Jewry, in: Central European History, Bd. 13, 1980, S. 218-36, hier S. 236 22 Friedrich, E. und Schmieder-Friedrich, D. (Hrsg.), Die Gailinger Juden, Konstanz 1981, Fotos auf S. 28,31, 34. 23 Richarz, M. (Hrsg.), Jüdisches Leben, Bd. II, S. 191. 24 Richarz, M., Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland 1678-1848 (Schriftenreihe Wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Institutes 28), Tübingen 1974, S. 143 ff. 25 Richarz, M. (Hrsg.), Jüdisches Leben, Bd. I, S. 170. 26 Ebd., Bd. II, S. 144. 27 Moses, J., Statistische Erhebungen über die Berufswahl der jüdischen Jugend in den Landgemeinden Badens, in: Jüdische Statistik, S. 203.

III. Bürgerliche Ideologien und politische Praxis in der ländlichen Gesellschaft

Wolfgang Kaschuba

Dörfliche Kultur: Ideologie und Wirklichkeit zwischen Reichsgründung und Faschismus

I.

Im Jahr 1900 veröffentlicht der Schriftsteller Peter Rosegger den Roman

"Erdsegen", einen "Kulturroman", wie der Autor selbst ausdrücklich betont. Gegenstand des Werkes - das verrät schon sein Titel - ist die ländliche, die bäuerliche Welt der Jahrhundertwende und seine Hauptfigur ein Journalist, der über die Dörfer wandert, sich als Bauernknecht ausgibt und auf den Höfen verdingt. Wie ein Ethnograph, unterwegs im Feld einer fremden Kultur, berichtet dieser seiner Heimatredaktion in kuriosen "Sonntagsbriefen" von seinen Erfahrungen in jener "anderen", ländlichen Welt irgendwo im deutschen Süden. Er entwirft Bilder von "stattlichen Gehöften" und von bäuerlichen "Hausvätern", von ehrlicher Armut und von behäbigem Wohlstand, von familiärem Abendgebet und von Bräuchen am Dreikönigstag, von Erzählungen aus dem Soldatenleben und über Sedan, von leinenen Trachten und Heilkräuter-Kuren. Dazwischen tauchen bereits modische Kaffeemaschinen und Zigaretten auf, moderne landwirtschaftliche Technik und Kreditgeschäfte, auch Diskussionen über Kirche, Sozialdemokratie und Nation. "Manchmal hört der Bauer, daß man jetzt deutsch sein müsse" und wundert sich, daß es überhaupt etwas anderes geben soll. "Wahrlich" - läßt Rosegger seinen Helden schließlich sinnieren - "das ist das Majestätische an diesem Volke - es hat's nicht eilig. Es kann warten, es steht fest"1. Roseggers Bild vom "bäuerlichen Volk" folgt in vielen Zügen natürlich einem Genrebild, wie es durch das ganze 19. Jh. in Kunst und Literatur gepflegt wurde. Es zeichnet bürgerliche Ansichten eines bäuerlichen Lebens nach, das holzschnittartig geprägt scheint durch Geschichtlichkeit, Beständigkeit und Traditionsbindung. Doch ist dies nur die eine Seite; neben süßlich-trautem "Volksleben" finden sich bei Rosegger auch witzige, scharfsinnige Milieustudien und zudem viele Hinweise auf soziale Veränderungen, auf kulturelle Brüche, auf politische Konflikte im Alltagsleben. Das (zer-)stört die Idylle wiederum, läßt sie manchmal als bloße Kulisse erscheinen. Im Erzählstoff deuten sich also jene Widersprüchlichkeiten durchaus an, die in dieser Zeit sowohl die Bilder vom "Landleben" wie die Wirklichkeit ländlicher Lebenswelten selbst kennzeichnen. Denn in den Jahrzehnten zwischen Reichsgründung und Nationalsozialismus wirken ausgesprochen komplexe und komplizierte ökonomisch-soziale Wandlungsprozesse tief in die Agrargesellschaft hinein. Deutlich setzen nun die Wirkungen der Hochindustrialisierung und der gesellschaftlichen Modernisierung ihre Akzente in dörflicher Ökonomie und Alltagskultur: Die

193

Land-Stadt-Wanderung verstärkt sich entscheidend, die wirklichen Bauernfamilien bilden in den meisten Dörfern nurmehr eine Minderheit, Technik und Ökonomie dringen weiter in die Agrarproduktion wie in die Haushalte vor. Von der Arbeitshektik bis zur Konfektionskleidung, von der Dampfmaschine bis zum elektrischen Bügeleisen scheinen die Symbole städtischer und bürgerlicher Kultur allmählich die dörflichen Lebensformen zu überwuchern, scheinen sie diese im Zeichen der Moderne zu "verbürgerlichen". Zugleich jedoch und quasi in Umkehrung dieser Vorzeichen findet eine vehemente ideologische Aufwertung der "Dorfkultur" in der Literatur, in der Heimatkunstbewegung und besonders in der Politik statt. Fast unterschiedslos werden die ländlichen Lebenswelten und Gruppenkulturen der historischen Fiktion einer gemeinsamen "bäuerlichen Kultur" zugeschlagen, die nunmehr verstärkt als Fundament von "Gemeinschaft" und "Volk", von "Heimat" und "Nation" zitiert und mystifiziert wird. Die einst harmlose Spätblüte bürgerlicher Bauernromantik - sie wuchert aus in völkisch-nationale Politik. Somit geraten zwei Szenarien "bäuerlicher Kultur", zwei "Dorfbilder" ins historische Blickfeld: Zum einen sind es eben die Umrisse einer sich verändernden ländlichen Wirklichkeit, zum andern treten nun die Konturen eines ideologisch eingefärbten bürgerlichen Dorfbildes schärfer hervor. Und im Zusammenspiel dieser beiden Ebenen, in den Wechselbeziehungen von historischer Konstitution und von ideologischer Konstruktion der Wirklichkeit werden damit sowohl entscheidende Außenansichten als auch wesentliche Selbstverständnisse des "Landlebens" neu geprägt - zwei verschiedene Varianten dessen, was gerne als "Verbürgerlichung" des Landes beschrieben wird. Mit einigen Aspekten dieses kulturellen und ideologischen Dialogs und seiner Wirkungen will ich mich im folgenden beschäftigen und dabei besonders nach der analytischen Brauchbarkeit dieses Verbürgerlichungsbegriffes fragen. II. Nun gibt es eine ganze Reihe forschungs- und kulturgeschichtlicher Irritationseffekte, die den Versuch einer realistischen Sicht ländlicher Gesellschaftsgeschichte gerade für diesen Zeitraum zwischen den 1870er und den 1930er Jahren erschweren. Zum einen wird "das Dorf, "der Bauer", "das Land" insgesamt als literarisches wie als wissenschaftliches Betrachtungsobjekt damals meist als etwas Geschlossenes, Homogenes wahrgenommen und in den Darstellungen entsprechend undifferenziert wiedergegeben. Selbst aufmerksame zeitgenössische Beobachter, die durchaus um die großen Unterschiede wissen, die den Großbauern vom Arbeiterbauern oder eine Region mit gutsherrschaftlicher Geschichte von "freien" Bauernregionen trennen, suchen letztlich immer wieder jene Generalnenner "bäuerlichen

194

Wesens" auf, die eine ländliche Gesellschaftsvielfalt schlußendlich wieder zur archaischen Grundeinheit des Bauerndorfs zusammenstutzen. Zum zweiten ist vom historischen Selbstverständnis gesellschaftlicher Gruppen wohl am allerwenigsten über das dörfliche "Selbstbild" überliefert. Zeugnisse der Selbsteinschätzung und Selbstdarstellung ländlicher Gesellschaft sind kaum greifbar, nur indirekte Widerspiegelungen oder Bilder von fremder Hand. Jenes "Bild vom Bauern", das durch die ältere Kulturgeschichte geistert, besteht so aus bürgerlichen Stereotypen und Zuschreibungen, und es hat nach einer Antwort oder Kritik der Betroffenen niemals auch nur gefragt. Zum dritten - und damit zusammenhängend - hat freilich auch die dörfliche Kultur selbst schon im 19. Jh. die fatale Neigung entwickelt, sich ihrerseits nach außen hin als Stilleben und Genrebild darzustellen. Denn es zählt zu den charakteristischen Eigenschaften der Dorfgesellschaft - und da scheint der Singular angebracht -, die soziale Wirklichkeit und deren Wandel geschickt zu verdecken durch die Traditionskulisse der "Dorfgemeinschaft". Soziale Differenzierungen und wirtschaftliche Konflikte zwischen herrschenden bäuerlichen Minderheiten und unterprivilegierten nicht-bäuerlichen Mehrheiten, die Wirkungen von Sozialkontrolle und normativer Moral, die unterschiedlichen Interessen und Formen gar ländlicher Klassenbildung und dörflicher Politik - all dies verschleiert jener Mythos vom "Gemeinschaftsleben" und vom "Bauernhof 1 , der nicht nur von außen zugeschrieben, sondern längst auch von innen befestigt scheint. So werden die Risse und Brüche im Dorfgefüge durch traditionale Kulturmuster aus "Sitte und Brauch" überklebt, weil dies die innerdörflichen Formen sozialer Herrschaft stabilisiert. Das scheint das schwerwiegendste Problem: Der Gegenstand selbst stilisiert, kostümiert sein Äußeres, er formt sich gewissermaßen nach einem "falschen" Bilde. Deshalb klaffen Ideologie und Wirklichkeit - man könnte auch sagen: Kultur und Struktur - wohl nirgendwo so weit auseinander wie hier, auf dem Lande, zu dieser Zeit. Bis heute sind dies Grundprobleme der Dorfforschung geblieben, auch weil unsere historische Perspektive das Dorf immer noch in gewisser Weise von der Gesellschaft absondert, weil sich der Blick zu oft noch auf eine "Kleingesellschaft" Dorf richtet, auf ein historisches "Isolat", statt auf ländliche Gesellschaftszonen im Kontext des allgemeinen Wandels. Zu lange hat die Dorfforschung offenbar jene dörfliche Eigengeschichtlichkeit beschworen, als daß sie sich von diesem selbst geschaffenen Mythos hätte ganz befreien können. Insofern sind auch wir heute gewiß noch befangen in mancher Idealisierung bäuerlicher Arbeits- und Lebensweise und ihrer Naturnähe, ihrer Körperlichkeit, ihrer Gemeinschaftlichkeit, also in jenen

Mystifikationen

bäuerlichen

Wesens

als

etwas

Archaisches,

etwas

"Grundschichtiges", von dem die frühere Volkskunde im Blick auf bäuerliche Kultur und Mentalität so gern sprach. Da haben unser sozialgeschichtliches Fakten-

195

wissen und unsere mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen offenbar noch keine rechte Synthese gefunden: Wie ist umzugehen mit den Ungleichzeitigkeiten und Verwerfungen dörflicher Wandlungsprozesse? Wie synchronisiert sich der oft kurzwellige Rhythmus der Ökonomie mit dem ganz anderen, dem langwelligen der Einstellungen und Haltungen, also mit jener longue durée von Kultur und Mentalität? Weshalb stellen sich Dörfer, in denen es gerade noch drei, vier Bauernhöfe gibt, dennoch weiterhin selbst "bäuerlich" dar? Wäre "bäuerliche Kultur" so als geschichtlicher "Überhang" zu begreifen, der die Wirklichkeit gleich doppelt überformt: zunächst in der historischen Dorfgemeinschaft selbst und dann nochmals in unserer ideologisch vorgeprägten historischen Perspektive? Und stünde "Verbürgerlichung" dann einfach als Titel über einem Saldo, dem all das gutzuschreiben wäre, was als bloße "Entbäuerlichung" bei jenen Dorfgruppen sichtbar wird, die nicht ins Proletariat absinken? III. Als zentrales Problem stellen sich diese Définitions- und Justierungsfragen eben vor allem im Blick auf die gesellschaftliche Landschaft der deutschen Hochindustrialisierung, wo die Zeichen für die "Traditionalität" oder die "Modernität" ländlicher Kultur schwer zu entziffern sind. Zwar finden sich vor und nach 1900 auch im ländlichen Bereich eindeutige Reaktionen auf den ökonomischen und sozialen Wandel im Sinne der Teilnahme an gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprozessen. Dennoch bleibt der Eindruck, daß sich Stadtwelt und Landwelt hier noch weiter auseinanderentwickeln, in vieler Hinsicht getrennte Gesellschaftssphären bilden, fast "zwei Welten". Wiederum sind nur einige Schlaglichter zu werfen auf eine dörfliche Wirklichkeit zwischen Reichsgründung und Faschismus, wie sie uns die Wirtschafts- und Sozialgeschichte anzeigen2. Im Vordergrund dominieren sicherlich die agrarischen Proletarisierungs- und Kapitalisierungsprozesse, bei denen einem wachsenden Heer von Klein- und Nebenerwerbslandwirtschaften nun immer schmalere Gruppen der selbständigen Mittelbauern und der Großbauern gegenüberstehen, dazu die verschwindend kleine, aber mächtige Kaste der "Großagrarier". Generell kann von "geschlossenen" Bauerngemeinden kaum irgendwo mehr die Rede sein, bei den klein- und unterbäuerlichen Mehrheiten ist Lohnarbeit längst zur entscheidenden Basis der Existenzsicherung geworden noch vor der Subsistenzwirtschaft. Ab den 1890er Jahren verschärft sich diese Scherenentwicklung weiter durch die schleichende Agrarkrise und eine einseitig die Großproduzenten begünstigende Markt- und Zollpolitik. Das bedeutet eine Getreide-, Hopfen-, Zuckerrüben-Hausse für die "Großen", hingegen Betriebs- und Lebensmittelverteuerung für die "Kleinen" - be-

196

sonders kraß sichtbar ja im "Sonderfall" Ostelbien, wo Gutswirtschaft und Landarbeiterleben noch ein Gegensatzpaar bilden wie 100 Jahre zuvor. Auch die landwirtschaftlichen Arbeitsformen haben sich durch den verstärkten Kapital- und Maschineneinsatz in den Mittel- und Großbetrieben verändert: 1882 noch wird in nur knapp 4% der landwirtschaftlichen Betriebe Maschinenarbeit eingesetzt, 1907 bereits bei über 21% - stark zunehmend auch bei der Gruppe der Mittelbauern 3 . Zwar bleibt der Grundcharakter der Agrarproduktion als einer harten, ausdauernden Hand- und Körperarbeit noch erhalten, verstärkt wird durch Maschinisierung jedoch die Hektik und Zeitnot der Arbeit in den Familien wie für die familienfremden Arbeitskräfte in den Mäh- und Drescherkolonnen. So nehmen vor allem die Erholungs- und Geselligkeitsformen in den Familien und Gruppen in dieser Zeit deutlich ab, auch die dörflichen Sozialbeziehungen beginnen sich allmählich in rationeller und kommerzieller Richtung umzugestalten. Ökonomisch und strukturell betrachtet, bedeutet dies jedenfalls eine wesentliche Verschärfung der sozialen Lageunterschiede und Interessengegensätze: eine unübersehbare Verstärkung des Lohnarbeiterverhältnisses auch in den Dörfern einerseits und eine Tendenz zur Herausbildung agrarischer Unternehmerschichten andererseits, deren ökonomische Organisationsform wie sozialer Status indessen nur bei einer Minderheit der Großgrundbesitzer tatsächlich "bourgeoise" Züge zu erhalten scheint. Zum zweiten zeichnet sich ein ländlicher Veränderungsschub im Gefolge von Mobilitäts- und Segregationsbewegungen ab. Nurmehr 40% der deutschen Bevölkerung leben in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Lande, dagegen bereits 48% in mittelgroßen und großen Städten 4 . Zwar kommt es zu keiner "Entvölkerung" des Landes, aber es zeigen sich starke Abwanderungstendenzen besonders der jungen Generationen und besonders aus gutswirtschaftlichen Regionen. Darin drückt sich auch eine zunehmende Aufspaltung der dörflichen Orientierungshorizonte aus: Weiterhin dorfzentriert im Sinne sozioökonomischer Stabilitätsvorstellungen bleibt der Blick der klein- und mittelbäuerlichen Gruppen, die an ihrem Hauptziel der Hof- und der bäuerlichen Statussicherung festhalten; dagegen weitet sich nun der Horizont unterbäuerlicher Existenzen und Lebensentwürfe entscheidend. Sie "entdecken" den überregionalen und städtischen Arbeitsmarkt, orientieren ihre Bedürfnisse stärker an Konsum- und Lohnstandards das "eherne Gesetz" der Hoferhaltung verliert seine Macht über die Gestaltung der Lebensläufe. Dabei bleibt die Moblität jedoch weit überwiegend begrenzt auf die horizontale Ebene: Landarbeiter wechseln über in die Fabrikarbeiterexistenz, Kleinbauern erleiden mit demselben Schritt in dörflichen Augen sogar sozialen Abstieg. Chancen des sozialen Aufstiegs bleiben selten: Weder im dörflichen Bereich und dort in die bäuerliche Kerngruppe, noch in städtische Angestellten- oder Beam-

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tenpositionen und damit in kleinbürgerliche Existenzen eröffnen sich nennenswerte Einstiegsmöglichkeiten. Zum dritten zeigt sich im Blick auf die Alltagskultur, auf Lebensstile und Familienformen eine wachsende Distanz zwischen "urbaner" und "ländlicher" Welt: Bildungs- und Freizeitangebote, Warenversorgung und Berufsmarkt sind in den ländlichen Regionen deutlich begrenzt - besonders für Mädchen und Frauen. Lediglich für Großbauernfamilien rücken städtisch-bürgerliche Konsumstile und Bildungswege in materiell wie sozial erreichbare Nähe, werden jedoch meist nur ausschnitthaft angenommen 5 . Hinzu kommt die Auflösung traditioneller kleinbäuerlicher Gruppenkulturen und Familienformen durch die Proletarisierung, durch zunehmende Pendlerexistenz und Abwanderung, auch durch die verstärkte Lohnarbeit der Frauen. Hand in Hand mit dieser Auflösung "alter" Muster entstehen zugleich "neue" Geselligkeitsformen: Es ist kein Zufall, daß nun die Hoch-Zeit der dörflichen Vereinsgründungen und der dörflichen Festkultur beginnt, denn solche "künstlichen" Bindeglieder sollen die schwindende sozialkulturelle Bindekraft des dörflichen Gefüges nochmals stärken. Natürlich sickern damit auch viele Elemente des städtischen Kulturkreises über Markt und Verkehr allmählich in die Dörfer ein. Auch die Lockerung des endogamen Heiratsverhaltens und die Tendenz zur modernen "Neigungsehe" deuten in Richtung Wandel. Im Blick darauf jedoch von "bürgerlichen" Kulturmustern sprechen zu wollen, wäre wohl voreilig, solange unklar bleibt, wie mit diesen neuen Modellen im Alltag umgegangen wird. So nimmt die Veränderung von Heiratsverhalten und Familienformen ja keineswegs Kurs auf das bürgerliche Ufer von Heim und Häuslichkeit, sondern es bleibt bei dem Grundmodell der ländlichen "Produktionsfamilie" als Arbeits- und Reproduktionssystem. Und selbst bei den Großbauern mag man kaum von "kultureller Verbürgerlichung" sprechen, wenn zwar bestimmte materielle Güter, nicht aber die entsprechenden Werte in die Familien Einzug halten: Lebensstil, Bildung und ästhetische Praxis erhalten weder wirtschafts- noch bildungsbürgerlichen Zuschnitt. Viertens schließlich geht es um die Sphäre der sozialen Interessenartikulation und der Politik. Zweifellos verschärft sich in diesen Jahren noch die konservative politische Kontrolle ländlicher Bezirke durch den Ausbau des Staatsapparats, durch die Ausbreitung der konservativen Parteiorganisationen wie durch die Lokalpolitik der dörflichen Eliten. Nicht ungeschickt wird der ideologische Kampf gegen die Landarbeiterbewegungen wie die Sozialdemokratie unter den Vorzeichen "nationaler Politik" und im Deckmantel kirchlicher und vaterländischer Vereine geführt. Dagegen ist Opposition nur begrenzt möglich, denn ökonomisch-politische Herrschaft und kulturelle Hegemonie sind im dörflich-lebensweltlichen Gefüge besonders eng ineinander verzahnt: Was nicht durch die Mechanismen mate-

198

rieller Abhängigkeit zwangsintegriert werden kann, wird durch den moralischen Kodex von "Sitte und Brauch" sozial normiert. Dementsprechend sind bürgerliche Politikformen wie Diskurs, Öffentlichkeit, Wahlkampf meist nicht einmal formal eingeführt, geschweige denn in Praxis umgesetzt. Solange die bäuerlich-handwerklichen Verwandtschaftssysteme zugleich als dörfliches Herrschaftssystem fungieren und die Gemeinderatsstühle besetzt halten, solange in den Parteiortsgruppen die Pfarrer- und Bauernvorsitzenden präsidieren, ist ein eigentlicher Bereich "des Politischen" als Sphäre des öffentlichen Interessendiskurses faktisch nicht vorhanden.

IV.

Blickt man nun von den dörflichen Wirtschafts- und Sozialstrukturen auf das

Konstrukt, auf das ideologische Konzept des "deutschen Dorflebens" ausgangs des 19. Jh., so lautet hier das Leitmotiv noch weniger "Verbürgerlichung", sondern eindeutig "Landwelt und Bauernkultur". Auch da seien nur einige zentrale Programmzeilen genannt. Im Zuge des nationalen Identitätsaufbaus nach 1871 gilt das erste Augenmerk damals der Pflege deutscher Geschichts- und Gemeinschaftsmythen. Noch gilt die Losung "Deutschland ein Bauernland", wie Werner Sombart feststellt 6 , obwohl nurmehr ein Drittel der deutschen Familien über eigenen Grundbesitz verfügt 7 . Daher wird in diese Richtung ein verstärktes ideologisches Sperrfeuer eröffnet, "das Land" als Fundament sozialer Stabilität und nationaler Größe beschworen. Man zitiert wieder Wilhelm Heinrich Riehls Formel vom Bauern als einer "Macht der Beharrung" 8 , als Gegengewicht zum unruhigen

industriell-proletarischen

Deutschland, namentlich angesichts des Aufstiegs von Sozialdemokratie und Gewerkschaften in den 1890er Jahren. "Land" und "Landvolk", "Dorfgemeinschaft" und "Bodenständigkeit" werden zu tragenden Säulen eines "Volksbegriffs", der eine affirmative Schranke bilden soll gegen den "Klassenbegriff' und gegen die zunehmend klassengesellschaftlich erlebte Wirklichkeit: "das Land" als Idealvorstellung einer spannungs- und konfliktlosen deutschen Gesellschaft. Die Diskrepanz zwischen Bild und Wirklichkeit ist natürlich augenfällig. Dennoch reagiert diese "Wirklichkeit", reagiert die Landbevölkerung ihrerseits auf diese konzentrierten ideologischen Vorgaben. Was bei den Bauernkalendern und Pfarrpredigten Ende des 18. Jh. begann, sich über die Zeitungs- und Zeitschriftenflut wie die Dorfromane des 19. Jh. fortsetzte, gipfelt nun bald in den frühen Dorfund Heimatfilmen der 1920er Jahre. Solche "Bauernideologie" stützt natürlich die inneren Strukturen dörflicher Herrschaft, also einer meist konservativ-bäuerlichen Dorfelite, der die Erhaltung und Wiederbelebung der "Bauernkultur" als Programm einleuchtet: der Gemeinschaftsmythos als Gegenentwurf gegen störende Individualität, Mobilität, Aufstiegswünsche und Demokratie.

199

So schwappt nun eine Welle folkloristischen Brauchtums über die deutschen Dörfer, in denen Erntedank und Maibrauch, Trachtenfeste und Kirchenbräuche wieder Urständ feiern. Die Lebenslauffeste der rites de passage leben ebenso auf wie neue Formen der Oster- und Weihnachtsfeier. Ohnehin steht die Entdeckung vorgeblich "uralter" Bräuche ganz oben auf der Tagesordnung, nicht zuletzt betrieben im Rahmen jener volkskundlichen Initiativen des "Rettens und Bewahrens". Diese Suche nach den "Ursprüngen" unterstreicht besonders deutlich, wie sehr die Betonung und Stilisierung bäuerlicher Kultur bereits den Weg für das Motiv von "Blut und Boden" vorbereitet. Im Unterschied zur harmloseren "Agrarromantik" des mittleren 19. Jh. dient diese "Bauernkultur" nicht mehr primär als Kulisse für bürgerliche Nostalgien, nun bildet sie die Kulisse für das Land selbst, als affirmative Bestätigung eines "So seid ihr!" Eingebunden in ein neu entworfenes Konzept von Heimatidee und Heimatschutz werden hier alte Heimatideologeme aufgenommen, geschärft jedoch um nationalistische und militaristische Akzentuierungen. Bilder eines von außen wie von innen bedrohten "Vaterlandes" werden als nationale Heimatvision entworfen, deren Botschaft lautet: nicht mehr nur passive Bewahrung, sondern aktive Verteidigung des Heimatgedankens. Und Zentrumspartei wie katholische Kirche mit ihrer konservativen, hermetischen Sozial- und Morallehre nutzen die ländliche Anfälligkeit gegenüber solchen Aufwertungen des Landlebens durchaus geschickt aus: Wert- und Normenstabilität als konfessionelle Politik, "Kaplanokratie" und extremer "Patriotismus" wirken als Barrieren gegen staatliche Zugriffe wie gegen demokratische Kultur gerade in den Dörfern. Dem entspricht in der Wirkung durchaus der protestantische Staatskirchengedanke mit seiner traditionellen Loyalitätshaltung gegenüber "Thron und Altar", dessen Antiliberalismus und Obrigkeitshörigkeit besonders in den norddeutschen ländlichen Gebieten ähnliche Wertehorizonte errichtet hat. Noch schärfere Töne schlagen schließlich die Deutsch-Konservativen an, die den "Heimatschutz" bereits offen als "völkische Blut-und-BodenMythologie" verbinden mit antisemitischen Tönen und die darin ja von Hugenbergs Zeitungsimperium über neugeschaffene Landausgaben und Sonntagsbeilagen eifrig gefördert werden 9 . Konzentrierte Unterstützung kommt dann auch von der 1918 gegründeten "Reichszentrale für Heimatdienst", die regelrechte Konzepte zur ideologischen Aufrüstung des Bauernstandes entwickelt: ab 1920 Propagandapakete wie "Film und Volkskultur" oder "Die deutsche Landwirtschaft in der Gegenwart", ab 1932 sogar Reagrarisierungsprogramme als Modelle zur Verbindung von "Bauerngrundlage" und "industriell-städtischem Überbau" 10 . Seine entsprechende Breitenwirkung erhält vieles davon schließlich durch die ländliche Vereinsbewegung, durch jenes "heimliche" Millionenheer der Schützen und Sänger, der Sportler und Trachtenträger. Diese überwiegend kirchlichen und bürgerlichen Gründungen über-

200

nehmen quasi die praktische Ausgestaltung der Ideologie in lebensweltliche Alltags- und Festformen. Besonders nationalistisch und militaristisch eingefärbte Muster entwickeln sich um die Krieger- und Veteranenvereine, um deren Regimentstage und Sedansfeiern, später um die Kaiser-Geburtstage als staatlich verordnete "Volksfeste", die sich besonders auf dem Lande durchsetzen 11 . Aber auch hier und gerade im Blick auf Traditionspflege und Vereine gilt die Feststellung, daß in den Dörfern mit all dem nicht "Bildung", sondern "Gesinnung", nicht "Mobilisierung", sondern "Stabilisierung" erreicht werden soll: Der Dörfler soll nicht seine bürgerlichen Neigungen entdecken, sondern seinen alten bäuerlichen Kern.

V.

Diese ideologische Durchtränkung des Landes mit suggestiven Bildern von

"Volkstum", "Tradition" und "Nation" zielt deutlich auf die Formierung jenes stummen, lenkbaren, konservativ nutzbaren Deutschlands, das der Führung und Orientierung von außen bedarf. Und die Dorfgesellschaften reagieren darauf in gewisser Weise noch "vorbürgerlich" und "vorindustriell", indem auf der ökonomischen und sozialen Ebene nur gebremste Mobilität stattfindet, indem in den 1890er Jahren wie in den Krisen von Weimar sogar auf die alten Überlebensstrategien der Subsistenzwirtschaft zurückgegriffen wird. Auch im ideologischen Raum ist nur eine begrenzte Übernahme bürgerlich-industrieller Leitwerte festzustellen, dafür eine um so ausgeprägtere Hilflosigkeit und Anfälligkeit gegenüber dieser "nationalistischen" Vereinnahmung. Aus all diesen Gründen bleibt bei mir große Skepsis gegenüber der Vorstellung einer "Verbürgerlichung des Dorfes". In der Hauptsache - und so lautet meine Gegenthese - zeichnet sich doch vielmehr ein Prozeß der ideologischen Vergesellschaftung dörflicher Leithorizonte ab. Zwar wird die Durchsetzung bürgerlich definierter und gesamtgesellschaftlich gültiger Werte und Normen auch auf dem Lande forciert. Über Markt, Konsum, Verkehr und gewisse Formen der geographischen wie beruflichen Mobilität, über Schule, Militärdienst und Zeitungen, schließlich auch über die neuen Medien Rundfunk und dann Kino werden isolationistische Tendenzen des "Landlebens" durchaus aufgebrochen. Die ideologischen Bewertungen und Vorgaben weisen indessen in umgekehrte Richtung: Propagiert wird das Festhalten an traditionalen, an "bäuerlichen Leitwerten". Sie werden sogar besonders unterstrichen als Grundzüge "deutschen Wesens", die modellhafte Vorbilder sein sollen für den deutschen Volkscharakter insgesamt: Prinzipientreue statt Pragmatismus, Stabilität statt Mobilität, Disziplin statt Hedonismus, Gemeinschaftsgefühl statt Individualität. Insofern werden bürgerliche Verhaltensmuster und Lebensstile ja sogar als ausgesprochen unpassend, als untauglich, als Fremdkörper in der ländlichen Lebenswelt beschrieben.

201

Über die Wirksamkeit dieser propagandistischen Offensive wäre sicherlich noch zu diskutieren. Doch zeigt sich in der Alltagspraxis der ländlichen Sozialgruppen jedenfalls nur ein sehr begrenztes Aufgeben eigener und eine nur begrenzte Übernahme spezifisch bürgerlicher Orientierungshorizonte: Der Wert der Bildung, der Leistung, der Konkurrenz, des Besitzes bestimmter materieller Güter scheint eher eine untergeordnete Bedeutung in Lebensentwürfen und familiären Strategien zu behalten. Und wo etwas davon dennoch übernommen wird, läßt es sich - ähnlich wie bei den Arbeitern - schlüssiger als Nachweisversuch von "Kulturfähigkeit" und "Modernität" erklären als von "Bürgerlichkeit": städtische Mode etwa nicht als Alltagshabitus, sondern als Ausweis von "Nicht-Rückständigkeit"; Elektrizität im Haus weniger zur Bequemlichkeit von Familienleben und Hausarbeit, denn als Ornament bäuerlicher Status- und Besitzdemonstration; Bildung auch bei Großbauern meist nicht als strategische "Lebenslauf-Planung" für die Kinder, sondern als kultureller "Luxus"; Vereinsleben nicht als moderne "Freizeitkultur", sondern als Form der Normensicherung und der Traditionspflege; kurz: zwar eine äußerliche Übernahme "bürgerlicher" Formen und Stile - jedoch mit eigener Sinngebung und Zweckbestimmung. Denn zwei Feststellungen sind für diese Zeit generell wohl kaum zu bestreiten: Zum einen vollzieht sich die Selbstdarstellung dörflicher Lebenswelt weiterhin nachdrücklich in Gemeinschaftsformen und in Traditionsbezügen; die Identität "Dorf wirkt nach wie vor stärker als die Identität "Schicht" oder "Klasse". Und zum zweiten entspricht diese gewachsene Identitätskonstruktion so sehr dem gesellschaftlichen Angebot, also dem Programm "Bauer und Nation", daß es doppelt schwierig ist, sich der normativen Kraft dieser Modelle zu entziehen. Wer dies tun will und kann, verläßt meist wohl nicht nur den Bereich dörflicher Ideologie, sondern die dörfliche Lebenswelt selbst. Nun muß man natürlich nach dem gesellschaftlich-strategischen Zweck dieser moralischen Aufwertung des Dorfes fragen: Ist es eine nur auf "das Land" zielende Gegenoffensive gegen die sozialökonomische Erosion der Dörfer, gegen deren strukturelle und kulturelle "Entbäuerlichung", die man nun durch die Revitalisierung "bäuerlicher" Ideologie und Folklore zu bremsen und zu kitten versucht? Oder handelt es sich um ein umfassenderes politisch-strategisches Kalkül, um die Stärkung, die regelrechte "Aufrüstung" der "Landwelt" gegen die "Stadtwelt", um die politische Formierung eines konservativen Gegengewichts gegen jene "labile", "proletarisierte" Klassengesellschaft? - Gewiß spielt beides zusammen, doch spricht für die zweite Interpretation eben besonders die nationalistische Komponente, die so offen hervortritt und die dörfliche Identität durch nationale Identität zu überformen sucht in der Figur der "Volksgemeinschaft". Ideologisch wird die "Vergesellschaftung des Dorfes" deshalb betrieben - so wäre meine These etwas weiter formuliert - in einer eigentümlichen Verbindung 202

von "Modernisierung" und von "Nationalisierung": Modernisierung auf der Ebene von Infrastruktur, von wirtschaftlicher Effektivität, von Konsumfähigkeit - Nationalisierung im Sinne der Werte, der Ordnungsvorstellungen, der politischen Loyalitäten. Darauf zielen im Kern alle politischen, propagandistischen und publizistischen Anstrengungen vom Kaiserreich bis nach Weimar: auf die Effektivierung der Agrarproduktion wie auf die Pflege des Volksgemeinschafts- und Heimatgedankens. Auch ein ausgesprochener Protagonist der industriekapitalistischen Moderne und jeder weltfernen "Agrarromantik" gewiß unverdächtig, Walter Rathenau, schreibt 1918: "Der Wille zum Volk schließt den Willen zur Schichtung aus. Wer den deutschen Menschen will, kann nicht den proletarisch gebundenen Deutschen wollen." Allein "die Selbstzucht des Hauses" schaffe das Bewußtsein von gesellschaftlichen "Rechten und Pflichten", als "Motor der Menschengesellschaft" wirkten der "Haus- und Stammeswille", die "überlieferte Sitte und Gesinnung", der "Adel des Volkes". Dies sei wieder zu stärken, denn: "Das Volkslied ist verarmt, Volkskunst ist uns nicht erwachsen, Vergnügungen verdrängen die Freude" 1 2 . Entscheidend ist, daß diese Ideologie auch in vieler Hinsicht deutsche Politik wird. In Diskussionen um den Bauernstand als "nationale Frage", in geförderten oder geduldeten Landvolk-Bewegungen, in bäuerlichen Siedlungsprogrammen, in "nationalen" Feiern, im Freiwilligen Arbeitsdienst als "Dienst am Volk" wird alles mit "nationaler" Argumentation unterlegt. Und vieles dient im Ergebnis zweifellos einer Wegbereitung des Nationalsozialismus, dessen Anknüpfungspunkte so längst vor 1933 vorhanden sind - Walter Darres "Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse" wurde nicht zufällig bereits 1928 publiziert 13 .

VI.

Entscheidend für die Wirksamkeit dieser Ideologie und Politik in der deut-

schen Geschichte ist sicherlich deren Kontinuität: die Tatsache der Bejahung und der Bestärkung ländlicher Traditionalität und bäuerlicher Konservatität. Allen anderen gesellschaftlichen Gruppen wurde als historische Aufgabe immer wieder die Veränderung, das Umdenken, die geistige und räumliche Mobilität vorgestellt den dörflichen Gruppen hingegen die Stetigkeit, die räumliche und geistige Beharrung, die Traditionalität. Und wo sie sich in Bewegung befinden, wird ihnen sogar ein falscher "alter" Zustand als der richtige vorgespiegelt: die Wiederbelebung und oft: die Erfindung - "bäuerlicher Kultur". Das bedeutet immer wieder eine ideologische Bestätigung der "bäuerlichen Identität", die, wenngleich meist falsch gezeichnet und stilisiert, jedenfalls ein "Weiter wie bisher" signalisiert. "Verbürgerlichung" müßte den Wandel von Mentalitäten und Einstellungen bedeuten - einen selbstgesetzten Aufbruch oder die ge-

203

seilschaftliche Aufforderang dazu. Beides wollten und sollten die deutschen Dörfler jedoch nicht.

Anmerkungen 1

Rosegger, P., Erdsegen. Vertrauliche Sonntagsbriefe eines Bauernknechtes, Leipzig 1900, S. 16,22, 62 passim.

2

Auf Einzelnachweise muß im folgenden verzichtet werden, ausführliche Darstellungen und Belege finden sich in: Kaschuba, W., Bauern und andere. Zur Systematik dörflicher Gesellschaftserfahrung zwischen Yorindustrialisierung und Weltwirtschaftskrise, in: ders. u. Lipp, C., Dörfliches Überleben, Tübingen 1982, S. 1-285, bes. S. 123-285.

3

Vgl. dazu etwa Kuczynski, J., Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Bd. 4, Berlin 1982, S. 378 f.

4

Vgl. Wehler, H.-U., Das deutsche Kaiserreich 1871-1914, Göttingen 19886, S. 49.

5

Vgl. etwa die Hinweise zur diesbezüglichen Situation in der Magdeburger Börde in: Räch, H.-J. u. Weissei, B. (Hrsg.), Bauer und Landarbeiter im Kapitalismus in der Magdeburger Börde, Berlin 1982.

6

Sombart, W., Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jh., Berlin 1903, S. 379.

7

Vgl. Dipper, C., Bauern als Gegenstand der Sozialgeschichte, in: Schieder, W. und Sellin T.V. (Hrsg.), Sozialgeschichte in Deutschland IV, Göttingen 1987, S. 9-33, hier S. 9.

8

Riehl, W.H., Die bürgerliche Gesellschaft, Neuausgabe Frankfurt a.M. 1976, S. 57 ff.

9

Wehler, Kaiserreich, S. 86.

10 Vgl. Wippermann, K., Politische Propaganda und staatsbürgerliche Bildung. Die Reichszentrale für Heimatdienst in der Weimarer Republik, Köln 1976, bes. S. 377 u. 522. 11 Vgl. dazu Schellack, F., Sedan- und Kaisergeburtstagsfeste, in: Düding, D. u.a. (Hrsg.), Öffentliche Festkultur, Reinbek 1988, S. 278-297. 12 Rathenau, W., Von kommenden Dingen, Berlin 1918, S. 189 f. 13 Zur nationalsozialistischen Agrarpolitik s. Fahle, G., Nazis und Bauern. Zur Agrarpolitik des deutschen Faschismus 1933 bis 1945, Köln 1986.

Miroslav Hroch Die Formierung moderner Nationen und die Verbürgerlichung des Dorfes. Die "kleinen Nationen" im europäischen Vergleich

Unsere Fragestellung geht von der Auffassung aus, daß sich die moderne Nation als ein Bestandteil der bürgerlichen gesellschaftlichen Umgestaltung formiert hat. Die nationbildenden, national integrierenden Prozesse spielten bei dieser Umgestaltung eine Rolle, die nicht zu übersehen ist. Wenn wir eine aktive Teilnahme des Dorfes am nationalen Leben als Resultat bzw. Teilerscheinung dieser Prozesse betrachten, dann handelte es sich hier um ein Zeichen der bürgerlichen Umgestaltung, der "Verbürgerlichung" des Dorfes. Das, was wir als Teilnahme am nationalen Leben bezeichnen, konnte jedoch unterschiedliche Formen und unterschiedliche Intensität haben, so, wie es dem Charakter des konkreten jeweiligen Formierungsprozesses entsprach. Das konnte eine allgemeine Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft sein, wie wir es z.B. aus Frankreich nach der Großen Revolution von 1789 kennen. In anderen Fällen konnten Bauern als Mitstreiter in den Bestrebungen für nationale Vereinigung hervortreten, wie es potentiell, real weniger, in den deutschen und italienischen Ländern der Fall war. In wieder anderen Fällen konnten sie an der nationalen Bewegung der im breiten Sinne verstandenen non dominant ethnic groups teilnehmen 1 . Der vorliegende Beitrag wird sich der letzteren der oben genannten Variante, nämlich den Beziehungen zwischen Dorf und Nation widmen. Es wird uns also vor allem interessieren, wie und unter welchen Umständen sich Bauern und Landbevölkerung in die Bestrebungen der sich formierenden "kleinen Nationen"2 bzw. auch der nationalen Minderheiten eingegliedert haben, d.h., wie aktiv sie sich beteiligten und sich zugleich von der neuen nationalen Mentalität beeinflussen ließen. Das, was wir unter der nationalen Bewegung verstehen, war ein langwieriger und vielfältiger Prozeß, der unter sich schnell verändernden gesellschaftlichen Zuständen verlief. Daher sollte schon am Anfang eine periodisierende und eine typologisierende Bemerkung gemacht werden. Im Rahmen einer umfassenden Periodisierung der nationalen Bewegung unterscheiden wir, ob und wie das Dorf unter den Bedingungen der nationalen Agitation (Phase B) reagierte, und wie dies unter der Voraussetzung einer erfolgreichen nationalen Massenbewegung (Phase C) geschah. Unter der Massenbewegung verstehen wir ein solches Stadium der nationalen Bewegung, in dem nicht nur ein-

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zelne Patrioten (Phase B), sondern ganze soziale Gruppen und Schichten in verschiedenen Teilen des Territoriums aktiv und zielbewußt auftraten 3 . Außerdem muß in Betracht gezogen werden, daß es wichtig war, ob die Phase B und Phase C der nationalen Bewegung noch unter den Bedingungen der traditionellen feudalen Abhängigkeiten auf dem Lande oder schon nach der Abschaffung dieser Abhängigkeiten verlief. Das führt zu folgenden Typen der Nationalbewegungen. Als klassisch oder integriert können wir jenen Typ bezeichnen, in dem die Phase B noch unter den Zuständen des Feudalregimes, die Phase C jedoch etwa parallel mit den entscheidenden bürgerlichen Veränderungen (Bauernbefreiung, Konstitution, Reformen des Gerichtswesen und des Rechtssystems etc.) verlief. In einigen Fällen erfolgte jedoch der Übergang zur Massenbewegung verspätet, wobei die Ursachen ebenso in sozialer Rückständigkeit (Weißrussen, Litauer) wie in politischer Unterdrückung (Slowaken) oder in einer unausgewogenen wirtschaftlichen Entwicklung (Katalaner, Letten) zu suchen sind. In diesen Fällen kann man von einem verspäteten Typ der nationalen Bewegung sprechen. In einigen Fällen führte die nationale Agitation schon unter den Bedingungen der Feudalgesellschaft zu einer Massenbewegung und zum Aufstand (Balkanvölker). Nur am Rande wird uns hier der vierte Typ interessieren, bei dem die nationale Agitation erst nach den bürgerlichen Umwälzungen einsetzte und meistens sehr spät oder nie erfolgreich war (Flamen, Walliser, Bretonen) 4 . Der besseren Übersichtlichkeit wegen werden wir die vergleichende Untersuchung unter folgenden Teilaspekten durchführen: I. Anteil der Bauern in der Nationalbewegung und die Vertretung ihrer Interessen im Programm dieser Bewegung; II. Verhältnis von Stadt und Land im Verlaufe der nationalen Bewegung; III. das Dorf als Herkunftsort der "Vorkämpfer" dieser Bewegung5. I. Auch wenn die Dorfbevölkerung in allen Fällen den ethnischen Kern der sich formierenden Nationen bildete, war ihre bewußte, aktive Beteiligung an dieser Bewegung sehr unterschiedlich. Dies gilt für die Phase B ebenso wie für die Phase C. Während der Phase B finden wir unter den Aktivisten der tschechischen und finnischen Bewegung keine Bauern. Im norwegischen Storfing waren zwar nach 1814 die Bauern vertreten, ihre nationale Aktivität war aber in den ersten Jahrzehnten ganz unbedeutend. In Irland traten die Bauern zwar mit ihren sozialen Forderungen sehr aktiv hervor, beteiligten sich an der nationalen Bewegung vorerst jedoch nur sporadisch. Nur bei den Esten, die wir auch zum integrierten Typ der Nationalbewegung (wenngleich mit Vorbehalten) zählen, beteiligte sich ein Teil der Bauern schon an der nationalen Agitation.

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Eine deutlichere Differenzierung finden wir in der Partizipation der Bauern in der Phase B der anderen Typen der Nationalbewegung. Unter den Aktivisten der slowakischen Nationalbewegung kamen sie nur ausnahmsweise vor. Ebenso war es in Katalonien der Fall. Auf der anderen Seite bildeten Bauern eine wichtige und zahlenmäßig wohl die stärkste Gruppe unter den Aktivisten schon während der Phase B in der litauischen nationalen Bewegung. Nicht überwiegend, aber auch nicht unbedeutend, war der Anteil der Bauern an der bulgarischen und mazedonischen nationalen Agitation und - unter besonderen Umständen - auch in Weißrußland. Die Bemühungen der Aktivisten jener zum desintegrierten Typus gehörenden Nationalbewegungen, unter den Bauern Unterstützung zu finden, blieb lange Zeit erfolglos. Dies gilt ebenso für Flandern wie für die Bretagne und Wales. Eine Regelmäßigkeit fällt hier ins Auge. Jene Nationalbewegungen, an denen sich die Bauern als Aktivisten schon während der Phase B beteiligten, erreichten diese zeitlich später. Während die tschechische und norwegische nationale Agitation schon am Anfang des 19. Jh. begonnen hat, war dies bei den Esten erst am Ende der fünfziger Jahre, bei den Litauern in den siebziger Jahren der Fall, bei den Weißrussen noch später. Andere "Spätanfänger", wie die katalanische und ukrainische Nationalbewegung, kannten jedoch fast keine bäuerlichen Vorkämpfer in der Phase B. Dort, wo die Phase B noch vor der Bauernbefreiung verlief, wie im Fall der Tschechen oder Slowaken, beteiligten sich die Bauern an der nationalen Agitation nur als seltene Ausnahmen. Auf der anderen Seite waren die national passiven finnischen bzw. katalanischen Bauern in der Phase B schon frei. Man darf also die Rolle der feudalen Abhängigkeit nicht überschätzen. Die nationale Bewußtseinsbildung konnte in vielen Fällen einfach durch mangelnde Bildung, niedrige soziale Kommunikation und materielles Elend verhindert bzw. verzögert werden. Logisch bietet sich in diesem Zusammenhang eine weitere Frage an: Warum akzeptierten die Bauern nicht den nationalen Gedanken, die nationalen Argumente in ihren sozialen Kämpfen als eine integrierende Ideologie? Die Klasse der Gutsbesitzer war in den meisten Fällen (Tschechen, Slowaken, Finnen, Esten, Litauer etc.) mit der herrschenden Nation verbunden; sie war also sozial feindlich und zugleich ethnisch fremd. Der Klassengegensatz zwischen Bauer und Gutsherr entwickelte sich eigentlich nur bei den Esten und auf dem Balkan zu einem national relevanten, d.h. die Nationalbewegung integrierenden Gegensatz. In Litauen waren es übrigens die freien, nicht die leibeigenen Bauern, die sich an der Agitation beteiligten. Eine negative Schlußfolgerung kann man daraus wohl ziehen. Die gesellschaftlichen Verbürgerlichungsprozesse waren während der Phase B mit der nationalen Integrierung des Dorfes nicht verbunden. Nur selten waren die nationalen Losungen für den Kampf um die soziale Emanzipation der Bauern verwendbar. Vor allem entsprach aber - aus welchen Gründen auch immer - das politische

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Bewußtsein der Dorfbevölkerung noch nicht den Bedürfnissen der nationalen Bewegung. Es ist schon durch die Charakteristik der Phase C als einer Massenbewegung klar, daß sie sich ohne Beteiligung eines Teiles der Landbevölkerung nicht erreichen ließ. Die Unterstützung der nationalen Bewegung durch die Bauern ist also schon per definitionem gegeben. Wie beteiligten sie sich jedoch an der Bestimmung der Ziele und Programme der nationalen Bewegungen? Auch hier gab es signifikante Unterschiede, die man bei der Interpretation der jeweiligen nationalen Bewegungen berücksichtigen muß. In der tschechischen Nationalbewegung fehlten die Bauern in der führenden Schicht. Sie haben weder die Organisationsformen noch die politischen Ziele zu bestimmen versucht, aber sie ließen sich für diese durch die bürgerlichen Leiter der Bewegung gewinnen. Zuerst mußte jedoch als Vorbedingung die feudale Abhängigkeit abgeschafft werden. Es war in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß die erste breit angelegte politische Aktivierung der Landbevölkerung während der Revolutionsjahre 18481849 erfolgte. Durch die führenden Patrioten in Prag angeregt, schickten die Bauern, zum Teil aber auch die Häusler Petitionen an das neu gegründete revolutionäre Nationalkomitee. Die meisten dieser Petitionen enthielten ausschließlich soziale Forderungen. Nationale Forderungen wurden vor allem dort gestellt, wo sich der Dorflehrer oder Pfarrer an der Formulierung beteiligt hatte. Dabei haben sich die tschechischen Patrioten eindeutig für die Bauernbefreiung ausgesprochen, wenn auch meist in der gemäßigten Variante der Ablösung der Feudallasten mit einer Entschädigung an den Gutsherrn. Außerdem gehörte die Idealisierung des Dorfes und der Bauernbevölkerung zu den Standardklischees der tschechischen patriotischen Agitation in der Phase B. Während der Phase C unterstützten vor allem die Bauern in den fruchtbaren Ebenen das tschechische Programm aktiv, ohne jedoch selber Ansprüche auf leitende Positionen in der Politik zu erheben. Um die Jahrhundertwende formulierten die Sprecher der bäuerlichen Interessen ein eigenes Agrarprogramm und gründeten eine neue Partei. Dadurch wurde das politische Spektrum differenziert, die nationale Front jedoch nicht desintegriert. In diesem Zusammenhang ist es wiederum bezeichnend, daß die neue Bauernpartei antiklerikal gesinnt war - analog der führenden Strömung der nationalen Bewegung, der sog. jungtschechischen Partei. Auch wenn nicht alle Bauern dieser Richtung folgten, zeichnete sich hier ein durch die nationale Bewegung angeregter Prozeß der Verbürgerlichung des Dorfes ab. Auf der anderen Seite hat die städtische nationale Bewegung während der Phase C viele Züge des Dorflebens als Symbole der nationalen Gemeinschaft akzeptiert und in die Bewegung integriert. Man lernte und sang Volkslieder. Es ge208

hörte zum guten Ton, daß bürgerliche Töchter, in Volkstrachten gekleidet, Volkstänze aufführten. Smetanas Oper über das Dorfleben, "Die verkaufte Braut", erhob das bürgerliche Publikum zur nationalen Oper. Mehrere Schriftsteller idealisierten die Dorfbevölkerung und das Dorfleben zum moralischen Vorbild für die tschechische bürgerliche Gesellschaft. Die meisten Werke dieser Art wurden vor allem in der Stadt, weniger auf dem Lande gelesen. Diese tschechische Entwicklung scheint kein Sonderfall gewesen zu sein. Wir kennen eine Reihe von parallelen Prozessen, wenn auch in unterschiedlicher chronologischer Gliederung. Als die norwegischen Bauern drei Jahrzehnte nach der Einführung der Konstitution von 1814 politisch aktiv wurden, haben sie zuerst ihre spezifischen Interessen gefördert. Ihre Partei entwickelte sich jedoch nach dem Zusammenschluß mit dem linken Flügel der bürgerlichen Politiker als Venstrepartei zum Träger des militanten Nationalismus. Die reichen Bauern standen immer öfter in den wichtigen politischen Ämtern. Unter den finnischen Bauern fand ein solcher Wandel nicht statt, weil sie bei weitem nicht so reich waren, zum Teil aber auch wegen der politischen Lage in Rußland. Die Vermögens- und Bildungsbarriere verhinderte auch in Irland den persönlichen Anteil der irischen Bauern unter den führenden Politikern, obwohl die Bauern seit Anfang der achtziger Jahre (Home Rule Program) für die nationale Bewegung gewonnen wurden. In den zum "verspäteten" Typ gehörenden Nationalbewegungen war der hohe Anteil von Bauern in der Phase C schon durch ihre Aktivierung in der Phase B beeinflußt. Dort, wo sie schon in der Phase B bedeutend waren, erhöhte sich ihr Anteil und Einfluß in der Phase C noch weiter. Dies war in der estnischen wie in der litauischen Bewegung der Fall. Insbesondere in der litauischen nationalen Ideologie gewann das bäuerliche Element eine zentrale Rolle, wobei sich der Nationalismus mit der katholischen Frömmigkeit der Bauern vermischte. Die Verbindung des bäuerlich-nationalen mit dem katholischen Programm war später auch für die Slowakei charakteristisch. In einigen ausgesprochen agrarischen Gesellschaften hatte die nationale Agitation wahrscheinlich nicht genug Zeit und Kraft, um auf dem Lande stark zu wirken (Weißrußland, Ukraine). II. Es wäre bekanntlich eine unzulässige Vereinfachung, die Bauern als einzige Bewohner bzw. Vertreter des Dorfes zu betrachten. Dies gilt besonders für die Frage der Verbürgerlichung des Dorfes. Auf dem Dorfe lebten und wirkten auch Angehörige anderer sozialer Gruppen, von denen wir annehmen müssen, daß sie sich sowohl an der Verbürgerlichung als auch an der Nationalbewegung beteiligten. Daher sollten wir die Relevanz des Dorfes als einer Siedlungseinheit besonderer Art - im Unterschied zur Stadt - in der nationalen Bewegung untersuchen. Wie stark war der Anteil des Dorfes in der Bewegung, wie bedeutend sein Einfluß auf das überwiegend bürgerlich-städtische Milieu?

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Für die Organisierung des nationalen Lebens, der patriotischen Bestrebungen waren die Städte ohne Zweifel besser geeignet als die Dörfer. Ganz eindeutig gilt dies für die großen Städte, die traditionell Zentren der Verwaltung und Bildung darstellten. Ungeachtet dessen, daß in diesen großen Städten, meistens nationalen Zentren, die Mitglieder der kleinen Nationen nicht immer überwiegend vertreten waren, galten Städte wie Prag, Riga, Kristiania (d.h. Oslo), Tallin, Barcelona als natürliche Zentren der nationalen Bewegung. In den kleineren Provinzstädten entstanden allmählich lokale Zweigstellen; auch hier spielte es eine geringe Rolle, ob die städtischen Honoratioren ethnisch zur herrschenden Nation gehörten. Mit der steigenden horizontalen Mobilität veränderte sich die ethnische Struktur der Provinzstädte. Diejenigen unter ihnen, deren Umgebung durch die Mitglieder der non dominant ethnic group bewohnt waren, haben sich eindeutig in regionale Zentren der nationalen Bewegung der Phase C verwandelt. Wir kennen in Europa ein Gebiet, in dem sich dieser natürliche Prozeß der ethnischen Anpassung der Städte an ihre ländliche Umgebung nicht vollzog, jedenfalls nicht während des 19. Jh.: das Gebiet von Litauen, Kurland und Weißrußland. Hier lebte in den Städten neben den Mitgliedern der herrschenden Nationen eine zahlreiche jüdische Bevölkerung, die mancherorts sogar die Mehrzahl der Stadtbewohner bildete. Diese Bevölkerung konnte insbesondere in den kleineren und mittleren Städten die steigende Nachfrage nach neuen Arbeitskräften befriedigen. Dadurch blieb die Zuwanderung vom Dorf gering. Dementsprechend war auch die national aktivierende Ausstrahlung der Städte auf das Land ebenso schwach wie ihre assimilierende Wirkung. Die in sich geschlossene jüdische Gruppe konnte keine solche Wirkung ausüben. Wir stehen hier vor einem Sonderfall, der einen quasi "experimentellen" Einblick in Mechanismen der nationalen Mobilisierung von Stadt und Land ermöglicht. Nur in dieser Gegend besaßen nicht die Städte, sondern die Dörfer den entscheidenden Anteil an der Nationalbewegung nicht nur in der Phase B, sondern eventuell auch in der Phase C. Es war kein Zufall, daß gerade die litauische und weißrussische nationale Bewegung zeitlich stark verspätet einsetzte, und daß der kurländische Teil des lettischen Gebietes den passiven Anteil an der nationalen Bewegung repräsentierte. Wie sah das Stadt-Land-Verhältnis in anderen europäischen Nationalbewegungen aus? Die norwegische und auch die flämische Nationalbewegung trugen eindeutig städtischen Charakter. Die Ursache ist nicht nur in der Bedeutung der Städte für das Wirtschaftsleben, sondern vor allem in der hohen Anzahl der in ihnen lebenden Patrioten der Phase B zu suchen. In Norwegen lebten auf dem Lande nur einige wenige der führenden Patrioten und die Anzahl der patriotisch gesinnten Bauern ist erst während der Phase C gestiegen. Aber auch in dieser Phase blieb die Stadt das Zentrum des politischen Geschehens. In der flämischen Bewegung war das Land nur durch einige Schullehrer und Dorfpfarrer vertreten.

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Ähnlich war in der tschechischen Nationalbewegung der Anteil der Dorfbewohner unter den Patrioten der Phase B wesentlich höher als der Anteil der Bauern. Es handelte sich dabei vor allem um katholische Priester, aber auch um zahlreiche Patrimonialbeamte. Die Dorflehrer wurden erst während der Phase C, etwa gleichzeitig mit den Bauern, aktiv. In Finnland war am Anfang der Phase B der Anteil des Dorfes ebenso niedrig; er erhöhte sich jedoch während dieser Phase ganz erheblich, ohne freilich an der entscheidenden Rolle der Stadt etwas zu ändern. Im finnischen Fall kann man den Zusammenhang zwischen patriotischer Aktivierung des Dorfes und einer zunehmenden Verbreitung von patriotischen Zeitschriften auf dem Lande klar belegen. Auch die slowakischen Patrioten lebten zum großen Teil in Städten und einige von diesen bildeten wichtige Zentren der nationalen Bewegung; dennoch war die Bedeutung des Landes größer als in Böhmen oder in Finnland. Außerdem wohnten viele Patrioten der Phase B außerhalb des slowakischen Gebietes - ein Umstand, der durch die Besonderheit der ethnopolitischen Lage bedingt war. Unter den auf dem Dorfe wirkenden Patrioten befanden sich eindeutig die Geistlichen die katholischen ebenso wie die lutherischen. Stärker als in Finnland oder Böhmen scheint der Anteil der Lehrer an der Phase B gewesen zu sein. Nach der Einführung der Magyarisierung sank die Bedeutung der Städte für die nationale Bewegung, während die Bedeutung der ausländischen Zentren - vor allem Prag - gestiegen ist. In der estnischen nationalen Bewegung wirkte zwar in den Städten nur der kleinere Teil der Agitatoren, aber sie waren trotzdem organisatorische und ideologische Zentren. Der Anteil der estnischen Bevölkerung in den Städten war noch weit ins 19. Jh. hinein durch politisch-soziale Barrieren beschränkt. Unter den auf den Dörfern und in den Marktflecken lebenden Patrioten waren die Lehrer die bedeutendsten, daneben die Küster und Bauern. Während der Phase B wurden die Bauern, daneben auch die Handwerker auf dem Dorfe aktiver. Während der Phase C stieg mit der starken estnischen Einwanderung nach Tallin und Tartu die Bedeutung der dortigen patriotischen Gruppen. Wenn wir die hier charakterisierten Fälle der nationalen Bewegungen auf die Achse der Chronologie übertragen würden, bekämen wir ein interessantes Bild: Jene Bewegungen, deren Phase B zeitlich früher einsetzte (Norweger, Iren, Tschechen), hatten einen sehr starken Anteil der Städte und einen schwachen Anteil des Landes. Diejenigen Bewegungen, bei denen das Dorf im Vordergrund stand, erlebten ihre Phase B viel später als die städtischen Bewegungen; dies gilt für die Esten ebenso wie für die Litauer. Dieses Modell kann jedoch nicht verallgemeinert werden. Die auf dem Balkan verlaufenden nationalen Bewegungen waren entscheidend mit dem Dorfe verbunden; dies gilt ebenso für die früh einsetzende 211

serbische wie auch für die spätere bulgarische Bewegung. Andererseits war die sehr späte Phase B der katalanischen Nationalbewegung eindeutig mit dem städtischen Milieu verbunden. III. Wie schon festgestellt, bildete die Intelligenz die entscheidende Gruppe der Patrioten der Phase B in den meisten Nationalbewegungen. War diese patriotische Intelligenz durch ihre Herkunft mit dem Dorfe verbunden? Exakt quantitativ begründete Antworten auf diese Frage sind nur in seltenen Fällen vorhanden, meistens sind wir auf beiläufige Schätzungen angewiesen. Dennoch verdient dieses Problem hier unsere Aufmerksamkeit. Im tschechischen Fall, wo wir uns auf zuverlässige Quellen stützen können, stammten etwa 15% der patriotischen Intelligenz der Phase B aus Bauernfamilien, bei einer im Zeitverlauf leicht steigenden Tendenz. Unter den slowakischen Patrioten betrug dieser Anteil um 20%, wobei hier eine sinkende Tendenz zu verzeichnen ist. Anders in Nordeuropa: Nur etwa 7% der finnischen und 5% der norwegischen Patrioten stammten aus den Bauernfamilien. Auch wenn wir für die estnische, litauische, flämische und katalanische Nationalbewegung keine exakten quantifizierbaren Angaben haben, können wir in diesen Fällen zuverlässige Schätzungen formulieren. Im estnischen und litauischen Fall dürfen wir mit voller Berechtigung voraussetzen, daß die meisten Mitglieder der patriotischen Intelligenz aus den Bauernfamilien kamen. Im flämischen und katalanischen Fall waren jedoch Bauernsöhne unter den Patrioten sehr selten. Ein ganz anderes Bild erhalten wir, wenn wir fragen, wie groß der Anteil der vom Dorf stammenden Patrioten war. Etwa ein Drittel aller tschechischen Patrioten war auf dem Land geboren, ähnlich wie in Norwegen. Unter den slowakischen Patrioten hingegen waren mehr als die Hälfte, unter den finnischen Patrioten sogar zwei Drittel solche mit einer ländlichen Herkunft. Ein großer Teil der vom Dorf stammenden Patrioten war also in nichtbäuerlichen Familien geboren. Im tschechischen Fall waren es vor allem die Söhne der Dorfhandwerker und Müller, aber auch der Patrimonialbeamten. In der Slowakei kamen dazu die Söhne der evangelischen Pastoren, deren Anteil noch höher lag als derjenige der finnischen Pastorensöhne. Es überrascht nicht, daß 80% - 90% der estnischen und fast 100% der litauischen Patrioten vom Dorf stammten. Auch hier handelte es sich meistens zugleich um Bauernsöhne. Durch diese Feststellungen wird zwar die Rolle des städtischen Milieus in den meisten Nationalbewegungen ein wenig relativiert; wir dürfen jedoch nicht übersehen, daß die Stadt bzw. die städtische Oberschicht sich oft zu der herrschenden "Nation rechnete und durch ihre Kultur stark beeinflußt war. Dennoch hat sich das entstehende Wirtschaftsbürgertum der "kleinen Nationen" früher oder später deutlich zu Wort gemeldet. 212

Auch wenn wir die Bedeutung der Landbevölkerung für die Bewahrung der Sprache und Gewohnheiten anerkennen, ist festzuhalten, daß diese Bevölkerung in der Phase B nur in einigen Fällen aktiv hervortrat: bei den Esten und bei den Litauern. Sonst waren die Bauern zwar erfolgreiche Träger der ethnischen Kontinuität, sie besaßen aber nur eine geringe Bedeutung als integrierender Faktor in der Formierung der modernen Nation. Erst in der Phase C beteiligte sich das Dorf zunehmend aktiver an der nationalen Bewegung.

IV. Fragen wir abschließend nach dem Zusammenhang zwischen der nationalen Aktivierung der Dorfbevölkerung und der Verbürgerlichung, dann stehen wir vor zwei grundlegenden Problemen kausaler Zusammenhänge: 1. Inwiefern wurde die Bereitschaft der Dorfbevölkerung, an der nationalen Bewegung teilzunehmen, durch die Prozesse der Verbürgerlichung bedingt? 2. Was hat diese Beteiligung für die weiteren Modernisierungsprozesse erbracht? Zu der ersten Frage sei zweierlei bemerkt: Wir konnten feststellen, daß die soziale Aktivierung der Bauern eindeutig vor ihrer nationalen Aktivierung erfolgte. Sie konnten - in seltenen Fällen - dort schneller gewonnen werden, wo den Klassengegensatz zu den alten Obrigkeiten ein ethnischer Unterschied überlagerte. Dort, wo die städtische Bevölkerung unter den Mitgliedern der non dominant ethnic group stärker vertreten war, bildete sie vorerst auch den wichtigsten Träger der nationalen Bewegung und die Dorfbevölkerung schloß sich später an. Dort, wo die städtischen Schichten schwach oder fast nicht vertreten waren, finden wir die Dorfbewohner unter den Trägern der nationalen Bewegung schon während der Phase B, die unter diesen Umständen jedoch mit einer deutlichen zeitlichen Verspätung einsetzte. Für die Feststellung des kausalen Zusammenhangs ist auch die ungleichmäßige Verteilung der nationalen Aktivierung des Dorfes von Bedeutung. Es gab kompakte national aktive und national passive Territorien. Wenn wir die Unterschiede zwischen diesen beiden beobachten, stellen wir fest, daß die national aktiven Gebiete a) einen höheren Grad der sozialen Kommunikation und Mobilität aufweisen, b) eine stärkere Marktproduktion in der Landwirtschaft und eventuell auch im Dorfhandwerk und c) einen höheren Prozentsatz des Schulbesuchs besaßen. Diese Zusammenhänge finden wir sowohl in den nationalen Bewegungen mit einem schwachen wie auch mit einem starken Anteil der Dorfbevölkerung an der nationalen Bewegung. Auf der anderen Seite beeinflußte der erfolgreiche Formierungsprozeß der modernen Nation in mehreren Bereichen die Verbürgerlichung des Dorfes. Die Einführung der Muttersprache der "kleinen Nationen" in die mittleren Schulen und Gymnasien erleichterte den sozialen Aufstieg der Bauernkinder. Die Erfolge des sprachlich-kulturellen Programms förderten eine bessere Marktorientierung 213

vieler Bauern sowie ihre schnellere Orientierung vor Gericht und in der Verwaltung. Und schließlich hat die erfolgreiche Nationalbewegung der Dorfbevölkerung neue Identitätsmuster angeboten, nachdem die alte Dorfgemeinschaft und die patriarchalischen Beziehungen zerfallen waren. Es bleibt noch zu fragen, inwieweit die Zielsetzungen und Programme der nationalen Bewegung durch die Teilnahme des Dorfes modifiziert wurden. Für eine komparative Analyse dieser Frage fehlt uns noch die notwendige empirische Grundlage. Auf einige Aspekte sei trotzdem hingewiesen: Die Bauern haben in die nationale Bewegung eine eher konservative Note gebracht, verbunden mit der Neigung zum Provinzialismus und selbstzufriedener Abgeschlossenheit. Oft waren sie Träger patriarchalischer Vorstellungen und beherrscht von Xenophobie und Antisemitismus. Auf der anderen Seite verknüpften sie früher oder später die nationale Idee mit einer antifeudalen Einstellung. Und schließlich stützte erst die Anteilnahme des Dorfes das Selbstvertrauen der Patrioten.

Anmerkungen 1

Zu diesem Begriff vgl. das Projekt der European Science Foundation / Straßburg: "Goveraments and Non-Dominant Ethnic Groups in Europe, 18501940", das während der letzten Jahre veranstaltet wurde.

2

Unter "kleinen Nationen" verstehe ich diejenigen, die während der Periode ihrer nationalen Formierung einige Defizite in den zur vollwertigen nationalen Existenz gehörenden Merkmale registriert haben. Es handelte sich vor allem um drei Defizite: a) mangelnde oder unterbrochene Eigenstaatlichkeit; b) unbedeutende oder nicht existierende herrschende Klasse der eigenen nationalen Gruppe, also eine unvollständige soziale Struktur des jeweiligen Ethnos und c) unterbrochene oder nicht existente Tradition der Hochkultur in eigener Sprache.

3

Zur Periodisierung vgl. M. Hroch, Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas, Prag 1968, S. 24 ff. Die umfassende Periodisierung setzte eine Phase A voraus, in der das Interesse einer kleinen Gruppe von Gelehrten bestimmend war. Sie war für das Problem der Verbürgerlichung des Dorfes nicht wesentlich und muß daher in diesem Beitrag nicht weiter berücksichtigt werden.

4

Zur Typologie der nationalen Bewegung vgl. ausführlicher M. Hroch, Social Preconditions of National Revival in Europe, Cambridge 1985, S. 25 ff.; vgl. ferner ders., Das Bürgertum in den nationalen Bewegungen des 19. Jh. Ein europäischer Vergleich, in: Bürgertum im 19. Jh. Deutschland im europäischen Vergleich, hg. von J. Kocka, 3 Bde., München 1988, hier Bd. 3, S. 337-59.

5

Die empirischen Indikatoren, die der folgenden Darstellung zugrundeliegen, sind in den beiden oben genannten Publikationen entfaltet und nachgewiesen. Aus diesem Grunde verzichte ich auf weitere Belege.

Jesús Millón

Die Landarbeiter in der spanischen liberalen Revolution 1800-1860. Die Grenzen einer bürgerlichen Integration

Als im April 1931 die Anhänger der Republik die Mehrheit in den großen Städten Spaniens erreichten, und zwar bei Kommunalwahlen, die in ihrer Gesamtheit von den Monarchisten gewonnen wurden, schien jedermann einleuchtend, daß das alte Regime besiegt worden war. Denn im allgemeinen herrschte die Überzeugung, daß eine echte politische Meinungsäußerung lediglich in den Städten möglich sei, während die große Mehrheit des ländlichen Spaniens (die sog. verlorenen Weiler) nicht wirklich am politischen Leben des liberalen Regimes teilnähme. In den vorangegangenen 50 Jahren (die sog. Epoche der Restauración

1875-1931) war

diese Tatsache kaum in Frage gestellt worden. Im Laufe der komplizierten politischen Geschichte im spanischen 19. Jh. hatten die konservativen oder autoritären Regimes die ländlichen Gebiete besser dominieren können als die Städte. Trotzdem scheint es - wie den zeitgenössischen Linksorientierten in den Städten - einem großen Teil der Historiker einleuchtend, daß eine solche Haltung nicht dem Umstand zuzuschreiben war, daß die vom konservativen Staat verbreiteten Werte von der großen Mehrheit der ländlichen Bevölkerung positiv aufgenommen worden waren, wie es Wilhelm H. Riehl in Deutschland deutete. Zweifellos haben sehr verschiedenartige soziale Strukturen und Prozesse in den europäischen Ländern ganz unterschiedliche Formen der Integration in die bürgerliche Gesellschaft begünstigt. Der Fall Spanien, übrigens nicht einförmig, sondern sehr vielschichtig, wirft viele noch unerforschte Probleme auf, vor allem im Bereich der kulturellen und religiösen Gewohnheiten. Besonders die Analyse der sozialen Haltungen der niederen Schichten - oft überraschend mannigfaltig - erfordert Interpretationsschemata, die über den bloßen Schein hinausgegehen. Die Erklärungen der Historiker über den Ursprung der Einstellungen in den ländlichen Gebieten betonen normalerweise zwei Aspekte: einerseits den bewahrenden Charakter der weiterhin von den traditionellen sozialen Gruppen beherrschten bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jh.; andererseits das Fehlen eines "Bauernflügels", wie er sich in der Französischen Revolution bildete. Diese Aspekte und auch die scheinbare Nichtteilnahme der Bauern am politischen Leben Spaniens werden mit der wirtschaftlichen und kulturellen Rückständigkeit in Verbindung gebracht. So bezieht sich Manfred Kossok auf das Scheitern der bürgerlichen Forderungen und auf die ständigen Änderungen der politischen Haltung der Bauernbewegungen. Richard Herr unterstreicht die lange Vorherrschaft der

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alten ländlichen Eliten und schreibt die politische "Passivität" der Landbevölkerung dem Fehlen einer "kulturellen Modernisierung" zu. In ähnlicher Weise führt Santos Juliá den sozialen Kontinuismus an - es habe keine Revolution gegeben und hebt den allgemeinen Rückstand des Agrarsektors als Gründe für die "Passivität" der ländlichen Gebiete in bezug auf die konservative Vorherrschaft hervor 1 . Diese Darstellungen weisen einige unbefriedigende Aspekte auf. Einerseits berücksichtigt das Argument der kulturellen Isolierung nicht die wirtschaftliche und soziale Lage der Landarbeiter; das macht es schwierig, zu erklären, warum die Passivität eine sehr verbreitete Tatsache war, verträglich mit großen sozialen Unterschieden, drastischen Formen der Ausbeutung und manchmal für die Landbevölkerung sehr schwierigen Situationen. Zum anderen wird unterbewertet, daß die Landbevölkerung Zeuge tiefgreifender Veränderungen der sozialen Ordnung wie der Werte war, die sie in der Vergangenheit legitimiert hatten. Neuere Forschungen zeigen, daß die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jh. in Spanien nicht das Ergebnis einer "Revolution von oben" war. Nach mehreren gescheiterten Versuchen (1811-1814, 1820-1823) kam es in der Zeitspanne 1836-1843 zu grundlegenden und irreversiblen gesellschaftlichen Veränderungen: die herrschaftlichen Domänen wurden abgeschafft (1837), die Besitztümer der katholischen Kirche und der Gemeindenversteigert (1836-1837 bzw. 1855), die Fideikommisse des Adels aufgehoben (1836), ebenso wie der Zehnt (1841), der nicht nur von der Kirche, sondern auch von vielen Herren eingezogen worden war. Bezeichnenderweise behielten die konservativen Regimes nach 1843 diese Veränderungen bei. Schließlich setzten sich diese Veränderungen, welche der spanischen Gesellschaft eine neue Gestalt gaben, aufgrund des Triumphes eines auf der Mobilisierung des Volkes beruhenden "progressiven Liberalismus" durch. Dessen erster Anlauf fand seinen Ausdruck in der Verfassung von Cádiz (1812), die unter anderem das allgemeine Wahlrecht für Männer festlegte. Der Plan eines autoritären Reformismus nach dem Tod von Ferdinand VII. (1833) zerbrach an den liberalen Aufständen von 1835 und 1836, die eine Rückkehr zur Verfassung von Cádiz forderten 2 . Das alles deutet darauf hin, daß die Fortdauer des alten Regimes an der Politisierung des Volkes scheiterte. Das starke Gewicht der progressiv orientierten Volksmobilisierung vor allem in den städtischen Gebieten der Mittelmeerküste, in Saragossa, in großen Teilen Andalusiens, in Madrid usw. ist bekannt. Dagegen ist die Entwicklung der ländlichen Gegenden viel weniger bekannt. Es war jedoch ein liberaler Plan vorhanden, mit der Vergangenheit zu brechen, der zumindest Gelegenheit zur Mobilisierung des Volkes bot. Wie kann man unter diesen Umständen die mutmaßliche "Indifferenz" der ländlichen Gebiete erklären? Ist es in einer Epoche, in der an den alten Machtverhältnissen der ländlichen Gesellschaft nachdrücklich gerüttelt wurde, glaubhaft, daß in den ländlichen Unterschichten weiter-

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hin etwas Ähnliches dominierte, was Jeffry Kaplow "Kultur der Armut" nannte 3 ? Oder läßt sich die Distanz zur etablierten Politik als Endstadium verstehen, als Ergebnis der Frustration und der Unmöglichkeit zur Durchsetzung von eigenen Bestrebungen im Prozeß der Agitationen und der sozialen Veränderungen, welcher in den drei ersten Dekaden des Jahrhunderts einsetzte?

I. Die Veränderungen in der Agrargesellschaft: die Revolution und die Herausbildung einer neuen herrschenden Klasse Die durch die geringe Zahl der Studien über die Politik in den ländlichen Gebieten eingeschränkte Diskussion hat einige Besonderheiten der spanischen Agrargesellschaft zu Beginn des 19. Jh. in Betracht zu ziehen: 1. Es gab im allgemeinen keine so klare Trennung zwischen Land und Stadt wie in Deutschland. Ehemals wichtige Städte, vor allem in Kastilien, hatten zwar an Bedeutung verloren und waren am Ende des alten Regimes wirtschaftlich von den ländlichen Gebieten abhängig; sie waren jedoch häufig Sitz eines großen Teils der herrschenden Klasse, die ihre Einkünfte aus dem Land gewann. Viele Städte schlössen ausgedehnte Landgebiete ein, und ein mehr oder weniger großer Teil der Landbevölkerung lebte - regional unterschiedlich - in den Städten. Natürlich prägt das zutiefst die Analyse der Beziehungen zwischen der Stadt- und Landgesellschaft in Spanien. Das Überwiegen der politischen Agitation in den Städten darf nicht dazu verleiten, diesen strukturellen Hintergrund zu vergessen. Es ist daher schwieriger als es den Anschein hat, scharfe Grenzen zwischen den politischen Haltungen des "städtischen" und des "ländlichen" Milieus zu ziehen. 2. Die Konzentration des Landbesitzes hatte gegen Ende des 18. Jh. zugenommen, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der sozialen Struktur in den verschiedenen Gegenden Spaniens. Die eigentliche Kontrolle über das Land, allerdings oft unter fideikommissarischen Bindungen, war in die Hände sehr verschiedener sozialer Schichten übergegangen. Land hatten einige Mitglieder des Hochadels erworben - die gewöhnlich von privilegierten Einkünften lebten, wie vom Zehnt oder von Handelsmonopolen -, aber vor allem ein sehr heterogener kleiner Adel, häufig bürgerlicher oder sogar ländlicher Herkunft, einige reiche Bauern und insbesondere die katholische Kirche. Es muß hervorgehoben werden, daß dies keine klare und einheitliche juristische Hierarchie zur Folge hatte. Es gab sogar Herren, die als Besitzer in einer Gegend gleichzeitig Vasallen eines Herren in einer anderen Gegend waren. So kann man die Gesamtheit der Vasallen nicht mit einer homogenen Schicht von Bauern gleichsetzen. In den unmittelbar der königlichen Herrschaft unterstehenden Gebieten unterlag das Privateigentum der Großgrundbesitzer im allgemeinen praktisch keinen Einschränkungen. Die Differenzierung der Agrargesellschaft war überall weit fortge-

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schritten, was den Gebrauch des Begriffes "Bauer" wenig nützlich erscheinen läßt. Neben einer Minderheit von reichen Bauern (z.B. die großen Pächter in Westandalusien oder die pagesos de mas in Zentral- und Nordkatalonien), die zur Bewirtschaftung großer Flächen Landarme oder Landlose in Dienst nahmen, gab es eine große Mehrheit von Landarbeitern. Diese waren sowohl Tagelöhner als auch kleinere Landbesitzer oder Pächter, die nur die Arbeitskraft der Familie verwendeten. Die Konzentration des Landbesitzes hatte gewöhnlich hohe Einkommen und unsichere Bedingungen für die Landarbeiter zur Folge, ihre sozialen Ergebnisse waren aber in den verschiedenen Gebieten sehr unterschiedlich. In der nördlichen Hälfte der Halbinsel herrschten kleine Betriebe mit kurzfristiger Verpachtung (weniger als 10 Jahre wie in ganz Spanien üblich) oder, wie es in Galizien der Fall war, mit langfristigen Verträgen (die sog. foros) vor. In Katalonien und Teilen von Valencia hatten viele arme Bauern Zugang zu Landparzellen mit langfristigen Pacht- oder Halbpachtverträgen, wie es in den Weinbaugebieten Kataloniens der Fall war. Die Entwicklung einer intensiven und teilweise exportorientierten Landwirtschaft schuf in diesen Gebieten bessere Arbeitsmöglichkeiten für die besitzlose Bevölkerung. Zum andern entstand dadurch eine Reihe besonderer Probleme für diese armen Landarbeiter, wie z. B. das Fehlen von Kapital, ihre ständige Kreditabhängigkeit, ihre schwache Position bei einem Preisverfall der zu verkaufenden Ernte und die Gefahr, das von ihnen bewirtschaftete Land zu verlieren. Demgegenüber wurde in großen Teilen des Zentrums, des Westens und Südens von Spanien der Großgrundbesitz in Form von großen und extensiven Pachten bewirtschaftet. Das bedeutete geringe Arbeitsmöglichkeiten für die Tagelöhner mit wenig oder gar keinem Land, die einen sehr hohen Prozentsatz ausmachten: zwischen 53% und 78% der landwirtschaftlich Tätigen um 17974. 3. Der hohe Anteil der Bevölkerung ohne eigenes Land, aber mit sehr verschiedenen Arbeitsbedingungen, war ein überaus bedeutendes Problem, das sich im Laufe der Zeit noch zuspitzte. Da die Landwirtschaft die Haupteinkommensquelle bildete, stellte der Landerwerb das oberste Ziel aller vermögenden sozialen Gruppen dar: des neuen Adels, städtischer Händler und Selbständiger, reicher Bauern und, vor allem, der katholischen Kirche. Der Kampf um Landbesitz war, anders als allem Anschein nach in Deutschland, der grundlegende Faktor im Umformungsprozeß der Sozialstrukturen. In diesem Zusammenhang erfüllte der Liberalismus zwei wesentliche Funktionen: Er befreite den bestehenden Privatbesitz von feudalen Belastungen und schuf einen konkurrenzbestimmten Bodenmarkt. Die Landbesitzer waren - unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Macht und ihrer rechtlichen Lage - häufig den politischen Belastungen eines weniger entwickelten Feudalismus unterworfen (Monopole, Zehnte, Zölle). Der Liberalismus

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versuchte die Umwandlung dieser Rechte in Eigentumsrechte zugunsten der Herren zu verhindern. Nach langer Unschlüssigkeit gelangte man durch das Gesetz von 1837 zu einer endgültigen Lösung. Aber man darf nicht vergessen, daß die den (schließlich abgeschafften) politischen Belastungen Unterworfenen in der Mehrheit keine einfachen Bauern waren. Sie bildeten vielmehr zum großen Teil eine Oligarchie von adligen Landbesitzern, städtischen Großgrundbesitzern, Geistlichen und reichen Bauern. Zweifellos benachteiligte die Aufhebung der patrimonialen Gerichtsbarkeit viele Herren, die keine bedeutenden Besitzungen hatten. Man muß aber darauf hinweisen, daß in Neukastilien, Extremadura oder Andalusien die großen Herren häufig bereits im 18. Jh. erstrangige Landbesitzer waren. In diesen Fällen gestattete ihnen die liberale Gesetzgebung, ihren Besitz zu behalten. Diese teilweise Modernisierung der Rechte auf Landbesitz und die Mischung herrschender Klassen mit unterschiedlichem juristischem Status machte es schwierig und gefährlich, wie Pedro Ruiz dargelegt hat, die Mobilisierung des Volkes zu verlängern, die darauf zielte, "das Land gegen den Feudalismus zu erobern" 5 . Auf diese Weise war die endgültige Lösung, obwohl nachteilig für viele großen Herren (vor allem in Valencia, Katalonien und Altkastilien), kein Sieg "der Bauern" und noch weniger der großen Masse der Besitzlosen, sondern kam vornehmlich einer komplexen Oligarchie von Landbesitzern, von denen viele adelig waren, zugute. Die antifeudale Reform bedeutete eine entschiedene Verteidigung des bürgerlichen Besitzes, was bei der gegebenen Landverteilung einen klar konservativen sozialen Charakter hatte, wobei ein großer Teil der ländlichen Bevölkerung ausgeschlossen blieb. Dieses Kriterium trat schon 1821 in der Formulierung des Abgeordneten Marcial López zutage: "Ich würde gerne die Grenze des Besitzes kennen und versichere, daß es jenseits von ihr nichts für mich gäbe, was für das Volk nicht zugänglich wäre; aber wenn man diese Grenze antastet, so schaudert mir" 6 . Die gegen die Herren gerichtete Agitation im eigentlichen Sinne war, außer in bestimmten Gebieten wie Mittelvalencia, eine Angelegenheit, die nur minoritäre und generell gut situierte Gruppen mit gemäßigten Haltungen betraf. Ein Volksaufruhr, der den Herrenbesitz in Frage stellte, konnte, wie der Fall von Westandalusien zeigt, dazu führen, daß Formen von Vollbesitz angegriffen wurden, welche seit langen konsolidiert und sowohl für Teile des Adels als auch für die neue aufsteigende Bürgerschaft von Interesse waren 7 . Die Ursache dafür bildete der Umstand, daß die spanische liberale Revolution neben dem Kampf für das freie Grundeigentum auch den Erwerb von Landbesitz zu ermöglichen versuchte. Dadurch wollte sie ein grundlegendes Problem lösen, das sich im 18. Jh. verschärft hatte: die Hauptquelle des Reichtums, das Land war obwohl oft mit kurzfristigen Pachtverträgen bewirtschaftet - in einem beschränkten Markt eingeschlossen, dessen Grenzen das den Besitz des Adels und der Kirche schützende Privileg bildete. Auf diese Weise konnten große Teile des bebauten

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Landes von vermögenden Leuten nicht erworben werden. In einer Gesellschaft, die sich auf dem Weg zum Agrarkapitalismus befand, stellte das keineswegs ein zweitrangiges Problem, sondern vielmehr ein grundsätzliches Hindernis dar. Am Ende des 18. Jh. besaß die Kirche 20% des Landes im Königreich Kastilien, das den größten Teil Spaniens ausmachte. Fügt man die Besitztümer des Adels hinzu, kann man annehmen, daß zwischen 50% und 60% des bebauten Landes dem Gesetz nach nicht verkauft werden konnte 8 . Die Bedeutung dieses Faktors ist leicht verständlich, wenn man den Anstieg der Preise und Erträge des Bodens auf der einen Seite und die Anhäufung von Reichtum aus dem Handel in einigen großen Städten wie Cädiz, Barcelona, Valencia, Madrid, Bilbao oder La Coruna auf der anderen Seite in Betracht zieht. Die Handelskrisen und der Verlust der amerikanischen Besitzungen (endgültig gegen 1824) hatten zur Folge, daß der freie Erwerb von Land für die Bourgeoisie zu einem noch dringenderen Vorhaben wurde. In dieser Hinsicht bedeutete die bürgerliche Revolution einen sehr deutlichen Bruch. Die Versteigerung der Güter der Klöster (ab 1836), der Pfarreien und Bistümer (ab 1841) und der Gemeinden (1855) schuf zum ersten Mal einen ausgedehnten Bodenmarkt in Spanien. Zwischen 1836 und 1895 flössen 12808,4 Millionen "Reales" in den Erwerb dieser Güter, mit den höchsten Investitionen zwischen 1855 und 18679. Wie man sieht, fand der Radikalismus der Liberalen in der erzwungenen Abschaffung der kirchlichen und kommunalen Güter einen viel stärkeren Ausdruck als im Falle der Grundherrschaften. Der Adel sah sich, obwohl er den Schutz der Fideikommisse viel früher verlor als in England oder Deutschland, keinem Prozeß der Enteignung unterworfen wie die Kirche und die Gemeinden. In diesen beiden letzten Fällen zeigen die von den liberalen Regierungen angewandten Formen bei der Durchführung der Versteigerungen und der zugelassenen Zahlungsmittel (vor allem öffentliche Schuld), daß es im allgemeinen nicht in ihrer Absicht lag, die Verteilung des Besitzes unter die Landarbeiter zu begünstigen, sondern den Kapitalfluß auf den Landmarkt zu erleichtern und die Probleme der Staatskasse zu lösen. Wie war dieses Vorgehen zu rechtfertigen, das der Mehrheit der armen Landbevölkerung so wenige Möglichkeiten bot? Die Hauptströmung des Liberalismus beklagte den wirtschaftlichen Rückstand Spaniens hinsichtlich der geringen Kapitalisierung der Landwirtschaft infolge der feudalen Belastungen und des fehlenden Bodenmarktes. Daraus resultierten in dieser Sichtweise spärliche Erträge, eine ungenügende und kaum konkurrenzfähige Produktion und besonders hohe Kosten des Lebensunterhalts. Bezeichnenderweise behandelten sogar viele Sprecher der katalanischen Industrie die Probleme vornehmlich auf diese Weise und nicht aus der radikalen Sicht einer Erhöhung der inneren Nachfrage durch eine Umverteilung des Besitzes. Es gab freilich eine aufgeklärte Denkweise, die bereit war, die

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Bauern vor dem Ruin zu retten und die Ansiedlung von Besitzlosen zu fördern. Aber ihre Vorschläge, die später von den ersten Republikanern wieder aufgenommen wurden, blieben minoritär und oft begrenzt von der Respektierung des bestehenden Besitzes 1 0 . In der Tat bevorzugten viele Geschäftsleute, einschließlich der ersten Generationen der katalanischen Industriellen, eher Großgrundbesitzer zu werden, als ihre gewerblichen Betriebe durch einen starken Impuls des inneren Agrarmarktes zu konsolidieren. Das Vertrauen in die Möglichkeit, die Produktion durch den leichteren Zugang von Kapital auf den Bodenmarkt zu steigern, beherrschte den spanischen Liberalismus. Das hatte zwei wichtige Folgen. Zum einen rechtfertigte es den Umstand, daß die revolutionären Maßnahmen vor allem einen kleinen Kreis von Käufern begünstigten, die die Mehrheit des verkauften Landes an sich brachten. Zum andern diente es dazu, schon sehr früh die Vorschläge, die den Besitzerwerb der unteren ländlichen Schichten begünstigen wollten, an den Rand zu drängen. Bis 1835 bezogen sich diese Verteilungsprojekte auf Gemeindebesitzungen, die in Kastilien, Extremadura und Andalusien von besonderer Bedeutung waren, aber auch für die baskischen und galizischen Kleinbauern eine wichtige Rolle spielten. Im Hinblick darauf stellte der Triumph des Liberalismus einen bemerkenswerten Wandel dar. Ab 1837 legalisierten die Progressiven die faktischen Aneignungen und entschieden sich gleichzeitig für ein Veräußerungssystem mittels Versteigerung, das schließlich ab 1855 zur Anwendung kam. Die Besitznahme und Verteilungen in den jeweiligen Gebieten waren in der ersten Hälfte des Jh. zweifellos sehr wichtig. Sie mußten vor allem die mächtigen örtlichen Oligarchien begünstigen und erst in zweiter Linie die kleinen Bauern. Aber der massive Verkauf von Gemeindegrundstücken ab 1855 begünstigte entschieden die mächtigen Sektoren und zementierte gleichzeitig die Besitzlosigkeit der großen Mehrheit der Landbevölkerung 11 . Das Ergebnis dieser Reihe von Maßnahmen war die Herausbildung einer neuen Oligarchie von Grundbesitzern, die nicht mit den alten herrschenden Gruppen verwechselt werden darf. Die liberalen Reformen benachteiligten große Teile des alten Hochadels und auch privilegierte Gruppen, die sich auf moderne Formen der Bewirtschaftung stützten (vor allem Pacht), wie die Kirche oder bestimmte Schichten des kleinen Provinzadels. Es bildete sich vielmehr eine neue herrschende Klasse, die sich aus einigen privilegierten Teilen des alten Regimes und aus einer neuen Bourgeoisie zusammensetzte, die aus Geschäftsleuten, reichen Bauern und städtischen Selbständigen bestand. Diese Gruppe gewann die Oberhand dank der politischen Agitation in der Dekade von 1830. Der liberale Prozeß, der dank der Volksmobilisierung zustande kam, hatte also oligarchische Ergebnisse. Die daraus folgende Besitzkonzentration schuf günstige Monopolbedingungen für die Großgrundbesitzer, die einer bedürftigen und im Wachsen

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begriffenen Bevölkerung gegenüberstanden. Im Jahre 1860 wies die spanische Bevölkerung - die seit 1800 um 42% gewachsen war - mehr als 4 Millionen Lohnarbeiter auf, die 60% der erwerbstätigen Bevölkerung ausmachte. Dies erlaubte den Großgrundbesitzern, von Bedingungen zu profitieren, die günstig waren für ein Ansteigen der Bodenerträge oder, wie in Teilen Andalusiens, für die direkte Bewirtschaftung des Landes unter Ausnutzung lediglich eines minimalen Anteils der reichlich vorhandenen Arbeitskraft. Die liberale Gesetzgebung eliminierte jegliche Einschränkung der Besitzerrechte, und schließlich hielten protektionistische Agrarzölle die ausländische Konkurrenz fern 12 . Im Vergleich zu England und den östlichen Provinzen Deutschlands beschäftigte die Landwirtschaft in großen Teilen Zentral- und Südspaniens relativ wenig Arbeitskräfte, während die langsame Entwicklung der katalanischen Industrie keinen Sog für die Abwanderung von Arbeitskräften ausbildete. Das darf allerdings nicht als eine klare Distanz zwischen Land- und Stadtgesellschaft verstanden werden. Bis zur Mitte des 19. Jh. scheint es eine gewisse Zuwanderung der Landbevölkerung in die Städte, die normalerweise wenig entwickelte oder in Krisen steckende Industrien besaßen, gegeben zu haben. In Valladolid, wo eine relativ bedeutende Mehlindustrie entstand, verdreifachte sich die Bevölkerung zwischen 1838 und 1864, ohne daß die in der Landwirtschaft Tätigen unter 21% bis 22% der aktiven Bevölkerung sanken. Andere und bedeutendere Städte wie Saragossa, Sevilla, Valencia oder Madrid schlössen einen großen Anteil aktiver Agrarbevölkerung ein oder nahmen einen steigenden Zustrom von wenig qualifizierten Arbeitern vom Land auf 13 . Das legt wieder einmal die Annahme nahe, daß die Landbevölkerung von der Flutwelle des politischen und sozialen Aufruhrs, der während der ersten Hälfte des Jh. viele Städte erfaßte, nicht unberührt bleiben konnte. Es ist vielmehr wahrscheinlich, daß die eng mit den Städten verbundene Landbevölkerung mit der Rhetorik und den Argumenten eines Liberalismus in Berührung kam, der sich, wie man nicht vergessen darf, hauptsächlich auf Probleme der Landwirtschaft und des Landbesitzes bezog. Diese Politisierung fand freilich unter erschwerten Bedingungen für den kontinuierlichen Ausdruck bäuerlichen Protests statt. Die Besitzer und die Kreditgeber konnten vielschichtige Kontrollen über die kleinen Bauern ausüben. Die extensive Landwirtschaft im Zentrum und im Süden der Halbinsel begünstigte häufig Situationen von Arbeitslosigkeit und niederem Lebensstandard. Das erschwerte einen dauerhaften und nachhaltigen Kampf um Arbeitsbedingungen. Als einzige Alternative blieb ein Kampf um die Umwälzung der bestehenden Strukturen, der mit außerordentlichen Risiken verbunden war. Die periodische Unterwerfung unter die Politik der Bourgeoisie - normalerweise oligarchisch und auf eingeschränktem Wahlrecht fußend - bedeutete keineswegs eine Identifizierung mit den bür-

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gerlichen Werten, sonden zeigte sehr mannigfaltige Anpassungsformen, die mit vielerlei latenten oder offenen Spannungen vermischt waren.

II. Die politischen Haltungen der Landarbeiter: Gegenrevolution, Ohnmacht

und

Umwälzung In Spanien kann man keine vom Bürgertum unabhängige Bauernbewegung wie die Grande Peur von 1789 in Frankreich feststellen. Aber man darf daraus nicht eine Passivität des Volkes ableiten und diese deuten als eine Art kultureller Kluft zwischen dem traditionellen und rückständigen Land und den neuen Formen der liberalen Politik. Wie bisher dargelegt, erlebte das Land verschiedene soziale Spannungen und es verfügte auch über ausreichende Möglichkeiten zu Verbindungen und Kontakten mit der städtischen Welt. Darüber hinaus fanden die langen und häufig gewalttätigen politischen Kämpfe der Epoche mittels einer weitgreifenden Mobilisierung der Massen statt, die einen großen Teil der niederen Schichten sowohl der Städte als auch des Landes erfaßte. Deshalb muß man die Verbindung zwischen der Landbevölkerung und der neuen bürgerlichen Politik vor allem im Innern der politischen Strömungen suchen. Diese besaßen eine komplexe soziale Zusammensetzung und wurden von den sozialen Gruppen des Landes sehr verschiedenartig aufgenommen. Die politische Entwicklung dieser Epoche war geprägt von einem andauernden Widerstand gegen den Liberalismus. Die Bewegung gegen die Verfassung von Cádiz verursachte Aufstände und einen Guerillakrieg während der kurzen liberalen Etappe von 1820 bis 1823. Danach stützte sich der Antiliberalismus, jetzt Karlismus genannt, auf die Auseinandersetzung um die Thronfolge nach dem Tod von Ferdinand VII. (1833), die drei Kriege von unterschiedlicher Bedeutung auslöste: 1833-1840, 1846-1849 und 1872-1876. Obwohl der Karlismus von den ländlichen Unterschichten gewisser Gebiete (Baskenland und Navarra, Teile von Katalonien und Valencia und, in geringerem Ausmaß, von Galizien und Altkastilien) unterstützt wurde, darf er nicht mit einer eigenständigen Bauernbewegung verwechselt werden. Seine traditionalistische Rhetorik (Gott, König und Vaterland) drückte im Unterschied zu den auf den ersten Blick ähnlichen Fällen in Mittel- und Osteuropa nicht die antikapitalistischen Bestrebungen und die Feindseligkeit gegenüber der bürgerlichen Welt seitens der armen Bauern aus. Der Karlismus war vielmehr eine sozial komplexe, auf die Mobilisierung der Unterschichten gestützte Bewegung, die angeführt wurde von kirchlichen Gruppen, vom Kleinadel und von Besitzern mit lokaler Bedeutung. Das waren gleichzeitig die sozialen Gruppen mit dem stärksten Einfluß in den mittelgroßen Städten des spanischen Nordens und Ostens (z.B. Vic, Manresa, Solsona, Tortosa in Katalonien; Morella, Xátiva und Orihuela/Oriola im Land Valencia).

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Die antiliberale Ideologie verteidigte autoritäre Werte, eine intransigente wie eine intolerante katholische Religion und Königstreue, aber bezeichnenderweise verteidigte sie auch das Recht auf Privatbesitz, was natürlich die Landbesitzer begünstigte, die Landarbeiter aber benachteiligte. Diese Haltung stellte eine Verbindung mit der Opposition gegen die gemäßigte Agrarreform des aufgeklärten Absolutismus des 18. Jh. dar, und sie war im allgemeinen ein Punkt, in dem die Mehrheit der Liberalen übereinstimmte. Die antiliberalen Anführer reflektierten die Ansprüche der Kirche und vieler örtlicher Eliten von Landverpächtern, die eine uneingeschränkte Verhandlung der Bewirtschaftungsverträge, die Kontrolle der Gemeinden und die Aufrechterhaltung der Fideikommisse anstrebten. Sie repräsentierten also einen viel konservativeren kapitalistischen Weg und stützten sich auf eine autoritäre politische Sprache, die, obwohl sie die liberale Bourgeoisie angriff, die antiliberalen Besitzer verteidigte und den Forderungen der niederen Schichten keine Ausdrucksmöglichkeiten bot. Gerade deswegen ist es wichtig hervorzuheben, daß der Karlismus keine mehrheitliche Bewegung unter den armen Bauern darstellte. Seine Stützen finden sich stets in den gleichen Gebieten, über die hinaus er sich nicht ausbreiten konnte. Die Gebiete, wo der Karlismus seine größte Unterstützung fand, sind gekennzeichnet durch das Vorwiegen von Besitzlosen, die aber, dank der Aufgliederung der Bewirtschaftung in Form von Pacht, Teilpacht usw., Zugang zur Landnutzung hatten. Damit verband sich manchmal, etwa im Baskenland, eine traditionelle Feindseligkeit gegen Händler und Kreditgeber, die ihre prekäre wirtschaftliche Stabilität als Pächterbauern bedrohen konnten. Ihre entschiedene Opposition gegen die liberale Revolution enthielt keine vollkommene Ablehnung der bürgerlichen Prinzipien. Man kann sie verstehen als eine Bevorzugung des Fortbestandes der alten Eigentümereliten, die durch die liberalen Reformen bedroht waren. In der Tat blühte, wie die Entwicklung der Auseinandersetzungen der kleinen Winzer (Rabassaires) in einigen Weinbaugebieten Kataloniens nahelegt, der Karlismus solange, als die Spannungen mit den Besitzern im Hintergrund blieben. Der spätere Widerstand der kleinen Winzer gegen ihre Vertreibung vom gepachteten Land - vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jh. - hatte eine klare republikanische oder anarchistische Orientierung, die von der Rhetorik des Karlismus weit entfernt war 14 . Die sozio-ökonomischen Bedingungen der Landbevölkerung im größten Teil Spaniens boten nicht viele Möglichkeiten zur Bildung einer Bauernbewegung zur Verteidigung der herrschenden Ordnung. Im Gegenteil scheint der Zusammenbruch der alten Ordnung ein Vakuum geschaffen zu haben, das der bürgerliche Liberalismus freilich nur unvollkommen füllen konnte. Während die Liberalen zweimal (1820 und 1835-1836) die Isolierung und den Fall autoritärer Regimes erzielten, gelang es den Karlisten trotz ihrer lang dauernden militärischen Anstren224

gungen weder ihre soziale Basis zu vergrößern, noch den Zusammenbruch der liberalen Regimes zu erreichen. Das legt nahe, daß die politischen Formeln des Liberalismus trotz ihrer praktischen Einschränkungen im allgemeinen besser aufgenommen wurden als der vom Karlismus verteidigte autoritäre Gedanke. Demnach scheint die Annahme nicht übertrieben, daß die Rechtfertigung der alten sozialen Ordnung auch im größten Teil der ländlichen Gesellschaft untergehen mußte. Das wiederholte Scheitern des Karlismus und die festen Grenzen seiner Fähigkeit, die ländliche Gesellschaft zu mobilisieren - ebenso wie die Unfähigkeit der absoluten Monarchie und der Moderados (Konservativen) -, stärken keineswegs die Theorie der immerwährenden ideologischen Stagnation des ländlichen Spanien im 19. Jh. Die ländlichen und städtischen Unterschichten konnten in den sozialen Kämpfen allerdings erst auf lange Sicht unabhängige Strömungen bilden. Erste Schritte in diese Richtung erfolgten jedoch durch die Anhäufung von Erfahrungen und Zielen, die die Unterschichten allmählich von der Bourgeoisie trennten. Für die besitzenden Klassen bildeten die Privatisierung des Landes und der Bodenmarkt die Grundlagen der erhofften wirtschaftlichen Entwicklung. Aber das Ergebnis war die Vorherrschaft einer kleinen Zahl von Besitzern, die relativ hohe Erträge aus den Bauern herausholen oder aus der wachsenden Zahl der Tagelöhner Nutzen ziehen konnten. Die Erfahrung der Landarbeiter, die außerdem einer politischen Macht unterworfen waren, die sie fast vollständig aus der Politik ausschloß, war merklich anders als die der besitzenden Klassen. Der daraus entspringende Gegensatz von Interessen führte dazu, daß die Mehrheit der Landbevölkerung die in Spanien bestehende bürgerliche Gesellschaft nicht freiwillig unterstützte, sondern daß sie, im Gegenteil, einige Grundlagen der bürgerlichen Ordnung angriff. Alles deutet darauf hin, daß die Lage der landlosen Tagelöhner, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. kaum das Land verließen, sich mit der Zeit eher verschlimmerte. In vielen Gebieten waren die Einstellungsmöglichkeiten instabil, so daß sie auf den Arbeitsmarkt praktisch keinen Druck ausüben konnten. Die Arbeitschancen außerhalb der Landwirtschaft verringerten sich, da die Konkurrenz der modernen britischen oder katalanischen Textilindustrie viele traditionelle ländliche Industrien ruinierte. Im Jahr 1860 gab es nach amtlichen Angaben 2,3 Mio. Tagelöhner und 0,5 Mio. Pächter, gegenüber 1,4 Mio. Besitzern, die in ihrer Mehrheit wohl nur kleine Besitzungen innehatten. Seit 1787 hatte sich die Zahl der Tagelöhner mit 2,4 multipliziert. Um 1869, als der Arbeitskräftebedarf infolge der inzwischen erreichten Ausweitung des bewirtschafteten Landes nachzulassen begann, war die schlechte Lage der Lohnarbeiter ganz offensichtlich. In 21 von insgesamt 28 Provinzen, von denen Daten vorliegen, erreichte der vom landwirtschaftlichen Lohn gedeckte Teil des Lebensbedarfs der Familie nicht einmal die Hälfte 15 . Die Lage verschlimmerte sich durch drückende Verbrauchssteuern und

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das diskriminierende System des Militärdienstes, welches diejenigen benachteiligte, die sich nicht freikaufen konnten. All dies bedingte eine weite Kluft zwischen dem Lebensstandard der Landarbeiter und den Angehörigen der Bourgeoisie. Was noch wichtiger ist: es drängte die niederen Schichten in Lebensformen, die deutlich mit den bürgerlichen Gesetzen und Normen in Konflikt gerieten. Wilderei, heimliche Urbarmachung, Straßenräuberei, Diebstahl und sonstige Formen des Angriffs auf Privateigentum waren ein wichtiger Bestandteil des Überlebens der armen Bauern, die dabei auch das Risiko eingingen, verfolgt zu werden. Das begünstigte radikale politische Richtungen, die sich immer mehr vom bürgerlichen Liberalismus entfernten. Diese Radikalisierung äußerte sich in Form von gelegentlichen Konflikten oder von Ausbrüchen sozialen Protests. Sie traten sogar auch dann auf, wenn die unteren Schichten die progressive Bourgeoisie im Kampf gegen die Konservativen unterstützten, was zeigt, daß die unteren ländlichen Schichten nicht lediglich passive Kräfte waren. So erfolgten z.B. während der liberal-progressiven Regierung von 1854 bis 1856 in Saragossa Aufstände von Tagelöhnern, die wiederholt und in herausfordernder Weise das Holz der Umgebung zur Linderung der Arbeitslosigkeit der Wintermonate nutzten. Die in dieser Hinsicht spektakulärsten Vorgänge ereigneten sich in Andalusien, wo man seit 1845 klare Tendenzen zu republikanisch orientierten Massenaufständen beobachten kann, die auf eine Besetzung und Verteilung des Landes zielten und weite Gebiete erfaßten: El Arahal (1857) und Loja (1861) waren die Zentren der wichtigsten Aufstände. Die Repression war hart: im ersten Fall wurden 95 Personen hingerichtet und über 200 eingekerkert, im zweiten wurden 6 Personen füsiliert und über 100 kamen in den Kerker 16 . Die konservativen Regierungen hielten die Ordnung auf dem Lande aufrecht durch Kontroll- und Abschreckungsmaßnahmen, die die Bedingungen für sozialen Protest noch erschwerten. Die Bemühungen um eine Art ideologischer, vor allem religiöser Eroberung der Landbevölkerung hatten nur in gewissen Gebieten des Nordens und Ostens Erfolg. Das Schwergewicht der Maßnahmen zu ihrer Eingliederung in die bürgerliche Ordnung lag folglich im allgemeinen in diversen Formen der Unterdrückung. Mit der Schaffung der Guardia Civil, einer Landpolizei militärischen Charakters, haben die konservativen Regierungen in das politische Leben sowohl der kleinen Orte als auch der Städte eingegriffen. Im Jahre 1851 kontrollierte die Regierung unmittelbar 200 Gemeinden, viele davon mit weniger als 6000 Einwohnern. Kaum ein Zehntel davon waren Provinzhauptstädte 17 . Die Feldzüge zur ideologischen Integration der armen Bauern zeitigten nur begrenzte Erfolge. Ab 1843 entwickelte die Kirche mit entscheidender Unterstützung der besitzenden Bourgeoisie eine intensive Tätigkeit auf dem Land. Wie die Wortführer der alten katalanischen revolutionären Bourgeoisie - die am engsten mit dem industriellen Kapitalismus verbundene Bourgeoisie Spaniens - betonten, 226

war es notwendig, die der ländlichen Welt eigenen Werte der Arbeitsamkeit und Untertänigkeit zurückzugewinnen, wenn man die soziale Ordnung retten wollte, die in den Städten ständig bedroht war. Aber diese Verherrlichung einer idealisierten ländlichen Welt hatte im Zentrum und Süden wenig Erfolg. Dennoch darf man die Erfahrungen der Proletarisierung in diesen Gebieten nicht auf die gesamte spanische Landwirtschaft verallgemeinern. In Gebieten wie im Inneren Kataloniens, in den bewässerten Gegenden des Landes Valencia, im Baskenland oder Altkastilien erlaubte der Agrarkapitalismus nicht nur, sondern förderte sogar, daß die armen Bauern Zugang zur Landnutzung gewannen. Gelegentlich bot die Entwicklung der kommerziellen Landwirtschaft und, parallel dazu, der gesamten regionalen Wirtschaft bessere Einstellungsbedingungen. In Alzira zum Beispiel, einem hochentwickelten landwirtschaftlichen Gebiet des Landes Valencia, wurde im Jahr 1861 ein Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche von einer großen Zahl armer Pächter - mit durchschnittlich weniger als 1,5 ha Pachtland - bewirtschaftet, die kein eigenes Land besaßen. In diesen Fällen war bezeichnend, daß große Teile der herrschenden Schichten häufig eine Erweiterung des Agrarkredites verhinderten oder die Gründung von Genossenschaften verweigerten. Das verlieh den örtlichen Kreditgebern und Besitzern eine Schlüsselposition. Aber sogar in diesen durch intensive Landwirtschaft gekennzeichneten Gebieten sollte sich gegen Ende des Jahrhunderts eine bedeutende Masse von Tagelöhnern und kleinen proletarisierten Besitzern bilden 18 . Im Zentrum, im Süden und im Westen der Halbinsel blieben die Integrationsversuche durch die Religion seit Mitte des Jährhunderts ziemlich stumpf. Oft rückte die Verschlechterung der Lebensbedingungen einen Teil der Landbevölkerung an den Rand der herrschenden religiösen Werte oder drängte sie sogar in den Widerspruch gegen diese. Das steht im klaren Gegensatz zum ländlichen Spanien des 18. Jh., als die unteren Schichten am stärksten von religiöser Loyalität durchdrungen schienen. Im folgenden Jahrhundert konnte dieser Zustand nicht aufrechterhalten werden. So stiegen z.B. die Zahlen der ohne kirchliche Trauung Zusammenlebenden und damit der unehelichen Kinder in vielen armen Dörfern des Südens im Laufe des 19. Jh., teilweise infolge der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die manchmal eine kirchliche Eheschließung und die Übernahme der damit verbundenen Kosten unmöglich machten 1 9 . Eine Vielzahl von Faktoren begrenzte eine positive Integration, d.h. ohne Unterdrückung oder Abschreckung der Landarbeiter in die bürgerliche Gesellschaft Spaniens. Das war jedoch keine Folge der sozialen und kulturellen Unbeweglichkeit in der ländlichen Gesellschaft, sondern gründete in dem, was Josep Fontana das Scheitern des Staates genannt hat, eine politische Strategie zu entwickeln, die die Mehrheit der Bevölkerung positiv hätte annehmen können 2 0 . Dieses Scheitern schloß ein den Verlust der Möglichkeiten zur Industrialisierung, die starke Dis-

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kriminierung, die Steuerpolitik und durch die ungerechte Verteilung des Militärdienstes zu ungunsten der unteren Schichten sowie die Marginalisierung der Sprache lokaler Minderheiten in Spanien. Die lange Reihe von konservativen Regierungen im 19. Jh. reflektiert meines Erachtens vor allem die Folgen einer triumphierenden bürgerlichen Revolution und zur gleichen Zeit deren Unfähigkeit, die Mehrheit der Landbevölkerung unter liberalen Bedingungen in die bürgerliche Gesellschaft einzugliedern.

Anmerkungen 1

Kossok, M., Volksbewegungen im bürgerlichen Revolutionszyklus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 26, 1978, S. 593-606; Herr, R., Spain, in: D. Spring (Hrsg.), European Landed Elites in the Nineteenth Century, Baltimore 1977, S. 98-126; Juliá, S., Transiciones a la democracia en la España del siglo XX, in: Sistema 84,1988, S. 25-40.

2

Maluquer, J., El socialismo en España 1833-1868, Barcelona 1977, S. 31-51; Burdiel, I., La política de los notables, Valencia 1987.

3 4

Kaplow, J., The Ñames of Kings, New York 1972. Nadal, J., La población española (siglos XVI a XX), Barcelona 19733, S. 102. Über die Agrarverhältnisse in Katalonien und Valencia vgl. Sales, N. u.a., Terra, treball i propietat, Barcelona 1986; über Galizien vgl. Villares, R., La propiedad de la tierra en Galicia 1500-1936, Madrid 1982; vgl. Fernández de Pinedo, E., Centralismo, ilustración y agonía del antiguo régimen, in: M. Tuñón de Lara (Hrsg.), Historia de España, Bd. 7, Barcelona 1980, S. 55-72.

5

Ruiz, P., Crisis señorial y transformación agraria en la España de principios del siglo XIX, in: Hispanía Jg. 43,1983, S. 89-128.

6

Moxó, S. de, La disolución del régimen señorial en España, Madrid 1965, S. 101-136. 7 Bernal, A., La lucha por la tierra en la crisis del antiguo régimen, Madrid 1979. 8 Herr, R., Spain, S. 100; Fernández de Pinedo, E., Centralismo, S. 55. 9 Nadal, J., El fracaso de la revolución industrial en España, 1814-1913, Barcelona 1975, S. 56. 10 Fontana, J., La desamortización de Mendizábal y sus antecedentes, in: A. Garda Sanz u. R. Garrabou (Hrsg.), Historia agraria de la España contemporánea, Barcelona 1985, Bd. 1, S. 219-244; LLuch, E., El pensament econömic a Catalunya (1760-1840), Barcelona 1973; Maluquer, J., El socialismo. 11 Mangas, J.M., La propiedad de la tierra en España: los patrimonios públicos, Madrid 1984, S. 249-269. 12 Maluquer, J., El socialismo, S. 46; Robledo, R., La renta de la tierra en Castilla la Vieja y León (1836-1913), Madrid 1984. 13 Perez Moreda, V., La modernización demográfica, 1800-1930, in: N. SánchezAlbornoz (Hrsg.), La modernización de España 1830-1930, Madrid 1985, S. 54 Serrano, R., El sexenio revolucionario en Valladolid, Valladolid 1986, S. 2426; Bahamonde, A. u. Toro, J., Burguesía, especulación y cuestión social en el Madrid del siglo XIX, Madrid 1978, S. 42-47.

228

14 Torras, J., Liberalismo y rebeldía campesina, 1820-1923, Barcelona 1976; Millán, J., Eis militant carlins del País Valenciá central, in: Recerques 21, 1988, S. 101-123; Balcells, A., El problema agrario en Cataluña, Madrid 1980. 15 García, A., Jornales agrícolas y presupuesto familiar campesino en España a mediados del siglo XIX, in: Anales del CUNEF 1979/8, S. 50-71; Garrabou, R., Salarios y proletarización en la agricultura catalana de mediados del siglo XIX, in: Hacienda pública española 108/109,1987, S. 343-359. 16 Pinilla, V., Conflictividad social y revuelta política en Zaragoza (1854-1856), Saragossa 1985, S. 135-157; Bernal, A., La lucha por la tierra, S. 426-446. 17 Castro, C. de, La Revolución Liberal y los municipios españoles, Madrid 1979, S. 182 f. 18 Romero, J., Propiedad agraria y sociedad rural en la España mediterránea, Madrid 1983, S. 280. 19 Callahan, W., Iglesia, poder y sociedad en España, 1750-1874, Madrid 1989 (engl. Cambridge/Mass. 1984), S. 216-238; Martínez, J.M., La población de Yeste en los inicios de la transición demográfica, 1850-1935, Albacete 1983, S. 201-215. 20 Martínez Alier J., Patrons i clients, in: Recerques 9,1979, S. 155-158; Fontana, J., La fi de l'antic régim i la industrialització (1787-1868), in: P. Vilar (Hrsg.), Historia de Catalunya, Bd. 5, Barcelona 1988, S. 453-464.

Niels Clemmensen

Politische Mobilisierung und Klassenstruktur der dänischen Agrargesellschaft im 19. Jahrhundert

Bei einer Sitzung des Landgemeindevereins des Amtes Holbaek im Oktober 1845 äußerte der seeländische Bauer Niels Hansen Nielsen: "Als ich Bauer wurde, sprachen wir, wenn wir beisammen waren, über unsere Pferde und Kühe, über unsere Äcker und Wirtschaft, weiter reichten unsere Vorstellungen nicht.... Aber jetzt treffe ich selten andere Bauern, ohne daß wir auch über bäuerlichen Eigenbesitz, Erbpacht und gleiche Besteuerung des Hartkorns sprechen, ohne daß wir diskutieren, was wir für den Fortschritt des Bauernstandes tun können und wie es unseren Kindern gehen wird. Das beweist, meine ich, daß neues Leben in die Bauernschaft gekommen ist. Beweisen nicht die 10.000 Bauernunterschriften, die letztes Mal (1844) auf dem Tisch der Ständeversammlung lagen, dasselbe ...?1" In der Tat war ein neues Leben im Bauernstand erwacht. Das Zitat zeugt davon, daß die Bauern nun wünschten, durch selbständige individuelle und kollektive Handlungen die Entwicklung selbst zu beeinflussen, und daß dafür neue Möglichkeiten vorhanden waren. In den ratgebenden Ständeversammlungen, die 1835 zum ersten Mal zusammengerufen worden waren, konnten die Vertreter der Bauern erstmalig ihre Forderungen vorbringen. Der Landgemeindeverein des Amtes Holbaek war nur einer von mehreren politischen Bauernvereinen, die sozusagen im Kielwasser der neuen Landgemeindeverordnung vom Jahr 1841 entstanden waren. Nur einen Monat nach der oben erwähnten Sitzung begrüßten Kreise von bürgerlichen Liberalen anläßlich des Vogelschießens in Kopenhagen eine Deputation von Bauern, die im Namen ihrer Standesgenossen dem König eine Petition überreichen sollte. Der Volksschullehrer Asmund Gleerup verkündete die Parole für das Fest: "Jetzt kommt der Bauer". Damit wies er auf die bedeutsame Verbindung zwischen dem bürgerlichen Liberalismus und der Bauernbewegung hin 2 . Die politische Mobilisierung der Bauern in den vierziger Jahren basierte also auf einer Koalition mit dem liberalen Bürgertum. Diese Allianz hatte ihre Anfänge schon in der Zeit des Absolutismus auf der Ebene einer nationalen Agitation. Aber erst in den 1840er Jahren vermochten die Bauern ihre eigenen politischen Organisationsformen zu schaffen und sich sowohl auf der lokalen als auch auf der nationalen Ebene als eigenständiger politischer Machtfaktor durchzusetzen. Für das liberale Bürgertum wurde die Allianz jedoch ein zweischneidiges Schwert, das zwar der konstitutionellen Sache eine größere Durchschlagskraft verlieh, gleichzeitig aber eine klassenpolitische Organisierung der Bauern förderte.

231

Dieser Prozeß wird im folgenden zu behandeln sein, wobei der Begriff "Klassenpolitik" nicht nur im Lichte des Verhältnisses zwischen Stadt und Land und zwischen Bürgertum und Bauern gesehen, sondern auch in Relation zu den neuen Klassengegensätzen im Dorfe analysiert werden muß. In einer weiteren Perspektive wird die Frage gestellt, ob die politische Integration der Bauern Entwicklungstendenzen und strukturelle Züge aufweist, die über die Rationalität der bürgerlichen Öffentlichkeit hinausgingen. Mit anderen Worten: Könnte man in Verbindung mit der Integration der Bauern in das bürgerliche politische System gleichzeitig davon sprechen, daß dieses System unter bäuerlichem Einfluß neue Funktionen erhielt? Die Antwort darauf muß in den Strukturveränderungen auf dem Lande gesucht werden, die mit den Agrarreformen des 18. Jh. in Dänemark eingeleitet wurden und die die Rahmenbedingungen für die politischen Aktivitäten der Bauern ganz entscheidend umgestalteten.

Die Strukturveränderungen der dänischen Agrargesellscliaft Diese Agrargesellschaft, die sich im Laufe des 18. Jh. zu wandeln begonnen hatte, war in ihren Grundzügen noch eine feudale Gesellschaft, in welcher der Gutsherr sowohl Besitzer des Pachtbodens war, als auch eine Reihe von Verwaltungsaufgaben innerhalb der öffentlichen Administration auf dem Lande ausübte 3 . In ökonomischer Hinsicht befand sich die Bauernschaft in einem Zustand zwischen Natural- und Geldwirtschaft. Die Feudallasten bestanden vornehmlich in Frondiensten und Naturalabgaben, aber die Staatssteuern forderten bares Geld. Dazu kamen die Gesindelöhne und der Kauf von Bedarfsgütern, die nicht auf dem Hof produziert werden konnten. Die Bauernwirtschaften waren deshalb zu regelmäßiger Marktproduktion gezwungen, zumal der Erlös aus der Getreideproduktion oft nur ein Minimum im Verhältnis zu den notwendigen Naturalabgaben ausmachte. Die feudale Struktur war durch die Relationen zwischen Pachtbauern und Gutsbesitzern bestimmt, aber die dänischen Bauern waren - anders als z.B. in ostelbischen Gebieten - nicht der Leibeigenschaft unterworfen. Auch innerhalb des Bauernstandes bzw. der ländlichen Bevölkerung gab es verschiedene soziale Kategorien, die im Verhältnis zum entscheidenden Produktionsmittel, dem Boden, definiert waren. Die Scheidelinie verlief hier zwischen den Mittelbauern, denen das Recht zur Nutzung eines Hofes (10-15 ha) übertragen war, und einer sehr inhomogenen Gruppe von landarmen und landlosen Produzenten wie Häuslern, Handwerkern und Tagelöhnern. Diese wurde während des gesamten 18. Jh. immer größer. Das hatte eine Proletarisierung der Landbevölkerung zur Folge. Die Klassendifferenzierung des Bauernstandes begann also zu einer Zeit, als der all-

232

gemeine Bevölkerungszuwachs und die steigende Grundrente einen immer stärkeren Druck auf den Boden ausübte. Dieses Bild der agrargesellschaftlichen Struktur Dänemarks vor der Reformperiode im 18. Jh. ist hier zwar vereinfacht wiedergegeben, deutet aber trotzdem auf einige charakteristische Züge des feudalen Systems im allgemeinen wie auf den politischen Spielraum hin, den dieses System den Bauern ließ. Die "Bauernpolitik" der Feudalzeit war weitgehend geprägt von lokalen Konflikten mit den Gutsbesitzern um die der Höhe der Feudallasten, und sie war eingebettet in das traditionelle soziale Netzwerk des Dorfes. Abhängig von der jeweiligen Situation ging es den Bauern im wesentlichen darum, die feudalen Belastungen zu ihrem eigenen Vorteil abzubauen, während sie das System selbst und seine Mechanismen nur selten in Frage stellten4. Solche bauempolitischen Aktivitäten lassen sich in Dänemark unmittelbar vor und während der großen Reformperiode nachweisen, als die Bauern teils eine Verschärfung ihrer Frondienste erlebten, teils eine Schwächung der gutsherrschaftlichen Autorität erfuhren, und zwar als eine Folge der Reforminitiativen der Regierung. Von einer Koordination auf nationaler Ebene, geschweige denn von Bauernaufständen war keine Rede. Darüber hinaus war die Lage noch durch einen anderen dynamischen Faktor bestimmt, nämlich durch den Druck der nun einsetzenden Kommerzialisierung, der das Entstehen von Protestaktionen förderte. Betrachten wir darum Hintergrund und Verlauf der Agrarreformen etwas näher 5 . Den Hintergrund bildete die zunehmende internationale Marktintegration der Großbetriebe während der Hochkonjunktur des 18. Jh. Sowohl dieser beginnende Agrarkapitalismus als auch der demographische Druck stellten dynamische Faktoren dar, die das ganze feudale System in Frage stellten. Die Lösung, die mit den Reformen realisiert wurde, wäre darum am besten als eine Art der Entfeudalisierung zu charakterisieren: Eine (teilweise) Eliminierung des patrimonialen Herrschaftssystems und der öffentlichen, verwaltungsmäßigen Pflichten des Gutsherrn und die Etablierung eines (teilweise) freien Arbeitsmarktes mit besonderer Berücksichtigung der Mittelbauern. Die Tendenz ging dahin, daß der ländliche Arbeitsmarkt liberalisiert wurde und ein Agrarproletariat entstand, das den Frondienst der Pachtbauern durch Lohnarbeit ersetzte. Gewisse restriktive Grundverteilungsgesetze verboten Nieder- oder Zusammenlegungen von Bauernhöfen und sicherten somit die Erhaltung einer bäuerlichen Mittelschicht, deren Arbeitskraft vor allem dem eigenen Betrieb zugute kam. In manchem waren diese Reformen eine effektive und funktionelle Lösung der Strukturprobleme der dänischen Agrargesellschaft, aber in Wirklichkeit beschleunigten sie eine soziale und landwirtschaftliche Entwicklung, die lokal schon längst von Gutsbesitzern und Bauern in Gang gesetzt worden war. Die Reformen 233

und gute Konjunkturen bis 1807 sicherten sowohl die nötigen Arbeitskräfte für die Güter als auch die Selbständigkeit und den Fortschritt der Bauernbetriebe und schufen damit die Grundlage der charakteristischen Struktur der dänischen Landwirtschaft mit ihrer Basis in den Familienbetrieben mittlerer Größe (um 1800 waren etwa 60% der Bauernhöfe bäuerlicher Eigenbesitz). Den Preis mußte die zahlenmäßig größte Gruppe der Landbevölkerung zahlen, die Häusler, Landarbeiter usw., die in der Regel eine kleine Parzelle besaßen, ihr wesentliches Einkommen aber durch Lohnarbeit auf Gütern und Bauernhöfen erzielten. Von der Mitte des 18. Jh. bis ungefähr 1830 verdoppelte sich fast ihre Anzahl, und das ganze 19. Jh. hindurch blieb dieses Landproletariat das größte soziale Problem. Das Ergebnis der Reformzeit war also ein Kompromiß zwischen den Interessen der Gutsbesitzer und der Bauern, der eine neue Klassenstruktur und neue Klassengegensätze auf dem Lande begründete. Damit war der Rahmen bauernpolitischer Aktivitäten fundamental verändert worden, obgleich feudale Relikte weiterhin vorhanden waren, deren radikale Beseitigung die Bauern des 19. Jh. forderten, vor allem eine Aufhebung der restlichen Gutsprivilegien und die Abgabe der Pachthöfe in bäuerlichen Eigenbesitz. Damit waren Voraussetzungen für eine andere Bauernpolitik gegeben, die nunmehr das Verhältnis zum beginnenden bürgerlichen Liberalismus berührte. Der bürgerliche Liberalismus und die politische Mobilisierung der Bauern Die führenden liberalen Politiker vertraten die Anschauung, daß der bürgerliche Mittelstand der Kern der Nation sei und die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen in ihrer allgemeinen Form vertrete 6 . Diese politischen Ideale fanden bei den Bauern keine Sympathie. Im Gegenteil hegten sie Mißtrauen gegen die konstitutionelle Idee als eine Verhüllung bürgerlicher Klasseninteressen. Ihre Zustimmung war aber eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß der Liberalismus mehr als Angelegenheit einer kleinen städtischen Elite werden konnte. Eine politische Mobilisierung der Bauern mußte jedoch von sozialpolitischen Forderungen nach bäuerlichem Eigenbesitz, nach Aufhebung der restlichen feudalen Privilegien ausgehen und an die umfassende Petitionsbewegung anknüpfen, die auf dieser Grundlage in der Bauernschaft entstanden war. Jüngere liberale Politiker sahen hier die Möglichkeit einer künftigen Allianz zwischen den bürgerlich-konstitutionellen Ambitionen und den sozialpolitischen Interessen der Bauern. Wo der Absolutismus weder die Möglichkeit noch den Willen gehabt hatte, sich über die Interessen der Großgrundbesitzer hinwegzusetzen, konnten liberale Politiker nunmehr mit Reformen in Verbindung mit einer künftigen konstitutionellen Entwicklung locken. Mit dem Entstehen der "Gesellschaft der Bauernfreunde" im

234

Jahre 1846 (Bondevennernes Selskab) bekam die Allianz ihre organisatorische Basis. In diesem Prozeß kann man auf eine Reihe von Faktoren hinweisen, die das politische Verhalten der Bauern auch in anderen Ländern während der Periode des Aufbruchs aus der feudalen Gesellschaft bestimmten und den Rahmen der feudalen Bauernproteste sprengten. Es gehört z.B. zum politischen Verhalten der Bauern, daß Bündnisse mit anderen Klassen und Tendenzen zur Auflösung zentraler politischer Machtstrukturen als Katalysatoren von Protestbewegungen wirken können. Beide Voraussetzungen waren in den 1840er Jahren vorhanden: Der Absolutismus war in Frage gestellt, die Bauernbewegung wurde von außen beeinflußt und konnte der fundamentalen Änderungen in den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der Landwirtschaft um so stärker wirken. Die günstigen Konjunkturen der vierziger Jahre förderten die Marktintegration der Landwirtschaft und machten aus den Pachthöfen ein Objekt der ökonomischen Spekulation. Die Forderung der Bauern nach bäuerlichem Eigenbesitz war vorläufig ein Abwehrmechanismus gegenüber den Ambitionen der Gutsbesitzer, die Wertsteigerung der Pachthöfe zu kapitalisieren, überschritt aber gleichzeitig die Vorstellungen einer traditionellen Subsistenzwirtschaft und bahnte so dem modernen kapitalistischen Agrarunternehmer den Weg. Die sozialökonomischen Voraussetzungen dieser Entwicklung basierten auf den Agrarreformen des 18. Jh., die in vieler Beziehung die Allianz zwischen Bauern und Bürgern vorwegnahmen. Damals bildete die Forderung nach Aufklärung und Emanzipation der Bauern ein ideologisches Stimulans für den Kampf des Bürgertums gegen die aristokratischen Privilegien, aber in den Vierzigern des 19. Jh. wurde der Kampf gegen den Absolutismus als politisches System durch die Mobilisierung des Bauernstandes verstärkt. Das liberale Bürgertum integrierte die Interessen der Bauern in sein politisches Programm und übertrug sie in einen größeren ideologischen und politischen Zusammenhang mit den bürgerlichen Freiheits- und Gleichheitsideen. Wenn Feudalbauern früher ihr politisches Aktionsfeld auf das Dorf und das Gut begrenzten oder in besonders zugespitzten Situationen an den König als zwar ferne, aber doch allmächtige Instanz appellierten, forderten die Bauern nun staatsbürgerliche Gleichheit als endgültige Abrechnung mit feudalen Privilegien und Hierarchien. Die Linksliberalen - und einige Konservative - erwarteten, daß die Bauern ein stabilisierendes Element in der künftigen konstitutionellen Entwicklung werden könnten und stellten sich vor, daß dies unter der politischen Vormundschaft des Bürgertums geschehen müßte. Aber hinter diesen Vorstellungen von den Bauern als staatstragender Klasse lag eine soziale Realität, die darin bestand, daß sich mit der immer schärferen Differenzierung des Bauernstandes eine agrarische Mittelklasse herausgebildet hatte, die die nötigen materiellen und kulturellen Ressour235

cen besaß, um sich bürgerliche Normen und Verhaltensweisen anzueignen. Den landarmen/landlosen Schichten fehlten solche Ressourcen, und sie vermochten auch nicht, ein proletarisches Bewußtsein herauszubilden. Das politische Selbstverständnis dieser Schichten im 19. Jh. wurde weitgehend von den Bauern dadurch bestimmt, daß die latenten Gegensätze zwischen Besitzenden und Besitzlosen aus den ehemaligen feudalen Konflikten hergeleitet wurden; im Verhältnis zu den Feudalherren früherer Zeiten, den Gutsherren, konnten sich Bauern und Landarme/Landlose in gewissem Sinne als ein "Stand" mit gemeinsamen Interessen fühlen 7 . Die Ausnahmen sind aber interessant und charakteristisch für diese Zeit des Umbruchs. Die Märztage des Jahres 1848 inspirierten die Häusler und Tagelöhner zu spontanen nationalen Demonstrationen und Krawallen. Diese waren vorzugsweise gegen lokale Gutsbesitzer gerichtet und hatten einen deutlichen Unterton sozialer Unzufriedenheit. Aber das Neue war, daß sie auch die latenten Konflikte zwischen Bauern und Landarmen aktivierten und die Differenzierung des alten Bauernstandes verdeutlichten. Für die politischen Vertreter der Bauern und ihre bürgerlichen Bundesgenossen, von denen einzelne jetzt in der Regierung saßen, waren diese Unruhen ein Anlaß, in höherem Grade die Interessen der Häusler durch politische Organisationen zu kanalisieren, die für den Bauernstand geschaffen worden waren. Die Märztage 1848 schienen also einerseits eine gelungene politische Integration der oberen Schichten des Bauernstandes zu bestätigen, andererseits zeigten sie die engen Grenzen dieser Integration in zugespitzten Situationen auf 8 . Wenn es hier gilt, Umfang, Grenzen und Charakter der Integration im Lichte des Problems der Verbürgerlichung zu interpretieren, muß sich das Interesse im folgenden besonders auf die politische Organisationsbildung des Bauernstandes und deren Potential konzentrieren.

Die politische Organisationsbildung der Bauern Mit der Landgemeindeverordnung von 1841 entstanden für die Bauern neue Möglichkeiten politischen Einflusses unter Leitung von Mittelbauern, die genauso wie Pfarrer und Großgrundbesitzer Zutritt zur Gemeindeverwaltung bekamen 9 . Diese Verordnung gab den Anlaß zu einem umfassenden politischen Vereinsleben unter den Bauern. Das verband die parlamentarischen Formen mit der breiten Mobilisierung, die das Hauptproblem des Liberalismus war. Die erste politische Zeitung für Bauern, "Der Volksfreund" (Almuevennen), erschien ab Neujahr 1842 und widmete den Gemeindeangelegenheiten große Aufmerksamkeit. In den folgenden Jahren wurden auf den dänischen Inseln eine Reihe von Landgemeindevereinen gegründet, die sich in "streng parlamentarischen Formen" mit den Gemeindeverhältnissen und mit allen anderen Fragen, die die Landbevölkerung angingen,

236

beschäftigten. Der Vorstand wurde demokratisch gewählt, die freie Zulassung neuer Mitglieder und die niedrigen Beiträge öffneten breiten, sonst von der Gemeindeverwaltung ausgeschlossenen Schichten den Zutritt 1 0 . In gewissem Grade trugen die Vereine zur bürgerlich-liberalen Aufklärungstätigkeit bei. Die Initiative wurde von Kreisen außerhalb des Bauernstandes mit dem Ziel ergriffen, diesen zur intensiveren Teilnahme am öffentlichen Leben "zu erziehen". Andere Vereine wurden aber von den Bauern selbst ins Leben gerufen und geleitet. Sie wurden zu Foren selbständiger und radikaler politischer Aktivitäten. Damit war eine spätere Entwicklung vorweggenommen, welche die politische Organisierung der Bauern vom bürgerlichen Einfluß emanzipierte. Beide Richtungen liefen in der "Gesellschaft der Bauernfreunde" (1846) zusammen. Ursprünglich aber war diese Gesellschaft eine bürgerliche Reaktion gegen radikale politische Initiativen der Bauern und muß als ein Werkzeug für die Bestrebungen des liberalen Bürgertums gesehen werden, die Bauern in die liberale Politik zu integrieren 11 . Der Einladung zufolge war es das Ziel der "Gesellschaft der Bauernfreunde", bei der "Bezwingung" des Privilegienwesens und der Entwicklung einer Gesellschaft, die auf bürgerlicher Gleichheit gegründet sein sollte, mitzuwirken. Doch der konstitutionelle Gedanke konnte nicht direkt zum Ausdruck

kommen.

Tradition

der Aufklärung des

Die

Gesellschaft

führte also

die

bürgerlich-politische

18. Jh. fort, ging aber in ihren

positiven

Gleichheitsbestrebungen insofern weiter, als sie die selbständigen politischen Aktivitäten der Bauern integrierte. Im Jahre 1847 hatte die "Gesellschaft der Bauernfreunde" schon 5.000 Mitglieder, von denen etwa zwei Drittel Bauern und ein Drittel

Häusler

waren.

Es war

also

der

Gesellschaft gelungen,

die

Unterstützung breiter Gruppen der Landbevölkerung zu gewinnen, obwohl sie vor allem für die Interessen der Mittelbauern agitierte. Sie forderte neben allgemeiner Wehrpflicht,

besseren

Volksschulen

und

Gewerbefreiheit

insbesondere

Agrarreformen für den Kauf des restlichen Pachtbodens durch die Bauern. Mit diesen zwar moderat formulierten Forderungen wurden dennoch eine Reihe von Klasseninteressen

in

die

Öffentlichkeit

getragen,

die

einem

orthodoxen

Liberalismus zufolge in die Sphäre privater Vereinbarungen zwischen Gutsbesitzern und Pachtbauern verwiesen werden sollten. In ihrer Struktur war die "Gesellschaft der Bauernfreunde" Ausdruck einer bürgerlichen Monopolisierung der bauernpolitischen Aktivitäten, die kraft einer zentralisierten und hierarchischen Organisation dem Vorstand in Kopenhagen alle Entscheidungen beließ. In diesem Vorstand war kein einziger Bauer vertreten; die Organisation war auch nicht offen für eine Teilnahme der Mitglieder an demokratischen Entscheidungsprozessen, andererseits aber stützte sie sich in hohem Grade auf das politische Netzwerk, das von den Bauern selbst entwickelt worden war. In derselben Weise wurde eine Reihe weiterer ökonomischer Gesellschaften durch

237

die direkte Initiative der Landgemeindevereine gegründet, d.h., in diesen Jahren wurde alles, was die Bauern in Angriff nahmen, in Politik verwandelt. Gleichzeitig aber war man bestrebt, solche Aktivitäten im Rahmen der "Gesellschaft der Bauernfreunde" zu steuern, defensiven Maßnahmen gegenüber den Landlosen/Landarmen vergleichbar, mit denen der Vorstand der Gesellschaft in den Märztagen besonders die sozialen Forderungen der Häusler vorbrachte und daran arbeitete, den Anschluß dieser Schichten an die Gesellschaft zu erreichen. Es gelang im großen ganzen, das "Landproletariat" unter der Leitung der Mittelbauern für mehr als ein halbes Jahrhundert in Ruhe zu halten, zuerst in der "Gesellschaft der Bauernfreunde", später in der Partei "Venstre" (die Linke). Die disziplinierenden Funktionen der Gesellschaft in den vierziger Jahren sind also offenbar. In ihrer politischen und organisatorischen Praxis förderte sie aber zwei Tendenzen, die auf die Dauer die Hegemonie des Bürgertums herausforderten: eine Tendenz zur politischen Massenorganisierung, und eine Tendenz zur Legitimierung der Klasseninteressen durch eine koordinierte politische, soziale und wirtschaftliche Praxis. Es folgte zwar nicht aus den liberalen Prämissen, daß die "Gesellschaft der Bauernfreunde" sich zu einer klassenpolitischen Organisation entwickelte, doch suchten die Liberalen mit Hilfe dieser "Gesellschaft" die sozialen Voraussetzungen für die Entstehung eines ländlichen Mittelstandes bodenbesitzender Bauern zu schaffen, der den zukünftigen konstitutionellen Staat unter der politischen Führung des Bürgertums unterstützen könnte. Nach dem politischen Systemwechsel 1848 befreiten sich die Bauern vom bürgerlichen liberalen Einfluß und schufen ihre eigenen demokratischen Massenorganisationen. Die "Gesellschaft der Bauernfreunde" bekam einen Vorstand, der stärker mit der breiten Masse der Bauern übereinstimmte, und im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre setzten die Bauern ihre Bestrebungen fort, eigene Parteiorganisationen zu gründen; diese waren im Gegensatz zur "Gesellschaft der Bauernfreunde" demokratisch aufgebaut und organisatorisch den Wahlkreisen angepaßt. In der Praxis besetzten die Mittelbauern die politischen Schlüsselpositionen, aber die formelle Demokratie verschleierte die sozialen Gegensätze zwischen den Mittelbauern und dem Landproletariat. Entscheidend wurde, daß die demokratischen Vertretungsprinzipien der Juniverfassung in Dänemark (1849) - allgemeines und gleiches Wahlrecht für Männer mit eigenem Hausstand - die bürgerlichen Eigentums- und Bildungskriterien für politischen Einfluß auf ein Minimum reduziert hatten. Das war der Preis, den die Liberalen den Bauern zu zahlen hatten, um die Verfassung zu stützen, und er war hoch, weil er den demokratischen Massenbewegungen den Weg bahnte. Von "Gewinnern" und "Verlierern" im Bündnis zwischen Bauern und liberalem Bürgertum zu sprechen wäre daher zu einfach. Auf kurze Sicht erreichten die Liberalen vielleicht die augenfälligsten Erfolge. Sie nutzten die Bauernbewegung 238

für ihre eigenen Zwecke und gaben ihr eine Organisation unter bürgerlicher Leitung, aber die Bauern lernten für ihre zukünftige politische und organisatorische Tätigkeit, die die Voraussetzungen des liberalen Bürgertums für eine "Klassen"-Zusammenarbeit überschritt und besser integrierten F o r m e n der Massenorganisation Vorgriff. Nach 1848 lehnten die Bauernorganisationen die liberale politische Doktrin von einer locker organisierten intellektuellen Gemeinschaft Gleichgesinnter ab. Das liberale Bürgertum wurde allmählich gezwungen, neue politische

Organisationsformen

zu

schaffen.

Die

Struktur

der

liberalen

Assoziationen, in denen eine Handvoll glänzender N a m e n den Erfolg garantierte, erwies sich ganz einfach unzulänglich, wenn es darum ging, breite Wählermassen zu mobilisieren 1 2 .

Die Bauern und der Demokratisierungsprozeß.

Schlußbetrachtungen

Ideologisch und organisatorisch bedeutet die politische Mobilisierung der Bauern einen entscheidenden Bruch mit dem Konsensus der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihrer bewußten Distanzierung gegenüber parteipolitischen Organisationen und Sonderinteressen. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß diese Entwicklung unter der Fahne des Bürgertums in Gang gesetzt wurde und daß die Integration der Bauern für die politische Organisationsbildung des Bürgertums notwendig werden sollte. Es ist auch bemerkenswert, daß das liberale Bürgertum von Anfang an gezwungen war, an die Interessen der Bauern anzuknüpfen und damit seine eher individuell betonte politische Praxis aufzugeben. Es ist eine Entwicklung, die Jürgen H a b e r m a s als Verfallstendenzen der bürgerlichen Öffentlichkeit diagnostiziert hat, womit er darauf abzielte, daß die Öffentlichkeit von Gruppen- und Klasseninteressen infiltriert und die Sozialsphäre politisiert wird. Aber während H a b e r m a s die Ursachen dafür in der Industrialisierung und der damit zusammenhängenden Organisierung der Arbeiterklasse sucht, müssen wir in D ä n e m a r k die Voraussetzungen im agrarischen Sektor und in der Entwicklung

einer klassen-

bewußten Mittelklasse selbständiger Bauern suchen. Im Unterschied zu den westeuropäischen Ländern lag nach den epochemachenden Agrarreformen des 18. Jh. die wesentlichste Dynamik im landwirtschaftlichen Sektor, wo sich kapitalistische Produktionsverhältnisse und Marktrelationen entwickelten, ehe

Urbanisierung

und Industrialisierung sich entscheidend durchsetzten. Obgleich die Bauern mit der größeren Kommerzialisierung und dem daraus folgenden Wohlstand sicherlich bürgerliche Normen und Organisationsformen ü b e r n a h m e n - der Verein ist ja an sich eine bürgerliche Innovation -, ist "Verbürgerlichung" keine ganz befriedigende Interpretation ihrer politischen und sozialen Praxis. Weit eher sollte davon die R e d e sein, daß die Bauern sich die Vereinsidee aneigneten und sie in ein klassenpolitisches Instrument verwandelten,

239

wodurch sie gleichzeitig ihre Forderungen nach bürgerlicher Gleichheit gegenüber der städtischen Elite durchsetzen und ihre Position innerhalb des neuen ländlichen Stratifikationssysteras nach unten abgrenzen konnten 1 3 . In Wirklichkeit können die fundamentalen Züge dieser "Verbürgerlichung" kaum als ein entscheidender Gegensatz zu den traditionellen Normen und Verhaltensweisen im Dorfe betrachtet werden. Das Mißtrauen und Minderwertigkeitsgefühl der Bauern gegenüber der städtischen Bevölkerung wird immer wieder in den topographischen Schilderungen des 18. Jh. vermerkt, und die Dorfgemeinschaft blieb essentiell eine Gemeinschaft von Mittel-Bauern, die die landarmen/landlosen Schichten marginalisierte. In der politischen Bauernbewegung kann man aber mindestens zwei Tendenzen aufzeigen, die eine Allianz mit anderen Klassen möglich machten: Die eine war ein ausgesprochener "Antifeudalismus", besonders gegen die alte großgrundbesitzerliche Herrschaftselite gerichtet. In dieser Tendenz lag ein Potential für politische Zusammenarbeit mit dem Bürgertum, das schließlich zu der bürgerlichen Verfassung des Jahres 1849 führte. Im Unterschied zu Deutschland war in Dänemark also keine Basis für eine Junkerhegemonie vorhanden. Die andere Tendenz war radikal demokratisch. Hier lag ein Potential für ein Bündnis mit der Arbeiterklasse und für einen Konflikt mit dem Bürgertum. Die Wege des Bürgertums und der Bauern trennten sich nach 1848 in der Frage der konservativen Garantien, wobei Tendenzen zur Zusammenarbeit mit der frühen städtischen Arbeiterklasse in zwar wenigen, aber wesentlichen Bereichen zu spüren war 1 4 . Die zunehmende Industrialisierung und Urbanisierung um 1870-1890 trugen indessen zum Entstehen neuer Konfliktlinien zwischen Lohnarbeit und Kapital und zur Etablierung einer sozialistischen Arbeiterbewegung bei. Da diese Entwicklung aber hauptsächlich eine städtische Erscheinung war, konnten die Bauern ohne besonderes Risiko eine demokratische Allianz mit der Arbeiterbewegung schließen gegen eine nichtparlamentarische Regierung, die ihre Basis in einer Koalition zwischen Großbürgertum, Gutsbesitzern und Teilen des städtischen Kleinbürgertums in der Partei "Hojre" (Konservative) hatte. Es ist kaum zu bezweifeln, daß auf diese Weise die demokratischen Massenbewegungen der Bauern eine entscheidende Bedeutung für die verhältnismäßig friedliche Integration der Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung in die bürgerliche Demokratie von Dänemark besaßen 1 5 . Erst nach dem Rücktritt der Regierung und dem Durchbruch des Parlamentarismus 1901 zerbrach diese Allianz. Gleichzeitig trat eine Spaltung der Partei "Venstre" ein, indem Häusler und Landarbeiter sich teils der neuen Kleinbauernpartei ("Radikale Venstre"), teils der Sozialdemokratie anschlössen. Das Parteiensystem war von jetzt an bis zur Nachkriegszeit von der Zusammenarbeit zwi-

240

sehen diesen beiden Parteien und von der Annäherung zwischen "Venstre" und der erneuerten "Höjre", "Det konservative Folkeparti" (Die konservative Volkspartei) bestimmt. Mit dieser Struktur kann man wohl die Verbürgerlichung im politischen Sinne als vollzogen betrachten, indem das Parteiensystem die fundamentalen Konflikte in der bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft widerspiegelte. Die Bauern aber waren imstande gewesen, dem politischen System und dem Demokratisierungsprozeß ihren Stempel aufzudrücken. An und für sich ist es verwunderlich, daß sich die latenten Gegensätze zwischen den besitzenden und den besitzlosen Schichten der ländlichen Gesellschaft politisch erst relativ spät geltend machten. Eine wesentliche Erklärung muß man in der heterogenen Zusammensetzung und materiellen Verarmung des Landproletariats suchen, aber diese Feststellung schließt nicht aus, daß sowohl das Bürgertum als auch die Großgrundbesitzer auf Allianzen mit den Mittelbauern gegen die potentielle Bedrohung von Seiten des Landproletariats spekulierten. Wenn die dänischen Bauern dennoch an einer demokratischen Linie festhielten und der politischen Umklammerung durch andere Klassen entgingen, muß die Erklärung vor allem in ihrer soliden Tradition für politische, kulturelle und ökonomische Selbstverwaltung gesucht werden, die sie im Laufe des 18. Jh. selbst begründeten. Sie hatte ihre materiellen Voraussetzungen in den Agrarreformen des 18. Jh. und ihre geistigen Grundlagen in den religiösen Erweckungsbewegungen des 19. Jh. Beispiele hierfür sind die Vereine, die Volkshochschulen, die Sparkassen und nicht zuletzt die Genossenschaften als ein besonderer Weg der Bauern in den Kapitalismus. Diese von den Produzenten dirigierten Genossenschaften galten als bewußtes Gegenstück zu den Aktiengesellschaften und standen damit als markanter Ausdruck der Symbiose zwischen agrarischen Klasseninteressen und demokratischen Selbstverwaltungsprinzipien in der bäuerlichen Organisationstradition. Die sog. folkelige bevogelser (Volksbewegungen "von unten") wurden die Integrationsformen der Bauern während des Übergangsprozesses zur entwickelten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, und sie verhinderten oder verzögerten eine bürgerliche Integration "von oben"16.

241

Anmerkungen 1

Zit. nach: Jensen, H., De danske Staederforsamlingers Historie 1830-1848, Bd. 2, Kopenhagen 1934, S. 522 f.; vgl. dazu Clemmensen, N., Associationer og foreningsdannelse i Danmark 1780-1880. Periodisering og forskningsoversigt (Summary: Associations and the formation of associations in Denmark 17801880. Periodization and survey of research), Övre Ervik 1987; vgl. ders., The Development and Structure of Associations in Denmark c. 175o-188o, in: Scandinavian Journal of History, Jg. 1988, S. 355-370.

2 3

Jensen, H., De danske Stasnderforsamlingers Historie, S. 525 f. Generell dazu: Feldbaek, O., Tiden 1730-1814 (Gyldendals Danmarkshistorie, Bd. 4), Kopenhagen 1982; vgl. auch Christensen, J., Rural Denmark 17501980, Kopenhagen 1983; Wählin, V., Zur Entwicklung der dänischen Gesellschaftsstruktur auf dem Wege vom Feudalismus zum Monopolkapitalismus unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zwischen den Klassen u. des Verhältnisses zwischen Stadt und Land, in: Jb. f. Wirtschaftsgeschichte 1982/IV, S. 67-88.

4

Eine Übersicht über die feudalen Bauernproteste im Dänemark des 18. Jh. findet sich bei Björn, C., Bonde Herremand Konge. Bonden i 1700-tallets Danmark, Kopenhagen 1981. 5 Generell dazu: Feldbaek, O., Tiden 1730-1814, S. 146 ff. Vgl. den Forschungsüberlick bei Kjargaard, Th., The Farmer Interpretation of Danish History, in: Scandinavian Journal of History, Jg. 1985, S. 97-118. 6 Zur anbrechenden bürgerlichen Öffentlichkeit in Dänemark: Wählin, V., The Growth of Bourgeois and Popular Movements in Denmark c. 1830-1870, in: Scandinavian Journal of History, Jg. 1980, S. 151-183; ders., Opposition og statsmagt, in: Mikkelsen, Flemming (Hrsg.), Protest og oprör. Kollektive aktioner i Danmark 1700-1985, Arhus 1986, S. 105-130; Bagge, P., Akademikerne i dansk politik i det 19. ärh., in: Historisk Tidsskrift (Dänemark), Reihe 12, Bd. 4, 1969/70, S. 423-474. Zum Mittelstand zählten die Liberalen der 1840er Jahre vor allem die Beamten, die Wohlsituierten der städtischen Berufe und die nicht-adeligen Großgrundbesitzer, aber noch nicht die Bauern. 7

Zu den sozialen und politischen Verhältnissen der Häusler: Simonsen, A., Husmandskär og husmandspolitik i 1840erne (Lolland-Falster), Kopenhagen 1977; Boel, J., Husmaend og landarbejdere i Danmark ca. 1848-1875 (Holbaek og Vejle amter), Odense 1985.

8

Björn, C., Frygten fra 1848. Bonde- og husmandsuroen pä Sjaelland i foräret 1848, Odense 1985. 9 Zur Lokaladministration in Dänemark vgl. Jörgensen, H., Lokaladministrationen i Danmark. Oprindelse og historisk udvikling indtil 1970, Kopenhagen 1985; s. auch Torkel Janssons Beitrag in diesem Band. 10 Zu den politischen Organisationen der Bauern (mit Forschungsüberblick): Clemmensen, N., Associationer og foreningsdannelse i Danmark 1780-1880, S. 41 ff., 50 ff., 79 ff.; ders., The Development and Structure of Associations in Denmark, Anm. 13; und Wählin, V., The Growth of Bourgeois and Popular Movements. Das erneuerte Studium der politischen Organisationen des 19. Jh. korrigierte die ältere Auffassung, daß parteipolitische Organisationen erst mit den klassischen parlamentarischen Parteien "Venstre" (die Linke) und "Höjre" (die Konservativen) etwa 1870-1880 entstanden seien. 11 Zur "Gesellschaft der Bauernfreunde" vgl. Lych-Larsen, H.J., Bondevennernes Selskab og dets virke uden for de valgte forsamlinger i perioden 1846-1849 (unpubl. MA-Thesis, Arhus Universität 1972).

242

12 Sass Bäk, J., Nationalliberale partipolitiske organisationer. Martsforeningen og Den danske Folkeforenings opbygning og virke 1864-1866, in: Historisk Tidsskrift (Dänemark), Jg. 1975, S. 273-320. 13 Vgl. Christiansen, P.O., Peasant Adaptation to Bourgeois Culture? Class Formation and Cultural Redefinition in the Danish Countryside, in: Ethnologia Scandinavia, Jg. 1978, S. 98-152. 14 Vgl. Christiansen, N.F., Arbejderbevasgelsens forhistorie. Trask af den tidlige danske arbejderbevaegelses politiske og sociale udvikling 1848 til 1880, Kopenhagen 1986, S. 34 ff. 15 Vgl. ders., Farmers and Workers. The Role of the Labour Movement in the Process of Démocratisation in Denmark 1848-1901, in: Strâth, B. (Hrsg.), Démocratisation in Scandinavia in Comparison, S. 12-20 (Report from the DISCO Conference of Continuity and Discontinuity in the Scandinavian Démocratisation Process in Kungälv 27-28 Augusti 1987). 16 Zur Entwicklung des Begriffs der Volksbewegungen mit Forschungsüberblick: Clemmensen, N., Associationer og foreningsdannelse i Danmark 1780-1880, S. 57 ff., 96 ff.; ders., Development and Structure of Association, S. 364 ff.

Torkel Jansson

Die Verbürgerlichung des Landgemeindewesens. Ein Umriß am Beispiel der balto-skandinavischen Länder im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus Hintergrund und

Ausgangspunkte

Bekanntlich veränderten sich nach den napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongreß sowohl die materiellen als auch die ideologischen Bedingungen Europas stark. In einer Zeit vorher ungeahnten Bevölkerungswachstums und großer sozialökonomischer Schwierigkeiten mußten die Behörden neue Lösungen für die Reproduktion der Gesellschaft suchen. Wo die autoritären Regimes nicht unverzüglich

fielen,

wurden

die

Staatsverfassungen

nichtsdestoweniger

reformiert.

"Nachtwächter-" oder bürgerliche "Rechtsstaaten" emanzipierten sich schneller oder langsamer von bisherigen Verpflichtungen, und in diesem Prozeß allgemeiner "Dissoziation" fielen notwendigerweise alte und neue Aufgaben der auch allmählich verbürgerlichten Gesellschaft zu 1 . Darin liegt die Problemstellung dieses Beitrags. Was ist in der Entwicklung eines Landgemeindewesens ähnlich, und was ist darin unterschiedlich gewesen? In kurzer Zeit wurden im Baltikum (d.h. den damals russischen Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland), in den meisten Teilen der so vielfacettierten dänischen Monarchie, im freien Norwegen der Nachkriegszeit und in den 1809 voneinander getrennten Ländern Schweden und Finnland offizielle, sich über das ganze Land erstreckende und einheitliche Gemeindeordnungen für das "platte Land" eingeführt 2 . Das ist im internationalen Vergleich bemerkenswert. Stammten die ziemlich gleichartigen Neuordnungen aus derselben Wurzel? Entwickelten sie sich geographisch und sozial, in den Prinzipien der Einflußnahme und

organisatorisch

in identischer

Weise?

Was

ist unter

dem

Ausdruck

"Selbstverwaltung" zu verstehen - nur das Recht, an von oben vorgegebenen Administrationsangelegenheiten teilzunehmen, oder auch gewisse Möglichkeiten, ohne obrigkeitliche Einmischung, d.h. in einem self-govemment,

selbständige

Initiativen zu ergreifen und Beschlüsse zu fassen? Könnte man weiter annehmen, daß die Entstehung dieser Organisationsformen mit dem agrargesellschaftlichen Wandel verbunden war, daß ihre Entwicklung einen Teil des Übergangsprozesses von feudalen zu kapitalistischen Verhältnissen bildete? Darin liegt schließlich auch das Problem der "Verbürgerlichung". Manchmal beschreibt dieser Begriff den Übergang von feudalen "Untertanen" zu kapitalistischen "Bürgern", manchmal stellt man damit eine "Verweltlichung" ins Zentrum, manchmal denkt man eher an einen städtischen Einfluß auf die ländliche Bevölkerung. Gab es auch Spuren einer Gegenreaktion, eine "Verbäuerlichung" der Gesellschaft und ihrer Institutionen? 245

Diese Fragen sind dem Historischen Materialismus verpflichtet. Finden sich empirische Belege, die für eine Verbindung zwischen den Änderungen der materiellen Basis und der Entstehung einer immateriellen Konstruktion, hier also des Landgemeindewesens, sprechen? Ist es also in einer mehr sozialhistorischen als (skandinavisch) traditionell rechtshistorischen Studie möglich, die Gemeindegesetze als Teil eines auch stets veränderlichen "Überbaus" zu verstehen? Hier werden eine Reihe von Ländern und Institutionen miteinander verglichen. Als Marc Bloch 1928 über die "vergleichende Methode" schrieb, stellte er fest, daß ihr Zweck nicht sei, "neue Realitäten" oder "neue Fakten" hervorzubringen; sie sollte im Gegenteil auf "neue Erkenntnis", auf "neues Wissen" zielen. Man könne schon bekannten Verhältnissen neue Erkenntnis abgewinnen, wenn nur ein und dieselbe Frage in einer bestimmten Konzeption zu demselben Problem gestellt werde. Dieses theoretische Vorgehen wird hier einem unproblematisierten Faktensammeln vorgezogen. Die verschiedenen Gemeindeordnungen, die isoliert betrachtet als nationale "Selbstverständlichkeiten" aufgefaßt werden können, werden also als nationale Eigentümlichkeiten eines im Grunde gesamten, aber variierten übernationalen Prozesses verstanden. Es ist klar, daß sich die hier behandelten Länder nach dem Ersten Weltkrieg verhältnismäßig ähnlich waren. Der Kapitalismus hatte sich unbestreitbar als Wirtschaftssystem etabliert, die Klassenstruktur hatte sich entwickelt, und neue Formen politischer Organisation, die den geänderten sozio-ökonomischen Umständen angepaßt waren, sind daraus hervorgewachsen. Diese zunehmende Übereinstimmung spiegelt sich auch in den Gemeindeangelegenheiten wider. Überall findet man während des so gleichartig "organisierten Kapitalismus" repräsentative, demokratische Systeme, d.h. Ordnungen, die denen auf den regionalen und staatlichen Ebenen sehr ähnlich sind. Hundert Jahre früher war die Lage völlig anders. Was sie damals im Agrarsektor vereinigte, war eigentlich nur die Existenz der, wenn auch in unterschiedlichem Grad und wechselnden Formen, sich auflösenden feudalen Produktionsverhältnisse. Der "organisierte Feudalismus" war vielfacettierter als sein Nachfolger. Das Bauernlegen wurde aber fast überall praktiziert, und gleichzeitig nahm der alte Bauernschutz ab. An die Stelle feudalen Kollektivismus (mit allen Vor- und Nachteilen sowohl für Herren als auch für Bauern) trat der kapitalistische Individualismus (mit vergleichbaren Komplikationen). U m 1800 hatte sich die lokale Selbstverwaltung in den besonders scharf ausgeprägten feudalen Gebieten zu einer der vielen öffentlich-rechtlichen Funktionen der Gutsherrschaften entwickelt; so z.B. in Preußen, im Baltikum und in einigen Teilen Schleswig-Holsteins. U m die internationale Forschungsterminologie aufzunehmen und weiterzuentwickeln, kann man von einem local manorial

govemment

sprechen, das wenige oder gar keine Züge von self-government enthielt. Wo dage-

246

gen die Bauern nicht unfrei waren, aber eine autoritäre Staatsmacht errichtet worden war (wie z.B. in Norwegen und Island), hatte sich die lokale Administration zu einer staatlichen Amtsverwaltung, zu einem local State oder local govemment

non-representative

herausgebildet. Das dänische Königreich könnte als ein Mittelding be-

trachtet werden, in d e m beide Systeme gleichzeitig und nebeneinander wirkten. In den konstitutionellen Ländern dagegen (wie Schweden und Finnland) war der Volkseinfluß nie unterdrückt worden. Hier findet m a n ein seit Jahrhunderten organisch hervorgewachsenes local direct self-government,

auch wenn in gewissen

Bezirken die größte Macht in den H ä n d e n der Landjunker liegen konnte, d.h. bei einer Gesellschaftsgruppe, der offiziell ein großer Einfluß zuerkannt war, die aber keine öffentlich-rechtlichen Befugnisse besaß. Im Untersuchungsgebiet zeichnen sich also zwei grobe Grenzen von größter Bedeutung ab. Eine Linie, die ein konstitutionelles System von einer selbstherrschaftlichen Ordnung trennt, und eine andere, die eine grundherrschaftliche Agrarstruktur von einem Gutsherrschaftssystem abgrenzt. W o sich die beiden Linien kreuzen, d.h. in den Ländern, in denen gutsherrschaftliche Verhältnisse zwar vorhanden, die Gutsbesitzer aber "nur" ökonomisch mächtig waren, dürfte es besonders interessant und fruchtbar sein, die Konstruktionen und Funktionen des Gemeindewesens zu analysieren. Die Idee der G e m e i n d e des frühen 19. Jh. gehört zum Ideenkreis des Liberalismus. Können aber alle Gemeindeeinrichtungen als Zweige des Freiheitsbaums bezeichnet werden? Zwar betrachteten viele politische Philosophen die durch das Volk getragene Selbstverwaltung als ein Ziel an sich, aber die G e m e i n d e konnte auch als bloßes Mittel aufgefaßt und verfochten werden. D a r a n m u ß m a n sich erinnern, wenn m a n nach einer nuancierten Interpretation strebt. Die zentralisierungsbewußte dänische Staatsmacht instrumentalisierte z.B. die Gemeindeorganisation, als sie kurz nach den Agrarreformen von 1788 eine Entfeudalisierung in G a n g setzte, u m den Gütern die mittelbare Lokalverwaltung zu entziehen. Etwas Ähnliches ist später im Baltikum zu beobachten, als die Ambitionen der Z a r e n stärker wurden, ein unmittelbares Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft herzustellen. Als praktisches Mittel muß man auch die öffentlich-rechtlichen Gemeindeinstitutionen neben die privatrechtlichen Alternativen stellen, die zusammen mit der Staatsmacht ein wichtiges Dreieck bilden. U m 1800, als feudales, kollektivistisches und korporatives D e n k e n und entsprechende Funktionen noch lebendig waren, wurden die heute ziemlich klaren Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Recht nicht so scharf aufgefaßt. A u ß e r d e m waren diese organisatorischen Neuerungen unzünftigen Charakters, und sie hatten fast alle ausländische Vorbilder. D a h e r waren sie sich auch in den meisten Fällen ziemlich ähnlich.

247

Das Problem der kapitalistischen nation building des vorigen Jh. hängt mit diesem "Dreieck" zusammen. Zurückweichender, feudaler Partikularismus und damit geschwächte soziale Isolation sind in einer Analyse überall wahrnehmbar. Daher stellt sich die Frage, wie sich die einheitlichen Gemeindeorgane in dem neuen, vereinheitlichenden kapitalistischen Gesellschaftsprogramm widerspiegeln. In den liberalsten Ländern entstand schnell eine wichtige Diskussion, ob alle Probleme notwendigerweise im Rahmen der Gemeinde ihre Lösung finden müßten, oder ob auch der freiwillige, individualistische Verein, die "Assoziation", benutzt werden könnte. Überall wurden die "Menschenmassen", die alten Untertanen, "zu Atomen zermahlen", und da, wo die Spannung zwischen Staat und Gesellschaft gering war, ist es auffallend, in welchem Umfang das Vereinswesen sich entwickelte, um für die erwachenden und sich formierenden Staatsbürger (les citoyens) neue menschliche und "nationale" Zusammengehörigkeitsformen auszuarbeiten. Entsprechend sind hier die Gemeindeordnungen in ihrer Bedeutung zurückgetreten.

Neue Gesellschaften - neue

Gemeindeorgane

Die ersten Landgemeindeordnungen des 19. Jh. sind im Baltikum zu entdecken 3 . Kurz nach dem Regentenwechsel von 1801 wurde in Estland, Livland und Kurland die bisher totale Leibeigenschaft in sog. Hörigkeit umgewandelt. Die Reformen können als eine Mischung aus liberalen, aufklärerischen Ideen und dem verschlechterten Zustand der Wirtschaft bezeichnet werden. Das feudale Produktionssystem lohnte

sich nicht

mehr. An

die

Stelle des

alten,

kollektiven

"Bauernschutzes" traten die Ideen des Individualismus, der freiwilligen "Verträge" und persönlichen "Kontrakte". Als die bäuerliche Bevölkerung, das sog. Landvolk, nicht mehr die Stellung von Mobilien oder beweglicher Habe der Gutsbesitzer innehatte, sondern zum Teil Rechtssubjekt geworden war, mußte man "Guts-" oder "Gebietsgerichte" einführen, um eine Anarchie zu vermeiden. Die endgültige Aufhebung aller Formen von Unfreiheit erfolgte im Baltikum zwischen 1816 und 1819, als die sog. erste Phase der Bauernbefreiung eingeleitet wurde. Alexander I. hatte die bekannte "baltische Sonderstellung" weiterentwickelt und sein berühmtes "Fenster zu Europa" geöffnet (die wirtschaftlichen Argumente der immer mehr agrarkapitalistischen Charakter annehmenenden Gutsbesitzer waren dabei auch wichtig). "Bauerngemeinden" wurden eingerichtet, d.h. Institutionen, die wegen des Bauernlegens und der Transformation von "Bauernland" in "Hofland" eine sehr enge ökonomische Basis erhielten. Geographisch ruhten die neuen Gemeinden auf der alten öffentlich-rechtlichen Struktur, d.h. den Gütern. Das Kirchspiel hatte eigentlich nur während der Schwedenzeit eine gewisse Rolle als Verwaltungsgebiet ge-

248

spielt und wurde jetzt vor allem als Bezirk für die Kirchspielgerichte und die Volksschule beibehalten. Die Organe wurden von zwei getrennten "Klassen" gewählt - teils von den Ansässigen (Wirten und Pächtern), teils von den männlichen Dienstboten, die einen geringeren Einfluß besaßen. An der Spitze aller Einrichtungen findet man den "Gemeindeältesten", dessen Wahl von den Gutsherren bestätigt werden mußte. Die einkommensarmen Gemeinden waren für die gemeinsamen Kosten verantwortlich, und diese "Selbstverwaltung", dieses local representative government,

das

die Baltendeutschen natürlich nicht umfaßte, stand unter der direkten Aufsicht der Gutsherren. Die erste Phase der baltischen Gemeindegeschichte bildet ein getreues Spiegelbild der geänderten Agrarverhältnisse. Die Bauernschaft hatte materielle Vorteile verloren. Die sehr umfangreichen Gemeindeverordnungen regulierten jede erdenkliche Gesellschaftsfunktion, und die Gründung irgendwelcher Assoziationen volksverbundener Art war gesetzlich strengstens verboten. Es handelte sich um

eine

fortgesetzte, totale

Segregation

von

den

oberen

Schichten

der

Gesellschaft. Liberale Kräfte, die nicht nur die Interessen der Agrarkapitalisten vertraten, haben jedoch in den 1840er Jahren versucht, die Bauerngesetzgebung in das damals systematisierte und kodifizierte baltendeutsche "Provinzialrecht" einzufügen. So eine Maßnahme hätte wahrscheinlich auch die nationale Integration befördern können, aber solche Ideen stießen auf zu starken Widerstand. Die Gemeindeverordnungen des liberalen Alexander II. von 1866 müssen u.a. vor dem Hintergrund bäuerlicher Proteste gegen die verarmende gutsherrschaftliche Bodenpolitik und die kurzfristigen Pachtverträge verstanden werden. Der Einfluß der Güter wurde nun beträchtlich reduziert, so daß die "grauen Barone", d.h. die angesessenen Bauern, unter Aufsicht der Kirchspielgerichte Herren im Haus wurden. Die sich weiter differenzierende Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur hat klare Spuren hinterlassen. Anstatt der beiden alten "Klassen" von Mitgliedern der Gemeinden wurde jetzt ein feinmaschigeres, aber nicht demokratischeres System von fünf voneinander getrennten Kategorien eingeführt. Trotz allem muß man jedoch daran erinnern, daß bis 1866 nur in Nordlivland (oder Südestland) etwa 25 000 ehemalige leibeigene Bauern als gewählte "Gemeinderichter" oder "-beisitzer" tätig waren 4 . Man könnte also von einer spezifisch baltischen "Verbürgerlichung des Dorfes" sprechen. Die Zentralisierungsbestrebungen der Staatsmacht wurden allmählich stärker, und

diesen

Ehrgeiz

zur

"nationalkapitalistischen"

Integration,

landläufig

"Russifizierung" genannt oder als solche verrufen, bemerkt man auch im Verhältnis der Zentralmacht zu den Gemeinden. Die Neuordnungen von 1889 hoben das mittelbare Verwaltungssystem definitiv auf. Den neuen staatlichen "Bauernkommissaren" wurde nun die Aufsicht über die Landgemeinden

249

anvertraut.

Gleichzeitig wurden die Städte von feudalen, korporativen "Bürgergemeinden" in kapitalistische, auf Individuen erbaute "Einwohnergemeinden"

umgewandelt.

Dennoch eroberten die Esten und Letten erst nach der Jahrhundertwende die politische Macht in gewissen Städten (gleichzeitig erlangten diese Gruppen eine Vertretung in der Reichsduma). Mit der Errichtung der baltischen Republiken wurde endlich das Gemeindewesen völlig demokratisiert, völlig "verbürgerlicht". An diesem Prozeß hatten auch seit mehreren Jahrzehnten verschiedene freiwillige Vereine teil, auf die hier leider nicht näher eingegangen werden kann. In diesem so auffallenden Wandel mußten zum Teil auch Begriffe verändert werden. Anstatt des alten ralivas (Landvolk) konstruierten und gebrauchten die verbürgerlichten Schichten das Wort rahvus (Nation), und der alte alam (Untertan) wich dem ganz neuen kodanik (Bürger) 5 . Die wirtschaftliche Lage im dänischen Königreich war seit den Agrarreformen des 18. Jh. den oben behandelten Verhältnissen teilweise ähnlich, auch wenn Privatgüter nicht so vorherrschend waren. Die lokale Selbstverwaltung war aber verlorengegangen. Wo sie nicht zu einer Funktion der Gutsherrschaft geworden war, wurde sie in königlichen Ämtern und "Landschaften" von Staatsbeamten ausgeübt. Hier findet man also sowohl ein local manorial als auch ein local State govemment, beide ein local non-representative govemment

die

repräsentieren.

Die staatlichen Zentralisierungsversuche sind bereits erwähnt worden. Beispiele sind die allgemeinen Armen- und Volksschulverordnungen von 1803 bzw. 1814, die sich auf obrigkeitlichen "Kommissionen" mit Bauern als Gehilfen gründeten. Die

Bauern

stiegen jetzt

als eine wachsende

Gruppe

Angesessener

(gärdmoenä') auf. Nach der Julirevolution 1830 sah sich die Selbstherrschaft gezwungen, ratgebende Ständeversammlungen einzurichten. Die ersten Organe dieser Art, die aus Furcht vor bürgerlich-liberaler Nationalitätenpolitik für Schleswig, Holstein, die "Inseln" und Jütland separat eingerichtet wurden, traten 1835 zusammen. Den Angesessenen verschiedener Klassen war also ein gewisser Einfluß auf die Staatsangelegenheiten eingeräumt worden. Dabei stellte sich von selbst die Frage, wie man vor allem das Gewicht der Grundbesitzer in einer nun verbürgerlichten Lokalverwaltung sichern sollte. Die ewige Frage der Relationen zwischen Staat und Gesellschaft konnte für die Städte schnell gelöst werden, wo 1837 das alte "Staatselement", d.h. der Magistrat, ganz einfach mit dem "Volkselement", d.h. den neuen Bürgerrepräsentationen, ergänzt wurde (schon früher hatte sich ein System der "elegierten Männer" für Sonderzwecke entwickelt). Auf dem Lande war es schwieriger, eine "natürliche Balance" zu finden. 1841 wurde aber beschlossen, den ökonomisch Stärksten, d.h. den Großgrundbesitzern und einigen Staatsbeamten, die entscheidende Stimme und unbegrenzten Zutritt

250

zur Gemeindeverwaltung zu geben. Diese Ordnung, die also auch zur Auflösung der Selbstherrschaft gehörte, muß trotz der Volksrepräsentation als eine Plutokratisierung bezeichnet werden. Ein local representative govemment war aber geschaffen, und die Säkularisierung führte immerhin so weit, daß der Pfarrer als selbstverständlicher Vorsitzender ausgeschlossen war. Man schuf sogneforstanderskaber,

d.h.

"Gemeindevorsteherschaften", wobei in diesen mitgliederschwachen Organen den Vorsitzenden eine zentrale Rolle zugeteilt wurde. Im Säkularisierungsprozeß hat man also den alten Staats- oder Gutsbeamten verbürgerlicht. Doch wurde diese Verordnung schon beim Erlaß sowohl von Konservativen als auch von Liberalen kritisiert. Nach dem Fall des autoritären Systems (1849) und der Errichtung eines für jene Zeit sehr demokratischen Reichstags wurden notwendigerweise auch die Gemeindeverfassungen revidiert (1855). Wie im Baltikum merkt man den Zerfall des Feudalstaates und den Aufstieg des Agrarkapitalismus. Die selbstverständliche Zuständigkeit des Pfarrers wurde auf Schul- und Armenfragen beschränkt (diese Kompetenzen wurden ihm erst 1867 genommen), und das Stimmrecht der übrigen Staatsbeamten fiel fort (ihren nun machtlosen Sitz verloren sie 12 Jahre später). Die Reste des feudalen Privilegiensystems wurden durch Vorrechte der ökonomisch

Mächtigen

ersetzt.

Das

zeigt

sich

am

klarsten

darin,

daß

die

"Gemeindevorsteherschaft" in zwei Klassen von Mitgliedern geteilt wurde, wobei die größte Gruppe von dem höchst veranlagten Fünftel der Gemeindeeinwohner gewählt werden sollte. In gewissem Sinne kann man also von einer Verbürgerlichung auf Kosten des Traditionalismus sprechen. Unter dem Gesichtspunkt einer demokratischen Partizipation jedoch war die Gemeindeverwaltung eingeschränkt worden. In kleineren Orten konnte diese "Einkammeradministration" aus nur fünf Personen bestehen. Doch erfüllte sich 1867 der Wunsch der Radikalen der 30er Jahre, als die von ihnen nie geliebte Bezeichnung "Gemeindevorsteherschaft" dem gleichberechtigteren Namen "Gemeinderat" (sogneräd) Platz machte. Obwohl es keine generalisierenden Studien über die soziale Zusammensetzung der etwa 1 000 Gemeinderäte gibt, läßt schon die Entwicklung der Gesetzgebung erkennen, daß es sich um eine fortgesetzte Verbürgerlichung handelte. (Eine solche zeigt auch das Vereinsleben, das sich hier freier als im Baltikum entwickeln konnte. Im dänischen Fall läßt sich aber fragen, ob nicht die in der Bauernschaft stark verankerten Assoziationen zu einer "Verbäuerlichung" des Landes und Volkes beigetragen haben.) Die Korporationsordnung verschwand auch in der Stadtverwaltung, da die bisherige Trennung der Administration in Magistrat und Bürgerrepräsentation aufgehoben wurde, wobei ein "Stadtrat" (byräd) nur aus Gewählten eingeführt werden konnte (bis nach dem Ersten Weltkrieg wurde aber der Bürgermeister, das "selbstherrschaftliche Relikt", vom Staat ernannt).

251

U m die Jahrhundertwende hatten sowohl das ländliche als auch das städtische Kleinbürgertum einen Machtzuwachs erfahren, was zu Parlamentarismus und Gemeindedemokratie führte (1901 bzw. 1908). Jetzt besaßen also dieselben liberalen Gruppen sowohl örtlich als auch zentral einen politischen Einfluß, und daher konnte wieder in positiven Begriffen diskutiert werden, wie sich die Relationen zwischen diesen beiden Ebenen der Verfassung gestalten sollten 6 . Alle bisher behandelten Konzeptionen und Institutionen der Gemeinde standen in Verbindung mit Selbstherrschaften verschiedener Art. Als die Frage in Norwegen aktuell wurde, war die Lage anders. Nach 1814 war das Land von der autoritären dänischen Monarchie gelöst worden und die Bürger erhielten eine der liberalsten Verfassungen Europas, die u.a. den seit uralten Zeiten angesessenen und nie leibeigenen, zahlreichen Bauern Zutritt zum Einkammerparlament gewährte. Die örtlichen Angelegenheiten hingegen wurden nicht gleichzeitig reguliert, so daß die staatliche Beamtenverwaltung sich fortsetzte. Der Staat war also zum Teil verbürgerlicht, die öffentlich-rechtliche Gesellschaft aber nicht - und als im Herbst desselben Jahres Norwegen und Schweden als verschiedene Staaten unter der bernadotteschen Dynastie vereinigt wurden, änderte sich daran nichts. Doch hatten sich schon früher halb-offizielle "Kirchspielgesellschaften" (sogneselskaper) herausgebildet, während sich gleichzeitig die königlichen "Kommissionen" für Armen- und Schulsachen für ihre Sonderzwecke spezialisiert und gewissermaßen zu Gemeindeembryos vergrößert hatten (die städtische Verwaltung hatte sich ähnlich wie in Dänemark entwickelt). Die ersten Jahrzehnte nach 1814 waren noch vom alten, obrigkeitlichen "Beamtenstaat" (embetsmannsstaten)

geprägt. Als die Bauern anfingen, diese Ord-

nung in Frage zu stellen, entwickelten sie auch ein gemeindepolitisches Programm mit fast souveränen "Bauernrepubliken". Schwerlich kann man sich eine durchtriebenere "Verbäuerlichung" der öffentlich-rechtlichen Gesellschaft denken. Es wurde die Aufgabe der liberalen Regierung in Christiania, eine für alle akzeptable Lösung

zu

finden.

(formannskaper)

Die

Gesetze

von

1837,

die

die

"Vorsteherschaften"

regulierten, können so betrachtet werden.

Parallel zu dem kleinen und gleichzeitig parlamentarischen und exekutiven Rat sollten die Wahlmänner (ca. 5-7% der Bevölkerung) dreimal so viele "Gemeinderepräsentanten" (representantskaper)wählen.

Diese erhielten aber keine

Stellung als übergeordnete Bevollmächtigte, sondern eine aus moderner Sicht eigentümliche Position als Nebenorgan mit gewissem Einfluß. Diese Ordnung stellte natürlich einen Kompromiß dar zwischen den weitgehenden bäuerlichen Ideen und den knappen Vorlagen der konservativen Regierungsdelegation in Stockholm. Ein local multiple-representative self-govemment war doch zustande gekommen (für Sonderzwecke konnten nämlich auch kleinere "Vorsteherschaften" eingerichtet

252

werden). Teilweise auf den selbstherrschaftlichen Rechtstraditionen aufbauend hat man im Verbürgerlichungsprozeß etwas ganz anderes als im formell noch autoritären

dänischen

Königreich

schaffen können.

Von

den

ersten

356

"Vorstehern" gehörten etwas mehr als 40% zum Bauernstand und fast ein Drittel zur Geistlichkeit; 25 Jahre später zählte man etwa 70% Bauern 7 . Es ist klar, daß die norwegischen Gesetzgeber u.a. deutsche Entwürfe als Vorbilder gebrauchten, was kaum erstaunt, obwohl oft behauptet worden ist, daß die Gemeindegesetze rein einheimischen Ursprungs seien. Wo die autoritären Systeme fielen, konnten nur teilweise eigene Strukturen weiterentwickelt werden; daher war es möglich, daß viele Ideen, die auf deutschem Boden nur zum Teil verwirklicht werden konnten, in Norwegen in ein nationales Gemeindewesen eingefügt wurden. Im Gegensatz z.B. zu Schleswig-Holstein gab es ja hier sowohl eine arbeitsfähige Regierung als auch einen großen, freien Bauernstand. Die 60er und 70er Jahre des vorigen Jh. waren auch in Norwegen eine "Zeit der Repolitisierung". Zusammen mit anderen bürgerlich-liberalen Kräften eroberten die Bauern zielbewußt auch die Staatsmacht, und eine neue "Einheitsdoktrin" konnte sich auf den Ruinen des alten, zersplitternden Dualismus und Antagonismus entwickeln. Der benthamsche, liberale "Rechtsstaat" mußte nach und nach der "Demokratie" Platz machen. 1869 errangen die "Gemeinderepräsentanten" die Kompetenz, den immer noch zentralen Vorsitzenden zu wählen, was um die Jahrhundertwende (1896) dazu führte, daß das größere, alte Nebenorgan dem kleineren Rat rechtlich vorgesetzt wurde (eine gewisse Parallele zum reichspolitischen Parlamentarismus von 1884). Hier muß auf alle Einzelheiten des so aktiven Vereinsleben verzichtet werden. Es sollte nur unterstrichen werden, daß die norwegische Gesellschaftsstruktur sehr "assoziativ" wurde. Die Ausgangslage in Schweden war ganz anders als in den bisher behandelten Ländern. Die Staatsmacht hatte nie, trotz Zentralisierungsbestrebungen zu verschiedenen Zeiten, die lokale Selbstverwaltung erstickt, die traditionsgemäß unter dem Vorsitz des im Normalfall vom Volk gewählten Pfarrers der Staatskirche stand. Die Bauerngutsbesitzer, auf eigenem oder staatlichem Grund ansässig (skattebzw. kronobönder),

besaßen zusammen mit den Standespersonen das Stimmrecht

bei der Pfarrerwahl. Beide waren auch - je nach Größe der Hufe - in den übrigen Gemeindeangelegenheiten die Machthaber, obwohl in verschiedenen Fällen und Gebieten auch andere Gruppen (z.B. Wirte und Pächter der Adelsgüter, Kätner und

Häusler)

versammlungen"

faktisch

Zugang

zu

den

Verhandlungen

(sockenstämmor) hatten. Diese

der

"Kirchspiel-

für die

Stimmberechtigten

offenen Versammlungen stellten ein local direct self-govemment

dar (erst nach dem

253

Zweiten Weltkrieg ist diese mittelalterliche Kirchspielstruktur, die mehr als 2 500 Versammlungen umfaßte, untergegangen). Die Wirkungen der schon hervorgehobenen agrarstrukturellen Grenze, die das Land nord-südlich in zwei Hälften teilte, können am Prinzip der Hufe abgelesen werden. Entweder bestanden die Versammlungen nur aus einer Handvoll Standespersonen oder aus Hunderten, ja Tausenden von Bauern. Die Konstruktion des Systems und die Aufgaben der Versammlung trugen dazu bei, daß die Bevölkerung manchmal alle vierzehn Tage zu diesen sowohl beschlußfassenden als auch exekutiven Sitzungen zusammengerufen werden konnte; rationalistische, kritische Pfarrer sprachen daher von den "unförmlichen und überraschenden Kirchspielversammlungen". Es überrascht nicht, daß Ausländer wie z.B. der ehemalige schwedische Untertan Ernst Moritz Arndt oder Friedrich Wilhelm von Schubert diesen eigentümlichen Einrichtungen "praktischen Gottesdiensten", von denen sie Spuren sogar im russischen Ingermanland entdeckt hatten - große Aufmerksamkeit widmeten. Diese uralte Ordnung änderte sich nur äußerst langsam. Zuerst wurde das individualistische Prinzip der "Pluralität" oder Mehrheit anerkannt (1811), was in früheren, von kollektivistischem Denken geprägten Zeiten kein Leitstern hatte sein können. 1817 richtete man separate örtliche Räte für Kirchenfragen ein, die ein Jahrzehnt später auch für gewisse weltliche Fragen verantwortlich wurden. In knappen, von ökonomischer Sparsamkeit geprägten Paragraphen wurde das Stimmrecht eher eingeschränkt als erweitert, da der organisch gewachsene Zutritt allerlei anspruchsvoller Gruppen wenigstens gesetzlich verboten war. Die Staatsaufsicht wurde, recht speziell konstruiert (v.a. ruht sie immer noch auf dem uralten Beschwerderecht der Untertanen/Bürger). Zwar hatten die übergeordneten regionalen Behörden das Recht, die örtliche, mehr "eifrige als rechtliche Gesetzgebung" zu kontrollieren; da es aber keine allgemeine Vorstellungspflicht gab oder gibt, war und ist diese Möglichkeit stark begrenzt. Die 1843 eingeführten Kirchspielräte (sockennämnder) mit eigenen gewählten Vorsitzenden, die einige Jahre später wirklich obligatorisch wurden, stützten sich in der Debatte auf die norwegische Gesetzgebung, aber die lebendigsten Wurzeln waren selbstverständlich in den einheimischen, exekutivähnlichen Schöpfungen des Jahres 1817 zu suchen. Die fortgesetzte agrarwirtschaftliche Differenzierung ist auch in der Verordnung von 1843 spürbar. Man wich vom alten Prinzip der Hufe etwas ab und räumte auch steuerpflichtigen Erwerbstätigen auf dem Lande außerhalb des Ackerbaus einen gewissen Einfluß ein (wie den Vertragspächtern, sofern es die Gutsbesitzer genehmigten). In diesem Sinne könnte man von einer Verbürgerlichung des platten Landes sprechen. Sogar die Liberalsten verteidigten die alte Kirchspielversammlung, unter der Voraussetzung, daß sie mehreren Bürgerkategorien offenstand.

254

Die Reformen von 1862 brachten für die Städte große Neuerungen. Im gewerblichen Strukturwandel verdrängte das Prinzip des Individualismus die feudale Korporation. Seither ähnelte die Städteordnung den ländlichen Verhältnissen mehr als zuvor, so daß man mit Recht von einer spezifisch schwedischen "Verbäuerlichung der Städte" sprechen kann. In diesem Prozeß wurden auch die gewählten "Provinziallandtage" (landsting) errichtet, die ältere, regionale und korporative Versammlungen ablösten (sie können auch als Komplemente zu den alten, staatlichen "Provinzialregierungen", länsstyrelser, betrachtet werden). Außerdem wurde 1862 die alte Gesamtverwaltung durch die Trennung der weltlichen Landgemeinden (landskommuner) von den staatskirchlichen Gemeinden (statskyrkoförsamlingar) geteilt, wobei die Rolle des gewählten Pfarrers als selbstverständlichem Präsident der "Gemeindeversammlung" (kommunalstämma), wie das weltliche Beschlußorgan jetzt genannt wurde, verschwand. Sonst blieben die Veränderungen gering. Es bedeutete zunächst auch wenig, wenn man als Berechnungsgrund eine pekuniäre Einheit wählte, da die alte Hufe einfach mit 100 fyrkar (Stimmen) identisch wurde - die "Zeit des Geldes" war dennoch gekommen. Ein repräsentatives System wurde in Gemeinden mit mehr als 1 500 Einwohnern erst in Verbindung mit der nach dem Ersten Weltkrieg durchgeführten Demokratisierung üblich. Da die schwedischen Gemeinden so zahlreich waren, gibt es keine sich über das ganze Land erstreckende Untersuchung über die sozialen Folgen der Säkularisierung der Gemeindeverwaltung. Ich habe nur die Rats- und Versammlungsvorsitzenden in zwei Provinzen studieren können 8 . In den schon 1843 verweltlichten Gemeinderäten traten die Pfarrer fast unverzüglich zurück. In diesen Organen spiegelt sich um so deutlicher die zunehmende Differenzierung innerhalb der Bauernschaft wider. Es ist kaum erstaunlich, daß auf dem Lande die traditionellen Gruppen der Agrargesellschaft hervortraten - aber es muß hervorgehoben werden, daß es sehr lange dauerte, bis die ersten Arbeiter eine bedeutende Rolle in den 158 untersuchten Gemeinden spielen konnten oder durften. Erst 10 Jahre nach der Demokratisierung findet man in drei industrialisierten Landgemeinden, in denen wegen der großen Bevölkerungszahl Bevollmächtigte eingeführt worden waren, Repräsentanten der zahlreichen Arbeiterschaft. Immer noch dominierten allerdings die Gutsbesitzer, die Industriellen und v.a. die Bauern. Man könnte von einer Verbürgerlichung sprechen, die in diesem Fall eine auffallende Säkularisierung des Gemeindewesens bedeutete. Da die eben erwähnten Gruppen auch im Reichstag die stärksten geworden waren, konnte die Relation zwischen Staat und Gesellschaft gewissermaßen intimer werden. 1907/09 wurden Modifikationen eingeführt, insbesondere die Pluralstimmen eines einzelnen Stimmberechtigten auf 40 beschränkt. Zu dieser Zeit wirkten aber schon lange volksverbundene Organisationen allerlei Art, die in Schweden aus255

nahmslos politisch aktiv waren (die "Volksbewegungen", folkrörelser), als alternative Organe, fast als Parteisubstitute, um sowohl den Staat als auch die Gesellschaft und besonders das Gemeindewesen zu beeinflussen. Diese "plebejischen Öffentlichkeiten" ä la Habermas oder (und besser) die "neuen Fürsten" ä la Gramsci und ihre Vorgänger, die "Assoziationen", hatten dazu beigetragen, daß in Schweden die Gesellschaftsstruktur noch stärker als in Norwegen durch das Vereinswesen bestimmt war9. Mit der Trennung Finnlands von Schweden 1809 zerbrach eine sehr alte und festgefügte politische Verbindung. Die neue Stellung des östlichen Gebiets als ein autonomes russisches Großfürstentum hat die einheimischen Gesetze und den einheimischen Konstitutionalismus jedoch nicht geändert. Außerdem muß man daran denken, daß vor 1809 Gesetze und Institutionen für das ganze Reich einheitlich waren. Hier war also die Ausgangslage dieselbe wie in Schweden, obwohl das parlamentarische Leben zwischen 1809 und 1863, während der "Staatsnacht", verpuppt blieb. Die neue Regierungsmacht führte überhaupt nur wenige große Verwaltungsreformen durch; eher ergänzte sie, wie die Zentralbehörden in Schweden, ältere Verordnungen (z.B. 1826 und 1852). Die einheimischen Rechtstraditionen wurden in einer teilweise neuen Form weiterentwickelt. Im Ganzen muß festgestellt werden, daß die Verhältnisse auf beiden Seiten des Finnischen Meerbusens sehr unterschiedlich waren, wenn man von den wenigen Estlandschweden absieht. Dennoch merkt man einen gewissen russischen Einfluß. Im Krieg von 1808/09 hatte sich ein völlig fremdes Verwaltungssystem mit bäuerlichen Starosten, d.h. Ältesten, entwickelt, was einigen Mitgliedern des Bauernstandes interessant und ökonomisch billig schien. Solche bäuerlich-pragmatische Alternativen gerieten aber in Streit vor allem mit dem adligen Konstitutionalismus. Im alten Rahmenwerk durfte nichts geändert werden, was als eine ungebührliche Infiltration hätte erscheinen können, und Entwürfe dieser Art wurden schnell diskriminiert. 1865/66 wurden aber Gemeindeordnungen erlassen, die den ein paar Jahre älteren in Schweden ähnelten. Die alten, offenen Versammlungen galten als ein "kostbares Überbleibsel der eigenen uralten Gemeindeverfassung"; der wichtigste Unterschied zum traditionellen local direct self-government bestand darin, daß auch hier die Kirchen- und Gemeindeverwaltungen voneinander getrennt wurden. Deutlicher als in Schweden merkt man die Macht der Tradition, da die Geistlichkeit nicht so schnell ihre Stellung verlor 10 . Die Verbürgerlichung i. S. der Säkularisierung erfolgte langsamer. Die allen anderen Organen übergeordnete Versammlung, die man mit dem Argument behielt, daß sie keine kleine, ausländische "gewählte Delegation" war, die Konstruktion getrennter Vorsitzendenrollen, das Beschwerderecht und die Grundprinzipien der Einflußnahme erinnern direkt an das, was kurz vorher in Schweden entschieden worden war. 256

Der politische Meinungsaustausch war von der neuen Lage des Großfürstentums

bestimmt.

Im

südwestlichen

Teil,

im

großgrundherrschaftlichen

"Weizengebiet", verteidigte man mit allen Mitteln die alte Schichtung des Stimmrechts und den direkten Einfluß der- Stimmberechtigten. Die Vertreter der östlichen Gebiete dagegen, in denen die wirtschaftliche Struktur anders war und die jahrhundertealten Institutionen wegen der langen russischen Herrschaft nur zum Teil gewirkt hatten und daher keine "wertvolle Tradition" darstellten, haben eine ganz andere, mit dem "Wiburger Liberalismus" verbundene Haltung eingenommen 1 1 . Obwohl die Trennung von 1809 keinen konstitutionellen Bruch bedeutete, ist klar, daß die neue, von Rußland abhängige Staatsmacht gegenüber der Gesellschaft, der "freien Sphäre", eine andere Haltung als im westlichen Teil des alten Reiches einnahm. Im Großfürstentum findet man keineswegs die in den bernadotteschen Monarchien so stark hervortretende "assoziative" Struktur. Zwar waren auch hier die Liberalen Freunde freiwilliger Vereine. Unter der wachsenden Zahl der "Fennomanen", die einen selbständigen, bürgerlichen Staat in einer lebensfähigen Relation zu Rußland errichten und behalten wollten, kann man jedoch eine andere

Strategie

beobachten.

Diese

"Staatskünstler"

entwickelten

stärker

etatistische, hegelianische Konzepte, die den Institutionen der "öffentlichen Sphäre", v.a. den Gemeinden, eine größere Bedeutung zusichern sollten. Die Gesellschaft wurde also "kommunalistischer" als im westlichen "Klein-Schweden", obwohl die Staatsverfassungen der beiden neuen Länder sich sehr ähnlich blieben.

Die Verbürgerlichung des balto-skandinavischen

Gemeindewesens

- einige Grundzüge Das Landgemeindewesen in den balto-skandinavischen Ländern differenzierte sich entlang zweier fundamentaler Grenzlinien, der Verfassung und der Wirtschaftsstruktur. Von größter Bedeutung war die historisch scharfe Linie zwischen Selbstherrschaften und konstitutionellen Systemen. Man kann daher keinesfalls von einem allgemeinen Gemeindewesen sprechen. Der gemeinsame Nenner wäre allenfalls die überall zunehmende Einsicht, daß der sozial sich immer stärker differenzierenden Landbevölkerung eine gewisse und allmählich wachsende Verantwortung für örtliche Aufgaben gegeben werden müsse. Das Gemeindewesen konnte und mußte in diesem Sinne verbürgerlicht werden (wenn man es nicht "verbäuerlichte", wie in den schwedischen und finnischen Städten). Wichtiger waren die Unterschiede: Auf der autoritären Seite der Linie wurden Gemeindeordnungen eingeführt, auf der konstitutionellen wurden alte Normen und Formen nach und nach reformiert. In beiden Fällen betrachtete man die Idee der Gemeinde sowohl als bloßes Mittel als auch als ein Ziel an sich. Meistens war die

257

Verbürgerlichung mit einer Säkularisierung der Verwaltung identisch, daneben auch mit einer Entfeudalisierung wie im Baltikum und in einigen Teilen der dänischen Monarchie. Die Konzepte hatten also verschiedene ideologische und politische Zwecke. Ihre Verwirklichung stand außerdem in engster Verbindung mit den wirtschaftlichen Strukturen. Im bäuerlich homogenen Baltikum konnte ein allgemeines System ins Leben gerufen werden, aber nicht unter den "privilegierten" schwedischen Bauern. Auch anderswo, wo eine starke Zentralmacht über eine in sich ziemlich gleichartige ländliche Gesellschaft herrschte, war es möglich, allgemeine Gesetze durchzuführen. In Schleswig-Holstein aber, wo es weder eine ordentliche Staatsmacht noch eine einheitliche Gesellschaft gab, wo im 19. Jh. weder der Feudalismus noch der Kapitalismus eine strukturelle und ideologische Hegemonie besaß, in diesem "bunten Nebeneinander" war es unmöglich, solche zu verwirklichen. Das Landgemeindewesen spiegelt die Geschichte der Bauern und der sich ändernden Wirtschaftsstruktur wider. Es sollte den Inhabern des damals wichtigsten Produktionsmittels auch die entscheidende Stimme im ideologischen Überbau der ländlichen Gesellschaft gegeben werden. Das Bild wurde aber nach und nach feinkörniger. Die Differenzierung der Wirtschaftsstruktur, die fortgesetzte Verbürgerlichung, hat neue Gruppen und Schichten geschaffen, die Zutritt zu den gemeinsamen Angelegenheiten verlangten. Die Systeme der Gemeindeverfassung paßten sich der geänderten materiellen Wirklichkeit an. Aus verschiedenartigen local governments mit oder ohne Verankerung im Volk - ein Spiegel der höchst heterogenen Feudalgesellschaften - entwickelte sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs eine viel homogenere Struktur, ein local representative self-govemment, die im Einklang mit der gleichfalls homogeneren kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialstruktur stand. Autoritäre oder manchmal einfach nur veraltete Systeme mußten Emanzipationstendenzen weichen, in denen ein neuer Integrationismus einer neuen, bürgerlichen Staatsmacht spürbar wurde. E pluribus wuchs ein unum hervor. Die Organisationsprinzipien der Gemeinden wechselten. In den konstitutionellen Staaten lebten die alten, offenen Versammlungen bis zur Demokratisierung (und manchmal noch länger) fort. Es galt in diesen Systemen, die zahlreichen und "wildgewachsenen" Kirchspielorganisationen einzuschränken und in den neuen, größeren Gemeindeordnungen, die ganze Pfarreien umfaßte, autoritäre Staatsoder Gutsherrschaftsfunktionen mit vom Volk gewählten Mitgliedern zu ergänzen. Überall wurde es im Einklang mit der Zeit notwendig, überlieferte Institutionen zu verbürgerlichen; der Korporativismus und Kollektivismus mußten dem Individualismus und der persönlichen Konkurrenz Platz machen. Die beobachteten Verschiedenheiten und ihre Ursachen können dabei nicht im Sinne der nationalen engen "Selbstverständlichkeit", sondern nur in der weiteren Perspektive

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von nationalen "Eigentümlichkeiten" in einem übergreifenden Prozeß verstanden werden. Die Gemeindeorgane stammten, wie die hier angewandte vergleichende Methode gezeigt hat, nicht aus derselben historischen Wurzel. Die Verordnungen der dänischen Monarchie ähnelten sich, weil es darum gegangen ist, auf ähnlichen, älteren Institutionen etwas Neues aufzubauen. Die schwedischen und norwegischen Ordnungen wurden während der Unionszeit höchst verschieden, weil die Ausgangslage völlig unterschiedlich war (die Norweger suchten, natürlicherweise, ihre Vorbilder in anderen nachautoritären Ländern). Die Finnen haben nicht die Schweden "nachgemacht", wie öfter behauptet worden ist und was die fast identische Entwicklung vielleicht nahelegen könnte. Sie haben im Gegenteil ihre eigenen einheimischen Traditionen weitergeführt, was eine ganz andere und bemerkenswerte Sache ist, die man bei einem einfachen "Faktensammeln" nicht verstehen kann. Die auf unähnlichen, alten Verfassungstraditionen erbauten Gemeindeeinrichtungen wurden also sehr unterschiedlich. Diese Heterogenität der öffentlichrechtlichen Gemeindeverfassung bildet einen Kontrast zu der verhältnismäßig homogenen Alternative, den privat-rechtlichen Assoziationen. Doch gab es in der Praxis auffallende Unterschiede. So wurde z.B. das russische Großfürstentum Finnland in seiner Gesellschaftsstruktur nicht so "assoziativ" wie die alte westliche Reichshälfte, die in dieser Hinsicht dem neuen Unionsbruder Norwegen viel mehr ähnelte. Das nachrevolutionäre "Klein-Schweden" könnte als ein "Reich der Mitte" betrachtet werden 12 . Endlich muß festgestellt werden, daß seit dem "Bankrott der Korporationen" die freiwilligen Vereine zusammen mit Staat und Gemeinden das noch bestehende Dreieck politischer Einflußnahme bilden. Dieses Dreieck zu ergreifen ist ebenso schwer wie für die sozialhistorische Forschung notwendig, es zusammenzuhalten.

259

Anmerkungen 1

Dieser Aufsatz stützt sich vor allem auf meine größere Arbeit "Agrarsamhällets förändring och landskommunal Organisation" (Studia Histórica Upsaliensia 146), Uppsala 1987 (mit deutscher Zusammenfassung); s. außerdem meinen Artikel "Agrargesellschaftlicher Wandel und Landgemeindewesen. Die Entstehung kapitalistischer Organisationsprinzipien und -formen in Balto-Skandinavien bis zum ersten Weltkrieg. Eine vergleichende Analyse", in: The Baltic Countries 1900-1914, hg. v. Loit, A. (Studia Baltica Stockholmiensia 6), Stockholm 1990; darauf sei für Quellen-, Literatur- und Personenverzeichnisse sowie für die Dokumentation verwiesen. Die enge Verbindung zwischen Gemeindeorganen und freiwilligen Vereinen wird ausführlicher als hier behandelt in meinem Aufsatz "The Age of Associations. Principies and Forms of Organization between Corporations and Mass Organizations. A Comparative Nordic Survey from a Swedish Viewpoint", in: Scandinavian Journal of History 1988, S. 321-343.

2

Wenn "Gemeinde", "Kommune" oder "Munizipalität" so verstanden werden, liegt es darin, daß örtlich begrenzte und seit längerer Zeit wirksame Gemeinschaftsformen wie z.B. "Entwässerungs-" und "Deichkommunen", die ja in deutscher, dänischer und norwegischer Sprache (aber nicht auf schwedisch oder finnisch) üblich sind, nicht zu "Gemeinde" gerechnet werden können, wodurch die ganze Lokalgesellschaft reguliert werden sollte. 3 Die baltischen Verhältnisse habe ich in dem Aufsatz über den agrargesellschaftlichen Wandel (s. Anm. 1) eingehender behandelt. 4 Traat, A., Vallakohus Eestis, Tallinn 1980 (Zusammenfassung: "Gebietsgericht in Estland seit Mitte des 18. Jh. bis zur Reform von 1866"), S. 232. 5 Die wenigen, nie leibeigenen Schweden, die seit dem Mittelalter an der Nordwestküste Estlands und auf der livländischen Insel Runö angesiedelt waren, wurden von den allgemeinen baltischen Gemeindeordnungen nicht erfaßt. S. dafür "Agrargesellschaftlicher Wandel" (Anm. 1) und meinen Aufsatz "Rättsuppfattningar och sockenrätt", in: Scandia 1988, S. 29-54, 121-123 (Zusammenfassung: "Rechtsauffassungen und Gemeindegerichte. Zaren gegen Barone und Barone gegen Bauern im estlandschwedischen Lokalverwaltungskampf um 1850"). 6

Für die Einrichtungen in den beiden nordatlantischen "Beiländern" Island und den Färöern, die im Grunde den reichsdänischen Organen ähnelten, samt für die Entwicklung der grönländischen Kolonie und der teils "bauern-", teils "adelsrepublikanischen" Herzogtümer Schleswig-Holstein, wo während der Untersuchungsperiode keine einheitliche Gemeindeordnung eingeführt werden konnte, muß hier auf meinen erwähnten Aufsatz über den agrargesellschaftlichen Wandel und das Landgmeindewesen Balto-Skandinaviens (Anm. 1) verwiesen werden.

7

Steen, S., Amt og stat 1837-1860, Oslo 1973, S. 48, 54 f. S. auch Fladby, R., Bönder og embetsmenn i lokalstyringen etter 1837, in: Historisk Tidsskrift (für Norwegen) 1967, S. 21-53. 8 Was hier präsentiert wird, stammt aus gedruckten "Provinzialkalendern" (länskalendrar) für Södermanland und Västmanland. Für eine weitere Analyse siehe meinen Artikel von 1990 (S. Anm. 1). Innerhalb eines Projekts, das von der Jubiläumsstiftung der schwedischen Reichsbank gefördert wird, arbeite ich z.Z. über die Säkularisierung des schwedischen Gemeindewesens in einer vergleichenden Perspektive.

9

Für die Entwicklung des älteren Vereinswesens Schwedens und seine Verbindung mit den späteren Massenorganisationen s. Jansson, T., Adertonhundratalets associationer, Studia Histórica Upsaliensia 139, Uppsala 1985 (mit Zu-

260

sammenfassung: "Nineteenth-Centuiy Associations. Research and Problems concerning an Explosive Vacuum or Principles and Forms of Organization between Two Social Formations circa 1800-1870"). 10 Soikkanen, H., Kurmallinen itsehallinto kansanvallan perusta. Maalaiskuntien itsehallinnon historia, Helsinki 1966, S. 407 (d.h., Lokale Selbstverwaltung Grund der Demokratie. Geschichte der ländlichen Selbstverwaltung). 11 In Karelien oder Altfinnland, das 1811 mit dem Großfürstentum wiedervereinigt (alt.: von Rußland abgetrennt) wurde, hatten sich die alten schwedischen Gemeindeprinzipien aus dem 17. Jh. mit östlicher Verwaltungspraxis zu recht eigentümlichen Formen verschmolzen, was bei der Reorganisation Probleme mit sich brachte. 12 Um Positionen festzulegen und weitere Probleme zu formulieren, empfiehlt es sich selbstverständlich, andere "Reiche der Mitte" aufzuspüren. So ähnelt die finnische, nicht-assoziative Gesellschaftsstruktur dem, was sich im Inneren Rußlands (und auch im Baltikum) entwickeln konnte, während die finnischen Gemeindeordnungen einheimischen, schwedischen Ursprungs waren. Die norwegische Lokalverwaltung war, wie erwähnt, mit dänischen und deutschen Verhältnissen nahe verwandt (gleichzeitig aber war die "freie Sphäre" ungefähr dieselbe wie in Schweden). Wenn die Folgen solcher historischer Konstellationen bis auf den heutigen Tag verfolgt werden, versteht man besser, daß die skandinavischen Länder, die v.a. von Ausländern als sehr ähnliche Staaten und Gesellschaften aufgefaßt werden, eigentlich nur aus Halb- oder Stiefgeschwistern bestehen.

Hainer Plaul

Zum Wandel der Dorfgemeinschaft im Prozeß der Verbürgerlichung im 19. Jahrhundert

I. "So lange die Dreifelder-Wirthschaft bestand, so lange jede Gemeinde ein sehr bedeutendes, für Weide und Holz bestimmtes Gemeinde-Eigenthum hatte, so lange das Weiden aller Vieharten vom Frühling bis in den späten Herbst gemeinsam geschah, so lange mußte der Einzelne auf die volle Freiheit in der Benutzung seines Eigenthums zu Gunsten des Ganzen verzichten. Die Feldstücke des einzelnen Hofes lagen in der ganzen Feldmark zerstreut ... Die Separationen mit ihrer Zusammenlegung der Grundstücke und der unbedingten Verfügungsfreiheit des Einzelnen über seinen Besitz, sind in volkswirtschaftlicher Beziehung ein ungeheuerer Fortschritt... Allein für die Zusammengehörigkeit der Gemeinden sind sie ebenfalls Separationen geworden, wirkliche Trennungen und auf die alte Volkssitte haben sie wie Scheidewasser gewirkt"1. Was hier ein Zeitzeuge rückschauend über die Verhältnisse in der Gegend um Magdeburg berichtet, traf im Prinzip für die Entwicklung in allen ländlichen Regionen zu. Aber nicht die Separationen allein haben diese Scheidewände im Leben der Gemeinden aufgerichtet, ebensowenig wie auch ein weiterer Eingriff in die überlieferte Wirtschaftsweise, der nicht selten fast zeitgleich mit der Separation in Angriff genommen wurde, nämlich die Aufteilung des Gemeinde-Eigentums, der Gemeinheiten, vor allem an Weideland und Forsten, und die Überführung der parzellierten Teile in Privateigentum oder zumindest in private Nutzung. Eine wichtige Voraussetzung für diese Wirkung ist vielmehr schon in der Struktur der Dorfgemeinde angelegt, die ihrem Charakter nach bekanntlich nirgends Einwohnergemeinde, sondern immer nur Grundbesitzergemeinde war, und zwar mit der weiteren Einschränkung, daß sie, von Ausnahmen abgesehen, sich noch bis ins 18. Jh., mancherorts bis ins 19. Jh. hinein nur aus den großen und mittleren, also den spannfähigen, Zugvieh haltenden Bauern, die sich als "Nachbarn" verstanden, zusammensetzte. Diese "Nachbarschaften" bestanden also im wesentlichen aus den ökonomisch stärksten bäuerlichen Grundbesitzern, und diese Struktur wirkte sich für ihren Fortbestand dann verhängnisvoll aus, als sich die Bedingungen änderten, unter denen sie entstanden und über lange Zeit hinweg funktionstüchtig gewesen waren. Da die anderen Bewohner des Dorfes von den Beratungen und Entscheidungen über lokale Belange, z.B. auch über die Nutzung des Gemeinde-Eigentums, ausgeschlossen blieben, mußten sich zwangsläufig Spannungen und Konflikte ergeben, besonders mit jenen, die zwar kein Zugvieh, aber doch auch mit Grund und Boden oder wenigstens mit einem Haus im Dorf angesessen waren. Und je stärker

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diese Kräfte wurden, schon allein ihrer Zahl nach, desto mehr drängten sie darauf, an den Nachbarrechten Anteil zu gewinnen und so von außen die Dorfgemeinschaft aufzusprengen. Ein anderer Einfluß, der von außen auf die Dorfgemeinschaft zersetzend einwirkte, ging von der territorialstaatlichen Obrigkeit aus. Dies war im besonderen Maße nach dem Dreißigjährigen Krieg der Fall, als im Zuge des Wiederaufbaus Eingriffe namentlich in die Finanz- und Verwaltungsangelegenheiten der Dorfgemeinschaft erfolgten, eine Entwicklung, die überall dort eine zum Teil sogar verschärfte Fortsetzung erfuhr, wo sich die landesfürstliche Gewalt zur absolutistischen Regierungsform mit ihrer Tendenz zur Zentralisation von politischer Macht und Verwaltung ausbildete. Der Hauptstoß in diese Richtung ging aber wohl vor allem von territorialfürstlichen Interventionen im Rahmen der Landeskulturgesetzgebung aus. Aber auch von innen heraus wurde der Zerfall der alten Dorfgemeinschaft vorangetrieben. Die Hauptursache dafür bestand in der weiteren Ausdehnung der Ware-Geld-Beziehungen, der zunehmenden Vervollkommnung des Marktes. Die ökonomisch stärksten Bauern profitierten davon natürlich am meisten. Aber je nach der Größe ihres Besitzes, ihrer wirtschaftlichen Kraft, nach Art und Umfang der feudalen Belastungen usw. war die Höhe des erzielten Nutzens verschieden groß. Die Folge davon war, daß im Laufe der Zeit die Vermögensunterschiede zwischen den einzelnen "Nachbarn" zunahmen. Auf diese Weise baute sich innerhalb der Dorfgemeinde ganz allmählich eine innere Sprengkraft auf. Aber damit sie zu voller Wirkung kam, bedurfte es weiterer Anstöße, und diese gingen in entscheidendem Maße von der Teilung der Gemeinheiten und von der Separation aus. Infolge der Gemeinheitsteilung verschwand der entscheidende Teil des gemeinsamen Besitzes, und im Ergebnis der Separation wich die vordem kooperative Produktion der Einzelbewirtschaftung. Damit waren die beiden wichtigsten Säulen der Dorfgemeinschaft eingestürzt. Aber das war nur die eine Seite. Als die Dorfgemeinden, vom Gesetzgeber dazu in Stand gesetzt, sich anschickten, ihr gemeinsames Eigentum aufzuteilen, geschah dies überwiegend nicht nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung, sondern die Verteilung richtete sich entweder nach der Besitzgröße der Höfe oder nach dem Umfang, in welchem ein Berechtigter bisher an der gemeinschaftlichen Nutzung des betreffenden Grundstücks teilzunehmen befugt gewesen war. Ausnahmen von diesem Prinzip der Verhältnismäßigkeit gab es nur wenige. Beispiele dafür sind etwa Schwedisch-Vorpommern, wo darauf hingewirkt wurde, "daß keiner von den Interessenten in Nachteil gesetzt, sondern vielmehr die möglichste Egalisierung erreicht werde"2, oder das kleine Herzogtum Sachsen-Saalfeld, wo allen Angesessenen durchweg gleicher Anteil zubemessen werden sollte3. Die Teilung der Gemeinheiten führte also überwiegend dazu, daß sich die Unterschiede in Besitzstand und Vermögen der einzelnen Gemeindemitglieder ver264

größerten. Eine ähnliche Wirkung konnte auch von den durchgeführten Separationen ausgehen, insofern nämlich, als sie Zukauf und Pachtung von Grund und Boden wesentlich erleichterten. Wenn diesen Aktivitäten nicht ausdrücklich gesetzlich gegengesteuert wurde, konnte es dadurch ebenfalls zu spürbaren Besitzverschiebungen innerhalb der Gemeinden kommen. Es sind also mehrere Faktoren, äußere und innere, die schließlich die endgültige Aufsprengung der alten Dorfgemeinschaft herbeigeführt haben. Aber dieser Prozeß konnte sich langsamer oder schneller, mit krassen oder weniger einschneidenden sozialen und sozialkommunikativen Folgen vollziehen. Das hing neben dem Grad der sich aufbauenden inneren Spannungen vor allem von der Druckstärke der äußeren Einflüsse und von der Kraft der eigenen Traditionen und des eigenen Beharrungsvermögens ab. Die äußeren Einflüsse traten dabei hauptsächlich in Gestalt von Gemeinheitsteilung und Separation in Erscheinung, die in Form landesherrlicher gesetzgeberischer Akte "von oben" den Dorfgemeinschaften und Bauern anempfohlen oder vielfach sogar angeordnet wurden. Und ihre jeweilige Druckstärke ergab sich vor allem aus ihrem zeitlichen Vollzug und aus dem Nachdruck, mit dem sie die staatliche Gewalt, die auf eine Verbesserung der allgemeinen Landeskultur und damit natürlich zugleich auf eine Erhöhung des Steueraufkommens abzielte, durchzusetzen vermochte. Ihr gegenüber stand die Haltung der Betroffenen. Es ist klar, daß dort, wo die Gemeinheitsteilungen und Separationen eher schleppend, halbherzig und zögerlich vonstatten gingen, ihre zersetzende Wirkung auf die Dorfgemeinschaft weniger spürbar war als in den Fällen, wo sie in relativ kurzer Zeit und mehr oder weniger vollständig zur Durchführung gelangten. II. Die Geschichte der Gemeinheitsteilungen und Separationen in den verschiedenen deutschen Territorien läßt erkennen, daß, bezogen auf die gesetzgeberische Seite, in der Regel die großen Staaten den kleinen vorangingen. Die frühesten Schritte in diese Richtung erfolgten in der zweiten Hälfte des 18. Jh. Dabei ist zu beobachten, daß sich der Gesetzgeber im Hinblick auf die Teilung der Gemeinheiten eindeutiger und bestimmter äußerte als in bezug auf die Separationen. Sein Interesse zielte also in erster Linie darauf ab, so viel wie möglich von den ackerbaulich noch ungenutzten Flächen in die Bewirtschaftung einzubeziehen, was er eben am ehesten durch eine private Nutzung dieser Ländereien zu erreichen hoffte. Damit wurde zugleich ein Denken und Verhalten gefördert, das auf seine Weise mit dazu beitrug, die Grenzen der feudalen Gesellschaft aufzusprengen. Daß dies in Auseinandersetzung mit den traditionellen Denk- und Verhaltensweisen erfolgte, zeigt etwa die Entwicklung in den süddeutschen Staaten, in Bayern, Baden, Württemberg, Hohenzollern sowie im südlichen Hessen, wo die Einflüsse, die von den Gemeinheitsteilungsmaßnahmen auf die Dorfgemeinschaften einwirkten, ins265

gesarat gesehen von geringerer Bedeutung waren als in den nord- und mitteldeutschen Territorien. Das hing damit zusammen, daß hier Gemeindeland zwar auch geteilt, aber die Parzellen zu einem beträchtlichen Teil nicht in Privateigentum überführt, sondern nur in Zeitpacht zur Nutzung überlassen wurden; das Eigentumsrecht an diesen Ländereien verblieb den Gemeinden. Infolge der Notwendigkeit, nach abgelaufener Pacht die jeweiligen Parzellen neu verteilen zu müssen, war den Dorfgemeinschaften eine wichtige Aufgabe erhalten geblieben. Bestimmungen bezüglich der Separation wurden zu dieser Zeit meist im Zusammenhang mit landesherrlichen Aufforderungen zur Besömmerung der Brache erlassen, da die Gemengelage den einzelnen Bauern daran hinderte, dieser Aufforderung nachzukommen bzw. in Verbindung mit der Frage der Ablösung wechselseitiger oder einseitiger Trift- und Hutberechtigungen. So wird etwa aus Bayern berichtet, daß nach Publikation des entsprechenden Mandats von 1762 "von einigen Bauersleuten" Erklärungen dergestalt eingingen, "dass sie zu der in dem Mandat angeordneten Bebauung ihrer Brachäcker zu schreiten willig seien. Nur entstand die Gefahr, 'dass sie von Ihren in dem nämlichen Brachfeld gelegenen und auf gleichmässigen Anbau nicht einverstandenen Nachbarn mit dem Vieh umso leichter übertrieben und beschädigt werden möchten.' Daher wird verordnet, dass, wo der grössere Teil des Brachfeldes angebaut wird, das ganze Brachfeld so lange nicht beweidet werden dürfe, bis die Früchte von dem ganzen Felde völlig eingebracht seien"4. Dieses Beispiel macht darüber hinaus deutlich, daß durch derartige Maßnahmen die Spannungen in den Dorfgemeinschaften verschärft wurden, und es zeigt auch, wie stark die Obrigkeit, wenn sie es für notwendig befand, in den Entscheidungsbereich der Dorfgemeinden unmittelbar reglementierend eingriff. Ein allgemeiner und durchschlagender Erfolg blieb der Gemeinheitsteilungsund Separationsgesetzgebung in dieser frühen Phase allerdings versagt. Was ihn verhinderte, war vor allem der Widerstand der Bauern, der viele Ursachen hatte, zum Teil auch die Nachlässigkeit der Beamten, und nicht zuletzt die Gegenwehr lokaler Feudalherren und der geringe Nachdruck und die Rückzieher der gesetzgebenden Obrigkeit selbst, wie ab 1814 in Bayern oder schon 1781 in Preußen, wo die Regierung die Meinung vertrat, "daß es durchaus berechtigt sei, ein Drittel des vorhandenen Landes der Viehweide einzuräumen, da die Viehzucht den dritten Teil der gesamten Einnahmen der Landwirtschaft ausmache" (Zirkular vom 31.3.). Auch im Widerstand der Bauern gegen die Aufteilung der Gemeindeländereien und deren Kultivierung bzw. gegen Brachbesömmerung und Separation spielte die Sorge um den eigenen Viehbestand eine wichtige Rolle. Eine Schmälerung der Weideflächen war bei gleichem Viehbesatz nur durch den Übergang zur Stallfütterung und durch den vermehrten Anbau von Futterkräutern auszugleichen. Mit "Neuland unterm Pflug" ist das bekanntlich so eine Sache. Besonders 266

dort, wo sandiger oder mooriger Boden vorherrschte, schien den Bauern ein Kultivierungserfolg mit den Geräten, die ihnen damals zur Verfügung standen, und mit den Erfahrungen, die sie besaßen, außerordentlich fraglich. Hinzu kamen die Bedenken gegen eine ausgedehntere Stallfütterung wegen der damit verbundenen Möglichkeit wachsender Seuchengefahr. Und die fortgesetzt peinliche Sauberhaltung der Ställe, die vielfach vom Gesetzgeber ausdrücklich angeordnet wurde, verlangte alles in allem einen höheren Arbeitseinsatz als bisher. Auch die Zunahme an Ackerfläche durch Brachsömmerung und Kultivierung ehemaligen Gemeindelandes erforderte einen größeren Arbeitsaufwand, der sich dort kaum oder gar nicht realisieren ließ, wo noch die feudale Arbeitsrente erbracht werden mußte und diese womöglich in einem besonders großen Umfang. Schließlich begründete sich der Widerstand der Bauern auch aus einem Mangel an ökonomischen Anreizen, aus der Sorge heraus, daß Mehrprodukt und Mehreinnahmen durch eine Erhöhung oder Vermehrung der Abgaben und Steuern wie z.B. dem Zehnten wieder abgeschöpft werden würden. Und diese Sorge war nur allzu berechtigt: "Kaum bauten die Bauern Klee, Raps, Mais, Mohn, Tabak, Futterrüben und andere Hackfrüchte an, belegte der Zehntherr die Ernteprodukte mit dem 'Kleinen Zehnten'. Entsprechende Nachrichten liegen vor aus der Herrschaft Stolberg-Wernigerode, Hannover, Solms-Braunfeld (Hessen), Rheinhessen, Hohenlohe, Oberamt Heilbronn, Bayern, Steiermark. Selbst die Kartoffel wurde, bevor man ihre Rolle als Helferin in den Hungersnöten (vor allem Anfang der 1770er Jahre) erkannte, mit dem Zehnten oder einem Äquivalent in Geld belegt"5. Neben diesen ökonomisch motivierten Ursachen des bäuerlichen Widerstandes spielten aber auch psychologische Gründe eine Rolle. Jahrhunderte hindurch hatte sich im Kern an der immer noch herrschenden Art und Weise der Bewirtschaftung nichts geändert; dieses Produzieren hatte sich bewährt und war von Generation zu Generation tradiert worden, so daß geradezu zwangsläufig "eine Stabilität der Umgebung, der Beschäftigung und also auch der Ideen", wie Engels formuliert hat 6 , entstehen mußte, Ideen, die ihrem Wesen nach gar nicht anders als konservativ sein konnten. Psychologische Barrieren mögen sich auch durch den kooperativen Charakter der bäuerlichen Betriebsweise aufgebaut haben, durch den eine individuelle Eigenverantwortung immer in Grenzen gehalten wurde; auch Verantwortung zu tragen will gelernt, erfahren, geübt sein. Ein weiteres psychologisches Moment bestand darin, daß einmal durchgeführte Gemeinheitsteilungen oder Separationen in der Regel endgültig und nicht mehr rückgängig zu machen waren. Da war Vorsicht geboten, zumal derartige Umstellungen auch Zeit und Kosten verursachten. So zeigten die Bauern gegenüber diesen Neuerungen verständlicherweise ein eher "vorsichtiges, sehr reales, ökonomisches, zwar kein volkswirtschaftliches, so doch betriebswirtschaftliches Abwägen. Sie mußten, ehe sie sich zu kleinen oder größeren Veränderungen entschlossen, 'sinnliche Beweise

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haben', wie Albrecht Thaer auf Grund langjähriger Erfahrungen konstatierte. Sie mußten den Vorteil neuer Kulturen oder gar neuer Betriebsweisen mit Händen greifen können, sie mußten die Kraft der Überzeugung erlernt haben"7. Und genau das war bei den Anordnungen der Obrigkeit in dieser Beziehung ganz überwiegend nicht der Fall; es wurde reglementiert, aber keineswegs in irgendeiner Weise argumentiert und informiert. Dieses ungeschickte, auf die Psyche der Bauern keinerlei Rücksicht nehmende Vorgehen mußte außerdem auch deshalb ohne größere, allgemeine Durchschlagskraft bleiben, weil es sich auf ein weitverbreitetes Mißtrauen seitens der Bauern gegen jede Art von obrigkeitlichen Eingriffen auflagerte. Nach allen ihren Erfahrungen war es für die Bauern nicht gut vorstellbar, daß eine Obrigkeit Maßnahmen verfügte, deren Durchführung auch ihnen Vorteile bringen sollte. Wo für die Verwirklichung der agrarreformerischen Maßnahmen günstige Voraussetzungen bestanden, in Gegenden mit fruchtbaren Böden, die auch marktmäßig relativ gut erschlossen waren, wo Geldrente statt Arbeitsrente vorherrschte, wo die Obrigkeit weitgehend darauf verzichtete, jedenfalls für eine bestimmte Zeit, das durch die bessere Kultur erzielte Mehrprodukt sich anzueignen, wo die Bauern über die Vorteile der neuen Betriebsweise besser aufgeklärt waren oder sich aus eigenem Antrieb darüber informierten, überall dort nutzten vielerorts die Bauern die gesetzlich eingeräumten Möglichkeiten. Als ernstes Hindernis erwiesen sich aber auch hier nach wie vor in einem nicht geringen Maße die bestehenden Hütungsberechtigungen feudaler Gutswirtschaften auf Bauernland. So kann alles in eillem bis mindestens in die zwanziger Jahre des 19. Jh. hinein in bezug auf die erreichten agrarwirtschaftlichen Fortschritte höchstens von Teilerfolgen auf regionaler Ebene gesprochen werden. Das bedeutete, daß bis dahin von dieser Seite her die Dorfgemeinschaft in ihrer Existenz nicht ernsthaft gefährdet war. III. Die Lage änderte sich von dem Zeitpunkt an, als in massiver Form ökonomische Anreize ins Spiel kamen. Diese bestanden für die Bauern in der Hauptsache darin, daß sie sich im Zuge der Ablösungsgesetzgebung von allen feudalen Diensten und Abgaben loskaufen konnten, und daß sich die Preise namentlich für Brotgetreide über eine längere Zeit hinweg, ausgenommen die Krisenjahre 18251827, auf einem ziemlich hohen Niveau bewegten. Angesichts dieser Entwicklung verlangten jetzt die Bauern viel häufiger als früher von sich aus, die Gemeinheiten zu teilen und ihre Grundstücke aus der Gemengelage herauszulösen. In die gleiche Richtung wirkten mit einer neuen oder veränderten Gesetzgebung auch zahlreiche Staatsregierungen, die sich durch eine verbesserte landwirtschaftliche Kultur zu Recht eine Wertsteigerung der Grundstücke und höhere Reinerträge und damit ein größeres Steueraufkommen versprachen. So wurden allein in den zwei Jahr268

zehnten zwischen 1820 und 1840 entsprechende Gesetzesmaßnahmen in Preußen, in den meisten hannoverischen Gebietsteilen, in Rheinhessen, in Sachsen, in Kurhessen, in Braunschweig und in Anhalt-Bernburg in Kraft gesetzt. Die Durchführung der Gemeinheitsteilungen und Separationen auf der Grundlage dieser Regelungen gestaltete sich in den einzelnen Staaten natürlich unterschiedlich, aber es gab Phasen, in denen in relativ kurzer Zeit ganz besonders viel und im großen Umfang geteilt und separiert wurde8. Im Unterschied zur ersten Etappe haben in dieser zweiten Etappe, deren Beginn in den zwanziger Jahren des 19. Jh. anzusetzen ist, die Gemeinheitsteilungen und Separationen ungeachtet weiterer Widerstände durchaus zur Auflösung der alten Dorfgemeinschaften beigetragen. Jetzt haben sie am Ende wirklich zu Trennungen geführt, "und auf die alte Volkssitte ... wie Scheidewasser gewirkt". Welche Formen dieser Zersetzungsprozeß mit seinem Nebeneinander von alten Gemeinsamkeiten und neuem Trennenden annehmen konnte, geht z.B. aus einem im Jahre 1852 verfaßten Pfarrbericht aus der Gegend um Prettin bei Torgau im Preußischen hervor. Dort wurden zu jener Zeit zwei große Volksfeste gefeiert, nämlich die Kirmes und die Fastnacht: "Beide Feste werden, was lobend hervorgehoben werden muß, nur an Wochentagen abgehalten und schließen den Sonntag, wie anderwärts, nicht mit ein. Obgleich schon am Dienstags Abends die Hauswirthe die Feste beginnen, indem sie die Gemeinderechnung abnehmen oder Gemeindetag halten und dabei dasjenige Bier trinken, was in der Regel der Gemeinde-Schmied oder Schäfer geben muß, so sind doch alle Anderen ausgeschlossen und der Anfang wird erst Mittwoch Abend gemacht... Gespielt und getrunken, gesprungen und gejubelt wird allerdings, allein es läßt sich dies nur sehr schwer bei solchen Volksfesten und bei diesen kräftigen Naturmenschen beseitigen, wohl aber beschränken und möglichst unschädlich machen. Die Gewohnheiten und Sitten dieser Leute begünstigen dies. Oft scheint es nämlich drunter und drüber zu gehen und doch führt man gegenseitig Controlle. Jeder wird beobachtet und diejenigen, welche beim Tanze, oder Spiele oder im Trinken Unziemliches sich erlaubten, trifft nachträglich eine scharfe Kritik. Die Mütter und Frauen sind meist Zuschauerinnen und übersehen nicht leicht etwas an den Tanzabenden. An den Spiel- und Trinkabenden aber macht sich der hier mehr als irgendwo herrschende Kastengeist geltend. Die Großhüfner, - bis zum Knechte herab, sondern sich. Jede Klasse hat ihren eigenen Tisch und spielt für sich ..."9. In einem wichtigen kommunikativen Bereich, im geselligen Leben außerhalb offizieller Gemeindeversammlungen, hatte hier die Entwicklung also auch schon die verschiedenen Sozialgruppen der Grund- und Hausbesitzer, die zusammen die Dorfgemeinschaft bilden, auseinandersepariert.

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IV.

Der beschleunigte Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Produkti-

onsweise in der Landwirtschaft, wie er sich in den Jahrzehnten nach der Überwindung der Agrarkrise durch den relativ raschen und umfassenden Vollzug von Gemeinheitsteilung und Separation, aber auch der bäuerlichen Eigentumsregulierungen charakterisiert, spiegelte sich mehr als früher auch im Bewußtsein der verschiedenen sozialen Gruppen der werktätigen Dorfbevölkerung wider. So gelangte unter den neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen das für die kapitalistische Produktionsweise typische, auf den Erwerb und die Sicherung von Privateigentum gerichtete, auf Gewinn orientierte und auf Konkurrenz eingestellte Denken und Verhalten innerhalb des ökonomischen Bewußtseins der unmittelbaren Produzenten, vor allem der großen und teilweise der mittleren Bauern, immer stärker zur Geltung. Aber auch die kleinen Bauern und die Häusler blieben davon nicht unberührt. Das zeigte sich besonders deutlich in den Auseinandersetzungen um die Parzellierung der Gemeindeländereien. Aus Württemberg teilte ein Zeitgenosse, der offensichtlich die Position des Staates vertrat, folgende Beobachtung mit: "Die Kleinbegüterten oder Unbegüterten, indem man ihnen nachgab, betrachteten mit lüsternen Augen jedes noch nicht vertheilte Gemeinde-Eigenthum und bestürmten die Gemeinde und die Aufsichtsverwaltung um diese weitere Theilung, gestützt auf einzelne Vorgänge in den eigenen oder benachbarten Gemeinden, und gestützt auf den Nachweis einer unzulänglichen Existenz, in welcher sie sich mühselig herumzuplagen hätten, während so viel Gemeinde-Eigenthum mehr oder weniger nutzlos daliege usw.... Die Grossbegüterten dagegen setzten dem gegen sie eröffneten - von den Staatsbehörden vielfältig in der edelsten Absicht unterstützten Kampfe eine blos negative Haltung entgegen. Sie zogen es vor, den Fortbestand des alten, wenn auch augenfällig unzweckmässigen Zustandes einer meist zwecklosen gemeinschaftlichen Benutzung zu verlangen und zu vertheidigen ... So entstand und entsteht heute noch ein ewiger Kampf zwischen der bäuerlichen Grundaristokratie und den kleinen Gutsbesitzern, den Tagelöhnern und kleinen auf dem Lande ansässigen Gewerben, so zu sagen eine nie abreissende Unzufriedenheit, ein nie abbrechender, die übelsten Folgen auch in anderen Beziehungen entwickelnder Hass unter den Mitbürgern. An vielen Orten siegten die Kleinen. Alles wurde vertheilt, 7-8 Stückchen machen die volle Bürgergabe aus, allerdings eine wesentliche Stütze für den Nahrungsstand dieser kleinen Leute, oft aber auch ein Mittel, besseren Verdiensten nicht nachzugehen, sich an die Scholle zu kleben, und wie Sand am Meere fortzupflanzen, die Gemeinden mit Armen und Hülfsbedürftigen zu überfüllen ..."10. Die Herausbildung kapitalistischer Verhältnisse auf dem Lande riefen aber nicht nur im ökonomischen Bewußtsein, sondern, wie die Schilderung aus Württemberg und der Bericht aus Prettin gut erkennen lassen, auch im politischen Bewußtsein der werktätigen Landbevölkerung Veränderungen hervor. Auf die Insti-

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tution der Dorfgemeinschaft bezogen, bestanden diese Veränderungen in der Hauptsache darin, daß sich das Bewußtsein der Identität mit der Gemeinde immer mehr abschwächte, und daß an seine Stelle immer ausgeprägter ein Identitätsbewußtsein insbesondere mit der eigenen Sozialgruppe trat, daß Gemeinsamkeiten bewußtseinsmäßig zurück- und Unterschiede hervortraten, Unterschiede vor allem zwischen den großen und mittleren bäuerlichen Grundbesitzern einerseits und den Besitzarmen und Besitzlosen des Dorfes andererseits, die schließlich von beiden Seiten als soziale Gegensätze erfahren wurden. Zu diesem Bewußtseinswandel trugen aber noch andere Faktoren bei, nämlich Veränderungen, die sich in der sozialen Struktur und in der ökonomischen Funktion der Dörfer vollzogen. Kennzeichnend dafür waren ein allgemeiner, seit längerem andauernder Bevölkerungsanstieg mit einer starken Zunahme von landarmen und landlosen, agrarisch oder gewerblich tätigen Dorfbewohnern und, wo die Industrielle Revolution das Land erfaßt hatte, mit einer zahlreichen Fabrikarbeiterschaft. So gab es beispielsweise im frühindustrialisierten Sachsen 1834 über 140 Dörfer, die mehr als 1000 Einwohner zählten, davon 27 mit mehr als 2000 und 9 sogar mit über 3000 Einwohnern 1 1 ; zu gleicher Zeit existierten aber 70 Städte, die weniger als 2000 Einwohner zu verzeichnen hatten 1 2 . Derartig einschneidende strukturelle und funktionale Veränderungen, die natürlich auch viel sozialen Konfliktstoff erzeugten, forderten die Schaffung neuer Rechtsgrundlagen für die Gemeinden geradezu heraus. Diese Situation nutzten vornehmlich die großen und mittleren Bauern, vermutlich im Bündnis mit den ländlichen Unternehmern, um nach dem Vorbild des städtischen Bürgertums ihren Führungsanspruch zu erneuern. Unter dem Einfluß der französischen Julirevolution hatte hier in Sachsen die Bourgeoisie eine Verfassungsreform und ein Jahr darauf, 1832, eine "Allgemeine Städteordnung" durchgesetzt, die ihr eine Teilhabe an der lokalen, kommunalpolitischen Macht sicherte und zugleich ein Mitspracherecht der Besitzarmen und Besitzlosen verhindern half. Die gleiche Strategie verfolgten in den Dörfern die reichen Bauern. Im Zuge der Verwirklichung ihrer ökonomischen Unabhängigkeit (Ablösungsgesetz von 1832) gingen sie dazu über, der Feudalklasse auch ein größeres Maß an politischer Freiheit abzutrotzen, die Landarmut aber im Zustand der politischen Rechtlosigkeit zu belassen. In der Landgemeindeordnung von 1838 sind dann einige dieser Forderungen verwirklicht worden. Danach zählten zu den Mitgliedern einer Gemeinde alle jene selbständigen Personen, die entweder Grundstücke besaßen oder, auch ohne Grundbesitz, in der Gemeinde ihren bleibenden Wohnsitz hatten (§ 24). Aber als stimmberechtigt galten nur die ansässigen Gemeindemitglieder (§ 28). Kein Stimmrecht besaßen etwa die Auszügler, selbst wenn sie ein besonderes Auszugshaus bewohnten (§ 28), ebensowenig jene Dorfbewohner, die sich in der Zahlung von Landes- oder Gemeindeabgaben länger als zwei Jahre im Rückstand befanden

271

(§ 29,1) sowie die Empfänger von Armenunterstützung, solange diese Versorgung gewährt wurde und solange ihr Gegenwert noch nicht wieder an die Armenkasse zurückgezahlt worden war (§ 29,2), außerdem alle nichtangesessenen Gemeindemitglieder, d.h. das Gesinde und die Mieter bzw. Einlieger oder Hausgenossen (Inwohner); in den ausgesprochenen Industriedörfern zählte das gesamte nichtansässige Fabrikproletariat dazu. Das Stimmrecht mußte persönlich ausgeübt werden (§ 30), den Ehefrauen war dieses Recht, sofern sie nicht von Tisch und Bett getrennt waren, jedoch untersagt. Obwohl zu diesem Zeitpunkt in Sachsen die Geschlechtsvormundschaft beseitigt war, konnten sie an den Gemeindeversammlungen nur durch ihre Ehemänner teilhaben (§ 30,1). Zu den Gemeindeämtern gewählt werden konnten indes alle Gemeindemitglieder, und zwar unabhängig davon, ob sie zu den Angesessenen oder Unangesessenen gehörten (§ 31). Nicht wählbar waren ohne Unterschied alle Frauen, ferner die Steuersäumigen und Unterstützungsempfänger sowie die Pfarrer und Lehrer (§ 32). Die Wählbarkeit der nichtansässigen Gemeindemitglieder stellte in Wahrheit freilich nur ein Scheinrecht dar; denn wer, - in der Regel - wenn nicht ihre Klientel hätte sie wählen sollen, aber gerade ihr war das Stimmrecht verwehrt. Dennoch konnten auch die Unansässigen im Gemeinderat Sitz und Stimme beanspruchen. Allerdings durfte ihre Zahl ein Viertel der Gemeinderatsmitglieder nicht übersteigen (§ 42), so daß ihnen mindestens drei Viertel der Angesessenen gegenüberstanden und ihnen damit weit überlegen waren. Unter diesen Mehrheitsverhältnissen waren die Aussichten, ihre Interessen gegen die der Grundbesitzer durchzusetzen, praktisch gleich null. Die gleiche, vom politischen Inhalt her bürgerliche Strategie, und zwar "Bürger" nicht im Sinne von Citoyen, sondern im Sinne von Bourgeois, verfolgte der ökonomisch stärkste Teil der Bauernschaft auch in anderen Staaten 13 . Diese Entwicklung, in der-Altes zerstört und Neues aufgerichtet wurde, beschreibt den Übergang der Dorfgemeinde zur politischen Gemeinde. Am Ende steht ein Gemeindetyp, der integraler Bestandteil des Staatswesens, der Staatsmacht ist, ein staatliches Organ also, das vom Staat als selbständiges Rechtssubjekt (juristische Person) anerkannt ist. Es besitzt die volle Vermögensfähigkeit und eine eigene Verwaltung, mit deren Hilfe sowohl eigene, kommunalpolitische Aufgaben gelöst werden als auch zur Erfüllung staatlicher Zwecke beigetragen wird. Daneben bestanden die alten Dorfgemeinschaften, die nun als Alt- oder Realgemeinden bezeichnet wurden, noch längere Zeit hindurch als Eigentümergemeinschaften fort. Erst nach und nach führten Überleitungsverträge mit der politischen Gemeinde zu ihrer endgültigen Auflösung14. Mit dem Übergang zur politischen Gemeinde änderte sich mit der Struktur auch die innere Gliederung dieser Institution. War die alte Dorfgemeinschaft eine reine Grundbesitzergemeinde, so tendierte die politische Gemeinde, zumindest in bezug auf Mitgliedschaft und Wählbarkeit, nicht jedoch in Hinsicht auf das Stimm272

recht, trotz erheblicher Ausgrenzungen (Frauen, Jugendliche, Unselbständige) zur Einwohnergemeinde. Ihre innere Organisation erfolgte unter den neuen Bedingungen nach dem Repräsentativsystem. Auf deutschem Boden war dieses System in den Gemeinden zuerst in den unter französischer Herrschaft stehenden Territorien, dem Geltungsbereich des Code Napoléon, eingeführt worden, so in den linksrheinischen Gebieten und im 1807 gegründeten Königreich Westfalen. D a in der Übergangsphase zur politischen Gemeinde noch keine politischen Parteien existierten, gründete man das Repräsentativsystem, entsprechend dem erreichten Entwicklungsstand und damit über das grobe Stände-Raster weit hinausgehend, auf die soziale Struktur der Gemeinden, wobei allerdings die Unangesessenen nicht weiter differenziert, sondern, im Einklang mit den machtpolitischen Interessen der Grundbesitzer, als eine Ganzheit betrachtet wurden 1 5 . Der Übergang von der Dorfgemeinschaft zur politischen Gemeinde gibt sich als dialektische Einheit von Zerfall und Neuformierung zu erkennen. Er bezeichnet die Herauslösung der Gemeinden aus feudaler Abhängigkeit und ihre Integration in das entstehende bürgerliche Staatswesen. Im verkleinerten Maßstab stellen die aufkommenden politischen Gemeinden in sozialer und politischer Hinsicht Ausbildung des sozialen Antagonismus zwischen Eigentümern und Nichteigentümern von Produktionsmitteln und des Bewußtseins davon, Herrschaft oder wenigstens partiell realisierter Herrschaftsanspruch des ökonomisch stärksten Teils der Bauernschaft, Ansätze von Parlamentarismus - eine Art Spiegelbild der heraufziehenden bürgerlichen Gesellschaft dar.

Anmerkungen 1

Winter, Die Volkssitte und die Schule, in: Schulblatt für die Provinz Brandenburg, 39. Jg., 1874, S. 424-425.

2

Mager, F., Geschichte des Bauerntums und der Bodenkultur im Lande Mecklenburg, Berlin 1955, S. 257.

3

Lütge, F., Die mitteldeutsche Grundherrschaft und ihre Auflösung, Stuttgart 1957 , S. 270 (Verordnung vom 30. Mai 1809).

4

Wismüller, F. X., Geschichte der Teilung der Gemeindeländereien in Bayern, Stuttgart 1904, S. 23.

5

Bentzien, U., Fortschritte und Fortschrittsträger der deutschen Landwirtschaft im Spätfeudalismus, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte, 21. Bd. (Neue Folge Bd. 6), Jg. 1978, Berlin 1978, S. 125.

6

Engels, F., Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: K. Marx, F. Engels. Werke, Bd. 2, Berlin 1962, S. 478.

7

Müller, H.-H., Akademie und Wirtschaft, Berlin 1975, S. 218 f.

8

Vgl. dazu bei Dagott, E., Die Entwicklung der Gemeinheitsteilung in Deutschland, Königsberg, Jur. Diss. Königsberg 1934, und Schütte, B., Die Zusammenlegung der Grundstücke in ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung und Durchführung, 3 Bde.,. Leipzig 1886. 273

9 Staatsarchiv Magdeburg, Rep. C 811, Nr. 63, Bl. 15-16. 10 Knaus, Die politische Landgemeinde, als Grund-Eigenthümerin, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, Tübingen, Jg. 1,1844, S. 450-452. 11 Blaschke, K., Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution, Weimar 1967, S. 156. 12 Ebd., S. 167. 13 Etwa zu Preußen vgl. bei Plaul, H., Landarbeiterleben im 19. Jh., Berlin 1979, S. 136-146. 14 Wie solche Verträge beschaffen sein konnten, zeigt das Beispiel der nordwestsächsischen Gemeinde Niederfrankenhain bei Geithain. Nach dem Flurbuch von 1841 besaß die Altgemeinde ein Armenhaus mit Garten, ein Spritzenhaus mit Hutung, eine Schuttgrube, etwas Wiesenland, Feld, Hutung und eine kleine Fläche Eichenniederwald, alles zusammen im Umfang von 5 Acker, 273 Quadratruten, also etwa 3 Hektar. Im Jahre 1878 überließ sie diesen Besitz "der politischen Gemeinde, desgleichen die an den Kommunikationswegen anstehenden, ihr gehörigen Obstbäume. Als Gegenleistung übernahm die politische Gemeinde die der Altgemeinde bisher obliegende Bau- und Unterhaltungspflicht der Kommunikationswege, die Baumpflanzungspflicht an denselben, sowie sämtliche Schulden in Gestalt zweier Kapitale in Höhe von 2400 Mark und 1050 Mark." Nach Angaben des Kötzschke-Schülers Streller, K., Die Geschichte eines nordwestsächsischen Bauerngeschlechts im Verlaufe von drei Jahrhunderten, Phil. Diss. Leipzig, 1933, S. 79. 15 Siehe z.B. § 42 der sächsischen Landgemeinde-Ordnung von 1838. Für Preußen vgl. bei Plaul, H., Landarbeiterleben, S. 141-144.

IV. Rückblick und Ausblick

Hans-Jürgen Puhle Stichworte zur weiteren Diskussion und zum Vergleich

Wir haben bisher versucht, die wichtigsten Dimensionen der Integration der ländlichen Gesellschaft in die "moderne Welt" zu diskutieren , die bestimmt ist vom industriellen Kapitalismus und die im 19. Jh. in großen Teilen charakterisiert war durch bürgerliche Hegemonie unterschiedlicher Intensität in Kultur, Gesellschaft und Politik. Die zentrale Frage war dabei die Frage nach der Verbürgerlichung des Dorfes und der Bauern, nicht so sehr nach der Verbürgerlichung der Rittergüter oder anderer Großgüter, obwohl man wohl beide Bereiche eng aufeinander bezogen sehen muß. Die wichtigsten Indikatoren für diesen Prozeß sind vor allem aufgesucht worden in Veränderungen der Siedlungsstruktur und Lebensweise, in der Produktionsweise, den Bedingungen der Vermarktung, der Verwendung der Gewinne und den Verschiebungen kultureller und organisatorischer Muster und Orientierungen. Das sample der diskutierten Fälle, das sich aus den vorgelegten Papieren ergibt, weist enge Grenzen auf und bleibt auf Mittel- und Ostmitteleuropa beschränkt. Der "europäische Vergleich" bleibt unvollständig. Es fehlen Beispiele für den Westen und den Süden, nicht nur aus Westfalen, dem Rheinland oder Franken, sondern auch aus den moderneren und "kapitalistischeren" agrarischen Zusammenhängen der Niederlande, Dänemarks oder Großbritanniens, oder aus Frankreich, Italien und Spanien. Insbesondere in den beiden letztgenannten Ländern könnte man das Spannungsverhältnis zwischen städtischem und dörflichem Leben am eigenartigen Beispiel der mediterranen "Ackerstädte" (vor allem in Andalusien und Sizilien) studieren, an durchaus Urbanen Agglomerationen, in denen auch die Bauern und Landarbeiter lebten. In unseren hier diskutierten mittel- und osteuropäischen Fällen lebten die Bauern dagegen in Dörfern, ihr Umfeld ist nicht urban. Da damit eine wichtige Wurzel möglicher Bürgerlichkeit ausscheidet, bleiben lediglich zwei weitere: die wirtschaftsbürgerlichen und die bildungsbürgerlichen Aspekte. In unserem Kontext dürften die ersteren häufiger und interessanter sein. Auch hinsichtlich des möglichen Kontextes konkreter Modernisierungsprozesse und Modernisierungswege bleibt das sample, das sich aus den hier diskutierten Fällen ergibt, einseitig; es spiegelt wesentliche Zusammenhänge der Modernisierung von oben, wie sie für Preußen und weite Teile Deutschlands und Ostmitteleuropas charakteristisch gewesen ist, insbesondere aufgrund der Dominanz der Faktoren Bürokratisierung und Industrialisierung (bei defizient bleibender Demokratisierung). Anders gerichtete Konfigurationen der wichtigsten

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Faktorenbündel westlicher Modernisierungsprozesse geraten nicht in den Blick, z.B. der britische Weg mit der vorherrschenden Kombination von Industrialisierung und Demokratisierung (bei defizient bleibender Bürokratisierung) oder der französische, der beherrscht wurde von einer Kombination aus Bürokratisierung und Demokratisierung (und einer die Institutionen nicht sonderlich prägenden Industrialisierung). Darüber hinaus wird man sicher festhalten müssen, daß weder die Modernisierung noch die aus den unterschiedlichsten Indikatoren ablesbare sozioökonomische Differenzierung der ländlichen Gesellschaften in jedem Falle "Verbürgerlichung" bedeuten muß. Der kapitalistisch wirtschaftende Farmer mag in wirtschaftlicher Hinsicht und in einem großen Teil seiner sozialen Zusammenhänge "modern" sein, aber noch lange nicht "bürgerlich", zumindest in dem Maße nicht, in dem ihm der Kommunikationskontext mit der städtischen Kultur fehlt. (1) Im einzelnen sollte genauer unterschieden werden zwischen Prozessen der Modernisierung der Landwirtschaft, der Modernisierung der Bauern (hin zu Farmern, Agrarunternehmern verschiedener Größe oder Landarbeitern von eigenem Charakter) und der Modernisierung des Dorfes, die hier besonders interessiert. Was die letztere angeht, so wird vor allem zu fragen sein, ob die Dörfer, die in den hier untersuchten Perioden zunehmend mit städtisch geprägten Werten durchdrungen werden, tatsächlich zuvor in irgendeinem Sinne "autonom" gewesen sind, und wenn ja, in welchem Ausmaß. Möglicherweise haben wir es in sehr vielen, vielleicht in den meisten Fällen eher mit Prozessen einer Dependenzsubstitution zu tun, in denen neue Abhängigkeiten von städtischen und industriellen Zentren an die Stelle alter Abhängigkeiten von feudalen oder herrschaftlichen Zentren treten. Ausnahmen mag es in traditionell reicheren Bauernregionen Nordwest- und Süddeutschlands geben. (2) Die Antworten auf die speziellere Frage nach der "Verbürgerlichung" der Bauern und Dörfer scheinen im Ganzen eher die engen Grenzen dieses Prozesses zu betonen. "Verbürgerlichung" blieb eine sehr partielle Sache, jedenfalls im 19. Jh.: Sie ergriff - neben Adligen und Junkern sowie der Mehrheit der nichtadeligen Großgrundbesitzer (am Ende des 19. Jh. in Deutschland) - wesentlich nur die großen und mittleren Bauern und die Dörfer im Umland ausstrahlender städtischer Zentren, und auch dies nur unter bestimmten Bedingungen, zu denen die ökonomische Gesamtlage ebenso gehört wie die institutionellen und kommunikationstechnischen Voraussetzungen für den Austausch zwischen Stadt und Land (vgl. den Fall Neuholland). (3) Angesichts dieser engen Grenzen von "Verbürgerlichung" sollte auch genauer nach den kategorialen Dimensionen der zweifellos vorhandenen Prozesse sozialen Wandels und der Integration in größere Zusammenhänge gefragt werden. Dafür bietet sich vielleicht eher der Terminus "Verkleinbürgerlichung" an bzw. für

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das weitere 20. Jh. kulturell breiter gefaßte Vereinheitlichungsprozesse ohne spezielle Anzeichen von "Bürgerlichkeit". Für die Diskussion möchte ich zusätzlich noch acht speziellere Aspekte anreißen, teils ergänzend, teils modifizierend, jedenfalls unvollständig und unsystematisch: 1. Voraussetzung jeder Bewertung des ökonomischen Modernisierungsprozesses sind genauere Angaben über den jeweiligen Grad kapitalistischer Wirtschaftsweise und deren Auswirkungen, und zwar nicht nur im Makrobereich, sondern vor allem im Mikrobereich. Wenn man zwischen mehr vorkapitalistisch und traditional geprägter Wirtschaftsweise (Idealtyp: konsumierender Junker) und einer moderneren kapitalistischen Wirtschaftsweise (Idealtyp: rechnender und investierender Agrarbourgeois) unterscheiden bzw. die Mischungsverhältnisse beider feststellen will, muß man im Grunde immer in die Betriebsrechnungen gehen und nach den Daten der Kapitalisierung, der Spezialisierung der Produktion, der Intensivierung des Absatzes, der Marktintegration (Autarkie vs. Marktbezug, auch unter Berücksichtigung der Nebengewerbe) und den Arbeitsverhältnissen fragen. Für einen einigermaßen repräsentativen Überblick müßten hier allerdings noch wesentlich mehr Fälle im einzelnen untersucht werden, als bisher, auch dank der Forschungen der Kollegen in der DDR, untersucht worden sind. 2. Darüber hinaus wäre in systematischer Weise nach den Institutionen und den institutionellen Rahmendaten zu fragen. Die liberalen Agrarreformen, Regulierungen und Ablösungen spielen hier ebenso eine Rolle wie das Erbrecht, die Besitz- und Eigentumsverhältnisse, die Rahmendaten für Interessenwahrung, Zölle, Protektionismus, die Vertretungsregelung für die Erste Kammer, die Beziehungen zu den Behörden, die Sonderstellung der Domänen (vgl. den Fall Neuholland im Beitrag von Hämisch), die Sicherung der Fideikommisse, die obrigkeitlichen und Verwaltungsfunktionen und institutionellen Privilegien der Gutsbesitzer. Die Gesamtkonstellation dieser Faktoren ist jeweils konstitutiv für das (hier wesentlich thematisierte) Syndrom der "Modernisierung von oben". 3. Des weiteren ließe sich systematisch nach den Dimensionen und Eigenarten der Kommunikation und der Austauschbeziehungen zwischen städtischen und ländlichen Bereichen fragen. Hier spielt die Entwicklung des Eisenbahnbaus und anderer Verkehrswege eine wichtige Rolle, desgleichen die Nähe einer dörflichen Siedlung zur nächsten Stadt und den Märkten, der Grad der Marktintegration, aber auch der Grad des relativen Wohlstands der Bauern in den Dörfern (um sich weitergehende Kommunikation leisten zu können). Vielleicht könnte man versuchen, hier unter Einbezug auch der jeweiligen Milieus, ihrer Bedingungsfaktoren und der jeweils gepflegten politischen Kultur, in stärker typologischer Weise regionale Eigenarten herauszuarbeiten (Nord/Süd- oder Ost/West-Gefälle).

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4. Besondere Sorgfalt erfordert die Analyse der Verschiebung im sozialen Status und der sozialen Mobilität. Hier kommt es nicht nur darauf an, irgendeinen Stellenwert auf einer bestimmten Schichtungsskala zu finden, sondern vor allem darauf, die Zusammenhänge und Interaktionen angemessen zu werten. Dies betrifft Übergänge sowohl im oberen (verbürgerlichte Junker) wie im unteren (Proletarisierung) Bereich der Schichtungsskala. Hier ließe sich auch noch trefflich um Begriffe streiten: Im Gegensatz zu Hämisch halte ich den Begriff der "ländlichen Mittelklassen" jedenfalls dann für unangemessen und irreführend, wenn damit agrarische Produzenten gemeint sind. Solange der Stadt-Land-Gegensatz eine wichtige soziale und kulturelle Trennlinie bildet, scheint mir der Begriff "Mittelklassen" mehr Einheit oder Einheitlichkeit zu suggerieren als real vorhanden ist (unbeschadet der möglichen Ähnlichkeit statistischer Daten). Außerdem wird regional zu differenzieren sein, und es werden die Dichte und Intensität der Nebengewerbe und die Mischungen von landwirtschaftlichen und außerlandwirtschaftlichen Einkommen besonders zu berücksichtigen sein (z.B. Ziegeleien, Brennereien, Brauereien, Zuckerfabriken, Dünger- und Landmaschinenhandel, Viehhandel, dörfliches Handwerk, weitere ländliche Dienstleistungen). 5. Hinsichtlich des Bereichs der Kultur und des Lebensstils und des Eindringens städtischer Normen und Verhaltensweisen in die Dörfer wäre zu fragen, ob das, was die Bauern und Dörfler aus den städtischen Zentren rezipieren, besonders "bürgerlich" ist oder nicht. Sicherlich werden die Bauern, solange sie nicht aufsteigen und in die Städte ziehen, keine Bürger; aber es bleibt die Frage, wieviel Bürgerliches (in welchem Sinne?) sie rezipieren können. 6. Weitere intensive Fragen und Diskussionen würde m.E. auch der Umstand verdienen, daß es neben Prozessen von "Verbürgerlichung" oder "Verstädterung" auch noch breitere Homogenisierungsprozesse der Vereinheitlichung oder der "Nationalisierung" gibt, wie sie insbesondere Eugen Weber 1 im westeuropäischen Kontext dargestellt hat, ein Ansatz, der merkwürdigerweise in der Diskussion der mittel- und osteuropäischen Fälle bislang kaum eine Rolle gespielt hat, obwohl er sich sicherlich lohnt. Nach Weber folgt in Frankreich im 19. Jh. der ökonomischen Integration ein Prozeß kultureller Homogenisierung, in dem sich unterschiedliche Regionen und Landschaften immer ähnlicher werden und die alte Dichotomie von Hochkultur und Volkskultur am Ende verschwindet. Dieser Prozeß ist eng verbunden mit der Zunahme organisierter Politik und dem Ausbau der Verkehrsbeziehungen. In unserem Kontext wären insbesondere zwei Fragen eine weitere Diskussion wert: Zum einen die Frage, ob der fragliche Homogenisierungsprozeß auch ein Muster der Ausweitung der Hegemonie bürgerlicher Kultur aufs Land darstellt. Zum anderen ist der Homogenisierungsprozeß in Frankreich inhaltlich vor allem charakterisiert durch "Verstaatsbürgerlichung" (im Sinne von citoyen),

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einen Faktor, der in Deutschland und Ostmitteleuropa nicht dieselbe Rolle spielen kann. Welche Inhalte ersetzen ihn also? 7. Ein weiterer Faktor von Modernisierung und potentieller Verbürgerlichung kann die Zunahme von Assoziationen, Organisationen und organisierter Politik sein. Aber auch hier tut man sicher gut daran, nicht nur quantitativ die Zunahme von Zeitungen, Versammlungen, Agitatoren, Vereinen, Genossenschaften usw. zu überprüfen (so sehr gerade letztere einen verstärkten Bezug auf das städtische Geschäftsleben mit sich bringen mögen), sondern vor allem auch in einem breiteren politischen und kulturellen Kontext danach zu fragen, wie bürgerlich denn diese lokale assoziative Kultur oder Subkultur im einzelnen ist, wer sie dominiert (vielfach der Adel), wie sich in den organisatorischen Netzwerken Mobilisierung von unten zu Manipulation von oben verhält, wer am Ende die Macht hat, wer organisiert und die Richtung bestimmt (in Deutschland in der Regel die großen Produzenten und die Agrarkonservativen). Trotz mancher minoritärer Ansätze eines verstärkt kleinbürgerlichen agrarischen "Populismus" (vor allem im Vereinskatholizismus) ist die beherrschende Richtung des deutschen Agrarkonservatismus (auf dem Hintergrund der deutschen Agrarromantik) insgesamt nicht nur nicht bürgerlich gewesen, sondern ausgesprochen antibürgerlich, antiurban, antiliberal, antikapitalistisch und nicht zuletzt antisemitisch, partiell auch gegen den Staat und gegen die Bürokraten eingestellt. Eine bürgerliche Phase und bürgerliche Werte werden gewissermaßen übersprungen im Übergang von altständischen zu berufsständisch/mittelständischen und völkisch-präfaschistischen Orientierungen. In diesem Kontext blieben mangels einer "politischen Bauernbefreiung" ( H e f f t e r ) die Bauern wesentlich Objekte der Massenmobilisierung gegen die Linke

(Hämisch),

und die ländlichen "Mittelschichten" hatten, von wenigen regionalen Ausnahmen abgesehen, keine Partizipationschancen. Einen starken "bürgerlichen" Charakter konnte die Politik auf dem Land nur dort gewinnen, wo sie nicht oder wenigstens nicht überwiegend agrarkonservativ war. 8. Es wäre vielleicht auch sinnvoll, im Vergleich noch genauer nach den wichtigsten Periodisierungseinschnitten zu fragen. Für den mitteleuropäischen Bereich zeichnen sich dafür im Ganzen die folgenden Punkte ab: Die liberalen Agrarreformen im ersten Drittel des 19. Jh.; die Industrialisierung und dann die Wirtschaftskrise im letzten Viertel des 19. Jh.; der Durchbruch des politischen Massenmarkts und stärker organisierter Politik nach 1890 und schließlich der weitere Bereich des 20. Jh. Eine "Verbürgerlichung" des Dorfes brachte wesentlich eine Erweiterung des Bestehenden und berufliche Differenzierung sowie mehr Homogenisierung auf nationaler oder gar europäischer Ebene. Die Verbürgerlichung der Bauern blieb wohl eher eine seltene Ausnahme, die dort, wo sie stattfand, partiell blieb und von besonders charakterisierten Gruppen getragen wurde. Der Gesamtprozeß kommt im 19. Jh. keineswegs zum Abschluß, sondern reicht noch sehr weit

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ins 20. Jh. hinein. Die "Entbäuerlichung" der Bauern (Achilles) war wesentlich ein Prozeß der Vereinheitlichung, der Integration, der Homogenisierung, aber wohl kaum ein Prozeß der Verbürgerlichung in einem konkreten Sinne unseres Verständnisses.

Anmerkungen 1

Weber, E., Peasants into Frenchmen. The Modernization of Rural France, 1870-1914, Stanford 1976.

Au to ren verzeich n is

Achilles, Werner, Prof.Dr., Universität Göttingen, Fachbereich Agrarwissenschaften Clemmensen, Niels, Dr., Universität Kopenhagen, Historisches Institut Harnisch, Hartmut, Dr.sc., Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin, Institut für Wirtschaftsgeschichte Hoffmann, Tamas, Dr., Ethnographisches Museum, Budapest Hroch, Miroslav, Prof.Dr., Universität Prag, Institut für allgemeine Geschichte Jacobeit, Wolfgang, Prof. em. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Bereich Ethnographie Jansson, Torkel, Dr., Universität Uppsala, Historisches Institut Kaschuba, Wolfgang, PD Dr., Universität Tübingen, Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaft Kochanowicz, Jacek, Prof.Dr., Universität Warschau, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften Liljewall, Britt, Dr., Universität Göteborg, Historisches Institut Millón, Jesús, Dr., Universität Valencia, Fakultät für Geographie und Geschichte Mooser, Josef, Prof.Dr., Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie (z.Zt. Universität Trier) Müller, Hans-Heinrich, Dr.habil., Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin, Institut für Wirtschaftsgeschichte Ottenjann, Helmut, Prof.Dr., Niedersächsisches Freilichtmuseum, Cloppenburg Plaul, Hainer, Dr.sc., Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin, Zentralinstitut für Geschichte Puhle, Hans-Jürgen, Prof.Dr., Johann-Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M., Fachbereich Gesellschaftwissenschaften Räch, Hans-Jürgen, Dr., Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin, Zentralinstitut für Geschichte Richarz, Monika, Dr., Germania Judaica, Köln Ruppert, Wolfgang, Prof.Dr., Hochschule für bildende Künste, Berlin Siegrist, Hannes, Dr., Universität Bielefeld, Fakultät für Geschictswissenschaft u. Philosophie Sievers, Kai Detlev, Prof.Dr., Universität Kiel, Seminar für Volkskunde Sträth, Bo, Dr., Universität Göteborg, Historisches Institut Strods, Heinrichs, Prof.Dr., Universität Riga, Institut für Geschichte Vúri, András, Dr., Universität Budapest, Fachbereich Wirtschaftsgeschichte

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„Idylle oder Aufbruch?" sind die Eckpunkte einer Fragestellung nach dem Verhalten des Dorfes und seiner differenzierten Bevölkerung auf die bürgerlich-kapitalistischen Einflüsse im 19./20. Jahrhundert. Die Antwort darauf ist vielfältig und wird nicht zuletzt bestimmt durch die unterschiedlichen nationalen Bedingungen Europas, unter denen sich der Prozeß zur „Bürgerlichkeit" vollzieht. Ländliche „Idyllen" sind dabei in erster Linie realitätsfremde bürgerliche Wunschbilder; sie dienen der Verbreitung populistischer Vorstellungen zur Bewahrung traditioneller „Volkskultur" bäuerlichen Charakters. „Aufbruch" heißt hier Durchsetzung des ökonomischen Progress' mit soziokulturellen Konsequenzen, bedeutet aber ebenso sozialer Konflikt, Widerstand und soziokulturelle Kontinuität - insgesamt Ausdruck des bürgerlich-kapitalistischen Entwicklungsprozesses in Europa, dessen Erforschung durch die Beiträge dieses Bandes eine hermeneutische Bereicherung erfährt.

Umschlagbild: Aufbruch zum Hochzeitstanz (Ausschnitt) Quelle: Die Gartenlaube Nr. 32/1882

ISBN 3-05-001087-8