Finanzbewusste Verhältnismäßigkeitsdogmatiken: Ein Beitrag zu der Frage des für den Einzelnen milderen, aber für den Staat kostspieligeren Alternativmittels [1 ed.] 9783428580774, 9783428180776

Die Studie ist einem Ausschnitt aus der Dogmatik des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gewidmet. Ge

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German Pages 164 [165] Year 2020

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Finanzbewusste Verhältnismäßigkeitsdogmatiken: Ein Beitrag zu der Frage des für den Einzelnen milderen, aber für den Staat kostspieligeren Alternativmittels [1 ed.]
 9783428580774, 9783428180776

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1434

Finanzbewusste Verhältnismäßigkeitsdogmatiken Ein Beitrag zu der Frage des für den Einzelnen milderen, aber für den Staat kostspieligeren Alternativmittels Von E. Malte N. Reifegerste Lucas Pentschew Simon Kempny

Duncker & Humblot · Berlin

E. MALTE N. REIFEGERSTE / LUCAS PENTSCHEW / SIMON KEMPNY

Finanzbewusste Verhältnismäßigkeitsdogmatiken

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1434

Finanzbewusste Verhältnismäßigkeitsdogmatiken Ein Beitrag zu der Frage des für den Einzelnen milderen, aber für den Staat kostspieligeren Alternativmittels

Von E. Malte N. Reifegerste Lucas Pentschew Simon Kempny

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-18077-6 (Print) ISBN 978-3-428-58077-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Abhandlung ist einem Ausschnitt aus der Dogmatik des wohl als allgemein anerkannt zu bezeichnenden verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gewidmet. Es geht um die Frage, inwieweit es auf das Ergebnis einer Prüfung anhand der aus jenem Grundsatz abgeleiteten Anforderungen Einfluss habe, dass zu einer gewählten staatlichen Maßnahme zwar eine, in der herkömmlichen Begrifflichkeit ausgedrückt, gleich wirksame, mildere Alternative bestehe, diese aber für den Staat teurer sei. Die Idee zu der Abhandlung geht auf einen Gedanken zurück, der Simon Kempny in seiner Habilitandenzeit morgens auf dem Weg zur Arbeit im Kölner Universitätshauptgebäude kam. Auslöser war die Schaltung einer (sowohl für Kraftfahrzeugführer als) auch für Radfahrer geltenden Lichtzeichenanlage auf der Universitätsstraße gegenüber der Einmündung der Berrenrather Straße, derentwegen der Radfahrer Kempny häufig, vom Standpunkt der Verkehrssicherheit aus besehen, „unnötig lange“ warten musste – eine eigene Radfahrerampel deuchte wohl zu kostspielig. Auf seine Anregung hin nahmen Malte Reifegerste und Lucas Pentschew, wissenschaftlicher Mitarbeiter beziehungsweise studentische Hilfskraft an seinem Bielefelder Lehrstuhl, sich der Frage federführend an und trugen, zweier eingehender Zwischenerörterungen ungeachtet, die Hauptlast der Recherche wie der Erstformulierung. In mehreren Überarbeitungsschleifen und Besprechungsrunden entstand dann bis März 2020 der gemeinschaftlich zu verantwortende Text. Angesichts der zwischenzeitlich ausgebrochenen SARS-CoV-2-Pandemie („COVID-19“), welche einigen in der schon zum Verlag gegebenen Abhandlung entwickelten Gedanken unerwartete Aktualität beschert hatte, entschlossen wir uns zu einem kurzfristigen Nachtrag, wofür Malte Reifegerste den Entwurf verfasste. Dank gebührt zahlreichen ehemaligen und gegenwärtigen Mitarbeitern und Hilfskräften des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Steuerrecht der Universität Bielefeld, insbesondere Frau stud. iur. Jessica Kolipost, für tatkräftige Mithilfe sowie dem Ostwestfälisch-Lippischen Steuerkreis e. V.  für die großzügige Übernahme des aufzubringenden Druckkostenzuschusses. Bielefeld, Anfang Mai 2020

E. Malte N. Reifegerste Lucas Pentschew Simon Kempny

Inhalt A. Freiheitsschutz unter Kostenvorbehalt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 B. Fundierung der Beachtlichkeit finanzieller Mehrbelastungen im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Freiheitsaktualisierungsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Entlastung der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Parlamentarische Haushaltsautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kostenvermeidungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Beispielsfall – Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Ansätze im Einzelnen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verbale Erweiterung der Erforderlichkeitsdefinition . . . . . . . . . . . . . . . a) Das „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ . . . aa) Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Legitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Angemessenheit, Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die neue Paarformel und ihr Verhältnis zu dem „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare[n] Maß“ . . . . . . . . . . . . . . . aa) Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Legitimer Zweck, Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Angemessenheit, Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vermischung beider Linien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Legitimer Zweck, Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Angemessenheit, Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zur Rechtsprechungslinie des „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare[n] Maß[es]“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Undurchsichtiger Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 16 21 23 32 39 40 40 42 43 43 46 47 47 47 47 52 53 58 58 58 59 59 59 60 61 61 61 62 62 62 62

8 Inhalt (2) Literaturinterpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 bb) Zur Genese der Paarformel und ihrer Synthese mit dem „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare[n] Maß“ . 63 cc) Die dogmatische Anknüpfung und Scheidung von Dritt- und Allgemeinheitsbelastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2. Kosten-Nutzen-Abwägung in der Erforderlichkeitsprüfung . . . . . . . . . 77 a) Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 b) Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 aa) Legitimer Zweck, Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 bb) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 cc) Angemessenheit, Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 c) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 aa) Vorteil: Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 bb) Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 (1) Der Entschädigungsgedanke und das Fehlen eines allgemeinen Maßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 (2) Unvollständigkeit des Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 (3) Keine (bloße) Evidenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 (4) Keine konsensfähigen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3. Inzidente Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Erforderlichkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 a) Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 b) Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 aa) Legitimer Zweck, Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 bb) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 cc) Angemessenheit, Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 c) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 aa) Vorteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 (1) Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 (2) Evidenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 bb) Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 (1) Keine konsensfähigen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 (2) Unklare Aufspaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4. Finanzwirksames gerichtliches Instrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Inhalt der Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 aa) Ebene der Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 bb) Ebene der Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 b) Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 c) Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 aa) Legitimer Zweck, Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 bb) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 cc) Angemessenheit, Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

Inhalt9 d) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 aa) Vorteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 (1) Rationalität der Erforderlichkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . 103 (2) Berücksichtigung der Haushaltsautonomie . . . . . . . . . . . . 103 bb) Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 (1) Rechtsprechung als Maßstab und Quelle . . . . . . . . . . . . . . 104 (2) „Ersatzgesetzgeber“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 (3) Fachgerichtlicher Umgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (4) Schonung gesetzgeberischer (Haushalts-)Spielräume? . . . 107 (5) Je nach Konstellation unzureichender Grundrechtsschutz durch Rechtsstillstand? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 (6) Entscheidende Wertungsentscheidung des Gesetzgebers unhinterfragt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 IV. Raum für Weiterentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 I. Der verschwiegene legitime Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 II. Konsequenz für die Zweck-Mittel-Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 III. Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Legitimer Zweck, Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Erforderlichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3. Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 IV. Nachtrag: Weitere beispielhafte Betrachtung aus aktuellem Anlass . . . . . 137 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Legitimer Zweck, Geeignetheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Erforderlichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4. Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 a) Bewertung des Ansteckungsvermeidungszwecks . . . . . . . . . . . . . . 150 b) Bewertung des Kostenvermeidungszwecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 c) Gegenüberstellung des jeweiligen Zwecks mit der auf ihn entfallenden Freiheitsbeschränkung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Schrifttumsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

A. Freiheitsschutz unter Kostenvorbehalt? „Freiheit geht vor Gold, Sprach die Wachtel und flog ins Holz.“1

Zum gefestigten Bestand, geradezu zum Kern der öffentlichrechtlichen Lehre gehört der Satz, dass ein Akt der öffentlichen Gewalt2 zur Erreichung eines legitimen Zwecks3 dann erforderlich sei, wenn der Zweck „nicht durch ein gleich wirksames, aber weniger belastendes Mittel erreichbar“4 sei.5 1  Deutsches Sprichwort. Zitiert nach K. Simrock, Die deutschen Volksbücher. Gesammelt und in ihrer ursprünglichen Echtheit wiederhergestellt. Fünfter Band. Deutsche Sprichwörter, 1846, S. 122 Nr. 2649. 2  Untersuchungsgegenstand sind (bis auf wenige Ausnahmen) nur Parlamentsgesetze (vornehmlich des Bundes). Angesichts der alleinigen Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts bezüglich solcher Gesetze (hierzu J. Wieland, in: Horst Dreier [Hrsg.], Grundgesetz. Kommentar, Band III, 3. Auflage, 2018, Art. 100 Rn. 11, 17) wird ausschließlich von ihm als Kontrolleur die Rede sein (bei untergesetzlichen Normen wären andere Kontrolleure denkbar). 3  Der Begriff des Zwecks ist in diesem Zusammenhang (definitorisch, kriteriologisch und diagnostisch) voraussetzungsvoll, wird hier aber angesichts seiner Verbreitung im einschlägigen Diskurs schon um der Anschlussfähigkeit willen verwandt. 4  Th. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 34. Auflage, 2018, Rn. 336. 5  Die für diesen Aufsatz wesentlichen (unwesentlich ist beispielsweise die Herleitung des Verhältnismäßigkeitsprinzips [dazu überblickshaft mit Nachweisen Ph. Reimer, Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht, ein heterogenes Konzept, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius , Verhältnismäßigkeit. Zur Tragfähigkeit eines verfassungsrechtlichen Schlüsselkonzepts, 2015, S. 60 ] sowie der Gestaltungsund Einschätzungsspielraum seitens des Gesetzgebers hinsichtlich der Eignung [und mitunter sogar der Angemessenheit] eines Mittels [hierzu statt vieler M. Sachs, in: Michael Sachs , Grundgesetz. Kommentar, 8. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 151– 152, 155; kritisch bezüglich der Ebene der Erforderlichkeit F. Hufen, Staatsrecht II, Grundrechte, 7. Auflage, 2018, § 9 Rn. 21] – wenn es darauf ankommt, ist die gesetzgeberische Prognose im Rahmen dieser Abhandlung als vollkommen unvertretbar, das gewählte Mittel als eindeutig ungeeignet, ein Alternativmittel als offensichtlich gleich geeignet anzusehen und so fort) Aspekte der Verhältnismäßigkeitsdoktrin (hierzu eine kritische Zusammenfassung von Ph. Reimer, Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht, ein heterogenes Konzept, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius [Hrsg.], Verhältnismäßigkeit. Zur Tragfähigkeit eines verfassungsrechtlichen Schlüsselkonzepts, 2015, S. 60 [63–75], der in ihnen „eine Reihe heterogener Teilanforderungen“ [S. 62] erblickt und insbesondere die Prüfung des legitimen Zwecks und der Geeignetheit im Rahmen der Verhältnismäßigkeit entbehrlich findet; die Einwände erscheinen nicht unbeachtlich, die Begriffe dienen hier indes vor allem als Diskussionsfolien]) sollen an dieser Stelle knapp dargestellt werden: Erster Schritt der Prüfung der Verhältnis-

12

A. Freiheitsschutz unter Kostenvorbehalt?

Diese Abhandlung untersucht, ob mit jener Definition die verfassungsrechtlich gebotene Schärfe des „Schwertes Erforderlichkeit“ erreicht wird, oder ob es erneut an den Schleifstein muss. Anlass zu dieser Frage geben Konstellationen, in denen ein Zweck durch ein gleich wirksames, für Grundrechtsberechtigte milderes, aber für den Staat teureres Alternativmittel gefördert werden könnte. Das Bundesverfassungsgericht erteilt dabei aus verschiedenen Gründen teureren Alternativen eine Absage. Teilweise führt es wie selbstverständlich im Rahmen der Erforderlichkeit eines Mittels eine Zumutbarkeitsgrenze ein – anders als die Zumutbarkeit6, welche die letzte Stufe der Verhältnismäßigkeit bildet, ist diese allerdings gerichtet auf die Zumutbarkeit eines Alternativmittels für den Staat.7 mäßigkeit eines freiheitsbeschränkenden Mittels ist die Benennung aller Zwecke („Haupt-“ und „Nebenzwecke“, soweit diese überhaupt unterschieden werden können), die mit dem Mittel verfolgt werden sollen, und die Überprüfung der verfassungsrechtlichen Legitimität dieser Zwecke. In einem zweiten Schritt ist zu fragen, ob das gewählte Mittel zur Erreichung der Zwecke geeignet ist. Falls das Mittel hinsichtlich eines der verfolgten Zwecke ungeeignet ist, also die Erreichung in keiner Hinsicht wahrscheinlicher macht, bleibt dieser Zweck im weiteren Verlauf der Verhältnismäßigkeitsprüfung außer Betracht; wenn ein Ziel durch das gewählte Mittel nicht erreicht werden kann, dann kann jenes Ziel das Mittel auch nicht rechtfertigen. Das gewählte Mittel ist aber nur in Gänze ungeeignet, wenn es hinsichtlich der Erreichung eines jeden Zwecks ungeeignet ist. Solange es zur Erreichung eines Zwecks geeignet ist, wird an dieser Stelle keine Unverhältnismäßigkeit konstatiert. In einem dritten Schritt wird die Erforderlichkeit des gewählten Mittels untersucht. Das gewählte Mittel ist nicht erforderlich, wenn es ein alternatives Mittel gibt, welches die Erreichung der Zwecke (mindestens) ebenso effektiv förderte und gleichzeitig milder für die Grundrechtsberechtigten wäre (kurzum: wenn das Alternativmittel freiheitseffizienter ist [zu verschiedenen Effizienzen noch Abschnitt D.]). Auch hier gilt, dass das gewählte Mittel nur dann nicht erforderlich ist, wenn ein Alternativmittel alle verfolgten Zwecke gleich effektiv förderte und zugleich milder wäre. Im vierten und letzten Schritt, der Angemessenheit (siehe zur Begrifflichkeit Fn. 6), ist die ZweckMittel-Relation in den Blick zu nehmen. Grundsätzlich werden dabei die Förderung der (verbliebenen) Zwecke sowie die tangierten Interessen bewertet, um anschließend eine (Wertungs-)Entscheidung zu treffen, ob die Freiheitseinschränkung angesichts der Zweckförderung noch das zu tolerierende Maß wahrt oder eben nicht (siehe statt vieler L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 6. Auflage, 2017, Rn. 611–626). 6  Für das Anliegen dieser Untersuchung synonym: Proportionalität, Angemessenheit, Zumutbarkeit, Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne und Übermaßverbot (Nachweise bei H. Jarass, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth [Hrsg.], Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 15. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 120). Im Folgenden: Angemessenheit. 7  So könne insbesondere die Aufstockung von Mitteln zur Kontrolle, ob ein Gesetz eingehalten werde, unzumutbar sein, weswegen eine Alternative dann nicht gleichwertig sei, BVerfG, Beschl. v. 6.10.1987, 1 BvR 1086, 1468, 1623/82, BVerfGE 77, 84 (110–111) – Arbeitnehmerüberlassung; BVerfG, Beschl. v. 14.11.1989, 1 BvL 14/85, 1 BvR 1276/84, BVerfGE 81, 70 (91) – Rückkehrgebot; H. Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band II, 3. Auflage, 2015, Art. 20



A. Freiheitsschutz unter Kostenvorbehalt?13

Ist für diese Zumutbarkeit neben der Gleichgeeignetheit überhaupt Raum? Erodiert damit nicht der Freiheitsschutz, den die Erforderlichkeit eigentlich sicherstellen soll? Das Bundesverfassungsgericht erwähnt, in dialektischer Perfektion, den Gegenpol, unmittelbar bevor es die Zumutbarkeit für den Staat erstmals nennt, indem es klarstellt, dass „Grundrechte nicht nur nach Maßgabe dessen bestehen, was an Verwaltungseinrichtungen vorhanden ist“8. In ähnlich gelagerten Fällen stellte das Gericht den noch rigideren Grundsatz auf, dass Alternativmittel dann nicht zu einer Nichterforderlichkeit des gewählten Mittels führten, selbst wenn sie gleich effektiv und zugleich milder seien, falls sie eine größere Belastung für Dritte oder die Allgemeinheit bedeuteten – und findet damit viele Anhänger.9 Die Relevanz der Drittbelastung10 soll dabei vordergründig sicherstellen, dass die Verfassungsmäßigkeit einer gewählten Maßnahme nicht aus dem Grund in Zweifel gezogen werden kann, dass eine Belastungsverschiebung möglich ist. Der Ausschluss von die Allgemeinheit stärker belastenden Alternativmitteln sorgt, oberflächlich betrachtet, dafür, dass sich der Staat nicht auf ein Mittel verweisen lassen muss, wenn es zwar freiheitsschonender, aber teurer als das gewählte Mittel wäre. Manche mag dieser Gedanke erschrecken; ein Grundrechtsberechtigter soll ein Mehr an Freiheitseinbuße dulden,11 nur damit ein Grundrechtsverpflichteter Geld spare? Mit diesem Beitrag wird ein Versuch unternommen, Legitimität, verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt und Stellenwert des staat­ lichen Anliegens, Kosten zu vermeiden, herauszuarbeiten (Abschnitt B.). Im weiteren Verlauf werden verschiedene – nicht vom Ergebnis aus Abschnitt B. abhängige – verhältnismäßigkeitsdogmatische Lösungsansätze genauer zergliedert, namentlich um das Verhältnis der beiden genannten Rechtsprechungslinien zu erhellen (Abschnitt C.). Die gewonnenen Erkenntnisse sollen in erster Linie dafür genutzt werden, für eine stringentere Dogmatisierung zu sorgen, damit die entscheidende Wertungsfrage überhaupt gestellt und offengelegt werde (Abschnitt D.). (Rechtsstaat) Rn. 183, spricht von einer „unvertretbar höheren finanziellen Belastung“. Mit der Gleichwertigkeit meint das Bundesverfassungsgericht wohl die Gleichgeeignetheit der Alternative (so interpretiert es auch B. Grzeszick, in: Theodor Maunz/ Günter Dürig [Begr.], Grundgesetz. Kommentar, Stand der Bearbeitung: 48. Ergänzungslieferung, November 2006, Art. 20 VII Rn. 114). 8  BVerfG, Beschl v. 6.10.1987, 1 BvR 1086, 1468, 1623/82, BVerfGE 77, 84 (110) – Arbeitnehmerüberlassung. 9  Siehe Abschnitt C. II. 1. b). 10  Im Kontext der „Gleichwertigkeit“ von Alternativmitteln ohne Begründung V. Epping, Grundrechte, 8. Auflage, 2019, Rn. 55–56. 11  Es wird bewusst auf Formulierungen wie „notwendiges“ oder gar „erforder­ liches“ Maß verzichtet. Ob dieses gewahrt ist, findet man mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung gerade heraus.

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A. Freiheitsschutz unter Kostenvorbehalt?

Das schillernde Verhältnis von „Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie“ ist in der für die Kostenseite der Freiheitsrechtsdogmatik grundlegenden Schrift von Th. Wischmeyer ausgeleuchtet worden.12 Die Berücksichtigung von „Kostenfaktoren“ speziell im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hat auch anderenorts verstärkte Aufmerksamkeit erfahren.13 Nur dies ist Gegenstand dieser Abhandlung, wobei besonderes Augenmerk auf die praktische Prüfungstauglichkeit der Konstruktionen gelegt wird – die Tragfähigkeit von verfassungsrechtlichen Modellen zeigt sich häufig erst mit der Operationalisierbarkeit im Kleinen, bei der Arbeit am Fall. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen dabei Konstellationen, bei denen ein Grundrecht (primär) die Rechtsfolge auslösen würde, dass nicht gerechtfertigte (also auch: nicht verhältnismäßige) Eingriffe darein vom Grundrechtsverpflichteten zu unterlassen wären.14

12  So der Untertitel des wegweisenden Werkes Th.  Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015. 13  Neben Th.  Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 19–29, 47, 52–65, sei noch auf L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 119–134, und R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 51–75, verwiesen. 14  Mag die Unterscheidung zwischen „Leistungsrechten“ und „Abwehrrechten“ im hiesigen Kontext aus dem Grunde, dass beide finanzwirksam sein können (dazu Th.  Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 4–5, 40–44, der dabei allerdings normstrukturell vielleicht etwas daneben greift, indem er beispielsweise schreibt, es „folgen anerkanntermaßen auch auf Tatbestandsebene aus Abwehrrechten ‚originäre‘ Leistungspflichten, da jedenfalls finanzwirksame Beseitigungsansprüche von der abwehrrechtlichen Garantie umfasst sein sollen.“ [S. 42, Nachweise weggelassen]. Schon dass auf Tatbestandsebene irgendetwas folgen solle, scheint auf einer Fehlkonstruktion zu beruhen. Der Tatbestand normiert die Voraussetzungen für eine Rechtsfolge. Bei den angesprochenen Beseitigungsansprüchen scheint es sich eher um eine sekundäre Rechtsfolge zu handeln, die als Tatbestandsvoraussetzung einen vollführten, nicht gerechtfertigten Grundrechtseingriff hat, vgl. M. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 3. Auflage, 2018, S. 242, sowie S. Kempny, Mittelbare Rechtssatzverfassungsbeschwerde und unmittelbare Grundrechtsverletzung. Verfassungsprozessuale und grundrechtsdogmatische Überlegungen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 53 [2014], S. 577 [600–601]), auch (hier) verzichtbar sein, sind es doch die genannten Situationen, welche die herkömmliche Verhältnismäßigkeitsdogmatik am ehesten auf den Prüfstand stellen.

B. Fundierung der Beachtlichkeit finanzieller Mehrbelastungen im Grundgesetz „Geld Behält das Feld, Spielt den Meister in der Welt.“15

Wenn staatlicherseits anfallende Mehrkosten im Rahmen der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden sollen, muss die Vermeidung dieser Kosten Rechtswert haben. Das Bundesverfassungsgericht begnügt sich, sollte es sich überhaupt bemüßigt fühlen, bei der Absage an freiheitsschonendere, aber teurere Alternativmittel eine Begründung zu liefern, mit der Feststellung, dass die Verwendung „von nur begrenzt verfügbaren öffentlichen Mittel[n]“ ein „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare[s] Maß“ habe und jeder darüber hinausgehende Mitteleinsatz vom Gesetzgeber als unzumutbar angesehen werden dürfe.16 Eine Anknüpfung an tradierte Größen der Verhältnismäßigkeitsprüfung unterbleibt genauso wie eine rechtliche Verankerung der offenkundig angenommenen Schutzwürdigkeit der „öffentlichen Mittel“.17 Dieses Vakuum wurde (nur) in der Literatur mit verschiedenen verfassungsdogmatischen Lösungsvorschlägen gefüllt. Im Folgenden sollen die verschiedenen Begründungen dafür dargestellt werden, dass die Vermeidung von Mehrkosten überhaupt rechtlichen Wert habe. Nur wenn dies der Fall ist, ist es verfassungsrechtlich zulässig, Grundrechtsberechtigten (intensivere) Freiheitseingriffe zuzumuten, um zusätz­ lichen finanziellen Aufwand zu vermeiden. 15  Deutsches Sprichwort. Zitiert nach K. Simrock, Die deutschen Volksbücher. Gesammelt und in ihrer ursprünglichen Echtheit wiederhergestellt. Fünfter Band. Deutsche Sprichwörter, 1846, S. 149 Nr. 3237. 16  Ausgangspunkt war die Entscheidung BVerfG, Beschl. v. 6.10.1987, 1 BvR 1086, 1468, 1623/82, BVerfGE 77, 84 (110–111) – Arbeitnehmerüberlassung. Laut Th.  Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 58 Fn. 208, bringt BVerfG, Beschl. v. 30.3.1993, 1 BvR 1045/89, 1 BvR 1381/90, 1 BvL 11/90, BVerfGE 88, 145 (164) – Konkursverwalter, wo es heißt: „Eine Übernahme der Verfahrenskosten durch die Staatskasse würde die Lasten nicht mindern, sondern nur umverteilen und ist deshalb bei der Frage der Erforderlichkeit nicht zu berücksichtigen“, auf den Punkt, was mit der Zumutbarkeitsgrenze gemeint sei. Dies kann aber überhaupt nur dann tragen, wenn die Belastung des Einzelnen eine genuine Kostenbelastung ist. 17  Ausführlicher Abschnitt C. II. 1. a).

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B. Fundierung der Beachtlichkeit finanzieller Mehrbelastungen

I. Freiheitsaktualisierungsvoraussetzung Eine Autorin, die der Frage nachgegangen ist, ob die Schonung der staat­ lichen Finanzmittel einen Grundrechteingriff, ganz oder teilweise, rechtfertigen könne, ist L. Clérico.18 Aus ihren Ausführungen wird schnell deutlich, dass aus ihrer Sicht keine durchgreifenden Bedenken bestehen, eine Kosten­ ersparnis der Grundrechtsschonung entgegenzusetzen; es sei viel eher zu kurz gegriffen, die Kostenersparnis selbst ins Feld zu führen, wohinter doch die Ermöglichung „eines höheren Erfüllungsgrades von Grundrechten anderer Betroffener“ stecke.19 Wenn der Gesetzgeber „die Förderung der Sparsamkeit“ oder „die Vermeidung von Verwaltungsaufwand“ bezwecke, sei dies jedenfalls aus Respekt vor dem (sie meint: unmittelbar) demokratisch legitimierten Gesetzgeber bei der Auseinandersetzung mit dem milderen Mittel im Rahmen der Erforderlichkeit beachtlich.20 Eine eigenständige Begründung der Legitimität solcher Zwecke ist für L. Clérico (wohl) nicht notwendig, wenn der Gesetzgeber sie (eindeutig) verfolge. – Sofern die Finanzschonung „eine Beziehung“ zu (Neben-)Zwecken oder Grundrechten habe, sei sie als unbe­ absichtigte Nebenfolge kollisionsfähig21.22 Diese Beziehung wird folgendermaßen hergeleitet: Den Verwaltungsaufwand gering zu halten entspreche zunächst einem Allgemeinheitsinteresse, weswegen kein grundsätzlicher Vorbehalt, individuelle Betroffenheit bei einem Überwiegen des ersteren hintanstehen zu lassen, angezeigt sei.23 Für eine Anerkennung der Finanzmittelschonung als Rechtsprinzip spreche zuerst, dass mit Art. 114 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem Haushaltsrecht ein normativer Anknüpfungspunkt existiere.24 L. Clérico geht es allerdings nicht um die Herleitung der Kollisionsfähigkeit des Rechtsprinzips im Allgemeinen, „sondern in bezug auf die Begründung der Begrenzung von Grundrechten“.25 Dafür sei eine „selbständige“ (vom Grundgesetz losgelöste?) Fundierung vonnöten.26 Ihre Argumentation fußt sodann auf der (im Grundsatz nachvollziehbaren) Annahme, dass die Effektuierung von Freiheitsrechten von tatsächlichen Voraussetzungen abhänge.27 Zu 18  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 118–119, knüpft mit der Fragestellung explizit an R. Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 63, an. 19  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 119. 20  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 121. 21  Ein Interesse ist (nicht nur bei L. Clérico) kollisionsfähig, wenn es einem anderen Interesse entgegengesetzt werden kann; das heißt, die Förderung des einen kann eine Minderung des anderen rechtfertigen. 22  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 121–122. 23  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 123. 24  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 124. 25  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 124. 26  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 124.



I. Freiheitsaktualisierungsvoraussetzung17

solchen Voraussetzungen gehörten Fähigkeiten (die namentlich Kindern und Alten abgingen), materielle Bedingungen (welche Besitzlosen fehlten) und „die Sicherheit vor Eingriffen anderer“.28 Die Freiheitsausübungsvoraussetzungen für diese Personen zu schaffen koste etwas.29 Hierin sei nicht allein eine Leistung des Staates zu erblicken. „Denn eine etwas geringere Beeinträchtigung des Rechts auf allgemeine Handlungsfreiheit der ‚Steuerzahlerʻ, die die erforderlichen Fähigkeiten und materiellen Bedingungen zum Lebensunterhalt haben, könnte weniger Ressourcen zur Hilfe und Kompensation derjenigen, denen die erforderlichen Fähigkeiten fehlen, bedeuten.“30 So seien nicht lediglich die Steuerzahler, sondern auch die Personen, welche die Allgemeinheit bilden, an der Vermeidung von Verwaltungskosten interessiert.31 Des Weiteren werde mit der Anerkennung der Kollisionsfähigkeit vermieden, dass die Kosten der in Betracht gezogenen Mittel unausgesprochen in die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einfließen (Transparenzargument).32 Die Bedeutung des Prinzips der Finanzmittelschonung sei in der Regel gering zu bemessen, was der grundsätzlichen Kollisionsfähigkeit aber nicht widerspreche.33 Daraus folgt bei L. Clérico später, dass das hergeleitete Prinzip lediglich dann im Rahmen einer Abwägung berücksichtigt werde,34 wenn sein Gewicht im konkreten Fall schwerer als das des beeinträchtigten Grundrechts wiege.35 Für diesen „prima facie-Vorrang“ spreche, dass die indivi­ duelle Freiheit nicht gänzlich dem Haushaltsgesetzgeber36 anheimzustellen sei.37 Der Einzelne müsse „ernst genommen“ werden.38 27  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 124–125, liefert bewusst keine umfassende rechts- und politikphilosophische Darstellung und stützt ihre Begründung aus diesem Grund weitgehend auf einen Autor (Ernst Tugendhat). 28  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 125. 29  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 125. 30  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 125. 31  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 125. 32  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 126. 33  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 126. 34  Ohne näher auf die Prinzipientheorie einzugehen, sei an dieser Stelle nur bemerkt, dass das Ergebnis des Nicht-Überwiegens das Ergebnis einer Abwägung ist, was voraussetzt, dass das nicht überwiegende Prinzip bei einer Abwägung (anders als die Autorin behauptet) berücksichtigt wird. Zur Kritik an der Prinzipientheorie siehe nur R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte. Reflexive Regelung rechtlich geordneter Freiheit, 2003, S. 75–84. 35  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 130. 36  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 132, erkennt, nachdem sie eingangs ihrer Herleitung noch etwas stiefmütterlich mit ihnen umgegangen ist, dass Haushaltsfragen die „ ‚ureigenste Kompetenz des Parlamentsʻ“ tangieren. 37  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 131. 38  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 131.

18

B. Fundierung der Beachtlichkeit finanzieller Mehrbelastungen

Kritikwürdig ist zunächst L. Cléricos Transparenzargument, soweit es zur Begründung der Legitimität (bei L. Clérico „Kollisionsfähigkeit“)39 der Finanzmittelschonung herangezogen wird (obwohl es in ihrer Intention vollkommen unterstützungswürdig ist). Erstens begründet der Umstand allein, dass etwas tatsächlich in eine Abwägung einfließt, nicht die Legitimität des Einfließens. Ad absurdum geführt, müsste das Bundesverfassungsgericht nur lange genug diskriminierend gegenüber einer bestimmten Haarfarbe der Grundrechtsberechtigten Recht sprechen, bis dies anerkannt würde. Zweitens ist es auch L. Cléricos Befund, dass Kosten von der Verfassungsrechtsprechung stillschweigend mitabgewogen werden.40 Mit der Anerkennung der Beachtlichkeit von Kostenfaktoren verhindert man allerdings nicht, dass eine kostenbewusste Argumentation weiterhin unausgesprochen bleibt. Drittens verkennt L. Clérico, dass zwischen Offenlegung und „Kollisionsfähigkeit“ kein Zusammenhang besteht. Selbstverständlich wäre es vorteilhaft, wenn die Rechtsprechung stets die tragenden Erwägungen offenlegte, auch (oder in besonderem Maße!) dann, wenn sie sich von Interessen leiten ließe, die rechtlich nicht anerkannt sind; schließlich können nur offengelegte Erwägungen diskutiert werden. Transparenz hat daher einen Wert (nicht zuletzt für die juristische Diskussion), der losgelöst von dem der transparent zu machenden Erwägungen und deren Gewichtung besteht. Wenn jedoch etwas Beachtliches verschwiegen wird, bleibt es trotzdem beachtlich; wenn etwas Unbeacht­ liches offengelegt wird, bleibt es gleichwohl unbeachtlich. L. Cléricos Transparenzargument begründet nicht, warum Finanzmittelschonung legitim sei. Auch zu entflechten ist die von ihr hergestellte „Beziehung“ zwischen „fiskalischen Kosten“, (Neben-)Zwecken und Grundrechten, welche zu einer Beachtlichkeit der fiskalischen Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit führe41. Wo L. Clérico meint, es gehe um die Ermöglichung „eines höheren Erfüllungsgrades von Grundrechten anderer Betroffener“42, rechtfertigt sie einen realen Grundrechtseingriff mit einem virtuellen (den sie in dem Unterlassen einer Leistung an „Bedürftige“ zu sehen scheint).43 Eigentlich 39  L. Clérico,

Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 126. Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 126. 41  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 121–122. 42  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 119. 43  Es gölte den noch virtuellen Eingriff zu überprüfen, falls er realisiert würde. Wenn er in Gestalt einer Steuerbelastung zutage treten würde, wäre er aus freiheitsgrundrechtlicher Perspektive meist unproblematisch verhältnismäßig: Ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit durch eine Steuerbelastung ist häufig kein unangemessener (siehe auch Fn. 48). Wenn der Staat folglich auf eine Mitteleinsparung verzichtete, indem er das günstigere, mildere Alternativmittel anwendete, bliebe ihm aus freiheitsrechtlicher Sicht eine Belastung der Steuerzahler unbenommen (siehe noch gegen Ende von B. I.). Führt man die virtuelle Grundrechtsbelastung der Steuer40  L. Clérico,



I. Freiheitsaktualisierungsvoraussetzung19

zielt sie, dahin gehen schließlich ihre später erfolgenden Ausführungen, auf die Mitteleinnahme, damit der Staat die Möglichkeit habe, Freiheitsaktualisierungsvoraussetzungen zu schaffen. Solche Voraussetzungen spricht die Autorin (wohl unfreiwillig kategorisch) unter anderem „Alten“ ab.44 Lässt man außen vor, dass der Staat „Alte“ selbst mit unbegrenzten Ressourcen nicht wird verjüngen können (eine staatliche Kostenersparnis deshalb nie dazu genutzt werden könnte, Freiheitsaktualisierungsvoraussetzungen für „Alte“ zu schaffen), trägt ihr Gedanke nur, wenn man den metaphorischen gesparten Euro sofort in einen Freiheitsgewinn für Dritte ummünzt. Un­ gewürdigt bleibt der verfassungsrechtliche Allgemeinplatz, dass der Staat höchstens in Ausnahmesituationen zu bestimmten Leistungen verpflichtet ist. Das bedeutet, dass, wenn der Staat Geld spart, er keineswegs dazu verpflichtet ist, das Gesparte für die Freiheitseffektuierung anderer zu nutzen. Nach dem vorher Gesagten kann es einem unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgeber nicht verwehrt werden, jeden gesparten Euro in die Repräsentanz des Staates zu investieren oder einen Staatsschatz (für Notzeiten) anzulegen. Es ist daher eine Verklärung, die Ersparnis als Freiheitsgewinn für andere zu verbuchen. Etwas voreilig-nebulös ist letztlich ihre Folgerung, die Freiheitsermög­ lichung koste nicht nur etwas, weil sie eine Leistung des Staates sei, sondern auch, weil ein etwas milderer Eingriff in die Freiheit der (materiell hinreichend ausgestatteten) Steuerzahler zu weniger sozialstaatlich nutzbarzumachenden Ressourcen führen könnte.45 Die Feststellung im zweiten Teil ihres Satzes, dass ein milderer Eingriff (zur Mittelbeschaffung) in die Freiheit von Steuerzahlern zu weniger Einnahmen führte, ist zunächst so treffend wie trivial. Fraglich ist indes, ob mit diesem Argument ein härterer Eingriff in die Freiheit eines Dritten gerechtfertigt werden kann – schließlich sollen ihre zahler zur Rechtfertigung des realen Grundrechtseingriffes an, läuft man Gefahr, erstere zu überhöhen. 44  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 125. Außerdem wird man den Grundrechtsberechtigten, zumal den „alten“, auch die (gegebenenfalls sozial- und steuerrechtlich eingehegte) Freiheit zugestehen müssen, ihr Vermögen zu verschleudern, womit aber keine Pflicht der Allgemeinheit korrespondiert, die Vermögensverschleuderung rückgängig zu machen. 45  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 125 (Nachweise weggelassen): „[Die Herstellung von Freiheitseffektuierungsvoraussetzungen] ‚kostet‘ etwas. Normalerweise wird angenommen, daß die Ermöglichung der Ausübung von Freiheiten durch Rechte auf positive Handlung etwas kostet, da sie eine Leistung des Staates darstellt. Dies greift jedoch zu kurz. Denn eine etwas geringere Beeinträchtigung des Rechts auf allgemeine Handlungsfreiheit der ‚Steuerzahler‘, die die erforderlichen Fähigkeiten und materiellen Bedingungen zum Lebensunterhalt haben, könnte weniger Ressourcen zur Hilfe und Kompensation derjenigen, denen die erforderlichen Fähigkeiten fehlen, bedeuten.“

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B. Fundierung der Beachtlichkeit finanzieller Mehrbelastungen

Ausführungen die Beachtlichkeit der Mittelschonung vollumfänglich begründen. L. Clérico wollte wohl ausdrücken, dass nicht nur eine staatlich-wohlfahrerische, sondern auch eine privat-solidarische Verantwortung bestehe. Sie verknüpft an dieser Stelle mehrere Beziehungen: „Bedürftige“

„Leistungen“

Staat

„Verwaltungsaufwand“

„Eingriffsadressat“

„Steuereinnahmen“

„Steuerzahler“

„Beziehungen“ nach L. Clérico (eigene Darstellung)

Die erste ist die zwischen Staat und Steuerzahler. Die zweite besteht zu einem individuellen Eingriffsadressaten. Die dritte und letzte die „leistungsstaatliche“, in der ein „Bedürftiger“ einen verfassungsrechtlichen Anspruch (das sei der Einfachheit halber unterstellt) auf Herstellung seiner Freiheits­ effektuierungsvoraussetzungen hat. Eingriffe in den ersten beiden Bezie­ hungen führen zu haushälterisch gleichwertigen Mitteleinnahmen beziehungsweise -einsparungen und ermöglichen Leistungen in der dritten Beziehung. Die Autorin möchte unter Umständen unterstellen, dass ein in der zweiten Beziehung höherer „Verwaltungsaufwand“ einen schwerer wiegenden Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit der Steuerzahler notwendig machen würde. So hätte sie aber argumentieren müssen, dass insbesondere die Freiheit der Steuerzahler (und nicht die der „Bedürftigen“) damit geschützt werde, dass dem individuellen Betroffenen das billigere, einschneidendere Mittel aufgebürdet werde. Die Aufzäumung über die Freiheitseffektuierungsvoraussetzung von „Alten“46 und ähnlichen wäre dann vollkommen obsolet.



II. Entlastung der Allgemeinheit21

Darüber hinaus werden Steuergelder – Lenkungssteuern ausgenommen – gerade zu dem Zweck erhoben, den Staatshaushalt zu füllen. Der dazu erfolgende Eingriff in die Freiheit der Steuerzahler ist im Grunde stets erforderlich, da ein milderes Mittel nur deshalb milder ist, weil es eine geringere Steuerzahlung bedeutete, und eine geringere Steuerzahlung bedeutete ihrerseits, dass das Mittel weniger geeignet wäre, den Zweck (Mitteleinnahme) gleich zu erfüllen.47 Schließlich ist die Legitimität der Kostenersparnis fraglich, nicht die der Mitteleinnahme. Sicherlich sind diese Fragen verwandt, doch liegt in den Konstellationen von Interesse (zweite Beziehung) der Eingriff gerade nicht in einer Wegnahme von Zahlungsmitteln, die deshalb vorgenommen wird, um das Allgemeinleben zu finanzieren.48 Der Solidargemeinschaft, im Besonderen den Steuerzahlern, könnte also ein gleichsam stets erforderlicher Eingriff zur Finanzierung der Allgemeinheit aufgebürdet werden.49 Es überzeugt nicht, den einen Eingriff deswegen für erforderlich erklären zu wollen, weil ein anderer Eingriff ebenso erforderlich wäre. Der Staat befindet sich dementsprechend in einem Zielkonflikt, der nicht von Verfassungs wegen zugunsten des Einen oder Anderen entschieden ist, sondern zunächst einer dem Gesetzgeber vorbehaltenen politischen Entscheidung harrt. L. Clérico folgt nach alledem richtigen Ansätzen, ihre Argumentation bringt jedoch nur wenig Licht ins Dunkel.

II. Entlastung der Allgemeinheit A. v. Arnauld sieht eine Möglichkeit des Gesetzgebers, Freiheiten zu begrenzen, bereits in unterverfassungsrechtlichen Interessen.50 Die Legislative unterliege allein den verfassungsrechtlichen Bindungen, was aber nicht be46  L. Clérico,

Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 125. Steuerrecht und Verfassungsrecht, StuW 2014, S. 185 (194–195). 48  Möchte man die Konstellationen gleichsetzen, ist es geradezu zwingend, einen Freiheitseingriff, der vorgenommen wird, obwohl ein milderes, aber teureres Alternativmittel besteht, auch am „Mitteleinsparungszweck“ zu messen. Auf der Angemessenheitsebene würde dann relevant, in welches Grundrecht eingegriffen würde. In der steuerrechtlichen „Mittelbeschaffungssituation“ ist dies aus freiheitsrechtlicher Sicht in aller Regel die allgemeine Handlungsfreiheit, weswegen die Angemessenheit der Steuerbelastung kaum je zu bezweifeln ist (dazu S. Kempny, Steuerrecht und Verfassungsrecht, StuW 2014, S. 185 [195]). Ein Eingriff, bei dem nur nebenbei Geld gespart werden soll, dürfte derweil gewichtigere Freiheitsgrundrechte betreffen. 49  Ganz zu schweigen davon, dass der Gesetzgeber bei einem höheren Mitteleinsatz für einen milderen Grundrechtseingriff nicht dazu gezwungen ist, die Steuerbelastung zu erhöhen, denn er könnte auch anderweit, zum Beispiel bei der Repräsentation des Staates, einsparen. 50  A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 126 Fn. 83, unter Rekurs auf R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1. Auflage, 1985, S. 265–266. 47  S. Kempny,

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B. Fundierung der Beachtlichkeit finanzieller Mehrbelastungen

deute, dass die verfolgten Zwecke ihre Grundlage in der Verfassung finden müssten; sie dürften vielmehr nur nicht im Widerspruch dazu stehen.51 Eingrenzungen für Eingriffszwecke fänden sich also nur bei den Grundrechten, worein nur im Rahmen verfassungsimmanenter Grundrechtsschranken eingegriffen werden dürfe (hier seien Eingriffe nur zugunsten Grundrechten anderer oder sonstiger Verfassungswerte zulässig) oder die unter qualifiziertem Gesetzesvorbehalt (der auch den Zweck der möglichen Einschränkung mitregele) stünden.52 Indes verwehrt sich A. v. Arnauld explizit dagegen, Interessen der Allgemeinheit, selbst nachrangig, bei der Suche nach einem milderen Mittel zu berücksichtigen.53 Sie könnten zum Gegenstand einer gesonderten Prüfung werden.54 Aus diesem Grund besteht für A. v. Arnauld auch keine Notwendigkeit, im Kontext des von ihm gewählten Beispiels – des Gesetzes zur Mineralölbevorratung –55 für die Frage, ob der Staat statt der Allgemeinheit den Einzelnen belasten dürfe, die Frage nach der Legitimität des einzig in Rede stehenden Zwecks „Kostenersparnis“56 (weil er ihm zufolge offenkundig nicht im Widerspruch zur Verfassung steht) überhaupt aufzuwerfen.57

51  A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 231–232, dies auch mit der „für das Wesen der legislativen Gewalt in einer parlamentarischen Demokratie grundlegende[n], ja kennzeichnende[n] Möglichkeit des Gesetzgebers, durch Rechtspolitik die Gesellschaft zu gestalten“, begründend. 52  A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 232. 53  A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 238. 54  A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 238. 55  Vgl. für das Beispiel A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 241–242. Der Autor nennt die beeinträchtigten Grundrechte zwar nicht, doch stehen die in Betracht kommenden Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG jedenfalls nicht unter qualifizierten Gesetzesvorbehalten (der Regelungsvorbehalt aus Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG enthält keine Qualifizierung und wird – siehe Th. Mann, in: Michael Sachs [Hrsg.], Grundgesetz. Kommentar, 8. Auflage, 2018, Art. 12 Rn. 106 – wie ein normaler Gesetzesvorbehalt behandelt; nach J.-R. Sieckmann, in: Karl Heinrich Friauf/Wolfram Höfling [Begr. und letzterer Hrsg.], Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der Bearbeitung: 44. Ergänzungslieferung, November 2014, Art. 14 Rn. 102, sind Eingriffe durch Inhalts- und Schrankenbestimmungen gemäß Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG möglich, und aus dieser Vorschrift ließen sich „keine besonderen formellen oder materiellen Anforderungen an die Verfassungsmäßigkeit von Eigentumsregelungen“ [Rn. 134, Nachweise weggelassen] entnehmen), sodass der Zwecksetzung durch die Legislative kaum Grenzen gesetzt ist. 56  A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 241: „Es wird daher hinsichtlich der Heranziehung des Betroffenen eine gesonderte Grundrechtsprüfung notwendig, die sich auf die Frage konzentriert, ob der Eingriff in die grundrechtliche Sphäre des Betroffenen außer Verhältnis zu dem Zweck steht, der Allgemeinheit eine entsprechende Belastung zu ersparen.“ Siehe dazu Abschnitt C. II. 3.



III. Parlamentarische Haushaltsautonomie23

Problematisch hieran ist, dass damit nur die Legitimität der Vermeidung von Mehrkosten bestätigt wird, aber nichts über ihren Stellenwert gesagt ist. So kann nicht bei A. v. Arnauld stehengeblieben werden.

III. Parlamentarische Haushaltsautonomie Th. Wischmeyer sieht in der Haushaltsautonomie das verfassungsrecht­ liche „Gegeninteresse“58 zu bedingungslosem Grundrechtsschutz, welches in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einfließe.59 Er distanziert sich (für diesen Kontext) nicht nur begrifflich vom tradierten „Budgetrecht“ des Parlaments.60 Was das Bundesverfassungsgericht zur Zurückhaltung bei finanzwirksamen Entscheidungen neigen lasse, sei nämlich „weniger dem Schutz parlamentarischer Organrechte, sondern […] grundlegender [dem] Schutz der Gestaltungsfreiheit des demokratischen Gesetzgebers“ geschuldet.61 Gestaltet werde „von der parlamentarischen Mehrheit im Verbund mit der von ihr getragenen Regierung“.62 In seiner Lesart handelt es sich bei der Haushaltsautonomie um „die Möglichkeit des Gemeinwesens […], im fiskalischen Wege ‚demokratische Gestaltungsfähigkeit‘ an den Tag zu legen“63. Th. Wischmeyer rekurriert für diese Bedeutung auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu europäischen Finanzhilfen (dazu sogleich). Das Gericht erblicke in der Haushaltsautonomie eine „ ‚wesentliche, nicht entäußerbare Kompetenz der unmittelbar demokratisch legitimierten Parlamente der Mitgliedstaaten‘ “.64 Doch nicht nur die Übertragung von Kompe57  Den etwaigen Gefahren einer „Sparwut“ des Gesetzgebers auf Kosten der Grundrechtsberechtigten könnten – wie auch durch A. v. Arnauld selbst vorgeführt – ausführlich in der anschließenden Verhältnismäßigkeitsprüfung begegnet werden, für deren Durchführung die Legitimität des vom Gesetzgeber verfolgten Zwecks lediglich eine Voraussetzung ist. 58  Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 35, 43, 51. 59  Zu seinen Überlegungen, wie die Haushaltsautonomie das Verhältnismäßigkeitsprinzip prägt Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 52–65. 60  Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 36. 61  Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 36. 62  Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 36. 63  Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 37, Nachweis weggelassen. 64  Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 37, Nachweis weggelassen.

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B. Fundierung der Beachtlichkeit finanzieller Mehrbelastungen

tenzen auf einen Staatenverbund rühre an der Haushaltsautonomie. Vielmehr müssen laut Th. Wischmeyer auch rein national die „grundlegenden finanzwirksamen (Verteilungs-)Entscheidungen im demokratischen Gesetzgebungsverfahren getätigt werden“.65 So handele es sich bei dem „Gegen­interesse“ um „die Zuständigkeit des parlamentarischen Gesetzgebers für die Verteilung von Chancen auf Grundrechtsrealisierung“66. Der Schutz liefe leer, beschränkte man ihn auf das Haushaltsgesetz; deshalb sollten auch Sachgesetze an ihm teilhaben,67 schließlich handele es sich um einen „zentrale[n] Bestandteil des grundgesetzlichen Gewaltenteilungsregimes“.68 Welche Rolle dürfen die zweite und vor allem die dritte Gewalt in diesem Ensemble noch spielen? Sie werden „allgemein auf ihre Plätze verwiesen“69. Man fragt sich angesichts dieser scheinbar (alles) überragenden Bedeutung der Haushalts­ autonomie, ob diese Gewalten eher auf der Auswechselbank oder doch der Tribüne zu finden sind. Dass eine derart hohe Aufhängung der Haushaltsautonomie das Potential besitzt, die Grundrechte zu dominieren, ist dem Autor dabei vollkommen bewusst, sodass er im weiteren Verlauf seiner Untersuchung danach strebt, eine Dogmatik zu entwickeln, mit der Grundrechtsschutz und Wahrung der Haushaltsautonomie in Einklang gebracht werden.70 Die Bedeutung der Haushaltsautonomie stützt der Autor im Wesentlichen, wie erwähnt, auf Entscheidungen aus Karlsruhe zur europäischen Staatsschuldenkrise, insbesondere der zur „Griechenlandhilfe“71. Dieser Umstand 65  Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 37. 66  Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 38, oder wie auf S. 47: um eine „Kompetenzzuweisung zur Verteilung von Grundrechtsrealisierungschancen“. Insofern ist dieser Ansatz dem L. Cléricos (siehe Abschnitt B. I.) nicht unähnlich. 67  Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 37. 68  Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 38, Nachweis weggelassen. 69  Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 38. 70  Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 27 (die Haushaltsautonomie des Gesetzgebers und das Effizienzdenken der Verwaltung sei restriktiv auszulegen), S. 29 (die gesetzgeberische Finanzvernunft finde dort ihre Grenze, wo Grundrechte betroffen seien), S. 38 und 39 („Mittelweg zwischen Grundrechtseffektivität und Haushaltsautonomie“), S. 53 (ein sehr weiter, aber eben nicht absoluter Schutz der gesetzgeberischen Haushaltsautonomie sei garantiert), S. 65 (die skizzierte Vorgehensweise solle der Effektivität des Grundrechtsschutzes gerecht werden). 71  BVerfG, Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10, BVerfGE 129, 124 – Griechenlandhilfe (auch „Euro-Rettungsschirm“-Entscheidung genannt).



III. Parlamentarische Haushaltsautonomie25

veranlasst einen genaueren Blick (im Wege einer „Kontextualisierung“72) auf diese Entscheidung und ihre Übertragbarkeit auf den nationalen Kontext, zumal letzteres von Th. Wischmeyer (angesichts seiner ansonsten überaus lesenswerten Begründungen: leider) nicht substantiiert wird. Folgende Begleitumstände sollen in den Blick genommen werden: der prozessuale Kontext, insbesondere also der Sachverhalt73 und der Sachverhaltskontext74 sowie die Entscheidungstechnik75, was teilweise ineinander übergreift. Gegenstand des „Griechenlandhilfe“-Urteils waren Grundrechtsverfassungsbeschwerden76, deren Beschwerdeführer sich in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und 2, Art. 2 Abs. 1 GG (unter anderem) durch das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen zum Erhalt der für die Finanzstabilität in der Währungsunion erforderlichen Zahlungsfähigkeit der Hellenischen Republik (Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz – WFStG) sowie durch das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetz) verletzt sahen.77 (Teilweise) Zulässig waren die Verfassungsbeschwerden nur wegen der gesetzlichen Gewährleistungsermächtigungen der Exekutive (vgl. Art. 115 Abs. 1 GG) zur Umsetzung von durch interna­ tionale Übereinkünfte begründeten Verbindlichkeiten der Bundesrepublik Deutschland zur Erhaltung der Liquidität anderer Staaten der Währungs­ 72  Th. Wischmeyers Ausführungen sind geradezu paradigmatisch für die Feststellung O. Lepsius’, dass „[d]ie Interpretation von Gerichtsentscheidungen […] zunehmend an die Stelle der Auslegung von Gesetze[n] [tritt]“ (O. Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, S. 793 [793]), die Anlass für O. Lepsius’ methodische Gedanken war. Insbesondere seien konkret-individuelle Urteile nicht wie generell-abstrakte Normen zu verarbeiten (am deutlichsten auf S. 798). 73  Vgl.  O. Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, S. 793 (796). 74  Hiermit meint O. Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, S. 793 (797), die Bedeutung des Sachverhaltes für die Entscheidung. Obwohl häufig nicht Entscheidungen von Tatsachengerichten, sondern von Rechtsmittelinstanzen, die sich (allein) mit der Auslegung von Normen zu befassen haben, zu interpretieren seien, müsse die „Tatsachendimension“, die Tatsachen und Interessen, welche den getroffenen Richterspruch beeinflusst hätten, bei der Interpretation beleuchtet werden, um eine vorschnelle Generalisierung der Entscheidung zu vermeiden. 75  Vgl.  O. Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, S. 793 (797). 76  Nach O. Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, S. 793 (797), werden mit Verfassungsbeschwerden nicht nur konkrete Konflikte entschieden, sondern auch verallgemeinerungsfähige Rechtsfortbildung betrieben. Es handele sich um die „Technik der Maßstabsetzung“, das Bundesverfassungsgericht erzeuge hiermit eine „normative[…] Schicht zwischen dem Verfassungstext und seiner Interpretation in Gestalt eines Urteils.“ 77  BVerfG, Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10, BVerfGE 129, 124 (126–127, 132–133, 136–138) – Griechenlandhilfe.

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B. Fundierung der Beachtlichkeit finanzieller Mehrbelastungen

union.78 Hieraus eine Beschwerdebefugnis eines jeden (wahlberechtigten) Staatsbürgers abzuleiten, dies bedurfte wahrlich gesteigerten Begründungsaufwandes (zumal das Bundesverfassungsgericht folgendes Ergebnis – und nicht etwa eine Rechtsverletzung der Beschwerdeführer – vor die Prüfung stellt: „Die Verfassungsbeschwerden sind im Hinblick auf die behauptete Aushöhlung der Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestages zulässig“79). Diese behauptete Aushöhlung bedinge die Möglichkeit einer Verletzung80 eines grundrechtsgleichen Rechtes aus Art. 38 Abs. 1 S. 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG,81 mithin einer tatsächlich in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten Vorschrift, der Normierung des Demokratieprinzips und einer Norm, die sich vordergründig nur an den verfassungsändernden Gesetzgeber richtet. Das Gericht beschränkte sich also auf eine Identitätskontrolle.82 Es wird demnach derart fest an den Grundfesten gerüttelt, dass ein jeder davon betroffen ist, schließlich könnte ein Grundrechtsberechtigter unter normalen Umständen nie schlüssig machen, allein in „seinem“ Demokratieprinzip oder in „seiner“ Ewigkeitsgarantie verletzt zu sein. Aus Karlsruhe vernimmt man dazu, dass das Wahlrecht nicht nur den bloßen Wahlakt, sondern auch einen grundlegenden demokratischen Gehalt, „die Gewährleistung wirksamer Volksherrschaft“, schütze.83 Art. 38 GG schütze die Wahlberechtigten vor einem „Substanzverlust ihrer […] Herrschaftsgewalt durch weitreichende oder gar umfassende Übertragungen von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages, vor allem auf supranationale Einrichtungen“.84 Dessen ungeachtet diene das Wahlrecht nicht der inhaltlichen Kontrolle demokratischer Prozesse, sondern sei auf deren Ermöglichung gerichtet, sodass nur in Ausnahmefällen eine hierauf gestützte Beschwerde zulässig sei.85 Eine Beschwerdebefugnis habe der Einzelne damit nur bei 78  BVerfG, Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10, BVerfGE 129, 124 (171) – Griechenlandhilfe. 79  BVerfG, Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10, BVerfGE 129, 124 (167) – Griechenlandhilfe (Hervorhebung hinzugefügt). 80  Die Redeweise von der „Verletzung einer Norm“ wird hier und im Folgenden aus Gründen der Anschlussfähigkeit verwandt, obwohl es rechtstheoretisch wohl treffender wäre, zu erkennen, dass die Norm gerade zur Anwendung kommt, wenn ihre „Verletzung“ konstatiert zu werden pflegt (so auch H. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 3 unter VI). 81  BVerfG, Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10, BVerfGE 129, 124 (167) – Griechenlandhilfe. 82  D. Thym, Anmerkung [zu BVerfG, Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10 – Griechenlandhilfe], JZ 2011, S. 1011 (1011). 83  BVerfG, Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10, BVerfGE 129, 124 (168) – Griechenlandhilfe. 84  BVerfG, Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10, BVerfGE 129, 124 (168) – Griechenlandhilfe.



III. Parlamentarische Haushaltsautonomie27

„Strukturveränderungen im staatsorganisationsrechlichen Gefüge“, da „[d]er letztlich in der Würde des Menschen wurzelnde Anspruch des Bürgers auf Demokratie“ obsolet wäre, „wenn das Parlament Kernbestandteile politischer Selbstbestimmung aufgäbe“ und somit dem Wahlberechtigten „dauerhaft seine demokratische Einflussmöglichkeit entzöge“.86 Sodann wird klargestellt, dass diese Verbindung zwischen Wahlrecht und (demokratischer) Staatsgewalt nicht nur durch Art. 79 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 1 und 2 GG geschützt werde, sondern dass dies gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 1 und S. 2 GG auch eine absolute Grenze der europäischen Integration sei.87 Gegen eine Art.-79-Abs.-3-GG-widrige Kompetenzübertragung müsse der Verfassungsrechtsweg für die Bürger offenstehen.88 Nach alledem kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Schluss, dass die abwehrrechtliche Schutzfunktion von Art. 38 Abs. 1 GG dann relevant werde, wenn die Gefahr bestehe, dass die Kompetenzen des Bundestages dergestalt beschnitten würden, dass eine Verwirklichung des Volkswillens vermittels des Parlaments unmöglich würde, mithin das „Wahlrecht entleert“ zu werden drohte.89 „Die Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben“ gehörten zum Kern der Rechte des Parlaments, weswegen Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG (mit dem Demokratieprinzip) vor schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Haushaltsautonomie schütze.90 Die wegen der Neufassung der Art. 109 Abs. 3 und Abs. 5, Art. 109a, Art. 115 GG n. F, Art. 143d Abs. 1 GG erschwerte staatliche Kreditaufnahme zeuge von dem Anliegen des verfassungsändernden Gesetzgebers, die nachhaltige Gestaltungsfähigkeit des Gesetzgebers durch eine Beschränkung der Handlungsfähigkeit des Parlaments sicherzustellen.91 Wiederum verknüpft das Gericht damit die Folgerung, dass der Wahlakt entwertet würde, verfügte der Bundestag nicht über die zur Erfüllung seiner ausgabenwirksamen Aufgaben und zum Gebrauch seiner Befugnisse notwendigen Gestaltungsmittel.92 85  BVerfG, BVerfGE 129, 86  BVerfG, BVerfGE 129, 87  BVerfG, BVerfGE 129, 88  BVerfG, BVerfGE 129, 89  BVerfG, BVerfGE 129, 90  BVerfG, BVerfGE 129, 91  BVerfG, BVerfGE 129, 92  BVerfG, BVerfGE 129,

Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 124 (168) – Griechenlandhilfe. Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 124 (168–169) – Griechenlandhilfe. Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 124 (169) – Griechenlandhilfe. Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 124 (170) – Griechenlandhilfe. Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 124 (170) – Griechenlandhilfe. Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 124 (170) – Griechenlandhilfe. Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 124 (170–171 und 178) – Griechenlandhilfe. Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 124 (170–171) – Griechenlandhilfe.

2 BvR 1099/10, 2 BvR 1099/10, 2 BvR 1099/10, 2 BvR 1099/10, 2 BvR 1099/10, 2 BvR 1099/10, 2 BvR 1099/10, 2 BvR 1099/10,

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B. Fundierung der Beachtlichkeit finanzieller Mehrbelastungen

Welche „Tatsachen und Interessen“93 haben hiernach zum „Griechenland­ hilfe“-Urteil geführt? Ein handgreifliches Interesse94 war, das „Griechen­ landhilfe“-Urteil überhaupt als Sachentscheidung fällen zu können und gleichzeitig Popularklagen zu verhindern.95 Das Bundesverfassungsgericht musste – was es denn auch mehrfach tat – in das oberste verfassungsrecht­ liche Regal greifen, um die prozessual notwendige mögliche Grundrechtsverletzung zu konstruieren. Vom Standpunkt des Gerichts war es zwingend notwendig, eine Brücke von der eigentlich betroffenen Haushaltsautonomie zu einem (unmittelbar!) beeinträchtigten Grundrecht oder grundrechtsgleichen Recht zu schlagen. Es nimmt daher nicht wunder, dass die Haushalts­ autonomie in dem von der „Ewigkeitsgarantie“ protegierten Demokratieprinzip verankert wurde – es war prozessual notwendig. Damit ist nicht gesagt, dass die Auslegung der Verfassung durch das Gericht „falsch“ sei96, doch mahnt dieser Hintergrund zur Vorsicht bei der Interpretation und, damit einhergehend, der Übertragbarkeit des Urteils, insbesondere auf rein national wirkende Verhaltensweisen des Staates. Die individuelle Betroffenheit des Einzelnen bahnte ihren Weg durch mehrere verfassungsrechtliche „Flaschenhälse“. Das Wahlrecht umfasse (nur) grundlegende demokratische Gewähr­ leistungen,97 schütze also (lediglich) vor weitreichenden Kernkompetenzübertragungen98, also Strukturveränderungen im staatsorganisationsrech­ lichen Gefüge99. Die Haushaltsautonomie umfasse dabei (allein?) die Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben.100 Ein einzelner Wahlberechtigter kann demnach gleichsam elementare parlamentarische Rechte einklagen. Das Bundesverfassungsgericht wollte ersichtlich einen Ausnahmefall101 geprüft haben – vor dem Hintergrund, dass es abermals sein (jedenfalls 93  Der Sachverhaltskontext nach O. Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, S. 793 (797) (siehe schon Fn. 74 dieses Texts). 94  O. Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, S. 793, meint wohl stets die Interessen der Parteien, doch scheint wenig dagegen zu sprechen, alle maßgeblichen Interessen zu würdigen. 95  D. Thym, Anmerkung [zu BVerfG, Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10 – Griechenlandhilfe], JZ 2011, S. 1011 (1011), legt dar, dass das Bundesverfassungsgericht mit dem „Griechenlandhilfe“-Urteil im Vergleich zur Maastricht-Rechtsprechung (etwas) gestrengere Eingangshürden aufstellt. 96  Zum Problem der „Falschheit“ von Gerichtsentscheidungen methodologisch S. Kempny, Unrechtsurteile der NS-Zeit, in: Klaus-Dieter Drüen/Johanna Hey/Rudolf Mellinghoff (Hrsg.), 100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland 1918–2018, 2018, Band I, S. 39 (43–46). 97  Siehe bei und in Fn. 83. 98  Siehe bei und in Fn. 84, 86. 99  Siehe bei und in Fn. 86. 100  Siehe bei und in Fn. 90. 101  Siehe bei und in Fn. 85.



III. Parlamentarische Haushaltsautonomie29

empfundenes) Amt war, zu klären, ob die europäische Integration nicht zu weit gediehen sei, ist das nachvollziehbar. Was heißt das für die verfassungsrechtliche Bedeutung der Haushaltsautonomie? Dem Bundesverfassungs­ gericht ging es zunächst nicht um Details, sondern darum, dass ein Kern der Haushaltsautonomie notwendig sei, um demokratische Prozesse zu ermög­ lichen. Diese Verknüpfung ist zu weiten Teilen aus der prozessualen Not heraus geflochten worden. Selbst wenn sie legitim ist, wäre es mindestens vorschnell, das Demokratieprinzip bei jeder Betroffenheit der Haushaltsautonomie als ebenfalls tangiert anzusehen und sich dabei auf das Bundesverfassungsgericht zu stützen. Das Gericht verhandelte schließlich über eine dauerhafte (zumindest: lang andauernde) Übertragung (von Teilen) der Haushaltsautonomie,102 nicht um eine kurzzeitige Betroffenheit. Möchte man bei jeder haushälterischen Betroffenheit von einem (möglichen) „Substanzverlust“ von Herrschaftsgewalt sprechen (dann müsste man nach dem Bundesverfassungsgericht im Übrigen auch eine individuelle Betroffenheit annehmen und Grundrechtsverfassungsbeschwerden eines jeden wahlberechtigten Bürgers annehmen)?103 Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht mit dem „Griechenlandhilfe“-Urteil seine Prüfungskompetenz bei einer Betroffenheit der Haushaltsautonomie als gegeben angesehen. Kann man das Urteil dann wirklich, wie Th. Wischmeyer, dafür heranziehen, eine bundesverfassungsgerichtliche Prüfungskompetenz bei Tangierung der Haushalts­ autonomie zu verneinen? Im Ergebnis spricht demzufolge wenig dafür, die Haushaltsautonomie in Gänze, und nicht nur die „Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben“104, mit der überragenden Bedeutung des Demokratieprinzips aufzuladen. Damit ist auch gesagt, dass nicht bei jeder Betroffenheit der Haushaltsautonomie gewichtige gewaltenteilungs- und staatstheoretische Be­ denken („Schutz […] des demokratischen Gesetzgebers“)105 gegen eine verfassungsgerichtliche Entscheidung in der Sache bestehen, dies eher nur in Ausnahmefällen.106 Th. Wischmeyer scheint schon wegen des zweifelhaften 102  Vgl. nur BVerfG, Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10, BVerfGE 129, 124 (179) – Griechenlandhilfe. 103  Siehe bei und in Fn. 84. 104  BVerfG, Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10, BVerfGE 129, 124 (170) – Griechenlandhilfe. 105  Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 36, Hervorhebung hinzugefügt. 106  Zumal ohnehin keine Stärkung der unmittelbar demokratisch gewählten Volksvertreter in Rede steht, hat doch die Regierung samt Verwaltungsunterbau die Fäden bei der Haushaltsverabschiedung in der Hand, siehe dazu D. Thym, Anmerkung [zu BVerfG, Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10 – Griechenlandhilfe], JZ 2011, S. 1011 (1012); J. Isensee, Budgetrecht des Parlaments zwischen Schein und Sein, JZ 2005, S. 971 (979 und passim). Th. Wischmeyer, Kosten der

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B. Fundierung der Beachtlichkeit finanzieller Mehrbelastungen

Rekurses auf das „Griechenlandhilfe“-Urteil von einer „Bedeutungszuschreibung“ auszugehen, die so nicht „für die Grundrechtsdogmatik fruchtbar zu machen[…]“ ist.107 Trotz Th. Wischmeyers herausragender Arbeit besteht weiterhin Anlass für eine etwas andere Akzentuierung der Beachtlichkeit von Mehrkosten.108 Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 36–37, sieht das im Übrigen ähnlich, was nicht ganz spannungsfrei zu dem von ihm propagierten Schutz des „demokratischen Gesetzgebungsverfahren[s]“ (S. 37) ist. 107  Davon spricht aber Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 37. Der Autor stellt zwar im Ergebnis, wie das Gericht, klar, dass die Haushaltsautonomie (nur) die „grundlegenden finanzwirksamen (Verteilungs-)Entscheidungen“ umfasse (S. 37), doch liegt es nahe, dass der wertungsoffene Begriff „grundlegend“ mit der von ihm gelieferten Anknüpfung an das interpretierte Urteil eine zu weite Bedeutung bekommt. 108  Keinen sakrosankten Stellenwert besitzt die Haushaltsautonomie überdies gegenüber einer gleichheitsgemäßen Ausgestaltung des Steuerrechts – vor allem nicht für das Bundesverfassungsgericht (vgl. etwa die vier am selben Tag verkündeten Entscheidungen BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998, 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216 – Familienlastenausgleich II; BVerfG, ­ Beschl. v. 10.11.1998, 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246 – Kinderexistenzminimum I; BVerfG, Beschl. 10.11.1998, 2 BvR 1220/93, BVerfGE 99, 268 – Kinderexistenzminimum II, BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998, 2 BvR 1852/97, 2 BvR 1853/97, BVerfGE 99, 273 – Kinderexistenzminimum III, die schätzungsweise Kosten für die öffentliche Hand in Höhe von 20 Mrd. DM verursacht haben [H.-G. Dederer, BVerfGE 99, 216 – Familienlastenausgleich. Steuerliche Berücksichtigung des gesamten Betreuungs- und Erziehungsaufwandes bei allen Eltern, in: Jörg Menzel , Ver­fassungs­recht­spre­ chung. Hundert Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive, 2000, S. 654 ]*, oder die von Th. Wischmeyer, Kosten der ­Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 1–2 mit Fn. 4, selbst zitierte Pendlerpauschalen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts [BVerfG, Urt. v. 9.12.2008, 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 – Pendler­ pauschale], die mit einer Belastung für den Steuer- und Haushaltsgesetzgeber von 7,5 Mrd. € [https://www.spiegel.de/wirtschaft/bundesverfassungsgericht-millionen-be rufstaetige-bekommen-alte-pendlerpauschale-zurueck-a-595285.html ] auch zu den „teureren“ gehören dürfte. Ansonsten verzichtet Th. Wisch­ meyer bewusst auf Ausführungen zu Gleichheitssätzen [S. 7 mit Fn. 31–32]). Im Gegenteil wird das große Rechtfertigungspotential von finanziellen Erwägungen im Gleichheitsrecht eher eingeschränkt (U. Kischel, in: BeckOK Grundgesetz, Volker Epping/Christian Hillgruber [Hrsg.] 41. Edition, Stand: 15.5.2019, Art. 3 Rn. 65 mit Nachweisen). Das ist insofern nicht verwunderlich, als es bei der in den allermeisten Fällen einzig relevanten Rechtfertigungshürde von Ungleichbehandlungen nur fraglich ist, ob ein „tragender Unterschied“ zwischen Ungleichbehandeltem und Vergleichsperson besteht und insofern allein eine nicht logisch ableitbare Wertungsentscheidung zu treffen ist (siehe dazu ausführlich S. Kempny/Ph.  Reimer, Die Gleichheitssätze. Versuch einer übergreifenden dogmatischen Beschreibung ihres Tatbestands und ihrer Rechtsfolgen, 2012, S. 114–149). Rein staatliche Interessen rechtfertigen eine Ungleichbehandlung deshalb in den seltensten Fällen. Auch in diesem Kontext kann zulässiges Differenzierungskriterium (also Rechtfertigungsgrund einer Ungleichbehandlung) indes eine finanzielle Belastung des Staates bei einer



III. Parlamentarische Haushaltsautonomie

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Gleichbehandlung sein; jedenfalls wird dann ein konkreter Nachweis des Umfangs dieser Belastung verlangt, siehe U. Kischel, in: BeckOK Grundgesetz, Volker Epping/ Christian Hillgruber (Hrsg.) 41. Edition, Stand: 15.5.2019, Art. 3 Rn. 65 mit Nachweisen. Außerdem fehlt einer Ungleichbehandlung eine Rechtfertigungsstufe, die strukturell der Erforderlichkeit im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ähnelt, wo ein strikter Schutz der Haushaltsautonomie noch nicht zu einer endgültigen Rechtfertigung der Grundrechtsbeeinträchtigung führte (dazu näher Abschnitt D.). Kurzum: ein strikter Schutz der Haushaltsautonomie im Gleichheitsrecht würde stets zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung führen. Des Weiteren hat der Gesetzgeber bei einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung in der Regel mehrere Erfüllungsalternativen, um einem Gleichheitssatz Genüge zu tun: er kann alle relevanten Adressaten wie den Ungleichbehandelten behandeln oder den Ungleichbehandelten wie die Vergleichsperson (siehe nur S. Kempny/Ph.  Reimer, Die Gleichheitssätze. Versuch einer übergreifenden dogmatischen Beschreibung ihres Tatbestands und ihrer Rechtsfolgen, 2012, S. 158–159, 163–165), sodass es dem Gesetzgeber auch anheimgestellt bleibt, wie er die gleichheitswidrige Lage beseitigen will, eine finanzwirksame Letztentscheidung des Bundesverfassungsgerichts also nicht angezeigt ist. Schließlich hat schon die Exekutive Steuern gesetzesmäßig festzusetzen, unabhängig davon, ob sie im Haushaltsplan vorgesehen sind oder nicht (vgl. etwa J. Isensee, Budgetrecht des Parlaments zwischen Schein und Sein, JZ 2005, S. 971 [977]), weswegen wenig dafür spricht, dass die (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit deutlich skrupulöser zu handeln hat. * Zu dieser Entwicklung zu schön, um nicht gesondert zitiert zu werden, ­H.-P. Schneider, Acht an der Macht! Das BVerfG als „Reparaturbetrieb“ des Parlamentarismus?, NJW 1999, S. 1303 (1303): „Wie ist’s zu Bonn doch wohl seitdem mit ‚Heinzelrichtern‘ (und -richterinnen aus Karlsruhe) so bequem; sie sorgen und borgen (sich Macht), sie schaffen und bluffen (die verwunderte Öffentlichkeit), sie wägen und sägen (am Ast der Politik), rupfen und zupfen (am geltenden Steuerrecht), sie interpretieren und intervenieren (in den Bundeshaushalt); und eh’ die Regierung noch erwacht, ist das (politische) Tagwerk schon vollbracht. Doch anders als im Märchen taten sie das kürzlich nicht für Gotteslohn, sondern bürdeten dem Staat finanzielle Lasten in Höhe von weit über 20 Mrd. DM (in Worten: zwanzig Milliarden) auf. Das sind knapp 5 % des gesamten Jahresetats und etwa jene Mittel, über die der Bund außerhalb seiner gesetzlich festliegenden Verpflichtungen gerade mal frei verfügen kann.“ An späterer Stelle (S. 1304–1305) kritisiert H.-P. Schneider beißend, dass das Gericht dem Gesetzgeber konkrete Vorgaben für die Umsetzung der „gefundenen“ Verfassungsrechtslage gemacht, dafür eine Frist gesetzt und bescheinigt habe, dass sich Steuerverschonungsbeträge unmittelbar aus dem Grundgesetz ergäben, sodass ein fruchtloses Verstreichenlassen der Frist belanglos sei. Weiter S. 1305: „Jede aus der Verfassung abgeleitete Detailanweisung an die Politik verengt nicht nur deren Handlungsspielraum, sondern führt auch zu einer Verfestigung und Erstarrung des Verfassungsrechts selbst, das dadurch ein erhebliches Stück seiner Weite, Offenheit und Wandlungsfähigkeit einbüßt, mithin auch an integrierender Kraft verliert. Zugleich wird auf diese Weise das Problem ‚entpolitisiert‘, d. h. auf die verfassungsrechtliche Ebene gehoben und so der öffentlichen Auseinandersetzung im demokratischen Willensbildungsprozeß entzogen.“ Gerade weil dem Gesetzgeber Detailregelungen vorgeschrieben werden, kritisiert H.-P. Schneider den „Übergriff in das Budgetrecht des Parlaments“ (S. 1305 am Ende). Die „detaillierten Direktiven“ durch das Bundesverfassungsgericht bemängelt auch H.-G. Dederer, BVerfGE 99, 216 – Familienlastenausgleich. Steuerliche Berücksichtigung des gesamten Betreuungs- und

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B. Fundierung der Beachtlichkeit finanzieller Mehrbelastungen

IV. Kostenvermeidungszweck Die Vermeidung von Mehrkosten hat im Grunde nur einen verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt: eine Auslegung von Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 114 Abs. 2 GG. Art. 114 Abs. 2 GG normiert das Prinzip der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit als Kontrollmaßstab für den Bundesrechnungshof.109 Aus Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG ergibt sich vordergründig nur, dass der Haushaltsplan durch das Haushaltsgesetz festgestellt wird. Das Prinzip der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit ist dennoch – im Ergebnis wohl unstrittig, teilweise gestützt auf eine verbindende Lesart dieser Normen – auch von der Legislative zu beachten.110 Es bindet als Verfassungsprinzip unmittelbar alle staatliche Gewalt, ist aber – wie jedes andere Verfassungsprinzip (die Menschenwürdegarantie ausgenommen) – nicht per se höherwertiger als andere, sondern vielmehr durch den Gesetzgeber (siehe Art. 109 Abs. 4 GG, § 1, § 6 Abs. 1 HGrG) im Gesetzgebungsprozess mit den ihn treffenden Aufträgen zur Gemeinwohlverwirklichung abzuwägen.111 Aus dem Erfordernis der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit112 ergibt sich das Gebot für den Gesetzgeber, einen von ihm verfolgten Zweck getreu dem „Minimumprinzip“ mit einem möglichst geringen (Finanz-)Mitteleinsatz zu erreichen.113 Das Wirtschaftlichkeitsgebot verbietet kostenverursachende Erziehungsaufwandes bei allen Eltern, in: Jörg Menzel (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung. Hundert Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive, 2000, S. 654 (658). Zu dem verblüffenderweise zum Schutz der gesetzgeberischen Haushaltsautonomie von Th. Wischmeyer vorgeschlagenen finanzwirksamen gerichtlichen Instrumentarium (das bedenklich detaillierte Regelungen umfassen solle) und der Kritik daran siehe Abschnitt C. II. 4. Zu einer Alternative, die das Bundesverfassungsgericht, wie H.-P. Schneider (a. a. O. S. 1305), eher als Kontrolleur denn als Reparateur sieht, siehe Abschnitt D. 109  Ch. Gröpl, in: Christoph Gröpl (Hrsg.), Bundeshaushaltsordnung. Landeshaushaltsordnung. Staatliches Haushaltsrecht, 2. Auflage, 2019, § 7 Rn. 15. 110  Das Prinzip ist auch einfachrechtlich aufgestellt (§ 7 Abs. 1 S. 1 BHO). Vgl. nur Ch. Gröpl, in: Christoph Gröpl (Hrsg.), Bundeshaushaltsordnung. Landeshaushaltsordnung. Staatliches Haushaltsrecht, 2.  Auflage, 2019, §  7 Rn.  15–17; K.  v. Le­ winski/D. Burbat, Bundeshaushaltsordnung, 2013, § 7 Rn. 7. Es gilt im Übrigen auch für die Exekutive und Judikative. Vertiefend S. Kempny, Verwaltungskon­trolle. Zur Systematisierung der Mittel zur Sicherung administrativer Rationalität unter besonderer Berücksichtigung der Gerichte und der Rechnungshöfe, 2017, S. 48–49 mit Fn. 316. 111  Ch. Gröpl, in: Christoph Gröpl (Hrsg.), Bundeshaushaltsordnung. Landeshaushaltsordnung. Staatliches Haushaltsrecht, 2. Auflage, 2019, § 7 Rn. 17. 112  Das Prinzip der Sparsamkeit hat keine eigenständige Bedeutung neben dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit, vgl. hierzu K. v. Lewinski/D. Burbat, Bundeshaushaltsordnung, 2013, § 7 Rn. 9 mit weiteren Nachweisen. 113  Ch. Gröpl, in: Christoph Gröpl (Hrsg.), Bundeshaushaltsordnung. Landeshaushaltsordnung. Staatliches Haushaltsrecht, 2. Auflage, 2019, § 7 Rn. 6, spricht anstatt vom verfolgten Zweck vom vorab festgelegten Nutzen.



IV. Kostenvermeidungszweck33

Zweckverfolgungen freilich nicht, sondern kommt überhaupt erst zum Tragen, wenn ein nicht-fiskalischer Zweck verfolgt wird (oder, was im verfassungsrechtlichen Kontext vernachlässigt werden kann, ein Mitteleinsatz vorgegeben ist).114 Kurzum: „Ziel ist […] nicht das schlichte Nichtausgeben von Geld, das keine eigenständige Bedeutung hat. Es geht um den schonenden Einsatz der Finanzmittel.“115 Das Wirtschaftlichkeitsgebot gebietet dem Gesetzgeber lediglich, unter mehreren gleich geeigneten Zweckverfolgungsinstrumenten dasjenige zu wählen, welches den geringsten Mitteleinsatz bedingt.116 Bei jeder kostenverursachenden Zweckverfolgung drängt das „Minimumprinzip“ die Kosten in Richtung null; um dieses Prinzip zu wahren, hat der Gesetzgeber folglich stets das Ziel, Kosten gering zu halten.117 Auch die zuweilen zu lesende (im Ergebnis zutreffende) Aussage, dass im Konfliktfall zwischen Sachgesetz und Wirtschaftlichkeitsprinzip das Sachgesetz Vorrang habe,118 bedeutet nur, dass der parlamentarische Gesetzgeber unwirtschaftliche Gesetze erlassen könne,119 keinesfalls jedoch, dass er wirtschaftliche Gesetze nicht erlassen könne. Weiteres ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht von Belang. Insgesamt ist die Annahme eines genuinen Sparsamkeitszwecks somit alles andere als fernliegend. Dieser bedarf hierbei keiner „Aufladung“ durch das Demokratieprinzip, sondern ist bereits in Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 114 Abs. 2 GG verankert 114  Ch. Gröpl, in: Christoph Gröpl (Hrsg.), Bundeshaushaltsordnung. Landeshaushaltsordnung. Staatliches Haushaltsrecht, 2. Auflage, 2019, § 7 Rn. 10. 115  Th.  Rottenwallner, Der finanzielle Ausgleich für „systemische Härten“ durch die Erhebung von Straßenbaubeiträgen in Bayern, DÖV 2019, S. 781 (784), Nachweise weggelassen. 116  Schon hier wird die Nähe zu dem dem Polizeirecht entstammenden, in das Verfassungsrecht übertragenen Erforderlichkeitsprinzip offenbar. 117  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 31 mit Fn. 115, kritisiert die Annahme eines Sparsamkeitszweckes ausdrücklich und begründet seine Kritik mit der mangelnden Präzision und der potentiellen Grenzenlosigkeit dieses Zwecks, was dazu führen könnte, dass sich ein fiskalisches Argument einer Zweck-Mittel-Relationierung entziehe. Zugegeben sind bezüglich dieses Zweckes schier endlos viele, weil günstigere Alternativmittel denkbar. Da dieser Zweck angesichts des formalen Charakters des Wirtschaftlichkeitsprinzips nie alleine auftritt (Ch. Gröpl, in: Christoph Gröpl [Hrsg.], Bundeshaushaltsordnung. Landeshaushaltsordnung. Staatliches Haushaltsrecht, 2. Auflage, 2019, § 7 Rn. 10), die Alternative auch in Bezug auf den notwendigen anderen Zweck gleichgeeignet sein muss, wirkt sich die potentielle Grenzenlosigkeit aber nicht aus. Eine „Messung“ anhand dieses Zweckes ist überdies mit mathematischer Präzision möglich. Dazu, wie man das fiskalische Argument in eine Abwägung einflechten kann, noch unter Abschnitt D. Es darf auch bezweifelt werden, dass das von Th. Wischmeyer eingeführte „Gegeninteresse Haushaltsautonomie“ präziser und weniger uferlos ist, da es keinen festen dogmatischen Platz hat, vielmehr an beliebiger Stelle angebracht wird. 118  K. v. Lewinski/D. Burbat, Bundeshaushaltsordnung, 2013, § 7 Rn. 8. 119  K. v. Lewinski/D. Burbat, Bundeshaushaltsordnung, 2013, § 7 Rn. 8.

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B. Fundierung der Beachtlichkeit finanzieller Mehrbelastungen

(aber nicht mit dem haushälterischen Wirtschaftlichkeits- und Sparsamkeitsprinzip gleichbedeutend). Damit ist gezeigt, dass der Kostenvermeidungszweck, obschon er den Gesetzgeber in seiner Haushaltsautonomie stärkt, keinen überragenden Stellenwert genießt, aber zumindest Verfassungsrang hat.120 Derartiges Bestreben lässt sich beispielhaft anhand der Entwicklung des Plichtexemplarrechts darlegen.121 Berühmt geworden ist diese Materie, als 120  Der Kostenvermeidungszweck tritt, da er Ausprägung des Wirtschaftlichkeitsund Sparsamkeitsprinzips ist, erst in Verbindung mit einem nicht-fiskalischen Zweck auf, bei solchen spricht R. Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 54, von „selbständigen“ und „unselbständigen“ Zwecken, wobei der Kostenvermeidungszweck ein „unselbständiger“ wäre (siehe auch Abschnitt C. II. 2.). 121  Einen Freiheitseingriff zu Kostensparungszwecken unternahm der Gesetzgeber auch mit der Normierung einer Altersgrenze für Kassenärzte, welche von BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 – Kassenarzt, für verfassungsgemäß erklärt wurde (siehe zu den Kostensparungszwecken beispielsweise die dortige S. 177). Die Kosteneinsparung trat aber in einem komplexen System mehrerer Kostenträger ein, weshalb auf diese Entscheidung hier nicht näher eingegangen werden soll (siehe aber noch Fn. 137 sowie Abschnitt C. II. 1. d) bb)). Da eine tiefergehende Auseinandersetzung mit weiteren Sachmaterien den Rahmen sprengen würde, soll stattdessen ein Überblick über die kostenbewussten Vorgaben für Gesetzesinitiativen durch die Bundesregierung (welche die Mehrzahl der Gesetzesinitiativen auf Bundesebene ausmachen) gegeben werden, weil davon auszugehen ist, dass sie die Gesetzgebung insofern prägen. Für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist es entscheidend, ob ein Kostenvermeidungszweck tatsächlich verfolgt wird, nicht ob er verfolgt werden muss oder darf; (nur) wenn ein solcher Zweck verfolgt wird, fließt er in die Prüfung ein. Gemäß § 44 Abs. 1 S. 3 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) muss eine jede Gesetzesbegründung (welche ihrerseits nach § 42 Abs. 1 GGO Bestandteil von Gesetzesvorlagen ist) im Rahmen der zu nennenden „Gesetzesfolgen“ die finanziellen Auswirkungen nebst Berechnungen oder maßgeblichen Annahmen des Gesetzes ausweisen. Gemäß § 44 Abs. 2 S. 1 GGO sind die Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte zu nennen. Die im Einklang mit § 44 Abs. 2 S. 2 GGO vom Bundesministerium der Finanzen im Benehmen mit dem Bundesministerium des Innern dazu gemachten „allgemeinen Vorgaben“ (als „Arbeitshilfe“ bezeichnet [liegt den Autoren vor]) deuten an, dass bei etwaigen zusätzlichen Haushaltsbelastungen anderweitige „Einsparungen“ mitzudenken sind (S. 2 der „Arbeitshilfe“). Weiter ist, so § 44 Abs. 7 GGO, festzulegen, ob und, falls ja, wann zu prüfen ist, ob entstandene Kosten in einem „angemessenen“ Verhältnis zu den Ergebnissen stehen. Nach § 45 Abs. 5 S. 1 GGO sollen „kostspielige Vorarbeiten“ unter bestimmten Voraussetzungen nicht begonnen werden. Die Liste ließe sich fortsetzen, doch wird hiermit schon hinreichend deutlich, dass das Wirtschaftlichkeitsprinzip in den hier benannten Ausprägungen durchaus Beachtung findet. Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber der GGO, gerade im Hinblick auf die Gesetzesbegründungsvorgaben, statt vieler F. Brosius-Gersdorf, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band II, 3. Auflage, 2015, Art. 76 Rn. 30 mit Nachweisen zu allen Ansichten.



IV. Kostenvermeidungszweck35

das Bundesverfassungsgericht in seiner Pflichtexemplar-Entscheidung122 eine uneingeschränkte Ablieferungspflicht für Verleger von „Druckwerken“ für unverhältnismäßig gehalten hat, da eine solche Pflicht die Verleger von besonders teuren und in geringer Auflage hergestellten Werken zu intensiv in ihrem Recht auf Eigentumsfreiheit gemäß Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG beschränke.123 Jedoch verwarf das Bundesverfassungsgericht die diesen Fall regelnde 122  BVerfG,

plar.

Beschl. v. 14.7.1981, 1 BvL 24/78, BVerfGE 58, 137 – Pflichtexem­

123  Eine Verletzung der Eigentumsfreiheit der Verleger von „Druckwerken“, worunter das Bundesverfassungsgericht die „Gesamtheit aller Druckstücke“ (BVerfG, Beschl. v. 14.7.1981, 1 BvL 24/78, BVerfGE 58, 137 [145] – Pflichtexemplar) verstand, anzunehmen, ist bedenklich, zumindest missverständlich. Es ist schon zweifelhaft, ob die damalige Vorschrift nicht eher an der Berufsfreiheit zu messen war, schließlich knüpfte die Ablieferungspflicht unmittelbar an die Verlegereigenschaft, also an einen Beruf, an, die zumindest theoretisch von der Eigentümerstellung abweichen könnte (BVerfG, Beschl. v. 14.7.1981, 1 BvL 24/78, BVerfGE 58, 137 [145] – Pflichtexemplar). Aber selbst wenn man unterstellt, dass Verleger stets Eigentümer der Druckstücke sind, bestand (und besteht) nach der Eigentumsordnung kein Eigentum an der Sachgesamtheit „Druckwerk“. Das Bundesverfassungsgericht nimmt die Eigentumsrelevanz wegen der Belastung des „Eigentums am Druckwerk als der ­Gesamtheit aller Druckstücke“ bei Entstehung desselbigen an („Dieses Eigentum am Druckwerk ist schon bei seiner Entstehung […] belastet“, BVerfG, Beschl. v. 14.7.1981, 1 BvL 24/78, BVerfGE 58, 137 [144–145] – Pflichtexemplar). Das Objekt, welches (begrifflich) als Anknüpfungspunkt für die Verhaltenspflicht des Verlegers gewählt wurde, war somit überhaupt nicht von der Gewährleistung des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG umfasst (zwar wäre es verfehlt, die Eigentumsordnung allein im Privatrecht zu suchen [so auch BVerfG, Beschl. v. 15.7.1981, 1 BvL 77/78, BVerfGE 58, 300  – Nassauskiesung]; grundsätzlich könnte also ein öffentlichrechtliches „Pflichtexemplargesetz“ Inhalt und Schranken des Eigentums ­ bestimmen. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass durch ein solches Gesetz ein Eigentumsobjekt geschaffen würde, selbst wenn es sich bei dem Objekt um eine Sachgesamtheit wie dem Druckwerk handelte. Das Druckwerk dürfte aber de lege lata die verfassungsrechtliche Definition des Eigentums nicht erfüllen, weil sein „Eigentümer“ keinerlei Befugnisse hat, über das Druckwerk als Sachgesamtheit zu verfügen [zu diesem Definitionsmerkmal BVerfG, Beschl. v. 8.3.1988, 1 BvR 1092/84, BVerfGE 78, 58  – Ausstattungsrecht]). Man müsste konsequenterweise von einer bruchstückhaften Belastung eines jeden (einzelnen) Druckstücks sprechen. Allein, worin sollte diese liegen? In der Wahrscheinlichkeit, innerhalb der Auflage als das abzuliefernde Exemplar ausgewählt zu werden? Das Bundesverfassungsgericht nahm eine Unverhältnismäßigkeit (eines Teils der Regelung) schließlich wegen der „einseitigen Belastung“ von Verlegern an, die „im Vergleich zu den normalen verlegerischen Aktivitäten ein wesentlich erhöhtes wirtschaftliches Risiko“ eingehen und „[e]rst durch [ihre] private Initiative und Risikobereitschaft“ distinguierte Werke der Öffentlichkeit erschließen (BVerfG, Beschl. v. 14.7.1981, 1 BvL 24/78, BVerfGE 58, 137 [150] – Pflichtexemplar). Es argumentierte also, dass die Benachteiligung besonderen unternehmerischen Tätigwerdens, nicht die Belastung eines bestimmten Eigentumsgutes die Verfassungswidrigkeit bedingte. Man könnte auch überspitzt sagen, dass dem Verleger eines wertvollen Kleinstauflagenwerkes wenig bis gar nichts an seinem

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B. Fundierung der Beachtlichkeit finanzieller Mehrbelastungen

Norm (§ 9 des Hessischen Gesetzes über Freiheit und Recht der Presse [PrG He])124 nicht, sondern stellte lediglich ihre Unvereinbarkeit mit der Verfassung fest und gab dem hessischen Landesgesetzgeber auf, eine verfassungskonforme Norm zu schaffen. Der hessische Landesgesetzgeber kam dem dadurch nach, indem Verleger von Werken der oben genannten Art fortan auf Antrag für ihre aus der Ablieferungspflicht erwachsenden Unkosten zu entschädigen seien, führte also eine Härtefallregelung ein. Bereits aus dem Gesetzesentwurf der Landesregierung Hessens geht hervor, dass diese den Kostenfaktor der Neuregelung einschätzte („Da entschädigungspflichtige Fälle selten sind, werden die finanziellen Mehraufwendungen gering sein. Es werden jeweils die Herstellungskosten eines Buches zu erstatten sein, die allerdings über dem Üblichen liegen.“125), was vermuten lässt, dass eine andere Prognose über die Kostenhöhe möglicherweise einen anders gestalteten Gesetzentwurf nach sich gezogen hätte. Bei der Neuregelung orientierte sich der hessische Gesetzgeber unter anderem an dem damaligen § 12 Abs. 3 des Pressegesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (PrG NRW)126:127 Dessen ursprünglicher Entwurf sah zunächst vor, dass eine Ablieferungspflicht alle Verleger treffen sollte, aber auch alle Verleger – also nicht nur die der besonders teuer und in kleiner Auflage produzierten Werke – eine Unkostenerstattung verlangen könnten („Der Verleger kann bei Ablieferung eine Entschädigung in Höhe seiner Selbstkosten fordern.“128). Diese Regelung wurde jedoch (unterstellten) Eigentum liegt – er wird die Werke verlegen, um sie zu verkaufen und zu übereignen –, solange er finanzielle Kompensation für seine Mühen erhält. Entspricht das nicht einer typischen berufsfreiheitsrechtlichen Konstellation? Die Frage wirft schon S. Kempny, Steuerrecht und Verfassungsrecht, StuW 2014, S. 185 (189 Fn. 30), auf. Nach U. Hösch, Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie – eine Eigentumsfrage?, ThürVBl. 2000, S. 217 (219–220 bei und mit Fn. 41), ist die „Nutzung von Eigentumsobjekten [...] nicht als Eigentum“, sondern durch Art. 12 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG zu schützen. Beachtlich auch J. Burmeister, Grundrechtsschutz des Eigentums außerhalb der Eigentumsgarantie. Vorüberlegungen zu einer dogmatischen Neustrukturierung der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie, in: Josef Isensee/Helmut Lecheler (Hrsg), Freiheit und Eigentum. Festschrift für Walter Leisner zum 70. Geburtstag, 1999, S. 675–677, der dem Bundesverfassungsgericht zwar im Ergebnis beipflichtet, den Prüfungsmaßstab indes in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG erkennt, da hierin das gemeinwohlverpflichtete Schöpfungseigentum aufgefangen sei (verfehlt jedoch sein Schluss, dass Ablieferungspflichten einen „evident verfassungs­ widrige[n] Eingriff“ in Art. 12 Abs. 1 GG darstellten, weil dieses Grundrecht keine Ausgestaltungsbefugnis kenne, vermittels deren die Gemeinwohlbindung verwirklicht werden könne). 124  GVBl. Hessen 1958, S. 183. 125  Landtag Hessen, Drs. 9/6334, C. Finanzielle Mehraufwendungen, S. 1. 126  GVBl. Nordrhein-Westfalen 1966, S. 340. 127  Landtag Hessen, Drs. 9/6334, S. 4. 128  Landtag Nordrhein-Westfalen, Drs. 5/286, § 12 Abs. 1 S. 3, S. 8.



IV. Kostenvermeidungszweck37

durch den Hauptausschuss und von Mitgliedern des Justizausschusses129 des nordrhein-westfälischen Landtages dahingehend verändert, dass nur noch den bereits bezeichneten „Härtefällen“ eine Kostenerstattung auf Antrag zu gewähren sei („Auf Antrag ist eine Entschädigung in Höhe der Selbstkosten zu gewähren, wenn die unentgeltliche Ablieferung insbesondere wegen der Auflage oder des Wertes des Druckwerks dem Verleger nicht zugemutet werden kann.“130), während alle anderen Verleger die Werke auf eigene Kosten abliefern müssten („Von jedem Druckwerk, das im Geltungsbereich dieses Gesetzes verlegt wird, hat der Verleger an nachstehende Bibliotheken ein Stück unentgeltlich und auf eigene Kosten abzuliefern.“131). Diese Regelung verdrängt freilich den ursprünglichen, für alle außer die Härtefälle milderen Entwurf, verursacht aber auch weit weniger Kosten für die staatlichen Abnehmer. Zudem wurde im Entwurf durch den Hauptausschuss des Landtages eine Änderung von einem zunächst vorgesehenen System der „Anbietungsverpflichtung“ zu einem System der „Ablieferungspflicht“ vorgenommen, um Kosten zu sparen („Der Ausschuß hat in seinem Vorschlag ferner empfohlen, von der in der Regierungsvorlage vorgesehenen Anbietungsverpflichtung abzusehen und statt dessen wieder die Ablieferungspflicht vorzusehen. Die Anbietungsverpflichtung würde nämlich bereits dadurch einen größeren Verwaltungsaufwand verursachen, daß die sammelnde Bibliothek auswählen und entsprechende Bescheide im Einzelfall erteilen müsste.“132). Letzterer Entwurf wurde in zweiter Lesung auch angenommen.133 In jüngerer Vergangenheit wurde die entsprechende Regelung (seit 1993 nicht mehr im PrG NRW, sondern im Gesetz über Ablieferung von Pflichtexemplaren in Nordrhein-Westfalen [PflichtexemplarG NRW] enthalten) sogar dahingehend abgeändert, dass auch die Härtefälle nur noch in Höhe des

129  Landtag

Nordrhein-Westfalen, Plenarprotokoll 5/76, S. 2814 A. Nordrhein-Westfalen, Drs. 5/1079, § 12 Abs. 3, S. 8. 131  Landtag Nordrhein-Westfalen, Drs. 5/1079, § 12 Abs. 1, S. 8. So auch im Plenum vom Berichterstatter des Hauptausschusses des Landtages erläutert: „Unter diesen Umständen erschien es dem Ausschuß vertretbar, davon abzusehen, daß in jedem Fall eine Entschädigung verlangt werden kann. Eine Entschädigung ist daher auf Antrag nur in denjenigen Fällen zu gewähren, in denen die unentgeltliche Ablieferung insbesondere wegen der Auflage oder des Wertes des Druckwerkes dem Verleger nicht zugemutet werden kann.“ (Landtag Nordrhein-Westfalen, Plenarprotokoll 5/76, S. 2817 D). 132  Landtag Nordrhein-Westfalen, Plenarprotokoll 5/76, S. 2817 D. Mit „Verwaltungsaufwand“ wird hiermit vorrangig das hier behandelte Thema Kosten (für neu zu schaffende Planstellen in den jeweiligen Bibliotheken) aufgegriffen. Siehe auch den Satz „Die Kosten könnten ins Ungemessene steigen.“, Landtag Nordrhein-Westfalen, Plenarprotokoll 5/76, S. 2817 D, bezogen auf mögliche Unterbringungskosten. 133  Landtag Nordrhein-Westfalen, Plenarprotokoll 5/76, S. 2833 C. 130  Landtag

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B. Fundierung der Beachtlichkeit finanzieller Mehrbelastungen

hälftigen Ladenpreis134 entschädigt135 werden können. Zudem ist eine solche Entschädigung nun erst möglich, wenn das abzugebende Druckwerk einen Ladenpreis von mehr als 200 € hat. Auch diese Anhebung der Voraussetzungen für eine Erstattung dient dem Sparen von Kosten: Da der Preis von Druckwerken seit 1993 allgemein angestiegen ist, sollen nicht zu viele Verleger eine Entschädigung verlangen können sollen, sondern nur diejenigen, deren Werke Preis auch heute als hoch genug anzusehen ist. In den Worten des Gesetzentwurfs: „Die Anhebung der Preisgrenze auf 200 Euro vollzieht die seit dem Erlass des Pflichtexemplargesetzes 1993 erfolgten Preissteigerungen teilweise nach.“136 Dies ist nicht das einzige Beispiel für einen Eingriff mit dem Ziel, Kosten zu sparen.137 134  Die Entschädigung aufgrund von § 6 PflichtexemplarG NRW n. F. orientiert sich nunmehr am Ladenpreis, nicht wie ehedem die Erstattung gemäß § 5 Pflicht­ exemplarG NRW a. F. an den Unkosten. Für die Zwecke dieser Untersuchung soll davon ausgegangen werden, dass 50 % des Ladenpreises die Unkosten nicht decken. 135  Von einer „Erstattung“ spricht das Gesetz nicht mehr, da eben nicht tatsächlich angefallene Kosten zurückgewährt werden sollen, sondern der Verleger pauschal entschädigt werden soll (unabhängig davon, welche Kosten ihm tatsächlich entstanden sind). Alleiniger Anknüpfungspunkt für die Entschädigungshöhe soll nun der Ladenpreis sein. 136  Landtag Nordrhein-Westfalen, Drs. 16/179, S. 14, § 6. 137  Siehe die in Abschnitt C. II. 1. d) bb) aufgegriffene Entscheidung BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 (insbesondere 177) – Kassenarzt, zum Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen, das (so formuliert es das Bundesverfassungsgericht) erlassen wurde, um „die Kostendämpfung zu verbessern“; die dazugehörige BT-Drs. 11/2237: S. 2 („Die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung wird erhöht“), 132 („der Anstieg der Ausgaben der GKV [ist] zu einer gefährlichen Belastung […] geworden“; der „Verschwendung von Finanzmitteln“ müsse begegnet und „Anreize für wirtschaftliches und sparsames Verhalten“ müssten gesetzt werden), 137 („Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung“), 156 („Maßnahmen zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit“ und zur Begegnung „erwachsende[r] Gefahren für [die] Finanzierbarkeit der gesundheitlichen Versorgung“), 158 („[d]ie Regelung verpflichtet die Krankenkassen zu einer sparsamen Betriebs- und Haushaltsführung […]“). Die Regelung („Ausschluß einer Neuzulassung […] von Ärzten, die das 55. Lebensjahr vollendet haben“), die Gegenstand des eingangs dieser Fußnote genannten Verfahrens war, wurde eingeführt, um „[k]ostenbewußtes Verhalten bei Leistungserbringern durch[zu]setzen“, S. 150–151 (zu der konkreten Vorschrift noch S. 195: „Der Zustrom von Ärzten, die das 55. Lebensjahr bereits vollendet haben, führt zu einer Gefährdung der Wirtschaftlichkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung. Es ist zu befürchten, daß Ärzte, die die kassenärztliche Tätigkeit nur während einer relativ kurzen Zeit ausüben können, die Amortisation ihrer Praxisinvestitionen durch gesteigerte und unwirtschaftliche Tätigkeit zu erreichen versuchen.“). Ein explizites „Sparziel“ erkennt BVerfG, Beschl. v. 15.7.1987, 1 BvR 488, 1220, 628, 1278/86; 1 BvL 11/86, BVerfGE 76, 220 (240–244) – Arbeitsförderung, mit dem sodann eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt wird. Ähnlich BVerfG, Beschl.



V. Zusammenfassung39

V. Zusammenfassung Es wird allgemein als legitim angesehen, Freiheitseingriffe zur Vermeidung finanzieller Mehrkosten vorzunehmen beziehungsweise mildere Alternativmaßnahmen, gerade weil sie Mehrkosten verursachen, nicht zu berücksichtigen. Als Begründung wird folgendes vorgeschlagen: • Nach L. Clérico schafft der Staat mit eingesparten Mehrkosten die Voraussetzungen für die Freiheitsausübung von Bürgergruppen, denen diese Voraussetzungen ansonsten abgehen.138 • A.  v.  Arnauld sieht keinen Bedarf zur Begründung von Kostenvermeidungsbemühungen des Staates, da diese zumindest nicht im Widerspruch zur Verfassung stehen und damit erlaubt seien.139 • Th. Wischmeyer sieht dadurch, dass das Bundesverfassungsgericht (in aller Regel) finanzwirksame Alternativmittel unberücksichtigt lässt, die Haushaltsautonomie des unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebers geschützt.140 • Ergänzend dazu kann angenommen werden, dass die Kostenvermeidung einen Zweck im Sinne der Terminologie der Verhältnismäßigkeitsprüfung darstellt, der im verfassungsrechtlichen Prinzip der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit aus Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 114 Abs. 2 GG verankert ist.141

v. 8.4.1987, 1 BvR 564, 684, 877, 886, 1134, 1636, 1711/84, BVerfGE 75, 78 (100– 101) – Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz. 138  Abschnitt B. I. 139  Abschnitt B. II. 140  Abschnitt B. III. 141  Abschnitt B. IV.

C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur „Maß ist zu allen Dingen gut.“142

In Rechtsprechung und Literatur sind bislang unterschiedliche Ansätze vertreten worden, die des Problems der freiheitsschonenderen, aber teureren Alternativmittel Herr werden sollten. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, diese Ansichten darzustellen, zu ordnen, aus ihnen prüfungstaugliche Definitionen für Erforderlichkeit und Angemessenheit zu destillieren und diese mittels beispielhafter Verhältnismäßigkeitsprüfungen auf ihre Operationalisierbarkeit zu untersuchen sowie Stärken und Schwächen zu erörtern.143 Dazu wird ein Beispiel vorangestellt (Abschnitt C. I.), worauf die einzelnen Ansätze nach zunächst abstrakter Darstellung angewendet werden (Abschnitt C. II.).

I. Beispielsfall – Sachverhalt Zur Veranschaulichung der nachfolgenden Untersuchungen soll ein abgewandeltes144 Liquorentnahme-Beispiel in die verschiedenen, noch darzustellenden Modelle eingefasst werden: B, Geschäftsführer und Hauptgesellschafter der GmbH G, wird beschuldigt, eine Untreue gemäß § 266 Abs. 1 Var. 1 StGB zum Nachteil der G begangen zu haben, weil er verschuldet haben soll, dass gegen G Bußgelder in einer Höhe von insgesamt 1.000 € verhängt wurden. Die Bußgelder wurden später wegen Uneinbringlichkeit niedergeschlagen. Im Ermittlungsverfahren soll festgestellt werden, ob B schuldfähig sei. Dafür ordnet die Ermittlungsrichterin eine Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion gemäß § 81a Abs. 1 S. 1, S. 2 Fall 2, Abs. 1a StPO an. [Der fiktive] Abs. 1a lautet wie folgt: 142  Deutsches Sprichwort. Zitiert nach K. Simrock, Die deutschen Volksbücher. Gesammelt und in ihrer ursprünglichen Echtheit wiederhergestellt. Fünfter Band. Deutsche Sprichwörter, 1846, S. 320 Nr. 6857. 143  Die Prüfungen werden nicht vollkommen ohne Wertungen auskommen. Die getroffenen Wertungsentscheidungen erheben keinen Anspruch auf Zustimmung, sie dienen ausschließlich der Exemplifizierung. 144  Zum Originalfall siehe Fn. 147. Im Wesentlichen wurde der für die Zwecke dieses Aufsatzes vornehmlich interessante Kostenaspekt hinzugefügt und § 81a StPO um einen fiktiven Abs. 1a erweitert, damit die freiheitsschonendere Okzipitalpunktion auf Gesetzesebene als Alternative in Betracht komme.



I. Beispielsfall – Sachverhalt41 „Ist die festzustellende Tatsache im Sinne von Absatz 1 Satz 1 die Schuldfähigkeit des Beschuldigten, so ist als anderer körperlicher Eingriff im Sinne von Absatz 1 Satz 2 Fall 2 eine Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion durchzuführen.“

Eine Lumbalpunktion erfolgt durch den Einstich einer langen Hohlnadel in den Wirbelkanal im Bereich der oberen Lendenwirbel. Dieser Eingriff hat, sofern er fachkundig ausgeführt wird, keinen seelischen Schock oder dauerhafte körperliche Schäden zur Folge, ist jedoch äußerst schmerzhaft und führt in 10 % der Fälle zu starken Kopf- und Rückenschmerzen sowie Übelkeit über mehrere Tage. Jede Lumbalpunktion kostet 100 €. Medizinisch könnte eine Liquorentnahme auch mittels Okzipitalpunktion erfolgen, bei der ein ebenso schmerzhafter Einstich im Bereich zwischen Schädel und oberem Halswirbel erfolgt. Eine Lumbalpunktion liefert in 100 % der Fälle eine eindeutige Auskunft über die Schuldfähigkeit desjenigen, dem der Liquor entnommen wurde. Auch eine Okzipitalpunktion lässt die Schuldfähigkeit mit einhundertprozentiger Sicherheit erkennen. Sie ruft zudem nur in 1 % der Fälle die obigen Nebenwirkungen hervor. Indessen erfordert sie eine dünnere, dennoch stabile und deswegen teurere Hohlnadel und zusätzlichen Personaleinsatz zur Ruhigstellung des Patienten. Daher kostet jede Okzipitalpunktion mehr. Andere Mittel zur Feststellung der Schuldfähigkeit kommen nicht in Betracht. Der Sachverhalt ist bezüglich folgender Punkte variabel: •• Es müssen jährlich145 entweder 50 oder 150.000 Liquorentnahmen durchgeführt werden. •• Die Mehrkosten für die Untersuchung mittels Okzipitalpunktion betragen entweder 0,20 € oder 600 €. •• Die deutschen Staatshaushalte weisen entweder einen hohen Haushaltsüberschuss oder ein hohes Haushaltsdefizit auf.146 Untersucht werden soll nun jeweils unter Anwendung der verschiedenen Meinungen, ob § 81a Abs. 1a StPO verhältnismäßig sei.147 145  Zu

unterstellen ist, dass dies der maßgebliche Haushaltszeitraum sei. Übersichtlichkeit werden andere denkbare abwägungsrelevante Variablen an dieser Stellte nicht genannt. Zu solchen Fn. 168. 147  Im historischen Fall, BVerfG, Beschl. v. 10.6.1963, 1 BvR 790/58, BVerfGE 16, 196 – Liquorentnahme (zuweilen auch Hohlnadel-Entscheidung), ordnete ein Amtsrichter in der Hauptverhandlung eine Liquorentnahme an, wobei die Auswahl zwischen Lumbal- und Okzipitalpunktion nach fernmündlicher Erklärung des Gerichtsarztes, beide Eingriffe seien gleichwertig, dem behandelnden Arzt überlassen wurde (S. 196). Der Beschwerdeführer brachte unter anderem vor, dass eine Okzipitalpunktion unangenehmere Folgen habe (S. 197). Das Bundesverfassungsgericht holte daraufhin ein Sachverständigengutachten namentlich über die Frage ein, ob eine Okzipitalpunktion wesentlich schmerzhafter und gefährlicher sei. Der Sachverständige gutachtete, dass Lumbal- und Okzipitalpunktion für den Betroffenen gleichwertig seien, obgleich bei 146  Zur

42

C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

II. Die Ansätze im Einzelnen Die erste Gruppe von Ansätzen begegnet dem Problem kostenintensiverer, aber freiheitsschonender Alternativmittel durch eine verbale Erweiterung der Erforderlichkeitsdefinition (Abschnitt C. II. 1.). Ein weiterer Ansatz führt hierzu eine Kosten-Nutzen-Abwägung auf Ebene der Erforderlichkeit durch (Abschnitt C. II. 2.). Weiter wird vorgeschlagen, eine inzidente Verhältnis­ 10 % der Lumbalpunktionen Kopf-, Rückenschmerzen und Übelkeit aufträten, diese Beschwerden bei Okzipitalpunktionen dagegen nicht zu beobachten seien und letztere auch noch weniger schmerzhaft sei (S. 197). Das Bundesverfassungsgericht bejahte einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, weil Gesundheitsbeeinträchtigungen möglich, nach dem Sachverständigengutachten „bei der Lumbalpunktion sogar in 10 % aller Fälle zu erwarten“ seien (S. 198–199). Vor dem Hintergrund des Sachverständigengutachtens könne die Liquorentnahme dennoch nicht als schlechthin verfassungswidriger Eingriff (im Sinne von § 81a Abs. 1 S. 2 StPO) angesehen werden (S. 201), weshalb es auf die Verhältnismäßigkeit der Liquorentnahmeanordnung durch den Richter im Einzelfall ankomme (S. 201–202). Das Gericht überging allerdings die Erforderlichkeit der Lumbalpunktion im Einzelfall und prüfte nur, ob „die Liquorentnahme“ im angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat stand. Da „die Liquorentnahme in ihren beiden Formen ein nicht belangloser körperlicher Eingriff“ sei, wurde sie im konkreten Fall für nicht gerechtfertigt erachtet (wie es einer „Superrevisionsinstanz“, welche das Bundesverfassungsgericht bekanntermaßen nicht darstellt [beziehungsweise nicht darstellen möchte] würdig wäre, bewertete das Gericht die Schwere der Tat – da die gegenüber der GmbH verhängten Bußgelder niedergeschlagen worden seien, sei niemand geschädigt worden, und ohnehin sei in einem Bagatellfall wie diesem eine Einstellung wegen Geringfügigkeit in Erwägung zu ziehen) (S. 203). Nähme man das Gutachten des Sachverständigen ernst, müsste die Okzipitalpunktion als gleich geeignet und zugleich milder befunden werden. Das hieße, dass jede Anordnung, die die Möglichkeit einer Lumbalpunktion eröffnete, stets unverhältnismäßig, weil nicht erforderlich, wäre. Die Frage, ob eine Okzipitalpunktion angemessen wäre, stellte sich, streng genommen, schon nicht. Sicherlich bärge ein Verdikt, mit dem eine Lumbalpunktion für nicht erforderlich befunden würde, weil eine Okzipitalpunktion gleich geeignet und zugleich milder wäre, die Gefahr, dass eine Okzipitalpunktion angeordnet werde. Eine solche wäre freilich für das im materiellen Strafrecht versierte Bundesverfassungsgericht unangemessen gewesen, weswegen das Urteil, welches beide Formen der Liquorentnahme für nicht gerechtfertigt erklärte, die Rechtsansicht des Gerichts vollständiger zum Ausdruck brachte. Wiewohl es hierzu bei genauer Betrachtung keinen Anlass gab, ist das Urteil insofern verständlich. Wenn das Urteil nur eine Sache verdeutlicht, dann die, dass, wenn in einem gewählten Mittel (Anordnung der Lumbal- oder Okzipitalpunktion) ein freiheitsschonenderes Alternativmittel (Okzipitalpunktion) enthalten ist (eine Lumbalpunktion wäre nach dem Gutachten schließlich eingriffsintensiver), eine Abwägung des Alternativmittels im Zuge einer abgeschichteten Abwägung (siehe dazu unter D.) des gewählten Mittels möglich ist. Eine Unangemessenheit des Alternativmittels schlägt (zumindest in Ein-Zweck-Konstellationen) zwingend auf das gewählte Mittel durch. So gesehen, hätte die Prüfung der Angemessenheit keinen Mehrwert gegenüber der Erforderlichkeitsprüfung. Auf diesem Wege wird allerdings eine in Betracht kommende Erfüllungsalternative im Vorhinein abgeschnitten, wozu im Rahmen der Erforderlichkeit kein Raum wäre.



II. Die Ansätze im Einzelnen43

mäßigkeitsprüfung in die Erforderlichkeitsebene einzuschieben (Abschnitt C.  II.  3.). Den Abschluss bildet eine Ansicht, wonach kostenintensivere Alternativen sich auf Erforderlichkeits- und Angemessenheitsebene nicht ergebnisrelevant auswirken, aber ein finanzwirksames gerichtliches Instrumentarium zur Sicherstellung der Angemessenheit bestehe (Abschnitt C. II. 4.). 1. Verbale Erweiterung der Erforderlichkeitsdefinition Die Ansichten, welche eine verbale Erweiterung der Erforderlichkeitsdefinition vornehmen, unterscheiden sich zwar, können aber schwerlich getrennt werden, da sie insgesamt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurzeln und sich mit ihr (weiter-)entwickelt haben, aufeinander Bezug nehmen oder sich gegenseitig zitieren. Da sie in der Verfassungsrechtsprechung weiterhin Bestand haben, dominieren sie auch die Kommentar- und (die sich äußernde) Lehrliteratur. Auf der Ebene der Erforderlichkeit hat historisch – maßgeblich beeinflusst durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung – eine Entwicklung stattgefunden, die grob in drei Phasen (dazu Abschnitte C. II. 1. a), C. II. 1. b) und C. II. 1. c)) unterteilt werden kann. Dabei fällt auf, dass auf der Angemessenheitsebene (Mehr-)Kostengesichtspunkte nicht mehr angesprochen zu werden pflegen. a) Das „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ging zuerst von folgender Prämisse bezüglich der Erforderlichkeit eines Grundrechtseingriffes (in Anbetracht eines milderen, aber für den Staat teureren Alternativmittels) aus: „Wenngleich Grundrechte nicht nur nach Maßgabe dessen bestehen, was an Verwaltungseinrichtungen vorhanden ist, kann der Einzelne im Blick auf seine Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit doch nicht erwarten, daß zur Vermeidung grundrechtsbeschränkender Maßnahmen mit dem Ziel der Bewältigung sozialer Mißstände die nur begrenzt verfügbaren öffentlichen Mittel über das vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß hinaus zum Ausbau der für die Bekämpfung dieser Mißstände zuständigen Behörde verwendet werden.“148 148  BVerfG, Beschl. v. 6.10.1987, 1 BvR 1086, 1468, 1623/82, BVerfGE 77, 84 (110–111) – Arbeitnehmerüberlassung, Hervorhebungen hinzugefügt, Nachweise weggelassen; nahezu gleicher Wortlaut in BVerfG, Beschl. v. 14.11.1989, 1 BvL 14/85, 1 BvR 1276/84, BVerfGE 81, 70 (91–92) – Rückkehrgebot; und BVerfG, ­Beschl. v. 3.7.2007, 1 BvR 2185/06, BVerfGE 119, 59 (86) – Hufversorgung. Entlehnt ist diese Formulierung der Rechtsprechung zu sogenannten Teilhaberechten (siehe nur BVerfG, Urt. v. 18.7.1972, 1 BvL 32/70, 1 BvL 25/71, BVerfGE, 33, 303

44

C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

Zur „Kontextualisierung“149 dieser und der folgenden Entscheidungen bietet es sich an, den jeweilig behandelten Sacherhalt knapp darzustellen. In der eben wörtlich zitierten Arbeitnehmerüberlassung-Entscheidung150 richteten die Beschwerdeführer sich gegen ein Verbot (jedweder, auch vormals legaler) gewerbsmäßiger Arbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe, das der Gesetzgeber zur Bekämpfung der steigenden Zahl (bereits nach alter Rechtslage) illegaler Arbeitnehmerüberlassungen erlassen hatte. Die vorgebrachte vermeintliche Alternative, schlicht weiterhin ehedem illegale Arbeitnehmerüberlassungen zu verbieten, die Einhaltung der Gesetze aber verstärkt zu kontrollieren, wurde vom Gericht deshalb als untauglich erachtet, weil mit der bisherigen personellen Ausstattung der zuständigen Behörden diese Vorgehensweise nicht in gleich geeigneter Weise möglich war, sondern zunächst zur Herstellung der Gleicheignung die personellen Mittel dieser Behörden aufgestockt hätten werden müssen. Der Gesetzgeber durfte den dadurch entstehenden Kostenaufwand „als unzumutbar ansehen“151. Begründet wird diese Unzumutbarkeit mit der Gemeinschaftsgebundenheit des Einzelnen und der daraus folgenden Begrenzung von Mehraufwendungen auf das „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“. Ähnlich lag der Fall in der Rückkehrgebot-Entscheidung152 und in der Hufversorgung-Entschei[333] – Numerus clausus I: „Auch soweit Teilhaberechte nicht von vornherein auf das jeweils Vorhandene beschränkt sind, stehen sie doch unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann. Dies hat in erster Linie der Gesetzgeber in eigener Verantwortung zu beurteilen, der bei seiner Haushaltswirtschaft auch andere Gemeinschaftsbelange zu berücksichtigen […] hat“). Bei Teilhaberechte (so man sie überhaupt anerkennt) stellen sich Verteilungsfragen, weswegen sie den Gleichbehandlungsrechten zuzurechnen sind (siehe etwa H. Dreier, in: Horst Dreier [Hrsg.], Grundgesetz. Kommentar, Band I, 3. Auflage, 2013, Vorbemerkungen vor Artikel 1 Rn. 89, 93) und nicht Gegenstand dieser Untersuchung sind (siehe Fn. 14). 149  Abermals im Sinne von O. Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, S. 793. Siehe auch ab Fn. 72. 150  BVerfG, Beschl. v. 6.10.1987, 1 BvR 1086, 1468, 1623/82, BVerfGE 77, 84 – Arbeitnehmerüberlassung. 151  BVerfG, Beschl. v. 6.10.1987, 1 BvR 1086, 1468, 1623/82, BVerfGE 77, 84 (110) – Arbeitnehmerüberlassung. 152  BVerfG, Beschl. v. 14.11.1989, 1 BvL 14/85, 1 BvR 1276/84, BVerfGE 81, 70 – Rückkehrgebot. Verfahrensgegenständlich war die Pflicht von Mietwagenunternehmern, ihre Mietwagen nach beendeter Fahrt – abgesehen von hier unwesentlichen Ausnahmen – zu ihrem Geschäftssitz zurückführen, ohne unterwegs Fahrgäste aufnehmen zu dürfen. Diese Regelung diente dazu, zu verhindern, dass Mietwagenunternehmer in das Geschäftsfeld von Taxibetreibern eingriffen, und insbesondere der erleichterten Überwachung der Gesetzeseinhaltung für die Verwaltungsbehörden. Auch dort wurde durch die Grundrechtsberechtigten vorgebracht, die Mietwagenbetreiber könnten auch ohne das Rückkehrgebot und die damit verbundenen Leerfahrten zurück zum Geschäftssitz zur Einhaltung der Regeln gezwungen werden, wenn die



II. Die Ansätze im Einzelnen45

dung153. Es ging also jeweils darum, dass der Grundrechtsberechtigte auf ein Alternativmittel in Gestalt eines gänzlich anderen Lösungsansatzes (verstärkte Kontrollen durch den Gesetzgeber nur des bisher verbotenen Verhaltens anstelle eines Totalverbots) verwiesen hatte. Das Gericht erteilte diesen Alternativen eine Absage, weil sie nur dann gleich geeignet wären, wenn diese Gleicheignung zuerst durch den unzumutbar hohen Aufwand staat­ licher Mittel hergestellt würde. Für eine Erforderlichkeitsprüfung bedeutet dieser Ansatz, dass Alternativmittel, die für die Betroffenen zwar milder, aber, vereinfacht gesagt, „für den Staat zu teuer“ sind, keine Auswirkungen auf die rechtliche Bewertung des gewählten Mittels haben. Wann etwas „zu teuer“ ist, also das „vernünftigerweise […] erwartbare Maß“ übersteigt, blieb bislang in der Verfassungsrechtsprechung offen. Dort begnügte man sich immer mit der Feststellung, dass eben dieses Maß durch ein bestimmtes Alternativmittel überschritten sei. Selbst Kriterien für dieses „vernünftigerweise […] erwartbare Maß“ sucht man vergebens. Solche sind aber Voraussetzung dafür, begründen zu können, welches Maß an Mehrkosten der Gesellschaft im Einzelfall zumutbar wäre. Maßgebliche Kriterien könnten sein, um welche durch das gewählte Mittel verursachte Freiheitsbeschränkung (welcher Freiheitsrechte? welcher Intensität?) zu welchem Zweck es geht und welche Abmilderung durch eine wie hohe Aufwendung öffentlicher Mittel erzielt werden könnte. Auch die Haushaltslage könnte eine Rolle spielen. Ob das Gericht tatsächlich diese Kriterien für maßgeblich erachtet, lässt sich, bis es sich festlegt, nicht sagen. Ohne Zweifel sind die entsprechenden Kriterien alles andere als wertungsfrei. Eine absolute Absage an jedwede Mehrkosten ist hierdurch aber keinesfalls erteilt, stellt das Gericht doch meist im vorangehenden Satz klar, dass Grundrechte „nicht nur nach Maßgabe dessen bestehen, was an Verwaltungseinrichtungen vorhanden ist“.154 Auch wäre ein Verweis auf das von der Gesellschaft „vernünftigerweise […] erwartbare Maß“ überflüssig, wenn selbiges immer gleich null wäre. Nur ein Hinausgehen über dieses Maß führt zur Absage an die Alternative.

Behörde die Einhaltung des bestehenden Rechts schlicht verstärkt kontrollieren würde. Das Gericht erteilte dieser Alternative aus denselben Gründen wie in der Arbeitnehmerüberlassung-Entscheidung eine Absage. 153  BVerfG, Beschl. v. 3.7.2007, 1 BvR 2185/06, BVerfGE 119, 59 – Hufversorgung. Das Gericht verwarf eine Alternative, die zwar den Beschwerdeführer entlastet hätte, zur Herstellung ihrer Gleicheignung aber ebenfalls einer Aufstockung von Personal der Überwachungsbehörden bedurft hätte (die der Gesetzgeber als zu teuer ansehen durfte). 154  (Siehe zum Beispiel) BVerfG, Beschl. v. 6.10.1987, 1 BvR 1086, 1468, 1623/82, BVerfGE 77, 84 (110) – Arbeitnehmerüberlassung, Nachweise weggelassen.

46

C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

In der Literatur wird diese Rechtsprechung etwa so zusammengefasst: Es seien zwei Instrumente, von denen eines einen „erheblichen“ Mehraufwand bedinge, auf Ebene der Erforderlichkeit gar nicht erst vergleichbar.155 Th. Wischmeyer stellte durch Sichtung der Rechtsprechung fest, dass das Gericht die Erforderlichkeit des gewählten Mittels nur bei „ganz unerheb­ lichen“ Mehrkosten der Alternative verneine.156 Ähnlich formuliert, „liegt regelmäßig kein Verstoß gegen den Grundsatz der Erforderlichkeit vor, wenn das Alternativmittel höhere finanzielle Aufwendungen der öffentlichen Hand erfordert“.157 Strenger verstanden wird diese Rechtsprechung auch so, dass mit dem Alternativmittel keine finanzielle Mehrbelastung für den Staat verbunden sein dürfe.158 aa) Definitionen Nach dem bisher Gesagten ist die Erforderlichkeit wie folgt definiert: Ein gewähltes Mittel ist erforderlich, wenn es kein milderes, (mindestens)159 gleich geeignetes und zugleich nicht über das „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ hinaus für den Staat teureres Alternativmittel gibt. Nur nach der Meinung St. Detterbecks lautet die Definition: Ein gewähltes Mittel ist erforderlich, wenn es kein milderes, (mindestens)160 gleich geeignetes und zugleich nicht für den Staat teureres Alternativmittel gibt. Es gilt die übliche Definition für die Angemessenheit.161

155  Ch. Bumke/A. Voßkuhle, 156  Th.  Wischmeyer,

Casebook Verfassungsrecht, 7. Auflage, 2015, Rn. 136. Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushalts­

autonomie, 2015, S. 58. 157  G. Manssen, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Begr. und letztere ehemalige Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band 1, 7. Auflage, 2018, Art. 12 Rn. 138, Hervorhebung hinzugefügt. 158  St. Detterbeck, Öffentliches Recht. Ein Basislehrbuch zum Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Europarecht mit Übungsfällen, 11. Auflage, 2018, Rn. 306. 159  Gerade das Bundesverfassungsgericht deckt mit seiner Definition (siehe BVerfG, Beschl. v. 21.3.2018, 1 BvF 1/13, NJW 2018, S. 2109 [2112 Rn. 47]) den Fall nicht ausdrücklich ab, dass eine Alternative mehr  als gleich geeignet ist. Es bestehen aber keine ernsthaften Zweifel, dass ein milderes und zugleich mehr als gleich geeignetes Alternativmittel zu einer Nichterforderlichkeit der gewählten Maßnahme führte. 160  Siehe Fn. 159. 161  Siehe Fn. 5 a. E.



II. Die Ansätze im Einzelnen47

bb) Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung Im Folgenden soll das Liquorentnahme-Beispiel162 zur Veranschaulichung der eben gefundenen Definitionen untersucht werden. Geprüft wird, ob die gesetzliche Anordnung von Liquorentnahmen zwingend mittels Lumbalpunktion (und nicht Okzipitalpunktion) verhältnismäßig ist. (1) Legitimer Zweck Um verhältnismäßig zu sein, müsste die gesetzliche Vorschrift der Anordnung einer Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion zunächst einem legitimen Zweck dienen.163 Das gewählte Mittel dient dazu, die Feststellung der Schuldfähigkeit zu ermöglichen und damit die Strafrechtspflege zu fördern. Zur Vereinfachung soll hier auf etwaige weitere Zwecke nicht eingegangen werden. Dieser Zweck ist von Verfassungs wegen unbedenklich, also legitim. (2) Geeignetheit Die Vorschrift müsste auch geeignet sein. Dies ist der Fall, wenn sie die angestrebten Zwecke zumindest fördert.164 Durch das Vorschreiben einer Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion wird eine medizinische Maßnahme vorgeschrieben, die Untersuchungen auf Erkrankungen des Zentralnervensystems ermöglicht. Die Feststellung der Schuldfähigkeit durch die Lumbalpunktion macht es wahrscheinlicher, dass nur derjenige bestraft wird, gegenüber dem ein staatlicher „Strafanspruch“ besteht. Mithin wird durch die Klärung der Schuldfähigkeit die Gewährleistung einer funktionierenden Strafrechtspflege zumindest gefördert. Damit ist die gesetzliche Vorgabe einer Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion geeignet. (3) Erforderlichkeit Des Weiteren müsste sie erforderlich sein. Ein gewähltes Mittel ist nach der eben gefundenen erstgenannten Definition erforderlich, wenn es kein milderes, gleich geeignetes und zugleich nicht über das „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ hinaus für den Staat teureres Alterna162  Zum 163  Th. 

Sachverhalt siehe Abschnitt C. I. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 34. Auflage, 2018,

Rn. 330. 164  Th.  Kingreen/R. Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 34.  Auflage, 2018, Rn. 330.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

tivmittel gibt. (Nach der zweitgenannten Definition können nur überhaupt nicht teurere Alternativmittel eine Nichterforderlichkeit hervorrufen.) Als Alternativmittel kommt die gesetzliche Anordnung einer Liquorentnahme mittels Okzipitalpunktion in Betracht. Diese wäre wegen der um neun Prozentpunkte verringerten Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Nebenwirkungen schonender für die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Fall 2 GG) und somit milder. Sie lässt die Schuldfähigkeit der Untersuchten, wie die Lumbalpunktion, mit hundertprozentiger Sicherheit erkennen und wäre somit gleich geeignet. Sie wäre jedoch finanziell aufwendiger. Stellt man darauf ab, dass sich Alternativmittel in einem vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbaren Rahmen bewegen müssen, muss ermittelt werden, ob die Mehrkosten ebenjenes Maß überschreiten. Hierzu können zunächst die Gesamtmehrkosten für den Fall, dass das Alternativmittel zur Anwendung käme, ermittelt werden. Je nachdem, welchen Wert die im Beispiel festgelegten Variablen haben,165 entstehen unterschiedliche Mehrkosten, die in folgender Tabelle 1 dargestellt werden sollen. Für das Gewicht der Mehrkosten könnte ferner die Haushaltslage in den Blick zu nehmen sein. Welche Mehrkostentragung von der Gesellschaft vernünftigerweise erwartbar ist, ist eine stark wertungsbedürftige Feststellung, wofür diverse Faktoren berücksichtigt werden müssen.166 Da die Rechtsprechung schlicht immer in einem Satz festgestellt hat, dass bestimmte Mehrkosten – die nicht beziffert wurden – nicht „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbar[…]“ seien, ohne den Prüfungsmaßstab hierfür offenzulegen, kann nur gemutmaßt werden, welche Kriterien zur Ausfüllung dieser Wertung herangezogen werden. Fest steht nur, dass das „erwartbare Maß“ keine starre Grenze kennt. Notwendig wird eine Abwägung.167 In Relation gestellt werden die Mehrkosten und der mögliche Freiheitsgewinn durch die Alternative. Relevantes Krite165  Siehe

Abschnitt C. I. a. E. Abschnitt C. II. 1. a) pr. 167  Diese Feststellung wird auch davon unterstützt, dass das Bundesverfassungsgericht in einer anderen Entscheidung – ebenfalls im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung – ein teureres, milderes Alternativmittel als nicht gleich geeignet bezeichnete, weil dieses „mit einem ständigen und hohen Verwaltungsaufwand verbunden [wäre], der in keinem angemessenen Verhältnis zu den damit verbundenen Vorteilen stünde“ (BVerfG, Beschl. v. 17.10.1984, 1 BvL 18/82, 46/83, 2/84, BVerfGE 68, 155 [172] – Nahverkehrskostenerstattung, Hervorhebung hinzugefügt). Hieraus kann auch der von A. v. Arnauld, Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 241, gewählte Ansatz entwickelt werden, wonach in der Erforderlichkeitsprüfung inzident eine weitere Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen sei, um zu untersuchen, ob es gerechtfertigt sei, statt der Allgemeinheit zwecks Kosteneinsparung den Einzelnen zu belasten (vgl. dazu und auch zu den damit verbundenen Nachteilen Abschnitt C. II. 3.). 166  Siehe



II. Die Ansätze im Einzelnen49 Tabelle 1 Mehrkosten/Jahr für das Alternativmittel Okzipitalpunktion Lfd.  Nr.

Mehrkosten Okzipitalpunktion

Anzahl Unter­ suchungen/Jahr

Mehrkosten/ Jahr

Zustand Haushalt168

1

0,20 €

50

10 €

Hoher Überschuss

2

0,20 €

150.000

30.000 €

Hoher Überschuss

3

600 €

50

30.000 €

Hoher Überschuss

4

600 €

150.000

90 Mio. €

Hoher Überschuss

5

0,20 €

50

10 €

Hohes Defizit

6

0,20 €

150.000

30.000 €

Hohes Defizit

7

600 €

50

30.000 €

Hohes Defizit

8

600 €

150.000

90 Mio. €

Hohes Defizit

168  Der Einfachheit halber wurde, zu Lasten der numerischen Präzision, auf eine Bezifferung des Überschusses respektive Defizits verzichtet. Priorität war es aufzuzeigen, wie unterschiedlich die Bewertung des „vernünftigerweise […] erwartbare[n] Maß[es]“ in Abhängigkeit bestimmter Variablen ausfallen kann und wie wichtig es daher ist, diese Abwägung offenzulegen. Nicht minder abwägungserhebliche Größen sind (wohl) zum einen das Verhältnis zwischen den Mehrkosten eines Mittels und der absoluten Haushaltsgröße (ungeachtet dessen, ob der Haushalt defizitär oder überschüssig ist), denn Kosten in Höhe von zum Beispiel 50.000 € dürften stärkeres Gewicht haben, wenn der Haushalt nur 500.000 € umfasst, als wenn ein milliardenschwerer Haushalt (leicht) defizitär ist. Zum anderen ist die Anzahl der Steuerpflichtigen berücksichtigungswürdig. Je mehr eine Gesellschaft zu schultern vermag, desto eher kann der Einzelne, dem eine Last aufgegeben wird, „erwarten“, dass die Gesellschaft diese Last trage (eine Gesellschaft von etwa 100 Mio. steuerpflichtigen Einwohnern ist finanziell typischerweise belastbarer als eine solche mit nur 100.000 Steuerpflichtigen, auf die eine Steuerlast verteilt werden kann; vom einzelnen Mitglied der Gesellschaft muss seinerseits weniger „erwartet“ werden, gleich ob er individueller Eingriffsadressat oder einer der Steuerpflichtigen ist). Damit soll die Aufzählung abwägungserheblicher Variablen ihr Bewenden haben, da die Offenlegung der Abwägung ohnehin vorrangig ist.

50

C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

rium für das Gewicht der Mehrkosten dürfte vor allem die Lage der Staatshaushalte (von der abhängt, ab welcher Höhe der Mehrausgaben anderenorts spürbare Einsparungen, Steuererhöhungen oder Neuverschuldungen notwendig werden könnten beziehungsweise der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers tatsächlich beeinträchtigt sein könnte) sein. Das Gewicht eines möglichen Freiheitsgewinns könnte dadurch bestimmt werden, zu fragen, welches Rechtsgut in welcher Intensität durch das Alternativmittel geschützt werden könnte. Im dritten Schritt ist dann das Verhältnis zwischen Freiheitsgewinn und Mehrausgaben zu bewerten.169 Hier wird bereits eine deutliche Nähe des Gedankens hinter dem „Vernünftigerweise-erwartbares-Maß“-Kriterium zur eigentlich (von der Erforderlichkeit) abzugrenzenden Angemessenheit deutlich. Tabelle 2 Gegenüberstellung Mehrkosten und Freiheitsgewinn Freiheitsgewinn

Lfd. Nr.

Mehr­ kosten

Zustand Haushalt

1

10 €

Hoher Überschuss

Art. 2 Abs. 2 S. 1 Fall 2 GG 9 %-Punkte

2

30.000 €

Hoher Überschuss

Art. 2 Abs. 2 S. 1 Fall 2 GG 9 %-Punkte 150.000

3

30.000 €

Hoher Überschuss

Art. 2 Abs. 2 S. 1 Fall 2 GG 9 %-Punkte

4

90 Mio. €

Hoher Überschuss

Art. 2 Abs. 2 S. 1 Fall 2 GG 9 %-Punkte 150.000

5

10 €

Hohes Defizit

Art. 2 Abs. 2 S. 1 Fall 2 GG 9 %-Punkte

6

30.000 €

Hohes Defizit

Art. 2 Abs. 2 S. 1 Fall 2 GG 9 %-Punkte 150.000

7

30.000 €

Hohes Defizit

Art. 2 Abs. 2 S. 1 Fall 2 GG 9 %-Punkte

8

90 Mio. €

Hohes Defizit

Art. 2 Abs. 2 S. 1 Fall 2 GG 9 %-Punkte 150.000

Rechtsgut

Intensität

Anzahl 50

50

50

50

169  Umgangssprachlich formuliert: Ist der ermöglichte Freiheitsgewinn für die Betroffenen die zusätzlichen Kosten zu Lasten der Gesellschaft wert?



II. Die Ansätze im Einzelnen51

Im Beispiel bieten die Mehrausgaben die Möglichkeit, für eine (je nach Konstellation) unterschiedliche Zahl an Untersuchten das Risiko teils erheblicher Nebenwirkungen um neun Prozentpunkte zu verringern. Die Frage, ob sich die Gesellschaft das 10 €170, 30.000 €171 oder gar 90 Mio. €172 „kosten lassen muss“, ist dem Rechtsanwender zur Beantwortung überlassen und kaum logisch ableitbar. Da die Rechtsprechung keine Kriterien vorgibt, kann hier keine Aussage darüber getroffen werden, wie das Bundeserfassungsgericht in den beschriebenen Konstellationen entscheiden würde. Insbesondere lässt das Gericht offen, ob die Anzahl der durchgeführten Maßnahmen einen Einfluss auf das „vernünftigerweise […] erwartbare Maß“ hat. Ist das nicht der Fall, so ist es, je höher die Gesamtkosten pro Jahr sind (also je höher die Anzahl der Untersuchungen pro Jahr ist), umso unwahrscheinlicher, dass die Mehrkosten das „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ wahren. Ist die Anzahl der Untersuchungen jedoch beachtlich – weil mit steigender Untersuchungszahl eben auch mehr Betroffene an Freiheit gewinnen können – hängt das Ergebnis der obigen Abwägung (nur) davon ab, wie hoch die Mehrkosten einer einzelnen Untersuchung sind und wie die Haushaltslage ist. Denn die Mehrkosten und der Freiheitsgewinn steigen symme­ trisch; ihr Verhältnis würde gleich bleiben. Anders gewendet: einer höheren Zahl von Mehrkosten stehen zugleich mehr Profiteure gegenüber. Gerade die Belastung durch die Mehrkosten könnte aber auch nichtlinear bewertet werden. Etwa könnte ein abnehmender (Freiheits-)Grenznutzen mit der Folge angenommen werden, dass ein jeder zusätzlich aufgewendete Euro einen abnehmenden (Freiheits-)Nutzen birgt, also im Verhältnis zu einem (angenommen, je zusätzlich aufgewendetem Euro gleich bleibenden) Freiheitsgewinn an Gewicht gewinnt (was nicht fernliegt, da staatliche Mittel begrenzt sind, somit das über das Vorhandene Hinausgehende [also eine Steuererhöhung oder Darlehensaufnahme notwendig machende] sicherlich größeres Gewicht hat als das Vorhandene). Auf der anderen Seite dürfte die Freiheit jenseits einer Typisierungsschwelle aber auch schwerer wiegen als diesseits der Schwelle. Das „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ krankt folglich nicht nur an mangelnder Transparenz. Zumindest beim Bundesverfassungsgericht scheint eine Unterkomplexität durch, indem eine von verschiedensten Bedingungen abhängige Wertungsentscheidung von keinerlei nachvollziehbaren Kriterien getragen zu sein scheint. Möglicherweise kann noch mit dem Kriterium der „ganz unerheblichen“173 Mehrkosten konsensfähig festgestellt werden, dass Mehrkosten von insge170  Siehe

Tabelle 1, lfd. Nr. 1, 5; Tabelle 2, lfd. Nr. 1, 5. Tabelle 1, lfd. Nr. 2, 3, 6, 7; Tabelle 2, lfd. Nr. 2, 3, 6, 7. 172  Siehe Tabelle 1, lfd. Nr. 4, 8; Tabelle 2, lfd. Nr. 4, 8. 173  Siehe bei Fn. 156. 171  Siehe

52

C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

samt 10 €174 im Jahr bei jeder Haushaltslage von der Gesellschaft erwartbar seien. Letztendlich ist diese Feststellung aber ebenso dezisionistisch und nicht konkret belegbar. Mit dieser Definition kann dementsprechend kein klares Ergebnis gefunden werden. Folgt man der strikten Definition (nach St. Detterbeck), wonach ein gewähltes Mittel erforderlich ist, wenn es kein milderes, gleich geeignetes und zugleich nicht für den Staat teureres Alternativmittel gibt, kann eindeutig gesagt werden, dass selbst bei Mehrkosten in Höhe von 10 €175 im Jahr die Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion erforderlich ist. (4) Angemessenheit, Ergebnis Entscheidet man sich für eine Erforderlichkeit des gewählten Mittels, ist zuletzt in der Angemessenheitsprüfung zu untersuchen, ob die „Zweck-Mittel-Relation“ gewahrt ist. Zunächst ist die „Strafrechtspflege“ einerseits und das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit andererseits abstrakt zu bewerten.176 Im darauffolgenden Schritt ist der (konkrete) Grad der Zweckförderung zu gewichten, genauso wie die Intensität der Freiheitseinschränkung (im Beispiel eine zehnprozentige Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen und der schmerzhafte Einstich der Nadel). Letztlich sind diese Taxierungen gegeneinander (willkürlich)177 zu beurteilen, abzuwägen. Zu fragen ist also, ob es grundsätzlich („abstrakt“)178 zumutbar ist, Liquor unter Inkaufnahme einer zehnprozentigen Chance des Auftretens von Nebenwirkungen zu entnehmen, um die Schuldfähigkeit von Angeklagten zu untersuchen. Es muss (abermals) eine Wertungsentscheidung getroffen werden.179 Die um neun Prozentpunkte verringerte Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Nebenwirkungen bei Durchführung mittels Okzipitalpunktion (bei gleicher Förderung der Strafrechtspflege, des einzig benannten Zwecks) wirkt sich auf die Angemessenheit überhaupt nicht aus; ein Vergleich mit einer Alternative findet nicht (mehr) statt. Von dieser Wertung hängt das Ergebnis ab.

174  Siehe

Tabelle 1, lfd. Nr. 1, 5; Tabelle 2, lfd. Nr. 1, 5. Tabelle 1, lfd. Nr. 1, 5; Tabelle 2, lfd. Nr. 1, 5. 176  Zur abstrakten Bewertung von Mittel und Zwecken L.  Michael/M.  Morlok, Grundrechte, 6. Auflage, 2017, Rn. 624 (siehe auch Abschnitt C. II. 3. b) bb)). 177  Im (neutralen, nicht abwertenden) Sinne von: „vom Willen gekoren“. 178  Also bei der deutlichen Mehrzahl an Delikten, losgelöst von der konkreten Anordnung (die ohnehin nicht zur Prüfung steht). 179  Die amtsrichterliche Einzelfallentscheidung, die Gegenstand der historischen Liquorentnahme-Entscheidung war, war laut dem Bundesverfassungsgericht angesichts der Geringfügigkeit der vorgeworfenen Tat unangemessen (siehe Fn. 147). 175  Siehe



II. Die Ansätze im Einzelnen53

b) Die neue Paarformel und ihr Verhältnis zu dem „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare[n] Maß“ Später hat das Bundesverfassungsgericht in zunächst augenscheinlich ähnlich gelagerten Fällen teurere Alternativmittel abgelehnt, jedoch mit einer anderen Begründung: „Das mildere Mittel muss zur Zielerreichung gleich geeignet sein, es darf aber Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belasten“180. Diese Risikostrukturausgleich-Entscheidung zitiert die Kassenarzt-Entscheidung181 (und H. Jarass),182 deren Kontextualisierung zum Verständnis der Paarformel unabdingbar ist. In der Kassenarzt-Entscheidung rügte der Beschwerdeführer, ein in einem Krankenhaus beschäftigter Arzt, ein Gesetz, das es allen über 55-jährigen 180  BVerfG, Beschl. v. 18.7.2005, 2 BvF 2/01, BVerfGE 113, 167 (259) – Risikostrukturausgleich, Hervorhebung hinzugefügt; seitdem auch BVerfG, Beschl. v. 21.3. 2018, 1 BvF 1/13, Rn. 47, BVerfGE 148, 40 (57) – Lebensmittelpranger (worin sich das Gericht nicht nur auf Risikostrukturausgleich, sondern auch auf BVerfG, Beschl. v. 14.1.2014, 1 BvR 2998/11, 1 BvR 236/12, BVerfGE 135, 90 [118] – Rechts- und Patentanwaltsgesellschaft, [und eine „stRspr“] bezieht, wobei in letztgenannter Entscheidung weder die Paarformel noch Risikostrukturausgleich Erwähnung findet [genauso wenig wie in der von Rechts- und Patentanwaltsgesellschaft in Bezug genommenen Entscheidung]). Zur durchaus erstaunlichen Genese dieser Paarformel siehe unter C. II. 1. d) bb). In eine ähnliche Kerbe schlägt auch die Konstruktion eines der frühen Fachmänner auf dem Gebiet der grundrechtlichen Verhältnismäßigkeitsdogmatik, B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Peter Badura/ Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Zweiter Band. Klärung und Fortbildung des Verfassungsrechts, 2001, S. 457. In Grundrechtskonflikten und Konflikten zwischen Staat und Bürger stößt die Erforderlichkeit ihm zufolge an ihre Grenzen: Im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung stelle sich die Frage, ob ein milderes Mittel anstelle des alten angewandt werden könne und den Zweck der Maßnahme „ceteris paribus“ zu erreichen vermöge. Dies zugrunde gelegt, fordere die Erforderlichkeitsklausel bei Grundrechtskonflikten nur, dass einer der Grundrechtsberechtigten besser gestellt werde (oder beide?), falls der andere dadurch nicht schlechter gestellt würde (B. Schlink führt hier selbst den Begriff der Pareto-Optimalität an, siehe dazu bei und in Fn. 376 sowie Fn. 283). Aber: „Wenn der Bürger zwar durch ein milderes Mittel geschont werden kann, aber nicht ceteris paribus, sondern nur um den Preis, daß der Staat die Erreichung des Zwecks verfehlt oder für die Erreichung zusätzlich Ressourcen aufwendet oder anderen Bürgern zusätzliche Belastungen aufbürdet, ist die Lösung nur noch außerhalb der Prüfung der Erforderlichkeit zu suchen.“ Die genannten Größen sind danach also innerhalb der Prüfung der Erforderlichkeit Ausschlusskriterien. Man findet dort neben den allgegenwärtigen Entitäten der Milde und der Zwecke noch den zusätzlichen Ressourcenaufwand und die Belastung anderer Bürger. B. Schlink  ergänzt die Erforderlichkeitsdefinition damit um ähnliche Aspekte wie die Paarformel. Siehe zu letzterer sogleich im Haupttext unter C. II. 1. b). 181  BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 – Kassenarzt. 182  Dazu unter Abschnitt C. II. 1. d) bb).

54

C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

Ärzten unmöglich machte, eine Zulassung als Kassenarzt zu erhalten. Begründet wurde diese Maßnahme damit, dass bei Ärzten dieser Altersgruppe aufgrund ihres absehbaren Ruhestandes damit zu rechnen sei, dass sie vermehrt Krankenkassenleistungen verordnen würden, um in der kurzen verbleibenden Zeit einen hinreichenden Gewinn einfahren und somit etwa für die Existenzgründung aufgenommene Kredite rechtzeitig tilgen zu können. Dem sollte (verkürzt ausgedrückt) im Interesse einer stabilen gesetzlichen Krankenversicherung entgegengewirkt werden. Der Beschwerdeführer verwies auf mehrere Alternativmittel, insbesondere die Möglichkeit, die Vergütungsstruktur der Ärzte zu verändern oder Einsparungen bei der Leistungen insgesamt vorzunehmen, die das Bundesverfassungsgericht mit folgender Begründung – nicht ganz klar wird, auf welches (virtuelle oder systemimmanente) Alternativmittel es sich bei diesem Satz genau bezieht – für untauglich erklärte: „Auch ist eine bestimmte Maßnahme nicht deshalb als nicht erforderlich anzusehen, weil es andere Mittel innerhalb des Systems gibt, die andere Personen weniger belasten würden.“183 Dieser Satz ist auch derjenige, auf den sich die Risikostrukturausgleich-Entscheidung (wohl) im Wesentlichen stützt. Hiermit sind zwei Dinge gesagt. Einerseits stellt das Gericht klar, dass der Gesetzgeber nicht zwingend denjenigen für eine Belastung auswählen muss, bei dem dies am „effizientesten“ wäre („andere Personen weniger belasten“184). Im Gegenteil habe der Betroffene auch eine „ineffiziente“ Belastung zu dulden, solange sie für ihn angemessen sei. Andererseits und grundlegender setzt sich das Gericht mit Belastungsverschiebungen an sich auseinander. Vor und während der Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit wird mehrfach betont, dass die verfahrensgegenständliche Maßnahme ein komplexes Ziel innerhalb eines (mehrpoligen) Systems verfolge.185 Die Alternativen führten aus unterschiedlichen Gründen zu einer Erforderlichkeit des gewählten Mittels. Eine Kürzung der krankenkassentlichen Leistungen hätte dem Willen des Gesetzgebers (dem gesetzgeberischen Zweck) widersprochen.186 Eine Leistungskürzung hätte eine Entwertung der Mitgliedsbei183  BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 (183–184) – Kassenarzt. 184  BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 (184) – Kassenarzt, Hervorhebung hinzugefügt. 185  Siehe zum Beispiel BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 (183) – Kassenarzt. 186  „Die Kostenbegrenzung ist […] nur eines der Ziele“, aus den Beiträgen müsse auch ein ausreichender Schutz im Krankheitsfall gewährleistet werden (BVerfG, ­Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 [186] – Kassenarzt) und „[d]en Versicherten wurden Leistungsbeschränkungen [bereits] zugemutet“ (S. 187). Der zur Verfolgung dieses Zweckes notwendige Freiheitseingriff muss sich unter Umständen ebenfalls rechtfertigen lassen. Man denke etwa daran, dass bisher eine „Luxus-



II. Die Ansätze im Einzelnen55

träge dargestellt, den gezahlten Mitgliedsbeiträgen stünden dann geringere Gegenleistungen gegenüber. Noch deutlicher wird einer alternativen Beitragserhöhung die Absage erteilt, denn „[d]ie Vermeidung von weiteren Beitragssteigerungen ist seit Jahren ein vorrangiges Ziel der Gesundheitspolitik“.187 Dieser beiden Festsetzungen angesichtig, verblieb als einzig erforderliche Lösung eine Belastung der (über 55-jährigen) Ärzte, die keine Kassenarztzulassung mehr erwerben können. Hierin liegt bereits ein Eingriff in die Berufsfreiheit betroffener Ärzte (das Berufsbild „Arzt“ kann nicht in der gewünschten Form ausgeübt werden), dies beschreibt aber nicht abschließend die Bedeutung des Zulassungsverbots. Die Zulassung wird nicht zu einem Selbstzweck erstrebt, sondern um Zugang zu den Mitteln der gesetzlichen Krankenkassen zu erhalten. Hintergründig wählte der Gesetzgeber eine Maßnahme zur Allokation von Finanzmitteln der Allgemeinheit188 aus. Folglich stand stets die gleiche Belastung der Allgemeinheit in Rede, die nur zwischen verschiedenen Systemmitgliedern hätte verschoben werden können.189 Auf dieselbe Stelle der Kassenarzt-Entscheidung stützen sich drei weitere Urteile des Bundesverfassungsgerichts, in denen ebenfalls eine Finanzierungsentscheidung gegenständlich war.190 Dort bestand die Eingriffsmaßnahme sogar jeweils in einer genuinen Kostenbelastung, welche sich bei der Versorgung“ finanziert wird (beispielsweise Schönheitsoperationen), weshalb eine Kürzung dieser Leistungen Vorrang vor einem Eingriff in die Berufsfreiheit von Ärzten haben könnte. 187  BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 (174) – Kassenarzt. 188  Allgemeinheit bedeutet in diesem Fall die Gesamtheit der Beitragszahler, die nicht mit der Gesamtbevölkerung deckungsgleich ist. Solange die gesetzlichen Krankenkassen darüber hinaus auch durch Bundeszuschüsse finanziert werden, könnte man (auch) eine „allgemeinere Allgemeinheit“ in Gestalt der Steuerzahler (die nicht als solche Mitglied des Systems „gesetzliche Krankenversicherung“ sind) als Finan­ ziers ansehen. 189  Das gilt nach den Entscheidungsgründen selbst dann, wenn der Alternativadressat weniger belastet werden müsste als der jetzige Adressat (vgl. nur BVerfG, ­Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 [189] – Kassenarzt). 190  BVerfG, Beschl. v. 18.11.2003, 1 BvR 302/96, BVerfGE 109, 64 – Mutterschutz: Ein Arbeitgeber wehrte sich gegen die Pflicht zur Zahlung von Mutterschutzbeiträgen mit dem Einwand, diese Beiträge könnten ebenso gut aus Steuermitteln erbracht werden. Das Gericht stellte fest, dass durch diese Alternative die Belastung bloß vom Beschwerdeführer auf den Staatshaushalt übertragen werde. „Mildere Mittel sind nicht solche, die eine Kostenlast lediglich verschieben.“ (S. 86). BVerfG, Beschl. v. 13.6.2006, 1 BvL 9, 11, 12/00, 5/01, 10/04, BVerfGE 116, 96 – Fremdrenten: Ein erhöhter Bundeszuschuss und damit potentiell einhergehende Steuererhöhung oder -neueinführung (also Belastung der Steuerzahler) wurde nicht als Alternative dazu angesehen, dass Ansprüche von Beziehern der sogenannten „Fremdrente“ gekürzt wurden (S. 127).

56

C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

Kassenarzt-Entscheidung erst durch eine Durchdringung des komplexen Systems offenbart.191 Das alle vorgenannten Entscheidungen Verschiebungen von finanziellen Belastungen auf ihre Erforderlichkeit hin zu beurteilen hatten, ist besonders relevant, weil das Gericht ebenfalls auf die Kassenarzt-Entscheidung verweist, als es in der Risikostrukturausgleich-Entscheidung192 erstmals die Paarformel aufstellt. Dort stand ebenfalls die Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung in Rede. Gesichert werden sollte sie durch einen sogenannten, von den Krankenkassenträgern zu zahlenden „Risikostrukturausgleich“, worauf diejenigen Krankenkassenträger, die strukturbedingt einem höheren Risiko (Mitglieder mit erhöhten Krankheitsrisiko und geringem Einkommen) ausgesetzt waren, zurückgreifen konnten. Keine durchschlagende Alternative zu diesem Mechanismus sah das Bundesverfassungsgericht in einer Regelung, in der der Risikostrukturausgleich über einen Bundeszuschuss (also wie in der Mutterschutz-Entscheidung193 durch den Staatshaushalt) finanziert würde. „Die mit Bundeszuschüssen verbundene Belastung der Allgemeinheit führt nicht zu einer gebotenen Belastungsminderung, sondern zu einer Belastungsverlagerung. Das mildere Mittel muss zur Zielerreichung gleich geeignet sein, es darf aber Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belasten (vgl. Jarass, a. a. O., Art. 20, Rn. 85; vgl. auch BVerfGE 103, 172 [183 f.]).“194 Die Paarformel sorgt dafür, dass mögliche BelastungsverBVerfG, Urt. v. 2.3.2010, 1 BvR 256, 263, 586/08, BVerfGE 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung: Telekommunikationsanbieter wehrten sich dagegen, eine Vorratsdatenspeicherung durchführen zu müssen und verwiesen auf eine mögliche Speicherung durch den Staat. Dem erteilte das Gericht ebenfalls eine Absage, da hierdurch eine bloße Kostenverschiebung von den Anbietern auf den Staat erfolgt wäre (S. 360). 191  Nach der überkommenen Verhältnisdogmatik hätte das Gericht den Zweck präziser feststellen müssen, um ihn in der Erforderlichkeitsprüfung anbringen zu können. Der Zweck hätte, um dem Gesetzgeber das Wort zu reden, etwa „Stabilität der Krankenversicherung ohne Erhöhung der Mitgliedsbeiträge und ohne Einbußen in der Versorgungsqualität“ lauten können (etwas zu undeutlich, in der Sache treffend, BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 [186] – Kassenarzt). Dann wäre es dogmatisch nachvollziehbar gewesen, dass eine Abwälzung der Belastung auf Dritte eine den (präzise benannten) Zweck weniger fördernde Alternative dargestellt hätte. Zum Problem der „einfachen“ und „zusammengesetzten“ Zwecke S. Kempny/M.  Lämmle, Der „allgemeine Gleichheitssatz“ des Art. 3 I GG im juristischen Gutachten, JuS 2020, S. 215 (217–219). 192  BVerfG, Beschl. v. 18.7.2005, 2 BvF 2/01, BVerfGE 113, 167 – Risikostrukturausgleich. 193  BVerfG, Beschl. v. 18.11.2003, 1 BvR 302/96, BVerfGE 109, 64 – Mutterschutz, siehe dazu auch Fn. 190. 194  BVerfG, Beschl. v. 18.7.2005, 2 BvF 2/01, BVerfGE 113, 167 (259) – Risikostrukturausgleich.



II. Die Ansätze im Einzelnen57

schiebungen – entschieden wurde über Kostentragungen –, nicht zu einer Nichterforderlichkeit des gewählten Mittels führen. Die Risikostrukturausgleich-Entscheidung nennt erstmalig Dritt- und Allgemeinheitsbelastung als Unterfälle von Belastungsverschiebungen. Insgesamt befasste sich das Gericht – in Abgrenzung zu den Entscheidungen zum „vernünftigerweise […] erwartbare[n] Maß“ – also nicht mit Kon­ stellationen, in denen das gewählte Regelungsmodell des Gesetzgebers nach dem Wunsch des jeweiligen Grundrechtsberechtigten durch ein ganz anderes (für den Staat eventuell teureres) ersetzt werden sollte (etwa ein [leichter zu überwachendes] Totalverbot der Arbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe durch eine [schwer zu überprüfende] lückenlose Kontrolle eines auf Missbräuche beschränkten Verbots). Vielmehr wurde das zur Zielerreichung gewählte Modell („Zahlung von Mutterschutzbeiträgen“, „Vorratsdatenspeicherung“ und so fort) zwar von dem Grundrechtsberechtigten akzeptiert; dieser war aber der Auffassung, nicht er, sondern jemand anderes solle die Nachteile des gewählten Modells (in der durchgesehenen Rechtsprechung in der Sache Kostenbelastungen) tragen. Die Paarformel bedeutet also für sich genommen, dass eine vom Gesetzgeber bestimmte Belastung eines Grundrechtsträgers nicht durch ein vorgebrachtes Alternativmittel einfach auf „jemand anderes“ verschoben werden dürfe. Dritte könnten bei jeder Verhaltenspflicht belastet werden, die Allgemeinheit nur bei genuinen Kostenbelastungen. Zweitrangig darf an dieser Stelle noch bleiben, ob dieser andere nun Dritter oder die Allgemeinheit ist. Fraglich ist aber, in welchem Verhältnis die Paarformel zur älteren Rechtsprechung zum „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare[n] Maß“ steht. Betrachtete man die ältere Rechtsprechung als mit der Paarformel aufgegeben, müsste man die Paarformel in allen Konstellationen anwenden, also auch in solchen, in denen nicht eine Belastungsverschiebung im eigentlichen Sinne in Rede steht. Dann müsste konstatiert werden: Ist eine Alternative zu jedwedem gewählten Mittel für den Staat (auch nur einen Cent) teurer, belastet es die Allgemeinheit stärker und steht somit nicht mehr zur Debatte. Indes beziehen sich die beiden Rechtsprechungslinien, wie gezeigt, auf andere Kon­stellationen. Die Paarformel beschäftigt sich, streng genommen, nicht mit teureren Mitteln (sondern mit Verhaltens- [Drittbelastung] oder Kostentragungspflichten [Allgemeinheitsbelastungen]), was man schon daran sieht, dass sie selbst dann Verschiebungen verbietet, wenn diese beim neuen Adressaten zu einer kleineren Belastung als beim ursprünglichen Adressaten führen würden (also insgesamt „günstiger“ wären). Das Bundesverfassungsgericht hat zudem die alte Rechtsprechungslinie (über das „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“, zum Umgang mit teureren Alternativmaßnahmen) lange nach der erstmaligen Nennung der Paarformel in der

58

C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

Hufversorgung-Entscheidung195 erneut aufgegriffen. Dieser Rückverweis auf die abwägungsoffene Rechtsprechung wäre überflüssig, wenn man ein teureres Mittel ohne Abwägung bereits ablehnen müsste, weil es teurer und damit allgemeinheitsbelastender wäre (oder einfach nur, weil es die Belastung nun einmal verschiebt). Das zeigt, dass den Rechtsprechungslinien unabhängig voneinander und je in anderen Konstellationen Bahn gebrochen wird. aa) Definition Hiernach lässt sich – in Verbindung mit der nicht aufgegebenen Rechtsprechung zum erwartbare[n] Maß – folgende Definition der Erforderlichkeit ableiten: Ein gewähltes Mittel ist erforderlich, wenn es kein milderes, (mindestens)196 gleich geeignetes und nicht über das „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ hinaus für den Staat teureres Alternativmittel gibt. Keine vorzuziehenden Alternativmittel sind solche, die die Belastung bloß vom Betroffenen auf Dritte oder die Allgemeinheit übertrügen.197 Nach wie vor ergeben sich hinsichtlich der Angemessenheitsdefinition keine Besonderheiten.198 bb) Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung (1) Legitimer Zweck, Geeignetheit Es gilt das oben Gesagte.199

195  BVerfG,

gung.

196  Siehe

Beschl. v. 3.7.2007, 1 BvR 2185/06, BVerfGE 119, 59 – Hufversor-

Fn. 159.

197  Vgl.  H. Jarass,

in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 15. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 119, Nachweise und Verweise weggelassen: „Voraussetzung ist zudem, dass das mildere Mittel Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastet. […] Auch darf das alternative Mittel nicht zu einer unangemessen höheren finanziellen Belastung des Staates führen. ‚Mildere Mittel sind nicht solche, die eine Kostenlast lediglich verschieben‘; Gleiches gilt für die Verschiebung von Kosteneinsparungen.“ Der Autor unterscheidet folglich zwischen der Verschiebung einer Kostenlast und einer stärkeren Dritt- oder Allgemeinheitsbelastung durch ein Alternativmittel. Wie gezeigt, wirkt die verbale Erweiterung der Erforderlichkeitsdefinition um das Verbot der Dritt- oder Allgemeinheitsbelastung gerade Belastungsverschiebungen entgegen. 198  Siehe Fn. 5 a. E. 199  Siehe Abschnitte C. II. 1. a) bb) (1) und C. II. 1. a) bb) (2).



II. Die Ansätze im Einzelnen59

(2) Erforderlichkeit Unterschiede zu oben200 ergäben sich nur, sollten sich im Lichte der Paarformel klarere oder andere Ergebnisse finden lassen. Durch die Vornahme mittels Okzipitalpunktion erfolgt der Freiheitseingriff noch immer beim Betroffenen; durch sie würde der Freiheitseingriff nicht auf Dritte201 übertragen. Eine Drittübertragung könnte in diesem Fall nur angenommen werden, wenn der Betroffene einwendete, statt seiner solle ein Dritter punktiert werden. Dies wäre allerdings bereits kein gleich geeignetes Alternativmittel zur Feststellung gerade seiner Schuldfähigkeit. Eine Übertragung auf die Allgemeinheit würde durch die Okzipitalpunktion nicht erfolgen, denn dann müsste der Betroffene fordern, „der Staat“ beziehungsweise „die Allgemeinheit“ solle sich dem Eingriff unterziehen, was freilich aus faktischen Gründen ausgeschlossen ist. Es wurde bereits dargestellt, dass mit Allgemeinheitsbelastung nicht gemeint ist, dass das Alternativmittel teurer wäre und somit die Allgemeinheit darunter – im weitesten Sinne – „leiden“ müsste. Es ergeben sich somit keine anderen Ergebnisse als nach dem Kriterium des „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare[n] Maß[es]“, da die Paarformel sich hier nicht auswirkt. (3) Angemessenheit, Ergebnis Es gilt das oben Gesagte.202 c) Vermischung beider Linien In der Kommentarliteratur finden sich Ansätze, die man als Synthesen beider Rechtsprechungslinien bezeichnen sollte. So sei zum Beispiel „[e]ine Alternative […] nicht schon dann gleichwertig203, wenn zwar der Regelungsadressat weniger intensiv belastet wird, aber Dritte oder die Allgemeinheit stärker belastet werden; dazu kann auch eine unvertretbar höhere finanzielle

200  Abschnitt C. II. 1. a) bb) (3).

201  Wer genau „Dritte“ im Sinne der Rechtsprechung oder der sie zitierenden Literatur sind, bleibt unklar. Siehe dazu Abschnitt C. II. 1. d) cc). 202  C. II. 1. a) bb) (4). 203  (Fußnote hinzugefügt:) Die Gleichwertigkeit wurde von der Rechtsprechung als Begriff eingeführt, um im Rahmen der Gleicheignung Faktoren zu berücksichtigen, die nicht an den legitimen Zwecken zu messen sind.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

Belastung des Staates gehören oder sonst eine bloße Verschiebung von Kostenlasten.“204 Wohl gleichbedeutend: „Dagegen ist das Gebot der Erforderlichkeit nicht verletzt, wenn ein milderes Mittel zur Erreichung des Zweckes weniger geeignet ist. Dies ist auch dann der Fall, wenn das alternative Mittel Dritte oder die Allgemeinheit stärker belastet als dies das eingesetzte Mittel tut. Das kann der Fall sein, wenn das andere Mittel eine unangemessen höhere finanzielle Belastung des Staates zur Folge hat.“205 Der dogmatischen Anknüpfung der Mehrkosten zwar widersprechend, aber dennoch eine Vermischung beider Rechtsprechungslinien vornehmend ist die Formulierung, nach der „[e]ine Alternative […] nach Ansicht des BVerfG nicht gleichwertig sein [soll], wenn zwar der Regelungsadressat weniger belastet wird, aber Dritte oder die Allgemeinheit stärker belastet werden; insbesondere falls die Alternative einen unvertretbaren Aufwand, z. B. eine unvertretbar höhere finanzielle Belastung des Staates erfordert, soll es an der eindeutigen Gleichwertigkeit der Alternative fehlen. Diese Lösung überzeugt so nicht, denn bei genauer Zuordnung des Problems in den dogmatischen Zusammenhang zeigt sich, daß hier nicht die Gleichwertigkeit der Alternative fraglich ist, sondern die Alternative zwar gleich wirksam, aber wegen der Folgen für andere Rechtsgüter gegebenenfalls nicht milder ist im Sinne einer geringeren Beeinträchtigung geschützter Rechtsgüter.“206 Hier wird ein unvertretbarer/unangemessener höherer Aufwand als Unterfall einer im Sinne der Paarformel schädlichen Allgemeinheitsbelastung verbucht. aa) Definition Durch die Verbuchung der Kosten als Unterfall der Allgemeinheitsbelastung findet sich also folgende Erforderlichkeitsdefinition:

204  H. Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band II, 3. Auflage, 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 183. Neben den genannten Determinanten sollen noch „Eigenart und Intensität der Eingriffe, die Zahl der Betroffenen […] begünstigende Einwirkungen auf Dritte oder auch Nebenwirkungen“ beachtungsfähig sein (H. Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier [Hrsg.], Grundgesetz. Kommentar, Band II, 3. Auflage, 2015, Art. 20 [Rechtsstaat] Rn. 183). Siehe auch Fn. 7. 205  G.  Robbers, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der Bearbeitung: 142. Aktualisierung, Oktober 2009, Art. 20 Rn. 1918. 206  B.  Grzeszick, in: Theodor Maunz/Günter Dürig (Begr.), Grundgesetz. Kommentar, Stand der Bearbeitung: 48. Ergänzungslieferung, November 2006, Art. 20 VII Rn. 114.



II. Die Ansätze im Einzelnen61

Erforderlich ist ein Mittel, wenn es kein milderes, (mindestens)207 gleich geeignetes Mittel gibt. An der Gleicheignung208 gebricht es, wenn das alternative Mittel Dritte oder die Allgemeinheit stärker belastet als es das eingesetzte Mittel tut. Das kann der Fall sein, wenn das andere Mittel eine unangemessen/unvertretbar höhere finanzielle Belastung des Staates zur Folge hat. Für die Angemessenheit ergeben sich keine Besonderheiten.209 bb) Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung (1) Legitimer Zweck, Geeignetheit Es gilt das oben Gesagte.210 (2) Erforderlichkeit Fraglich ist, ob das Alternativmittel „Liquorentnahme durch Okzipitalpunktion“ Dritte oder die Allgemeinheit stärker belastet als eine Entnahme durch Lumbalpunktion. Eine Drittbelastung steht nicht in Rede.211 Eine Allgemeinheitsbelastung kann insbesondere dann angenommen werden, wenn das Alternativmittel eine unangemessen höhere finanzielle Belastung des Staates zur Folge hat. Es wird von den hier behandelten Quellen nicht näher ausgeführt, ab wann Kosten unvertretbar oder unangemessen seien. Eine Sichtung der dort als Beleg angeführten Rechtsprechung zeigt, dass Maßstab letztendlich nichts (bedeutend) anderes sein kann als das „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“. Gleichgültig, ob man diesen Maßstab nun offenlegt, was empfehlenswert scheint, oder ihn hinter wertungsoffenen Begriffen wie „Vertretbarkeit“ oder „Angemessenheit“ verbirgt – ohne Nennung einschlägiger Kriterien ändert sich in der Prüfung nichts im Vergleich zu der Prüfung nach dem von der Rechtsprechung entwickelten Kriterium zum „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare[n] Maß“. Es bleibt unklar, für wen (zumindest, wenn nicht einmal erwähnt wird, dass das von der Gesellschaft erwartbare Maß als Grundlage herangezogen wird) und für welches Ziel Mehrkosten letztendlich vertretbar oder angemessen sein müssen. Auch hier kann schlicht kein klares Ergebnis gefunden werden. 207  Siehe

Fn. 159. Grzeszick, in: Theodor Maunz/Günter Dürig (Begr.), Grundgesetz. Kommentar, Stand der Bearbeitung: 48. Ergänzungslieferung, November 2006, Art. 20 VII Rn. 114, spricht solchen Alternativen eine größere Milde ab, was an dieser Stelle zu vernachlässigen ist. 209  Siehe Fn. 5 a. E. 210  Abschnitt C. II. 1. a) bb) (1). 211  Abschnitt C. II. 1. b) bb) (2). 208  B. 

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

(3) Angemessenheit, Ergebnis Es gilt das oben Gesagte.212 d) Kritik aa) Zur Rechtsprechungslinie des „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare[n] Maß[es]“ (1) Undurchsichtiger Maßstab Zunächst kann an dieser Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts bemängelt werden, dass das Gericht nicht darlegt, aus welchem Grund die Mehrkosten im Rahmen der Erforderlichkeit beachtlich seien.213 Sodann führt das Gericht eine Abwägung zwischen Mehrkosten und einem anderen Rechtswert durch.214 Nicht nur, dass darauf verzichtet wird, Kriterien der Abwägung aufzuzeigen – die Abwägung als gedanklicher Prozess bleibt verborgen. Es wird in den genannten Fällen pauschal verneint, dass ein bestimmtes Maß vernünftigerweise erwartbar sei. Ein solches, durch Wertung gewonnenes Ergebnis ist man schnell hinzunehmen geneigt, wurde es doch vom höchsten deutschen Gericht mit namhafter Besetzung ausgesprochen. Hierdurch wird es aber allen (kritischen) Lesern eines Urteils verunmöglicht, die darin getroffenen Wertungsentscheidungen nachzuvollziehen, geschweige denn zu hinterfragen. Transparent wäre es, die (hypothetischen) Mehrkosten zu kalkulieren und offenzulegen sowie die scheinbar weniger gewichtigen (hypothetischen) Freiheitsgewinne zu umreißen.215 (2) Literaturinterpretationen Den vereinzelt gebliebenen, diese Entscheidungen interpretierenden Literaturstimmen können ebenfalls Bedenken entgegengebracht werden. Zunächst ist die Feststellung, dass erhebliche Mehrkosten eines Alternativmittels die Vergleichbarkeit mit dem gewählten Mittel entfallen lassen216, fragwürdig217 und scheint letztendlich zirkulär: Um überhaupt feststellen zu 212  Abschnitt C. II. 1. a) bb) (4).

213  Erhebliche Mehrkosten führen nach der Rechtsprechung dazu, dass das alternative Mittel nicht „gleichwertig“ sei, siehe noch Fn. 264. 214  Siehe Abschnitt C. II. 1. a). 215  Zu dem Transparenzargument von L. Clérico siehe Abschnitt B. I. 216  Ch. Bumke/A. Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 7. Auflage, 2015, Rn. 136.



II. Die Ansätze im Einzelnen63

können, dass ein Mittel erhebliche Mehrkosten (im Vergleich wozu? Zum gewählten Mittel!) aufweist, muss es mit dem gewählten Mittel verglichen werden. Darüber hinaus muss, um die Erheblichkeit der Mehrkosten beurteilen zu können, ein anderweitiger Maßstab angelegt werden, welcher wiederum nur in einer Ins-Verhältnis-Setzung von (hypothetischen) Mehrkosten und (hypothetischen) Freiheitsgewinn liegen kann. Eine Interpretation, wonach mit dem Mittel keine finanzielle Mehrbelastung für den Staat verbunden sein dürfe218, scheint nach dem bereits Festgestellten219 zu strikt. Wozu bedürfte es einer Abwägung darüber, ob Mehrkosten „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbar“ seien, wenn schlicht jedwede Mehrkosten nicht erwartbar wären? Im Ergebnis mag die Absage an teurere Alternativmittel im Rahmen der Erforderlichkeit vorteilhaft sein; sie lässt sich aber nicht auf diese Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts stützen (und wird auch nicht anderweit dogmatisch hergeleitet). bb) Zur Genese der Paarformel und ihrer Synthese mit dem „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare[n] Maß“ Zahlreiche Kommentare vermischen die beiden Rechtsprechungslinien (das vernünftigerweise […] erwartbare Maß“ und Paarformel):220 „Berücksichtigungsfähig sind […] belastende oder begünstigende Einwirkungen auf Dritte […]. Eine Alternative ist nicht schon dann gleichwertig, wenn zwar der Regelungsadressat weniger intensiv belastet wird, aber Dritte oder die Allgemeinheit stärker belastet werden; dazu kann auch eine unvertretbar höhere finanzielle Belastung des Staates gehören oder sonst eine bloße Verschiebung von Kostenlasten.“221 Durch Formulierungen wie diese222 wird der Anschein erweckt, die erhöhte finanzielle Belastung des Staates sei ein Unterfall der Allgemeinheitsbelastung. Schon allein der Umstand, dass die ver217  Zur Problematik des Begriffs der Vergleichbarkeit (in gleichheitsrechtlichem Zusammenhang) S. Kempny/M. Lämmle, Der „allgemeine Gleichheitssatz“ des Art. 3 I GG im juristischen Gutachten, JuS 2020, S. 22 (25–26). 218  St. Detterbeck, Öffentliches Recht. Ein Basislehrbuch zum Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Europarecht mit Übungsfällen, 11. Auflage, 2018, Rn. 306, mit Verweis ausschließlich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zum „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare[n] Maß“. 219  Siehe Abschnitt C. II. 1. a). 220  Siehe Abschnitt C. II. 1. c). 221  H. Schulze-Fielitz in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band II, 3. Auflage, 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 183, Nachweise weggelassen. 222  Ähnlich auch G.  Robbers, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der Bearbeitung: 142. Aktualisierung, Oktober 2009, Art. 20 Rn. 1918.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

balen Erweiterungen um die Paarformel und dem „erwartbare[n] Maß“ parallelen Rechtsprechungslinien entspringen und verschiedenen Alternativmitteln entgegengehalten werden, verbietet es, das Eine ohne Weiteres als Unterfall des Anderen anzusehen.223 Nicht nur die Vermischung von Paarformel und „erwartbare[m] Maß“ ist prekär; die Genese der Paarformel offenbart, dass sie selbst fragwürdigen Ursprungs ist. Die oben schon herangezogene Kassenarzt-Entscheidung224, die von der erstmaligen Rechtsprechungsfundstelle der Paarformel, der Risikostrukturausgleich-Entscheidung225,226 zitiert wird, ist in sich unschlüssig. Das Gericht differenzierte in der Kassenarzt-Entscheidung zwischen zwei Konstellationen. Einmal werden solche angesprochen, in denen der Gesetzgeber „ein sehr allgemein gehaltenes Ziel“ im Wege einer „Vielzahl von Maßnahmen verfolgt“, welche „unterschiedliche Rechtspositionen verschiedener Grundrechtsträger berühren“, bei denen das Verhältnis von Eingriffszweck und Eingriffsintensität nach der „jeweiligen individuellen Betroffenheit“ zu beurteilen ist. Ein andermal werden solche genannt, bei denen der Gesetzgeber „ein komplexes Ziel“227 durch „vielfältige[…] Mittel[…]“ zu erreichen versucht, bei denen scheinbar nicht die jeweilige individuelle Betroffenheit maßgeblich ist; der dort geltende Maßstab wird allerdings nicht explizit benannt.228 Stattdessen setzt das Gericht sich beispielhaft mit Einwänden des Betroffenen auseinander, die nicht zu einer Unverhältnismäßigkeit der gewählten Maßnahme führen sollen. Erstens „ist eine Maßnahme nicht ungeeignet, weil die Betroffenen anderenorts größere Einsparpotentiale sehen“.229 Hiermit ist jedoch nur gesagt, dass nicht das sparoptimierteste Mittel gewählt werden muss.230 Zweitens „ist eine bestimmte Maßnahme nicht deshalb als nicht erforderlich anzusehen, weil es andere Mittel innerhalb des Systems gibt, die andere Personen 223  Siehe

Abschnitt C. II. 1. b). Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 – Kassenarzt. 225  BVerfG, Beschl. v. 18.7.2005, 2 BvF 2/01, BVerfGE 113, 167 – Risikostrukturausgleich. 226  Zusammen (mit anderen) beweisen die Judikate zwar, dass diese Rechtsprechungslinie lediglich Belastungsverschiebungen betrifft, was im Ergebnis Zustimmung verdient. Das ändert aber nichts daran, dass die verbalen Erweiterungen merkwürdige Blüten getrieben haben. 227  In diesem Fall die „finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung“ (BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 [183] – Kassenarzt) durch eine „Kostendämpfung“ (S. 177). 228  Die Zitate finden sich sämtlich bei BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 (183–184) – Kassenarzt. 229  BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 (183–184) – Kassenarzt. 230  Siehe oben Abschnitt C. II. 1. b). 224  BVerfG,



II. Die Ansätze im Einzelnen65

weniger belasten würden“.231 Damit ist wohl das bereits angesprochene Verbot von Belastungsverschiebungen gemeint.232 ­Drittens „[ist e]ine einzelne Maßnahme zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil nicht alle Betroffenen durch die gesetzlichen Vorkehrungen gleichmäßig belastet werden.“233 Dies ist eine gleichheitsrechtliche Argumentation; für die Angemessenheit wäre es fraglich gewesen, ob der einzelne Adressat für sich genommen über Gebühr belastet werde. Bei einem derart „komplexen“ Zweck hätte es ohnehin wohl ausgereicht, die anscheinend vom Beschwerdeführer vorgeschlagenen Alternativmaßnahmen als nicht evident gleichgeeignet zu verwerfen. Dahingehend hätte auch der oft bemühte weite gesetzgeberische Entscheidungsspielraum fruchtbar gemacht werden können.234 Die Gegenüberstellung des Gerichts (einerseits „sehr allgemein gehaltenes Ziel“, andererseits „komplexes Ziel“; einerseits „Vielzahl von Maßnahmen“, andererseits „vielfältige Mittel“) ist als Begründung dafür, einmal die individuelle Betroffenheit, einmal nicht die individuelle Betroffenheit zum Maßstab zu kiesen, kaum nachvollziehbar. In der Risikostrukturausgleich-Entscheidung wird überdies auf („vgl.“) H. Jarass verwiesen.235 An der angeführten Stelle steht in der Tat wörtlich, dass es Voraussetzung der Erforderlichkeit sei, dass die Alternative „zur Erreichung des Regelungszwecks ebenso geeignet ist und zudem Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastet“236, sowie im darauffolgenden Satz: „Insb. darf das alternative Mittel nicht zu einer unangemessen höheren finanziellen Belastung des Staates führen“237. Zunächst wird untersucht, wie H. Jarass, aus dessen Feder die Paarformel stammt, ihre Formulierung (hier erster Teil des Zitats) stützt. Das gibt Aus231  BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 (183–184) – Kassenarzt. 232  Damit könnte jedoch auch gemeint sein, dass der Betroffene vorgebracht hat, dass bereits angewandte, für Dritte mildere Mittel es verböten, ihn selbst intensiver zu belasten. Das wäre ein klassischer Gleichheitseinwand (zur verwandten Drittbelastung noch Abschnitt C. II. 1. d) cc)). Um eine etwaige Gleichheitswidrigkeit zu beseitigen, könnte der Gesetzgeber dann auch die bisher milder Behandelten stärker belasten. 233  BVerfG, Beschl. v. 20.3.2001, 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 (183–184) – Kassenarzt. 234  Siehe Fn. 5. 235  H. Jarass, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 7. Auflage, 2004, Art. 20 Rn. 85. 236  H. Jarass, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 7. Auflage, 2004, Art. 20 Rn. 85, Hervorhebung zur Illustrierung, dass die Paarformel (ursprünglich) neben der Gleichgeeignetheit stand, hinzugefügt. 237  H. Jarass, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 7. Auflage, 2004, Art. 20 Rn. 85.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

kunft darüber, wie angebracht die verbale Erweiterung der Erforderlichkeitsdefinition und möglicherweise damit einhergehende Änderung der Schutzperspektive von Individual- zu Allgemeinheitsschutz ist. H. Jarass verweist dazu seinerseits „vorsichtig“ auf K. Stern238.239 Dort heißt es: „Bei Eingriffsmaßnahmen spricht alles dafür, als entscheidendes Prüfungskriterium die Auswirkungen des Eingriffs auf den Betroffenen anzusehen, dabei aber auch den Grad der größeren oder geringeren Beeinträchtigung der Allgemeinheit in den Blick zu nehmen.“240 So dünkt der „vorsichtige“ Verweis von H. Jarass auf K. Stern berechtigt, hat die Allgemeinheitsbelastung bei K. Stern doch nur nachrangige, gerade nicht gleichberechtigte Bedeutung neben der Individualbelastung als „entscheidendes Prüfungs­kriterium“241. Fraglich ist bereits, ob die Formulierung von K. Stern242, die „Beeinträchtigung der Allgemeinheit in den Blick […] nehmen“ zu wollen, überhaupt richtigerweise so gedeutet werden kann, dass damit Kosten als mittelbare Nebenwirkungen gemeint sind. Mit „Beeinträchtigungen der Allgemeinheit“ können auch unmittelbare Nebenwirkungen, etwa polizeilicher Zwangsmittel, auf Unbeteiligte gemeint sein. Als Beispiel mag die Beeinträchtigung von Passanten in einer Stadt, in der aus Sicherheitsgründen eine Demonstrationsroute abgesperrt wurde, die deshalb nicht die von ihnen gewünschten Straßen benutzen können, sondern Umwege in Kauf nehmen müssen, dienen.243 ­Dafür spricht 238  K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 781. Schon A. Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip. Grundlagen einer prospektiven Ausgleichsordnung für die Folgen privater Freiheitsbetätigung – Zur Flexibilisierung des Verwaltungsrechts am Beispiel des Umwelt- und Planungsrechts, 1999, S. 370 Fn. 55, hat, bevor es das Bundesverfassungsgericht getan hat, auf H. Jarass (in einer Vorauflage) und K. Stern verwiesen. 239  Der „vorsichtige“ Verweis findet sich bei H. Jarass, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 7. Auflage, 2004, Art. 20 Rn. 85. 240  Hervorhebungen weggelassen. 241  K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 781. 242  K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 781. 243  K. Sterns Schüler M. Sachs hat die Ausführungen K. Sterns jedenfalls nicht zum Anlass genommen, eine Paarformel daraus zu entwickeln, vgl. M. Sachs, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 8. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 152; A. v. Ar­ nauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 237 mit Fn. 478, führt für seine Aussage, dass die Freiheitssphäre des Betroffenen der Bezugspunkt der Erforderlichkeitsprüfung sei, wenn die Prüfung der Verhältnismäßigkeit seinetwillen erfolge, unter anderem ebenfalls die vorerwähnte Stelle bei K. Stern sowie die von letzterem selbst herangezogene Fundstelle bei M. Jakobs (dazu sogleich bei Fn. 244) an. A. v. Arnauld stellt in den Sätzen danach ausdrücklich fest, dass „Belange […] der Allgemeinheit“ gerade keine Bezugspunkte seien. Hier wird vertreten, dass, sofern ein zusätzlicher



II. Die Ansätze im Einzelnen67

auch K. Sterns Verweis in Fn. 118 der genannten Stelle auf M. Jakobs244, wo es ausdrücklich heißt, dass „[a]llein in dem Fall, daß sich aufgrund dieser Überlegung [der Erforderlichkeitsgrundsatz entstamme dem Polizeirecht, welches Eingriffe in Rechtspositionen des einzelnen zu regeln pflege] mehrere gleich schwere, in demselben Umfang beeinträchtigende Mittel auffinden lassen, […] eine weitere Auswahl danach getroffen werden [kann], welches dieser Mittel die geringste Beeinträchtigung der Allgemein­inte­ressen nach sich zieht“ und „[p]rimäres Kriterium für die zu ermittelnde Schwere der Beeinträchtigung […] immer Individualrechts­positionen sind, die nachteiligen Folgen für die Allgemeinheit […] aber in bestimmten Fällen als sekundärer Gesichtspunkt eine Rolle spielen [können]“245. Ähnliches findet sich auch in anderen von K. Stern zitierten Quellen. H. J. Wolff/O. Bachof246 möchten den Aspekt der Allgemeinheitsbelastung – wobei aus der Formulierung „Allgemeinheit (der Steuerzahler)“ hier immerhin eindeutig hervorgeht, dass damit eine Kostenbelastung gemeint ist – sogar ausschließlich in der Leistungsverwaltung berücksichtigen, in der Eingriffsverwaltung hingegen nur auf die „betroffenen Zivilpersonen“ abstellen.247 Auch O. Pohl248 betont, dass alle zweckmäßigen Mittel, um das „unbedingt notwendige“ (gemeint ist das erforderliche) Mittel zu finden, in Beziehung zur Individualfreiheitssphäre zu setzen seien; die Allgemeinheit (allerdings nicht die Allgemeinheitsbelastung, sondern der Nutzen für sie) sei hingegen nur als Bezugsgröße relevant, um den Eingriff in die Individualrechte überhaupt zu rechtfertigen. Die anderen Nachweise bei K. Stern sprechen keine wesentlich andere Sprache.249 InsgeFreiheitseingriff durch die Alternative notwendig würde (und sei es bei einem Dritten), die Alternativmaßnahme dann nicht milder sei (siehe Abschnitt C. II. 1. d) cc)). 244  K. Stern zitiert nur M. Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Mit einer exemplarischen Darstellung seiner Geltung im Atomrecht, 1985, S. 68, relevant ist überdies S. 69. 245  M. Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Mit einer exemplarischen Darstellung seiner Geltung im Atomrecht, 1985, S. 68 Fn. 50, gibt allerdings auch Verweise an, bei denen die Allgemeinheitsbelastung neben die Individualbetroffenheit tritt, die er aber ablehnt. 246  H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht III, 4. Auflage, 1978, § 138 Rn. 26. 247  Das spricht im Übrigen dagegen, der Haushaltsautonomie unbedingten Vorrang vor dem Grundrechtsschutz einzuräumen. 248  O. Pohl, Ist der Gesetzgeber bei Eingriffen in die Grundrechte an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden?, 1959, S. 21. 249  K. Grupp, Das Angebot des anderen Mittels, VerwArch 69 (1978), S. 125 (143), nennt den Aspekt der „nicht höheren Allgemeinheitsbelastung“ lediglich als Voraussetzung, wenn es darum geht, dass ein Betroffener im Polizeirecht ein Austauschmittel nennt. Die Voraussetzungen für dessen Zulässigkeit und die Pflicht der Behörde, es zu akzeptieren, seien, dass der Verwaltung nicht gesetzlich ein spezifisches Mittel zur Zweckerreichung vorgeschrieben sei (1), das angebotene Mittel gleich geeignet sei (2) und die Allgemeinheit nicht stärker belaste (3), was auch dann gelte, wenn das ange-

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

samt vermögen die Ausführungen und Nachweise bei K. Stern die Fokussierung der Paarformel auf die Allgemeinheitsbelastung nicht zu stützen, wenn sie ihr nicht sogar widersprechen.250 Ursprünglich ging H. Jarass nicht davon aus, dass das Verbot höherer Allgemeinheitsbelastung nur Belastungsverschiebungen verhindern solle, sondern „[i]nsb.“251 dann virulent werde, wenn ein Alternativmittel „zu einer unangemessen höheren finanziellen Belastung des Staates führ[te]“.252 Für diesen Zusatz stützt sich H. Jarass auf zwei (oben erörterte)253 Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts254, in denen das Gericht auf das „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ des Einsatzes öffentlicher Mittel abstellt, und auf G. Manssen255, der den älteren der beiden Beschlüsse wiederum als Beispiel heranzieht und ihm im Wesentlichen beipflichtet. Das Bundesverfassungsgericht hat bei der wörtlichen Entlehnung der Paarformel von H. Jarass in der Risikostrukturausgleich-Entscheidung die eigenen Beschlüsse (zum „erwartbare[n] Maß“) nicht mitzitiert. Man kann mithin (ziemlich) sicher sein, dass es H. Jarass’ Verknüpfung der beiden Rechtsprebotene Austauschmittel den Betroffenen objektiv stärker, dafür aber subjektiv schwächer beeinträchtige.  V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 11. Auflage, 1993, § 13 Rn. 257 mit Quelle auf S. 139, verweist auf K. Grupp. 250  Zusätzlich stützen mag diese Feststellung, dass K. Gärditz, in: Karl Heinrich Friauf/Wolfram Höfling (Begr. und letzterer Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der Bearbeitung: 31. Ergänzungslieferung, Januar 2011, Art. 20 (6. Teil) Rn. 203, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als „Produkt des Obrigkeitsstaates“ ansieht, der eben auf Gefahrenabwehr und Verwaltungszwang bezogen sei. Außerdem (Rn. 203): „Inhaltlich geht es um die Eindämmung staatlicher Macht im Interesse individueller Freiheit.“ K. Gärditz zufolge kann die Verhältnismäßigkeit demgemäß nicht dem Rechtsstaatsprinzip, sondern den Grundrechten selbst entnommen werden (Rn. 203– 206), was eine Schutzrichtung zumindest zugunsten des Staates ausschließen würde. 251  H. Jarass, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 7. Auflage, 2004, Art. 20 Rn. 85. 252  H. Jarass, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 7. Auflage, 2004, Art. 20 Rn. 85. 253  Siehe Abschnitt C. II. 1. a). 254  BVerfG, Beschl v. 6.10.1987, 1 BvR 1086, 1468, 1623/82, BVerfGE 77, 84 (110–111) – Arbeitnehmerüberlassung; BVerfG, Beschl. v. 14.11.1989, 1 BvL 14/85, 1 BvR 1276/84, BVerfGE 81, 70 (91–92) – Rückkehrgebot. 255  G. Manssen, Staatsrecht I. Grundrechtsdogmatik, 1995, Rn. 631, meint, dass niemand einen Anspruch darauf habe, dass zur Schonung seiner Grundrechte staatliche Mittel aufgewendet werden, es sei denn, die hierzu bereitgestellten Mitteln seien „völlig unzureichend und unangemessen“. Er spitzt seine Auffassung zu folgender Definition der Erforderlichkeit zu: „Der Grundsatz der Erforderlichkeit ist nur dann verletzt, wenn ein milderes Mittel nicht eingesetzt wird, welches gleichermaßen wirksam und nicht teurer ist.“ G. Manssen verwendet Begriffe der Untermaßdogmatik, sodass hiernach im Rahmen der Prüfung, ob ein Eingriff nicht übermäßig sei, zu fragen wäre, ob der Grundrechtsverpflichtete nicht untermäßig wenig zum Schutz vor dem eigenen Eingriff unternommen habe.



II. Die Ansätze im Einzelnen69

chungslinien256 gerade nicht mitgetragen hat.257 In späteren Auflagen adaptiert H. Jarass das Verständnis der Rechtsprechung unter Aufgabe seiner ursprünglichen Formulierung.258 Es zeigt sich nach Analyse der zur Herleitung der Paarformel genutzten Quellen, dass sie letztlich durch eine – soweit ersichtlich, zu keinem Zeitpunkt näher begründeten – Vermengung von Prinzipien aus der Eingriffsverwaltung einerseits und der Leistungsverwaltung andererseits erschaffen wurde. Die in weiten Teilen der Kommentarliteratur verbreitete Synthese von Paarformel und „erwartbare[m] Maß“ steht, gelinde ausgedrückt, auf tönernen Füßen. 256  Die Belastungsverschiebungslinie (zu diesem Zeitpunkt existierte eine Rechtsprechung zur Paarformel eben noch nicht) fand ihren Ursprung in der KassenarztEntscheidung. 257  Siehe auch Abschnitt C. II. 1. b). 258  H. Jarass, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 15. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 119, Nachweise und Verweise weggelassen, Hervorhebung hinzugefügt: „Voraussetzung ist zudem, dass das mildere Mittel Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastet. […] Auch [nicht mehr wie ursprünglich: insbesondere] darf das alternative Mittel nicht zu einer unangemessen höheren finanziellen Belastung des Staates führen.“ H. Jarass scheidet mittlerweile die Formel zum „erwartbare[n] Maß“ an sich zwar konsequent vom Dritt- und Allgemeinheitsbelastungsaspekt. Allerdings ist sein pauschaler Verweis auf BVerfG, Beschl. v. 13.6.2006, 1 BvL 9, 11, 12/00, 5/01, 10/04, BVerfGE 116, 96 (127) – Fremdrenten, unpräzise oder gar fehl am Platz, denn dort heißt es (Nachweise weggelassen): „Der Gesetzgeber kann nicht darauf verwiesen werden, eine Einsparung in anderen, von dem betroffenen Gesetz nicht erfassten Bereichen zu erzielen. Er war unter dem Gesichtspunkt des Erforderlichkeitsgrundsatzes nicht verpflichtet, auf andere Maßnahmen auszuweichen, insbesondere – im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen – die Beitragssätze zu erhöhen, die Bestandsrenten abzusenken oder auf eine Anpassung der Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung zu verzichten. Ebenso wenig war er, um dem Erforderlichkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen, gehalten, einen höheren Bundeszuschuss vorzusehen und gegebenenfalls zu diesem Zweck Steuern einzuführen oder zu erhöhen.“ Hiermit werden erwogene Alternativen vom Bundesverfassungsgericht aus verschiedenen Gründen (keiner von ihnen ist jedoch das „erwartbare Maß“) verworfen: Einsparungen in gesetzlich nicht erfassten Bereichen bedeuteten eine Drittbelastung. Die Erhöhung von Beitragssätzen bedingte eine Allgemeinheitsbelastung; gleiches gölte für die Steuererhöhung oder -neueinführung. Ein Verzicht auf Anpassung der Renten an Lohn- und Gehaltsentwicklung wäre nach dem zuvor vom Gericht festgestellten Zweck, die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung im Interesse aller zu erhalten, zu verbessern und den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen (BVerfG, Beschl. v. 13.6.2006, 1 BvL 9, 11, 12/00, 5/01, 10/04, BVerfGE 116, 96 [126] – Fremdrenten), schlicht ein Verzicht auf die Gleicheignung. Zuletzt würde ein höherer Bundeszuschuss auch eine Belastungsverschiebung bedeuten. Für all jene Konstellationen existiert die Paarformel, welche eben nicht fragt, ob eine finanzielle Belastung des Staates unangemessen höher sei, was H. Jarass indes mit dem Verweis auf die Fremdrentengesetz-Entscheidung belegen wollte.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

Nach alledem ist es untragbar, die Allgemeinheitsbelastung durch Formulierungen, die auf die Rechtsprechung zum „erwartbare[n] Maß“ rekurrieren, näher zu beschreiben. Die dadurch entstehenden Formulierungen sind in sich widersprüchlich.259 Die Allgemeinheitsbelastung verfolgt ohnehin eine Schutzrichtung, die der Erforderlichkeit vordem fremd war. Die gängige Literatur scheint zudem den Überblick über die Rechtsprechung zu verlieren, weshalb die Dogmatik der Erforderlichkeit zunehmend zerfasert. Paradigmatisch dafür ist die eingangs dieses Abschnitts zitierte Formulierung260. Wenn belastende Einwirkungen auf Dritte erstens berücksichtigungsfähig genannt werden, zweitens eine Alternative aufgrund einer Drittbelastung als nicht gleichwertig angesehen wird und drittens bloße Kostenverschiebungen als mögliche Fälle einer Dritt- oder Allgemeinheitsbelastung eingeordnet werden, dann beschreibt ein Autor dreimal dasselbe Argument gegen eine alternative Maßnahme261 – freilich stehen sie bei ihm nebeneinander. Paarformel und „erwartbare[s] Maß“ verlaufen, wenn überhaupt, parallel. cc) Die dogmatische Anknüpfung und Scheidung von Dritt- und Allgemeinheitsbelastung Selbst wenn der Rechtsprechungsstrang zu Dritt- und Allgemeinheitsbelastungen gesondert betrachtet wird, offenbaren sich Ungenauigkeiten. Sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur werden die Aspekte der Drittund Allgemeinheitsbelastung bislang nur – daher der hier gewählte Name – als Paarformel262 in die Erforderlichkeitsdefinition eingebracht, ohne sie, gar 259  Wenn die Allgemeinheitsbelastung der Paarformel in ausnahmslos jeder Kon­ stellation eine Absage an jedwede Ausgaben des Staates erteilte, wäre ein Rekurs auf unvertretbar höhere Kosten obsolet. 260  H. Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band II, 3. Auflage, 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 183, Nachweise weggelassen: „Berücksichtigungsfähig sind […] belastende oder begünstigende Einwirkungen auf Dritte […]. Eine Alternative ist nicht schon dann gleichwertig, wenn zwar der Regelungs­adressat weniger intensiv belastet wird, aber Dritte oder die Allgemeinheit stärker belastet werden; dazu kann auch eine unvertretbar höhere finanzielle Belastung des Staates gehören oder sonst eine bloße Verschiebung von Kostenlasten.“, siehe bei Fn. 221. 261  H. Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band II, 3. Auflage, 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 183, nennt überdies „unvertretbar höhere finanzielle Belastung des Staates“ im Sinne der „[E]rwartbare[s] Maß“-Rechtsprechung als Unterfall der Dritt- oder Allgemeinheitsbelastung. 262  BVerfG, Beschl. v. 18.7.2005, 2 BvF 2/01, BVerfGE 113, 167 (259) – Risikostrukturausgleich („Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belasten“); H. SchulzeFielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band II, 3. Auflage, 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 183 („Dritte oder die Allgemeinheit stärker belastet“); B.  Grzeszick, in: Theodor Maunz/Günter Dürig (Begr.), Grundgesetz. Kommentar, Stand der Bearbeitung: 48. Ergänzungslieferung, November 2006, Art. 20 VII Rn. 114



II. Die Ansätze im Einzelnen71

jeweils für sich, zu definieren. Es bietet sich aber an, sie zu scheiden, um den etwaigen Grund, warum ein, oberflächlich betrachtet, (freiheits-)effizienteres Alternativmittel gleichwohl nicht zur Nichterforderlichkeit des gewählten Mittels führt, präzise benennen zu können. Wer genau als „Dritter“ in diesen Konstellationen von dem alternativen Mittel belastet würde, bleibt (meist) ungeklärt. Es spricht einiges dafür, dass hiermit andere bestimmte oder bestimmbare Grundrechtsberechtigte gemeint sind. Gleich effektive Alternativmittel, die für den Betroffenen milder sind, aber zu einer höheren Belastung anderer (konkreter) Grundrechtsberechtigter führten, sollen unter dem Gesichtspunkt der „Drittbelastung“ verworfen werden; solche Alternativen führen demnach nicht zu einer Nichterforderlichkeit des gewählten Mittels. Es ist unbedingt einleuchtend, einen Grundrechtsverpflichteten nicht in einen freiheitsrechtlichen „Teufelskreis“ zu entsenden, indem man die Erforderlichkeit ablehnt, wenn die Belastung auf einen anderen bestimmten oder bestimmbaren Grundrechtsberechtigten verschoben werden kann – der nach der Verschiebung Belastete könnte sich seinerseits auf eine Belastungsverschiebungsmöglichkeit berufen. Das gilt zumindest für ebenjene freiheitsrechtliche Perspektive, zumal ein Schutz vor ungerechtfertigten Ungleich­ behandlungen durch die Gleichheitssätze gewährleistet wird.263 Der Grund (wenn denn einer angegeben wird), warum eine Belastungsverschiebung nicht als effizienteres Mittel zu qualifizieren sei, wird zumeist darin gesehen, dass es an der „Gleichwertigkeit“ fehle,264 oder dass eine solche Alternative („Dritte oder die Allgemeinheit stärker belastet“), teilt die Paarformel im Ergebnis; G. Robbers, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der Bearbeitung: 142. Aktualisierung, Oktober 2009, Art. 20 Rn. 1918; H. Jarass, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 15. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 119 („Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastet“). 263  Im Ergebnis genauso Ch. Hillgruber, Grundrechtsschranken, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Auflage, Band IX, 2011, § 201 Rn. 64 Fn. 114; A.  v. Arnauld, Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 240; B. Schlink, Abwägungen im Verfassungsrecht, 1976, S. 210–212. 264  Ob die „Gleichwertigkeit“ synonymer, doch unpräziserer Begriff für die Gleichwirksamkeit ist oder als bewusste Abweichung davon gewählt wurde, kann nicht beantwortet werden (H. Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier [Hrsg.], Grundgesetz. Kommentar, Band II, 3. Auflage, 2015, Art. 20 [Rechtsstaat] Rn. 183, schreibt beispielsweise, dass „[e]ine Alternative nicht schon dann gleichwertig [ist], wenn zwar der Regelungsadressat weniger intensiv belastet wird, aber Dritte […] stärker belastet werden“. Diese Begründung scheint fehlzugehen, da sich nach dieser Diktion [„nicht schon dann“] eine Gleichwirksamkeit trotz Drittbelastung noch aus anderen Gründen ergeben könnte, wobei nicht klar wird, woraus). Für G. Robbers, in: Wolfgang Kahl/ Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der Bearbeitung: 142. Aktualisierung, Oktober 2009, Art. 20 Rn. 1918 („Dritte

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

nicht milder sei.265 Kategorisch lassen sich Belastungsverschiebungen weder der Gleicheignung noch der Milde zuordnen. Diese Nichtangeknüpftheit wird auch in der Risikostrukturausgleich-Entscheidung deutlich, in der das Gericht das Verbot der Dritt- oder Allgemeinheitsbelastung in Gestalt einer verbalen Erweiterung als zusätzliche Bedingung neben die Gleicheignung und Milde treten lässt.266 Lässt sich ein Zweck benennen, der eine Belastung des konkret Betroffenen erheischt, etwa einen Steuerungszweck, ist ein belastungsverschiebendes alternatives Mittel nicht gleich wirksam.267 Insbesonoder die Allgemeinheit stärker belastet“), ist ein alternatives Mittel in solchen Fällen weniger geeignet. Darüber hinaus fällt der Begriff „gleichwertig“, soweit ersichtlich, das erste Mal in BVerfG, Beschl v. 6.10.1987, 1 BvR 1086, 1468, 1623/82, BVerfGE 77, 84 (111) – Arbeitnehmerüberlassung, also im Rahmen der Rechtsprechungslinie zum „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare[n] Maß“; H. Schulze-Fielitz überträgt ihn auf den anderen Rechtsprechungsstrang. Wie noch in diesem Abschnitt gezeigt werden wird, können Belastungsverschiebungen stets entweder an die Gleicheignung oder die Milde angeknüpft werden, weshalb es keines anderweitigen Begriffes bedurfte. 265  B.  Grzeszick, in: Theodor Maunz/Günter Dürig (Begr.), Grundgesetz. Kommentar, Stand der Bearbeitung: 48. Ergänzungslieferung, November 2006, Art. 20 VII Rn. 114, teilt die Verortung bei der „Milde“. Ähnlich (ohne Begründung) St. Hus­ ter/J. Rux, in: BeckOK Grundgesetz, Volker Epping/Christian Hillgruber (Hrsg.), 41. Edition, Stand: 15.2.2019, Art. 20 Rn. 196. 266  BVerfG, Beschl. v. 18.7.2005, 2 BvF 2/01, BVerfGE 113, 167 (259) – Risikostrukturausgleich: „Das mildere Mittel muss zur Zielerreichung gleich geeignet sein, es darf aber Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belasten [Nachweise weggelassen].“ 267  So lag es in BVerfG, Beschl. v. 16.3.1971, 1 BvR 52, 665, 667, 754/66, BVerfGE 30, 292 (321–322) – Erdölbevorratung. Das Gericht hatte dort zu überprüfen, ob eine Pflicht der Einführer und Hersteller von bestimmten Erdölerzeugnissen (wie Motorenbenzin oder Heizöl), selbige zu bevorraten (S. 299), erforderlich sei. Als Alternative stand im Raum, diese Pflicht Großhändlern, -verteilern und -verbrauchern sowie Lagerungsunternehmen aufzuerlegen. Diese Alternative wurde nicht mit der schlichten Begründung verworfen, sie würde Dritte belasten. Vielmehr setzte sich das Gericht damit auseinander, ob die Alternative die gesetzgeberischen Ziele (darunter, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten) genauso wirksam förderte. Im Übrigen erteilte das Bundesverfassungsgericht einer staatlichen Bevorratung nicht allein mit einem Verweis auf die dann staatlicherseits anfallenden Kosten eine Absage, sondern weil dies für einen „Nebenzweck“ (die Struktur des Energiemarktes in einer bestimmten Weise zu beeinflussen) nicht gleichgeeignet wäre (S. 319). So hat der Gesetzgeber die Erdölbevorratungspflicht auch nicht erlassen, um Kosten zu vermeiden (zumal ihm bewusst war, dass die Kosten ohnehin auf die Verbraucher abgewälzt werden könnten – in der gewählten Regulierungsvariante aber nur abhängig von der Marktlage, S. 326). Vergleichbar ist die Kassenarzt-Entscheidung, wo der Gesetzgeber gezielt einen von vielen möglichen Belastungsträgern ausgewählt hat. In dem später vorgeschlagenen Modell (siehe Abschnitt D.) hätte dies Implikationen für die Angemessenheitsprüfung. Schlussendlich müsste der (konkrete) Freiheitsverlust (kein Zugang zu Krankenkassengeldern) gegen die verschiedenen Zwecke (keine Leistungskürzungen; keine Beitragserhöhung) abgewogen werden.



II. Die Ansätze im Einzelnen73

dere wenn man der Verhältnismäßigkeit eine Allgemeinheitsschutzfunktion zuschreibt,268 kann auch die Milde in Abrede gestellt werden. Als Begründung hierfür mag, gerade bei der Prüfung abstrakt-genereller Regelungen, dienen, dass die Milde eines (Alternativ-)Mittels nicht aus der verengten Sichtweise eines Beschwerdeführers betrachtet werden darf, sondern (im Ausgangspunkt) für einen generisch Betroffenen (der gewissermaßen als stets betroffen zu fingieren ist) zu beurteilen ist. Anders formuliert: eine reine Belastungsverschiebung269 ist deshalb nicht milder, weil der Freiheitsschwund im Kreis der Grundrechtsberechtigten derselbe bleibt. Diese Position scheint in der Herleitung zwar teils erratisch, im Ergebnis jedoch konsentiert zu sein, weswegen der Aspekt der Drittbelastung nicht weiter vertieft werden soll.270 Streupflicht-Beispiel: Dem grundrechtsberechtigten Eigentümer E wird ordnungsbehördlich die Pflicht auferlegt, bei Glatteis auf dem Gehweg vor seinem Grundstück zu streuen. Die Pflicht verfolgt (ins­besondere)271 den Zweck des Gesundheitsschutzes der verkehrenden Personen. Dass es möglich wäre, die Streupflicht bezüglich des betroffenen Gehwegabschnitts nicht E, sondern seinem Nachbarn aufzubürden, begründet keine Freiheitsgrundrechtsverletzung des E. Das Alternativmittel „Verpflichtung des Nachbarn“ mag genauso effektiv272 und für E milder sein. Für den generisch Betroffenen allerdings ist das Alternativmittel nicht milder (für den stets als betroffen fingierten Grundrechtsberechtigten ist es das gleiche 268  Siehe

Abschnitt C. II. 1. d) bb), auch zu den Zweifeln hieran. schließt Konstellationen ein, bei denen die Belastung in einer Kostenbelastung besteht, die von einem Grundrechtsberechtigten auf den anderen verschoben werden könnte. Die wirklich vertrackte Frage, ob ein finanzieller Mehraufwand eines Grundrechtsverpflichteten verfassungsrechtlich geboten sei, um einen Eingriff abzumildern, wird indes von dieser Rechtsprechung nicht erfasst. Siehe hierzu aber vor allem die dafür maßgebliche Rechtsprechungslinie unter Abschnitt C. II. 1. a). 270  H. Jarass, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 15. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 119, (mit weiteren, teilweise wiederum ihn [in einer Vorauflage] zitierenden Nachweisen [siehe auch Fn. 262]) geht zwar durchaus davon aus, dass das drittbelastende Mittel milder wäre, es aber trotzdem als Alternative ausscheide (einen anderweitigen Anknüpfungspunkt sowie eine Begründung bleibt er leider schuldig); W. G.  Leisner, in: Helge Sodan (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 68, „berücksichtig[t]“ die Drittbelastung; M.  Antoni, in: Karl-Heinz Seifert/Dieter Hömig/Heinrich Amadeus Wolff (Begr. und letzterer Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Handkommentar, 12. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 13, erweitert die Erforderlichkeitsformel schlicht um den Aspekt der Drittbelastung (ohne Begründung). 271  Unter Umständen tritt ein fiskalischer Zweck hierneben. Das könnte der Fall sein, wenn das Streuen etwa durch die örtliche Ordnungsbehörde gleich wirksam wäre, die Gemeinde jedoch die Eigentümer zur Vermeidung von sonst bei ihr anfallenden Kosten verpflichtete (siehe auch Fn. 272). 272  Das sei hier unterstellt. Man könnte daran allerdings zweifeln, wenn man annehmen dürfte, der E werde aus Gründen des Selbstschutzes der Streupflicht gewissenhafter nachkommen. 269  Das

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

Mittel; man könnte auch formulieren, dass der Schwund an Freiheit im Kreise aller Grundrechtsberechtigten derselbe bleibe). So ist das gewählte Mittel erforderlich.273

In der Literatur wird auch nur wenig, in der Rechtsprechung überhaupt nicht darauf eingegangen, worin eine Allgemeinheitsbelastung liegen soll. Soweit dies geschieht, wird unter Allgemeinheitsbelastung verstanden, dass durch das Alternativmittel zwar vordergründig nur der Haushalt mehr belastet werde, dies aber letztendlich auch den Steuerzahler treffe, da der Haushalt durch Steuereinnahmen finanziert werde, deren Erhebung immer einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG bedeutete. Hieraus lasse sich folgern, dass eine Haushaltsbelastung zu einer Belastung Dritter führe.274 Nach diesem Verständnis verbliebe für das Verbot der Allgemeinheitsbelastung neben dem für die Drittbelastung kein eigener Anwendungsbereich. Die Besonderheit von Belastungsverschiebungen auf eine „unbestimmbare“ Entität – im Gegensatz zur Verschiebung auf bestimmte oder bestimmbare Grundrechtsberechtigte, eben Dritte – liegt aber gerade darin, dass eine einzelne Verschiebung, für sich genommen, keineswegs zu einem Grundrechtseingriff führen muss.275 Zutreffend ist, dass sich die öffentliche Hand276 (hauptsächlich) durch Erhebungen von Steuern (und Beiträgen) finanziert und somit jeweils zumindest bestimmbare Grundrechtsträger (zum Beispiel „alle Steuerzahler“ oder „alle Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherungen“), also Dritte, benennbar sind, die das jeweilige System tragen. Der Eingriff bei ihnen erfolgt aber nicht durch eine Belastungsverschiebung auf die öffentliche Hand. Zu diesem Zeitpunkt ist der Eingriff bereits erfolgt, denn die Steuern (oder Beiträge) sind bereits erhoben und allein hierdurch (durch den Erlass von Abgabengesetzen und -bescheiden) erfolgt der Eingriff.277 Es kann auch nicht mit Gewissheit gesagt werden, dass die Steuern spezifisch wegen einer bestimmten Entlastung eines Betroffenen und darauf273  Eine

gleichheitsrechtliche Prüfung könnte zu einem anderen Ergebnis kommen. darf wohl Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 58 Fn. 209, unter Verweis auf M. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 2. Auflage, 2007, S. 181 Fn. 105 (in der 3. Auflage, 2018, S. 251 Fn. 107) verstanden werden. 275  Siehe Abschnitt B. I. 276  Der Begriff soll hier als Überbegriff für beispielsweise die Staatshaushalte, aber auch für öffentlichrechtliche Teilsysteme, wie etwa die gesetzlichen Krankenoder Rentenversicherungen dienen. Diesen Begriff wählte das Bundesverfassungsgericht auch in BVerfG, Urt. v. 2.3.2010, 1 BvR 256, 263, 586/08, BVerfGE 125, 260 (313 und 360) – Vorratsdatenspeicherung, wohl anstatt des Begriffs der „Allgemeinheit“. Ebenso rekurriert Th. Whischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 58, im Kontext von Belastungsverschiebungen auf den „Steuerzahler“ auf diesen Begriff. 277  S. Kempny, Steuerrecht und Verfassungsrecht, StuW 2014, S. 185 (187). 274  So



II. Die Ansätze im Einzelnen75

folgender Belastung des Haushalts unbedingt erhöht werden müssen, denn stattdessen könnte auch an anderer Stelle gespart werden. Auch diese Einsparungen bedingen nicht zwingend einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit, so zum Beispiel wenn bloß auf die Erteilung von Subventionen verzichtet wird. Zunächst bedingt die Belastungsverschiebung demnach nur eine Umverteilung bereits erhobener Geldmittel. Wenn man wie Th. Wischmeyer der Haushaltsautonomie einen eigenen Wert beimisst,278 rechtfertigt deren Betroffenheit die Berücksichtigung derartiger Verschiebungen. Wollte man jedoch auf die Grundrechte bestimmter oder bestimmbarer Grundrechtsträger abstellen, könnte nur darauf verwiesen werden, dass diese durch dann notwendig werdende Steuererhöhungen oder die Aufnahme neuer, in der Zukunft zu bedienender Kredite279 „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ belastet werden müssten, wenn der Staat sich regelmäßig auf derartige Alternativmittel verweisen lassen müsste. Diese zukünftigen Eingriffe wären aber nicht spezifisch auf eine einzelne Verschiebung zurückführbar, sondern ergäben sich aus der Masse bisher geschehener Verschiebungen und dadurch bedingte Mehrausgaben. Erst irgendeine zufällige Verschiebung würde „das Fass zum Überlaufen bringen“ und etwa Steuerer­ höhungen, mit Grundrechtseingriffen verbundene Einsparungen oder die Aufnahme von Krediten erfordern. Mithin sind die zukünftigen Eingriffe zu dem Zeitpunkt, in dem man auf Grund ihrer Belastungsverschiebungen ablehnt, bloß hypothetischer Natur. Sie erfolgen also nicht bei einer bestimmten oder bestimmbaren Grundrechtsträgergruppe, sondern eben der „Allgemeinheit“ im Sinne der öffentlichen Hand. Nur nach diesem Verständnis vom Begriff der Allgemeinheit ist eine terminologische Unterscheidung überhaupt sinnhaltig. Das Verbot der Allgemeinheitsbelastungen betrifft also ausschließlich Belastungsverschiebungen auf die öffentliche Hand.280

278  Siehe

Abschnitt B. III. beidem soll der Gesetzgeber nach herrschender Auffassung durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gezwungen sein können, siehe zum Beispiel Ch. Hillgruber, Grundrechtsschranken, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Auflage, Band IX, 2011, § 201 Rn. 64. 280  Dem Problem könnte auch anders begegnet werden, indem das Ersparen von Aufwendungen der öffentlichen Hand als (aufgrund der eben beschriebenen Tatsache, dass erhöhte Aufwendungen über kurz oder lang zu konkreten Eingriffen führen: legitimer) Zweck definiert würde. Siehe dazu das vorgeschlagene Modell unter Abschnitt D. 279  Zu

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

e) Zusammenfassung Eine Untersuchung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung samt Genese, betreffend die verbale Erweiterung der Erforderlichkeitsdefinition, offenbart zwei zu trennende Rechtssprechungsstränge. Vor allem zahlreiche Stimmen in der Kommentarliteratur missverstehen die Rechtsprechung und definieren die Erforderlichkeit in teils widersprüchlicher Weise. Richtig verstanden, erteilen das Bundesverfassungsgericht und H. Jarass Alternativmitteln auf den folgenden Wegen eine Absage: • Ein Alternativmittel, das eine (Kosten-)Belastung lediglich verschiebt, auch wenn dadurch der Betroffene selbst entlastet wird, führt nicht zu einer Nichterforderlichkeit des gewählten Mittels. Den dogmatischen Anknüpfungspunkt können sowohl die Kriterien der Gleicheignung als auch der größeren Milde bilden. Unterschieden werden muss bei der Paarformel zwischen der Dritt- und der Allgemeinheitsbelastung einer alternativen Maßnahme: – Drittbelastung: bloße Verschiebung einer (Kosten-)Belastung unmittelbar auf andere Grundrechtsberechtigte; – Allgemeinheitsbelastung: bloße Verschiebung einer Kostenbelastung auf die öffentliche Hand. Dabei wird häufig nicht erkannt, dass die Paarformel lediglich Belastungsverschiebungen eine Absage erteilt (sich aber zu gänzlich anderen Regelungsmöglichkeiten281 nicht verhält). Außerdem werden die Implika­tionen (gerade nicht konkret bezeichneter Zwecke) für die Angemessenheitsprüfung missachtet. Letzten Endes ist die vertretene Dogmatik erratisch. • Überdies mangelt es an der „Gleichwertigkeit“ eines Alternativmittels, wenn es über „das vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ teurer für den Staat ist, auch wenn es für den Betroffenen milder wäre. Diese Formulierung wurde zur Bejahung der Erforderlichkeit von Grundrechtseingriffen, die nicht in einer Kostentragung lagen, gewählt. Dadurch wird verhindert, dass der Staat eine gänzlich andere Regelungsmöglichkeit ergreifen müsse, die zwar milder wäre, den Staat indes mehr kostete. Der dort angelegte Maßstab ist in hohem Maße intransparent. Die notwendigen, anhand von (verdeckten) Kriterien zu treffenden Wertungen, die dogmatisch auf der Angemessenheitsebene zu verorten wären, werden nicht offengelegt.

281  Dazu

sogleich im nächsten Aufzählungspunkt.



II. Die Ansätze im Einzelnen77

2. Kosten-Nutzen-Abwägung in der Erforderlichkeitsprüfung R. Dechsling282 verortet den Problemschwerpunkt der Kostenfrage in der Erforderlichkeitsprüfung, weshalb an dieser Stelle eine Kosten-Nutzen-Analyse folgender Gestalt zu erfolgen habe: Das Erforderlichkeitsgebot sei als Modifikation des (ursprünglich wohlfahrtsökonomischen) Kaldor-Hicks-Kriteriums283 zu verstehen, nach dem eine Entscheidung, die mindestens eine Person benachteilige, dann durchgeführt werden solle, wenn es möglich sei, aus dem Gewinn der Begünstigten die Benachteiligten (Anmerkung: hypothetisch) zu entschädigen, zu kompensieren.284 Als Begünstigte durch die Wahl kostengünstiger Mittel sei die Allgemeinheit zu verstehen.285 Eine Abwägung von Grundrechtseingriffen und fiskalischen Vorteilen sei möglich.286 Als modifiziert sei das Kaldor-Hicks-Kriterium zu bezeichnen, da nicht alle Zwecke der Abwägung zugänglich seien: Eine Kompensation sei nur zwischen sogenannten unselbständigen Zwecken zulässig, während „selbständige Zwecke“ zu konservieren seien.287 Unter selbständigen Zwecken staatlicher Akte sind solche zu verstehen, die auch ohne Vergleich mit einer Alternative vorteilhaft erscheinen.288 Hiermit sind mithin „Zweck“, „Ziel“ oder der „erstrebte Erfolg“ einer Maßnahme gemeint.289 Diese konservieren zu wollen bedeutet, dass der Grad der Ziel­ 282  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 67–68 und passim. 283  Zu diesem Kriterium und Nachweisen etwa St. Huster, Rechte und Ziele, S. 433 mit Fn. 13. Durch die Modifikation nach R. Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 68 mit Fn. 288, handelt es sich gewissermaßen um eine Synthese der Pareto-Optimalität (siehe C. II. 4. a) aa) mit Fn. 376 und Fn. 180, 376) und des Kaldor-Hicks-Kriteriums, weswegen R. Dechsling auch klarstellt, dass das Kriterium auch modifiziertes Pareto-Kriterium oder kombiniertes Pareto-/Kaldor-Hicks-Kriterium genannt werden könnte. 284  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 68. 285  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 69. 286  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 68, wo dieser auch klarstellt, dass „Kompensation“ in diesem Kontext gleichbedeutend mit „Abwägung“ sei. 287  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 68. 288  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 54. 289  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 55.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

erreichung, den der Gesetzgeber gewählt habe, nicht zur Disposition stehe.290 Anders gewendet: Ein Alternativmittel müsse – wie es auch aus der gängigen Definition der Erforderlichkeit bekannt ist – mindestens gleich geeignet zur Förderung „selbständiger Zwecke“ sein, um die Erforderlichkeit des gewählten Mittels entfallen lassen zu können.291 Unselbständige Zwecke seien hingegen solche, die nur durch den Vergleich mit einer Alternative als Vorteil erschienen:292 der im Vergleich mit einem Alternativmittel geringere finanzielle Aufwand für den Staat („unselbständiger Zweck“: „Schonung von Verwaltungsressourcen“) oder die im Vergleich mit einem Alternativmittel milderen Grundrechtseingriffe zu Lasten eines Grundrechtsberechtigten (unselbständiger Zweck: „Vermeidung von Grundrechtseingriffen“)293.294 R. Dechsling formuliert, dass „ ‚Kompensation‘ […] in diesem Zusammenhang nichts anderes [heiße], als daß die verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen gegeneinander abzuwägen [seien]“.295 Aus seiner Verknüpfung dieser Abwägung mit dem modifizierten Kaldor-Hicks-Kriterium kann aber eigentlich nur gefolgert werden, dass damit nicht gemeint sei, es solle eine „freie Abwägung“296 vorgenommen werden,297 sondern dass folgende Frage gestellt werden müsse: Kann der durch eine für 290  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 63; dass der vom Gesetzgeber vorgegebene Grad der Zielerreichung zu konservieren sei, wird prominent nur von M. Sachs, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 8. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 153 (dazu Fn. 428) bestritten, vgl. A.  Voßkuhle, Das Kompensa­ tionsprinzip. Grundlagen einer prospektiven Ausgleichsordnung für die Folgen privater Freiheitsbetätigung – Zur Flexibilisierung des Verwaltungsrechts am Beispiel des Umwelt- und Planungsrechts, 1999, S 370 Fn. 57. 291  Ein selbständiger Zweck in diesem Sinne ist die Förderung der Strafrechtspflege (siehe auch Abschnitt C. II. 2. b) aa)). 292  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 54. 293  Das führt für R. Dechsling zu der Konsequenz, Zwecke gegen Zwecke abwägen zu müssen. 294  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 54. 295  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 68. 296  Zu den Nachteilen einer freien Abwägung siehe nur Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 47, daher bemüht sich der hier noch aufzuzeigende Ansatz – wie von Th. Wischmeyer gefordert – „um klarere Strukturen“. Siehe dazu Abschnitt D. 297  Wäre R. Dechsling so zu interpretieren, hätte er vorgeschlagen, eine „freie“ Abwägung zwischen „unselbständigen“ Vor- und Nachteilen des gewählten Mittels und eine zwischen denen des alternativen Mittels vorzunehmen, um anschließend eine Bewertung vorzunehmen, welches Verhältnis besser ist.



II. Die Ansätze im Einzelnen79

die Allgemeinheit (den Staat) kostengünstigere, jedoch in seine Grundrechte stärker eingreifende Maßnahme Belastete mit dem Gewinn, den die Allgemeinheit durch die Wahl dieses Mittels erzielt, hypothetisch entschädigt werden?298 Aus der Gesamtheit der Ausführungen R. Dechslings geht hervor, dass unter dem Gewinn der Allgemeinheit wohl am ehesten der ersparte „Verwaltungsaufwand“ zu verstehen ist. Unter den unselbständigen Zwecken haben (prima facie) die grundrechtlich geschützten Positionen des Einzelnen ein höheres Gewicht.299 Eingriffe sollen zumindest nicht erforderlich sein, wenn das Ziel mit einem geringfügig teureren, dafür aber erheblich weniger einschneidenden Mittel erreicht werden könne.300 Nach der Erforderlichkeitsprüfung habe eine (gewöhnliche) Angemessenheitsprüfung zu erfolgen.301 a) Definitionen Insgesamt findet sich nach dieser Meinung folgende Definition der Erforderlichkeit: Das Mittel ist erforderlich, wenn es kein Alternativmittel gibt, welches in Bezug auf die „selbständigen“ Zwecke (mindestens)302 gleich geeignet ist und dessen „unselbständige“ Vorteile die „unselbständigen“ Nachteile besser kompensieren.303 In der in Rede stehenden Situation ist abzuwägen, ob das Verhältnis zwischen „unselbständigem“ Vorteil (erspartem „Ver298  R. Dechsling beschreibt hiermit eine Bewertung des gewählten Mittels; M. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 3. Auflage, 2018, S. 258 Fn. 136, beschreibt mit der Frage: „Rechtfertigt die Reduktion der Eingriffsintensität die Höhe der erforder­ lichen finanziellen Aufwendungen?“ eine Bewertung eines Alternativmittels. 299  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 68, 75. 300  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 69. 301  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 68 Fn. 287, kann nur dahingehend verstanden werden. 302  Siehe Fn. 159. 303  Ein größerer Grundrechtsschutz ist keine zwingende Voraussetzung dafür, die Erforderlichkeit zu verneinen. R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 68: „Das heißt insbesondere, daß gleichgeeignete Alternativen, die Grundrechts­ positionen beeinträchtigen, nicht schon wegen kleiner fiskalischer Vorteile zur Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Entscheidung führen.“ Der Autor schreibt hier zwar nicht, dass die Alternative Grundrechtspositionen stärker beeinträchtigen würde, doch müsste man die fiskalischen Vorteile gar nicht erwähnen, wenn diese nicht relevant wären, eben um etwas zu kompensieren. Anders gewendet, würden große fiskalische Vorteile in dieser Konstellation (offenbar) zu einer Nichterforderlichkeit des gewählten Mittels führen, obwohl sie Grundrechte stärker beeinträchtigen.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

waltungsaufwand“) und „unselbständigem“ Nachteil (intensiverem Grundrechtseingriff) bei der gewählten Maßnahme nicht schlechter ist als bei der Alternative. Nicht schlechter ist das Verhältnis, sofern die durch den Einsatz der gewählten Maßnahme ersparten finanziellen Aufwendungen hypothetisch ausreichen, um die dadurch stärker Betroffenen für ihre Mehrbelastung zu entschädigen. Die Angemessenheitsprüfung erfolgt nach der gängigen Definition.304 b) Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung aa) Legitimer Zweck, Geeignetheit Der legitime Zweck der Strafrechtspflege ist ein „selbständiger“, mithin zu konservieren. Die „unselbständigen“ Zwecke, Ersparung von „Verwaltungsaufwand“ und Grundrechtsschonung, deren Feststellung bereits einen Mittelvergleich bedingt, sind verfassungsrechtlich unbedenklich, also ebenfalls legitim.305 Ob die Lumbalpunktion die Grundrechtsschonung fördert, ist fraglich, dennoch fließt die Grundrechtsschonung als Aspekt des Alternativmittels „Okzipitalpunktion“ mit in die Erforderlichkeitsprüfung ein. Die Lumbalpunktion ist zur Erreichung der Strafrechtspflege geeignet, ebenso zur Einsparung von „Verwaltungsaufwand“.306 bb) Erforderlichkeit Nach der gefundenen Definition ist die Lumbalpunktion erforderlich, wenn es kein Alternativmittel gibt, welches in Bezug auf die „selbständigen“ Zwecke gleich geeignet ist und dessen „unselbständige“ Vorteile die „unselb­ ständigen“ Nachteile besser kompensieren. In der in Rede stehenden Situation ist abzuwägen, ob das Verhältnis zwischen „unselbständigem“ Vorteil (erspartem „Verwaltungsaufwand“) und „unselbständigem“ Nachteil (intensiverem Grund­rechtseingriff) bei der gewählten Maßnahme nicht schlechter ist als bei der Alternative. Nicht schlechter ist das Verhältnis, sofern die durch den Einsatz der gewählten Maßnahme ersparten finanziellen Aufwendungen hypothetisch ausreichen, um die dadurch stärker Betroffenen für ihre Mehrbelastung zu entschädigen. Als Alternativmittel kommt die Liquorentnahme mittels Okzipitalpunktion in Betracht. Die Okzipitalpunktion förderte die Strafrechtspflege genauso 304  Siehe

Fn. 5 a. E. zum Kostenvermeidungszweck Abschnitt B. IV. 306  Siehe Abschnitt C. II. 1. a) bb) (2). 305  Siehe



II. Die Ansätze im Einzelnen81

effektiv wie die vorgeschriebene Lumbalpunktion. Sie wäre zudem wegen der verringerten Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Nebenwirkungen milder für den Betroffenen.307 Sie wäre jedoch finanziell aufwendiger, weshalb das gewählte Mittel trotzdem erforderlich ist, wenn die ersparten finanziellen Aufwendungen hypothetisch ausreichten, um die (im Vergleich zur Anwendung der Alternative) stärker Betroffenen für ihre Mehrbelastung zu entschädigen. Es müssen also zunächst die beiden Rechtsgüter (Schonung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 Fall 2 GG und Einsparung von „Verwaltungsaufwand“) auf einen „gemeinsamen Nenner“ gebracht werden, um eine hypothetische Entschädigung zu prüfen. Der ersparte Verwaltungsaufwand wird sich – unterschiedlich ausfallend, je nachdem, welchen Wert die oben307a genannte Vari­able „Mehrkosten“ im Zeitpunkt der rechtlichen Prüfung hat – in der Regel grob beziffern lassen. Problematisch ist jedoch die Bezifferung der Grenze, ab der die zusätzliche Grundrechtsbelastung für die Betroffenen308 als kompensiert anzusehen ist. Hierfür ist es nämlich nötig zu ermitteln, wie viel diese eben genannten Freiheitseingriffe „wert sind“. Nach welchen Kriterien dies zu erfolgen hat, geht aus R. Dechslings Arbeit nicht hervor; es ist lediglich ersichtlich, dass zumindest „ein harter Eingriff nicht erforderlich sein [soll], wenn das Ziel mit einen geringfügig teureren, dafür aber erheblich weniger einschneidenden Mittel erreicht werden kann“309. Abgrenzungspunkte für die unbestimmten Begriffe der Geringfügigkeit der Mehrkosten oder der Erheblichkeit der Wenigerbelastung werden nicht genannt. Mithin kann die Erforderlichkeit des gewählten Mittels mittels dieser Anweisung allenfalls eindeutig in solchen von den oben genannten Fallkonstellationen bestimmt werden, in denen die Mehrkosten für eine Okzipitalpunktion nur 0,20 € betragen.310 In diesen Fällen dürfte aufgrund der teilweise ernsten Nebenwirkungen der Lumbalpunktion wohl konsensfähig gesagt werden können, dass – unabhängig von der genauen Bedeutung der eben aufgezeigten wertungsbedürftigen Begriffe – in der Okzipitalpunktion ein nur gering307  Siehe

Abschnitt C. II. 1. a) bb) (3). Abschnitt C. I. 308  Da eine Abwägung mit dem Gewinn der Allgemeinheit stattfindet, kann als Gegenpol zur Allgemeinheit nicht der einzelne konkret Betroffene dienen, sondern es muss der Natur des (wenn auch modifizierten) Kaldor-Hicks-Kriteriums nach auf die Gesamtheit der Betroffenen abgestellt werden. 309  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 69. 310  Die Anzahl durchzuführender Untersuchungen skaliert zunächst die ersparten Aufwendungen und die hypothetisch zu Entschädigenden beziehungsweise die Freiheitseinbuße. Das Verhältnis zwischen den Vor- und Nachteilen bleibt vordergründig unberührt, doch erstarkt die Bedeutung des ersparten Verwaltungsaufwandes abhängig von der Haushaltslage. So kann der Prima-facie-Vorrang zugunsten der Freiheit widerlegt werden. 307a  Siehe

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

fügig teureres, dafür aber erheblich weniger einschneidendes Mittel in R. Dechslings Sinne erkannt werden könne. Das gewählte Mittel wäre dann nicht erforderlich. In allen anderen Fallkonstellationen wären nur noch viel stärker von Wertungen bestimmte Ergebnisse erzielbar, worauf an dieser Stelle nicht näher eingegangen wird. cc) Angemessenheit, Ergebnis Bezüglich der Angemessenheit ergeben sich keine Besonderheiten.311 Im Ergebnis ist die Vorschrift, welche die Anordnung einer Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion vorschreibt, also verhältnismäßig oder nicht, je nachdem, wie die Wertungsfrage der hypothetischen Entschädigung in der Erforderlichkeitsprüfung beantwortet wird. c) Kritik Im Folgenden sollen die Vor- und Nachteile dieser Vorgehensweise analysiert werden. aa) Vorteil: Transparenz Der große Vorteil dieses Modells liegt darin, dass sie dem legitimen staatlichen Bemühen, Kosten zu sparen, Rechnung trägt, es insbesondere offenlegt und bewusst in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einbezieht.312 So wird dem Staat nicht auferlegt, für seine Bürger „Freiheit um jeden Preis“ zu ermöglichen; gleichzeitig soll er jedoch auch nicht auf Kosten seiner Bürger „um jeden (Freiheits-)Preis“ Geld sparen können, da er ein dahin gerichtetes Bemühen offenlegen und im Einzelfall rechtfertigen muss. Ohne diese Offenlegung ist zu befürchten, dass – schlimmstenfalls unbewusst – deutlich teurere Alternativmittel von vornherein nicht berücksichtigt, nur „ein wenig“ 311  Siehe

daher Abschnitt C. II. 1. a) bb) (4). eine Einbeziehung auch der von ihm so bezeichneten Nebenwirkungen in die Abwägung M.  Gentz, Zur Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen, NJW 1968, S. 1600 (1604); ihm darin zustimmend M. Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Mit einer exemplarischen Darstellung seiner Geltung im Atomrecht, 1985, S. 72; ähnlich St. Huster/J. Rux, in: BeckOK Grundgesetz, Volker Epping/Christian Hillgruber (Hrsg.), 41. Edition, Stand: 15.2.2019, Art. 20 Rn. 196: „Kosten und sonstige Nachteile, die andere Regelungsmöglichkeiten mit sich bringen, sind in Rechnung zu stellen und stehen deren Charakterisierung als milderes Mittel im Wege“; Auswirkungen auf Dritte und die Allgemeinheit ebenfalls in den Blick nehmen wollend K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 781. 312  Für



II. Die Ansätze im Einzelnen83

teurere und dafür „sehr viel“ mildere Mittel hingegen, ohne dies überhaupt nachvollziehbar zu begründen313, dem gewählten Mittel vorgezogen würden. R. Dechsling prägte hierfür den Begriff der „apokryphe[n] Abwägungen“.314 Eine intransparente oder sogar unbewusste Beeinflussung der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit der Konsequenz potentiell qualitativ schlechterer Entscheidungen wäre die Folge.315 Dass die Verfassungsgerichtsbarkeit zumindest implizit Kosten mit abwägt, ist ein offenes Geheimnis.316 bb) Nachteile (1) Der Entschädigungsgedanke und das Fehlen eines allgemeinen Maßes Ein großer Nachteil dieser Vorgehensweise ließ sich bereits in der beispielhaften Erforderlichkeitsprüfung feststellen und beschränkt in hohem Maße ihre Praxistauglichkeit: Mit ihr entsteht die Aufgabe, verschiedenste Grundrechtseinbußen mit dem mit ihnen verknüpften Nutzen für die Allgemeinheit zu vergleichen, oder, ganz praktisch gesprochen, in Geld umzurechnen, was schlicht nicht immer möglich ist. Man bedenke zunächst, dass R. Dechsling die Vorteile für die Allgemeinheit, woraus der Eingriffsadressat „entschädigt“ werden können soll, nicht auf finanzielle beschränkt, sondern zum Beispiel auch „die Vermeidung von Grundrechtseingriffen“317 darunter fasst (im Ausgangspunkt ist das auch richtig, sonst wäre jeder Eingriff, der keine finanziellen Vorteile bringt, stets nicht erforderlich). Woraus sollen die betroffenen Grundrechtsberechtigten (hypothetisch) entschädigt werden, wenn kein finanzieller Vorteil erwirtschaftet wird? Man könnte einerseits versuchen, unmittelbar Rechte und Rechtsgüter gegenseitig in Verrechnung zu bringen. Hierzu das Lithium-Ionen-Batterien-Beispiel: Es werden immer mehr große Lithium-IonenBatterien aus Elektroautos nicht ordnungsgemäß entsorgt, was gravierende Nachteile für die Umwelt mit sich bringt. Eigentümern von Elektroautos wird deshalb eine gesetzliche Pflicht auferlegt, den Zustand und die etwaige Entsorgungsstelle der Batterien ihrer Elektroautos den zuständigen Zulassungsbehörden halbjährlich zu melden. Einzige Alternative wäre es gewesen, die Hersteller von Lithium-Ionen313  Dies soll nicht bedeuten, dass dies nicht durchaus nachvollziehbar begründbar sein könne. 314  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 64. 315  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 65–66. 316  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 126 mit Fn. 463. 317  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 54.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

Batterien zu verpflichten, die von ihnen hergestellten Batterien mit GPS-Sendern und Modellnummern zu versehen, damit diejenigen, die die Batterien falsch entsorgen, ermittelt werden können.

Nach R. Dechsling könnte zu fragen sein, ob der unselbständige Vorteil (Vermeidung eines Eingriffs in die Berufsfreiheit der Batteriehersteller) groß genug sei, um den „unselbständigen“ Nachteil (Eingriff zumindest318 in die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG der Elektroautoeigen­ tümer) zu kompensieren. Mit der Vermeidung eines Eingriffs in ein Grundrecht, anders gewendet, mit einer höheren Grundrechtsrealisierungschance für eine Person kann indes ein anderer Grundrechtsberechtigter, dem eine Tunspflicht auferlegt wird, nichts anfangen. Es stellt sich das Problem eines interpersonellen Nutzenvergleichs, welches mit einem gemeinsamen Maßstab gelöst werden könnte, etwa indem jeder erdenkliche rechtliche Vorteil in Geld umgerechnet würde.319 Vordergründig liegt dabei auf der Entschädigungsseite kein Problem, zumindest kein neues: Wann eine (tatsächliche) finanzielle Entschädigung ausreichen soll, um einen nicht finanziellen Schaden zu kompensieren, ist (zumindest annähernd) vom sogenannten Schmerzensgeld nach § 253 Abs. 2 BGB320 bekannt (wobei eine wirkliche wohlfahrtsökonomische Betrachtung vorsehen müsste, dass die Leidtragenden voll entschädigt werden könnten und, darüber hinausgehend, Vorteile verblieben)321. Die Prämisse einer billigen Entschädigung in Geld wegen eines immateriellen Schadens ist dabei, dass der Schaden nicht genau berechnet werden, eine Entschädigung gleichwohl Ausgleich und Genugtuung verschaffen kann322. So ließe sich im Li318  Möglicherweise ist auch die Eigentumsfreiheit der Elektroautoeigentümer betroffen, worauf es aber hier nicht ankommt. 319  So ähnlich haben es auch die Erfinder des Kaldor-Hicks-Kriteriums, die interpersonelle Nutzenvergleiche als „Schwierigkeit“ bezeichnet haben (J. R. Hicks, The Foundation of Welfare Economics, The Economic Journal 49 [1939], S. 696 [699]), vorgesehen (N. Kaldor, Welfare Propositions of Economics and Inter-Personal Comparisons of Utility, The Economic Journal 49 [1939], S. 549 [551 Fn. 1]). 320  Dort findet die Berechnung auf Rechtsfolgenseite statt, nach R. Dechsling stellt sich die Frage einer hypothetischen Entschädigung schon bei der Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs, also im Tatbestand des Grundrechts. Zu der Bedeutung dieser Unterscheidung sogleich im Haupttext. 321  N. Kaldor, Welfare Propositions of Economics and Inter-Personal Comparisons of Utility, The Economic Journal 49 (1939), S. 549 (551 Fn. 1). 322  Zu den Zwecken des Schmerzensgeldes Ch. Grüneberg, in: Otto Palandt (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch. Mit Nebengesetzen. Insbesondere mit Einführungsgesetz (Auszug) einschließlich Rom I-, Rom II- und Rom III-Verordnungen sowie EU-Güterrechtsverordnungen, Haager Unterhaltsprotokoll und EU-Erbrechtsverordnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (Auszug), Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz, Unterlassungsklagengesetz, Produkthaftungsgesetz, Erbbaurechtsgesetz,



II. Die Ansätze im Einzelnen85

thium-Ionen-Batterien-Beispiel (genauso willkürlich323) eine beliebige „billige“ Geldsumme finden, die ausreichte, die Einbuße an allgemeiner Handlungsfreiheit (hypothetisch) auszugleichen und den Betroffenen genugzutun. Problematisch ist allerdings, wie sich der finanzielle Gewinn, der aus einem immateriellen Vorteil (im erwähnten Beispiel der Vermeidung des Eingriffs in die Berufsfreiheit) erwirtschaftet werden soll, errechnen lässt. Man kann vernünftigerweise kein numerisch exaktes Ergebnis verlangen. Dennoch basiert selbst eine „Gewinnschätzung“ auf der Prämisse, dass tatsächlich ein finanzieller Vorteil entsteht, der sich theoretisch berechnen lässt. Jedwedes rechtliche Interesse und Rechtsgut müsste also in Geld messbar sein, um, R. Dechsling folgend, den gewonnen Vorteil bemessen zu können.324 „Wirtschaftsgrundrechte“ lassen eine solche Rechnung vielleicht noch zu. So könnte man im Lithium-Ionen-Batterien-Beispiel ausrechnen, welche Kosten ein Batteriehersteller hätte, müsste er jede produzierte Batterie mit einem GPS-Sender und einer Modellnummer ausstatten. „Politische“ Grundrechte (und andere „nicht wirtschaftliche“ rechtliche Interessen und Rechtsgüter) in Geld messen zu wollen widerstrebt hingegen ihrem Charakter. Es fehlt daher an einem gemeinsamen Maßstab, der für eine Kompensation in diesem Sinne unabdingbar ist. Hierfür ein Internetforen-Beispiel: Vor Wahlen üben ausländische Staaten immer häufiger Einfluss auf unentschiedene Wahlberechtigte in Internetforen aus. Der Gesetzgeber verpflichtet deswegen Forenbetreiber, Beiträge, die von einer ausländischen IPAdresse abgesendet wurden oder bei denen ein anderer Zusammenhang ins Ausland besteht und die falsche Tatsachen zur Täuschung von Lesern wiedergeben, zu löschen. Einzige Alternative wäre es gewesen, Internetforen vor Wahlen zu sperren.

Die Höhe einer Geldsumme, die (hypothetisch) ausreichte, die Betreiber von Internetforen zu entschädigen, ließe sich vielleicht begründen. Wie soll aber der Betrag, der durch den „unselbständigen“ Vorteil (Vermeidung eines Eingriffs in die Meinungsfreiheit derjenigen, die vor Wahlen von der Meinungsfreiheit geschützte Beiträge in Internetforen verfassen möchten) erwirtschaftet werden soll, berechnet werden? Selbst die gröbste Schätzung ist ausgeschlossen, da sich die Meinungsfreiheit, zumal im Zusammenhang mit demokratischen Wahlen, nicht in Geld messen lässt. Das Problem der Umrechenbarkeit von rechtlichen in finanzielle Gewinne stellt sich zwar nicht, wenn der Vorteil für die Allgemeinheit schlicht ein ­finanzieller ist, mithin ein („unselbständiger“) fiskalischer Zweck mit dem Wohnungseigentumsgesetz, Versorgungsausgleichsgesetz, Lebenspartnerschaftsgesetz, Gewaltschutzgesetz, 78. Auflage, 2019, § 253 Rn. 4. 323  Zur Wortverwendung siehe Fn. 177. 324  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 69, spricht davon, Grundrechte „kommensurabel zu machen“.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

Eingriff verfolgt wird. Doch lässt sich bezweifeln, dass mit der hypothetischen Entschädigbarkeit der richtige Maßstab gefunden wurde, der einen Eingriff in ein Grundrecht (die Angemessenheit vorausgesetzt) rechtfertigen können soll. – Zum einen schlägt R. Dechsling keinerlei Kriterien vor, mit denen eine hypothetische Entschädigbarkeit beurteilt werden könnte.325 Insbesondere beschreibt er nicht, bis zu welchem Grad der Eingriff wiedergutgemacht werden können müsste. Zum anderen bestehen Bedenken gegenüber der Übertragbarkeit des Entschädigungsgedankens. Verwendet man eine Terminologie des Schadensersatzes bei der Beschreibung des Modells von R. Dechsling, ist es der Schädiger (der den Eingriff vornehmende Staat), der den finanziellen Vorteil (Vermeidung des „Verwaltungsaufwands“ als „unselbständigen“ Vorteil) aus der Schädigung zieht, denn er muss den Geschädigten (den Grundrechtsberechtigten, dessen Freiheitseinbuße sich als „unselbständiger“ Nachteil erweist) ja nicht tatsächlich entschädigen.326 Aus diesem Grund kann bezweifelt werden, dass ein Entschädigungsgedanke bei der Erforderlichkeitsprüfung zielführend ist.

325  Unter den Kriterien, welche das Auffinden dieser Geldsumme leiten sollten, wäre wohl die abstrakte Wertigkeit des betroffenen Grundrechts, wie sie von der Angemessenheit bekannt ist (siehe Fn. 176 und Abschnitt C. II. 3. b) bb)). Die Umstände, die für die Bemessung des zivilrechtlichen Schmerzensgeldes maßgeblich sind, sind jedenfalls nicht in Gänze zur Beurteilung von abstrakt-generellen Regelungen übertragbar, sind es beim Schmerzensgeld doch vornehmlich die konkreten Auswirkungen und Umstände des individuellen Verletzten und Schädigers, die über die Höhe entscheiden (dazu Ch. Grüneberg, in: Otto Palandt [Begr.], Bürgerliches Gesetzbuch. Mit Nebengesetzen. Insbesondere mit Einführungsgesetz [Auszug] einschließlich Rom I-, Rom II- und Rom III-Verordnungen sowie EU-Güterrechtsverordnungen, Haager ­Unterhaltsprotokoll und EU-Erbrechtsverordnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz [Auszug], Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz, Unterlassungs­klagengesetz, Produkthaftungsgesetz, Erbbaurechtsgesetz, Wohnungseigentumsgesetz, Versorgungsausgleichsgesetz, Lebenspartnerschaftsgesetz, Gewaltschutzgesetz, 78. Auflage, 2019, § 253 Rn. 15–19), was einen abgeschlossenen Vorgang voraussetzt (der bei einer abstrakt-generellen Regelung eben nicht gegeben ist). 326  Durch einen solchermaßen verstandenen Kompensationsgedanken, würde er bei Beurteilung eines jeden Freiheitseingriffes Einzug erhalten, würden die prekärsten Konstellationen – der Staat zieht den Zweckerreichungsvorteil aus dem Grundrechtseingriff, den er abmildern könnte, dies jedoch aus Kostenvermeidungsgründen nicht tut – zu einer Art pervertierter Aufopferung (obwohl ein solcher Anspruch bei legislativem Unrecht regelmäßig nicht zugesprochen wird), da nicht mehr der Geschädigte, sondern der Schädiger finanziellen Zuwachs erhielte. Zu einer gedanklichen Nähe zum Recht staatlicher Einstandspflichten Abschnitt C. II. 4. a) bb) mit Fn. 383.



II. Die Ansätze im Einzelnen87

(2) Unvollständigkeit des Modells Der Ansatz lässt es zu, finanzielle Vorteile für den Staat gegen Grundrechtseinbußen abzuwägen, weil das Erste ein „unselbständiger“ Vorteil, das Zweite ein „unselbständiger“ Nachteil ist. Doch was ist mit dem Verhältnis zwischen dem selbständigen Vorteil und der Grundrechtseinbuße? Eindeutig ist nach R. Dechsling, dass der Zweckerreichungsgrad bezüglich aller selbständigen Vorteile zu konservieren ist, das heißt ein deutlich milderes Alternativmittel mit etwas geringerem Zweckerreichungsgrad nicht zur Nicht­ erforderlichkeit des gewählten Mittels führt. Wenn aber ein (deutlich) milderes, mit (mindestens) gleich hohem Zweckerreichungsgrad bezüglich aller selbständigen Zwecke ausgestattetes, jedoch mehr „Verwaltungsaufwand“ hervorrufendes Alternativmittel bereitsteht, verlangt dieser Ansatz nur danach zu fragen, ob die vom gewählten Mittel beeinträchtigten „Grundrechts­ positionen“327 durch den finanziellen Vorteil kompensiert werden. Ein Teil dieser „Grundrechtspositionen“ kann indes auch allein zur Erreichung des „selbständigen“ Vorteils beeinträchtigt werden. Wie damit umzugehen ist, lässt R. Dechsling offen.328 (3) Keine (bloße) Evidenzkontrolle329 Indem R. Dechsling die wertungsdurchdrungene Frage nach der hypothetischen Kompensation bereits auf der Ebene der Erforderlichkeit verortet, verzichtet er, nimmt man seine wohlfahrtsökonomische Herleitung ernst, auf das für die Angemessenheit anerkannte Prinzip der Beschränkung der gerichtlichen Prüfung auf eine Evidenzkontrolle. Hierdurch verstärkt sich das ohnehin bestehende Gewaltenteilungsproblem,330 da ein Gericht so eine dezisionistische Frage notwendig „präzise“ beantworten müsste. Fehlt es – nicht 327  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 68. 328  Zu einer Möglichkeit des Umgangs hiermit Abschnitt D. 329  Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfüllt auch eine Funktion als Kontrollmaßstab, den die Rechtsprechung anlegt (K.-P. Sommermann in: Hermann von Mangoldt/ Friedrich Klein/Christian Starck [Begr. und letztere ehemalige Hrsg.], Grundgesetz. Kommentar, Band 2, 7. Auflage, 2018, Art. 20 Abs. 3 Rn. 310: „In der Rechtsprechung kommt [dem Verhältnismäßigkeitsgedanken] heute eine hervorragende Bedeutung als Maßstab für die Beurteilung der Zulässigkeit von Eingriffen des Gesetzgebers […] zu“). Es ist also angezeigt, Interpretationen der Verhältnismäßigkeitsdoktrin nicht nur aus einer materiellen Warte zu betrachten, sondern auch ihre prozessualen Konsequenzen in den Blick zu nehmen. 330  Dazu, dass die Evidenzkontrolle dazu dient, den Gewaltenteilungskonflikt zu entspannen St. Huster/J. Rux, in: BeckOK Grundgesetz, Volker Epping/Christian Hillgruber (Hrsg.), 41. Edition, Stand: 15.2.2019, Art. 20 Rn. 197.1.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

notwendigerweise evident – an der nicht exakt berechenbaren hypothetischen Kompensation, soll das gewählte Mittel nicht erforderlich sein. Eine Vermutung zugunsten der Zulässigkeit einer Maßnahme des Gesetzgebers besteht so nicht mehr. (4) Keine konsensfähigen Ergebnisse Zu guter Letzt kann gegen die hier kritisierte Vorgehensweise eingewandt werden, dass bei ihrer Anwendung der Ausgang der Verhältnismäßigkeitsprüfung maßgeblich von der Beantwortung von Wertungsfragen bereits auf der dritten, nicht erst auf der vierten Stufe abhänge.331 Die tradierte Verhältnismäßigkeitsprüfung ist eine „Erfindung“332, ihr Aufbau wurde nicht ohne Weiteres dem Grundgesetz entnommen. Da die Verhältnismäßigkeitsprüfung als solche insgesamt nicht frei von Wertungen ist und daher nie zu eindeutigen Ergebnissen führen kann, erscheint es sinnvoll, subjektive Wertungen möglichst an einem Punkt in der Prüfung zu konzentrieren, damit Entscheidungen bei späterer Diskussion und Überprüfung zumindest „bis zum Punkt x“ weitestgehend unumstritten sind. Die Prüfung der Erforderlichkeit nach dem heute verbreiteten Verständnis, also ohne eine Kosten-Nutzen-Analyse, ist weitgehend objektiviert; es müssen wenig Wertungsfragen beantwortet werden, um festzustellen, ob ein Mittel bei gleicher Eignung (und nach vielen Ansichten auch bei gleichen Kosten) milder ist als ein anderes.333 Die Stärke dieser „klassischen“ Erforderlichkeitsdefinition liegt in ihrem spezifischen Rationalitätsgehalt, der dadurch entsteht, dass Zweck und Mittel nicht von subjektiven Wertungen durchdrungen miteinander abgewogen werden müssen.334 Vorzunehmende 331  M. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 3. Auflage, 2018, S. 258 Fn. 136, möchte die genannte Abwägung daher in der Angemessenheitsprüfung verortet wissen; ähnlich W. F. Hotz, Zur Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit von Grundrechts­ eingriffen. Unter besonderer Berücksichtigung der bundesgerichtlichen Praxis zur Handels- und Gewerbefreiheit, 1977, S. 132–134. 332  O. Lepsius, Die Chancen und Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit. Zur Tragfähigkeit eines verfassungsrechtlichen Schlüsselkonzepts, 2015, S. 1 (4): „Ohne den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hätten wir eine völlig andere Grundrechtstheorie, die vermutlich auf einer genauen Schutzbereichsbestimmung beruhte“. Die heutige Verhältnismäßigkeit ist demnach nur eine Variante zur Verwirklichung des grundgesetzlich vorgesehenen Schutzniveaus der Grundrechte. 333  Vgl. Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 56–57, der darstellt, welche Ungenauigkeiten in der Erforderlichkeitsprüfung selbst ohne eine derartige Vorgehensweise schon in Kauf genommen werden müssen.



II. Die Ansätze im Einzelnen89

Wertungen werden auf die Angemessenheitsprüfung beschränkt, wodurch bis zu diesem Punkt deutlich konsensfähigere und leichter auf ihre „Richtigkeit“ hin überprüfbare Ergebnisse erzielt werden. Zudem würde die Vornahme einer Kosten-Nutzen-Analyse bedingen, dass Abwägungen nicht nur früher, sondern sowohl in der Erforderlichkeits- als auch der Angemessenheitsprüfung vorzunehmen wären, was zusätzlich zu einer Verwischung der Konturen der beiden Prüfungspunkte führen335 und eine nachträgliche Diskussion weiter erschweren würde. Zusätzlich wirft es Probleme der Gewaltenteilung auf, die Vor- und Nachteile der verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten gegeneinander abzuwägen,336 was einen umfassenden Mittelvergleich bedeutet und damit einem Optimierungsgebot nahekommt. 3. Inzidente Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Erforderlichkeitsprüfung Nach einer weiteren Ansicht soll die Kosten-Nutzen-Frage ebenfalls bereits in der Erforderlichkeitsprüfung angesprochen werden.337 Allerdings solle dies in Gestalt einer inzidenten338 zusätzlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen, worin es zu ermitteln gelte, ob statt der gewählten Belastung eines bestimmten (einzelnen) Grundrechtsträgers eine Belastung der Allgemeinheit verhältnismäßig wäre beziehungsweise ob die Belastung der Einzelnen statt der Allgemeinheit, um letzterer Kosten zu ersparen, unverhältnismäßig sei.339 Sei dies zu bejahen, sei in der Belastung der Allgemeinheit ein milderes Mittel zu sehen, wodurch die Erforderlichkeit des gewählten 334  M. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 3. Auflage, 2018 Fn. 136, der auf die „intersubjektiv[e]“ Überzeugungskraft der Ergebnisse der Erforderlichkeitsprüfung abstellt; A.  Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip. Grundlagen einer prospektiven Ausgleichsordnung für die Folgen privater Freiheitsbetätigung – Zur Flexibilisierung des Verwaltungsrechts am Beispiel des Umwelt- und Planungsrechts, 1999, S. 370 Fn. 57; Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 59–60. 335  L. Clérico, Die Struktur der Verhältnismäßigkeit, 2001, S. 118. 336  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 68. 337  A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 240–244. 338  Dass eine derartige Prüfung inzident in der Erforderlichkeitsprüfung erfolgen solle, geht zum einen aus der Formulierung „da sonst ein milderes Mittel zur Verfügung gestanden hätte“ (A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 241) sowie aus dem Beispiel A. v. Arnaulds hervor, in dem das abverlangte Opfer „nicht erforderlich zur Verfolgung der […A]ufgabe“ (S. 241–242) sein solle. 339  A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 241.

90

C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

Mittels – also der Belastung des Einzelnen – entfalle.340 Konkret würde sich diese inzidente Prüfung allerdings regelmäßig auf den Punkt der Angemessenheit beschränken, da die Heranziehung des Einzelnen anstelle der Allgemeinheit stets geeignet sei, diese nicht zusätzlich zu belasten und auch mildere Mittel kaum je ersichtlich seien.341 a) Definitionen Die Definition der Erforderlichkeit nach dieser Meinung lautet mithin: Das gewählte Mittel ist erforderlich, wenn dem Staat kein milderes, (mindestens)342 gleich geeignetes Alternativmittel zur Verfügung steht. Ein für den Adressaten milderes Mittel, an seiner statt die Allgemeinheit zu belasten, ist dann ein milderes Mittel in diesem Sinne, wenn eine Belastung des Einzelnen statt der Allgemeinheit (zwecks Entlastung letzterer) nicht verhältnismäßig ist. Bezüglich der Angemessenheit ergeben sich keine Besonderheiten.343 b) Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung aa) Legitimer Zweck, Geeignetheit Die Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion dient einem legitimen Zweck und ist auch geeignet.344 bb) Erforderlichkeit Das gewählte Mittel ist erforderlich, wenn dem Staat kein milderes, gleich geeignetes Alternativmittel zur Verfügung steht. Ein für den Adressaten milderes Mittel, an seiner statt die Allgemeinheit zu belasten, ist dann ein milderes Mittel in diesem Sinne, wenn eine Belastung des Einzelnen statt der Allgemeinheit (zwecks Entlastung letzterer) nicht verhältnismäßig ist. Ein milderes Mittel könnte in der Durchführung der Liquorentnahme mittels Okzipitalpunktion liegen. Dieses ist gleich geeignet. Dadurch, dass die günstigere Lumbalpunktion vorgeschrieben ist, wird nicht der Adressat „anstatt“ der Allgemeinheit belastet, sondern er wird (stärker) belastet, um der Allge340  A. v.

Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 241. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 241. 342  Siehe Fn. 159. 343  Siehe Fn. 5 a. E. 344  Siehe Abschnitte C. II. 1. a) bb) (1) und C. II. 1. a) bb) (2). 341  A. v.



II. Die Ansätze im Einzelnen91

meinheit Kosten zu ersparen. Kann A. v. Arnauld jedoch so verstanden werden, dass seine inzidente Verhältnismäßigkeitsprüfung auch in Fällen durchzuführen ist, in denen das Alternativmittel für den Betroffenen milder, für die Allgemeinheit jedoch kostenintensiver ist, so ist die Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion dann erforderlich, wenn es verhältnismäßig ist, die Adressaten der Vorschrift hierdurch stärker zu belasten, um der Allgemeinheit Kosten zu ersparen.345 Nunmehr folgt ebenjene inzidente Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Vornahme der Lumbalpunktion ist in allen Fallalternativen geeignet, der Allgemeinheit Kosten zu sparen; mangels hierzu gleichgeeigneter Alternativmittel (die Okzipitalpunktion ist teurer) ist sie auch erforderlich. Fraglich ist jedoch, ob sie auch angemessen ist. Hierzu dürfte die erzielte Kostenersparnis nicht in evidentem Missverhältnis zur Belastung des Einzelnen stehen. Zur Ermittlung erfolgt im ersten Schritt eine abstrakte Gegenüberstellung von Zwecken und Mittel.346 Das beeinträchtigte Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 Fall 2 GG ist als Grundrecht tendenziell stark geschützt.347 Eine Gewichtung ist auch unter den Zwecken möglich, sodass der Schutz von Verfassungsgütern, mithin namentlich von Grundrechten (Dritter) oder von Staatszielbestimmungen, den höchsten Rang innehat.348 Die Rechtfertigung ist, zumindest bei Eingriffen in Grundrechte mit einfachem Gesetzesvorbehalt wie dem Recht auf körperliche Unversehrtheit,349 indes auch mit sonstigen Zwecken des öffentlichen Interesses möglich.350 Die Vermeidung einer (unmittelbaren) Beeinträchtigung von Grundrechten Dritter kann nicht angenommen werden, da es gerade nicht darum geht, dass anstelle der einen die anderen eine Belastung hinnehmen sollen (das ist ohne­ dies eine Problematik, die unter Zuhilfenahme der Gleichheitsrechte 345  Falls die Dogmatik A v. Arnaulds überhaupt nicht für Alternativmittel, die keine Belastungsverschiebung auf die Allgemeinheit bedingen, angewandt werden soll, liegt in ihr wohl eine Alternativkonstruktion zum „Allgemeinheitsteil“ der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Paarformel. Zu Letzterer siehe Abschnitte C. II. 1. b) und C. II. 1. d). 346  L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 6. Auflage, 2017, Rn. 624. 347  Zur abstrakten Wertigkeit von Grundrechten L.  Michael/M.  Morlok, Grundrechte, 6. Auflage, 2017, Rn. 624. 348  Zur abstrakten Wertigkeit der Zwecke L.  Michael/M.  Morlok, Grundrechte, 6. Auflage, 2017, Rn. 624. 349  D. Murswiek/St. Rixen, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 8. Auflage, 2018, Art. 2 Rn. 164. 350  L.  Michael/M.  Morlok, Grundrechte, 6. Auflage, 2017, Rn. 624, unterscheiden dabei zwischen „besonders wichtigen Gemeinschaftsgütern wie etwa der Senkung von Arbeitslosigkeit und weniger essentiellen Belangen [wofür kein Beispiel gegeben wird]“. Die Wertigkeit dürfte auf einer stufenlosen Skala abgebildet werden können.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

gelöst werden kann)351. Vielmehr sollen der Allgemeinheit Kosten erspart werden. Keinesfalls kann aus der Tatsache, dass aus höheren Ausgaben möglicherweise eine Mehrverschuldung oder eine Anhebung der Steuern folgt, auf einen unmittelbaren Grundrechtseingriff zu Lasten Dritter geschlossen werden, da der Staat diese hypothetischen Mehrkosten ebenso gut an anderer Stelle wieder einsparen oder mittels anderer Quellen kompensieren kann.352 Eingriffe in die Grundrechte Dritter erfolgen, selbst wenn Steuern erhoben werden, durch die Erhebung der Steuern selbst, also durch die Steuergesetze und die auf ihrer Grundlage ergehenden Steuerbescheide,353 und nicht durch Verwendung bestimmter Mittel an anderer Stelle. Letztere mögen Motive für eine erhöhte Steuererhebung sein, durch Ausgeben bereits erhobenen Geldes selbst erfolgt aber keinerlei Eingriff. Der Kostenvermeidungszweck hat aber Verfassungsrang.354 Er sichert mittelbar die Leistungsfähigkeit des Staates und vermeidet nachgelagerte Grundrechtseingriffe durch (erhöhte) Steuer­ erhebungen. Insgesamt ist dieses Ziel wohl abstrakt geringer zu gewichten als der abstrakte Wert des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit.355 In einem zweiten Schritt erfolgt eine konkrete Bewertung der Zwecke und Mittel unter (vor allem) Beachtung der Schwere des Grundrechtseingriffes durch das Mittel aus Sicht des Grundrechtsträgers sowie auf der anderen Seite des konkreten Grades der Zweckerreichung durch das Mittel.356 Die Abwägung muss insgesamt ein deutliches Überwiegen der beeinträchtigenden Wirkungen einer Maßnahme im Vergleich zu den Zwecken ergeben, damit die Angemessenheit zu verneinen ist:357 Konkret handelt es sich bei der Lumbalpunktion wohl um einen mittelmäßig schwerwiegenden Eingriff, da 10 % der Betroffenen mehrere Tage lang nicht unerheblichen Schmerzen und Unwohlsein ausgesetzt sind, jedoch nicht etwa stationär behandelt werden müssen oder bleibende Schäden erleiden. Hieran ändert sich unabhängig vom Wert der Variablen in allen Sachverhaltsvarianten nichts. Der Grad der Zweckerreichung (Entlastung der Allgemeinheit [nur diese ist maßgeblicher Zweck der inzidenten Verhältnismäßigkeitsprüfung]) ändert sich aber mit ih351  A. v.

Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 240. auch Abschnitt B. I. 353  S. Kempny, Steuerrecht und Verfassungsrecht, StuW 2014, 185 (187). 354  Siehe Abschnitt B. IV. 355  Siehe zum Kostenvermeidungszweck Abschnitt B. IV. 356  L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 6. Auflage, 2017, Rn. 625. 357  L. Michael/M.  Morlok, Grundrechte, 6.  Auflage, 2017, Rn. 626; St. Huster/ J. Rux, in: BeckOK Grundgesetz, Volker Epping/Christian Hillgruber (Hrsg.), 41. Edition, Stand: 15.2.2019, Art 20 Rn. 197.1: „evident unangemessen“; B.  Grzeszick, in: Theodor Maunz/Günter Dürig (Begr.), Grundgesetz. Kommentar, Stand der Bearbeitung: 48. Ergänzungslieferung, November 2006, Art. 20 VII Rn. 120: „deutliche[…] Unangemessenheit“. 352  Siehe



II. Die Ansätze im Einzelnen93

nen: Zunächst hängt der Zweckerreichungsgrad davon ab, wie hoch der Haushaltüberschuss (oder das Haushaltsdefizit) im Zeitpunkt des Eingriffes ist, denn davon hängt ab, wie stark die Allgemeinheit durch die Kosten belastet wird. Der Grad der Zweckerreichung hängt also von der Relation der Kosten und dem verfügbaren Geld ab. Zudem variiert der Grad der Zweckerreichung mit den Mehrkosten für eine Okzipitalpunktion und der Zahl der durchzuführenden Eingriffe. Alle Variablen müssen in einer Gesamtschau betrachtet werden, da sie isoliert keine Aussagekraft haben. Mit den oben festgelegten Werten für diese Variablen ergeben sich folgende Konstellationen: Tabelle 3 Abstrakter Grad der Zweckerreichung bei verschiedenen Variablenwerten Lfd. Nr.

Mehrkosten Okzipitalpunktion

Anzahl Untersuchungen/Jahr

Gesparte Mehrkosten/ Jahr

Zustand Haushalt 358

Grad der Zweckerreichung

1

0,20 €

50

10 €

Hoher Überschuss

Äußerst gering

2

0,20 €

150.000

30.000 €

Hoher Überschuss

Gering

3

600 €

50

30.000 €

Hoher Überschuss

Gering

4

600 €

150.000

90 Mio. €

Hoher Überschuss

Eher hoch

5

0,20 €

50

10 €

Hohes Defizit

Sehr gering

6

0,20 €

150.000

30.000 €

Hohes Defizit

Eher gering

7

600 €

50

30.000 €

Hohes Defizit

Eher gering

8

600 €

150.000

90 Mio. €

Hohes Defizit

Sehr hoch

358  Der Einfachheit halber wurde, zu Lasten der Präzision, auf eine Bezifferung des Überschusses respektive Defizits verzichtet. Priorität war es aufzuzeigen, wie unterschiedlich die Bewertung der Zweck-Mittel-Relation in Abhängigkeit bestimmter Variablen ausfallen kann und wie wichtig es daher ist, diese Abwägung offenzulegen.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

Die mittelmäßig schwerwiegende konkrete Beeinträchtigung des abstrakt hochwertigen Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit steht wohl in den Konstellationen, in denen der Zweckerreichungsgrad „gering“ oder schwächer ist359, in einem „evidenten“ Missverhältnis. In diesen Fällen ist es wohl unangemessen, zu Gunsten der Allgemeinheit den Betroffenen den Grundrechtseingriff in Gestalt der Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion zuzumuten. Dann liegt mithin ein milderes, gleich geeignetes Alternativmittel vor, und der Eingriff ist bereits nicht erforderlich. In allen anderen Fällen360 ist der Eingriff erforderlich. cc) Angemessenheit, Ergebnis Es bleibt nach A. v. Arnauld zu untersuchen, ob der Grundrechtseingriff auch zur Förderung der Strafrechtspflege (bislang wurde die Angemessenheit nur inzident bezüglich des Zwecks „Entlastung der Allgemeinheit“ untersucht) angemessen ist. Es ergeben sich keine Besonderheiten.361 Das Ergebnis ist maßgeblich vom Zwischenergebnis der inzidenten Prüfung abhängig. c) Kritik aa) Vorteile (1) Transparenz Ebenso wie die Methode von R. Dechsling ist diese Konzeption offen dafür, einen Kostenvermeidungszweck in eine Abwägung einzubeziehen, sodass „apokryphe Abwägungen“362 vermieden werden. Vorteilhaft gegenüber der Methode von R. Dechsling scheint jedoch, dass diese Dogmatik ohne die Etablierung einer gänzlich neuen – mit oben gezeigten Nachteilen verbundenen – Abwägungsmethode auskommt, indem der übliche Verhältnismaßstab schlicht auf einen anderen Zweck angewandt wird. (2) Evidenzkontrolle Weiter bringt die der Angemessenheitsprüfung inhärente Beschränkung auf eine Evidenzkontrolle zwei Vorteile mit sich: Zunächst entsteht durch diese 359  Siehe

Tabelle 3, lfd. Nr. 1, 2, 3, 5. Tabelle 3, lfd. Nr. 4, 6, 7, 8. 361  Siehe Abschnitte C. II. 1. a) bb) (4). 362  Siehe bei Fn. 314. 360  Siehe



II. Die Ansätze im Einzelnen95

Methode kein weiteres Spannungsfeld für die Kompetenzverteilung zwischen Legislative und Judikative. Allenfalls könnte dieser Methode diesbezüglich vorgeworfen werden, dass die Kostenfrage allgemein – gleich in welcher Weise – der Kontrolle der Gerichte entzogen sein müsse. Des Weiteren erhält diese Methode den von der Legislative benötigten Spielraum. bb) Nachteile (1) Keine konsensfähigen Ergebnisse Ein Nachteil, den auch diese Methode mit sich bringt, ist, dass auch durch sie keine objektiven, weitgehend konsensfähigen Ergebnisse mehr in der Erforderlichkeitsprüfung erzielt werden können. Mag die Streuung der Ergebnisse aufgrund der leichteren Entscheidbarkeit („im Zweifel für den Gesetzgeber“, da innerhalb der Erforderlichkeitsprüfung nur inzident eine zweite Verhältnismäßigkeitsprüfung stattfindet) auch geringer sein als bei Kosten-Nutzen-Abwägungen im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung, so bleibt es doch das Wesen jeder Wertungsfrage, dass sie kaum je intersubjektiv eindeutig beantwortbar ist. (2) Unklare Aufspaltung Kriterien, inwiefern der durch das „Ob der Heranziehung“363 hervorgerufene Eingriff von dem durch das „Wie der Heranziehung“ zu scheiden ist, können den Ausführungen A. v. Arnaulds nicht entnommen werden. Der Gedanke, eine Grundrechtsbelastung auf korrespondierende Zwecke zurückzuführen, überzeugt zwar.364 Doch wie kann ein „Ob der Heranziehung“ jemals bewertet werden, ohne die Modalitäten der Belastung, die konkrete ­Intensität in den Blick zu nehmen? Die von A. v. Arnauld vorgeschlagene Trennung dünkt daher impraktikabel. Würde man hingegen die volle Eingriffsintensität jeweils anhand nur eines der verfolgten Zwecke beurteilen, würden Motivbündel seitens des Gesetzgebers missachtet: Verfolgt ein Gesetz mehrere Zwecke, wird der Eingriff nicht nur wegen eines Zwecks hervorgerufen. Dann geht es fehl, die Zumutbarkeit des Eingriffs in seiner Gänze nur mit einem Zweck rechtfertigen zu wollen.

363  Siehe zum Beispiel A.  v. Arnauld, Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 244. 364  Siehe zu einem anderen Vorschlag Abschnitt D.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

4. Finanzwirksames gerichtliches Instrumentarium a) Inhalt der Ansicht aa) Ebene der Erforderlichkeit Nach Th. Wischmeyer365 sind auf Ebene der Erforderlichkeit „finanzwirksame Alternativen konsequent aus der Suche nach einem möglichen ‚milderen Mittel‘ “ auszuklammern.366 Diese Forderung stützt der Autor auf die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, in der derartige Alternativen vom Gericht – bis auf wenige unbegründete Ausnahmen („bei ganz unerheblichen Mehrkosten“367) – entweder verworfen oder, häufiger, gar nicht erst thematisiert werden.368 Der Autor wendet sich dagegen, im Rahmen der Erforderlichkeit eine Kosten-Nutzen-Analyse durchzuführen. Gemeint ist hiermit ein Ins-Verhältnis-Setzen der „Kosten für eine noch verhältnismäßige Absicherung von Grundrechtseingriffen und die dadurch erzielten Grundrechtsgewinne“.369 Anderenfalls bliebe von der gesetzgeberischen Haushaltsautonomie nichts mehr übrig;370 im Ergebnis müssen eben nicht „ ‚alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Mittel‘ einer Vergleichsanalyse“ unterzogen werden.371 Die Ablehnung teurerer Alternativmittel werde vom Bundesverfassungsgericht damit begründet (und Th. Wischmeyer scheint sich dem anschließen zu wollen), dass die gesetzgeberischen Regulierungsziele zu akzeptieren seien und nur nach der „ ‚effizientesten‘ Art ihrer Umsetzung“ zu forschen sei. 365  Seine Ansicht betrachtet sich nicht als abschließend, sondern ist offen für Ergänzungen (zumindest öffnet sich Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 68–69, für ökonomisierende Ansätze, bei denen die [entsprechend umgestaltete] Verhältnismäßigkeitsprüfung gar als „Königsweg“ ins Spiel gebracht wird). 366  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 54, so ähnlich dann auch auf S. 57 und 62. Ebenso St. Detterbeck, Öffentliches Recht. Ein Basislehrbuch zum Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Europarecht mit Übungsfällen, 11. Auflage, 2018, Rn. 306: „Außerdem darf mit dem Alternativmittel keine finanzielle Mehrbelastung für den Staat verbunden sein“. 367  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 57. 368  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 58. 369  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 56. 370  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 57. Siehe auch Abschnitt B. III. 371  Diese Formulierung greift der Autor wiederholt auf: Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 56 und 57.



II. Die Ansätze im Einzelnen97

Th. Wischmeyer bemängelt dabei nur, dass das Gericht nicht verdeutliche, dass der Gesetzgeber bewusst eine sparsame Maßnahme gewählt habe, weshalb eine teurere Alternative gerade nicht gleich geeignet sei.372 Vielmehr halte das Gericht teureren Alternativmitteln entgegen, dass diese für den Gesetzgeber „ ‚unzumutbar‘ “, weil über das – bereits behandelte –373 „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ hinaus teurer seien.374 Deutlicher weise das Gericht Kostenbelastungen auf den Steuerzahler verschiebende Mittel als nicht milder zurück.375 Th. Wischmeyer sieht hierin also zwei Konstellationen, in denen finanzwirksame Alternativmittel im Kontext der Erforderlichkeit außen vor bleiben. Th. Wischmeyer untermauert, dass dieses enge Verständnis von der Erforderlichkeit konform mit dem Kriterium der Pareto-Optimalität376 sei.377 bb) Ebene der Angemessenheit Als erster und bislang einziger Autor beleuchtet Th. Wischmeyer die möglichen Implikationen finanzwirksamer Alternativen für die Angemessenheit. Er fordert explizit, innerhalb der Angemessenheitsprüfung keinen Vergleich mit Alternativmitteln vorzunehmen, also Kosten (respektive Kostendifferenz zwischen Alternativmittel und gewähltem Mittel) nicht gegen Freiheit (re­ spektive Freiheitsdifferenz der beiden Mittel) abzuwägen.378 Es gehe in der 372  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 57. 373  Siehe dazu Abschnitte C. II. 1. a), C. II. 1. c) und C. II. 1. d) aa). 374  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 58. 375  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 58. Siehe zu Belastungsverschiebungen auch Abschnitte C. II. 1. b), C. II. 1. c) und C. II. 1. d) cc). 376  Ein Zustand ist Pareto-optimal, wenn es nicht möglich ist, ihn bezogen auf die Verwirklichung eines von mehreren konkurrierenden Optimierungsgütern (hier: „Freiheit des Einzelnen“ und „Kostenersparnis durch den Staat“) zu verbessern, ohne ihn dadurch bezüglich der Verwirklichung eines anderen Optimierungsgutes zu verschlechtern. Vgl. M. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 3. Auflage, 2018, S. 257 Fn. 134 mit weiteren Nachweisen; R. Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 53; B.  Schlink, Abwägungen im Verfassungsrecht, 1976, S. 181; Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 61. 377  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 61. Zu seiner Begründung dieser These siehe S. 61–62. 378  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 62–63. Der Autor schreibt sogar (S. 63): „Selbst wenn die Regelungsalternative billiger wäre […], also Einsparungen möglich wären, würde das Gericht dies nicht prüfen.“ Hierbei erschließt sich freilich nicht, wieso bei Existenz

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

Angemessenheitsprüfung um die Zweck-Mittel-Relation bezüglich nur des untersuchten Mittels und nicht um den Vergleich verschiedener Mittel untereinander.379 Es bestehe aber die Möglichkeit für das Bundesverfassungsgericht, der Legislative oder der Exekutive „Auflagen“380 zu erteilen, um die Angemessenheit eines Gesetzes sicherzustellen.381 Gemeint sind „Pflichten zur prozeduralen und organisatorischen Absicherung von Grundrechtseingriffen“ wie etwa Richtervorbehalte für bestimmte polizeiliche oder staatsanwaltliche Eingriffe,382 „([k]ompensatorische) Leistungspflichten“ wie etwa finanzielle Ausgleichsregelungen im Denkmalschutzrecht383 oder „[v]erfassungsrecht­ eines milderen, gleich (oder besser) geeigneten und zudem kostengünstigeren Alternativmittels das gewählte Mittel überhaupt erforderlich ist. Das gewählte Mittel wäre dann nicht „Pareto-optimal“, weshalb es gar nicht bis in die Angemessenheitsprüfung gelangen dürfte. Eine Alternative zu missachten, weil sie billiger ist, könnte kaum mit dem Schutz der Haushaltsautonomie begründet werden, schließlich werden durch Kosteneinsparungen gerade gesetzgeberische Gestaltungsspielräume geschaffen. Wenn auch von einem anderen Ausgangspunkt kommend (da teurere Alternativen in der Erforderlichkeitsprüfung gerade nicht ausschließend) und ebenfalls äußernd, die Angemessenheitsprüfung verlange eine statische, nicht auf Alternativen gerichtete Abwägung, R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 67. 379  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 62. 380  Siehe Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 20, 64. 381  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 63. 382  Vgl. hierzu ausführlich Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 20–21. 383  Vgl. hierzu ausführlich Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 22–23. Auf S. 22 schreibt der Autor ebenfalls, dass derartige Kompensationspflichten aufgrund der Berührung des „parla­ mentarische[n] Budgetrecht[s]“ in Gesetzesform ergehen müssten (zumindest wenn sie dem Eigentumsschutz dienten) und bei ihnen eine gedankliche Nähe zum Staatshaftungsrecht bestehe. Der Autor erklärt derartige Leistungspflichten indes auch außerhalb des Eigentumsschutzes für notwendig (S. 22–23). Nur bleibt es etwas im Unklaren, ob stets eine gesetzliche Grundlage erforderlich sein solle. Jedenfalls solange und soweit ein Betroffener selbst entschädigt werden soll, kann die angesprochene Nähe zum Staatshaftungsrecht bejaht werden. Das Recht der staatlichen Einstandspflichten beweist, dass Kompensationsansprüche, abgesehen von den von Th. Wischmeyer angesprochenen ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmungen – in finanzwirksamer Weise – von Gerichten weitgehend ohne eine gesetzliche Grundlage (es sei denn, man sähe §. 74. und §. 75. EinlPrALR als geltendes Gesetzesrecht an) zugesprochen werden (rechtstheoretisch könnte man vertreten, dass die von Th. Wischmeyer propagierten Härtefallregelungen außerhalb von ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmungen bereits jetzt zu jeder Ermächtigungsgrundlage als ungeschriebene Härtefallregelung hinzugedacht werden können). Das



II. Die Ansätze im Einzelnen99

liche Maßstäbe für den Verwaltungsvollzug“, also das Definieren von punktuellen Mindestanforderungen dadurch, dass die Ermächtigungsgrundlage für das Verwaltungshandeln nicht verworfen, sondern eine vom Gericht gewählte (dann also noch verfassungskonforme) Auslegung vorgegeben werde, an die die Verwaltung dann gebunden sei.384 Auch diese Auflagen kosten den Staat in der Regel Geld, es soll also nicht durchweg das Ziel des Sparens über den Grundrechtsschutz gestellt werden. Dennoch führt das Vorliegen milderer, aber finanzwirksamer Alternativen nicht zur Verwerfung des gewählten Mittels aufgrund Unangemessenheit. Denn anders, als wenn diese Alternativen im Rahmen der Angemessenheit berücksichtigt würden, kann als mögliches Urteil des Verfassungsgerichts – genau wie dies plastisch für Auflagen im Verwaltungsrecht beschrieben wird – bloß ein „Ja, aber …“ und niemals ein „Nein, denn …“ ergehen.385 b) Definitionen Die Erforderlichkeit kann hiernach wie folgt definiert werden: Erforderlich ist ein Mittel, wenn es kein milderes, (mindestens)386 gleich geeignetes, für den Staat nicht kostenintensiveres Mittel gibt. Die Angemessenheit bestimmt sich nach der gängigen Definition,387 wird aber um die Möglichkeit für das Bundesverfassungsgericht erweitert, finanzwirksame Auflagen zu erteilen. kann teilweise aus Gründen der Gewaltenteilung kritisiert werden (siehe dazu W. Höfling, Vom überkommenen Staatshaftungsrecht zum Recht der staatlichen Einstandspflichten, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle [Hrsg.], Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band III. Personal. Finanzen. Kontrolle. Sanktionen. Staatliche Einstandspflichten, 2. Auflage, 2013, § 51 Rn. 108–115 [wobei die Untätigkeit des Gesetzgebers als „ ‚Kompetenztitel‘ für die Judikative“ fungieren könnte, Rn. 109]). Das „parlamentarische Budgetrecht“ wird indes von jeder finanzwirksamen Leistungspflicht berührt, weshalb Th. Wischmeyer eine umfassende Kodifikation des Rechtes staatlicher Einstandspflichten fordern und die ungeschriebene Leistungsansprüche zubilligende Rechtsprechung ausdrücklich kritisieren müsste. 384  Vgl. hierzu ausführlich Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 24–25, der anführt, hierdurch werde zugleich ein Schutzniveau definiert, wohinter dann auch der Sach- und Haushaltsgesetzgeber nur noch schwer zurückfallen könne. 385  Vollständig etwa: „Nein, denn es gibt eine mildere Alternative, die zwar teurer ist, aber dennoch die Angemessenheit des gewählten Mittels entfallen lässt.“ Zu Gründen, aus denen das Vorhandensein von teureren, freiheitseffizienteren Alternativmitteln die Angemessenheit des gewählten Mittels entfallen lassen kann, siehe Abschnitt D. 386  Siehe Fn. 159. 387  Siehe Fn. 5 a. E.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

c) Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung aa) Legitimer Zweck, Geeignetheit Die Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion dient einem legitimen Zweck und ist geeignet.388 bb) Erforderlichkeit Sie müsste auch erforderlich sein. Erforderlich ist ein Mittel, wenn es kein milderes, gleich geeignetes, für den Staat nicht kostenintensiveres Mittel gibt. Ein milderes Mittel könnte in der Durchführung der Liquorentnahme mittels Okzipitalpunktion liegen. Da dieses Alternativmittel in jeder (Beispiel-)Konstellation Mehrkosten verursacht,389 ist es nach der hier gefundenen Definition aber unbeachtlich; das gewählte Mittel mithin erforderlich. cc) Angemessenheit, Ergebnis Eine Maßnahme ist darüber hinaus angemessen, wenn der erforderliche Freiheitseingriff (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Fall 2 GG) nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck (Strafrechtspflege) steht; weder teurere noch billigere Alter­nativmittel390 werden vergleichend herangezogen. Es gilt insofern das oben Gesagte.391 Befindet man (wie das Bundesverfassungsgericht in der historischen Liquor­entnahme-Entscheidung)392 auf eine Unangemessenheit, kommen die genannten Auflagen393 in Betracht. Die Anordnung einer Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion wird gemäß § 81a Abs. 2 StPO (im Regelfall) von Richtern angeordnet. Die urbildliche „prozedurale Absicherung“ besteht ­damit. Mögliche „kompensatorische Leistung“ – als Vorbilder mögen monetäre Entschädigungen für Eigentumseingriffe wie in der Pflichtexemplar-394 388  Siehe

Abschnitt C. II. 1. a) bb). Tabelle 1 in Abschnitt C. II. 1. a) bb) (3). 390  Falls ein milderes, (mindestens) gleich geeignetes und billigeres Alternativmittel existiert, müsste das gewählte Mittel eigentlich schon an der Erforderlichkeit scheitern (siehe aber Fn. 378). 391  Siehe Abschnitt C. II. 1. a) bb) (4). 392  Siehe dazu Fn. 147. 393  Siehe Abschnitt C. II. 4. a) bb). 394  BVerfG, Beschl. v. 14.7.1981, 1 BvL 24/78, BVerfGE 58, 137 (149–152) – Pflichtexemplar. 389  Vgl.



II. Die Ansätze im Einzelnen101

und Denkmalschutz-Entscheidung395 dienen (ausgleichspflichtige Inhaltsund Schrankenbestimmungen)396 – ist die Gewähr von Schadensersatz nebst Schmerzensgeld in den Fällen, in denen Nebenwirkungen397 auftreten. Dabei dürfe sich der Gesetzgeber, so Th. Wischmeyer, nicht von seiner Grundrechtsbindung freikaufen,398 sondern müsse grundsätzlich die grundrechtlich verbürgte Freiheit wahren.399 Die Entscheidung, ob die potentielle Gewährung von Schadensersatz eine Unangemessenheit verhindere, ohne dass sich der Staat von seiner Grundrechtsbindung freikaufe, ist eine Wertungsentscheidung.400 Man muss sich bevor man diese Entscheidung fällt vor Augen führen, dass man, hielte man einen Schadensersatz für eine taugliche Kompensation, einen ansonsten rechtswidrigen Eingriff durch eine Geldzahlung rechtfertigte. Üblicherweise dienen Schadensersatz und Schmerzensgeld aber gerade der Kompensation eines rechtswidrigen Eingriffes. Ein Anspruch aufgrund einer Aufopferung im engeren Sinne setzt demgegenüber rechtmäßiges hoheitliches Verhalten voraus. Weiterhin ist fraglich, ob die Figur der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung, die für die Eigentumsgarantie als vornehmliches Wirtschaftsgrundrecht entwickelt wurde, auf 395  BVerfG, Beschl. v. 2.3.1999, 1 BvL 7/91, BVerfGE 100, 226 (244–245) – Denkmalschutz. 396  Gegen die Figur der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmungen bestehen grundsätzliche (systematische) Bedenken, da Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG anders als Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG nun einmal keine Entschädigungen für Inhalts- und Schrankenbestimmungen vorsieht (siehe J. Wieland in: Horst Dreier [Hrsg.], Grundgesetz. Kommentar, Band II, 3. Auflage, 2013, Art. 14 Rn. 154). Teilt man diese Bedenken, wird man wohl keine Ausweitung des zugrundeliegenden Gedankens über das Verhältnismäßigkeitsprinzip unterstützen können. 397  Man könnte wohl genauso gut vertreten, dass nicht jedes Auftreten von Nebenwirkungen einen zu entschädigenden Härtefall darstelle, sondern nur gesetzt den Fall, der Geschädigte leide besonders unter den Nebenwirkungen, etwa ob einer Vorschädigung, oder wenn besondere Nebenwirkungen aufträten, beispielsweise eine Lähmung aufgrund einer Nervenpunktion. Falls man die (Wertungs-)Entscheidung träfe, schon jedes Auftreten von Nebenwirkungen bedürfe zur Wahrung der Angemessenheit einer Entschädigung, liegt es nahe anzunehmen, der Gesetzgeber wahre nicht grundsätzlich die grundrechtlich gewährte Freiheit, da Nebenwirkungen bei zehnprozentiger Wahrscheinlichkeit (wohl) keine „besonderen Härtefälle“ (BVerfG, Beschl. v. 2.3.1999, 1 BvL 7/91, BVerfGE 100, 226 [245] – Denkmalschutz) mehr wären. 398  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 22. 399  Im Duktus von BVerfG, Beschl. v. 2.3.1999, 1 BvL 7/91, BVerfGE 100, 226 (244) – Denkmalschutz: „Normen, die Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmen, müssen grundsätzlich auch ohne Ausgleichsregelungen die Substanz des Eigentums wahren“. 400  Auch Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 65, sieht seinen Weg nicht als „abwägungsfrei“ an.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit übertragbar ist.401 Auch für das Setzen von „verfassungsrechtlichen Maßstäben für den Verwaltungsvollzug“ verbleibt bei der beispielhaft angeführten gesetzlichen Regelung kaum Raum. Möglich wäre etwa gewesen, eine generelle Vorschrift, die vorschreibt, die Schuld- und Steuerungsfähigkeit mittels einer Liquorentnahme (ohne weitere Details) zu ermitteln, dahingehend auszulegen, dass zum Schutz der Grundrechte der Betroffenen etwa genügend Mittel oder Personal für die Durchführung der teureren Okzipitalpunktion bereitzustellen seien und nicht die Lumbalpunktion zu verwenden sei. Für eine solche Auslegung bleibt jedoch kein Raum, da die Lumbalpunktion im Gesetz (dem fiktiven § 81a Abs. 1a StPO) fest vorgeschrieben ist.402 Abhängig davon, ob man die „Zweck-Mittel-Relation“ für unangemessen hält und, falls ja, eine Kompensation zur Rechtfertigung zulässt oder nicht, ist die Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion angemessen oder nicht.

401  Die Zulässigkeit eines finanziellen Ausgleichs einer Inhalts- und Schrankenbestimmung setzt im Übrigen voraus, dass der Eingriff nicht auf anderem Wege abgemildert werden kann, keine reale Bestandssicherung möglich ist (hierzu eingehend H.-G. Dederer, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter [Hrsg], Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der Bearbeitung: 188. Aktualisierung, Dezember 2017, Art. 14 Rn. 909–917). Falls freiheitseffizientere Alternativen existieren, bestünde die Möglichkeit einer „Bestandssicherung“, was gegen eine Übertragbarkeit sprechen kann. Laut Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 22–24, unter abermaligem Rekurs auf die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung, können derartige Leistungspflichten außerhalb der Eigentumsfreiheit notwendig sein, so zum Beispiel bei einer anderweitigen Verletzung von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. 402  Verfassungskonforme Auslegungen treiben zwar häufig bedenkliche Blüten (lies: es grassiert die Unart der Contra-legem-Auslegung). Man denke nur an die versammlungsrechtliche Anmeldepflicht aus § 14 Abs. 1 VersG (und die korrespondierende Ermächtigung gemäß § 15 Abs. 3 VersG, nicht angemeldete Versammlungen aufzulösen), die bei verfassungskonformer Auslegung dem Gesetzesvorbehalt aus Art. 8 Abs. 2 GG gerecht werden soll (zur Kritik daran mit Nachweisen W. Höfling, in: Michael Sachs [Hrsg.], Grundgesetz. Kommentar, 8. Auflage, 2018, Art. 8 Rn. 63– 64, und A. Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte. Kritische Bestandsaufnahme und Versuch einer Neubestimmung, AöR 125 [2000], S. 177 [186]; J.-P. Schneider in: Volker Epping/Christian Hillgruber [Hrsg.], BeckOK Grundgesetz, 41. Edition Stand 15.5.2019, Art. 8 Rn. 43– 44, lehnt eine verfassungskonforme Auslegung für Spontan- und Eil­demonstrationen ab). Doch kann nicht in Abrede gestellt werden, dass es Fälle gebe, in denen auch eine derart ungenierte verfassungskonforme „Auslegung“ ausscheide. Es sei unterstellt, dass der fiktive § 81a Abs. 1a StPO ein solcher Fall sei.



II. Die Ansätze im Einzelnen103

d) Kritik aa) Vorteile (1) Rationalität der Erforderlichkeitsprüfung Als großer Vorteil, insofern ist Th. Wischmeyer beizupflichten,403 gegenüber allen Methoden, die im Rahmen der Erforderlichkeit abwägungsoffen sind (darunter ist diejenige, die auf das „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ abhebt, nur die verbreitetste), erweist sich, dass durch den Verzicht auf jedwede Abwägung404 eine Stärke der Erforderlichkeitsprüfung nicht aufgegeben wird: ihre Klarheit und dadurch Fähigkeit, konsensfähige Ergebnisse zu erzielen. Durch den Verzicht auf eine freie Abwägung wird „die Vorhersehbarkeit und die Rationalität“ der Verhältnismäßigkeitsprüfung beibehalten.405 Etwas abstrakter formuliert, spricht für einen Verzicht einer „Erforderlichkeitsabwägung“, dass anderenfalls ein und dieselbe Wertung – kann ein Grundrechtsverpflichteter auf ein teureres Mittel verwiesen werden? – zweimal oder aufgespalten getroffen zu werden droht. Dieser Umstand allein zeugt davon, dass dahingehende – nicht vom Normgeber vorgezeichnete – Dogmatiken entweder nicht „ontologisch sparsam“ oder unnötig kompliziert modelliert sind.406 (2) Berücksichtigung der Haushaltsautonomie Der Ansatz erkennt überdies, dass es eines widerstreitenden Verfassungsgutes bedarf, um freiheitsschonenderen Alternativmaßnahmen eine Absage zu erteilen, und benennt weitgehend plausibel als gewichtiges „Gegeninteresse“ die gesetzgeberische Haushaltsautonomie. Dabei wird beschrieben, dass Haushaltsbelange keine absolute Priorität genießen können, weshalb ein Mittelweg zwischen Grundrechtseffektivität und Haushaltsautonomie zu strukturieren versucht wird.407 Dieser Vorteil mag trivial wirken. In Wirklich403  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 60. 404  Vernachlässigbar sind – falls der Autor sich dies überhaupt zu Eigen machen will – Ausnahmen „bei ganz unerheblichen Mehrkosten“, Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 58 a. E. 405  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 65 a. E. Siehe auch Abschnitt C. II. 2. c) bb) (4). 406  S. Kempny/Ph.  Reimer, Die Gleichheitssätze. Versuch einer übergreifenden dogmatischen Beschreibung ihres Tatbestands und ihrer Rechtsfolgen, 2012, S. 43– 44, üben Kritik am Auftrennen von wertenden Elementen eines Tatbestandes. 407  Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 39.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

keit ist der Umstand, dass überhaupt ein Gegeninteresse benannt wird, von unschätzbarem Wert dafür, die Dogmatik zu rationalisieren, eine Grundlage für Diskussionen zu schaffen und gerichtliche Entscheidungen damit akzeptanzfähiger zu machen. bb) Nachteile (1) Rechtsprechung als Maßstab und Quelle Auffällig bei Th. Wischmeyer ist, dass er sich stark an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts orientiert. Er analysiert und gruppiert Judikate und entwickelt dadurch sein Modell einer gebotenen finanzwirksamen Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts. So wirken verfassungsgerichtliche Entscheidungen letztlich maßstabsbildend. Die Frage lautet dann: Würde eine Rechtsprechungsänderung oder -erweiterung das Modell ändern? Falls ja, geht von dem Modell kaum eine Orientierungswirkung aus. Keine Entscheidung wäre je zu kritisieren,408 der Rechtsanwender wäre dem Bundesverfassungsgericht ausgeliefert. Falls nein, aus welchem Grunde sollte das Gericht nicht von seiner Rechtsprechung abweichen können? Es tut also Not, eine eigenständige Auslegung der Verfassung anzubieten. Anders als Th. Wischmeyers Ansatz erteilte das Bundesverfassungsgericht bislang darüber hinaus keine allgemeine Absage an teurere Alternativmittel, sondern unterzog diese zunächst einer – wenn auch verdeckten – abwägenden Begutachtung.409 Es handelt sich also bei Th. Wischmeyers Ansatz um keinen, der sich in dieser Schärfe auf die Rechtsprechung stützen kann. (2) „Ersatzgesetzgeber“410 Eine gewisse Gerichtshörigkeit lässt sich auch daran erkennen, dass nicht hinterfragt wird, ob das Gericht Auflagen überhaupt erteilen dürfe. Gestützt werden kann die Auflagenerteilung durch das Bundesverfassungsgericht allenfalls auf § 35 BVerfGG. Je nachdem, als wie weitgehend man die Kompe408  Zu einem ähnlichen Vorwurf, der Prinzipientheoretikern alexyscher Prägung (wie L. Clérico [siehe Abschnitt B. I.]) gemacht werden kann, R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte – Reflexive Regelung rechtlich geordneter Freiheit, 2003, S. 76. Damit soll nicht gesagt werden, dass Th. Wischmeyer der Prinzipientheorie Gefolgschaft leiste. 409  Siehe Abschnitt C. II. 1. a). 410  Zur Kritik an Detailanweisungen durch das Bundesverfassungsgericht an die Politik Fn. 108 und H.-P. Schneider, Acht an der Macht! Das BVerfG als „Reparaturbetrieb“ des Parlamentarismus?, NJW 1999, S. 1303 (1304–1305).



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tenzen des Gerichts grundsätzlich beurteilt, wird man Auflagen zulassen oder nicht.411 Mit den Worten des 2020 scheidenden Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, die er vor seinem Amtsantritt412 niederschrieb: „Sein [des Bundesverfassungsgerichts] Verfassungsauftrag ermächtigt es lediglich dazu, Gesetze für verfassungswidrig bzw. nichtig zu erklären, nicht dagegen, selbst Recht zu setzen; nur aufgrund dieser Restriktion läßt sich die Bindung aller Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie aller Gerichte und Behörden (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) und die Gesetzeskraft seiner Entscheidungen (§ 31 Abs. 2 BVerfGG) im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung rechtfertigen und ‚ertragen‘.“413 Durch das Erteilen von Auflagen wird darüber hinaus zuweilen vorgeschrieben, ein Sachgesetz inhaltlich in einer bestimmten Weise zu verändern. Hierdurch wird der Spielraum des Sachgesetzgebers verengt. Es ist nicht recht einzusehen, warum die Haushaltsautonomie, also ein Spielraum des Haushaltsgesetzgebers, zulasten des Sachgesetzgebers geschützt werden sollte.414

411  Ablehnend stehen Regelungsanordnungen Ch.  Burkiczak, in: Christian Burkiczak/Franz-Wilhelm Dollinger/Frank Schorkopf (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2015, § 35 Rn. 54–59 (unter Erörterung der befürwortenden Ansicht); H. Sauer, in: Christian Walter/Benedikt Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, 7. Edition, Stand 1.6.2019, § 35 Rn. 37, gegenüber. H. Lechner/R. Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Kommentar, 8. Auflage, 2019, § 35 Rn. 13, halten Übergangsregelungen für die „kritischste Fallgruppe“. Anderer Ansicht aber Ch. Burmeister, in: Tristan Barczak (Hrsg.), BVerfGG. Mitarbeiterkommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2018, § 35 Rn. 11–13, der Übergangsregelungen für hinnehmbar erklärt, sofern sie im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips erforderlich seien. Selbst wenn dies zuträfe, könnten hiermit jedoch keine Bedenken hinsichtlich der Kompetenz beseitigt werden. Derartige Anordnungen sollen laut Ch. Lenz/R. Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Handkommentar, 2. Auflage, 2015, § 35 Rn. 18, zulässig sein, sofern sie „unumgänglich“ sind. Der „verfassungsprozessualen Durchsetzung von legislativen Nachbesserungspflichten“ keine Bedenken hinsichtlich der Gewaltenteilung entgegenbringend H. Bethge, in: Maunz, Theodor (Begr.)/Schmidt-Bleibtreu, Bruno u. a. (Fortf.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Kommentar, Stand der Bearbeitung: 57. Ergänzungslieferung, Juni 2019, § 35 Rn. 29a. 412  Andreas Voßkuhle wurde im Mai 2008 zum Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts und zum Vorsitzenden des Zweiten Senats ernannt, im März 2010 zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts (siehe zu seiner Präsidentschaft am Bundesverfassungsgericht https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Presse mitteilungen/DE/2020/bvg20-051.html [zuletzt abgerufen am 24.6.2020]). 413  A. Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte. Kritische Bestandsaufnahme und Versuch einer Neubestimmung, AöR 125 (2000), S. 177 (198). 414  Siehe zur Kritik an durch das Bundesverfassungsgericht vorgegebene „Detailregelungen“ Fn. 108.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

In jedem Falle laden im wahrsten Sinne kreative Instrumente dazu ein, eigentlich nicht unangemessene Gesetze zu verändern. Es muss folglich verlangt werden, die Zweck-Mittel-Relation offenzulegen und nur dann Auflagen zu erteilen, wenn diese ergibt, dass ein Mittel eindeutig unangemessen ist. Weiterhin bleibt ungeklärt, ab wann die „Verwerfungsgrenze“ überschritten ist. (3) Fachgerichtlicher Umgang Th. Wischmeyer stellt für Fachgerichte explizit keine Maßgabe für die Verhältnismäßigkeitsprüfung auf. Von den drei Instrumentarien (prozedurale und organisatorische Absicherung;415 [kompensatorische] Leistungspflich­ ten;416 verfassungskonforme Auslegungen417) kommt für Fachgerichte nur das letztgenannte in Betracht, anderenfalls würden ihnen zu große Kompetenzen eingeräumt. Dennoch haben insbesondere Verwaltungsgerichte regelmäßig zu prüfen, ob eine wirksame Ermächtigungsgrundlage für eine Grundrechtsberechtigte belastende Maßnahme existiere.418 Im Rahmen dessen stellt sich zuweilen die Frage, ob diese Ermächtigungsgrundlage verhältnismäßig 415  Hiermit sind Abfederungen von Grundrechtseingriffen durch die Ausgestaltung von Verfahren und Organisation gemeint, Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 20. 416  „Wo Organisations- und Verfahrensregelungen zur Sicherung des Eingriffsvorgangs allein keine hinreichende Abmilderung versprechen, wird der Gesetzgeber zusätzlich oder alternativ dazu verpflichtet, dem Grundrechtsberechtigten bestimmte sonstige Leistungen zu erbringen, um Nachteile in Härtefällen auszugleichen“ (Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 22). 417  Bei dieser Fallgruppe treten lediglich weitere „Verpflichtungsadressaten“ hinzu (Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 24–25). 418  Unstrittig ist, dass es (von wenigen Ausnahmen abgesehen, siehe zum Beispiel die beiden erstgenannten Schutzgüter des Art. 13 Abs. 7 GG im Vergleich zu den nachfolgenden) eines Parlamentsgesetzes bedarf, um in Grundrechte einzugreifen. Das wird teilweise aus dem sogenannten Vorbehalt des Gesetzes hergeleitet. Der Vorrang des Gesetzes nach Art. 20 Abs. 3 GG besagt indes unter anderem, dass die Staatsgewalten die Verfassung beachten müssen. Wenn also der Verfassung ein Prinzip entnommen werden kann, dass belastende Maßnahmen auf eine gesetzliche Grundlage gestützt werden müssen (Verfassungsvorschriften, die ein solches Prinzip enthalten, sind entweder Art. 2 Abs. 1 GG in der Elfes-Lesart [BVerfG, Urt. v. 16.1.1957, 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32 – Elfes] oder gewisse Staatsprinzipien [Rechtsstaatsprinzip, Demokratieprinzip, Gewaltenteilungsprinzip]), kann man die Erforderlichkeit einer Ermächtigungsgrundlage auch nach Maßgaben des Vorrangs des Gesetzes beurteilen, gehören doch Verfassungsbestimmungen genauso zum „Recht“, das es gemäß Art. 20 Abs. 3 GG zu beachten gilt (siehe dazu, dass die Bindung der vollziehenden Gewalt an „Recht“ eine Bindung an das Grundgesetz einschließt, statt vieler B. Grzeszick, in: Theodor Maunz/Günter Dürig (Begr.), Grundgesetz. Kommentar, Stand der Bearbeitung: 51. Ergänzungslieferung, Dezember 2007, Art. 20 VI Rn. 65).



II. Die Ansätze im Einzelnen107

sei (schließlich ist es nach dem sogenannten Nichtigkeitsdogma Voraussetzung der Wirksamkeit eines Gesetzes, dass dieses verfassungsgemäß ist). Wie hat ein Fachgericht nun die Verhältnismäßigkeit zu beurteilen? Im Rahmen der Erforderlichkeit müsste es nach dieser Ansicht finanzwirksame ­Alternativen unberücksichtigt lassen. Insoweit bestehen keine Bedenken. Es hätte dann zu beurteilen, ob eine angemessene Zweck-Mittel-Relation bestehe. Dabei sind mildere, aber teurere Alternativmittel ebenfalls außen vor zu lassen; ansonsten wird diese Abwägung von diesem Ansatz nicht modifiziert. Dafür könnte ein Fachgericht im Ausgangspunkt verfassungsrechtliche Maßstäbe für das Verwaltungshandeln definieren, verfassungskonform auslegen. Hiergegen bestehen grundsätzliche Bedenken, die an dieser Stelle nicht vertieft werden sollen. Nur so viel: dabei handelt es sich um „teilweise[…] Nichtigerklärung[en] ohne Normtextreduzierung“419, was kompetenzielle420 Spannungen aufwirft, „Akzeptanzdefizite“421 zeitigen kann und einer Diszi­ plinierung des Gesetzgebers422 entgegenwirkt. (4) Schonung gesetzgeberischer (Haushalts-)Spielräume? Ein wichtiges und unterstützenswertes Anliegen dieses Ansatzes ist es, gesetzgeberische Gestaltungsspielräume sowie die Haushaltsautonomie zu wahren.423 Allein, es ist fraglich, ob dies mit dem aufgezeigten Weg am besten gewährleistet ist. Schon Verfassungswidrigerklärungen wurde dieser Vorteil gegenüber Nichtigkeitserklärungen zugesprochen, was mit gewichtigen Argumenten bezweifelt424 werden kann. Jedenfalls für die Auflagenerteilung muss das infrage gestellt werden, wird dem Gesetzgeber mit ihnen doch ein konkreter Weg vorgegeben. 419  A. Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte. Kritische Bestandsaufnahme und Versuch einer Neubestimmung, AöR 125 (2000), S. 177 (181–182). 420  A. Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte. Kritische Bestandsaufnahme und Versuch einer Neubestimmung, AöR 125 (2000), S. 177 (185–187). 421  A. Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte. Kritische Bestandsaufnahme und Versuch einer Neubestimmung, AöR 125 (2000), S. 177 (188–189). 422  A. Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte. Kritische Bestandsaufnahme und Versuch einer Neubestimmung, AöR 125 (2000), S. 177 (189–190). 423  Siehe beispielsweise Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 6, 19, 29, 54, 64. 424  Gegen die These, dass eine Verfassungswidrigerklärung die Haushaltsauto­ nomie stets stärker schone als eine Nichtigerklärung, mit überzeugenden Gründen­ J.  Ipsen, Nichtigerklärung oder „Verfassungswidrigerklärung“ – Zum Dilemma der verfassungsgerichtlichen Normenkontrollpraxis, JZ 1983, S. 41 (44).

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

Anders als bei einer Verwerfung – wodurch dem Gesetzgeber nur „prozessuale“ Kosten, etwa für den Erlass eines neuen Gesetzes, so er denn ein solches schaffen will – entstehen, zwingt eine Auflage zur Modifikation geltenden Rechts, das gemäß Art. 20 Abs. 3 GG alle staatliche Gewalt bindet. Die unter anderem an das modifizierte Gesetz gebundene Exekutive muss dieses so lange befolgen – wodurch erheblich höhere „materielle“ Kosten entstehen können –, bis der Gesetzgeber das modifizierte Gesetz abschafft und gegebenenfalls durch ein neues ersetzt. Hierdurch wird der Gesetzgeber unter Zugzwang gesetzt und sieht sich unter Umständen einem (viel) größeren Eingriff in seine haushälterische Planung ausgesetzt, als dies bei einer bloßen Kassation des Gesetzes der Fall wäre.425 (5) J e nach Konstellation unzureichender Grundrechtsschutz durch Rechtsstillstand? Zu Problemen könnte das Modell (welches die Haushaltsautonomie nicht durchweg über effektiven Grundrechtsschutz stellen möchte)426 führen, wenn gesetzlich Maßnahmen vorgesehen sind, die technischem Wandel unterliegen. Angenommen, der fiktive § 81a Abs. 1 S. 1, S. 2 Var. 2, Abs. 1a StPO sei in den 1950er Jahren verabschiedet worden, um durch das Vorschreiben der Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion zu verhindern, dass die zuständigen Stellen eine damals noch gängige, eingriffsintensivere Untersuchungsmethode anordneten. Seinerzeit wurde das Gesetz aus diesem Grund für verhältnismäßig befunden. Heute stehe mit der Okzipitalpunktion allerdings eine noch mildere (jedoch teurere) Untersuchungsmethode zur Verfügung. Solange diese („erheblich“)427 teurer bleibt, beeinflusst sie Th. Wischmeyer zufolge weder die Erforderlichkeit noch die Angemessenheit der Lumbalpunktion als explizit vorgeschriebener Methode. Ein mit der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des § 81a Abs. 1 S. 1, S. 2 Var. 2, Abs. 1a StPO befasster Bundesverfassungsrichter müsste die Kenntnis von der Möglichkeit einer Liquorentnahme mittels Okzipitalpunktion auf der Ebene der Angemessenheit aus seinem Bewusstsein verbannen, auch wenn sie ihn die Erforderlichkeit des ge-

425  Bloß weil bestimmte Posten nicht im Haushaltsplan aufgeführt sind, entbindet dies den Staat nicht von seinen (gesetzlich) normierten Pflichten (siehe nur H. Siekmann, in: Michael Sachs [Hrsg.], Grundgesetz. Kommentar, 8. Auflage, 2018, Art. 110 Rn. 25). 426  Siehe schon bei und mit Fn. 70. 427  Nicht ausgeschlossen seien Mittel mit „ganz unerheblichen Mehrkosten“ (siehe bei Fn. 367).



II. Die Ansätze im Einzelnen109

wählten Mittels in Zweifel ziehen ließe.428 Ob dies psychologisch möglich ist, darf bezweifelt werden. Jedenfalls könnte ein Ausblenden der Alternative einen mit der Haushaltsautonomie gerechtfertigten „Rechtsstillstand“ hervorrufen.429 Plakativ gesprochen, müsste ein vor Jahrzehnten aufgrund des damaligen Technikstandes für verhältnismäßig befundenes Mittel so lange aufrechterhalten werden, bis zur Verfügung stehende Alternativen nicht mehr teurer wären.430 Man könnte daran denken, Gerichte eine Auflage erteilen zu lassen, die Okzipitalpunktion als mögliche körperliche Untersuchung in die Ermächtigungsgrundlage gesetzgeberisch aufzunehmen (oder ihnen eine verfassungskonforme Auslegung zu zubilligen, wonach „Lumbalpunktion“ auch „Okzipitalpunktion“ heißen könnte)431. Allein, dafür müsste das Gesetz in der derzeitigen Fassung unverhältnismäßig (unangemessen) sein. Doch wie kann man zu diesem Urteil gelangen, wenn die Alternative nicht betrachtet wird? Die Maßnahme wurde in der Vergangenheit für verhältnismäßig gehalten, und an dem Verhältnis von Zweckerreichung (Strafrechtspflege) und 428  Eng verwandt ist die Frage, ob kaum unwirksamere Alternativmittel dem gewählten vorzuziehen seien, vorausgesetzt, sie seien deutlich milder. Dafür spricht sich explizit M. Sachs, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 8. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 153, aus, allerdings auf Ebene der Erforderlichkeit. Es scheint vorzugswürdig, den Wirksamkeitsgrad bei der Prüfung der Erforderlichkeit unangetastet zu lassen (oder zumindest unwirksamere Alternativen zu verwerfen [M. Sachs plädiert über das eben Geschriebene hinausgehend dafür, deutlich wirksameren Mittel bei gleicher Grundrechtsintensität den Vorrang einzuräumen, was unproblematischer ist]). Gleichwohl könnte eine Alternative mit deutlich „besserem“ (Freiheits-)Effizienzgrad im Rahmen der Angemessenheit für die Argumentation fruchtbar gemacht werden, dass die Grundrechtseinschränkung durch das gewählte Mittel nicht zumutbar sei, wenn doch, wertend betrachtet, (annähernd) das Gleiche durch einen deutlich milderen Eingriff oder durch dieselbe Freiheitseinbuße deutlich mehr erreicht werden könnte. Dafür müsste man sich von dem Dogma verabschieden, dass die Angemessenheit einen Alternativenvergleich verbiete (statt vieler Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 62–63). Ebenso in M. Sachs, Verfassungsrecht II. Grundrechte, 3. Auflage, 2017, V., Rn. 41 a. E. 429  Zu fiskalisch begründetem Rechtsstillstand schon J.  Ipsen, Nichtigerklärung oder „Verfassungswidrigerklärung“ – Zum Dilemma der verfassungsgerichtlichen Normenkontrollpraxis, JZ 1983, S. 41 (44). 430  Der Gesetzgeber kann selbstredend jederzeit (von sich aus) tätig werden. Es gilt allerdings auszuloten, wann eine bereits geschaffene oder aufrechterhaltene Rechtslage unverhältnismäßig ist (was einen Gesetzgeber gewissermaßen zum Tätigwerden zwänge, sofern er im Falle eines Verwerfens der Ermächtigung eine andere Ermächtigung zur Vornahme von ähnlichen Einzelmaßnahmen für opportun hielte; wenn es keiner Ermächtigung bedarf, sondern der Eingriff bereits unmittelbar durch das Gesetz erfolgt, gilt entsprechendes). 431  Wenn man es für methodisch möglich und sinnvoll erachtet, „hat [eine Versammlung] anzumelden“ dahingehend „verfassungskonform auszulegen“, dass man „eine Versammlung nicht (immer) anzumelden hat“ (siehe Fn. 402), könnte man wohl auch die im Text vorgeschlagene „Auslegung“ vertreten.

110

C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

Grundrechtsintensität (Eingriff in die körperliche Unversehrtheit) hat sich nichts geändert. Oder muss letzteres nunmehr anders beurteilt werden? Wohnt der Zumutbarkeit eines Grundrechteingriffs ein gewisses relatives Moment inne, anders gewendet, kann ein Mittel nicht auch gerade deshalb ungemessen werden, weil fortschrittlichere Alternativen entwickelt werden? Überkommenermaßen müsste wohl gesagt werden, dass jede Zweck-MittelRelation unabhängig von alternativen Mitteln beurteilt werden müsse. Doch wirbt Th. Wischmeyer überdies für die richterlichen Auflagen. Die Auflagen­ erteilung setzt indes denklogisch einen Alternativenvergleich voraus. Bevor die Auflage erteilt wird, muss das Gericht zwingend die Alternative „jetzige Regelung plus Auflage“ in Betracht gezogen haben – und für angemessener erachten.432 Was spricht dagegen, dies schon bei der Bewertung des derzeitigen Zweck-Mittel-Verhältnisses nicht zu ignorieren? (6) Entscheidende Wertungsentscheidung des Gesetzgebers unhinterfragt Th. Wischmeyer trifft mit seinem Modell der Verhältnismäßigkeitsprüfung an sich, besonders der Zweck-Mittel-Relation, eine Präferenzentscheidung im Rahmen eines Zielkonfliktes. Die Angemessenheit wird losgelöst von der Frage beurteilt, ob Geld aufgewendet werden müsste, um Grundrechte zu schonen. Bevor eine Auflage für geboten gehalten werden kann, müsste das gewählte Mittel für unangemessen erklärt werden. Dabei wird jedoch ein entscheidender Belastungsgrund nicht hinterfragt; zur Ergänzung soll später ein Vorschlag erfolgen.433

III. Zusammenfassung Einigkeit besteht, soweit ersichtlich, dahingehend, dass die Kosten einer Maßnahme und ihrer potentiellen Alternativen eine Rolle in der Verhältnismäßigkeitsprüfung spielen. Hinsichtlich des „Wie“ der Berücksichtigung dieser Kosten werden verschiedene Ansätze vorgebracht:

432  Es ließe sich allenfalls behaupten, ein Gericht komme unbefangen zu dem Zwischenergebnis, dass eine Zweck-Mittel-Relation unangemessen sei, und überlege erst im Anschluss, wann diese angemessen sei. Nur ist nicht genau das ein Alternativenvergleich (gedanklich schließt sich jedenfalls an die Bewertung des ersten ZweckMittel-Verhältnisses die Überlegung an: „Wie könnte man es alternativ angemessener gestalten?“) beziehungsweise eine Alternativensetzung? 433  Siehe dazu Abschnitt D.



IV. Raum für Weiterentwicklung111

• Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und weiten Teilen der Kommentarliteratur muss auf Erforderlichkeitsebene unterschieden werden:434 – Keine Alternativen sind solche Mittel, die eine Belastung schlicht auf Dritte oder die Allgemeinheit verschieben würden.435 – Ansonsten dürfen die Mehrkosten für Alternativmittel nicht das „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ übersteigen. Hinsichtlich der Angemessenheitsebene ergeben sich hiernach keine Besonderheiten.436 • Nach R.  Dechsling ist in der Erforderlichkeitsprüfung abzuwägen, ob durch die gesparten Kosten einer Maßnahme diejenigen, die wegen der Einsparung nun härter betroffen sind, potentiell entschädigt werden können. Hinsichtlich der Angemessenheitsebene ergeben sich hiernach keine Besonderheiten.437 • A. v. Arnauld schlägt vor, innerhalb der Erforderlichkeitsprüfung inzident zu untersuchen, ob es verhältnismäßig sei, einem Einzelnen anstelle der Allgemeinheit eine bestimmte Belastung zuzumuten, das „Ob der Heranziehung“. Sei dies nicht der Fall, liege in der Allgemeinheitsbelastung ein (milderes) Alternativmittel, weshalb die Erforderlichkeit des gewählten Mittels zu verneinen sei. Hinsichtlich der Angemessenheitsebene ergeben sich hiernach keine Besonderheiten.438 • Nach Th.  Wischmeyer sind teurere Alternativmittel auf Ebene der Erforderlichkeit nicht zu berücksichtigen. Auf Angemessenheitsebene wirken sie sich nicht auf die Abwägung aus; es stehen dafür finanzwirksame Instrumente zur Abfederung zur Verfügung.439

IV. Raum für Weiterentwicklung Die genannten Ansätze bieten jeweils eigene Vor- und Nachteile. Bis auf den Ansatz Th. Wischmeyers positionieren sie sich nicht zu den Auswirkungen ihrer Erforderlichkeitsdogmatik auf die Ebene der Angemessenheit. Die dort von Th. Wischmeyer postulierte konsequente Ausblendung finanzwirksamer Alternativen begegnet Praktikabilitätsbedenken, die zwar durch das 434  Abschnitt C. II. 1.

435  Abschnitt C. II. 1. b). 436  Abschnitt C. II. 1. a). 437  Abschnitt C. II. 2. 438  Abschnitt C. II. 3. 439  Abschnitt C. II. 4.

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C. Ansätze in Rechtsprechung und Literatur

von ihm angeführte (finanzwirksame) Instrumentarium begrenzt, aber nicht gänzlich ausgeräumt werden können. Dennoch verdienen seine Einwände hinsichtlich der Vermeidung gänzlich freier Abwägungen (die die anderen vertiefenden Autoren nicht teilen) Gehör, weshalb ein Ansatz entwickelt werden soll, der sich um klarere Strukturen bemüht.440

440  Siehe

bei Fn. 296.

D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik „Auf Sparen folgt Haben.“441

Nachdem dargelegt wurde, dass die verfassungsrechtliche Stellung des Bundeshaushalts442 es durchaus zulässt, zur Schonung desselben Freiheitseingriffe vorzunehmen, und die dargestellten Wege, dies in der Verhältnis­ mäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen, gewisse Schwächen aufweisen, fragt sich, wie jene Wege im Hinblick auf „kosteneffiziente Eingriffe“ weiterentwickelt werden können. Da die Lösungen teilweise daran kranken, dass Wertungen notwendig werden, die über die typische Zweck-Mittel-­Relation hinausgehen, Wertungen zudem in der Prüfung getrennt voneinander verortet und die entscheidenden Wertungsgesichtspunkte verschleiert werden, soll genau das vermieden werden. Dem positiven Recht kann selbstredend kein zwingendes Gebot entnommen werden, Wertungsfragen zusammenzufassen. Doch eröffnet eine schlankere Dogmatik samt zusammengefassten Wertungen die Möglichkeit rationalerer Debatten. Es soll dargelegt werden, warum eine unangeknüpfte Erweiterung der Erforderlichkeitsdefinition um die Kostenfrage untunlich ist und die – richtig angewandte – überkommene Dogmatik die entscheidende Abwägung rationalisiert. So zeitigt ein stringenter Umgang mit den „legitimen Zwecken“ eine entscheidende Konsequenz.

I. Der verschwiegene legitime Zweck Die Formel der Erforderlichkeit, wonach ein Alternativmittel gleich effektiv und zugleich milder als das gewählte Mittel sein muss, um eine Nichterforderlichkeit des letzteren nach sich zu ziehen, weist eine häufig missachtete Tiefe auf. Der meist unterbelichtete443 Punkt ist der, dass ein Alternativmittel 441  Deutsches Sprichwort. Zitiert nach K. Simrock, Die deutschen Volksbücher. Gesammelt und in ihrer ursprünglichen Echtheit wiederhergestellt. Fünfter Band. Deutsche Sprichwörter, 1846, S. 455 Nr. 9633. 442  Zur Beschränkung des Untersuchungsgegenstandes Fn. 2. 443  Beispielsweise weisen K.-P. Sommermann, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Begr. und letztere ehemalige Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band 2, 7. Auflage, 2018, Art. 20 Abs. 3 Rn. 314; H. Hofmann, in: Bruno Schmidt-Bleibtreu/Hans Hofmann/Hans-Günter Henneke (Begr. und die letzten beiden Hrsg.), GG. Kommentar zum Grundgesetz, 14. Auflage, 2017, Art. 20 Rn. 72–73; G.  Robbers, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der Bearbeitung: 142. Aktualisierung, Okto-

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D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

zur Erreichung jedes legitimen Zwecks gleich effektiv und zugleich milder sein muss – und was daraus zu folgern ist.444 Erreicht ein Alternativmittel nicht jeden der Zwecke (freiheits-)effizienter, also gleich effektiv unter größerer Schonung der Adressaten, ist das gewählte Mittel zwar erforderlich. Doch folgt daraus, dass ein effizienter erreichbarer Zweck das gewählte Mittel nicht in Gänze rechtfertigen kann; dieser Zweck kann bei einer wie auch immer gearteten Zweck-Mittel-Abwägung nicht in letzter Konsequenz entscheidend sein.445 Diese Erkenntnis hat erstaunlicherweise in dieser Deutlichkeit noch kaum Einzug in die Literatur erhalten. Manche Autoren verweisen allerdings darauf, dass Freiheitseinbußen durch das Mittel nur insoweit, als sie zur Erreichung eines Zwecks geeignet und erforderlich seien, gerechtfertigt seien.446 Die Erforderlichkeit soll demnach gewissermaßen überschießende (dies bezieht sich darauf, dass ein Alternativmittel gleichgeeignet, aber milder ist) Freiheitseinbußen verhindern. Mittel, die in solchen Konstellationen (worin ein freiheitseffizienteres Alternativmittel bereitsteht) nur einem Zweck zu dienen bestimmt sind, sind, selbst wenn sie diesen Zweck vollkommen erreichen, unstrittig unverhältnismäßig. Indem man feststellt, dass „überschießende“ Freiheitseinschränkungen nicht gerechtfertigt werden können, unterstreicht man letztlich nur, dass dem „überschießenden“ Maß an Freiheitseinbuße kein Grad an Zweckerreichung korrespondiert, der über den Zweckerreichungsgrad eines freiheitsschonenderen alternativen Mittels ber 2009, Art. 20 Rn. 1918, im Rahmen der Erforderlichkeit nicht auf die Behandlung mehrerer Gesetzeszwecke hin (der Letztgenannte erwähnt die Bedeutung mehrerer Gesetzeszwecke demgegenüber für die Geeignetheit [Rn. 1917]). 444  Unter Rekurs auf bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung V.  Epping, Grundrechte, 8. Auflage, 2019, Rn. 55, der aber nicht ausführt, was gilt, wenn Alternativmittel in Bezug auf einzelne Zwecke effizienter sind; ebenfalls, ohne die Konsequenzen aufzuzeigen, H. Jarass, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 15. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 119, mit Verweis auf BVerfGE 115, 205 (233–234) – Betriebs- und Geschäftsgeheimnis. 445  Nach L.  Michael/M.  Morlok, Grundrechte, 6. Auflage, 2017, Rn. 618, 621, werden sie bei der abschließenden Wertung überhaupt nicht berücksichtigt. 446  Für Ch.  Hillgruber, Grundrechtsschranken, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Auflage, Band IX, 2011, § 201 Rn. 78, sind „Freiheitseinschränkungen nur legitim, […] soweit […] kein milderes, gleich effektives Mittel zur Verfügung steht“; für H. Jarass, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 15. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 119: „Weiter darf die Maßnahme nicht über das zur Verfolgung ihres Zwecks notwendige Maß hinausgehen“, ist diese Feststellung Ausgangspunkt des Erforderlichkeitsgebotes; diese Funktion der Erforderlichkeit stellt auch M.  Antoni, in: Karl-Heinz Seifert/Dieter Hömig/Heinrich Amadeus Wolff (Begr. und letzterer Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Handkommentar, 12. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 13, voran; nach L.  Michael, Grundfälle zur Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 654 (657), sind Mittel sogar nur bis zur vollständigen Zweckerreichung geeignet.



I. Der verschwiegene legitime Zweck115

­hinausgehen würde.447 Dieses überschießende Maß an Freiheitseinbuße kann folglich nicht mit dem Zweck gerechtfertigt werden, der effizienter erreicht werden kann. Man darf allerdings zweierlei nicht aus den Augen verlieren: Erstens sind Freiheitseinbußen zur Erreichung jener freiheitseffizienter erreichbaren Zwecke insoweit gerechtfertigt (beziehungsweise können es sein). Anders gewendet, jene Zwecke können rechtfertigend mit dem nicht-überschießenden Maß an Freiheitseinbuße korrespondieren.448 Wenn es nun, zweitens, einen weiteren Zweck gibt, kann dieser das (ehedem überschießende) Maß an Freiheitseinbuße, das zur Erreichung des einen Zwecks noch nicht erforderlich war, unter Umständen rechtfertigen.449 Man könnte dazu neigen, diese Aufspaltung als allzu schematisch zu verwerfen. Doch lassen sich Motivbündel seitens des Gesetzgebers450 häufiger entwirren, als man intuitiv denken mag.451 Verfolgt ein Gesetzgeber mehrere Zwecke und bedient er sich zur Erreichung dieser repressiver Mittel, dürfte 447  Auch wenn vertreten wird, dass „[d]ie Bildung von Alternativen […] auch [durch] Abmilderungen desselben Mittels“ geschehen könne (L.  Michael, Grundfälle zur Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 654 [657]), handelt es sich dabei zumindest funktionell um alternative Mittel, wobei es ohnehin schon zweifelhaft ist, ob eine L.-Michaelsche Abgrenzung zwischen einem „ganz andere[n] Mittel“ und einer „Abmilderung desselben Mittels“ überhaupt überzeugend stattfinden kann. 448  Dafür können dieselben Quellen wie in Fn. 446 herangezogen werden. 449  Zur Veranschaulichung der hier noch abstrakt vorgetragenen Zusammenhänge wird unten (Abschnitt D. III.) ausführlich ein Beispiel besprochen. 450  Es ist umstritten, ob nur vom (historischen) Gesetzgeber (wer auch immer das im Einzelnen sei beziehungsweise welche Quellen zur Ermittlung der seinerzeitigen Willen[säußerungen] welcher Menschen diesbezüglich auch immer auszuschöpfen seien) benannte, auch durch Gesetzesauslegung ermittelte oder jedwede denkbaren Zwecke zur Rechtfertigung gereichen können (siehe zu dieser Problematik St. Detterbeck, Öffentliches Recht. Ein Basislehrbuch zum Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Europarecht mit Übungsfällen, 11. Auflage, 2018, Rn. 301; G. Manssen, Staatsrecht II. Grundrechte, 15. Auflage, 2018, Rn. 196; H. Jarass, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth [Hrsg.], Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 15. Auflage, 2018, Art. 20 Rn. 116). Wohl herrschend und, da dem Grundgesetz keine Gesetzesbegründungspflicht entnommen werden kann (S. Kempny/H. Krüger, Prozeduralisierung des (Grund-)Rechtsschutzes – eine Analyse der jüngeren Rechtsprechung, SächsVBl. 2014, S. 153 [156]; vgl. H. Tappe, Die Begründung von Steuergesetzen. Normatives Ermessen im Steuerrecht zwischen Gesetzmäßigkeit und Gestaltungsfreiheit, Habil. Münster, 2012, S. 427–428), auch überzeugend ist jedenfalls die Ablehnung der erstgenannten Ansicht. Für den weiteren Fortgang dieses Beitrages ist davon auszugehen, dass alle relevanten Gesetzeszwecke auch wirklich verfolgt werden und in der Prüfung berücksichtigt werden müssen. 451  Man kann namentlich A. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 239–244, so interpretieren, dass er eine Aufspaltung (entweder der Zwecke oder des Eingriffs) vorschlage (siehe dazu Abschnitt C. II. 3.).

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D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

es für ihn meist unumgänglich sein, strukturell mehrere Verhaltensweisen der Bürger zu vertatbestandlichen, um hieran exekutive Ermächtigungen oder Sanktionen452 anzuknüpfen (oder den Adressatenkreis zu erweitern). Von dem Vorhandensein des einen (mehrere Gesetzeszwecke oder Tatbestands­ alternativen) wird man häufig auf den Konterpart schließen können. Etwa sind bei einem Totalverbot (Konsumverbot bestimmter Substanzen/jeglicher Beischlaf unter Verwandten) mehr Verhaltensweisen tatbestandlich als bei einem eingeschränkten Verbot (Konsumverbot nur in der Öffentlichkeit/nur heterosexueller Beischlaf unter Blutsverwandten). Gewiss wird man zusätz­ liche Tatbestandsalternativen zunächst unter der Intensität eines Mittels verbuchen. Doch wird dies selten der Selbstzweck der Regelung sein, vielmehr wird der Gesetzgeber weitergehende Ziele damit verfolgen (zusätzlich Gesundheitsschutz des Konsumenten [„Volksgesundheit“]453/„Verhinderung sog. erbkranken Nachwuchses“454). Gerade die Betrachtung von (milderen) Alternativmitteln offenbart hiernach, welche Zwecke der Gesetzgeber eigentlich verfolgt. Unabhängig davon, wie man mehrerer Gesetzeszwecke gewahr wird, scheint es nach dem eingangs dieses Abschnittes Gesagten jedenfalls Konsens zu sein, dass Freiheitseinbußen (theoretisch) in einen erforderlichen und einen nicht erforderlichen Teil aufgespalten werden können (nichts anderes wird hier behauptet). Unausgereift ist diese Dogmatik lediglich im Hinblick darauf, wie mit einer Aufspaltung umzugehen ist, sofern mehrere Gesetzeszwecke verfolgt werden. Ein Vorschlag wird im Folgenden unterbreitet. Vergegenwärtigt man sich, dass ein verfassungstreuer Gesetzgeber, das „Minimumprinzip“ wahrend, Kosten so gering wie möglich zu halten versucht,455 ist es nicht allzu fernliegend, einen Kostenvermeidungszweck bei jedem kostenverursachenden Gesetz als (mit-)verfolgt anzusehen – geradezu zwingend ist dessen Annahme, sofern er im Gesetzgebungsverfahren greifbar wird456. Ein solcher Zweck lässt sich nahezu friktionsfrei in das 452  Auch Sanktionen kann man aus rechtstheoretischer Warte primär als Ermächtigung sehen (indem eine Freiheitsstrafe verhängt wird, werden Amtswalter ermächtigt, den Sanktionierten etwa in seiner körperlichen Bewegungsfreiheit einzuschränken). Zu dieser Ermächtigungsfokussierung S. L. Paulson, An Empowerment Theory of Legal Norms, Ratio Juris 1 (1988), S. 58. 453  L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 6. Auflage, 2017, Rn. 617. 454  M. Frommel, in: Urs Kindhäuser/Ulfrid Neumann/Hans-Ullrich Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 5. Auflage, 2017, § 173 Rn. 4 (Hervorhebung weggelassen). Das könnte ein von Verfassungs wegen verbotener Zweck, mithin illegitim sein (siehe N. Bosch/U. Schittenhelm, in: Adolf Schönke/Horst Schröder [Begr. und letzterer früherer Hrsg.], Strafgesetzbuch. Kommentar, 30. Auflage, 2019, § 173 Rn. 1). 455  Siehe Abschnitt B. IV. 456  Zu historischen Beispielen Abschnitt B. IV.



I. Der verschwiegene legitime Zweck117

tradierte Verhältnismäßigkeitsmodell einfügen.457 Ein solcher Zweck ist legitim, da nicht von der Verfassung missbilligt, vielmehr ist er Direktive fast jedes staatlichen Handelns.458 Wann wäre eine Maßnahme zur Erreichung dieses Zwecks ungeeignet? Ein Mittel ist dann ungeeignet, wenn es den verfolgten Zweck schlechthin nicht fördert. Ein Vergleich des Kostenvermeidungszwecks mit einem – etwa einer Steuer zugrundeliegenden – Mitteleinnahmezweck, zeigt, dass die Eignung bezüglich eines fiskalischen Zwecks selten in Zweifel gezogen werden kann. Kosten werden gespart, wenn noch mehr Finanzmittel (für ein Alternativmittel) aufgewendet werden könnten.459 Solange die Möglichkeit besteht, noch mehr Finanzmittel aufzuwenden, hätte der Gesetzgeber auch dieses teurere Mittel wählen können. Lediglich die Neuverschuldungsgrenze aus Art. 109 Abs. 3 S. 4 GG beschränkt die Möglichkeit, finanzwirksame Maßnahmen zu implementieren, indem sie die Aufnahme von Krediten beschränkt. Mittel, die nur durch ein Reißen der Neuverschuldungsgrenze finanziert werden könnten, kämen einer Verpflichtung des Staates gleich, sich verfassungswidrig zu verhalten. Solche Verhaltensweisen mit dieser Folge an den Tag zu legen, dies wäre daher (verfassungs-)rechtlich unmöglich und folglich verboten. In Bezug auf einen Kostenvermeidungszweck wäre eine Maßnahme dann ungeeignet.460 Allerdings würde man auf diese Weise lediglich den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brächte, verwerfen, welch 457  Eingedenk dessen, dass nicht normgeberisch vorgeschriebene Dogmatiken austauschbar sind, müssen Vor- und Nachteile derselben außerdogmatisch begründet werden, wobei kaum je begründbar ist, dass sie dogmatisch unhaltbar sind (soweit sie eben nicht durch die Normen vorgegeben sind). Die Vorzüge „ontologisch sparsamer“ und Wertungen nicht trennender Modelle wurde schon angerissen (siehe Abschnitt C. II. 4. d) aa) (1)). Dass ein dogmatisches Konstrukt eine gewisse Tradition aufweist und in weiten Teilen konsentiert ist, ist, für sich genommen, kein Argument für das Modell. Nun weist die überkommene Verhältnismäßigkeitsdogmatik aber gerade die beschriebenen Vorteile auf: es ist nach derzeitiger Erkenntnis so sparsam wie möglich und dabei rational(isierend), weswegen immer diese Vorteile gemeint sind, wenn das tradierte Modell als positiv seiend unterstellt wird. 458  Siehe Abschnitt B. IV. 459  Daraus wird ersichtlich, dass der Kostenvermeidungszweck stets ein relationaler ist. 460  Das Haushaltsgesetz zum Maßstab zu erklären dürfte dessen Bedeutung überstrapazieren. Es ist dem Haushaltsgesetzgeber im Ausgangspunkt unbenommen, jeder Ausgabe eine Einnahme in Form eines Darlehens gegenüberzustellen und damit einen formell ausgeglichenen Haushalt aufzustellen (vgl. Ch. Gröpl, in: Wolfgang Kahl/ Christian Waldhoff/Christian Walter [Hrsg.], Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der Bearbeitung: 174. Aktualisierung, September 2015, Art. 110 Rn. 123–126). Eine Maßnahme, die mehr Finanzmittel verschlänge als im Haushaltsplan vorgesehen, könnte man haushaltsgesetzwidrig nennen. Die Verfassung kennt demgegenüber lediglich die beschriebene Neuverschuldungsgrenze.

118

D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

geringen Anteil am Haushalt er auch hätte. Überdies schränkt Art. 109 Abs. 3 S. 4 GG nur die Finanzierung des Haushaltes ein – jedenfalls soweit dieser nach dem Grundsatz der Gesamtdeckung (§ 7 S. 1 HGrG, § 8 S. 1 BHO) aufgestellt wird, ist die Neuverschuldungsgrenze kein Maßstab für einzelne kostenträchtige Mittel. – Die Eignung eines Mittels ist allerdings ohnehin die niedrigste Hürde und wirkt sich kaum je aus, weswegen dieser Punkt nicht weiter vertieft werden soll.461 So hat auch die Erforderlichkeit von freiheitseffizienteren, aber kosten­ ineffizienteren Alternativmitteln zu Recht die größere Aufmerksamkeit erfahren.462 Ein Mittel ist erforderlich, wenn es kein milderes, mit dem gleichen Zweckerreichungsgrad ausgestattetes alternatives Mittel gibt. Behandelte man einen Kostenvermeidungszweck wie jeden anderen Gesetzeszweck, wäre es nur folgerichtig, ein Alternativmittel als nicht erforderlich anzusehen, wenn es auch nur einen Cent mehr Belastung bedeutete – zur Erreichung des Zwecks der „Staatshaushaltsschonung“ ist ein alternatives Mittel nun einmal nicht gleich effektiv, wenn es teurer ist.463 Auf diesem Wege wird obendrein vermieden, bereits innerhalb der Erforderlichkeit bewerten zu müssen, ob ein Alternativmittel „erheblichen“ Kosten(mehr)aufwand bedeutete (was bejahendenfalls eine Erforderlichkeit des gewählten Mittels nach sich zöge) – eine Abwägung ist der Erforderlichkeit fremd.464 461  Laut Ph. Reimer, Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht, ein heterogenes Konzept, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit. Zur Tragfähigkeit eines verfassungsrechtlichen Schlüsselkonzepts, 2015, S. 60 (66), besitzt die Geeignetheit gegenüber der Erforderlichkeit ohnehin keinen dogmatischen Mehrwert. 462  Hervorstechend Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 54–62. 463  Auf der gleichsam anderen Seite der Medaille müsste dann gelten, dass ein billigeres Mittel geeigneter wäre, Kosten zu vermeiden. Falls es dazu jeden anderen Zweck gleich effektiv förderte sowie grundrechtsschonender wäre, wäre das gewählte Mittel nicht erforderlich. 464  R.  Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns. 1989, S. 68, behauptet zwar, dass die von ihm vorgeschlagene (dem Kaldor-Hicks-Kriterium folgende [und angesichts der Prämisse der Kommensurabilität von Freiheit und Geld deshalb zweifelhafte]) „Kompensation zwischen unselbständigen Zwecken“ im Rahmen der Erforderlichkeit der Abwägung im Rahmen der Angemessenheit ähnlich sei. Dem kann zumindest für die heute gängige Angemessenheitsprüfung nicht gefolgt werden. R. Dechsling möchte im Rahmen der Erforderlichkeit „verschiedene Entscheidungsmöglichkeiten mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen gegeneinander [abwägen]“. Die Angemessenheit zu prüfen heißt aber nicht, verschiedene Entscheidungsmöglichkeiten zu bewerten, sondern die Förderung der Zwecke gegen die Intensität der Mittel abzuwägen. Das sieht R. Dechsling für seine Angemessenheitsprüfung genauso (unter anderem S. 17), weswegen er die „Abwägung“ zwischen den Entscheidungsalternativen überhaupt erst in die Erforderlichkeit verlagert. R. Dechslings Konzeption fußt schlicht und ergreifend auf der Mutmaßung, dass zwischen „selbständigen“, zu kon-



I. Der verschwiegene legitime Zweck119

Die Annahme eines immanenten Gesetzeszweckes der Haushaltsschonung mag dabei konstruiert wirken. Es ist aber nicht recht einzusehen, warum diesem Zweck die Anerkennung zu verweigern sei, der finanzielle Mehraufwand des Staates gleichwohl Rechtfertigungsgrund (nichts anderes ist die Erweiterung der Erforderlichkeitsdefinition um weitere Aspekte wie die Dritt- oder Allgemeinheitsbelastung oder das „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ an Kosten[mehr]aufwand sowie die Berücksichtigung der Haushaltsautonomie als „Gegeninteresse“ im Kontext der Verhältnismäßigkeit) sein solle. Eine andersgeartete Begründung, die zur Verhältnismäßigkeitsdogmatik passt, lassen die Vertreter der Erweiterung der Erforderlichkeitsdefinition häufig vermissen. Man kann sich die fragliche Konstellation auch aus Sicht eines (verfassungstreuen) Gesetzgebers bewusst machen: Ginge es ihm nur um die Erreichung des „Hauptzwecks“, würde er das Alternativmittel wählen, weil es gleich geeignet und für die Grundrechtsberechtigten milder ist. Der Grund, warum er das nicht tut, ist der Kostenfaktor. Wieso sollte man diese gesetzgeberische Motivation also nicht als Gesetzeszweck bezeichnen? Diese dann als „Nebenzweck“/„unselbständigen“ Zweck465 zu bezeichnen, mag von heuristischem Wert für eine Aussage über die abstrakte Wertigkeit dieses Zwecks sein. Eine andere verfassungsrecht­ liche Behandlung verdienen sie dadurch nicht.466 servierenden, und „unselbständigen“, einer Kompensation zugänglichen Zwecken zu unterscheiden sei, weil letztere unwichtiger seien, mit der Konsequenz, dass von der Eignung für die „unselbständigen“ Zwecken ruhig abgerückt werden könne. Wenn die Erreichung der fiskalischen Zwecke im Zuge dieser Kompensation im Rahmen der Erforderlichkeit derart disponibel ist, folgt daraus, dass sie der schier endlosen gerichtlichen Suche nach „besseren“ Alternativmitteln ausgesetzt werden. Die gesetzgeberische Entscheidung, der Freiheitsmaximierung des Betroffenen zugunsten des fiskalischen Zwecks nicht den Vorzug zu geben, also nicht das schonendere Alternativmittel zu wählen, wird auf diesem Wege geringgeschätzt (siehe sogleich im Haupttext). Es dünkt, dass R. Dechsling seiner rechtspolitischen Meinung, die Freiheit der Bürger nur in Ausnahmefällen den fiskalischen Zwecken hintanstehen zu lassen (wie sie auf S. 68 ganz unten ersichtlich wird), mit seinem „modifizierte[n] Kaldor-Hicks-Kriterium“ (S. 68) Bahn brechen wollte. Im Rahmen der Angemessenheit wäre die Förderung des fiskalischen Zwecks zu konservieren und nur im Hinblick auf den Teil der Freiheitseinbuße, welcher mit dem fiskalischen Zweck korrespondiert, auf eine Unangemessenheit hin zu überprüfen. Hier kehrt sich das Regel-Ausnahme-Verhältnis um: regelmäßig wäre der gesetzgeberischen Entscheidung zugunsten der Kostenersparnis zu folgen. Siehe auch Abschnitt C. II. 2. 465  Im Folgenden soll „Hauptzweck“ gleichbedeutend mit „selbständigem Zweck“, „Nebenzweck“ gleichbedeutend mit „unselbständigem Zweck“ sein. 466  In Anbetracht namentlich von Steuergesetzen erscheint es im Übrigen zweifelhaft, fiskalische Zwecke per se als „Nebenzwecke“ zu kategorisieren (siehe § 3 Abs. 1 AO). Eingedenk dessen wird man dann auch kaum sagen können, dass nur das Einnehmen von Finanzmitteln, nicht aber die Vermeidung des Verlustes von Finanzmitteln „Hauptzwecke“ darstellen können; anderenfalls müsste man auch eine dahinge-

120

D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

II. Konsequenz für die Zweck-Mittel-Relation Bis hierhin divergiert dieser Ansatz von der sich äußernden Literatur und Rechtsprechung vornehmlich nur darin, dass dort meist eine Erweiterung der Erforderlichkeitsdefinition, hier eine Ergänzung der legitimen Zwecke vorgenommen wird: am Ende führt das freiheitseffizientere Alternativmittel aufgrund der höheren Kosten jeweils nicht zur Nichterforderlichkeit des gewählten Mittels. Der entscheidende Unterschied wird aber auf der letzten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung deutlich. Wie bereits angedeutet, kann der „Hauptzweck“, der vom teureren alternativen Mittel effizienter erreicht werden kann, das gewählte Mittel nicht in Gänze rechtfertigen.467 Wenn dem Alternativmittel nur der Makel der Kostspieligkeit anhaftet, alle anderen Gesetzeszwecke mit ihm aber freiheitseffizienter erreicht werden können, kann in letzter Konsequenz nur der Zweck der „Kostenersparnis“468 zur Rechtfertigung gereichen. Sprich, es muss abgewogen werden, ob die Ersparnis in Geld einen gewissen Schwund an Freiheit wert ist. Sicherlich wäre es aber verfehlt, den Zweck „Kostenersparnis“ gegen den Freiheitseingriff in seiner vollen Intensität abzuwägen. Das würde ignorieren, dass ein Teil des Freiheitseingriffs zur Erreichung des „Hauptzwecks“ (oder, wenn mehrere festzustellen sind, der „Hauptzwecke“) vonnöten ist (vorausgesetzt, das Alternativmittel verursacht ebenfalls einen Freiheitsschwund). Eine konsequente Zweck-Mittel-Relation muss in Fällen, in denen ein Alternativmittel nur wegen der höheren Kosten nicht insgesamt effizienter ist, zweiphasig erfolgen.469 hende (unter Umständen verfassungsrechtliche Konsequenzen zeitigende!) Unterscheidung zwischen „der Erhöhung des Steueraufkommens“ und „der Verhinderung des Absinkens des Steueraufkommens“ vornehmen, was schwerlich nachvollziehbar wäre. Eine Abgrenzung nach der Motivation des Gesetzgebers, also die Erforschung der Frage, warum der Gesetzgeber (genau) diese Regelung erlassen habe, mündet in der Feststellung, dass der Gesetzgeber gerade wegen des Kostenfaktors die Regelung und nicht die Alternative gewählt habe, weswegen auch hiernach keine folgenreiche Differenzierung angezeigt ist, zumindest keine, die auf eine „Herabstufung“ der Kostenvermeidung hinausläuft. Wird die Terminologie „Haupt-“/„Nebenzweck“ gleichwohl verwandt, dient dies der Anschlussfähigkeit. 467  Allgemein, nicht in Bezug auf Kostenverursachung L.  Michael/M.  Morlok, Grundrechte, 6. Auflage, 2017, Rn. 618, 621, die aber meinen, dass der Zweck, welcher (freiheits-, nicht kosten-)effizienter erreicht werden könne, auf der letzten Stufe der Verhältnismäßigkeit „außer Betracht“ (Rn. 618) zu bleiben habe, was, wie zu zeigen sein wird, etwas zu strikt formuliert ist. 468  Oder ein anderer fiskalischer Zweck. 469  Allgemeiner gefasst, ist immer dann zweiphasig abzuwägen, wenn einzelne Zwecke, für sich genommen, je von verschiedenen Mitteln (mal vom gewählten, mal von [gegebenenfalls unterschiedlichen] alternativen Mitteln) effizienter erreicht werden können. Die hier beschriebene Abschichtung ist mitnichten eine Besonderheit der



II. Konsequenz für die Zweck-Mittel-Relation121

In den fraglichen Konstellationen wird ein gewähltes Mittel auf seine Angemessenheit hin zu mehreren Zwecken, von denen einer ein fiskalischer ist, überprüft. Dabei wurde stets zuvor, bei der Prüfung der Erforderlichkeit, festgestellt, dass ein Alternativmittel existiere, das nur deshalb nicht insgesamt effizienter sei, weil es mehr Kosten verursache. In die Betrachtung geriet es gerade, weil es alle anderen Zwecke gleich wirksam förderte und zugleich milder wäre. Es ist folglich (zumindest in der Theorie) ein gewisses Mehr an Freiheitseinbuße isolierbar, das nur zur Einsparung von Kosten erforderlich ist. Eine theoretisch klare Korrespondenz zwischen einem Schwund an Freiheit und der Kostenersparnis liegt auf der Hand. Wenn diese häufig bloß schemenhaft zutage tritt, dann weil das Alternativmittel unter Verschweigung dieser korrespondierenden Umstände vorschnell wegen seiner Teuerung verworfen wird. Es wäre ein Leichtes, weil ohnehin (gedanklich) festgestellt, die freiheitliche Intensität des Alternativmittels zu benennen, um einen Referenzwert zu erhalten, mittels dessen das „Mehr an Freiheitseinbuße“, das nur mit der Kostenersparnis in Beziehung steht, bestimmt werden Prüfung gewählter Mittel angesichts kostspieligerer Alternativmittel; vielmehr ist sie in ähnlicher Weise angesichts (für die öffentliche Hand gleich teurer, aber) weniger wirksamer, das heißt den oder die Zwecke nicht in gleicher Weise wie das gewählte Mittel fördernder Alternativmittel vorzunehmen. Es geht immer darum, eine vorgenommene Freiheitseinschränkung daraufhin zu untersuchen, ob sie anteilig verschiedenen Zweckerreichungsgraden ausschließlich zugerechnet werden könne. Denn die Angemessenheitsprüfung ist dann am rationalsten und verspricht dann die intersubjektiv ähnlichsten Ergebnisse zu liefern, wenn jedes Stück Freiheitseinbuße jeweils genau mit dem Anteil an Zweckerreichung abgewogen wird, der gerade mit diesem Stück erkauft wird. Beispiel: Der Staat möchte (zur Eindämmung des Klimawandels) mittels einer technischen Anlage jährlich eine bestimmte Menge CO2 aus der Atmosphäre binden. Hierzu stehen (nur) zwei Arten von Anlagen zur Verfügung, Typ A und Typ B. Beide kosten gleich viel und bestehen aus etwa gleich viel Baukörper. Allerdings ist Typ A flach, beansprucht deswegen viel Grundfläche (10.000 m2), beeinträchtigt aber die Vögel nicht; Typ B ist hoch, verbraucht deshalb weniger Fläche (3.000 m2), tötet aber alljährlich eine beachtliche Zahl an Vögeln. Aus technischen Gründen kommt für beide Anlagenarten nur ein ganz bestimmtes, 10.000 m2 großes Grundstück, welches dem Privaten P gehört, in Betracht. P ist unter keinen Umständen zu irgendeiner Veräußerung bereit, sodass der jeweils erforderliche Baugrund nur im Wege der Enteignung beschafft werden kann. Der Staat wählt Typ A. – Das gewählte Mittel ist geeignet, die legitimen (siehe Art. 20a GG) Zwecke der CO2-Bindung (dazu, dass hier nicht auf das Fernziel „Eindämmung des Klimawandels“ abzustellen ist, siehe unten Abschnitt D. IV. 2. bei Fn. 546) und des Vogelschutzes zu fördern. Es ist auch erforderlich, da das (einzig denkbare) Alternativmittel – die Wahl des Typs B – zwar das Ziel der CO2-Bindung in gleicher Weise förderte, nicht aber das des Vogelschutzes. Auf der Prüfungsstufe der Angemessenheit ist zunächst festzustellen, dass die CO2Bindung die Enteignung höchstens im Ausmaß von 3.000 m2 rechtfertigen kann und deshalb (als hier sogenannte Phase 1) nur „CO2-Bindung“ mit „Eigentumsverlust an 3.000 m2“ abzuwägen ist. Sodann ist (als hier sogenannte Phase 2) der darüber hinaus gehende „Eigentumsverlust an 7.000 m2“ allein mit dem „Vogelschutz“ abzuwägen.

122

D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

könnte. Mathematische Exaktheit bezüglich der Freiheitseinbußen wird natürlich nicht erreicht. Dieser Weg soll ohnehin nur zur Rationalisierung und Strukturierung einer Wertungsentscheidung unter Wahrung gesetzgeberischer Spielräume beitragen, welche (nach heutiger Erkenntnis) ohnehin keine mathematische Präzision erlaubt. Wenn das Bundesverfassungsgericht erklärt, ein konkreter Kostenmehraufwand sei dem Gesetzgeber nicht „zumutbar“, steckt hierin schon begrifflich ersichtlich eine Abwägungsentscheidung.470 Was sollte dagegensprechen, diese unter Nennung dessen, was sich tatsächlich gegenübersteht, offenzulegen? Die Vorteile des Erkennens des „Gegeninteresses“471 würden hierdurch potenziert, indem nicht nur die für die Entscheidung maßgeblichen Verfassungsgüter erkannt und offengelegt würden, sondern auch die Entscheidung selbst nachvollziehbarer würde. Die zwei Phasen der Abwägung lauten demnach wie folgt: Als erstes sind der „Hauptzweck“ und der Freiheitseingriff, der auch bei dem im Hinblick auf den „Hauptzweck“ gleich geeigneten Alternativmittel hervorgerufen würde, ins Verhältnis zu setzen. Als zweites ist nun die Kostenersparnis mit dem Mehr an Freiheitseinbuße abzuwägen. Nur wenn beides das zu tolerierende Maß wahrt, ist das gewählte Mittel angemessen und damit verhältnismäßig.472 Zum letzten Mal soll das Liquorentnahme-Beispiel473 bemüht werden, um das Modell auf seine Tauglichkeit zu prüfen. Dabei ist davon auszugehen, dass 150.000 Liquorentnahmen pro Jahr durchgeführt werden müssen und die Mehrkosten für Okzipitalpunktionen 600 € betragen.

470  Siehe

Abschnitte C. II. 1. a) und C. II. 1. d) aa) (1). beispielsweise Abschnitt C. II. 4. d) aa) (2). 472  Dass durch den Vorschlag ein Spannungsfeld zwischen Gewalten entsteht, soll nicht bestritten werden. Jedoch geht dieses nicht über das Maß hinaus, das ohnehin besteht, wenn sich das Verfassungsgericht durch die Verwerfung einer Norm über den Willen des unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebers hinwegsetzt (ähnlich R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1. Auflage, 1985, S. 466 a. E.). Diesem Problem wird jedoch gemeinhin dadurch begegnet, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit auf eine Evidenzkontrolle beschränkt wird (vgl. nur St. Huster/J. Rux, in: Volker Epping/ Christian Hillgruber [Hrsg.], BeckOK Grundgesetz, 41. Edition, Stand: 15.2.2019, Art. 20 Rn. 197.1. Zur Implementierung dieses Ansatzes auch für das hier beschrieben Pro­blem siehe sogleich). Siehe auch Fn. 330. 473  Siehe Abschnitt C. I. 471  Siehe



III. Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung123

III. Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung 1. Legitimer Zweck, Geeignetheit Der „Hauptzweck“ (Strafrechtspflege) ist legitim.474 Gleiches gilt für den „Nebenzweck“ (Kostenvermeidung).475 Betrachtet man nur das Verhältnis zwischen „Hauptzweck“ und den freiheitlichen Implikationen des Mittels, ist die verfassungsrechtliche Beurteilung eindeutig. Das gewählte Mittel ist zur Erreichung des legitimen Zweckes der Strafrechtspflege geeignet.476 Auch zur Erreichung des „Nebenzwecks“ (dazu sogleich mehr) ist das gewählte Mittel geeignet, denn die Neuverschuldungsgrenze wird durch die Anordnung der Liquorentnahme mittels Lumbalpunktion nicht gerissen, und es sind teurere Mittel denkbar. 2. Erforderlichkeit Im Rahmen der Erforderlichkeit sind für die Bestimmung der Freiheits­ effizienz Lumbal- und Okzipitalpunktion gegenüberzustellen. Tabelle 4 Freiheitseffizienz gewähltes Mittel Gewähltes Mittel – Lumbalpunktion „Hauptzweck“ (Z1): Strafrechtspflege

Freiheitseinbuße

Wirkungsgrad: 100 %

10 % Gesundheitsrisiko und Einstich

Das gewählte Mittel fördert die Strafrechtspflege mit einem unübertrefflichen Wirkungsgrad von 100 %. Allerdings resultiert der Einsatz des Mittels in 10 % der Fälle in eine Gesundheitsbeeinträchtigung in Gestalt von Nebenwirkungen (dazu tritt der Eingriff durch den Einstich).

474  Siehe

Abschnitt C. II. 1. a) bb) (1). Abschnitt B. IV. 476  Siehe Abschnitte C. II. 1. a) bb) (1) und C. II. 1. a) bb) (2). 475  Siehe

124

D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik Tabelle 5 Freiheitseffizienz alternatives Mittel Alternativmittel – Okzipitalpunktion Z1

Freiheitseinbuße

Wirkungsgrad: 100 %

1 % Gesundheitsrisiko und Einstich

Das Alternativmittel ist bezüglich der Strafrechtspflege genauso wirksam wie das gewählte Mittel und dabei angesichts des um neun Prozentpunkte niedrigeren Gesundheitsrisikos milder für die Grundrechtsberechtigten. Das Alternativmittel ist damit gleich geeignet und freiheitsschonender. In erster Näherung ist das gewählte Mittel zur Erreichung von Z1 nicht erforderlich, also unverhältnismäßig. Wollte man das Verhältnis zwischen „Hauptzweck“ und dem Kostenaspekt des Mittels untersuchen, stellte sich die Lage wie folgt dar. Tabelle 6 Kosten zu „Hauptzweck“ – gewähltes Mittel Gewähltes Mittel – Lumbalpunktion Z1

Kosten

100 %

100 €

Das vorgeschriebene Mittel kostet je Einsatz 100 € und genießt einen nicht zu verbessernden Wirkungsgrad. Tabelle 7 Kosten zu „Hauptzweck“ – alternatives Mittel Alternativmittel – Okzipitalpunktion Z1

Kosten

100 %

700 €

Das Alternativmittel ist um 600 € teurer, also ist es – ja, was eigentlich? Nicht milder? Das Verhältnis zwischen „Hauptzweck“ und Kosten ist zumindest mit der gängigen Terminologie der Erforderlichkeit nicht ohne Weiteres zu beschreiben. Das liegt freilich daran, dass hier die Milde der Belastung



III. Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung125

für den Staat geprüft wird, nicht durch den Staat. Die Verhältnismäßigkeitsdogmatik dient der Einhegung staatlicher Akte,477 es ist daher (zumindest in klassischen Eingriffskonstellationen) unsinnig, zwei staatliche Interessen miteinander ins Verhältnis zu setzen. Tut man es trotzdem, kann man konstatieren, dass das gewählte Mittel im Hinblick auf die „Hauptzweck“-Erreichung kosteneffizienter ist. In diesem Verhältnis ist es „erforderlich“. Nun offenbart sich das Dilemma, und der Fall gewinnt an Brisanz. Bisher wurden nur Aspekte des Mittels mit dem „Hauptzweck“ ins Verhältnis gesetzt. Betrachtet man sie isoliert, liefern sie unterschiedliche Ergebnisse, wenn ein Vorteil des Mittels mit einem Nachteil zusammenfällt. Ein Rangverhältnis zwischen den Aspekten des Mittels fehlt aber. Die Rechtsprechung begnügte sich bislang begründungslos mit der Annahme der Höherwertigkeit der Sparsamkeit gegenüber der Grundrechtsschonung, wahrscheinlich in dem Bewusstsein, dass ein Kosteneinsatz zur Freiheitsmaximierung theoretisch ebenfalls möglich wäre. Die Annahme eines fiskalischen „Nebenzwecks“ könnte dieses Begründungsvakuum füllen. Oben478 wurde aufgezeigt, wann, wie hier, ein Mittel (auch) einem fiskalischen Zweck dient und dass dieser legitim ist. Bei einer Belastung des Staates mit 100 € durch den Mitteleinsatz wird weder gegen Art. 109 Abs. 3 S. 4 GG verstoßen noch, das sei unterstellt, ein Haushaltsplan missachtet. Damit ist der Mitteleinsatz bezüglich des fiskalischen Zwecks jedenfalls geeignet. Nimmt man nun die Kosteneffizienz (ist das gewählte Mittel zur Erreichung des fiskalischen Zwecks das mildeste unter gleich effektiven Mitteln?) isoliert in den Blick, gilt das Folgende. Tabelle 8 Kosteneffizienz – gewähltes Mittel (mangels Vergleichs nicht aussagekräftig) Gewähltes Mittel – Lumbalpunktion Fiskalischer Zweck (Z2) – Kosten

Freiheitseinbuße

100  €

10 % Gesundheitsrisiko und Einstich

477  Nicht an Aktualität eingebüßt hat E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 (1531): „Das BVerfG hat [die Ratio liberal-rechtsstaatlicher Grundrechtsgewährleistung aus der Weimarer Grundrechtsdiskussion] aufgenommen und ihr einen neuen Akzent verliehen, indem es jede Grundrechtseinschränkung den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips unterstellt hat. Darin liegt eine weitere dogmatische Ausformung dieser [R]atio, wenn das Verhältnismäßigkeitsprinzip seine Konturen behält und nicht in ein kriterienloses Abwägen auseinanderfließt.“ (Nachweise weggelassen). 478  Siehe Abschnitt B. IV.

126

D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

Der Bezugspunkt für die Milde ändert sich nicht. Den Grad der Geeignetheit bezüglich des fiskalischen Zwecks ohne Vergleich mit einem Alternativmittel anzugeben ist so schwierig wie überflüssig. Die Schwierigkeit rührt daher, dass die Skala der Finanzeffizienz nahezu endlos ist: Es lässt sich fast immer ein Mittel finden, dass dem Staat einen größeren finanziellen Vorteil bringt. Wenn man Art. 109 Abs. 3 S. 4 GG als Grenze der Geeignetheit für den Kostenvermeidungszweck ablehnt,479 dürfte ein Mittel auch für immer noch mehr Schulden verantwortlich sein. Das gleiche gölte für ein Alter­ nativmittel. Im Vergleich zu einem solchen, noch mehr Schulden verursachenden Alternativmittel wäre das gewählte Mittel zur Erreichung eines Kostenvermeidungszweckes geeignet. Deswegen kann schon in der Theorie kaum gesagt werden, in welchem Perzentil die Kosten des Mittels auf einer Zweckerreichungsskala liegen, sodass kein genauer Wirkungsgrad angegeben werden kann. Der Umstand, dass ein Vergleich mit einem alternativen Mittel aber stets ein für die Juristerei untypisch präzises Ergebnis dazu liefert, ob ein Mittel geeigneter ist, macht eine Angabe des „absoluten“ Wirkungsgrades entbehrlich. Obendrein besäße ein absoluter Wirkungsgrad überhaupt keine Aussagekraft über die verfassungsrechtliche Erforderlichkeit. Ein Mittelvergleich ist ihr immanent – und ihr Vorzug. Es ist also ein Vergleich des gewählten mit dem alternativen Mittel vorzunehmen. Tabelle 9 Kosteneffizienz – alternatives Mittel (mangels Vergleichs nicht aussagekräftig) Alternativmittel – Okzipitalpunktion Z2 – Kosten

Freiheitseinbuße

700 €

1 % Gesundheitsrisiko und Einstich

Nimmt man diesen Blickwinkel ein, ist offenkundig, dass das Alternativmittel „Okzipitalpunktion“ teurer ist und deswegen in Bezug auf den fiskalischen Zweck weniger geeignet. Wegen der Einsparung von 600 € ist das gewählte Mittel erforderlich. Nun könnte man einwenden, dass das Dilemma immer noch nicht aufgelöst sei, da das Rangverhältnis zwischen Kosten und Freiheitseinbuße weiterhin nicht fundiert worden sei. Dem ist aber nicht so. Ein Alternativmittel muss, um eine Nichterforderlichkeit des gewählten Mittels nach sich zu ziehen, im Hinblick auf alle verfolgten Zwecke gleich geeignet sein, weil die Zwecksetzung allein dem Gesetzgeber obliegt und dies aus Gründen der Gewaltenteilung und der demokratischen Legitimation zu respektieren ist. Es kommt folglich nicht auf ein Verhältnis zwischen Aspek479  Zu

dieser möglichen Grenze der Geeignetheit Abschnitt D. I.



III. Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung127

ten des Mittels, sondern nur auf die wohlbekannte Gleichgeeignetheit an. Wägte man bereits in der Erforderlichkeit zwischen den Vor- und Nachteilen der denkbaren Maßnahmen ab, gäbe man die Rationalität der Erforderlichkeitsprüfung auf. Auf diesem Wege würde die Erforderlichkeit mit einer Wertungsfrage belastet, die so (oder so ähnlich) ohnehin in der Angemessenheit gestellt würde – eine verunklarende Modellierung.480 Tabelle 10 Erforderlichkeit – Übersicht (durch Vergleich aussagekräftig) Gewähltes Mittel – Lumbalpunktion Zwecke Z1:  100 %

Freiheitseinbuße Z2: „billiger“

10 % Gesundheitsrisiko

Alternativmittel – Okzipitalpunktion Zwecke Z1:  100 %

Freiheitseinbuße Z2: „teurer“

1 % Gesundheitsrisiko

Das Alternativmittel ist dementsprechend zwar für die Grundrechtsberechtigten milder, aber nicht zur Erreichung aller Zwecke gleichgeeignet. Das gewählte Mittel ist erforderlich. Die Nichterforderlichkeit und Erforderlichkeit eines gewählten Mittels können auch folgendermaßen dargestellt werden (bei Z1 und Z2 bedeutet ein größerer Skalenwert einen höheren Zweckerreichungsgrad; je größer der Skalenwert der Freiheitseinbuße, desto intensiver ist der Eingriff): 100

Z1

80 60 40

Freiheitseinbuße

20

Gewähltes Mittel

0

Alternativmittel

Z2 (Kosteneinsparung)

Grafischer Vergleich 1: Gewähltes Mittel erforderlich 480  Siehe

zu diesen Vorteilen der Erforderlichkeit Abschnitt C. II. 4. d) aa) (1).

128

D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

Im zuvor gezeigten Vergleich ist das gewählte Mittel erforderlich, weil das alternative Mittel zwar freiheitsschonender und kostengünstiger, aber in Bezug auf den „Hauptzweck“ nicht gleich geeignet ist.

100

Z1

80 60 40 20

Gewähltes Mittel

0

Alternativmittel

Freiheitseinbuße

Z2 (Kosteneinsparung)

Grafischer Vergleich 2: Gewähltes Mittel nicht erforderlich

Dagegen förderte das Alternativmittel im soeben dargestellten Vergleich den „Hauptzweck“ genauso effektiv wie das gewählte Mittel, dasselbe gölte für den fiskalischen Zweck (es würde dieselben Kosten verursachen, genau gleich hohe Kosten einsparen), darüber hinaus wäre es freiheitsschonender.

100

Z1

80 60 40

Freiheitseinbuße

20

Gewähltes Mittel

0

Alternativmittel

Z2 (Kosteneinsparung)

Grafischer Vergleich 3: Gewähltes Mittel erforderlich



III. Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung129

Sobald aber irgendein Zweck481 durch alternative Mittel weniger effektiv gefördert würde, etwa indem es dem fiskalischen Zweck aufgrund einer höheren Kostenverursachung nicht gleich effektiv diente, ist das gewählte Mittel erforderlich. So liegen die Dinge im Liquorentnahme-Beispiel.482 – Mit der Erforderlichkeit ist die „Kostenfrage“ aber noch nicht endgültig beantwortet. 3. Angemessenheit Was zuvor noch etwas blutleer als zweiphasige Abwägung eingeführt wurde, soll nun im Rahmen der Angemessenheit mit Leben gefüllt werden. Wie genau die viel zitierte Zweck-Mittel-Abwägung im Allgemeinen zutage treten soll, ist alles andere als konsentiert. So lehnen manche Vertreter eine irgendwie geartete Prüfung der Angemessenheit rundheraus ab,483 andere wollen die Gerichte weitgehend einhegen.484 Vor diesem Hintergrund kann hier nur ein Vorschlag unterbreitet werden, wie mit der „Kostenfrage“ umgegangen werden könne, wenn eine Angemessenheitsprüfung überhaupt für angezeigt gehalten wird. Bleibt man bei der Abstraktheit „Zweck-Mittel-Relation“ stehen, sind mehr behauptete als begründete Wertungsentscheidungen vorprogrammiert. Gewiss sind willkürliche Wertungsentscheidungen im Rahmen der Angemessenheit eines Mittels nicht vollkommen umgänglich. Wenn man jedoch eine Rationalitätssteigerung485 erreichen möchte, bietet es sich an, den Weg zu einer Wertungsentscheidung so detailliert wie möglich

481  Das kann Z1 wie Z2 sein. Deshalb besteht unter dem hier eingenommenen (Erforderlichkeits-)Blickwinkel kein erheblicher Unterschied zwischen dem grafischen Vergleich 3 und dem grafischen Vergleich 1 (dass im grafischen Vergleich 1 ein mehr Kosten einsparendes Alternativmittel abgebildet wurde, dient nur der Anschaulichkeit). 482  Zum Sachverhalt siehe Abschnitt C. I. 483  Für Th.  Kingreen/R. Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 34. Auflage, 2018, Rn. 344, entbehrt die Angemessenheitsprüfung rationalen Maßstäben, weswegen sie es als „nicht zu rechtfertigen“ ansehen, dass das Bundesverfassungsgericht die eigenen subjektiven Urteile über die des Gesetzgebers stelle. Folgerichtig lehnen sie eine Prüfung der Angemessenheit von gesetzgeberischen Entscheidungen ab. 484  Ch. Hillgruber, Grundrechtsschranken, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Auflage, Band IX, 2011, § 201 Rn. 84–87, will die Angemessenheitsprüfung, damit die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit nicht über Gebühr beschnitten werde, auf eine „Nachvollziehbarkeitskontrolle“ verengen; aus demselben Grund verlangt V.  Epping, Grundrechte, 8. Auflage, 2019, Rn. 49, „richterliche Zurückhaltung“. Siehe auch zu Th. Wischmeyer Abschnitt C. II. 4. 485  Beispielsweise durch „sachbereichsspezifische Konkretisierungen“, so H. Schul­ ze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band II, 3. Auflage, 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 186.

130

D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

zu ziselieren.486 Gerichte müssen aus Gründen der Gewaltenteilung mit Rücksicht auf das Demokratieprinzip ohnehin achthaben, wenn sie wertende Entscheidungen des Gesetzgebers ihrerseits (juridisch) bewerten.487 Im Rahmen der Angemessenheit sind die (verbliebenen)488 Zwecke und das Mittel zunächst, in einem ersten Schritt, abstrakt zu bewerten. Die für diese Untersuchung interessante Konstellation ist die, dass das gewählte Mittel kosteneffizienter, aber freiheitsineffizienter ist. Bei der abstrakten Bewertung des fiskalischen Zwecks wird teilweise im Ideenhimmel nach den Sternen gegriffen, um die Haushaltsmittelschonung mit globaler Grundrechts­ effektuierung aufzuladen.489 Zwar besitzen die gesetzgeberische Haushaltsautonomie und ihr dienende fiskalische Zwecke Verfassungsrang, doch angesichts der Bedeutung der Haushaltsautonomie (bloß) als Grundrechtsrealisierungschancenverteilungsrecht keinen, der die Grundrechte selbst überragt.490 Im zweiten Schritt sind Zwecke und Mittel konkret zu bewerten; sie müssen kontextualisiert491 werden. Im Wesentlichen bedeutet dies, die (hier nicht zu vertiefende) konkrete Eingriffsintensität des Mittels (den Freiheitsschwund) und den konkreten Wirkungsgrad des Mittels bezüglich der Zweckerreichung zu benennen. Auf den Kostenvermeidungszweck gemünzt gilt es, die allgemeine Haushaltslage des das Mittel einsetzenden Grundrechtsverpflichteten grob zu umreißen und offenzulegen, inwiefern das gewählte Mittel (in dieser Situation) fiskalisch zuträglich ist.492 Die Haushaltslage des Grundrechtsverpflichteten ist relevant, weil von ihr zweierlei zusammenhängende Größen abhängen: Zum einen wächst, je näher der betroffene Haushalt dem „Bankrott“ kommt (unabhängig davon, wie genau man diesen definiert [häufig wird damit eine Verschuldung gemeint sein, die es dem Staat unmöglich macht, Kredite zu bedienen und weitere Finanzmittel zu beschaffen]) das Gewicht des Kostenvermeidungszweckes an. Zum anderen wird der Sparsamkeitszweck bei einer gleich hohen Einsparung stärker gefördert, wenn der betroffene Haushalt kleiner ist (absolut wird die gleiche 486  Mahnung zur Offenlegung von Bewertungskriterien im Rahmen der Angemessenheitsprüfung bei V. Epping, Grundrechte, 8. Auflage, 2019, Rn. 60. 487  Siehe verwandtermaßen zur Beschränkung auf eine Evidenzkontrolle Fn. 330. 488  Wenn das gewählte Mittel in Bezug auf einen Zweck gänzlich ungeeignet ist, bleibt dieser außer Betracht, selbst wenn der Gesetzgeber ihn ausdrücklich als verfolgt ansieht. Zur Außerbetrachtlassung von Zwecken auch Fn. 445. 489  Siehe Abschnitt B. I. 490  Siehe Abschnitte B. III. und B. IV. 491  Nicht im Bedeutungsgehalt von O. Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, S. 793. Siehe dazu Abschnitt B. III. ab Fn. 72. 492  Siehe Abschnitt C. II. 3. b) bb).



III. Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung131

Summe eingespart, relativ indes eine größere). Die Berücksichtigung des Haushaltszustandes ermöglicht im äußersten Falle auch, Krisensituationen adäquat zu begegnen, in denen der „Vorbehalt des Möglichen“ relevant werden könnte493. Die konkrete fiskalische Zuträglichkeit, den konkreten Grad der Zweckerreichung zu bestimmen, dies ist alles andere als trivial. Vorbehaltlich besonderer Umstände dürfte es fiskalischen Zwecken am dienlichsten sein, Erträge zu maximieren, respektive Kostenaufwand zu minimieren. Sofern das gewählte Mittel Kosten verursacht (etwa, weil der konkrete Grad der „Hauptzweck“-Erreichung stets Mittelaufwandes bedarf), wird der konkrete Grad der Zweckerreichung bezüglich des fiskalischen Zwecks nicht bereits dadurch dargetan, dass der Kosteneinsatz dokumentiert wird. Allein der Vergleich mit dem freiheitseffizienteren Alternativmittel offenbart, wie viele Kosten das gewählte Mittel spart: die Einsparung ist der Wirkungsgrad bezüglich des fiskalischen Zwecks.494 Insofern ist ein Subtraktionsverfahren notwendig. Die Kosten, die das gewählte Mittel verursacht, sind von den Kosten, die das freiheits­effizientere alternative Mittel in Rechnung stellen lässt, abzuziehen. Die Differenz ist die relevante Kosteneinsparung. Hier könnte man hellhörig werden. Es gilt schließlich das Dogma, dass Alternativmittel in der Angemessenheit nicht zum Vergleich herangezogen werden.495 Damit will man sicherstellen, dass eine Kontrollinstanz nicht die gesetzgeberische Wertungsentscheidung durch eine eigene mit dem Argument ersetzt, es gebe ein Mittel mit „besserem“ Effizienzgrad, was darein münden könnte, ein weniger effektives496 Mittel zu fordern, weil es freiheitsschonender sei. Vermieden werden soll eine „Beweisführung“, in der eine vollständige Zweck-Mittel-Relation sowohl auf Seiten des gewählten als auch des alternativen Mittels vorgenommen wird (und sei es gedanklich), um anschließend eine willkürliche497 Entscheidung zu fällen, welches Mittel „gerechter“ sei. Dazu ist der Gesetzgeber berufen, dessen Entscheidung, ob der hehren Legitimation, weitgehenden Vertrauensvorschuss zu genießen hat. 493  Umfassend V. Mehde, Grundrechte unter dem Vorbehalt des Möglichen, 2000 (zu Schwächen der Schrift Th. Wischmeyer, Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 26 bei Fn. 97). 494  Sofern finanzielle Erwägungen eine Ungleichbehandlung rechtfertigen sollen, wird ebenfalls ein konkreter Nachweis des Umfanges der finanziellen Belastung des Staates (die auch in einer Kosteneinsparung im Vergleich zu einer Gleichbehandlung liegen kann) gefordert (siehe Fn. 108 sowie U. Kischel, in: BeckOK Grundgesetz, Volker Epping/Christian Hillgruber [Hrsg.] 41. Edition, Stand: 15.5.2019, Art. 3 Rn. 65 mit Nachweisen). 495  Statt vieler Th. Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015, S. 62–63. Vgl. Fn. 428. 496  Oder gleich effektives, aber dafür teureres, wenn man Kostenvermeidung nicht als Zweck bezeichnet. 497  Siehe Fn. 177.

132

D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

Im Grunde wendet man sich folglich gegen rechtspolitisch motivierte judikative Präjudiz-498 oder gar Rechtssetzung, respektive Rechtsvernichtung.499 In dem vorgestellten Modell findet das indes nicht statt. Zuallererst bleibt der Wirkungsgrad bezüglich des „Hauptzwecks“ gänzlich unangetastet. Problematischer ist freilich das Subtraktionsverfahren.500 Indem die Differenz der Kostenposten errechnet wird, wird jedoch letztlich nur der Wirkungsgrad des gewählten Mittels bezüglich des fiskalischen Zwecks ermittelt und daher eine Dimension des gewählten Mittels sachgemäß isoliert.501 Es wird also wiederum nicht an der Zwecksetzungshoheit des Gesetzgebers gerührt, nur muss die konkrete Zweckförderung auch bestimmt werden, um abwägen zu können, ob sie den (zusätzlichen) Freiheitseingriff wert ist. Fraglich ist nicht, ob eine Differenz gebildet wird, sondern wie, konkreter, welches Alternativmittel als „Minuend“ herangezogen wird. Intuitiv spricht einiges dafür, das498  Gemeint sind Vorschläge für eine Gesetzesänderung, die das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber unterbreitet. Sie weisen dadurch, dass sie von dem für eine etwaige Verwerfung zuständigen Organ gemacht werden, eine starke Überzeugungskraft auf, zumal die Wahrscheinlichkeit einer späteren Verwerfung gering wirkt. 499  In Zeiten, in denen Initiativen seitens des Bundesverfassungsgerichts für eine Verfassungsänderung am Rande einer Urteilsverlesung unterbreitet werden (nach M.  Kloepfer, Parteienfinanzierung und NPD-Urteil. Zum Ausschluss der staatlichen Teilfinanzierung für verfassungsfeindliche Parteien, NVwZ 2017, S. 913 [916 Fn. 34] stellte Bundesverfassungsgerichtspräsident A. Voßkuhle den Entzug der staatlichen Finanzierung als Sanktionsmöglichkeit für verfassungsfeindliche Parteien, die ob mangelnder Wahrscheinlichkeit der Erreichung ihrer Ziele nicht verboten werden können, nur mündlich in den Raum. Obschon dieser Vorschlag keine Rechtsverbindlichkeit habe und keine „authentische Entscheidungsinterpretation“ darstelle, sei eine gewisse faktische Wirkung nicht von der Hand zu weisen [916 Fn. 34]. Laut J. Ipsen, in: Michael Sachs [Hrsg.] Grundgesetz. Kommentar, 8 Auflage, 2018, Art. 21 Rn. 212, ist der verfassungsändernde Gesetzgeber mit dem 61. Änderungsgesetz zum Grundgesetz vom 13.07.2017 [BGBl. I 2346] diesem Hinweis gefolgt.) und „verfassungskonforme Auslegungen“ (siehe dazu Fn. 402) bedenkliche Ausmaße erreicht haben, wäre es vielleicht wenigstens das kleinere Übel, wenn Alternativmittel lediglich maßstabsbildend-vergleichend – noch dazu offen im Urteil – erörtert würden, was nur dazu diente, eine verfassungsrechtliche Grenze aufzuzeigen, die von dem gewählten Mittel gerissen worden sein könnte. 500  Man könnte auch eine „Nachvollziehbarkeitskontrolle“ samt „Darlegungslast des Gesetzgebers“ nach Ch. Hillgruber, Grundrechtsschranken, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Auflage, Band IX, 2011, § 201 Rn. 85–90, durchführen. Dann wäre vom Gesetzgeber zu fordern, dass er die ersparten Aufwendungen grob beziffere, was von Gerichten, angesichts der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, nur auf Plausibilität zu überprüfen wäre. Dem Grundgesetz kann jedoch keine Gesetzesbegründungspflicht (siehe Fn. 450) entnommen werden, sodass eben jene Darlegungslast abzulehnen ist. 501  Aus diesem Grund können alternative Mittel bei nichtfiskalischen Zwecken im Rahmen der Angemessenheitsprüfung gänzlich außer Betracht bleiben: ein Vergleich des gewählten Mittels mit ihnen ist nicht notwendig, um den Wirkungsgrad des ersteren anzugeben.



III. Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung133

jenige Alternativmittel zu bemühen, welches am freiheitsschonendsten ist und gleichzeitig alle nichtfiskalischen Zwecke genauso effektiv wie das gewählte Mittel zu fördern vermag (letzteres ist jedenfalls Bedingung). Dieses Mittel ist schließlich jenes, welches eine Nichterforderlichkeit jedes anderen Mittels hervorriefe, sofern der fiskalische Zweck außen vor bliebe.502 Zumindest in der Theorie existieren allerdings etliche weitere Alternativmittel, die unterschiedlich freiheitsschonender und zusammenfallend verschieden teurer wären. Indem man unter den freiheitseffizienteren, kostenineffi­zienteren Alternativmitteln das freiheitsschonendste herausgreift, isoliert man das Maß an Freiheitsschwund, welches zur Erreichung des „Hauptzwecks“ notwendig ist. Die darüberhinausgehende Freiheitseinbuße korrespondiert folgerichtig nur mit dem fiskalischen Zweck. Wiederum im Vergleich zu den fiskalischen Aspekten dieses Mittels wird ersichtlich, wie effektiv das gewählte Mittel den Fiskalzweck fördert. Damit sind alle Größen bekannt, mit denen die entscheidende Wertung zur Auflösung des dreipoligen Zielkonfliktes durchgeführt werden kann: ein Teil des Freiheitsschwundes ist isoliert zu der korrespondierenden konkreten „Hauptzweck“-Erreichung,503 der restliche Freiheitsschwund isoliert zu den konkreten fiskalischen Vorteilen ins Verhältnis zu setzen. Auf diese Weise wird die gesetzgeberische Entscheidung, anstatt des freiheitsschonendsten Mittels das kostengünstigere einzusetzen und damit der Maßnahme eine im Vergleich mit den Alternativmitteln ersichtlich werdende Zweckrichtung zu verleihen, nachgezeichnet, und, wie jede andere Zwecksetzung, anhand ihrer freiheitlichen Implikationen kontrolliert. Tabelle 11 Angemessenheit des gewählten Mittels Zweck-Mittel-Relation des gewählten Mittels – Lumbalpunktion Zwecke

Freiheitseinbuße Rechtfertigung – erste Phase

Z1: 100 % bezüglich Strafrechtspflege

1 % Gesundheitsrisiko

Rechtfertigung – zweite Phase Z2: 600 € „billiger“

502  Worauf

9 % Gesundheitsrisiko

es zwar nicht ankommt, doch die Intuition zu erklären vermag. im Übrigen nur virulent werde dürfte, wenn die Angemessenheit zwischen „Hauptzweck“ und Freiheitseingriff ernstlich in Zweifel zu ziehen ist. 503  Was

134

D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

Im Liquorentnahme-Beispiel504 gilt es also zunächst abzuwägen, ob das Risiko, mit der Lumbalpunktion in 1 % der Fälle Kopfschmerz, Rückenschmerz und Übelkeit herbeizuführen, angesichts der konkreten Förderung der Strafrechtspflege zumutbar ist.505 Eingedenk des Alternativmittels „Okzipitalpunktion“ ist nur dieses Gesundheitsrisiko zur Förderung der Strafrechtspflege vonnöten, weshalb dieser legitime Zweck auch nur dieses Maß an Freiheitseinbuße rechtfertigen kann. Unabhängig von dieser Entscheidung ist die (bejahendenfalls) sodann anzustellende Abwägung, ob ein neunprozentiges Gesundheitsrisiko, also Nebenwirkungen bei 13.500 Betroffenen, durch die Einsparung von 90 Mio. €506 gerechtfertigt ist. Eine Positionierung ist an dieser Stelle zweitrangig und hinge nicht zuletzt von der Haushaltslage ab. Wichtig ist nur, dass diese Verhältnisse507 und, noch elementarer, die wirklichen Gesetzeszwecke überhaupt erkannt, offengelegt und in die Abwägung eingespeist werden. Der Grund für die Abschichtung liegt darin, dass, wenn man dies nicht tut, Werte ins Verhältnis gesetzt zu werden drohen, von denen einer der eigentliche Gegenpol zu einem ganz anderen Wert ist. Mit welchem Argument könnte man eine zweite Zweck-Mittel-Relation für verfehlt erklären, wenn man mit den Kosten eines Mittels einen weiteren zu wahrenden Zweck einführte und damit ein dreipoliges Verhältnis schüfe (ob der Zweck nun als solcher verbal geäußert wird oder die Erforderlichkeitsdefinition um ihn erweitert wird)? Eine Bündelung auf beiden Seiten („die Zweckförderung“ gegen „den Freiheitseingriff“) würde den „Hauptzweck“ regelmäßig übergewichten (allein hierfür wäre das gewählte Mittel nicht erforderlich, mithin verfassungswidrig) beziehungsweise die entscheidende Abwägung verschleiern, nämlich diejenige, welche die Kostenersparnis mit dem Stück Freiheit ins Verhältnis setzt, welches nun einmal wegen der Kostenersparnis genommen wird.508 504  Zum

Sachverhalt siehe Abschnitt C. I. in der historischen Liquorentnahme-Entscheidung sah sich das Bundesverfassungsgericht, etwas unangezeigterweise (siehe Fn. 147), zur Beantwortung der Frage, ob jedwede Liquorentnahme zumutbar sei, bemüßigt, was wiederum dartut, dass im Rahmen der Angemessenheitsprüfung selbst in Karlsruhe zuweilen auf Alternativmittel geschielt wird. 506  Als Variablen wurden 150.000 Einsätze und Mehrkosten in Höhe von 600 € gewählt. 507  Dass das erste Verhältnis (Strafrechtspflege–1%iges Gesundheitsrisiko) im Alternativmittel enthalten ist, ist unschädlich. Insoweit sind gewähltes und alternatives Mittel schlicht deckungsgleich, weshalb keineswegs das alternative Mittel auf seine Angemessenheit hin überprüft wird. 508  Freilich darf man in aller Regel nicht die Kostenersparnis allein gegen den Freiheitseingriff in seiner vollen Intensität abwägen. Das würde die Bedeutung des „Hauptzwecks“ verkennen. 505  Sogar



III. Beispielhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung135

Mit anderen Worten: Der Grund, warum das einschneidendere Mittel gewählt wurde, ist und bleibt die Kostenersparnis. Das kann in Anbetracht des dahinterstehenden Verfassungsgutes auch durchaus zur Rechtfertigung von Freiheitseingriffen gereichen. Man muss allerdings erkennen, dass, wenn schon freiheitsschonenderen Mitteln eine Absage wegen ihres Teurer-Seins erteilt wird, man fiskalische Interessen zunächst eindeutig über die Freiheit der Grundrechtsberechtigten stellt. Man befindet sich in dem dreipoligen Verhältnis „Hauptzweck“–„Nebenzweck“–Freiheit schlicht in einem Zielkonflikt: Es können nicht alle drei Pole erreicht werden. Das Problem liegt in der Auflösung dieses Zielkonfliktes. Nach überzeugenderer Lesart ist jedenfalls der Wirkungsgrad bezüglich des „Hauptzwecks“ unantastbar. Jedes alternative Mittel, das diesbezüglich weniger förderlich ist, hat im Rahmen der Erforderlichkeit keine Auswirkungen auf das gewählte Mittel. Indem man das Teurer-Sein als Ausschlusskriterium heranzieht, erklärt man die Förderung des Fiskalzwecks ebenso für maßstabsbildend. Die dritte und letzte Priorität ist die Freiheit des Betroffenen. Es dünkt nicht sonderlich überzeugend, (nur) die staatliche Maßnahme, die in genau diesen Konflikt („Geld gegen Freiheit“) mündet, einer Kontrolle im Wege einer Abwägung zu entziehen (wobei der Verdacht fast schon ärgerlich nahe liegt, dass derartige Abwägungen ohnehin verdecktermaßen durchgeführt werden [es sei an das Argument der nicht „zumutbaren“ finanziellen Mehrbelastungen erinnert])509 – und zwar stets zulasten der Freiheit. Es kann demzufolge eigentlich nur um die Frage gehen, wie man die Kostenersparnis mit der auf sie entfallenden Freiheitseinbuße ins Verhältnis setzt. Das vorgeschlagene Modell besitzt den Charme, an tradierte und bewährte Vorgehensweisen anknüpfen, und so für eine vertraut-nachvollziehbare Struktur sorgen zu können.510 Die zweistufige Abwägung muss dabei nicht schematisch-mathematisch erfolgen. Ihre Vorteile kommen bereits bei einer rein versprachlichten Vorgehensweise zur Geltung.511 Zur Verdeutlichung mögen die folgenden Grafiken dienen, wobei die schraffierten Flächen die ins Verhältnis zu setzenden Beziehungen zwischen „Hauptzweck“ und korrespondierender Freiheitseinbuße sowie „Nebenzweck“ und 509  Siehe zur Rechtsprechung C. II. 1. a). R. Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns. 1989, S. 63–64, schreibt von „apokryphen Abwägungen“ (siehe unter C. II. 2. c) aa) bei Fn. 314). 510  Letztlich sind die überkommenen Kriterien der Erforderlichkeit (Gleicheignung und Milde) auch willkürlich, weshalb keine kategorischen Einwände gegenüber einer verbalen Erweiterung der Erforderlichkeitsdefinition geltend gemacht werden können. Dazu, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung eine „Erfindung“ sei, siehe bei und in Fn. 332. 511  Zur Kritik an einer rein arithmetischen Abwägung jüngst T. Mori, Wirkt in der Abwägung wirklich das formelle Prinzip?, Der Staat 58 (2019), S. 555.

136

D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

korrespondierender Freiheitseinbuße für den Fall, dass das gewählte Mittel den „Hauptzweck“ (Z1) gleich gut, den „Nebenzweck“ (Kos­tenersparnis – Z2) jedoch besser fördert als ein milderes Alternativmittel, darstellen. Phase 1: 100

Z1

80 60 40 20

Gewähltes Mittel

0

Alternativmittel

Freiheitseinbuße

Z2 (Kosteneinsparung)

Phase 2: 100

Z1

80 60 40 20

Gewähltes Mittel

0

Alternativmittel

Freiheitseinbuße

Z2 (Kosteneinsparung)

Grafischer Vergleich 4: Angemessenheitsprüfung – Phasen 1 und 2

In Phase 1 der Angemessenheitsprüfung wird das zur Erreichung von Z1 („100“) erforderliche Maß an Freiheitseinbuße (also gerade nicht die vom gewählten Mittel verursachte Freiheitseinbuße von „60“ [Wert auf der Skala der Grafik], denn Z1 ließe sich auch mit dem Alternativmittel erreichen), also die hypothetisch auch durch das Alternativmittel verursachten „20“, mit Z1 ins Verhältnis gesetzt. Es wird dort folglich die Zweck-Mittel-Relation („100“ Z1 zu „20“ Freiheitseinbuße) gebildet. Im Liquorentnahme-Beispiel512 entspricht dies der Ins-Verhältnis-Setzung von Förderung der Strafrechts512  Zum

Sachverhalt siehe Abschnitt C. I.



IV. Nachtrag137

pflege gegen eine einprozentige Wahrscheinlichkeit von Nebenbewirkung nebst schmerzhaftem Einstich. In Phase 2 wird dann das bezüglich Z1 „überschießende“ Maß an Freiheitseingriff („60“ [insgesamt durch gewähltes Mittel] – „20“ [hypothetisch ohnehin erforderlicher Eingriff] = „40“) mit den dadurch ersparten Kosten („80“ [Kosteneinsparung durch das gewählte Mittel] – „30“ [Kosteneinsparung durch das Alternativmittel] = „50“) ins Verhältnis gesetzt, da Z2 allein Grund für diesen überschießenden Eingriff ist. Zu bilden ist in Phase 2 mithin die Zweck-Mittel-Relation „50“ Z2 zu „40“ Freiheitseinbuße. In Phase 2 im Liquorentnahme-Beispiel513 ist die von den Variablen abhängige Kosten­ ersparnis gegen eine neunprozentige Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen abzuwägen. Diese entscheidende Frage übergeht man, wenn man gewohnt einphasig bloß „100“ Z1 zu „60“ Freiheitseinbuße ins Verhältnis setzt, da man dann den überschießenden Eingriff in Höhe von „40“ mit der Bedeutung des „Hauptzwecks“ – etwa Strafrechtspflege – zu rechtfertigen droht und unterschlägt, dass ein anderer Zweck – der „Nebenzweck“ Kostenersparnis – diese Freiheitseinbuße hervorruft.

IV. Nachtrag: Weitere beispielhafte Betrachtung aus aktuellem Anlass Nach der Fertigstellung des ursprünglichen Typoskriptes dieser Untersuchung gab es eine Entwicklung globalen, man wäre – wenn man dergleichen Bewertungen nicht besser dem späteren Rückblick vorbehielte – fast geneigt zu sagen: welthistorischen Ausmaßes, die auch juristisch begleitet und aufgearbeitet werden möchte. Die Rede ist von der „Corona-Pandemie“.514 Während diese Überlegungen niedergelegt werden (Ende April bis Anfang Mai 2020), ist die fachwissenschaftliche (virologische, epidemiologische) Erforschung des fraglichen (neuartigen) Coronavirus in vollem Gange.515 Schon 513  Zum

Sachverhalt siehe Abschnitt C. I. Bezeichnung beispielsweise https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktu elles/bund-laender-corona-1744306 (zuletzt abgerufen am 22.4.2020). Durch das „­severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“ (SARS-CoV-2) wird zuweilen ein Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom (SARS) hervorgerufen. Die Krankheit wird angesichts des verursachenden Virus „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) genannt (siehe R. Lassaunière u. a., Evaluation of nine commercial SARS-CoV-2 immunoassays, Vordruck unter https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.04.09.20 056325v1.full.pdf [zuletzt abgerufen am 23.4.2020], S. 2). Weitere Informationen unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html (zuletzt abgerufen am 22.4.2020). 515  Zum Umgang mit der daraus resultierenden Unsicherheit auch G. Frankenberg unter https://verfassungsblog.de/covid-19-und-der-juristische-umgang-mit-ungewiss heit/ (zuletzt abgerufen am 5.1.2020). 514  Zur

138

D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

aus diesem Grund sind endgültige juristische Aussagen zu „CoronaMaßnahmen“516 momentan nicht sinnvollerweise zu treffen. Vorschläge über konkrete (vorläufige) Maßnahmen wären in diesem Medium517 von der Realität überholt und überrundet, bevor sie irgendeinen Adressaten erreichen könnten. Es soll vielmehr gezeigt werden, dass die staatlichen Maßnahmen gegen die Coronavirusausbreitung, von Ch. Möllers als „der massivste kollektive Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik“ be­ zeichnet,518 bruchlos mit dem vorgestellten Modell erfasst und verarbeitet werden können.519 Die Coronavirus-Pandemie fungiert sogar als Brennglas,520 da anlässlich ihrer Maßnahmen getroffen wurden und werden, bei denen verhältnismäßigkeitsdogmatische Beziehungen besonders deutlich beobachtet werden können. 516  So der teilweise durch die Bundesregierung verwendete Sammelbegriff (siehe beispielsweise https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bund-laender-coro na-1744306 [zuletzt abgerufen am 22.4.2020]). 517  Recht kleinteilige Vorschläge (etwa zu möglichen Sitzordnungen in Kirchen [„jede zweite Reihe frei und mit Sitzabstand“ ]) von O. Lepsius finden sich etwa in einem internetbasierten Medium unter https:// verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtlicher-denkkategorien-in-der-coronapandemie/#primary_menu_sandwich (zuletzt abgerufen am 22.4.2020). 518  Ch. Möllers unter https://verfassungsblog.de/parlamentarische-selbstentmaech tigung-im-zeichen-des-virus/ (zuletzt abgerufen am 22.4.2020). 519  Die Verhältnismäßigkeit ist, so viel ist schon absehbar, nur ein Maßstab für die Bewertung der Infektionsschutzmaßnahmen (§ 28 Abs. 1 IfSG, die zentrale Rechtsgrundlage, wird ferner teilweise als zu unbestimmt und nicht der Wesentlichkeitslehre genügend kritisiert [A. Edenharter plädiert unter https://verfassungsblog.de/freiheits rechte-ade/ wohl für eine einschränkende verfassungskonforme Auslegung zur Wahrung des Bestimmtheitsgrundsatzes; im Ergebnis ablehnend mit Nachweisen zur gegenteiligen Ansicht St. Rixen, Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise – Die (Neu-)Regelung des Infektionsschutzgesetzes, NJW 2020, S. 1097 ]). Das hiesige Modell kann schon aus diesem Grund nur einen Teil zur (verfassungs-)rechtlichen Aufarbeitung beitragen. Auch bestimmte verhältnismäßigkeitsdogmatische Fragestellungen, wie der Umgang mit faktischer Unsicherheit (man denke an die bestreitbare Wirksamkeit von Ausgangsbeschränkungen [siehe A. Edenharter unter https://verfassungsblog.de/freiheitsrechte-ade/ ] und die fragliche Immunisierung nach einmaliger Infizierung), allgemeiner die Ex-ante-Verhältnismäßigkeit gefahrenvorsorgender und -bekämpfender (vgl. zu diesem Charakter der epidemiologischen Maßnahmen mit weiterführenden Hinweisen St. Rixen, Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise – Die (Neu-)Regelung des Infektionsschutzgesetzes, NJW 2020, S. 1097 [1097, 1099–1100]) Mittel – relevant hierfür ist zum Beispiel der Entscheidungs- und Prognosespielraum des jeweils handelnden Staatsorgans (siehe Fn. 5) – mussten in dieser Untersuchung außen vor bleiben, bedürfen in der Coronavirus-Pandemie freilich nichtsdestominder der Aufmerksamkeit. 520  Diese Metapher bemüht auch H. Kube unter https://verfassungsblog.de/lebenin-wuerde-wuerde-des-lebens/ (zuletzt abgerufen am 1.5.2020) für das gesamte Verfassungsrecht.



IV. Nachtrag139

1. Sachverhalt Die ungewisse Faktenlage erheischt die Formulierung eines vereinfachten, dafür eindeutigen Sachverhaltes, woran das Instrumentarium zur juristischen Begutachtung angelegt werden kann.521 Coronavirus-Beispiel: Es bricht eine Coronavirus-Pandemie aus. Die durch das Virus ausgelöste übertragbare Krankheit nimmt teilweise einen Verlauf, der eine intensivmedizinische Behandlung mit einem Beatmungsgerät zur Verhinderung des Todes beansprucht. Ergriffe der Staat keine viruseindämmenden Maßnahmen, infizierte sich nahezu die gesamte Bevölkerung innerhalb weniger Wochen. In diesem Fall reichten die medizinischen Ressourcen (bei weitem) nicht aus, um jedem Intensivpatienten die Versorgung zuteilwerden zu lassen, die den Exitus verhinderte. Es stürben dann zwei Millionen Menschen (oder ungefähr 2,4 % der Bevölkerung, womöglich zu großen Teilen Angehörige der „Risikogruppe“ [im Wesentlichen über 60-Jährige und Vorerkrankte]).522 Vor diesem Hintergrund erlässt der Bund523 ein (bis auf die in Frage stehende Verhältnismäßigkeit verfassungsgemäßes) Gesetz,524 wodurch und aufgrund dessen weitreichende Quarantänemaßnahmen 521  Aus

diesem Grund ist er nicht als Zynismus misszuverstehen. einem ähnlichen hypothetischen Verlauf https://www.quarks.de/gesell schaft/wissenschaft/darum-ist-die-corona-pandemie-nicht-in-wenigen-wochen-vorbei/ (zuletzt abgerufen am 23.4.2020). 523  Für den Vollzug der infektionsschutzrechtlich wohl wichtigsten Ermächtigungsgrundlage, des § 28 IfSG (BGBl. I 2000, S. 1045), sind nach Art. 83 GG, § 54 IfSG tatsächlich die Länder zuständig. 524  In Wirklichkeit wurden und werden auf allen föderalen Stufen Infektionsschutzmaßnahmen getroffen: Das IfSG wurde durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27.3.2020 (BGBl. I 2020, S. 587) geändert. § 5 Abs. 2 IfSG enthält nunmehr eine (möglicherweise gegen Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG verstoßende [§ 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG lässt beispielsweise Ausnahmen von dem gesamten IfSG durch Rechtsverordnung zu]) weitreichende Anordnungs- und Verordnungsermächtigung des Bundesministeriums für Gesundheit (hierzu St. Rixen, Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise – Die (Neu-)Regelung des Infektionsschutzgesetzes, NJW 2020, S. 1097 [1102–1103]), die tatbestandlich die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Bundestag (§ 5 Abs. 1 S. 1 IfSG) vo­ raussetzt. Der Bundestag hat diese Feststellung vor, aber „mit Inkrafttreten“ von § 5 Abs. 1 S. 1 IfSG getroffen (siehe Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 19/154, S. 19169, C), was der Wirksamkeit der Feststellung nicht im Wege stehe (so zumindest M. Meßling, Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27.3.2020, NZS 2020, S. 321 [322], obwohl es „noch keine gesetzliche Grundlage“ für den Bundestagsbeschluss gab. Das ist höchstens im Ergebnis richtig. Sicherlich hatte der Bundestag vor Inkrafttreten des § 5 Abs. 1 S. 1 IfSG eine Rechtsgrundlage, einen entsprechenden Beschluss zu fassen: die Verfassung, man denke an „einfache“ oder „schlichte“ Parlamentsbeschlüsse [siehe nur S. Magiera in: Michael Sachs , Grundgesetz. Kommentar, 8. Auflage, 2018, Art. 42 Rn. 8]. Man könnte indes darüber diskutieren, ob die Tatbestandsvoraussetzung „Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ auch durch in der Vergangenheit 522  Vgl. zu

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D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

verhängt werden, in erster Linie eine (mit wenigen, zu vernachlässigenden Ausnahmen versehene) allgemeine Ausgangsbeschränkung (Ausgangssperre)525. Das Gesetz differenziert nicht zwischen Immunisierten und Nichtimmunisierten.526 In gefasste Beschlüsse erfüllt ist – und damit einer erklecklichen Ermächtigung der Exekutive Bahn bricht. Man kann den Tatbestand von § 5 Abs. 1 S. 1 IfSG in diesem Falle wohl bejahen, weil der Bundestag ausdrücklich den Willen gefasst und bekundet hat, eine entsprechende Feststellung mit Geltung für die Zukunft zu treffen, zumal der Bundestag auf das eben beschlossene Gesetz Bezug nahm, nach § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG die Feststellung schlicht aufheben könnte und nichts kategorisch dagegen spricht, Rechtsfolgen an vergangene Sachverhalte zu knüpfen). Von der Ermächtigung aus § 5 Abs. 2 IfSG machte das Ministerium kurz nach Inkrafttreten mehrfach Gebrauch (vgl. nur die Anordnungen gemäß § 5 des Infektionsschutzgesetzes nach Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Bundestag vom 8.4.2020, BAnz AT 9.4.2020 B7, S. 1, I., wonach Einreisende und unter Absonderung nach § 30 Abs. 1 S. 2 IfSG Stehende verpflichtet sind, unter anderem ihre Identität samt Geburtsdatum und Reiseroute bekannt zu geben). Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat mit § 4 Abs. 1 S. 2 der Verordnung der Landesregierung über Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Mecklenburg-Vorpommern vom 17.3.2020 (GVOBl. M-V S. 82) „touristische Reisen in das Gebiet des Landes Mecklenburg-Vorpommern“ untersagt, um nur ein Beispiel dieser föderalen Stufe zu nennen. Das Landratsamt Tirschenreuth (Bayern) hat eine allgemeine Ausgangssperre als Allgemeinverfügung (vgl. Amtsblatt des Landkreises Tirschenreuth 2020, Az. 093/121, S. 29) auf § 28 Abs. 1 S. 1, 2 IfSG a. F. in Verbindung mit § 65 S. 1 der bayerischen ZustV (GVBl. 2015 S. 184 [mit zwischenzeitlichen Änderungen] stützen wollen. A. Edenharter meint unter https://verfassungsblog.de/freiheitsrechte-ade/ (zuletzt abgerufen am 24.4.2020), dass § 28 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 IfSG a. F. nur vorübergehende Maßnahmen erfasse („bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind“; dazu schon A. Klafki unter https://www.juwiss.de/27-2020/ [zuletzt abgerufen am 24.4.2020]) und dieses Vorgehen, rechtsstaatlichen Grundsätzen genügend, nicht auf einer Generalklausel wie dem § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG a. F. beruhen dürfe. Die Einschränkung für Ausgangs- und Betretungsverbote „bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind“ besteht für Ausgangs- und Betretungsverbote nach § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG n. F. nicht mehr. Siehe zum Vergleich von alter und neuer Fassung des § 28 Abs. 1 IfSG St. Rixen, Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise – Die (Neu-)Regelung des Infektionsschutzgesetzes, NJW 2020, S. 1097 (1098–1099), der auch nach alter Rechtslage langfristige Ausgangsbeschränkungen auf Grundlage der Generalklausel zulassen wollte; zur Möglichkeit, § 28 Abs. 1 IfSG mittels einer Allgemeinverfügung zu vollziehen, St. Rixen, Gesundheitsschutz in der CoronavirusKrise – Die (Neu-)Regelung des Infektionsschutzgesetzes, NJW 2020, S. 1097 (1100). 525  Der wirkliche Maßnahmenkatlog von Bund und Ländern ist deutlich vielgestaltiger (siehe überblickshaft sowohl Fn. 524 als auch St. Rixen, Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise – Die (Neu-)Regelung des Infektionsschutzgesetzes, NJW 2020, S. 1097 [1098]). Die staatsorganisationsrechtlichen, nicht zuletzt die föderalen Zusammenhänge des Maßnahmenkataloges öffneten allerdings ein zu weites Feld, als dass es hier bestellt werden könnte. Eine Ausgangssperre mittels einer landesrechtlichen Rechtsverordnung wurde durch VerfGH Saarland, Beschl. v. 28.4.2020, Lv 7/20, teilweise außer Vollzug gesetzt. 526  Eine Differenzierung wird tatsächlich immer wahrscheinlicher. So hat das Bundeskabinett am 29.4.2020 einen („als Formulierungshilfe für die Fraktionen der CDU/



IV. Nachtrag141 Wirklichkeit sind einmal Infizierte vor einer zukünftigen Infektion geschützt und können das Virus auch nicht weiterverbreiten. Ist das Gesetz verhältnismäßig?527

CSU und SPD für einen aus der Mitte des Deutschen Bundestages einzubringenden“ [das heißt wohl der Sache nach: zur Umgehung des Art. 76 Abs. 2 GG]) Entwurf eines Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (vgl. zum bereits in Kraft getretenen [ersten] so überschriebenen Gesetz] Fn. 524) beschlossen (https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/S/Entwurf_Zweites_Ge setz_zum_Schutz_der_Bevoelkerung_bei_einer_epidemischen_Lage_von_nationaler_ Tragweite.pdf [zuletzt abgerufen am 5.5.2020]). Darin ist eine neuer § 22 Abs. 5 IfSG vorgesehen, der die reine Impfdokumentation um eine Immunitätsdokumentation erweitert (S. 20 des Entwurfs). Weiter schlägt der Entwurf (S. 21) eine Neufassung des § 28 Abs. 1 IfSG vor. Der einzufügende neue Satz 3 schreibt vor, dass bei der Anordnung und Durchführung von Schutzmaßnahmen nach § 28 Abs. 1 S. 1, 2 IfSG (zu Beispielen von Maßnahmen auf dieser Grundlage Fn. 524) zu berücksichtigen ist, ob und inwieweit eine Person, die eine bestimmte übertragbare Krankheit, derentwegen die Schutzmaßnahmen getroffen werden, nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft wegen eines bestehenden Impfschutzes oder einer bestehenden Immunität nicht oder nicht mehr übertragen kann, von der Maßnahme ganz oder teilweise ausgenommen werden kann, ohne dass der Zweck der Maßnahme gefährdet wird. Werden solche Ausnahmen für Personen, welche die fragliche Krankheit nicht mehr übertragen können, geschaffen, haben diese Personen nach dem neuen § 28 Abs. 1 S. 4 IfSG mithilfe der Impf- oder Immunitätsdokumentation beziehungsweise eines ärztlichen Zeugnisses nachzuweisen, dass sie die Krankheit nicht oder nicht mehr übertragen können. Der Bundesgesundheitsminister hat, offenbar nicht ungerührt von Protesten der SPD (so zumindest D. Neuerer unter https://www.handelsblatt.com/politik/ deutschland/kampf-gegen-corona-spahn-stoppt-plaene-fuer-immunitaetsausweis-nachprotesten/25801000.html?ticket=ST-2682741-YgeBIfyTgP0dku9eJg9f-ap6 [zuletzt abgerufen am 5.5.2020]) sowie der öffentlichen Kritik (siehe beispielsweise V. BoehmeNeßler unter https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-05/immunitaetsausweis-corona virus-antikoerpertest-grundrechte-verfassungsrechtler-volker-boehme-nessler [zuletzt abgerufen am 5.5.2020]), eine Stellungnahme durch den Deutschen Ethikrat zu einer Immunitätsdokumentation und ihren Konsequenzen erbeten (der Öffentlichkeit wurde dies [soweit ersichtlich] als erstes auf der Internetplattform „Twitter“ mitgeteilt [unter https://twitter.com/jensspahn/status/1257316503185027083 ]). 527  Art. 3 Abs. 1 GG wird hier (wie sonst auch in dieser Abhandlung) nicht als Maßstab für die Beispielsprüfung herangezogen, obwohl eine Tatbestandlichkeit (eine mögliche Ungleichbehandlung von Immunisierten und solchen Vergleichspersonen, die es nicht sind, könnte mithilfe des transitiven handlungsbezogenen Prädikats [siehe zu dieser Definition der Ungleichbehandlung S. Kempny/Ph. Reimer, Die Gleichheitssätze. Versuch einer übergreifenden dogmatischen Beschreibung ihres Tatbestands und ihrer Rechtsfolgen, 2012, S. 50–52; ablehnend zu sogenannten verbotenen Gleichbehandlungen, die manchen im dargestellten Beispiel in den Sinn kommen könnten, ebd. S. 68–71] „erlässt gegenüber [jemandem] eine Ausgangssperre mit Rücksicht auf dessen Ansteckungsrisiko“ bestimmt werden) nahe liegt; die Rechtfertigung hinge voraussichtlich von der freiheitsrechtlichen Beurteilung ab.

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D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

2. Legitimer Zweck, Geeignetheit Gerade wenn es nahe liegt, der Staat „bekämpfe“528 mit jeder Maßnahme monumentale, existenzielle (oder anderweit superlative) Gefahren, und ein „typisch deutsch[es]“ Staatsvertrauen begrüßt wird529, ist eine umso präzisere, nüchternere Zweckbestimmung530 einer jeden Maßnahme von besonderer Bedeutung. Es wäre nämlich durchaus keine Kapitulation des Rechtes vor der Katastrophe, sondern Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgebotes, selbst tiefstgreifende Freiheitseingriffe als legitim anzusehen, wenn überragende Zwecke des Gemeinwohls sie geböten: je gewichtiger der Zweck, desto einschneidender darf das Mittel sein.531 Vor der Anforderung, das Leben von zwei Millionen Menschen zu retten, wirken Vorbehalte gegenüber Grundrechtseingriffen daher schnell als „kleinliche Rückfrage[n]“532 – dafür müsste es eben aber auch wirklich um den Lebensschutz gehen. Die Benennung der Zwecke, nicht nur von fiskalischen532a, ist (mit-)entscheidend dafür, ob Eingriffe, die bekannte und erfahrene Intensitätsskalen sprengen, gerechtfertigt sind oder nicht. Verhältnismäßigkeitsdogmatisch ist es daher zwingend, den Zweck einer jeden Maßnahme gesondert festzustellen, gerade weil die vorsteuernde Wirkung groß ist und auch das Abwägungsergebnis beeinflusst. 528  Zur Unangebrachtheit der verbreiteten Kriegsrhetorik P. Sloterdijk im Interview mit A. Soboczynksi, „Für Übertreibungen ist kein Platz mehr“, Die Zeit Nr. 16/2020, 8.4.2020, S. 47. 529  J. Roß, Captain Tom geht voran, Die Zeit Nr. 18/2020, 23.4.2020, S. 5, beschreibt wie die „Corona-Krise“ das Nationalgefühl wiederbelebt, während im nächsten Artikel (der Seitenzahlensprung ergibt sich durch eine doppelseitige Werbeanzeige) vom großen Aufschrei, der ob der Andeutung, „es könnten dieses Jahr vielleicht keine Bundesligaspiele mehr stattfinden“, aufkam, die Rede ist (siehe E. Rather, Die Krise der Frauen, Die Zeit Nr. 18/2020, 23.4.2020, S. 8). Offenbar hat die deutsche Staatshörigkeit wenigstens das Nachsehen gegenüber dem Fußball. Man sieht, die ([rechts-]wissenschafts-)soziologischen (zum „Ausnahmezustand im juristischen Denken“ O. Lepsius unter https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrecht licher-denkkategorien-in-der-corona-pandemie/#primary_menu_sandwich [zuletzt abgerufen am 22.4.2020]) und medientheoretischen (dazu das Interview mit P. Sloterdijk von A. Soboczynksi, „Für Übertreibungen ist kein Platz mehr“, Die Zeit Nr. 16/2020, 8.4.2020, S. 47) Forschungsdesiderate werden durch die CoronavirusPandemie allenthalben aufgedeckt beziehungsweise geschaffen. 530  Dieses Grundanliegen dieser Schrift fordert auch O. Lepsius unter https://ver fassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtlicher-denkkategorien-in-der-corona-pan demie/#primary_menu_sandwich (zuletzt abgerufen am 22.4.2020) prominent ein. 531  Der Wesensgehalt der Grundrechte im Sinne von Art. 19 Abs. 2 GG muss für eine Verfassungsmäßigkeit dabei unangetastet bleiben. 532  U. Di Fabio unter https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-trifft-libe rale-demokratie-grenzen-der-verfassung-16710755.html (zuletzt abgerufen am 23.4. 2020); Widerspruch von C. M. Hofmann unter https://verfassungsblog.de/verhaeltnis maessigkeit-mit-der-holzhammermethode/ (zuletzt abgerufen am 28.4.2020). 532a  Allgemein zum fiskalischen Kostenvermeidungszweck Abschnitt B. IV.



IV. Nachtrag143

Eine Zweckbestimmung für all die vielfältigen Glieder des Maßnahmenkatalogs muss an dieser Stelle unterbleiben, doch wäre die weitere Prüfung aus den eben genannten Gründen sinnlos, würde man den Zweck nicht wenigstens eingrenzen. Es ist indes zweifelhaft, dass die allgemeine Ausgangssperre (oder eine vergleichbare Maßnahme) kategorisch dem Gesundheits- oder gar Lebensschutz verschrieben ist. Aussagen politischer Akteure sind kaum anders zu verstehen, als hätte man (zunächst)533 mit der „Beschränkung von sozialen Kontakten“ schlicht die Vermeidung weiterer Anstrengungen bezweckt.534 Man könnte ferner argumentieren, Leben würden nur mittelbar geschützt, „unmittelbar“ solle die Überforderung des Gesundheitssystems vermieden, der Pandemieverlauf optimal gesteuert werden, „weil sonst jedwedes staatliches Handeln immer auch dem Lebensschutz diente, dann aber kein grundrechtlich […] handhabbares Ziel mehr wäre“.535 So sei das „Vermeiden von Ansteckungen“ auch nicht „Ziel der Eingriffe, sondern Mittel zur Steuerung“.536 533  So warnte der seinerzeitige Bundestagspräsident W. Schäuble in einem Interview mit R. Birnbaum/G. Ismar, Schäuble will dem Schutz des Lebens nicht alles unterordnen, Tagesspiegel vom 26.4.2020, online unter https://www.tagesspiegel.de/ politik/bundestagspraesident-zur-corona-krise-schaeuble-will-dem-schutz-des-lebensnicht-alles-unterordnen/25770466.html (zuletzt abgerufen am 27.4.2020) gut einen Monat nach Inkrafttreten der tiefstgreifenden Maßnahmen davor, dem Lebensschutz absolute Priorität einzuräumen – und vor einer Überlastung des Staates. Zu fiskalischen Aspekten der Maßnahmen noch D. IV. 3. und D. IV. 4. 534  Siehe nur https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/vereinbarung-zwi schen-der-bundesregierung-und-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-derbundeslaender-angesichts-der-corona-epidemie-in-deutschland-1730934 (zuletzt abgerufen am 29.4.2020). Das bedeutet nicht, dass allein „subjektive“, vom „historischen Gesetzgeber“ verfolgte Zwecke beachtlich seien (siehe Fn. 450). 535  So O. Lepsius unter https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrecht licher-denkkategorien-in-der-corona-pandemie/#primary_menu_sandwich (zuletzt abgerufen am 22.4.2020), der das Ziel „Lebensschutz“ überdies mit dem Argument ablehnt, dass dann zunächst alle Kraftfahrzeuge verboten werden müssten (anders als im Falle einer Virusinfektion liefert man sich den Gefahren durch Kraftfahrzeuge allerdings häufig selbstbestimmt aus, und sicherlich kennt die Rechtsordnung Eingriffe, die als Ziel den Lebensschutz verfolgen [man denke nur an die § 212, § 211 StGB], was bedeutet, dass auf die Gesetzeszwecke nicht durch einen Vergleich mit völlig unverbundenen unterlassenen „Alternativen“ geschlossen werden kann); ganz ähnlich G. Lübbe-Wolff nach H. Wefing, In der Altersfalle, Die Zeit Nr. 17/2020, 16.4.2020, S. 4 (kein „Schutz der individuellen Gesundheit […], sondern […] aller, denen bei einer Überlastung des Gesundheitssystems nicht geholfen werden kann“); „das Ziel, die Seuche einzudämmen“ und die „drohende[…] Belastung des Gesundheitssystems“ erkennt St. Rixen, Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise – Die (Neu-) Regelung des Infektionsschutzgesetzes, NJW 2020, S. 1097 (1101). 536  O. Lepsius unter https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtlicherdenkkategorien-in-der-corona-pandemie/#primary_menu_sandwich (zuletzt abgerufen am 22.4.2020).

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D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

Was soll man aus dem Dickicht von denkbaren Maßnahmen und Zwecken, Nah- und Fernzielen für die Verhältnismäßigkeitsprüfung als legitimen Zweck herausgreifen? Soziale Kontakte zu verhindern kann wohl kaum ernsthaft als Selbstzweck der Mittel bezeichnet werden, scheidet für die weitere Prüfung also aus. O. Lepsius trifft mit seinem „Steuerungszweck“ scheinbar die Strategie der Bundesregierung – die veraltete erste von bislang dreien.537 Er ersetzt das eine Fernziel (Gesundheits-/Lebensschutz) durch das nächste (Pandemiesteuerung); ist der „Lebensschutz […] der mittelbare ­Effekt des Steuerungszwecks“538, ist die Pandemiesteuerung der mittelbare Effekt des Ansteckungsvermeidungszwecks. Dass das Vermeiden von Ansteckungen nicht Mittel im Sinne der Verhältnismäßigkeitsprüfung sein kann, sieht man schon daran, dass der Staat sie nicht anordnen kann. Er kann nur Mittel zur Vermeidung von Ansteckungen ergreifen (mit welchem politischen Fernziel auch immer) – etwa Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen. Zumindest bei auf § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG gestützten Maßnahmen kommt man nicht umhin, sie an der „Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten“ zu messen.539 Normative Anknüpfungspunkte zu ergreifen ist keine Schande, sondern manchmal eine Wohltat. Unmittelbarstes (Zwischen-)Ziel ist es daher, Ansteckungen mit einem bestimmten Virus in der Gegenwart (im räumlichen Geltungsbereich der ergehenden Maßnahme) zu verhindern; hieran ist die Eignung der Maßnahme zu beurteilen. Ist das nicht ohnehin das im Gegensatz zur „optimalen[n] Steuerung des Pandemieverlaufs am Maßstab der medizinischen Kapazitäten“ das „grundrechtlich […] handhabbare[re] Ziel“540? Wären nicht ansonsten alle suboptimalen Maßnahmen ungeeignet? Und wie soll man – gerade bei größter Unsicherheit in einem dynamischen Prozess – wissen, was das ist, „optimal“? Bedenkenswert ist überdies, dass es – anders als im Corona­ virus-Beispiel541 – (je nach rechtspolitischem Standpunkt zum Föderalismus) 537  Siehe zu den (gemutmaßten) Strategien M. Lau, Versuch und Irrtum, Die Zeit Nr. 19/2020, 29.4.2020, S. 4. Inzwischen laute sie: „ ‚Mitigation‘, also in Schach halten, moderate Schutzmaßnahmen aufrechterhalten, mit dem Virus leben lernen.“ 538  O. Lepsius unter https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtlicherdenkkategorien-in-der-corona-pandemie/#primary_menu_sandwich (zuletzt abgerufen am 22.4.2020). 539  Siehe auch St. Rixen, Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise – Die (Neu-) Regelung des Infektionsschutzgesetzes, NJW 2020, S. 1097 (1101), der wegen § 1 Abs. 1 IfSG vertritt, dass „Hamsterkauf“-Verbote nicht auf das IfSG, aber unter Umständen auf andere sicherheitsrechtliche Ermächtigungsgrundlagen gestützt werden könnten. 540  Vgl.  O. Lepsius unter https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrecht licher-denkkategorien-in-der-corona-pandemie/#primary_menu_sandwich (zuletzt abgerufen am 22.4.2020). 541  Zum Sachverhalt Abschnitt D. IV. 1.



IV. Nachtrag145

einen Flickenteppich oder ein Mosaik einzelner Maßnahmen aller föderalen Ebenen zu beurteilen gilt.542 Die Verhältnismäßigkeit der einen Maßnahmen kann nicht anhand von Maßnahmen unabhängiger Rechtsträger gemessen werden.543 Beispielsweise wollte das Landratsamt Tirschenreuth Ansteckungen in der Stadt Mitterteich,544 nicht die Überlastung des Städtischen Krankenhauses Heinsberg verhindern545. Man muss – insofern ist die beispielhafte Auseinandersetzung mit der Coronavirus-Pandemie lehrreich und verallgemeinerbar – die einzelnen Maßnahmen folglich am nächstmöglichen Zweck messen.546 Allein, alle im weitesten Sinne dem Infektionsschutz dienenden Zwecke mögen es nicht zu rechtfertigen, nicht infektiösen Grundrechtsträgern547 etwa das Feiern von Gottesdiensten, Demonstrieren oder, so profan wie bedeutsam, Spazierengehen mit ihren Kindern548 zu verbieten. Gibt es, sobald ein verlässlicher Test verfügbar ist (bis dahin scheiterte jedwede Differenzierung 542  Beispiele in Fn. 524. O. Lepsius unter https://verfassungsblog.de/vom-nieder gang-grundrechtlicher-denkkategorien-in-der-corona-pandemie/#primary_menu_sand wich (zuletzt abgerufen am 22.4.2020) heißt den Föderalismus zur Pandemieeindämmung (mit beachtlichen Argumenten) gut. 543  Gleichheitsrechtlich ist es noch eindeutiger: Auch wenn nur manche Länder Buchhandlungen und Blumenläden schließen (vgl., wohl nicht streng dogmatisch gemeint, O. Lepsius unter https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrecht licher-denkkategorien-in-der-corona-pandemie/#primary_menu_sandwich [zuletzt abgerufen am 22.4.2020]), begeht Land A mit der Schließung dieser Läden keine Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG, weil Land B sie nicht schließt; es besteht keine Zurechnungsbeziehung zwischen Land A und B (vgl. S. Kempny/ Ph. Reimer, Die Gleichheitssätze. Versuch einer übergreifenden dogmatischen Beschreibung ihres Tatbestands und ihrer Rechtsfolgen, 2012, S. 60–61, mit Verweis auf die Eigenstaatlichkeit der Länder [ebd. S. 62]). 544  Siehe Fn. 524. 545  Der Kreis Heinsberg wies zu einem frühen Zeitpunkt der Pandemie eine vergleichsweise hohe Zahl von Angesteckten auf (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_im_Kreis_Heinsberg [zuletzt abgerufen am 22.6.2020]). 546  Der Ansteckungsvermeidungszweck mag einer „Primitivkausalität“ O. Lepsius unter https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtlicher-denkkategorien-inder-corona-pandemie/#primary_menu_sandwich [zuletzt abgerufen am 22.4.2020]) entsprechen, Folgefragen können jedoch in der Angemessenheit (auch mithilfe von Grundsätzen der normativen Zurechnung) beantwortet werden. 547  Es ist eine faktische Frage, die von Medizinern beantwortet werden muss, ob einmal Infizierte bis auf weiteres immun sind und das Virus auch nicht mehr weiterverbreiten können. Je größer die Unsicherheit, desto größer der gesetzgeberische Entscheidungsspielraum. Es spricht (dieser Tage) indes (wohl) einiges dafür, dass Infizierte immunisiert werden (siehe https://www.ndr.de/nachrichten/info/15-Corona virus-Update-Infizierte-werden-offenbar-immun,podcastcoronavirus136.html#gene sene [zuletzt abgerufen am 25.4.2020]). 548  Unverständnis gegenüber einem solchen Verbot äußert A. Edenharter unter ­https://verfassungsblog.de/freiheitsrechte-ade/ (zuletzt abgerufen am 24.4.2020).

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wohl an der faktischen Erkennbarkeit), „schlicht keine Rechtfertigung […], [Immunisierten] Kontaktsperren oder Ausgangsrestriktionen aufzuerlegen“549? Es scheiterte jedenfalls nicht an einem legitimen Zweck. Jedes Testverfahren kostete Geld und bände Verwaltungspersonal für die Kontrolle (um nur die fiskalischen Zwecke für Maßnahmen gegenüber Immunisierten zu nennen)550. Diese Ressourcen zu schonen ist genauso legitim, wie es das Verhindern von Ansteckungen ist – kurz gefasst: manche Maßnahmen verfolgen auch den unmittelbaren Zweck, Kosten zu vermeiden.551 Seien (nachgewiesenermaßen) Immunisierte auch infektionsschutzrechtliche „Nichtstörer“,552 sind Eingriffe in ihre Grundrechte aus diesem Anlass doch grundsätzlich möglich. Kosten zu vermeiden ist aber nicht nur Ziel von Maßnahmen gegenüber Immunisierten – die Einhaltung von kategorischen (etwa: Versammlungs-) 549  So wird G. Lübbe-Wolff von H. Wefing, In der Altersfalle, Die Zeit Nr. 17/2020, 16.4.2020, S. 4, wiedergegeben. Wenn ein funktionstüchtiger Test Bedingung dafür ist, dass Grundrechtsträger ihre Freiheit ausüben, liegt es (das nur am Rande) spiegelbildlich nicht fern, dass der Staat eine (Schutz-)Pflicht besitzt, die Entwicklung von Testverfahren zu fördern und, im Erfolgsfalle, anzuschaffen. 550  Eine Bevorzugung von Immunisierten setzte überdies den Anreiz, sich zu infizieren, und provozierte gegebenenfalls starken Unmut und Gesetzesnichtbefolgungslust bei Nichtimmunisierten. Dem vorzubeugen könnte ebenso bezweckt werden. 551  Siehe zum Kostenvermeidungszweck Abschnitt B. IV. Altbekannte Ansätze, die Schonung der Staatsfinanzen greifbar zu machen, tauchen während der CoranavirusPandemie (dem Publikationsmedium geschuldet knapp und wenig belegt) bei L. Munaretto unter https://verfassungsblog.de/die-wiederentdeckung-des-moeglichkeitshorizonts/ (zuletzt abgerufen am 1.5.2020) wieder auf: Zum Einen müsse der „ ‚Vorbehalt des Möglichen‘ “ (dazu in dieser Studie Fn. 148 sowie bei und mit Fn. 493) wiederentdeckt werden, „wenn in einer konkreten Entscheidungssituation die Rettung aller Patienten nicht miteinander kompossibel ist“. Es stimmt, wer faktisch nicht alle retten kann, kann faktisch nicht alle retten (wie genau der „ ‚Vorbehalt des Möglichen‘ zu aktivieren“ sei, die nötigen Rückschlüsse auf rechtliches Dürfen und Können, werden dem Leser überlassen). Dogmatisch gemeint ist wohl der Wegfall von beiden Erfüllungsalternativen eines Gleichheitssatzes (siehe dafür S. Kempny/Ph.  Reimer, Die Gleichheitssätze. Versuch einer übergreifenden dogmatischen Beschreibung ihres Tatbestands und ihrer Rechtsfolgen, 2012, S. 161–162). Zum Zweiten solle die „ ‚Funk­ tionsfähigkeit‘ des Staates“, wohinter die „aggregierten Individualinteressen“ stünden, gewahrt werden; mitabzuwägen sei, ob die Triage von heute die Triage von morgen verhindere – wie L. Clérico spricht sich der Autor dafür aus, einen aktuellen Grundrechtseingriff mit einem virtuellen zu rechtfertigen (umfassend dazu Abschnitt B. I.). 552  Die pauschale Ablehnung von Grundrechtseingriffen gegenüber Nichtstörern geht deshalb zu weit; allein Gefahrerforschungseingriffe zuzulassen, während die Gefahr doch konkret, gemein und gegenwärtig ist (vgl. Th. Kingreen/R.  Poscher, ­Polizei- und Ordnungsrecht. Mit Versammlungsrecht, 10. Auflage, 2018, § 8 Rn. 21), leuchtet nicht ein (zu beiden gefahrenabwehrrechtlichen Anleihen O. Lepsius unter https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtlicher-denkkategorien-in-dercorona-pandemie/#primary_menu_sandwich [zuletzt abgerufen am 22.4.2020]; vgl. Fn. 569).



IV. Nachtrag147

Ver­ boten gegenüber Nichtimmunisierten ist deutlich kostengünstiger zu kontrollieren als Erlaubnisse mit (Hygiene-)Auflagen. Daher verfolgt bei­ spielweise ein kategorisches Versammlungsverbot über den Infektionsschutz hinaus­gehende Zwecke, wenn (strenge) Hygienemaßnahmen und solche zur Abstandssicherung ausreichten, Infektionen zu vermeiden.553 Angesichts des „[g]rößte[n] Hilfspaket[s] in der Geschichte Deutschlands“554 verdienen die Staatsfinanzen eine ebenso vorausschauende Steuerung wie der Pandemieverlauf.555 Die allgemeine Ausgangssperre bezweckt nach alledem nicht nur das Vermeiden von Ansteckungen, sondern auch die Schonung von finanziellen und Verwaltungsressourcen. Wird die Vermeidung von Ansteckungen und nicht (unmittelbar) der Gesundheitsschutz als „Hauptzweck“ festgesetzt, kann (zumindest) die Eignung der Ausgangsbeschränkung auch nicht mit dem Argument, die Isolierung habe überwiegende negative Folgen für die Gesundheit,556 bestritten werden. Es ist abermals Ausdruck der gesetzgeberischen Zweck­ setzungshoheit,557 zu befinden, dass Mittel gegen die Coronavirusausbreitung ergriffen werden müssen, etwa weil die Gefahren durch das Coronavirus größer als die durch soziale Isolation auftretenden eingeschätzt werden. Abschließend ist festzuhalten, dass Maßnahmen gegenüber Immunisierten überhaupt nicht zum Erreichen eines (wie auch immer definierten) Infektionsschutzzweckes geeignet sind, während dies noch der „Hauptzweck“ der Mittel zu Lasten der Nichtimmunisierten ist. Die umfassenden Maßnahmen während der Coronavirus-Pandemie sind deshalb paradigmatisch für die oben558 getrof553  Ein striktes Versammlungsverbot zur „Verhinderung der weiteren Ausbreitung einer Virus-Erkrankung“ (Rn. 24) verwirft BVerfG, Beschl. v. 17.4.2020, 1 BvQ 37/20, da die Behörde wenigstens Infektionsschutzauflagen zu prüfen habe. 554  https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/ Schlaglichter/Corona-Schutzschild/2020-03-13-Milliarden-Schutzschild-fuer-Deutsch land.html (zuletzt abgerufen am 1.5.2020). 555  Damit ist weder gesagt, dass die Steuerungen verhältnismäßigkeitsdogmatische Zwecke seien, noch dass Kostenvermeidung und Vermeidung von Ansteckungen gleichrangige Zwecke seien. 556  Laut A. Edenharter unter https://verfassungsblog.de/freiheitsrechte-ade/ (zuletzt abgerufen am 24.4.2020) dient die Tirschenreuther Ausgangssperre (dazu Fn. 524) dem Schutz des Lebens und des Leibes besonders anfälliger Personen (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), stellt aber zugleich einen unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG der betroffenen Stadtbewohner dar. Die Autorin spezifiziert nicht, auf welcher Stufe die Verhältnismäßigkeitsprüfung scheitere, sie argumentiert allerdings unter anderem mit einer Schwächung der Immunabwehr, sodass „man die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung durch eine Maßnahme, die sie eigentlich schützen solle, erst schwächt“; daher müsste A. Edenharter bereits die Geeignetheit verneinen. 557  Siehe zum Beispiel Abschnitt D. III. 2. 558  Siehe Abschnitt D. I.

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D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

fene Feststellung, dass von mehreren Tatbestandsalternativen auf mehrere Gesetzeszwecke geschlossen werden kann. Schon hier deutet sich eine Aufspaltung in verschiedene gedankliche Zweck-Mittel-Relationen an.558a 3. Erforderlichkeit559 Damit ist die Erforderlichkeit einer allgemeinen Ausgangssperre vorgesteuert. Mildere Alternativmittel sind Legion, sie einzufordern vielleicht „sträflich vernachlässigt“560, jedoch ist die Milde der Alternative eben nur eine Seite der (Erforderlichkeits-)Medaille. Alternativen ziehen nur dann eine Nichterforderlichkeit des gewählten Mittels nach sich, wenn sie alle Zwecke mindestens in demselben Maße fördern wie das gewählte Mittel und zugleich freiheitsschonender sind. Gäbe man noch so milderen Alternativen den Vorzug, obwohl sie einen Zweck der Maßnahme mit einem geringeren Zweck­ erreichungsgrad förderten, verabschiedete man sich von der Rationalität der herkömmlichen Erforderlichkeitsprüfung und missachtete die parlamen­ tarische Zwecksetzung (die eben nicht rechtlich ableitbar, sondern vom da­ für zuständigen, unmittelbar demokratisch legitimierten Organ zu treffen ist).561 – Und Alternativen zur Ausgangssperre dürften häufig mit stärkerem Infektionsrisiko und/oder Kosteneinsatz verbunden sein. Lockerungen der Ausgangssperre auch gegenüber Ansteckungsgefährdeten, etwa durch die Öffnung öffentlicher Gebäude bei gleichzeitiger Einführung von Abstandsund Hygienemaßnahmen, wären mit einem (zumindest marginal) höherem Infektionsrisiko verbunden, folglich in Bezug auf den Ansteckungsvermeidungszweck weniger geeignet. Darüber hinaus müsste vielerorts mehr Personal abgestellt werden, um die Einhaltung der Vorgaben sicherzustellen. Derartige Lockerungen wären infolgedessen weder zur Erreichung des Ansteckungs- noch zum Kostenvermeidungszweck gleich geeignet; es sei denn, man könnte durch noch höheren Ressourceneinsatz Ansteckungen genauso effektiv verhindern wie im Fall der gewählten Maßnahme (Ausgangssperre), dann sänke nur der Zweckerreichungsgrad im Hinblick auf die Kostenvermeidung (und die Lage stellte sich wie folgt dar). Eine gesetzliche Aus558a  Siehe

ausführlicher D. IV. 4. c). zur Erforderlichkeitsprüfung Abschnitt D. III. 2. 560  O. Lepsius unter https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtlicherdenkkategorien-in-der-corona-pandemie/#primary_menu_sandwich (zuletzt abgerufen am 22.4.2020). 561  Siehe auch Abschnitte C. II. 4. d) aa) (1) und D. III. 2. Aus dem zuletzt genannten Grund sind auch den Bedenken gegenüber einer Kompetenzverschiebung zugunsten des Bundesministeriums für Gesundheit durch die Änderung des IfSG von O. Lepsius unter https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtlicher-denk kategorien-in-der-corona-pandemie/#primary_menu_sandwich (zuletzt abgerufen am 22.4.2020) beizupflichten. 559  Ausführlich



IV. Nachtrag149

gangsbeschränkung, die Immunisierte tatbestandlich ausnähme (was Feststellungsmöglichkeiten erforderte)562, bärge zwar im Vergleich zu einer allgemeinen Ausgangssperre keine höhere Ansteckungsgefahr (keine Gefahr für das Gesundheitssystem), weshalb sie zur Erreichung des Ansteckungsvermeidungszwecks gleich geeignet wäre. Dabei wäre sie freiheitsschonender. Doch erforderte der Vollzug einen höheren Kosteneinsatz (zur Anschaffung und Anwendung der Immunitätstests). Mithin litte die Förderung des fiskalischen Zwecks.563 Eine Ausgangsbeschränkung mit einer Ausnahme für Immunisierte wäre dementsprechend freiheitseffizienter, aber kostenineffizienter.564 Somit fehlt es an einer in jeder Hinsicht gleichgeeigneten Alternative: Die Ausgangssperre ist erforderlich. 4. Angemessenheit565 Die letzte Hürde wird den Maßnahmen im Prüfungsschritt der Angemessenheit gestellt – nicht selten könnten die aktuellen Maßnahmen hieran scheitern. Eine ausführliche Angemessenheitsprüfung besteht aus einer abstrakten und einer konkreten Bewertung der Zwecke (welchen rechtlichen Stellenwert besitzt der Zweck, und wie stark wird er gefördert?) und des Eingriffs (wie tief wird in welche grundrechtliche Freiheit eingegriffen?), um kontextualisierten Zweck und Eingriff sodann zueinander ins Verhältnis zu setzen. Eine Abwägung, die pauschal auf den (tages-)politisch gewichtigsten Zweck abhebt, um eine Angemessenheit anzunehmen, würdigt die Grundrechtseingriffe unzureichend.566 Wenn die bisherigen Stufen der Verhältnis562  Falls verlässliche, schnell Ergebnisse liefernde Testverfahren auf dem freien Markt erhältlich wären, könnte man von Immunisierten, die sich in der Öffentlichkeit aufhalten wollten, auch verlangen, Tests mit sich zu führen. Dadurch würde ein weiterer Eingriff zu Kostenvermeidungszwecken den Immunisierten gegenüber begangen. 563  Erlaubnisse unter Auflagen, etwa von Versammlungen, vereinten beide Nachteile in sich: das Ansteckungsrisiko stiege, obwohl mehr (Finanz- und Verwaltungs-) Mittel für die Einhaltung der Auflagen aufgewendet würden. 564  So verhält es sich auch im Liquorentnahme-Beispiel bei dem Mittelvergleich zwischen Lumbal- (gewähltes Mittel) und Okzipitalpunktion (Alternative): letztere ist zur Erreichung des „Hauptzwecks“ (Strafrechtspflege) genauso geeignet wie die gewählte Maßnahme, zugleich ist sie für den Betroffenen milder, doch ist sie teurer und damit im Hinblick auf den fiskalischen „Nebenzweck“ weniger geeignet. Siehe zum Sachverhalt Abschnitt C. I. und zur Lösung Abschnitt D. III. 565  Ausführlich zur Angemessenheitsprüfung Abschnitt D. III. 3. 566  Es drängt sich C. M. Hofmann unter https://verfassungsblog.de/verhaeltnismaessigkeit-mit-der-holzhammermethode/ (zuletzt abgerufen am 28.4.2020), der Eindruck auf, das Verhältnismäßigkeitsprinzip würde in Bayern „ähnlich wie in einer juristischen Anfängerklausur“ umgesetzt und fordert (berechtigterweise), „die jeweiligen Eingriffe in unterschiedliche betroffene Grundrechtspositionen einzeln [zu] gewichte[n] und in Verhältnis zur Zielsetzung der Maßnahme“ zu setzen (also gleich-

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D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

mäßigkeit konsequent behandelt werden, insbesondere wenn erkannt wird, dass Alternativmitteln im Rahmen der Erforderlichkeit ihre fiskalischen Implikationen vorgehalten werden können, ist die Angemessenheitsprüfung die erste ernst zu nehmende und zugleich letzte Bastion des Freiheitsschutzes. Deswegen sei sie im Folgenden beispielhaft ausgeführt. a) Bewertung des Ansteckungsvermeidungszwecks Der Wert des Ansteckungsvermeidungszwecks ist kontextabhängig; auf abstrakter Ebene lassen sich quantifizierende Argumente wohl höchstens aus der Behauptung einer Nähe zu einer anerkannten Schutzpflicht gewinnen. Die Verfolgung des Ansteckungsvermeidungszwecks könnte man als Versuch der Erfüllung einer Pflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, das Leben und die körperliche Unversehrtheit (auch vor Gefährdungen durch Naturkatastrophen) zu schützen,567 ansehen und somit als eher gewichtig einstufen.568 Bestimmende Faktoren für die (für die Argumentation fruchtbringendere) konkrete Wertigkeit des Ansteckungsvermeidungszwecks liegen dagegen teilweise auf der Hand: Wie letal ist die übertragbare Krankheit? Wie wahrscheinlich ist die Übertragung? Wie weit ist das Virus schon verbreitet?569 Aber auch: Wie gut lassen sich Infizierte behandeln, wie ist es um die Auslastung der Krankenhäuser bestellt? Können von der Krankheit (besonders) Bedrohte geschützt und behandelt werden?570 Ist der Infektionsstand niedrig, sinkt der konkrete Wert des Ansteckungsvermeidungszwecks. Gibt es aber sam eine gute Anfängerklausur) – und diese Umsetzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes „transparent zu machen“. 567  Dazu H. Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band I, 3. Auflage, 2013, Art. 2 Abs. 2 Rn. 76. 568  Vgl. L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 6. Auflage, 2017, Rn. 624, nach denen der Schutz von Verfassungsgütern „[d]en höchsten Rang verdient“. 569  Im gefahrenabwehrrechtlichen Jargon: Wie wahrscheinlich ist der Schadenseintritt? Welchen Rechtsgütern droht Schaden? Wie groß ist der Schaden, falls sich die Gefahr realisiert? Vgl. Th. Kingreen/R.  Poscher, Polizei- und Ordnungsrecht. Mit Versammlungsrecht, 10. Auflage, 2018, § 8 Rn. 21–27, die bei besonderem Schädigungsgewicht intensive Eingriffe und solche gegenüber Nichtstörern zulassen (vgl. dazu in dieser Schrift Fn. 552). 570  Sobald das Wissen bezüglich des neuartigen Coronavirus steigt und die Sorgen um die wirtschaftliche und soziale Lage größer werden, ist es durchaus denkbar, dass nur noch die Gesundheit Angehöriger der Risikogruppe geschützt werden soll. Eine auf diese Weise angepasste Zielsetzung veränderte insbesondere die Erforderlichkeitsprüfung (etwa einer Ausgangssperre): Ausgangsbeschränkungen nur für besonders Gefährdete könnte zum Schutz dieser Personen gleich geeignet und im Vergleich zu einer allgemeinen Ausgangssperre zugleich deutlich milder sein. Letztere wäre nicht erforderlich. Daran änderte sich wohl kaum etwas, betrachtete man auch einen fiskalischen Zweck (siehe sogleich im Haupttext).



IV. Nachtrag151

im Geltungsbereich einer Maßnahme auffällig viele Infizierte mit einer töd­ lichen und leicht übertragbaren Krankheit, steigt das Gewicht dieses Zwecks. Währenddessen vertieft sich ein Grundrechtseingriff (fast immer, eine Ausgangssperre gewiss) mit der zeitlichen Dauer. Hiermit wird erklärlich, warum die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit dynamisch ist:571 Wenn der Zweck an Gewicht verliert (übrigens regelmäßig nicht zuletzt wegen der Maßnahme, schließlich ist sie, so viel weiß man an dieser Stelle der Prüfung schon, zur Vermeidung von Ansteckungen ja geeignet), das Mittel aber verschärft wird, verschiebt sich das Verhältnis (Zweck-Mittel-Relation) zu Lasten des Zwecks. b) Bewertung des Kostenvermeidungszwecks In Szenarien, worin, wie im hier betrachteten Beispiel, eine freiheitsschonendere alternative Maßnahme zu dem gewählten Mittel besteht, die nicht mit höherem Ansteckungsrisiko einher geht, aber mit höherem Finanzmittelaufwand verbunden ist, tritt neben den Ansteckungs- ein Kostenvermeidungszweck. Beispiele für derartige Alternativen sind zum einen Abstandsund Hygieneauflagen, etwa für eine Versammlung, die Infektionen so unwahrscheinlich wie bei einem Verbot machen, und zum anderen eine Ausgangsbeschränkung, die Immunisierte ausnimmt. In beiden Fällen ist ­ zumindest Kontrollpersonalaufwand vonnöten. Auch die Wertigkeit des Kostenvermeidungszwecks ist kontextabhängig.572 Maßgeblichen Einfluss hierauf hat die Haushaltslage, wobei berücksichtigt werden kann, wie diese sich wahrscheinlich in naher Zukunft unter dem Einfluss von zunehmenden Zinszahlungen (zur Bedienung von Krediten, die für Entlastungsmaßnahmen verwendet werden)573 bei Abnahme der Steuereinnahmen entwickeln könnte. Den konkreten fiskalischen Zweckerreichungsgrad zu bestimmen setzt überdies voraus, die Kosten des gewählten Mittels von denen der Alternative abzuziehen (das Subtraktionsverfahren).574 Hiermit wird lediglich der Zweckerreichungsgrad der gewählten Maßnahme ermittelt, nicht das Zweck-Mittel-Verhältnis von gewähltem Mittel und Alternativen verglichen. Die Zweckerreichungsgrade des gewählten Mittels werden nicht in Frage gestellt.575 Damit folgt man dem weit verbreiteten Dogma, den Zweckerreichungsgrad zumindest bezüglich des „Hauptzwecks“ unangetastet zu lassen; Alternativmittel, selbst wenn sie mit einem verschwindend geringen 571  VerfGH Saarland, Beschl. v. 28.4.2020, Lv 7/20, Rn. 30: „begleitende[…] Rechtfertigungskontrolle“. 572  Siehe ausführlich Abschnitte B. IV. und D. III. 3. 573  Siehe Fn. 554. 574  Ausführlicher unter Abschnitt D. III. 3. 575  Ausführlicher unter Abschnitt D. III. 3.

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D. Eine sparsame Verhältnismäßigkeitsdogmatik

höheren Ansteckungsrisiko verbunden sind (etwa Lockerungen von allgemeinen Verboten, verbunden mit laxen Abstands- und Hygieneauflagen) können nicht zur Beweisführung, das gewählte Mittel sei unangemessen, herangezogen werden – Alternativmittel sollen in der Angemessenheit ja außen vor bleiben.576 Im Hinblick auf die „Nebenzweck“-Verfolgung bedeutet das, dass durch eine allgemeine Ausgangssperre das gespart wird, was aufgewendet werden müsste, um Immunisierte mittels eines Testverfahrens festzustellen. Die Höhe der Einsparungen hängt nicht zuletzt davon ab, wie viele Nichtimmunisierte die ihnen gegenüber noch bestehende Ausgangsbeschränkung missachteten: Je mehr Personen sich im öffentlichen Raum aufhielten, desto mehr „Freigänger“ hätte die Verwaltung auf ihre Immunisierung hin zu testen. Zur Schärfe des Mittels ist schon viel geschrieben worden: die Grundrechtseingriffe sind zumindest in Sichtweite des Wesensgehalts. Manche Eingriffe können durch finanzielle Kompensationen abgemildert werden (Geldzahlungen für geschlossene Betriebe oder von der Arbeit abgehaltene Arbeitnehmer),577 andere Freiheiten sind inkommensurabel578. c) Gegenüberstellung des jeweiligen Zwecks mit der auf ihn entfallenden Freiheitsbeschränkung Beide Zwecke müssen im Rahmen der Zweck-Mittel-Relation berücksichtigt und dem ihnen entsprechenden Freiheitsschwund gegenübergehalten werden. Dächte man sich den Kostenvermeidungszweck weg, wäre es nur erforderlich, eine Ausgangsbeschränkung allein für Nichtimmunisierte zu verhängen. Nur dieser Freiheitseingriff kann mit dem Infektionsschutz („Hauptzweck“) gerechtfertigt werden (Phase 1 der Zweck-Mittel-Relation). Jedweder Eingriff in die Grundrechte Immunisierter verfolgt gänzlich andere Zwecke; 576  Siehe Abschnitt D. III. 3. Damit wäre eine Ausgangsbeschränkung, die Immunisierte tatbestandlich ausnähme, nicht im Vergleich zu einer allgemeinen Ausgangssperre gleich förderlich darin, Ansteckungen zu vermeiden, verfügte der Staat nicht über die notwendigen Kapazitäten, um Ausgang nur von Immunisierten sicherzustellen (und könnte sich auch nicht [etwa durch die Anstellung von Personal] in die Lage dazu versetzen). Solche weniger zweckfördernden Alternativen müssten Vertreter der herrschenden Meinung in der Angemessenheit ignorieren. Darüber hinaus gölte, dass, wenn jeglichen Alternativen ein geringerer „Haupt­ zweck“-Erreichungsgrad innewohnte, keine klare Korrespondenz zwischen einem Teil der Freiheitseinbuße und einem fiskalischem „Nebenzweck“ bestünde: Wenn der mit dem gewählten Mittel erwirkte „Hauptzweck“-Erreichungsgrad auch unter höchsten finanziellen Anstrengungen nicht mit Alternativmitteln erreichbar ist, kann nicht gesagt werden, dass der Freiheitseingriff nur zugunsten fiskalischer Vorteile vertieft werde. 577  Vgl. St. Rixen, Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise – Die (Neu-)Regelung des Infektionsschutzgesetzes, NJW 2020, S. 1097 (1101). 578  Ausführlich Abschnitt C. II. 2. c) bb) (1).



IV. Nachtrag153

Immunisierte werden (grob formuliert)579 zur Vermeidung von Kosten in ihren Freiheiten beschränkt (Phase 2).580 Wenn die Gefahr durch das Virus für Nichtimmunisierte gering ist (geringer Infektionsstand, nur wenige wahrlich davon bedroht und so fort), der Freiheitseingriff ihnen gegenüber indes tief, ist schon die Zweck-Mittel-Relation in Phase 1 („Hauptzweck“ zu Freiheitseinbuße, die auch von einem freiheitseffizienteren, aber kostenin­effizienteren [sprich: milderen, aber teureren] Alternativmittel verursacht würde) unangemessen. Das Mittel wäre insgesamt verfassungswidrig. Vorausgesetzt, der Freiheitsschwund gegenüber den Nichtimmunisierten wahrte im Angesicht der Ansteckungsvermeidung noch das zu duldende Maß, käme es bei der endgültigen Beurteilung des gewählten Mittels entscheidend darauf an, ob es die Kostenvermeidung wert wäre, die Freiheit der Immunisierte zu begrenzen581. Das Coronavirus-Beispiel unterscheidet sich von dem LiquorentnahmeBeispiel insofern nur dadurch, dass die Aufspaltung des Eingriffs in erstgenanntem Beispiel deutlich leichter fällt. Im Coronavirus-Beispiel kann man die gesamte Freiheitseinbuße nach Eingriffsadressaten (Nichtimmunisierte und Immunisierte) aufspalten, was die Zweiphasigkeit der Zweck-MittelRelation verdeutlicht. Den Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie – und manchen ihrer Beurteilungen durch Gerichte und Rechtsgelehrte – leiden nicht unbedingt an zu viel Differenzierung. Handgreifliche Überforderung vieler politischer Akteure,581a so verständlich sie ist, kann nicht auf Dauer vorgeschützt werden. Genauso wenig, wie es ein Allheilmittel gegen eine kontinentübergreifende Bedrohung fast aller Menschen gibt, ist der Lebensschutz Rechtfertigungsgrund für jede Maßnahme. Vor der Komplexität die Augen zu verschließen und auf die Erlösung durch einen Impfstoff oder ein verständnisvolles Gericht zu warten wäre ein Versagen. Abhilfe könnte (für den schmalen Korridor der Verhältnismäßigkeit) eine im Gange dieser Untersuchung mehrfach gestellte Leitfrage sein: Welcher Freiheitsschwund korrespondiert mit welchem Zweck(erreichungsgrad)? 579  Realiter dürfte ein Bündel von Zwecken, die mit dem Freiheitseingriff zu Lasten von Immunisierten korrespondieren, vorliegen (siehe dazu die Erwägungen bei und in Fn. 550). 580  Auf eine solche zweiphasige Abwägung liefe es hinauf, falls der Staat eine Ausgangssperre nur für Nichtimmunisierte erließe, Immunisierten aber aufgäbe, Tests bei sich zu führen. 581  Auf die Gefahr des Saloppen hin von Ph. Reimer, Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht, ein heterogenes Konzept, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit. Zur Tragfähigkeit eines verfassungsrechtlichen Schlüsselkonzepts, 2015, S. 60 (68), so formuliert. 581a  Sicherlich schneidet das deutsche Personal im internationalen Vergleich noch überwiegend gut ab.

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156 Schrifttumsverzeichnis Jarass, Hans D./Pieroth, Bodo: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 7. Auflage, 2004. Jarass, Hans D./Pieroth, Bodo: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 15. Auflage, 2018. Kahl, Wolfgang/Waldhoff, Christian/Walter, Christian (Hrsg.): Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt. Kaldor, Nicholas: Welfare Propositions of Economics and Inter-Personal Comparisons of Utility, The Economic Journal 49 (1939), S. 549. Kelsen, Hans: Allgemeine Theorie der Normen, 1979. Kempny, Simon: Mittelbare Rechtssatzverfassungsbeschwerde und unmittelbare Grundrechtsverletzung. Verfassungsprozessuale und grundrechtsdogmatische Über­legungen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 53 (2014), S. 577. Kempny, Simon: Steuerrecht und Verfassungsrecht, StuW 2014, S. 185. Kempny, Simon: Verwaltungskontrolle. Zur Systematisierung der Mittel zur Sicherung administrativer Rationalität unter besonderer Berücksichtigung der Gerichte und der Rechnungshöfe, 2017. Kempny, Simon: Unrechtsurteile der NS-Zeit, in: Klaus-Dieter Drüen/Johanna Hey/ Rudolf Mellinghoff (Hrsg.), 100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland 1918–2018, 2018, Band I S. 39. Kempny, Simon/Krüger, Heike: Prozeduralisierung des (Grund-)Rechtsschutzes – eine Analyse der jüngeren Rechtsprechung, SächsVBl. 2014, S. 153. Kempny, Simon/Lämmle, Martina: Der „allgemeine Gleichheitssatz“ des Art. 3 I GG im juristischen Gutachten, JuS 2020, S. 22/113/215. Kempny, Simon/Reimer, Philipp: Die Gleichheitssätze. Versuch einer übergreifenden dogmatischen Beschreibung ihres Tatbestands und ihrer Rechtsfolgen, 2012. Kindhäuser, Urs/Neumann, Ulfrid/Paeffgen, Hans-Ullrich (Hrsg.): Strafgesetzbuch, 5. Auflage, 2017. Kingreen, Thorsten/Poscher, Ralf: Grundrechte. Staatsrecht II, 34. Auflage, 2018. Kingreen, Thorsten/Poscher, Ralf: Polizei- und Ordnungsrecht. Mit Versammlungsrecht, 10. Auflage, 2018. Klafki, Anika: Corona-Pandemie: Ausgangssperre bald auch in Deutschland?, https:// www.juwiss.de/27-2020/ (zuletzt abgerufen am 24.4.2020). Kloepfer, Michael: Parteienfinanzierung und NPD-Urteil. Zum Ausschluss der staat­ lichen Teilfinanzierung für verfas-sungsfeindliche Parteien, NVwZ 2017, S. 913. Kube, Hanno: Leben in Würde – Würde des Lebens, https://verfassungsblog.de/lebenin-wuerde-wuerde-des-lebens/ (zuletzt abgerufen am 1.5.2020). Lassaunière, Ria u. a.: Evaluation of nine commercial SARS-CoV-2 immunoassays, Vordruck unter https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.04.09.20056325v1. full.pdf (zuletzt abgerufen am 23.4.2020).

Schrifttumsverzeichnis157 Lau, Mariam: Versuch und Irrtum, Die Zeit Nr. 19/2020, 29.4.2020, S. 4. Lechner, Hans/Zuck, Rüdiger: Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Kommentar, 8. Auflage, 2019. Lenz, Christofer/Hansel, Ronald: Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Handkommentar, 2. Auflage, 2015. Lepsius, Oliver: Die Chancen und Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit. Zur Tragfähigkeit eines verfassungsrechtlichen Schlüsselkonzepts, 2015, S. 1. Lepsius, Oliver: Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, S. 793. Lepsius, Oliver: Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der CoronaPandemie, https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtlicher-denkkate gorien-in-der-corona-pandemie/#primary_menu_sandwich (zuletzt abgerufen am 22.4.2020). Lewinski, Kai von/Burbat, Daniela: Bundeshaushaltsordnung, 2013, Elektronisch. Mangoldt, Hermann von/Klein, Friedrich/Starck, Christian (Begr. und letztere ehemalige Hrsg.): Grundgesetz. Kommentar, 7. Auflage, 3 Bände, 2018. Manssen, Gerrit: Staatsrecht I. Grundrechtsdogmatik, 1995. Manssen, Gerrit: Staatsrecht II. Grundrechte, 15. Auflage, 2018. Maunz, Theodor/Dürig, Günter (Begr.)/Herzog, Roman u. a. (Hrsg.): Grundgesetz. Kommentar. Loseblatt. Maunz, Theodor (Begr.)/Schmidt-Bleibtreu, Bruno u. a. (Fortf.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Loseblatt. Mehde, Veith: Grundrechte unter dem Vorbehalt des Möglichen, 2000. Meßling, Miriam: Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27.3.2020, NZS 2020, S. 321. Michael, Lothar: Grundfälle zur Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 654. Michael, Lothar/Morlok, Martin: Grundrechte, 6. Auflage, 2017. Möllers, Christoph: Parlamentarische Selbstentmächtigung im Zeichen des Virus, ­https://verfassungsblog.de/parlamentarische-selbstentmaechtigung-im-zeichen-desvirus/ (zuletzt abgerufen am 22.4.2020). Munaretto, Lino: Die Wiederentdeckung des Möglichkeitshorizonts, https://verfas sungsblog.de/die-wiederentdeckung-des-moeglichkeitshorizonts/ (zuletzt abgerufen am 1.5.2020). Neuerer, Dietmar: Spahn stoppt Pläne für Immunitätsausweis nach Protesten, https:// www.handelsblatt.com/politik/deutschland/kampf-gegen-corona-spahn-stopptplaene-fuer-immunitaetsausweis-nach-protesten/25801000.html?ticket=ST-26827 41-YgeBIfyTgP0dku9eJg9f-ap6 (zuletzt abgerufen am 5.5.2020). Palandt, Otto (Begr.): Bürgerliches Gesetzbuch. Mit Nebengesetzen. Insbesondere mit Einführungsgesetz (Auszug) einschließlich Rom I-, Rom II- und Rom III-

158 Schrifttumsverzeichnis Verordnungen sowie EU-Güterrechtsverordnungen, Haager Unterhaltsprotokoll und EU-Erbrechtsverordnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (Auszug), Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz, Unterlassungsklagengesetz, Produkthaftungsgesetz, Erbbaurechtsgesetz, Wohnungseigentumsgesetz, Versorgungsausgleichsgesetz, Lebenspartnerschaftsgesetz, Gewaltschutzgesetz, 78. Auflage, 2019. Paulson, Stanley L.: An Empowerment Theory of Legal Norms, Ratio Juris 1 (1988), S. 58. Pohl, Ottmar: Ist der Gesetzgeber bei Eingriffen in die Grundrechte an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden?, 1959. Poscher, Ralf: Grundrechte als Abwehrrechte. Reflexive Regelung rechtlich geordneter Freiheit, 2003. Rather, Elisabeth: Die Krise der Frauen, Die Zeit Nr. 18/2020, 23.4.2020, S. 8. Reimer, Philipp: Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht, ein heterogenes Konzept. In: Jestaedt, Matthias/Lepsius, Oliver (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit. Zur Tragfähigkeit eines verfassungsrechtlichen Schlüsselkonzepts, 2015, S. 60. Rixen, Stephan: Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise – Die (Neu-)Regelung des Infektionsschutzgesetzes, NJW 2020, S. 1097. Roß, Jan: Captain Tom geht voran, Die Zeit Nr. 18/2020, 23.4.2020, S. 5. Rottenwallner, Thomas: Der finanzielle Ausgleich für „systemische Härten“ durch die Erhebung von Straßenbaubeiträgen in Bayern, DÖV 2019, S. 781. Sachs, Michael: Verfassungsrecht II. Grundrechte, 3. Auflage, 2017. Sachs, Michael (Hrsg.): Grundgesetz. Kommentar, 8. Auflage, 2018. Schlink, Bernhard: Abwägungen im Verfassungsrecht, 1976. Schlink, Bernhard: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Peter Badura/Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Zweiter Band. Klärung und Fortbildung des Verfassungsrechts, 2001, S. 457. Schmidt-Bleibtreu, Bruno/Hofmann, Hans/Henneke, Hans-Günter (Begr. und die letzten beiden Hrsg.): GG. Kommentar zum Grundgesetz, 14. Auflage, 2017. Schneider, Hans-Peter: Acht an der Macht! Das BVerfG als „Reparaturbetrieb“ des Parlamentarismus?, NJW 1999, S. 1303. Schönke, Adolf/Schröder, Horst (Begr. und letzterer früherer Hrsg.): Strafgesetzbuch. Kommentar, 30. Auflage, 2019. Seifert, Karl-Heinz/Hömig, Dieter/Wolff, Heinrich Amadeus (Begr. und letzterer Hrsg.): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Handkommentar, 12. Auflage, 2018. Simrock, Karl: Die deutschen Volksbücher. Gesammelt und in ihrer ursprünglichen Echtheit wiederhergestellt. Fünfter Band. Deutsche Sprichwörter, 1846. Sloterdijk, Peter: „Für Übertreibungen ist kein Platz mehr“ [Interview, geführt von Adam Soboczynksi], Die Zeit Nr. 16/2020, 8.4.2020, S. 47. Sodan, Helge (Hrsg.): Grundgesetz, 4. Auflage, 2018.

Schrifttumsverzeichnis159 Stern, Klaus/Sachs, Michael/Dietlein, Johannes: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. 5 Bände (Bände III und IV aus je zwei Halbbänden bestehend). 1., teilweise (Band I) 2. Auflage, 1977–2011. Tappe, Henning: Die Begründung von Steuergesetzen. Normatives Ermessen im Steuerrecht zwischen Gesetzmäßigkeit und Gestaltungsfreiheit, Habil. Münster, 2012. Thym, Daniel: Anmerkung [zu BVerfG, Urt. v. 7.9.2011, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10 – Griechenlandhilfe], JZ 2011, S. 1011. Voßkuhle, Andreas: Das Kompensationsprinzip. Grundlagen einer prospektiven Ausgleichsordnung für die Folgen privater Freiheitsbetätigung – Zur Flexibilisierung des Verwaltungsrechts am Beispiel des Umwelt- und Planungsrechts, 1999. Voßkuhle, Andreas: Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte. Kritische Bestandsaufnahme und Versuch einer Neubestimmung, AöR 125 (2000), S. 177. Walter, Christian/Grünewald, Benedikt (Hrsg.): BeckOK BVerfGG, Elektronisch. Wefing, Heinrich: In der Altersfalle, Die ZEIT Nr. 17/2020, 16.4.2020, S. 4. Wischmeyer, Thomas: Die Kosten der Freiheit. Grundrechtsschutz und Haushaltsautonomie, 2015. Wolff, Hans J./Bachof, Otto: Verwaltungsrecht III, 4. Auflage, 1978.

Sachwortverzeichnis Die Zahlen verweisen auf die jeweiligen Seiten. Die Zusammenfassungen (Abschnitte B. V. [S. 39], C. II. 1. e) [S. 76] und C. III. [S. 110–111]) wurden nicht verschlagwortet. Für die Grundbegriffe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind nur Seiten angegeben, sofern der Grundbegriff dort verstärkte Aufmerksamkeit erfahren hat. Akt der öffentlichen Gewalt  11 Allgemeinheit, Interessen der  22, 66–67, 73; siehe auch Allgemeinheitsbelastung Allgemeinheitsbelastung  13, 56–60, 66–68, 70, 74, 90–92; siehe auch Paarformel Allgemeinheitsschutz  siehe Allgemeinheit, Interessen der Alternativenvergleich  109–110, 118–119 Angemessenheit  21, 50, 52, 88–89, 91–93, 97–98, 102, 118–122, 129–137, 149–153 „apokryphe“ Abwägung  83, 94, 135; siehe auch Transparenz Auflagen  siehe finanzwirksames (ver­fassungs)gerichtliches Instrumenta­ rium Aufopferung  86, 101 Aufwand staatlicher Mittel  siehe Verwaltungsaufwand ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmungen  22, 98, 101–102; siehe auch Eigentums­ freiheit Auslegung  25, 28, 32, 99, 102, 104–107, 109, 115, 132, 138 Beeinträchtigung der Allgemeinheit  siehe Allgemeinheitsbelastung Belastungsverlagerung  siehe Belastungsverschiebung

Belastungsverschiebung  54, 56–59, 65, 68–69, 71–75; siehe auch Drittbelastung Berufsfreiheit  22, 35–36, 55, 84–85 Beschwerdebefugnis  siehe Verfassungsbeschwerde Budgetrecht des Parlaments  siehe Haushaltsautonomie, parlamentarische Demokratieprinzip  27–29, 33 Drittbelastung  13, 57, 71, 73–74; siehe auch Paarformel Dritte und die Allgemeinheit  siehe Paarformel Eigentumsfreiheit  22, 35–36, 98, 100–102, 121; siehe auch Pflicht­ exem­plarrecht Eingriffszweck  siehe legitimer Zweck Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers  siehe Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers Entschädigung  siehe Kompensation Entscheidungsspielraum des Gesetz­ gebers  11, 23, 27, 31–32, 50, 65, 95, 98, 105, 107, 129, 132, 138, 145 Erforderlichkeit  11–12, 43, 45–48, 52, 58, 60–61, 66, 79–80, 88–90, 95–97, 99–100, 103, 109, 113–114, 118–119, 123–129, 134, 148–149 Ermächtigungsgrundlage  98–99, 106, 109, 116, 139, 144 „Ersatzgesetzgeber“  104–105

Sachwortverzeichnis161 europäische Finanzhilfen  siehe „Griechenlandhilfe“ europäische Integration  27, 29 europäische Staatsschuldenkrise  siehe „Griechenland­hilfe“ Evidenzkontrolle  87, 94–95, 122, 130; siehe auch Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers Finanzeffizienz  siehe Kosteneffizienz finanzielle Aufwendungen der öffent­ lichen Hand  siehe Verwaltungs­ aufwand finanzielle Belastung des Staates, (unangemessen) höhere  60–61, 63, 65, 68–70; siehe auch „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ Finanzmittel der Allgemeinheit  siehe Verwaltungsaufwand finanzwirksames (verfassungs)gericht­ liches Instrumentarium  31–32, 96–112 fiskalischer Zweck  siehe Kostenvermeidungszweck; legitimer Zweck Föderalismus  139–140, 144–145 Freiheitsaktualisierungsvoraussetzungen  16–21, 24, 84, 130 Freiheitsausübungsvoraussetzungen  siehe Freiheitsaktualisierungsvoraussetzung Freiheitseffektuierungsvoraussetzungen  siehe Freiheitsaktualisierungsvoraussetzungen Freiheitseffizienz  12, 114–115, 118, 120, 123–124, 130–131, 133, 149, 153; siehe auch Erforderlichkeit; Kosteneffizienz „ganz unerhebliche“ Mehrkosten  46, 51, 96, 103, 108 Geeignetheit  45, 47, 117–118, 123, 127 „Gegeninteresse“  23, 33, 103–104, 119, 122 Gesamtdeckung, Grundsatz der  118

Gesetzesbegründung  34, 115, 132; siehe auch Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers Gesetzesvorbehalte, grundrechtliche  siehe Grundrechtsschranken Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers  siehe Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers Gewaltenteilung  24, 29, 87, 89, 99, 105–106, 122, 126, 130 Gleicheignung  siehe Geeignetheit Gleichheitsrecht, finanzielle Erwägungen im  30–31 Gleichwertigkeit  12–13, 59–60, 62–63, 70–72; siehe auch Geeignetheit „Griechenlandhilfe“  23–30 „Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben“  27–29; siehe auch Haushaltsautonomie, parlamentarische Grundrechtseffektuierung  siehe Freiheitsaktualisierungsvoraus­ setzungen Grundrechtseingriff, virtueller  18–19, 146 Grundrechtsrealisierung, Chancen auf  siehe Frei­heitsaktualisierungsvoraus­ setzungen Grundrechtsschranken  22, 91, 102 Grundrechtsverletzung, mögliche  28; siehe auch Verfassungsbeschwerde „Härtefälle“  36–37, 98, 101, 106; siehe auch Pflichtexemplarrecht „Hauptzweck“  12, 34, 77–80, 87, 118–120, 122–125, 128, 131–137, 147, 149, 151–153; siehe auch legitimer Zweck Haushaltsautonomie  14, 16, 23–34, 67, 75, 96, 98, 103–105, 107–109, 119, 130 Haushaltsbelastung  74–75; siehe auch Verwaltungsaufwand Haushaltsgesetz gemäß Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG  17, 24, 30, 32, 99, 105, 108, 117

162 Sachwortverzeichnis Haushaltsgesetzgeber  siehe Haushaltsgesetz gemäß Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG Haushaltslage  45, 49–50, 93, 131, 134, 151 Haushaltsplan  siehe Haushaltsgesetz gemäß Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG Haushaltsrecht  siehe Haushaltsauto­ nomie Identitätskontrolle  26 Individualinteressen  66–67 Individualschutz  siehe Individual­ interessen Kaldor-Hicks-Kriterium  77–78, 81, 84, 118; siehe auch Kompensation „Kollisionsfähigkeit“  16–18, 44 Kommensurabilität  85, 118, 152 Kompensation  17, 19, 36–38, 77–88, 92, 98, 100–102, 118–119, 152 „kompensatorische Leistung“  siehe finanzwirksames (verfassungs) gerichtliches Instrumentarium; Kompensation „Kontextualisierung“  25, 44, 53 Kostenbelastung  55, 57, 70; siehe auch Belastungsverschiebung Kosteneffizienz  113, 118, 125–126, 130, 133, 149, 153; siehe auch Erforderlichkeit; Freiheitseffizienz Kosten-Nutzen-Abwägung  77–89, 95–96 Kosten-Nutzen-Analyse  siehe KostenNutzen-Abwägung Kostenvermeidungszweck  32–38, 92, 94, 116–118, 120, 123, 126, 130, 135, 146, 148–149, 151–153; siehe auch legitimer Zweck Kostenverschiebung  siehe Kosten­ belastung legitimer Zweck  11, 22, 47, 54–55, 64–65, 72, 75, 77–78, 96, 113–119, 142–147 Leistungen des Staates  19

„Mehr an Freiheitseinbuße“  siehe „überschießende“ Freiheitseinbuße „Minimumprinzip“  siehe Wirtschaftlichkeitsprinzip gemäß Art. 114 Abs. 2 GG Mitteleinnahme  19–21; siehe auch öffentliche Hand Motivbündel des Gesetzgebers  95, 115; siehe auch legitimer Zweck Nachvollziehbarkeitskontrolle  132; siehe auch Evidenzkontrolle „Nebenzweck“  12, 34, 72, 77–80, 84–87, 118–120, 123, 125, 135–137, 149, 152; siehe auch legitimer Zweck Neuverschuldensgrenze aus Art. 109 Abs. 3 S. 4 GG  117–118, 123, 125–126 nicht-fiskalischer Zweck 33–34; siehe auch legitimer Zweck Nichtigkeitsdogma  107 Nichtigkeitserklärungen  107; siehe auch Regelungsanordnungen; verfassungskonforme Auslegung; Verfassungswidrigerklärungen öffentliche Hand  30, 74–76, 121; siehe auch Haushaltslage öffentliche Mittel  15; siehe auch öffentliche Hand Optimierung  64, 89, 97; siehe auch Pareto-Optimalität Paarformel  13, 53, 56–59, 61, 63–65, 68–72, 82, 91, 119 Pareto-Optimalität  53, 77, 97–98 Pflichtexemplarrecht  34–38, 100–101 „politische“ Grundrechte  85 Prinzipientheorie  17, 104 Prüfungskompetenz des Bundes­ verfassungsgerichts  29 Recht staatlicher Einstandspflichten  siehe Staatshaftungsrecht Rechtsfolge  14, 140 Rechtsverordnung  139–140

Sachwortverzeichnis163 Regelungsanordnungen  104–105; siehe auch Nichtigkeitserklärungen; verfassungskonforme Auslegung; Verfassungswidrigerklärungen Richtervorbehalt  siehe finanzwirk­ sames (verfassungs)ge­richtliches Instrumentarium Sachgesetz  24, 33, 105 Schadensersatz  84, 86, 101; siehe auch Kompensation; finanzwirksames (verfassungs)gerichtliches Instrumentarium „schlichte“ Parlamentsbeschlüsse  139 „Schonung von Verwaltungsressourcen“  78; siehe auch Kostenvermeidungszweck „selbständiger“ Vorteil  siehe „Hauptzweck“ „selbständiger“ Zweck  siehe „Hauptzweck“ „Sparziel“  38; siehe auch Kosten­ vermeidungszweck Staatsfinanzen  siehe Staatshaushalt Staatshaftungsrecht  98–99 Staatshaushalt  56, 146–147; siehe auch Haushaltslage Staatshaushaltsschonung  siehe Kosten­vermeidungszweck Steuerbelastung  18–19, 21, 92 Steuerpflichtige  siehe Steuerzahler Steuerrecht, gleichheitsgemäße Ausgestaltung  30–31; siehe auch Gleichheitsrecht, finanzielle Erwägungen im Steuerzahler  17–21, 49, 55, 67, 74, 97 Subtraktionsverfahren  131–132 151

„unselbständiger“ Vorteil  siehe „Nebenzweck“ „unselbständiger“ Zweck  siehe „Nebenzweck“ Verfassungsbeschwerde  25–29 verfassungskonforme Auslegung  99, 102, 105–107, 109, 132, 138; siehe auch Auslegung Verfassungswidrigerklärungen  107; siehe auch Nichtigkeitserklärungen; Regelungsanordnungen; verfassungskonforme Auslegung Verhältnismäßigkeitsprüfung  11–12, 88 „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“  15, 43–51, 53, 57–59, 61–64, 68–70, 85, 97, 103, 119 Verwaltungsaufwand(, ersparter)  16, 20, 37, 45–46, 48, 55, 79–81, 86–87, 146–147; siehe auch Kompensation; „vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ Verwaltungsressourcen  siehe Verwaltungsaufwand(, er­sparter) Vorbehalt des Gesetzes  106 Vorbehalt des Möglichen  44, 131, 146 Vorrang des Gesetzes  106

Teilhaberechte  43–44 Transparenz  17–18, 51, 62, 82–83, 94, 150

Wahlrecht  26–27, 85 Wesentlichkeitslehre  138, 152 Wirkungsgrad  siehe Zweckerreichungsgrad Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit  siehe Wirtschaftlichkeitsprinzip gemäß Art. 114 Abs. 2 GG Wirtschaftlichkeitsprinzip gemäß Art. 114 Abs. 2 GG  16, 32–34, 116 „Wirtschaftsgrundrechte“  85, 101

„überschießende“ Freiheitseinbuße  114–115, 121, 137 „unselbständiger“ Nachteil  78–80, 84, 86–87, siehe auch Kompensation; „Nebenzweck“

Ziel, gesetzgeberisches  siehe legitimer Zweck Zielkonflikt  21, 110, 133, 135 Zumutbarkeit für den Staat  12–13, 15, 44, 122, 135; siehe auch „vernünfti-

164 Sachwortverzeichnis gerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß“ Zweck  siehe legitimer Zweck Zweck der „Kostenersparnis“  siehe Kostenvermeidungszweck Zweckerreichungsgrad  87, 93–94, 114, 118, 121, 123–124, 126–127, 130–132, 135, 148, 151, 153; siehe auch Geeignetheit; legitimer Zweck

Zweck-Mittel-Relation  siehe Angemessenheit Zwecksetzungshoheit des Gesetzgebers  22, 126, 132–133, 147–148; siehe auch Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers; legitimer Zweck zweiphasige Abwägung  120–122, 129–137, 152–153; siehe auch Angemessenheit