Öffentliche Freiheit und Individualität: Hegels Kritik des moralisch-juridischen Modells politischer Kultur [1 ed.] 9783428541669, 9783428141661

Die moderne Welt ist von einer Krise politischer Freiheit bedroht. Diese Diagnose Hegels bildet eine denkwürdige Konstan

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Öffentliche Freiheit und Individualität: Hegels Kritik des moralisch-juridischen Modells politischer Kultur [1 ed.]
 9783428541669, 9783428141661

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Philosophische Schriften Band 93

Öffentliche Freiheit und Individualität Hegels Kritik des moralisch-juridischen Modells politischer Kultur

Von Tatjana Sheplyakova

Duncker & Humblot · Berlin

TATJANA SHEPLYAKOVA

Öffentliche Freiheit und Individualität

Philosophische Schriften

Band 93

Öffentliche Freiheit und Individualität Hegels Kritik des moralisch-juridischen Modells politischer Kultur

Von

Tatjana Sheplyakova

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Der Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main hat diese Arbeit im Jahre 2011 als Dissertation angenommen.

Diese Publikation wurde unterstützt vom DFG-geförderten Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 30 Alle Rechte vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-14166-1 (Print) ISBN 978-3-428-54166-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-84166-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die moderne Welt ist von einer Krise politischer Freiheit bedroht. Diese Dia­ gnose Hegels bildet eine denkwürdige Konstante seiner Philosophie. Hegels Kritik gilt dabei der modernen Kultur des Rechts und des Politischen, deren bürgerlichliberale Verfasstheit das große Versprechen der Moderne, Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen, uneingelöst lässt. Mehr noch, dieses Versprechen scheint sich sogar ins Gegenteil zu verkehren: Freiheit als Autonomie des Einzelnen wird un­ unterscheidbar von einem Selbstermächtigungsanspruch, während die Gleichheit in die Nivellierung aller Unterschiede umschlägt. Die vorliegende Studie rekonstruiert diese Diagnose Hegels und verbindet die po­ litisch-rechtliche Reflexion mit freiheitstheoretischen Erörterungen zum Verhältnis von Sozialität und Individualität. Der Schlüssel zu Hegels Krisendiagnose wird dabei in seiner Kritik des Legalismus der Kantischen Moralphilosophie gesucht. Hinter der Kritik eröffnet sich die Perspektive auf mögliche Auswege aus der bürgerlichliberalen Verfasstheit der politischen Kultur. Methodisch setzt dies allerdings voraus, dass das vernunftrechtliche in ein historisch-genealogisches Denken überführt wird. Diese Arbeit wurde am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen und im Oktober 2011 verteidigt. Das Manuskript wurde für die Veröffentlichung überar­ beitet. Danken möchte ich Christoph Menke, der die Arbeit betreut hat. Die vielen philosophischen Anregungen und Hinweise, die ich aus Diskussionen mit ihm er­ halten habe, waren für dieses Buch und die weiteren Schritte in der Philosophie be­ sonders prägend, die philosophische Offenheit und das Interesse am Denken eine Inspirationsquelle. Mein Dank gilt auch Gunnar Hindrichs für die Übernahme des Zweitgutachtens der Dissertation und die anregenden Diskussionen. Es war ein langer Weg, bis der Text – „jene Straße durch den immer wieder sich verdichtenden inneren Urwald“, um es mit Walter Benjamin zu sagen – seine jetzige Form hat annehmen können. Viele Menschen haben mir zu unterschied­ lichen Zeiten und jeder auf seine Weise geholfen, diese Straße zu passieren. María del Rosario Acosta, Daniel Althof, Helmut Girndt, Kathleen Higgins, Csaba Kotsmár, Sun Lee, Oxane Leingang, Jenn Neilson, Antonio Roselli, Stefan Schlotter, Douglas Selvage, Andreas Spahn, Christian Spahn, Felix Trautmann, Tamara Vorobyeva und Wolfgang Welsch – sie alle haben durch anregende Ge­ spräche, kritische Einwände in mündlicher und schriftlicher Form, theoretische wie praktische Ratschläge und freundschaftliche Stimmen der Ermunterung mein Denken und Schreiben beflügelt. Dafür danke ich ihnen sehr herzlich. Besonderer Dank gilt Norbert Axel Richter, der mit großer Umsicht die gesamte Arbeit gelesen und an vielen Stellen mit Scharfsinn und Genauigkeit kommentiert

6

Vorwort

hat. Mareike Kajewski und Katja Thekla Meyer haben Teile der früheren Fassung der Arbeit gelesen, wofür ich ihnen ebenfalls sehr dankbar bin. André Möller hat mir geholfen, alle formalen Ungenauigkeiten zu beseitigen – auch dafür herzlichen Dank. Einige Vorüberlegungen, die in das Buch Eingang gefunden haben, konnte ich an verschiedenen Orten vorstellen. Aus den anregenden Diskussionen habe ich viel gelernt. Dafür danke ich insbesondere Christoph Asmuth, Georg Bertram, Robin Celikates, Brigitte Hilmer, Vittorio Hösle und David Lauer wie auch allen Mitdis­ kutanten sehr herzlich. Die Möglichkeit zu konzentrierter Arbeit verschaffte mir ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, wofür ich ebenfalls sehr dankbar bin. Für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses bedanke ich mich beim Exzellenz­ cluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ der Goethe-Universität Frank­ furt am Main. Für ihre rückhaltlose Unterstützung danke ich Carsten Kremer, meinen Eltern und meinem Bruder. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Frankfurt am Main, im März 2017

Tatjana Sheplyakova

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis



Einleitung    11

A. Entzweiung – Entpolitisierung – Idee des Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  12 B. Die Kernelemente der Untersuchung – Hegels Kant-Kritik vor dem Hintergrund der Entpolitisierungsthese  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  19 C. Anerkennung – Recht – Staat  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  23 D. Von der Autonomie zur Logik der Autorisierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  32 E. Warum Hegels Naturrechtsaufsatz?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  38 F. Struktur der Arbeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  44 Erstes Kapitel

Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen   50

A. Die Krise politischer Freiheit: Im Vorfeld der Jenaer Modernitätskritik  . . . . . . . . . . . . .  50 B. Hegels Naturrechtsaufsatz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  58 I. Die Problemstellung und die Vorannahmen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  58 II. Das Verfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  66 III. Die Struktur und die Argumentationsstränge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  70 1. Der kritisch-diagnostische Teil  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  70 a) Die „unechten“ Behandlungsarten des Naturrechts und die philoso­phische Aufgabe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  70 b) Der reine Empirismus  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  74 c) Der Formalismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  77 2. Der konstruktive Teil  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  81 a) Die Ausdifferenzierung der Sittlichkeit in Disziplinen, Sphären und Stände  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  81 b) Das ästhetische Intermezzo: Die Tragödie und Komödie der Moderne  . 85 c) Das Primat des Sittlichen: Die Relativierung der Moral und die Kritik des Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  90 aa) Die Behauptung des Vorrangs des Sittlichen: Hegels Programm  .  90 bb) Hegels Begründungen des Vorrangs des Sittlichen  . . . . . . . . . . . . . . .  93 (1) Die substantialistische Begründung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  93 (2) Die bewusstseinstheoretische Begründung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  96 d) Zwischenbilanz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  98 e) Die Neubewertung des Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  99 IV. Hegels Zeitdiagnosen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  104

8

Inhaltsverzeichnis 1. Von der Moderne in die Antike und zurück: Freie Unfreiheit und unfreie Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  104 a) Moderne Freiheit als „allgemeines Privatleben“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  104 b) Antike Freiheit oder Freiheit durch Ungleichheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109 c) Antike und moderne Freiheit: Der Befund einer doppelten Beziehungs­ losigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  111 2. Privatisierung des Rechts und der Moral: Die Zeiten „äußerer Gerechtig­keit“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  114 3. Vorbehalte gegenüber Hegels Pauschaldiagnose  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  122 4. Die Tiefenstruktur der Hegelschen Kritik  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  128 V. Hegels Innovationen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  134

1. Das Zugleich von Mensch und Bürger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  134 2. Die Freisetzung von Individualität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  137 C. Offene Fragen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  143 Zweites Kapitel

Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell   146

A. Die Ausgangslage: Die Diagnose der Beziehungslosigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  146 B. Zum Profil der Entzweiung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  148 C. Hegels Kritik an Kant  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  153 I. Die Spezifik der Kritik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  153 1. Hegels Kritik an Kant als Theoretiker des „relativ Sittlichen“  . . . . . . . . . . .  153 2. Über das Verhältnis von Moralität und Legalität bei Kant  . . . . . . . . . . . . . . .  155 3. Hegels Kant-Rezeption: Das Lob und das Verschwiegene  .. . . . . . . . . . . . . . .  160 II. Die Gegenstände der Kritik  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  167 1. Über die wechselseitige Defizienz von Recht und Moral: Die Notwendig­keit des Zwangs  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  167 2. Hegels Kritik des Verfahrens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  174 a) Die Verkehrung von moralischer Richtigkeit in rechtliche Erlaubtheit.  174 b) Das Problem der Unterminierung der Handlungsinitiative oder die Eitelkeit des Subjekts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  179 c) Legitimierungsstrategien: Zwischen Inhaltsleere und Willkürherrschaft  187 3. Ein Exkurs zu Fragen der Subjektkonstitution  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  193 a) Die „Inkorporationsthese“: Das Subjekt der Wahl  . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  193 b) Die Superfigur des Ich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  196 c) Die Unerklärlichkeit des Scheiterns  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  198 III. Die Gehalte der Kritik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  202 1. Die Anwendungsbedingungen von Moral und Recht und ihre Revision  .  202 a) Einleitende Erläuterungen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  202 b) Das Primat der vertragsrechtlichen Logik: Das „Tautologische“ des Nützlichkeitsprinzips  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  204

Inhaltsverzeichnis

9

c) „Vertrauen“ versus Vertragsprinzip? Das Missverständnis über „das Rechte“  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  208 2. Die Tiefenstruktur der Kritik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  214 a) Die Asymmetrisierung des Recht-Pflicht-Zusammenhangs: Der Vorstoß gegen die Enge der Verpflichtungsordnung?  . . . . . . . . . . . .  214 b) Moralische Pflichten als legitime Forderungen versus Wahrnehmbarkeit von Rechten  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  219 c) Versuch einer Kontextualisierung: Subjektive Rechte  .. . . . . . . . . . . . . . .  222 d) Zwei Arten von „Idealität“ oder: Die Fähigkeit, Rechte wahrzunehmen. 223 e) Moralität als „Erhebung über den Stand“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  226 3. Hegels Umkehrung des Verhältnisses von Recht und Moral oder: Die Befreiung zum Subjekt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  228 D. Hegels Kant-Kritik – und was dann?  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  234 Drittes Kapitel

Individuelle und öffentliche Freiheit   236

A. Die Quellen der Autonomie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  236 I. Kants ‚andere‘ Autonomie: Das „Faktum der Vernunft“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  236 II. Hegels Genealogie des Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  247 1. Antigone als prototypisch handelnde Individualität?  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .  247 2. Das „Förmliche“ und „Gegenförmliche“: Die Genese des „nachsittlichen“ Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  252 3. Anforderungen an das „nachsittliche“ Recht  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  254 4. Gesellschaftsbildung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  263 a) Zwischenstand der Überlegungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  263 b) Das Öffentlichwerden des Privaten: Die Gesellschaft und ihr Unterschied zur Polis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  265 c) Die Gefahr des Plastizitätsverlusts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  268 d) „Verbindlichkeit, die nicht bindet“ und ihre Formen  . . . . . . . . . . . . . . . . .  274 5. Recht als Befreiung: Wider das „Naturrecht ohne Natur“  . . . . . . . . . . . . . . .  277 B. Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  280 I. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  280 1. Das Projekt: Subjektivität – Recht – freier Wille  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  280 2. Die Ausführung: Moralität und Sittlichkeit, Gesellschaft und Staat  . . . . .  294 a) Warum Moralität ein höherer Standpunkt ist  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  294 b) „Moderne Sittlichkeit“ als Reaktion auf ein für überholt erklärtes Problem?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  296 c) Die Entzweiung in Gesellschaft und Staat und die Intellektualisierung der Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  298 3. Das ungelöste Problem: „Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit“  .. . . . .  306 a) Vom Freiheitsversprechen zum Verfallsprozess  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  306 b) „Moralität als Krankheit am Sittlichen“: Hegels Aktualität  .. . . . . . . . . .  308

10

Inhaltsverzeichnis c) Institutionen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  312 4. Zwischenfazit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  318 II. Vom Optimismus des Sozialen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  320 1. Das „Paradox der Autonomie“ und seine Auflösung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  320 2. Robert Brandom: Das Vertrauen in das Soziale  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  328 3. Diskussion: Eine Verharmlosung von Hegels Ansatz?  . . . . . . . . . . . . . . . . . .  334 III. Die Dialektik des Selbstbewusstseins und ihre Schranken  . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  337

1. Der Standpunkt der Introspektion: „Anpassung in der Sache, Trotz fürs Selbstbewußtsein“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  337 2. Die Vernunft in der Differenz: Vom Primat der Einheit vor dem Vielen  .  339 3. „Zweite Freiheit“: Freiheit nach der Natur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  343 4. Natur und Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  347 C. Ästhetisch zu vollziehende Befreiung: D  ie Gesellschaft, die im „Schein“ wirklich ist  350 Siglen und Kurztitel   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  357 Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  359 Personen- und Sachregister  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  376

Einleitung Einleitung

Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht die Frage nach der spezifi­ schen Verbindung von öffentlicher Freiheit und Individualität. Hegel hat diese Fra­ ge bereits sehr früh aufgeworfen und mit einer eindringlichen Gegenwartsreflexion verknüpft. In den folgenden einleitenden Bemerkungen wird diese Fragestellung umrissen und der Hintergrund skizziert, vor dem sie aufgeworfen wird. In einem ersten Schritt wird Hegels Diagnose der „Entzweiung“ in Erinnerung gerufen: Die entzweite Moderne hat das spannungs- und widerspruchsgeladene Gebilde einer politischen Kultur hervorgebracht, die Hegel zufolge vor allem eins bewirkt – eine umfassende Entpolitisierung (I.). In einem zweiten Schritt werden einige Kernelemente und Ergebnisse der Un­ tersuchung vorweggenommen, um ihr Anliegen zu präzisieren. Dabei wird ins­ besondere daran erinnert, dass das Recht für Hegel als Ermöglichungsgrund der individuellen und öffentlichen Freiheit fungiert (II.). Umso erstaunlicher ist es, dass diesem Grundzug von Hegels praktischer Philosophie in der gegenwärtigen an Hegel anschließenden Reflexion auf die Reproduktionsbedingungen sozialer Praxis, die individuelle und soziale Freiheit ermöglicht und freisetzt, kaum Beach­ tung geschenkt wird: Wenn auf das Recht Bezug genommen wird, dann geschieht das entweder in kritischer Absicht, um seine Pathologien offenzulegen, oder aber es wird von einer Kongruenz von praktischer Vernunft und existierender, in ihrem Kern bürgerlich-liberaler Gesellschaft ausgegangen (III.). Die Skepsis insbesonde­ re des frühen Hegel bezüglich dieser Form von Gesellschaft, ihres Rechts und ihrer Moral, die der Realisierung wahrer politischer Freiheit im Wege stehen, wird nicht ernst genommen. Dies betrifft auch die gegenwärtige Theorie sozialer Praktiken, die Kants ‚Paradox der Autonomie‘ im Anschluss an Hegel in einen Prozess der wechselseitigen intersubjektiven Ermächtigung und Autorisierung überführt – ei­ nen Prozess, der die Einzelnen zur Teilnahme an einer sozialen Praxis erst befähigt (IV.). Im Unterschied zu diesen Ansätzen wird Hegels frühe These vom Verfall poli­ tischer Freiheit – eine These, die sich auch auf die Form des bürgerlichen Rechts bezieht –, ins Zentrum dieser Studie gestellt und in ihrer Tragweite untersucht. Der enge Fokus auf Hegels Befund der Entzweiung schließt die Reflexion auf ihre Not­ wendigkeit, ihre Genesis und ihre Implikationen mit ein. Daraus begründet sich der zentrale Stellenwert von Hegels Naturrechtsaufsatz1 für diese Untersuchung. Weshalb dieser Aufsatz, der von der Hegel-Forschung lange vernachlässigt wurde, 1  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positi­ ven Rechtswissenschaften [1802/1803], in: ders., Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva

12

Einleitung

für die hier entwickelte Argumentation so wichtig ist, erscheint erläuterungsbe­ dürftig und soll hier ebenfalls thematisiert werden (V.). Schließlich wird ein Über­ blick über die Struktur der Arbeit gegeben und der Weg, den die Untersuchung genommen hat, nachgezeichnet (VI.).

A.  Entzweiung – Entpolitisierung – Idee des Rechts „Entzweiung“ ist die Metapher, mit der Hegel den Zustand seiner Gegenwart, ja die Verfasstheit der modernen Gesellschaft als solcher einzufangen sucht. Bereits in seinen Berner und Frankfurter Manuskripten beklagt Hegel die „Positivität“2 des Glaubens und der Religion, aber auch des moralischen und juridischen Geset­ zes, das dem Subjekt radikal äußerlich bleibt und dessen Autorität und Wirksam­ keit dergestalt „nur durch ein Achtung oder Furchterwekendes Objekt“3 gesichert werden können. Diesem Zustand der Herrschaft und Unterdrückung, in dem „un­ vereinbares vereinigt wird“, der Gewalt der „ewige[n] Trennung [in der Natur]“4 stellt Hegel den Begriff der Freiheit entgegen – jener Freiheit, die als „Vereinigung ungezwungener Wesen gleichen Rechts“5 bestimmt wird und nur in der Liebe, wie Hegel zu diesem Zeitpunkt noch überzeugt ist, ihre Verwirklichung finden kann.6 In der Jenaer Schrift über die Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (1801) fasst Hegel „Entzweiung“ als „Quell des Bedürfnisses der Philosophie“: „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wech­ selwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie.“7 Die Kritik an der Kulturwelt der Aufklärung, deren philoso­ phische Entwürfe sich der ‚reellen Welt‘ ‚intellektuell‘ entgegensetzen, ist für He­ gel Medium der Reflexion auf sein eigenes Philosophieren. Insbesondere gilt es, Moldenhauer/Karl Markus Michel, Bd. 2: Jenaer Schriften 1801 – 1807, Frankfurt am Main 1986, S. 434 – 530 (im Folgenden unter Angabe der Sigle NR zitiert). 2 Siehe Hegel, [Die Positivität der christlichen Religion] [1795/1796], in: ders., Werke, Bd. 1: Frühe Schriften, Frankfurt am Main 1986, S. 104 – 189. Im Folgenden als „Positivi­ tätsschrift“ zitiert. 3  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Text 40: Positiv wird ein Glauben genannt …, in: ders., Gesammelte Werke (= GW), in Verb. mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Bd. 2: Frühe Schriften II, bearb. von Friedhelm Nicolin/Ingo Rill/Peter Kriegel, hrsg. von Walter Jaeschke, Hamburg 2014, S. 5 – 7, hier: S. 6. 4  Hegel, Text 50: so wie sie mehrere Gattungen …, in: ders., GW, Bd. 2, S. 96 – 97, hier: S. 97. 5  Dieter Henrich, Historische Voraussetzungen von Hegels System [1967], in: ders., He­ gel im Kontext, Frankfurt am Main 1971, S. 41 – 72, hier: S. 67. 6  Dazu ausführlicher und mit Nachweisen unten Erstes Kapitel, Teil A. 7  Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie [1801], in: ders., Werke, Bd. 2, S. 9 – 138, hier: S. 22. Im Folgenden als „Differenzschrift“ zitiert.

A.  Entzweiung – Entpolitisierung – Idee des Rechts

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den radikalen Prozesscharakter der Philosophie zu betonen: „Es ist […] unter der gegebenen Entzweiung der notwendige Versuch, die Entgegensetzung der festge­ wordenen Subjektivität und Objektivität aufzuheben, und das Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkte als ein Produzieren zu begreifen […]“.8 In seinen politischen und staatsrechtlichen Schriften9 verbindet Hegel die Er­ fahrung der Entzweiung mit einer eingehenden Reflexion auf die Verfasstheit des politischen Zustands seiner Gegenwart, mit der Analyse der modernen politischen Kultur als solcher. Im Lichte dieser Analyse artikuliert sich die moderne Erfahrung der Krise in den Entwürfen einer Kritik der Verfassung Deutschlands (1799 – 1803) als „der immer sich vergrößernde Widerspruch zwischen dem Unbekannten, das die Menschen bewusstlos suchen, und dem Leben, das ihnen angeboten und erlaubt wird“.10 Diese Erfahrung11 ist jedoch keine rein individuelle Erfahrung, vielmehr ist sie Reflex eines gesellschaftlichen Zustands, den Hegel durch eine problemati­ sche Entpolitisierung gekennzeichnet sieht. Hegels Verfassungsschrift ist eine vehement kritische und von bitterer Ironie geprägte Auseinandersetzung mit dem Zustand des Deutschen Reiches. Die Vorge­ schichte dieses Zustands reicht bis in den Dreißigjährigen Krieg zurück. Doch die politische Entmächtigung dauert Hegel zufolge an und hat sich für moderne politi­ sche Kultur überhaupt als prägend erwiesen. Sie äußert sich in der praktischen Un­ terwerfung der öffentlichen Sphäre unter private Interessen – im „Bestreben, die Staatsgewalt zu einem Privateigentum zu machen“.12 Hegels Hauptangriffspunkt ist die alte Praxis der Sicherung von wohlerworbenen Rechten und Privilegien, die auf die Wahlkapitulationen der deutschen Kurfürsten seit der Wahl Karls V. (1519) zurückgeht13 und auch noch unter den Bedingungen der souveränen Staaten 8 

Ebd. (Herv. T. S.). beziehe ich mich insbesondere auf Hegels Fragmente einer Kritik der Verfas­ sung Deutschlands (1799 – 1803) sowie auf die Erste Württemberg-Schrift (1798) und die Zweite Württemberg-Schrift bzw. die anonym veröffentlichte Beurtheilung der im Druck erschienenen Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Würt­ emberg im Jahr 1815 und 1816 (1817), die auch als Landständeschrift bekannt ist. 10  Hegel, Fragmente einer Kritik der Verfassung Deutschlands [1799 – 1803], in: ders., GW, Bd. 5: Schriften und Entwürfe 1799 – 1808, hrsg. von Manfred Baum/Kurt Rainer Meist, Hamburg 1998, S. 1 – 219, hier: S. 16; im Folgenden als „Verfassungsschrift“ zitiert (die Seitenangaben der Zitatnachweise beziehen sich, falls nicht anders vermerkt, auf die GW-Ausgabe). 11  Zur Wiederaufnahme und Aktualisierung dieses Befundes siehe Michael Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. Zur Kritik des gegenwärtigen Bewußtseins, Ber­ lin/New York 1981, S. 28 f. 12  So Hegel in einer Randnotiz: Hegel, Die Verfassung Deutschlands [1800 – 1802], in: ders., Werke, Bd. 1, S. 451 – 610, hier: S. 456. 13 Die Wahlkapitulationen waren vertragliche Vereinbarungen zwischen dem Wahl­ gremium der Kurfürsten und dem zu wählenden Kaiser, in denen Bedingungen seiner künftigen Regierung festgelegt, aber auch Rechte und Freiheiten der Kurfürsten selbst 9  Dabei

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der Neuzeit beibehalten wird.14 Für Hegel ist dies Grund genug, selbst die enthu­ siastische Wirkung, die von der Verkündung der Menschenrechte im nachrevolu­ tionären Frankreich ausgeht, mit Spott zu überziehen: Dieses „Freyheitsgeschrey“ und der „Freyheitswahn“ verdeckten nur, dass „die Sachwalter der Menschenrechte diese zu Gunsten einer zynischen Machtpolitik preisgegeben“ hätten.15 Der Kern der Menschenrechte – die Begrenzung der Staatsgewalt im Namen der Anerkennung der individuellen Rechte und Freiheiten – steht bei Hegel unter dem Verdacht einer Verwechselung von Privatinteressen mit Staatsinteressen.16 Hegels Kritik gilt einem Zustand, in dem das umso lauter bekundete Interesse am „Reichs­ zusammenhang“ sich nur aus dem „Interesse am eigenen Vorteil“ speist, einem Zustand, in dem die deutschen Kurfürsten das „Interesse ihres Staates auf Kosten sowohl anderer Einzelstaaten als auch des Deutschen Reiches verfolgen“.17 Auf die­ se Weise werde der Staat zu einem bloßen „Gedankenstaat“18 depotenziert, in dem die Machtträger nur ihre eigenen (korporatistischen) Partikularinteressen im Blick haben, und zwar auch dann, wenn sie im Namen des Ganzen und der Menschen­ rechte sprechen. Es ist wichtig zu erkennen, dass der Zustand des Reiches Hegel, um es mit Gertrude Lübbe-Wolff zu sagen, „als ein leitendes Gegenbild seiner eigenen Staatsauffassung“ gilt.19 Hegels praktische Philosophie ist untrennbar mit dem Anspruch verbunden, über das damalige deutsche Staatsrecht hinauszukom­ festgehalten wurden. Wahlkapitulationen hatten den Rang von leges fundamentales, den Reichsgrundgesetzen, und erfüllten die Funktion des Kräfteausgleichs zwischen Reich und Partikularmächten. Zu dieser Institution siehe Hans-Jürgen Becker, Art. „Wahlkapi­ tulation“, in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5, Berlin 1998, Sp. 1086 – 1089. 14  Hegels Urteil über die Wahlkapitulationen fällt bis in die Berliner Rechtsphilosophie hinein äußerst kritisch aus: Die Staatsgewalt werde aufgrund dieser Praxis der Verfügung ei­ nes „partikularen Willens“ überantwortet, „woraus die Verwandlung der besonderen Staats­ gewalten in Privateigentum, die Schwächung und der Verlust der Souveränität des Staats und damit seine innere Auflösung und äußere Zertrümmerung hervorgeht“ (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse [1821]. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, in: ders., Werke, Bd. 7, § 281, S. 453; im Folgenden zitiert unter Angabe der Sigle GPR und des Paragraphen; N steht dabei für Hegels eigenhändige Notizen zu §§ 1 – 180, Z für die mündlichen Zusätze). 15 Vgl. Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart/Weimar 2003, S. 101 (mit Bezug auf Hegels Verfassungsschrift, S. 132, 148). 16 Vgl. Hegel, Verfassungsschrift, S. 11 ff. 17 Vgl. Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 102 (mit Bezug auf Hegels Verfassungsschrift, S. 44). 18  Hegel, Verfassungsschrift, S. 194. 19 Vgl. Gertrude Lübbe-Wolff, Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphi­ losophie. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis der historischen Grundlagen des Hegelschen Staatsbegriffs, in: Hans-Christian Lucas/Otto Pöggeler (Hrsg.), Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S. 421 – 446, hier: S. 436. Zur Reichsverfassungsschrift in Verbindung mit einer Reflexion auf Hegels Zurückweisung der Vorstellung einer ‚natürlichen Freiheit‘ des Einzelnen siehe

A.  Entzweiung – Entpolitisierung – Idee des Rechts

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men, in dem er nichts weiter sieht als „ein Urbarium von den verschiedensten der nach Art des Privatrechts erworbenen Staatsrechte“.20 Spätestens in Hegels Naturrechtsaufsatz21 wird deutlich, dass das Festhalten am privatrechtlichen Charakter des feudalistischen Staatsrechts unter veränderten Be­ dingungen nicht nur die Idee des modernen Staates pervertiert, der dann zu einem Staat ‚in Gedanken‘ herabgesetzt wird, sondern auch die Idee der „bürgerlichen Gesellschaft“22 affiziert. Die Diagnose eines vorpolitischen – und in diesem Sinne auch vorstaatlichen – Zustands, die noch bis in seine späte Rechtsphilosophie hin­ einwirkt, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Während der Staat, an dem der Bürger nicht partizipiert, als Garant der bürgerlichen Freiheit im „formalen Recht“ fungiert, wird die Gesellschaft zu einer entpolitisierten und arbeitsteilig organisierten Sphäre der Bedürfnisbefriedigung und Interessendurchsetzung von Individuen.23 Das Problematische an dieser Konstellation ist der instrumentelle Charakter des Staates, seine Reduktion auf einen bloßen „Not- und Verstandes­ staat“.24 Was fehlt, ist die Einsicht in die Notwendigkeit der politischen, öffent­ lich-rechtlichen Institution des Staates, die der Verwirklichung des Rechts dient, aber auch die Macht hat, subjektive Rechte zu begrenzen.25 Solange diese Staats­ form nicht verwirklicht ist, greift die von Hegel früh ausgesprochene politische Diagnose der Privatisierung oder, was für Hegel das Gleiche ist, die Diagnose einer umfassenden Entpolitisierung – eines Zustands allgemeiner Privatheit, der auch dann noch in Geltung sein wird, wenn sich daraus ein eigener Begriff von Politik, auch dies., Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte. Struktur und Reichweite der Ein­ griffsdogmatik im Bereich staatlicher Leistungen, Baden-Baden 1988, S. 83 – 86. 20  Ebd., S. 61. 21 Erstdruck: Hegel, Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswis­ senschaften, in: Kritisches Journal der Philosophie, Bd. 2, Stück 2, Tübingen 1802, S. 1 – 88, sowie Bd. 2, Stück 3, Tübingen 1803, S. 1 – 34. 22  Zu Hegels Theorie der „bürgerlichen Gesellschaft“ siehe GPR, §§ 182 – 256. 23 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart [1972], in: ders., Staat, Gesell­ schaft, Freiheit, Frankfurt am Main 1976, S. 185 – 220, S. 190 f. 24  GPR, § 183. 25  Vgl. hierzu Jean-François Kervégan, Hegel und die Vergesellschaftung des Rechts durch den Staat, in: Rechtshistorisches Journal 12 (1993), S. 443 – 465. Wichtig ist allerdings, zu erkennen, dass Hegel die Felder der politischen Machtausübung eines wohlverstandenen Staates zugleich klar beschränkt, und zwar auf den Fall der Verteidigung „der gemein­ schaftlichen Gesamtheit [des] Eigentums“ (Verfassungsschrift, S. 165) in einer politischen Situation, die dies erforderlich macht (etwa im Kriegsfall), und auf die Gewährleistung einer einheitlichen Finanzverwaltung (ebd., S. 81 – 87). Hierzu gibt Walter Jaeschke zu bedenken, dass „[d]er vielgeschmähte Hegelsche ‚Machtstaat‘“ mit diesen beiden ihm zugeordneten Funktionen der Verteidigung und der Finanzhoheit „weit weniger Funktionen [umfaßt] als irgendein heutiger Staat, und er ist in diesem Sinne erheblich ‚liberaler‘“, insofern alle wei­ teren Belange „der Freyheit der Bürger überlassen“ bleiben (Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 105, mit Bezug auf Hegels Verfassungsschrift, S. 175).

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von moralischen und rechtlichen Verpflichtungen und von einer öffentlichen Sphä­ re entwickelt. Fasst man zusammen und abstrahiert dabei von den Zustandsbeschreibungen des Deutschen Reiches, so ergibt sich aus der Verfassungsschrift wie aus dem Na­ turrechtsaufsatz ein interessanter und verfolgenswerter Befund: Hegels Klage gilt der modernen Freisetzung von „privaten“ Freiheiten, die es erlauben, Verpflich­ tungen „freiem Belieben“ zu überantworten.26 Die Wurzeln dieser Haltung sind nicht zuletzt im fehlgeleiteten Rechtsverständnis zu suchen, das Rechte des Einzel­ nen als „Positivierungen ‚natürlicher‘ Rechte“, als „Reservate natürlicher privater Freiheit“ missversteht – als wären Rechte dem Ganzen der sittlichen Organisation vorgelagert und als dürfte oder könnte der Einzelne sie deshalb gerade auch gegen das Ganze richten.27 Diese vermeintliche Ermächtigung des Einzelnen durch das Recht beruht Hegel zufolge auf einem Selbstmissverständnis, denn in Wahrheit kommt sie einer poli­ tischen Entmächtigung des Subjekts gleich. Die Kehrseite dieser entpolitisierenden Ermächtigung ist die Depotenzierung des Wirklichen zum ‚bloß Subjektiven‘, das sich der Welt (intellektualistisch) entgegensetzt. Noch in der Landständeschrift pole­ misiert Hegel gegen „einen hypochondrischen Privatdünkel gegen das Öffentliche“, der zu einer „durchgreifenden Stimmung“ geworden sei,28 während er diese Hal­ tung im Naturrechtsaufsatz mit der Moral des „zweiten Standes“ der ökonomisch selbständigen, handel- und gewerbetreibenden Bourgeois in Verbindung bringt und gegen die „politische Nullität“ der „bürgerlichen“ Individuen29 den Rückgewinn des Sinns für das Öffentliche und für die Praxis politischer Freiheit fordert. Die Diagnose eines noch vorstaatlichen Zustands allgemeinen Privatrechts samt seinen Auswirkungen auf die Verfasstheit des Subjekts stellt Hegel im Naturrechts­ aufsatz allerdings auf ein neues theoretisches Fundament. Zeitgleich zur Abfas­ sung des Naturrechtsaufsatzes im Sommersemester 1802 und darüber hinaus noch bis zum Sommer 1805 hält Hegel in Jena eine Reihe von Vorlesungen über das Naturrecht ab.30 Für den zuvor diagnostizierten ‚reellen‘ Zustand der Entzweiung, 26 Vgl. Lübbe-Wolff, Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphilosophie, S. 440 f. 27  Ebd., S. 426, 441. 28 Vgl. Hegel, [Beurteilung der] Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahr 1815 und 1816. XXXIII Abteilungen [1817], in: ders., Werke, Bd. 4: Nürnberger und Heidelberger Schriften, S. 461 – 596, hier: S. 468. Im Folgen­ den als „Landständeschrift“ zitiert. 29  Vgl. NR, S. 494. 30  Im Sommersemester 1802 sind es die Vorlesungen „ius naturae, civitatis et gentium“ sowie „Kritik des Fichteschen Naturrechts“, danach „ius naturae“ im Winter 1802/03, Som­ mer 1803, Winter 1803/04 und Sommer 1805. Siehe hierzu: Dokumente zu Hegels Jenaer Dozententätigkeit, hrsg. von Heinz Kimmerle, in: Hegel-Studien 4 (1967), S. 21 – 99; dort: S. 53, 56 – 58; siehe auch Heinz Kimmerle, Hegels Naturrecht 1802 – 1805/06, in: Hegel-Stu­ dien 11 (1976), S. 219 – 228.

A.  Entzweiung – Entpolitisierung – Idee des Rechts

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der mit dem Zustand einer politischen Entmächtigung einhergeht, werden nun die ‚ideellen‘ Grundlagen in der Wissenschaft – im Denken der Rechts- und Gesell­ schaftsentwürfe selbst – gesucht. Im Zentrum des Naturrechtsaufsatzes steht daher die Auseinandersetzung mit neuzeitlichem Natur- und Vernunftrecht. Hegel pflegt sich von Positionen, die er zurückweist, schon begrifflich abzu­ setzen – so auch im Naturrechtsaufsatz, in dem nicht von der ‚Natur‘ oder der ‚Vernunft‘ des Rechts, sondern von der Idee des Rechts die Rede ist. Schon im Systemprogramm wird gemeinsam mit Schelling und Hölderlin verkündet: „Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee.“31 Und noch in der Wissenschaft der Logik steht der Ausdruck ‚Idee‘ bei Hegel für die Überwindung der Trennung von Subjekt und Objekt: Dort heißt es, dass der Begriff erst in der Idee frei wird, weil er „diese seine objektive Welt in seiner Subjektivität, und diese in jener erkennt“.32 Der Ausdruck „Idee des Rechts“ bezeichnet ein solches Recht (und stellt es zu­ gleich in Aussicht), das dem Subjekt nicht äußerlich ist. ‚Idee des Rechts‘ ist hier eine Chiffre für die Einheit des Besonderen und Allgemeinen oder, wie es an an­ derer Stelle heißt, für das „Einssein der individuellen und allgemeinen Freiheit“.33 Hegels Begriffsbestimmung der Idee steht zur Zeit der Abfassung des Natur­ rechtsaufsatzes in einem engen Zusammenhang mit Schellings Aufsatz Ueber die Construktion in der Philosophie.34 In diesem Aufsatz wird die Tätigkeit des philo­ sophischen Konstruierens darin gesehen, „das Construierende und Construierte – Denkende und Gedachte – schlechthin in Eins zusammen[fallen]“ zu lassen.35 Erst ein solches Denken generiert Ideen – „eine derartige Allgemeinheit“, die „dem Be­ sonderen nicht gegenübersteht, sondern dieses allererst aus sich hervorgehen läßt“.36 Schelling bestimmt die philosophische Konstruktion als ein Verfahren der Darstel­ lung „des Realen im Idealen, des Besonderen im schlechthin Allgemeinen“.37 31  Hegel, Das „älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“, in: Christoph Jam­ me/Helmut Schneider (Hrsg.), Mythologie der Vernunft. Hegels „ältestes Systemprogramm“ des deutschen Idealismus, Frankfurt am Main 1984, S. 11 – 14, hier: S. 11; dort allerdings mit der Forderung, über den Staat hinauszugehen, vgl. S. 11 f.: „Denn jeder Staat muß freie Men­ schen als mechanisches Räderwerk behandeln; u[nd] das soll er nicht; also soll er aufhören.“ 32  Hegel, Wissenschaft der Logik II. Erster Teil. Die objektive Logik. Zweites Buch. Zweiter Teil. Die subjektive Logik [1813/1816], in: ders., Werke, Bd. 6, S. 271. 33  NR, S. 471. 34  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ueber die Construktion in der Philosophie [1802], in: ders., Sämmtliche Werke (= SW), hrsg. von Karl Friedrich August Schelling, Bd. 5, Stuttgart/Augsburg 1859, S. 125 – 151. 35  Ebd., S. 134. Zur Verbindung von Hegels Naturrechtsaufsatz und Schellings Con­ struktionsschrift siehe Claus Dierksmeier, Absolute Konstruktion des Rechts? Zum Rechts­ begriff in Hegels Naturrechts-Aufsatz, in: Klaus Vieweg (Hrsg.), Gegen das „unphilosophi­ sche Unwesen“. Das Kritische Journal der Philosophie von Schelling und Hegel, Würzburg 2002, S. 157 – 166, insb. S. 158. 36  Dierksmeier, Absolute Konstruktion des Rechts?, S. 158. 37  Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums [1803], in: ders., SW, Bd. 5, S. 207 – 352, hier: S. 325.

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Diese Methodenreflexion scheint sich Hegel in seiner kritischen Auseinander­ setzung mit neueren Naturrechtsentwürfen zu eigen zu machen – etwa dann, wenn er sich die Aufgabe stellt, im Lichte der „absoluten Idee“ „den empirischen Zustand der Welt sich in dem ideellen Spiegel der Wissenschaft reflektieren zu sehen“.38 Schellings Verfahren der ‚Konstruktion‘ findet auf dem Gebiet des Naturrechts auch insofern Anwendung, als Hegel im Unterschied zur natur- und vernunft­ rechtlichen Tradition, die das Recht als Beschränkung der individuellen Freiheit ansieht,39 zu zeigen beansprucht, dass das wohlverstandene Recht und freie Sub­ jektivität ‚eins‘ sind. Damit wird nicht nur der Kantische Begriff des Rechts als ‚äußerer Zwang‘ abgelehnt. Hegels Einspruch reicht noch weiter: Als Verwirkli­ chung des „Einssein[s] der allgemeinen und der individuellen Freiheit“ wird das Recht – seiner Idee nach – sogar zur Bedingung dafür erklärt, dass Subjekte eine wohlverstandene „Innerlichkeit“ ausbilden können.40 Dieser Hegelsche Zug, allgemeine und individuelle Freiheit im Recht zu verbin­ den, ist denkbar radikal, wenn man bedenkt, dass das Rechtsverständnis, das hier in Aussicht gestellt wird, auch dann noch nicht adäquat erfasst wäre, wenn man die Funktion der Erweiterung der subjektiven Freiheit etwa so deutete, dass man den Zweck des Staates – über die Nichteinmischung in die negative Freiheit der Bürger hinaus – auch in den positiven Leistungen verorten würde. Denn die Träger der Rechte wären auf diese Weise lediglich als Begünstigte der ihnen nach wie vor äußerlich bleibenden politischen Maßnahmen adressiert. Subjektive Freiheit wür­ de sich dergestalt auf einen bloßen Anspruch reduzieren. Hegels Idee des Rechts impliziert eine radikalere Form der Überwindung der Äußerlichkeit von Recht und Subjekt, steht sie doch als Chiffre für die Verwirklichung politischer Freiheit und gelingender Individualität gleichermaßen. Doch was genau besagt die geforderte Einheit von Recht und Subjekt, die über das Natur- und Vernunftrechtsdenken hi­ nauszugehen beansprucht? Die Schwierigkeit mit Hegels ‚Idee‘ des Rechts besteht darin, dass die Frage, „warum das Subjekt notwendig mit dem reinen Begriff des Rechts eins sein muß“,41 von Hegel selbst an keiner Stelle explizit beantwortet wird. In dieser Untersuchung wird der Versuch unternommen, der Beantwortung dieser Frage dennoch auf die Spur zu kommen und die Gründe dafür zu rekonstruieren, weshalb es Hegel zu­ 38 

NR, S. 438. beschränkende Wirkung des Rechts auf individuelle Freiheit bringt Hegel mit dem methodischen Ausgangspunkt im Individuum in Verbindung, der für die Gesellschafts­ entwürfe Kants und Rousseaus kennzeichnend ist: „Nach diesem einmal angenommenen Prinzip“, so lautet Hegels noch in der Berliner Rechtsphilosophie vorgebrachtes Argument, „kann das Vernünftige freilich nur als beschränkend für diese Freiheit sowie auch nicht als immanent Vernünftiges, sondern nur als ein äußeres, formelles Allgemeines herauskom­ men“ (GPR, § 29, S. 81; Herv. T. S.). 40  Vgl. NR, S. 471. 41  Christoph Mährlein, Volksgeist und Recht. Hegels Philosophie der Einheit und ihre Bedeutung in der Rechtswissenschaft, Würzburg 2000, S. 78. 39  Die

B.  Die Kernelemente der Untersuchung

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folge unbedingt so sein muss, dass freie Subjektivität sich im Medium des Rechts ausbildet, wie auch umgekehrt der wohlverstandene Rechtsbegriff einen Begriff von Subjektivität voraussetzt. Zur Diskussion steht dabei die noch viel allgemei­ nere Frage, die sich durch alle Teile der Untersuchung hindurchzieht – nämlich die Frage, wie die von Hegel vor dem Hintergrund der Entzweiungsdiagnose mehrfach evozierte Verbindung von freier Sozialität, Individualität, Recht und politischer Freiheit gedacht werden kann.

B.  Die Kernelemente der Untersuchung – Hegels Kant-Kritik vor dem Hintergrund der Entpolitisierungsthese Die Untersuchung setzt ein mit einer Rekonstruktion der Diagnose der Entpo­ litisierung, von der Hegel die bürgerlich-liberale Kultur des Rechts und des Poli­ tischen bedroht sieht. Bleibender Bezugspunkt der Argumentation ist dabei He­ gels Jenaer Naturrechtsaufsatz. Hier werden Fehlentwicklungen einer politischen Kultur offengelegt, die – gemessen an Hegels ‚Idee‘ des Rechts – im Grunde noch vorpolitischen Charakter hat. Hegels Kritik provoziert, scheint sie sich doch gegen die Grundzüge der liberalen Gesellschaft als solche zu richten – gegen die privat­ rechtliche Ordnung und die universale Moral. Hegel zufolge vermag eine liberale Gesellschaft Letztere nur um den Preis einer Verfehlung der gelingenden Praxis politischer Freiheit zu verwirklichen. Diese Verfehlung ist brisant, weil sie die bei­ den wichtigsten Errungenschaften der Moderne – die Autonomie des Individuums und rechtlich garantierte Gleichheit – im Kern betrifft: Individuelle Autonomie verkehrt sich in einen Selbstermächtigungsanspruch, dessen Kehrseite wiederum das Gefühl der „Ohnmacht“ und der „Unwesentlichkeit“ ist.42 Die Idee der Gleich­ heit verkehrt sich in „Gleichgültigkeit“: Statt Gleichheit zu verwirklichen, werden alle Unterschiede und Verhältnisse nivelliert und die Einzelnen sinken herab in die „matte Gleichgültigkeit des Privatlebens“.43 Dieser doppelte Befund wird in der Arbeit als zentral herausgehoben und im Hinblick auf die Folgen für das Individuum und für Sozialität interpretiert. Von besonderem Interesse ist dabei eine weitere entscheidende Beobachtung, die sich Hegels im Naturrechtsaufsatz geäußerter Kritik entnehmen lässt: Es ist die Beob­ achtung, dass die Grundlage des bürgerlich-liberalen Modells politischer Kultur im römischen Recht zu suchen ist, und die damit verbundene These, dass zwi­ schenmenschliche Beziehungen unter den Bedingungen dieser Kultur an Plasti­ zität verlieren. Auch diesem paradox anmutenden Zustand von ‚beziehungslosen Beziehungen‘ gilt das Augenmerk der Untersuchung.

42  43 

Vgl. NR, S. 467 ff. Ebd., S. 492.

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Ganz wesentlich ist hier Hegels Auseinandersetzung mit Kants Konzeption von Moralität und Autonomie des Subjekts. Dies liegt schon darin begründet, dass Hegel die Einwände gegen die liberale Gesellschaftsordnung insbesondere gegen Kants Moralphilosophie in Stellung bringt – so, als sei Kants Philosophie gleichsam als ein Medium der Verständigung der bürgerlich-liberalen Kultur über sich selbst aufzufassen. Bemerkenswert ist dabei, dass Hegels Kritik insbesondere Kants Autonomiebegriff gilt. Dies verleitet zu Fehldeutungen, etwa dass es Hegel darum gegangen sei, die Autonomie des Einzelnen zugunsten der kommunitaristi­ schen Perspektiven preiszugeben. Die Rekonstruktion dieser Kritik macht jedoch sichtbar, dass das Gegenteil der Fall ist: Ganz im Sinne der Aufgabe, die Hegel einer „wahrhaft“ philosophischen Rechtslehre zuweist – nämlich die „philosophi­ sche Rechtfertigung des Einzelnen als Bestehenden“44 zu leisten, seine Wirklichkeit zu denken –, geht es Hegel vielmehr darum, die Verkürzungen der Autonomie offenzulegen und auf diesem Wege den normativen Gehalt einer Ethik der Autono­ mie allererst herauszuarbeiten. Hegels frühe Schriften sind für dieses Anliegen das beste Beispiel. Sie führen besonders deutlich vor Augen, dass es Hegel, bei aller Kritik, niemals darum gegangen ist, die in Kants Kritik der praktischen Vernunft und seiner Metaphysik der Sitten bereitgestellten Begriffe – Freiheit, Autonomie, Selbständigkeit – infrage zu stellen, sondern darum, diese Begriffe in die politische Welt zu überführen.45 Die Untersuchung konzentriert sich zum einen auf Hegels Zurückweisung des Formalismus und Absolutismus des Kantischen Moralbegriffs – auf Hegels Abkehr von der Annahme, dass „aus der moralischen Richtigkeit einer Handlung“, wie es Andreas Wildt formuliert hat, „notwendig ihre praktische Richtigkeit schlecht­ hin (‚Formalismus‘) [folge], unabhängig von dem sittlichen Kontext der Handlung (‚Absolutismus‘)“.46 Zum anderen wird Hegels These herausgehoben und diskutiert, dass Individualität (oder, wie Hegel sagt, die wohlverstandene „Innerlichkeit“) sich erst im Öffentlichen konstituiert und wiederfindet. In diesem Zusammenhang wird an diejenigen Formen von Sozialität erinnert, die in Kants Moralphilosophie – wie Andreas Wildt im Anschluss an Hegel eindringlich gezeigt hat – marginalisiert werden: Sozialitätsformen nämlich, für die nichtforderbare und nichteinklagbare normative Erwartungen und interpersonale Einstellungen konstitutiv sind. Dem­ gegenüber sind die Begrenzungen der „bürgerlichen“ Moral, als deren wichtigste Exponentin Hegel Kants Moralitätskonzeption begreift, darin zu sehen, dass sie nur auf Forderungen reagieren kann, die in ihren legitimen Gehalten bereits be­ 44 

Ebd., S. 523. Manfred Riedel, Objektiver Geist und praktische Philosophie, in: ders., Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1969, S. 11 – 41, hier: S. 19 f. Riedel deutet Hegels Jugendschriften als Polemik gerade gegen die Enge des Kantischen und Fichteschen Freiheitsbegriffs, deren Gründe wiederum in der Trennung des Freiheitsgesetzes vom Na­ turgesetz zu suchen seien (vgl. ebd.). 46  Andreas Wildt, Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte sei­ ner Fichte-Rezeption, Stuttgart 1982, S. 13. 45 

B.  Die Kernelemente der Untersuchung

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stimmt und damit vorgegeben und inhaltlich festgelegt sind. Auf diese Weise wird der kritische Gehalt der Autonomie – die Kant selbst als das Vermögen bestimmt, inhaltliche (Vor)Festlegungen, die der Erkenntnis zugänglich sind, zu überschrei­ ten47 – nicht ausgeschöpft. Wie sich zeigen wird, ist die Überschreitung der bürgerlichen Moral jedoch nicht im Rückgang zu einem vor- und außerrechtlichen Zustand der gemeinschaftlichen Verbundenheit und Solidarität zu suchen, einem Zustand, den Andreas Wildt etwa als eine „vordeontologische“ Form der „sittlichen Moralität“ besonders plastisch be­ schrieben hat.48 Vielmehr lässt sich mit Hegel zeigen, dass die Aufgabe, bürgerliche Moral zu überschreiten, sich erst vermittels der Institutionalisierung und Durchset­ zung einer Rechtspraxis verwirklichen lässt, für die gilt, dass das Recht hier nicht lediglich auf legitime Forderungen, die es voraussetzen muss, reagiert, sondern jene Forderungen überhaupt erst zu artikulieren erlaubt. Insbesondere Hegels Operati­ on der Umkehrung des Verhältnisses von Recht und Moral, die er im Naturrechts­ aufsatz gegenüber Kant vornimmt, unterstützt diese Deutung. Jedenfalls lässt sich festhalten, dass Hegels Umkehrung dieses Verhältnisses den Weg bereitet für die Einsicht, dass es nicht die Struktur der Sollensforderungen der Moral ist, die für das Recht primär ist, sondern dass es sich genau umgekehrt verhält – dass es Rechte sind, die sich als Grund und Quelle auch der moralischen Verpflichtung erweisen lassen müssen. Oder anders gesagt: Verpflichtungen gründen in Rechten.49 Sich anderen Menschen gegenüber moralisch zu verhalten, bedeutet, dass man sie als frei denken will, und nicht nur, dass man ihre Freiheit toleriert. Ein solches Wollen, das den anderen gleichsam in Freiheit setzt, nannte Goethe bekanntlich „liberale Gesinnung“, die über die neutrale Haltung der Toleranz hinausgeht: „Wo man die Liberalität aber suchen muß, das ist in den Gesinnungen“, so Goethe, Letz­ tere „aber sind selten liberal, weil die Gesinnung unmittelbar aus der Person, aus ihren nächsten Beziehungen und Bedürfnissen hervorgeht. […] Toleranz sollte ei­ gentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung füh­ ren. Dulden heißt beleidigen. Die wahre Liberalität ist Anerkennung.“50 47  Zur Explikation von Kants Autonomiebegriff siehe die aufschlussreiche Unterschei­ dung von „Autonomie“ und „Autognosie“ der Vernunft von Dieter Henrich, Ethik der Au­ tonomie, in: ders., Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982, S. 6 – 56, insb. S. 14, 18 f. 48 Vgl. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 17. Zur Aktualisierung dieses Gedan­ kens in Verbindung mit Hegels Antijuridismus siehe Daniel Loick, „Expression of Con­ tempt“: Hegel’s Critique of Legal Freedom, in: Law and Critique 26 (2015), S. 189 – 206. 49 Vgl. Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1986, S. 167: „Rights are grounds of duties in others“; zuvor schon ders., On the Nature of Rights, in: Mind 93 (1984), S. 194 – 214, hier: S. 196; vgl. auch weitere prominente Positionen der gegenwärtigen Rechts­ philosophie, die den Rechtsbegriff qua Anspruch genau in diesem Sinne – als Grund auch der moralischen Verpflichtung – verstehen: Joel Feinberg, Rights, Justice, and the Bounds of Liberty, Princeton, N. J. 1980, S. 148 f.; Ronald M. Dworkin, Taking Rights Seriously, London 1977, S. 100 ff. 50  Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen [1833], in: ders., Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. von Erich Trunz, Bd. 12: Schriften zur

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Einleitung

Mit Hegel kann man sagen, dass es für die Kultivierung einer so verstandenen „Liberalität“ zum einen der Fähigkeit zur „Erhebung über den Stand“51 bedarf, die eine Änderung im Bewusstsein der Beteiligten verlangt. Zum anderen aber – und genau diese Perspektive rückt die Arbeit in den Fokus – bedarf es der Über­ schreitung der von Hegel ‚bürgerlich‘ oder ‚relativ sittlich‘ genannten Auffassung von Recht, die darin besteht, individuelle Rechte mit einklagbaren Ansprüchen und Forderungen gleichzusetzen. Ziel dieser Überschreitung ist es, die Wahrneh­ mung auch solcher Rechte zu ermöglichen, die nicht nur die eigenen gesicherten Anspruchspositionen, sondern, mit Theunissen zu reden, die „Allheit der glei­ chen Subjekte“52 betreffen. In einer von hier aus gedachten Praxis des Rechts im emphatischen Sinne wäre der Schlüssel zum Problem sowohl der Entpolitisierung als auch des Plastizitätsverlusts in zwischenmenschlichen Beziehungen zu suchen. Erst der Ausgriff auf ein gegenüber dem formalen Recht erweitertes Rechtsver­ ständnis ließe sich als ein Ausweg aus der Situation verstehen, in der „das Subjekt sich bloß in seiner Zufälligkeit und Besonderheit erkennt, welche Erkenntnis die Empfindsamkeit und die Unsittlichkeit der Ohnmacht ist“.53 Eine Schwierigkeit, dies zu erkennen und zu zeigen, besteht darin, dass dieser Hegelsche Vorstoß zu einem veränderten Rechtsverständnis ausgerechnet seiner Kritik des Rechts zu entnehmen ist bzw. mit dieser Kritik verschränkt ist. Die Ein­ sicht in den Zusammenhang von Recht, Subjektivität und freier Sozialität verdankt sich erst einer interpretativen Erschließung der Hegelschen Argumente gegen den Legalismus – in diesem Fall gegen den Legalismus des Kantischen Moralitätsbe­ griffs. Im Zuge der Rekonstruktion der Hegelschen Legalismus-Kritik wird sich zeigen, dass diese Kritik sich gegen die Spiegelung der ‚römisch-bürgerlichen‘ Rechtsform in den moralischen Urteilen der Subjekte richtet. Andererseits wird deutlich, dass das eigentlich Problematische am Legalismus der Moral darin zu sehen ist, dass er zwar Subjekte der moralisch vorgetragenen Klage und der For­ derung hervorbringt, die Einzelnen jedoch zugleich in ihrer Fähigkeit einschränkt, für Rechte des Gegenübers, die über einklagbare Anspruchspositionen hinausge­ hen, empfänglich zu sein, diese Rechte also als solche wahrzunehmen, aber auch eigene Rechte geltend zu machen und zu gebrauchen. Für die einzelnen Subjekte hat dies zur Folge, dass sie in eine passive Rolle gedrängt und in der Ausübung ih­ rer Autonomie gehemmt werden. Die Nichtwahrnehmbarkeit der Rechte wirkt sich aber auch auf die sozialen Beziehungen nachteilig aus, die unter der Dominanz der ‚engen‘, streng reziproken Rechte und Pflichten an Plastizität verlieren. Die Folgen des Legalismus für Sozialität zu diskutieren, ist der eine Gegenstand der Untersuchung. Es wird aber zugleich eine weitere Einsicht festgehalten, die Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen, 10. Aufl., München 1982, S. 365 – 547, hier: S. 384, 385. 51 Vgl. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 43, mit Bezug auf Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat [1920], 2 Bde., Bd. 1, Aalen 1962, S. 218. 52  Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, S. 22. 53  NR, S.  467 – 468.

C.  Anerkennung – Recht – Staat

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darüber hinausweist: Will man die Rechtskritik des jungen Hegel konstruktiv (d.h. gemäß seiner ‚Idee‘ des Rechts) weiterdenken, so kommt es darauf an, eine politi­ sche Theorie des Rechts zu entwickeln – ein adäquat verstandenes Recht wäre nicht mehr Einschränkung, sondern das „Dasein“ des freien Willens, so wie Freiheit als Idee nicht mehr Postulat ist, wie bei Kant, sondern Wirklichkeit, keine unendliche Aufgabe, sondern Prozess ihrer Realisierung. Dies setzt jedoch voraus, dass die Geltungsgrundlage des Rechts nicht mehr, wie bei Kant, in einer ungeschichtlich gedachten Vernunftnatur zu verorten wäre, sondern als aus der Genese der Formen des Rechts selbst hervorgehend gedacht werden müsste. Im Ergebnis tritt letztlich im Anschluss an Hegels Kant-Kritik und vor dem Hintergrund seiner Entzweiungskritik die Perspektive einer Rechtsgenese und des Wandels von Rechtsformen als der entscheidende Gesichtspunkt hervor. Wie eine solche Entwicklungsgeschichte des Rechts zu denken sein könnte, wird im Rahmen dieser Studie allerdings nur in Ansätzen umrissen.54 Eine wichtige Rolle spielen dabei die von Walter Jaeschke und Christoph Menke jeweils entwickel­ ten Hegel-Deutungen. Diesen Interpretationen lassen sich einige Hinweise darauf entnehmen, dass die Nachzeichnung einer solchen Rechtsgenese – die der Sache nach gefordert ist, die Hegel selbst jedoch nicht explizit unternommen hat – in eine komplexe Transformationsgeschichte der Gerechtigkeit eingebettet sein müss­ te. Überlegungen zu diesem wichtigen und verfolgenswerten Komplex bleiben in dieser Arbeit allerdings nur fragmentarisch. Dies hängt damit zusammen, dass die Untersuchung früher einsetzt und gleichsam einen Schritt zurückgeht, um allererst nachzuvollziehen, weshalb – oder besser: vor dem Hintergrund welcher Motive und Argumente – die Transformation der vernunftrechtlichen in die historisch-ge­ nealogische Perspektive gefordert werden muss.

C.  Anerkennung – Recht – Staat Sozialität ist für Hegel nichts gegenüber der individuellen Autonomie Zweitran­ giges oder gar nur Abgeleitetes. Vielmehr sind gelingende soziale Beziehungen für individuelle Autonomie konstitutiv – und umgekehrt. Dieser Zusammenhang ist selbstverständlich nicht neu und wurde von Theoretikern der Anerkennung55 längst 54 

Siehe unten Drittes Kapitel, Teil A, Abschnitt II: „Hegels Genealogie des Rechts“. Als Theorie der Intersubjektivität in die Diskussion gebracht wurde dies von Jürgen Habermas, Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser Philosophie des Geis­ tes, in: ders., Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt am Main 1969, S. 9 – 47; zur Untersuchung der begrifflichen Voraussetzungen der Anerkennungstheorie bei Hegel: Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu He­ gels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg im Breisgau/München 1979; mit Schwerpunkt auf supererogatorischen Anerkennungsbeziehungen: Andreas Wildt, Autonomie und Aner­ kennung. – Für einen Überblick über die aktuelle Diskussion, einschließlich der Beurtei­ lung, wie weit das Anerkennungskonzept heute trägt, siehe anlässlich der Neuauflage seines Werks Ludwig Siep, Anerkennung und praktische Philosophie heute, in: ders., Anerkennung 55 

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Einleitung

ins Zentrum der Hegel-Forschung gestellt. Dem Begriff des Rechts wird dabei je­ doch kein zentraler Stellenwert beigemessen; auch die Perspektive der Genese des Rechts – und damit die Frage nach den Bedingungen der (wohlverstandenen) Po­ sitivität des Rechts, seinem zeitlichen und gesellschaftlichen Grund und Zusam­ menhang56 – wird für sozialphilosophische Reflexion nicht fruchtbar gemacht. Die vorliegende Studie sucht diesem Desiderat zu begegnen und einen Beitrag zur Reflexion über die ‚innere Notwendigkeit‘ der Verbindung von individueller und sozialer Freiheit zu leisten, allerdings ohne dabei auf den Begriff der Anerkennung eigens zu rekurrieren. Dies hängt damit zusammen, dass die Frage nach gelingen­ den Formen der Sozialität hier in Anlehnung an Hegels Gesellschaftsdiagnostik von Anfang an aus der Perspektive der Entzweiungskritik aufgeworfen und damit vor dem Hintergrund von Hegels Kritik an der Universalisierung des Privatrechtsdenkens diskutiert wird. Dies erlaubt es, neue Akzente zu setzen. Die Abweichung von traditionellen sozialphilosophischen Ansätzen wird dort offensichtlich, wo es um die Frage geht, wie die Relevanz der Perspektive der Rechtsgenese im Hinblick auf die Frage nach dem Wandel der Sozialitätsformen letztlich zu gewichten ist. Weshalb diese Akzentuierung, die die Frage nach sozialer und individueller Frei­ heit von Hegels Entzweiungs- und Rechtskritik her aufwirft, gewinnbringend sein kann, möchte ich in Bezug auf Axel Honneths Theorie der Anerkennung57 in aller Kürze andeuten. Axel Honneth hat wie kein anderer den Anerkennungsbegriff für den Entwurf einer umfassenden Gesellschafts- und Gerechtigkeitstheorie fruchtbar gemacht, in der soziale Kämpfe um Anerkennung in ihrer Verschränkung mit der moralischen Entwicklung einer Gesellschaft diskutiert und intersubjektive Anerkennungsver­ hältnisse als Bedingung der Möglichkeit der Ausbildung von gelingender Indivi­ dualität und personaler Integrität sichtbar gemacht werden. Der grundlegende Zug von Hegels Philosophie – gezeigt zu haben, dass es individuelle Freiheitsgewährung und -steigerung nur durch gemeinschaftliche Praktiken geben kann – erfährt in Honneths Philosophie eine eindrucksvolle Aktualisierung. Im Lichte dieses Hegel­ schen Grundgedankens unterzieht Honneth in seinem kürzlich erschienenen Essay Die Idee des Sozialismus (2015) sogar die überkommenen Utopien und Entwürfe des Sozialismus einer kritischen Reflexion, um nach und nach die sozialistischen als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Hamburg 2014, S. 11 – 65. Im Folgenden konzentriere ich mich auf einige Grundzü­ ge der Anerkennungstheorie Axel Honneths. 56  Vgl. zur Kritik der Verengung des Geltungsgrunds des Rechts auf eine „ideal-norma­ tive Sphäre“ Dieter Wyduckel, Zur Bedeutung der historischen Dimension in der Rechtsund Sozialphilosophie, in: Robert Alexy/Ralf Dreier/Ulfrid Neumann (Hrsg.), Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute. Beiträge zur Standortbestimmung, Stuttgart 1991, S. 394 – 410, hier: S. 409 f. 57 Siehe Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1992; ders., Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheo­ rie, Frankfurt am Main 2010 sowie ders., Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokra­ tischen Sittlichkeit, Berlin 2011.

C.  Anerkennung – Recht – Staat

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Fehlannahmen zu korrigieren und an die Verwirklichung von „sozialer Freiheit“ – an die Vision eines solidarischen Füreinander-Einstehens und Sich-Ergänzens – zu erinnern. Honneths leitende Idee dabei ist, dass die jeweiligen Praktiken der Erweiterung von Freiheit, die ohnehin je nach Sphäre ihrer Realisierung – der Sphäre der Familie, des Marktes und der politischen Willensbildung – sehr unterschiedlich ausfallen, von den beteiligten Akteuren selbst initiiert und „experimentell“ erprobt (und nicht etwa gesetzlich vorgegeben) werden sollen.58 Auffallend ist, dass der Begriff des Rechts für diesen grundlegenden Zusam­ menhang der „Individuierung durch Vergesellschaftung“, um sich des Titels eines Aufsatzes von Jürgen Habermas zu bedienen,59 in Honneths Gesellschaftsanalysen keine entscheidende Rolle spielt. Spätestens dann, wenn es um gelingende Formen sozialer Freiheit geht, zu denen solidarische Beziehungen und Verhältnisse sozia­ ler Wertschätzung gehören, ist man über die ‚Sphäre‘ des Rechts bereits gänzlich hinaus. Das Recht scheint in Honneths Entwurf lediglich in kritischer Absicht zur Sprache zu kommen – der Schwerpunkt liegt auf seiner schädigenden oder gar zerstörenden Wirkung für die Praxis der Verwirklichung höherstufiger Verhält­ nisse sozialer Freiheit. So verhält es sich auch in Honneths neuerem Werk Das Recht der Freiheit (2011), in dem Recht allem voran ein problematischer Begriff ist: Das Recht, so Honneth, „lebt von dem bloß negativen, unterbrechenden Bezug auf einen sittlichen Praxiszusammenhang, der sich aus der sozialen Interaktion von nicht rechtlich kooperierenden Subjekten speist“.60 An anderer Stelle wird diese Diagnose sogar noch weiter zugespitzt zu der Behauptung, dass „das Recht Einstellungen und Verhaltenspraktiken fördert, die einer Ausübung der von ihm geschaffenen Freiheit gerade im Wege stehen“.61 Honneth setzt rechtliche Freiheit dabei mit Privatautonomie gleich, die zwar rechtlich freigesetzt wird, deren „sinn­ volle“ Ausübung jedoch gleichwohl verlangt, dass der „Boden des Rechts wieder verlassen wird“.62 Über diese Rechtsskepsis hinaus fällt auf, dass das Recht in Honneths Sozialphi­ losophie eher instrumentell und funktionalistisch bestimmt wird. Recht erscheint hier nicht als ein Medium der Verwirklichung von Freiheit, sondern lediglich als Mittel der Realisierung von Zwecken, die dem Recht bereits vorgegeben sind. Die­ se Zwecke sind dabei je nach Form des Rechts – je nachdem, ob es sich etwa um Abwehrrechte oder um Sozialrechte handelt – gleichsam besser oder schlechter zu 58  Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015. Zum „historischen Experimentalismus“ als einem „Weg der Erneuerung“ des Sozialismus siehe dort insb. S. 85 – 120. 59  Jürgen Habermas, Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu G. H. Meads The­ orie der Subjektivität, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt am Main 1989, S.  187 – 241. 60  Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 156, siehe dort insb. Honneths Reflexion über die „Pathologien der rechtlichen Freiheit“, S. 157 – 172. 61  Ebd., S. 151. 62 Ebd.

Einleitung

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verfolgen. Das Recht wird in Honneths Entwurf als ein Mittel der Befähigung auf­ gefasst, die spezifischen Anforderungen zu erfüllen, auf die es jeweils ankommt, um in der jeweiligen Sphäre der Anerkennungsverhältnisse zu bestehen. So spielt der Begriff des Rechts etwa da eine Rolle, wo es darum geht, durch Einbeziehung in die Sphäre der rechtlichen Anerkennung als Person Selbstachtung auszubilden.63 In dieser befähigenden Funktion dient das Recht zugleich der Sicherung von Re­ produktionsbedingungen sozialer Praxis:64 So bedarf der Einzelne, „um als eine moralisch zurechnungsfähige Person agieren zu können, […] nicht nur des rechtli­ chen Schutzes vor Eingriffen in seine Freiheitssphäre, sondern auch der rechtlich gesicherten Chance zur Partizipation am öffentlichen Willensbildungsprozeß, von der er faktisch aber nur Gebrauch machen kann, wenn ihm zugleich ein gewisses Maß an sozialem Lebensstandard zusteht“.65 Ein solches Anforderungsprofil an das Recht, das nach den jeweiligen Funkti­ onen, die es zu erfüllen hat, differenziert ist, entwirft Honneth in Anlehnung an Thomas H. Marshall, der Rechte – entsprechend seiner Generationentheorie der Grundrechte – in ‚zivile‘, ‚politische‘ und ‚soziale‘ Rechte bzw. in liberale Frei­ heitsrechte, politische Teilnahmerechte und soziale Teilhabe- oder Wohlfahrtsrech­ te einteilt.66 Honneth stellt diese Dimensionen des Rechts in ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis, je nachdem, auf welche Sphäre der Verwirklichung sozialer Freiheit das Recht jeweils bezogen ist: So sind Freiheits- und Teilhaberechte Ga­ rantien für „Ansprüche“, die „als Chancen zur Bildung eines privaten Ichs genutzt werden“, während politische Rechte „im Sinne einer Aufforderung zur staatsbür­ gerlichen Aktivität und damit zur Bildung eines gemeinsamen Willens interpre­ tiert werden“67 und so fort. Auf diese Weise bleibt das Rechtsverständnis in Honneths Entwurf jedoch an diejenige Bestimmung des Rechts unhintergehbar zurückgebunden, die Hegel selbst seit dem Naturrechtsaufsatz bis in die Grundlinien hinein als „formell“ und „abstrakt“ kritisiert hat, und zwar mit dem Argument, dass diese Rechtsbestim­ mung der Verwirklichung einer ‚wahren‘ (ihrem Begriff entsprechenden) politischen Freiheit im Wege steht. Während die rechtlich freigesetzte negative Freiheit in Honneths Gerechtigkeitstheorie (ungeachtet etwaiger Kritik an dieser Figur) sozusagen mit einem Ewigkeitswert versehen wird, führt Hegel sie auf ein Rechts­ verständnis zurück, das die Freiheit im Sinne einer privaten, natürlichen Freiheit missversteht. Dieses Selbstmissverständnis der Freiheit will Hegel mit seiner Staatslehre, zumindest dem Anspruch nach, für überholt erklären, denn es gibt Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 173 – 195. schon in Honneths Kampf um Anerkennung, so auch in Recht der Freiheit, vgl. dort zur rechtlichen Freiheit: S. 129 – 172. 65  Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 190; vgl. auch ders., Recht der Freiheit, S. 141 ff. 66 Vgl. Thomas H. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, übers. und hrsg. von Elmar Rieger, Frankfurt am Main/New York 1992; hierzu Honneth, Recht der Freiheit, S. 143 ff. 67 Vgl. Honneth, Recht der Freiheit, S. 144. 63 Hierzu 64  Wie

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streng genommen keine ‚natürliche Freiheit‘ oder ein ihr entsprechendes Recht: Die „Idee der Freiheit“, so Hegel, ist „wahrhaft nur als der Staat“.68 Mit der Privilegierung eines bestimmten am Privatrecht orientierten Verständ­ nisses von Recht, das in Honneths Gerechtigkeitstheorie als unbefragter Ausgangs­ punkt für die Reflexion auf die Funktion des Rechts für die Gesellschaftstheorie vorausgesetzt zu sein scheint, hängt ein weiterer kritischer Punkt zusammen, der die Vorstellung von Recht als Befähigungsinstanz betrifft. So verstanden, fungiert das Recht stets als Vermittlungsfigur zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat. Damit wird aber eine Konstellation der Entzweiung gewissermaßen auf Dauer gestellt, unter deren Bedingungen sowohl das Recht als auch der Staat – wie Hegel schon sehr früh, insbesondere im Naturrechtsaufsatz, zu bedenken gegeben hat – nur instrumentell gedacht werden können. Diese Entzweiungskonstellation trägt dazu bei, den beklagten Zustand der Entpolitisierung aufrechtzuerhalten, statt ihn zu überwinden. In der Tat erinnert der gedankliche Schritt, der in Honneths Recht der Freiheit vollzogen wird – der Schritt von der Pathologie des Rechts als Unterbrechung von sittlichen Praktiken hin zur Befähigung zu diesen Praktiken durch das Recht –, an Joachim Ritters affirmative Deutung der Entzweiung bei Hegel. Ritter deutet sie als „die Aufgabe, die Entfremdung dadurch aufzuheben, daß sie die Positivität der Entzweiung als Form der Einheit aus ihr zurückgewinnt“.69 Zu bedenken ist aller­ dings, dass die Form der Einheit, zu der man aus der Entfremdung (in Honneth: aus der Pathologie des Rechts) zurückkehrt, auf der (noch vorpolitischen) Ebene der bürgerlichen Gesellschaft nur eine ‚relative‘ Einheit sein kann. Daher kann diese Einheit, wie Emil Angehrn mit Hegel gegen Ritter eingewandt hat, lediglich als die „Notwendigkeit, daß das Besondere sich zur Form der Allgemeinheit erhebe“,70 verstanden werden: „Nicht wird das Besondere an ihm selber, in seinem Inhalt, zu einem Allgemeinen, sondern es muß – gerade um seinen besonderen Zweck erfül­ len zu können – sich nur der Form des Allgemeinen unterwerfen. Dadurch aber wird ihm diese zum Mittel, wie umgekehrt die Besonderheit für das Allgemeine zum bloßen Mittel seiner – abstrakten – Selbstrealisierung herabsinkt.“71 Dieses instrumentelle Verhältnis, das unter den Bedingungen der Entzweiung zur Bedin­ gung der gesellschaftlichen Reproduktion selbst erhoben wird, haben Hegel und der späte Marx bereits für „die logische Figur jener realen Abstraktheit“ gehalten, die das Freiheitspotential verkürzt, und haben es unter diesem Aspekt kritisiert. 68  GPR, § 57, S. 124; vgl. auch ebd., § 260; vgl. hierzu Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 82 – 85, die an dieses Diktum Hegels im Kontext der kritischen Unterscheidung von „natürlicher“ und „konstituierter Freiheit“ erinnert: S. 82 f. 69  Joachim Ritter, Hegel und die französische Revolution [1956], in: ders., Metaphy­ sik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt am Main 2003, S. 183 – 255, hier: S. 252; vgl. hierzu kritisch: Emil Angehrn, Freiheit und System bei Hegel, Berlin/New York 1977, S. 233. 70  GPR, § 186, S. 343. 71  Angehrn, Freiheit und System bei Hegel, S. 233.

Einleitung

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Diese logische Figur, so der Einwand, erlaubt es nur, zu einer ‚formellen Befreiung‘ vorzudringen – „indem die Besonderheit der Zwecke der zugrundeliegende Inhalt bleibt“.72 Diese kritische Einsicht erweist sich besonders dann als produktiv, wenn es um die Frage nach den Begrenzungen des Befähigungsmodells des sozialstaatlichen Rechts geht. Bei den Analysen wohlfahrtsstaatlicher Politik wurde vielfach auf die besondere Rolle des Staates hingewiesen, der sich gerade der Struktur der subjek­ tiven Rechte bedient, um seine Zweckprogramme zu verwirklichen.73 So hat Niklas Luhmann pointiert und beinahe sarkastisch angemerkt, dass „der Wohlfahrtsstaat [davon] lebt, daß Ungleichheit auf gesamtgesellschaftlicher Basis schneller repro­ duziert wird, als sie beseitigt werden kann.“74 Als flexibles politisches Instrument scheint individuelle Ermächtigung daher in besonderer Weise geeignet zu sein, als Mittel der wohlfahrtsstaatlichen Politik eingesetzt zu werden: „Die soziale Inten­ tion bedient sich ja gerade der individuellen Berechtigung“, so Luhmann, indem „viele Sozialleistungen […] in Rechtsansprüche transformiert [werden]“.75 Politi­ sche Instrumentalisierbarkeit individueller Berechtigungen, deren Inanspruchnah­ me wiederum der Willkür des Einzelnen überlassen bleibt, wird hier überhaupt zur grundlegenden Voraussetzung des Operierens eines Sozialstaates erklärt. Christoph Menke formuliert diesen Befund der spezifischen sozialstaatlichen Subjektivierung in seinem jüngsten Buch Kritik der Rechte (2015) noch viel radi­ kaler, indem er diese Subjektivierungsform mit der Form des bürgerlichen Rechts als solcher verbindet.76 Auf dem Weg einer genealogischen Darstellung der (Selbst-) Kritik der ‚Rechte‘ beansprucht Menke, zu zeigen, dass ‚Privatrecht‘ und ‚Sozial­ recht‘ nicht etwa verschiedenen ‚Generationen‘ des Rechts entstammen oder ent­ sprechen (wie es Honneth im Anschluss an Marshall dargelegt hat), sondern ganz konsequent zwei Seiten derselben ‚Form‘ des bürgerlichen Rechts bilden: Menke zufolge begründet das bürgerliche Recht eine „Weise der Berechtigung“, die zur Ermächtigung des ‚Eigenwillens‘ des Einzelnen führt. Diese Ermächtigung fun­ giert umgekehrt als der letzte Grund dieser neuen (gegenüber dem antiken und römischen Recht veränderten) Gestalt des Rechts.77 Der Streit um die Deutung des Rechts sei daher im Kern ein Streit darum, wie die Ermächtigung des Subjekts zu 72 

Vgl. ebd., S. 234, mit Bezug auf GPR, § 195. hierzu etwa Ulrich K. Preuß, Die Internalisierung des Subjekts. Zur Kritik der Funktionsweise des subjektiven Rechts, Frankfurt am Main 1979, insb. Kapitel 9: „Wertord­ nung und Verteilung“. 74  Niklas Luhmann, Subjektive Rechte. Zum Umbau des Rechtsbewußtseins für die moderne Gesellschaft, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, Frankfurt am Main 1981, S. 45 – 104, hier: S. 88 (Herv. T. S.). 75 Ebd. 76  Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015, insb. S. 135 – 315. Menkes grundle­ gender Beitrag zur Rechtskritik, der nach Abschluss des Manuskripts erschienen ist, konnte im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht mehr berücksichtigt werden. 77  Ebd., Teil III, S. 177 – 315. 73  Vgl.

C.  Anerkennung – Recht – Staat

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deuten ist, genauer: ob sie als „Sicherung der Willkürausübung (oder der Wahl von Zielen) durch das Eigentum als private Sphäre beliebiger Entscheidungen“ ausge­ legt wird, oder als eine materielle Form der Ermächtigung, die auf dem Weg der „Legalisierung der Interessenverwirklichung (oder der Bewertung von Ressour­ cen) durch das Eigentum als privates Vermögen sozialer Teilhabe“ zu realisieren sei.78 Folgt man Menkes Rekonstruktion, so handelt es sich bei dieser Rückwendung auf die Sozialpflichtigkeit des Rechts nicht um eine Entwicklung, die von der Idee der Gerechtigkeit oder der moralisch begründbaren Idee eines „responsiven Rechts“79 – und somit von einer dem Recht äußeren Rationalität – diktiert wird. Vielmehr muss sie als wesentliches Element der „Selbstreflexion“ des Rechts er­ kannt werden. Diese Selbstreflexion, so Menkes These, verfehlt sich jedoch selbst, wenn sie sich in der Form eines politischen Kampfes zwischen Privat- und Sozi­ alrecht vollzieht. Diesen ‚Kampf‘ deutet Menke lediglich als Reflex der positivis­ tischen Vollzugsoperation des bürgerlichen Rechts, die, statt das Recht selbstre­ flexiv zu verwirklichen, vielmehr das Gegenteil bewirkt – sie führt zum Abbruch der Reflexion. Die Kernthese von Menkes Rechtskritik lautet, dass das bürgerliche Recht sich nicht so verwirklicht, wie es der von ihm freigesetzten Selbstreflexion entsprechen würde: Die Selbstverfehlung dieser Form des Rechts bestehe darin, dass die Freiheit des Willens sich in die Freiheit der Willkür und der Wahl verkehrt und „rechtlich geschützte Interessen“80 des Subjekts nur noch positivistisch aufge­ fasst werden können.81 Grenzenlose Willkürfreiheit und positivistische Verkehrung der Rechte – die­ se beiden äußersten Pole der Vollzugsweise des bürgerlichen Rechts bestimmen Menke zufolge auch den „Kampf ums Recht“, der in der bürgerlichen Gesellschaft ausgetragen wird: „rechtspraktisch zwischen Privat- und Sozialrecht“, so Menke, „rechtspolitisch zwischen Liberalismus und Sozialismus (oder zwischen Liberalund Sozialdemokratie)“.82 Mit dieser Kritik, die dem bürgerlichen Formal- wie Sozialrecht gleichermaßen gilt, beansprucht Menke, zu zeigen, dass diese Dop­ pelnatur des Rechts einen Zustand hervorbringt, in dem politische Gestaltung von bloßer Verwaltung nicht mehr unterschieden werden kann. Auf diese Weise ver­ bindet Menke in Kritik der Rechte jedoch nicht nur „eine verschärfte Theorie der 78 

Vgl. ebd., S. 224. Zum „responsiven“ oder „reflexiven“ Recht siehe Gunther Teubner, Reflexives Recht. Entwicklungsmodelle des Rechts in vergleichender Perspektive, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 68 (1982), S. 13 – 59 (dort im Anschluss an Philippe Nonet/Philip Selznick, Law and Society in Transition: Toward Responsive Law, New York 1978); siehe auch Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System, Frankfurt am Main 1989, S. 81 ff. 80  Rudolf von Jhering, Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Dritter Teil, Erste Abteilung, 3. Aufl., Leipzig 1877, S. 339: „Rechte sind rechtlich geschützte Interessen.“ 81 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 225. 82 Ebd. 79 

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Ausdifferenzierung nach Luhmann mit dem Begriff der bürgerlichen Gesellschaft der kritischen Theorie“,83 sondern erneuert damit auch den Grundgedanken der Hegelschen Entzweiungskritik.84 Bereits mit Hegel lässt sich sagen, dass eine Situation, in der subjektive Rechte zu dem Mittel und Medium der Politik schlechthin werden, im Grunde einen Zu­ stand vor dem Staat, einen vorstaatlichen Zustand, beschreibt. Der Hegemonie des Privatrechts stellt Hegel die Einsicht entgegen, dass objektives Recht und subjektive Rechte – gerade im Namen politischer und individueller Freiheit – nicht einander gleichgeordnet sein dürfen. Als Freiheit sichernde und ermöglichende Instanz muss der Staat dieser Freiheit zugleich enthoben sein. Dieser Grundzug von Hegels poli­ tischem Denken lässt sich besonders gut an der durchgängigen Kritik kontraktua­ listischer Gesellschaftsbegründung ablesen: Der Geltungsgrund des Staates ist ver­ traglichen, mithin willkürlichen Dispositionen zu entziehen;85 andernfalls wüsste man nicht, was den Staat von einem „privatrechtliche[n] Verein zur Förderung einer Summe von Privatinteressen“86 unterscheidet. Mit Staats- und Unterwerfungsver­ tragstheorien wird man jedenfalls niemals zum Begriff des Staates als „Subjekt eines dem Einzelwillen vorgeordneten Gesamtinteresses“87 gelangen. Interpretiert man Hegels Entzweiungskritik als Kritik daran, subjektive Rechte für das Ganze des Rechts zu halten, so ist über die Verfasstheit des Staates nach­ zudenken, in dem das Recht nicht zu einem bloßen Instrument der Politik – und damit zugleich, mit Angehrn, zu einem bloßen Mittel der „abstrakten Selbstrea­ lisierung“88 des Staates – herabgesetzt wäre. Der Begriff des Staates wäre daran zu messen (und zwar unabhängig davon, welche Gestalt Hegels eigene Staatslehre letztlich angenommen hat), inwieweit er als Voraussetzung und Ermöglichungsbe­ dingung für ein Recht fungieren kann, das neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet, in denen sich – über private Zwecke und Interessen hinausgehende – allgemeine Freiheit realisiert. Ganz in diesem Sinne argumentiert Gertrude Lübbe-Wolff, wenn sie von der „Angewiesenheit nicht nur der sogenannten institutionellen Ga­ rantien, sondern aller Freiheitsgrundrechte auf freiheitskonstituierende staatliche Tätigkeit“ spricht.89

Christoph Möllers, Form der Rechte als Form des Rechts?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 64/2 (2016), S. 307 – 312, hier: S. 310. 84  Der Bezug auf Hegel, darunter auch auf Hegels Naturrechtsaufsatz, ist in Menkes Kritik der Rechte unverkennbar, etwa dort, wo die positivistische Verkehrung des bürgerli­ chen Rechts kritisiert wird (vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 167 ff., in expliziter Aufnahme von Hegels Kritik des Empirismus des Naturrechts: ebd., S. 169 f.), aber auch im Kontext der verdinglichenden Form der Ermächtigung des ‚Eigenwillens‘ (vgl. ebd., S. 263 ff.). 85  GPR, § 258; vgl. hierzu Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 80, Anm. 17. 86  Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 83. 87  Ebd., S. 84. 88  Angehrn, Freiheit und System bei Hegel, S. 233. 83 So

C.  Anerkennung – Recht – Staat

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Im Zentrum dieser Arbeit steht jedoch nicht Hegels eigene ‚Lösung‘ des Ent­ zweiungsproblems, den Staat als Bedingung politischer Freiheit zu entwerfen. Vielmehr setzen die hier vorgetragenen Ausführungen (wie zuvor schon, als es um die Überschreitung des Vernunftrechts zur Gerechtigkeitsgeschichte als Rechtsge­ nese ging) einen Schritt früher ein – bei der Rekonstruktion des Problems selbst, für das die angemessene Organisation des politischen Gemeinwesens dann als ‚Lö­ sung‘ überhaupt erst zu entwerfen wäre. Aus diesem vordergründigen Interesse am Problem (und nicht schon an der Lösung des Problems) erklärt sich der besondere Fokus dieser Arbeit: Sie stellt diejenigen Grundzüge der bürgerlich-liberalen poli­ tischen Kultur ins Zentrum der Diskussion, die Hegel mit dem beklagten Zustand der Entpolitisierung bzw. der Hemmung von individueller und öffentlicher Freiheit verbindet, um davon ausgehend wiederum Rückschlüsse auf gelingende Formen der Sozialität, der individuellen und öffentlichen Freiheit gleichermaßen, zu zie­ hen. 89

Insofern setzt die in dieser Studie unternommene Reflexion auf die Prozesse der Gesellschaftsbildung gleichsam unterhalb der Ebene des Staates und seiner Institu­ tionen ein. Dies ist jedoch nicht im Sinne der Bestätigung des vielzitierten Diktums Ernst-Wolfgang Böckenfördes gemeint, wonach „der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann“.90 Vielmehr wird hier an die Überlegung angeknüpft, dass der Staat als äußerer Zwangsapparat in dem Maße zurücktreten wird, wie sich wohlverstandene individuelle Frei­ heit, die mit politischer Freiheit nicht im Widerspruch steht, realisiert. Von beson­ derem Interesse ist daher die Frage, wie sich die Handlungsfreiheit des Einzelnen zu der Praxis öffentlicher Freiheit verhält. In der gegenwärtigen Hegel-Forschung wird diese Frage als die nach der Wechselwirkung von Autonomie und sozialen Praktiken diskutiert. Einige Differenzen der hier entwickelten Argumentation zu dieser aktuellen Diskussion sind nun zu skizzieren.

89  Im Anschluss an Peter Häberle und Hegel: Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsab­ wehrrechte, S. 84. 90  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkula­ risation [1967], in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatsthe­ orie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main 1991, S. 92 – 114, hier: S. 112. Daran schließt Böckenförde die Überlegung an, dass der Staat auf eine ihm unverfügbare Kraft des religiösen Bekenntnisses seiner Bürger angewiesen sei (vgl. S. 113 – 114). Unverkennbar ist die Nähe dieser Äußerung zu Carl Schmitts berühmter Sentenz, wonach „[a]lle prägnan­ ten Begriffe der modernen Staatslehre […] säkularisierte theologische Begriffe [sind]“ (Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität [1922], 8. Aufl., Berlin 2004, S. 43).

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Einleitung

D.  Von der Autonomie zur Logik der Autorisierung Die Verbindung von Individualität und Sozialität hat in der gegenwärtigen He­ gel-Forschung verstärktes Interesse erfahren.91 Besonders interessant ist in diesem Kontext die von Robert Pippin und Terry Pinkard initiierte Diskussion um das sogenannte „Paradox der Autonomie“,92 in der die Aktualität des Hegelschen Frei­ heitsbegriffs für eine Theorie sozialer Praktiken unterstrichen wird. Das Paradox der Autonomie wird von Kant her aufgeworfen und mit Hegel beantwortet. Kants Autonomiebegriff beruht auf einer Verschränkung von Freiheit und Gesetz: Das autonome Subjekt muss sich als „Urheber“ der Gesetze verstehen können, denen es sich zugleich unterwirft.93 Doch weil Kant Autonomie als die „Eigenschaft des Willens, sich selbst Gesetz zu sein“ versteht,94 entsteht an dieser Stelle ein Wider­ spruch oder gar ein Paradox: Der autonome Wille des Subjekts, das sich selbst das Gesetz gibt, ist entweder gesetzlos und damit willkürlich, sonst könnte er diesen Akt der Hervorbringung des Gesetzes aus sich selbst heraus nicht vollbringen, oder aber das Subjekt steht bereits unter einem Gesetz, das es in seinen Entscheidungen nur noch reflexiv bekräftigen95 muss. In beiden Fällen scheint Autonomie in He­ teronomie umzuschlagen.96 Terry Pinkard bestimmt dies im Anschluss an Robert 91  Exemplarisch seien hier genannt: Robert B. Pippin, Hegel’s Practical Philosophy. Ra­ tional Agency as Ethical Life, Cambridge 2008; ders., Idealism as Modernism. Hegelian Variations, Cambridge 2008, insb. S. 92 – 128; Terry Pinkard, Hegel’s Phenomenology. The Sociality of Reason, Cambridge 1996; Michael O. Hardimon, Hegel’s Social Philosophy. The Project of Reconciliation, Cambridge 1994. 92  Vom „Paradox der Autonomie“ spricht Terry Pinkard, German Philosophy 1760 – 1869. The Legacy of Idealism, Cambridge 2002, S. 59, 118, 226; vgl. zum „Kantian paradox“ Robert Pippin, The Realization of Freedom. Hegel’s Practical Philosophy, in: Karl Ameriks (Hrsg.), Cambridge Companion to German Idealism, Cambridge 2000, S. 180 – 199 sowie ders., Hegel’s Practical Philosophy, Kapitel III; einen sehr instruktiven Überblick über diese Thematik gibt Thomas Khurana, Paradoxien der Autonomie. Zur Einführung, in: ders./ Christoph Menke (Hrsg.), Paradoxien der Autonomie, Berlin 2011, S. 7 – 23 (siehe auch wei­ tere Aufsätze in diesem Band). 93  Siehe Kants berühmte Einsicht: „Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unter­ worfen angesehen werden muß“ (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785], in: ders., Werkausgabe in 12 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 7: Kri­ tik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt am Main 1977, S. 7 – 102, hier: S. 64; im Folgenden unter Angabe der Sigle GMS zitiert). 94  Vgl. GMS, S. 81: „Was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein, als Auto­ nomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein?“ 95 Zu diesem Konzept des ‚reflective endorsement‘ siehe Christine Korsgaard, The Sources of Normativity, Cambridge 1996, S. 49 – 89. 96 Vgl. Christoph Menke, Autonomie und Befreiung, in: Deutsche Zeitschrift für Philo­ sophie 58/5 (2010), S. 675 – 694, hier: S. 676; siehe auch Khurana, Paradoxien der Autono­ mie, S.  12 – 15.

D.  Von der Autonomie zur Logik der Autorisierung

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Pippin als ein „Kantisches Paradox“, das es mit Hegel in ein Modell von sozialen Interaktionen zu überführen gilt. Das Kantische Urhebermodell eines sich selbst gegebenen Gesetzes wird dabei in einen Prozess der wechselseitigen Autorisierung transformiert, der in einem sozialen Raum stattfindet, in dem Gründe ausgetauscht und geteilt werden. Diese Deutung, die Autonomie mit der Teilnahme an sozialen Praktiken verbin­ det, lässt sich als eine Alternative zu anderen, traditionelleren Varianten der He­ gel-Deutung verstehen. Hegels Position wurde oftmals als eine kommunitaristische Kritik an der Ontologie der atomistischen (äußeren) Zusammensetzung der Ge­ sellschaft aufgefasst97 – als Kritik einer Gesellschaft, die keine ‚communio‘, son­ dern lediglich ein ‚commercium‘ bildet.98 Tatsächlich gibt es zahlreiche Stellen in Hegels Werk, die suggerieren, dass die „individualistische Deduktionsbasis“99 der modernen Gesellschaft samt ihrer atomistischen Struktur zugunsten einer Vision von Gemeinschaft zu verwerfen sei, in der das Ganze gemäß dem aristotelischen Grundsatz „totum parte prius esse necesse est“100 vor seinen Teilen gedacht wird, die wiederum exemplarischer Ausdruck des Ganzen sein sollen. Diesen Ansatz für moderne Massengesellschaften in Anschlag zu bringen, scheint völlig abwegig und überholt zu sein: Der Verlust von Tugend ist nicht mehr wettzumachen und auf die geforderte „sittliche Virtuosität“101 der Individuen ist ohnehin kein Verlass. Gegen die kommunitaristischen Deutungen Hegels wird aber auch ein ande­ rer Einwand erhoben. Die von Hegel geforderte „Aufhebung der Moralität in Sitt­ lichkeit“102 wird als eine gegenüber Kants Liberalismus hoffnungslos unterlegene 97  Zu diesem Grunddilemma der Hegel-Deutung, welcher Stellenwert dem Individuum in Hegels Philosophie zukommt, siehe entlang der Darstellung von verschiedenen traditi­ onellen Interpretationslinien Henning Ottmann, Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, Bd. 1: Hegel im Spiegel der Interpretationen, Berlin 1977. 98 Vgl. Udo Tietz/Cathleen Kantner, Die Freiheit und ihre Institutionen. Hegel über die normative Integration von modernen Gesellschaften, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Sicherheit versus Freiheit. Verteidigung der staatlichen Ordnung um jeden Preis?, Wiesbaden 2012, S. 141 – 163, hier: S. 145. Für eine Erneuerung der Kantischen Idee einer ‚dynamischen Ge­ meinschaft‘ des ‚commercium‘ als kosmopolitische Antwort auf die Krise der gegenwärti­ gen Weltgesellschaft siehe Brian Milstein, Commercium. Critical Theory From a Cosmo­ politan Point of View, London 2015. 99  Rolf-Peter Horstmann, Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels poli­ tischer Philosophie, in: Manfred Riedel (Hrsg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 2, Frankfurt am Main 1975, S. 276 – 311, hier: S. 280 f. 100  Zur Rolle Jacobis, der auf diesen Satz häufig rekurriert, vgl. Jaeschke, Hegel-Hand­ buch, S. 153; siehe auch Hegels Kritik dieses Prinzips in: Hegel, Glauben und Wissen oder Re­ flexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jaco­ bische und Fichtesche Philosophie [1802], in: ders., Werke, Bd. 2, S. 287 – 433, insb. S. 335 ff. 101  GPR, § 150, S. 299. 102  Siehe hierzu Ludwig Siep, Was heißt „Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit“ in He­ gels Rechtsphilosophie?, in: ders., Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frank­ furt am Main 1992, S. 217 – 239.

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Einleitung

Position kritisiert, weil die Kritiker unterstellen, dass Hegels Theorie der Sittlich­ keit keine Lösung für das durch sie aufgeworfene Problem einer Einebnung der Unterscheidung „zwischen nur sozial praktizierten und moralisch gerechtfertigten Normen“103 enthält. Eine Ethik, die nicht in der Lage ist, „zwischen nur gegebenen und berechtigten Formen normativ gehaltvoller Praktiken“104 zu unterscheiden, ist jedoch unbrauchbar. Umgekehrt stellt sich allerdings im Anschluss an Hegels Kant-Kritik die ebenso berechtigte Frage, wie mit dem Problem umzugehen ist, dass die Moral, die aus allen sittlichen Kontexten herausgelöst und von der Reflexi­ on auf ihre eigenen Anwendungsbedingungen entkoppelt wird, sich im Grunde in einen Ausnahmezustand verwandeln muss. Angesichts dieser Situation scheint das einzig Richtige zu sein, mit Hegel darauf zu insistieren, dass es die „Normalität“ ist, „aus der die Norm stammt“ – kein „Ausnahmezustand“,105 sondern die schon vorhandene Vernünftigkeit.106 Die Debatte um das Paradox der Autonomie lässt sich vor dem Hintergrund dieses Streits als ein Vorschlag begreifen, „den hegelschen Weg einer kontextu­ alistischen Moralbegründung vom Vorwurf des bloßen Konventionalismus zu befreien“107 und dabei die Aporien und Begrenzungen des Kantischen Autono­ miebegriffs zu überwinden. Dieser Vorschlag besteht darin, die in den jeweiligen sittlichen Kontexten vorherrschende Dynamik gesellschaftlicher Interaktionen als einen Prozess der reziproken Befähigung und Ermächtigung zu begreifen, in dem es zur Aneignung und transformierenden Umdeutung von sozialen Praktiken kommt. Die ermächtigende Wirkung, die (gelingenden) sozialen Interaktionen in­ härent sei, wird darin gesehen, dass die Teilnehmer an sozialen Praktiken einander wechselseitig Mitspracherecht bei der Auslegung der diesen Praktiken zugrunde­ liegenden Normen einräumen.108 Soziale Praxis wird im Anschluss an Hegel als ein Prozess der wechselseitigen Autorisierung verstanden. So schreibt etwa Robert Brandom: „Someone becomes responsible only when others hold him responsible, and exercises authority only when others acknowledge that authority.“109 Ähnlich 103  Axel Honneth, Die Normativität der Sittlichkeit. Hegels Lehre als Alternative zur Ethik Kants, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62/5 (2014), S. 787 – 800, hier: S. 788. 104  Ebd., S. 790. 105 Vgl. Henning Ottmann, Die Genealogie der Moral und ihr Verhältnis zur Sittlichkeit, in: Birgit Sandkaulen/Volker Gerhardt/Walter Jaeschke (Hrsg.), Gestalten des Bewußtseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, Hamburg 2009, S. 266 – 275, hier: S. 270. 106  So lässt sich auch Axel Honneths Projekt einer „Gerechtigkeitstheorie als Gesell­ schaftsanalyse“ verstehen, in dem die konkreten Institutionen der gesellschaftlichen Wirk­ lichkeit auf ihren „moralischen Bestand und [ihre] Legitimität“ hin befragt werden – und damit auf ihre Potenz, „der allgemeinen Ermöglichung und Verwirklichung der individuel­ len Freiheit zu dien[en]“ (Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 16). 107 So Honneth, Die Normativität der Sittlichkeit, S. 789. 108  So auch ebd., S. 796 ff. 109  Robert Brandom, Autonomy, Community, Freedom, in: ders., Reason in Philosophy. Animating Ideas, Cambridge 2009, S. 52 – 77, hier: S. 70.

D.  Von der Autonomie zur Logik der Autorisierung

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hebt auch Robert Pippin hervor, Hegel habe Kants Autonomieauffassung in eine ‚retrospektive Rekonstruktion‘ desjenigen Prozesses transformiert, in dem wir ei­ nander wechselseitig zu etwas anhalten und dabei die Normen verändern. Erst auf diese Weise, durch Teilnahme an einer kollektiven Praxis werden wir zu ‚Autoren‘ der Bindungen, die uns ausmachen, und zwar „without any suggestion of ‚mo­ ments‘ of norm-institution“.110 Axel Honneths Position kommt diesen Überlegungen ebenfalls sehr nahe. Auch Honneth unterstreicht, dass gemeinsame Normbefolgung auf Prozessen der „wech­ selseitige[n] Einräumung von korrigierender Autorität“ beruht.111 Diesen Vorgang der Autorisierung der Normen durch die beteiligten Akteure selbst beschreibt Hon­ neth so, dass die eine Person ihrem Interaktionspartner die Kompetenz zubilligt, die „auf sie gerichteten Handlungen an den vorausgesetzten Standards“ des jewei­ ligen sozialen Handelns „beurteilen zu dürfen“.112 Die jeweiligen Argumente und Gründe, die für die Anwendung der Norm bei der wechselseitigen Bewertung der Handlungsvollzüge mobilisiert werden, können – je nach Handlungskontext und Art von Freiheit, die in der gemeinsam akzeptierten Norm zum Ausdruck kommt – sehr verschieden sein: So können im Fall von Liebe „bloße Artikulationen von Gefühlseinstellungen“ als legitime Gründe gelten, während notwendigerweise an­ dere Sorten von Gründen mobilisiert werden müssen, wenn etwa die Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft von ihrer deliberativen Autonomie Gebrauch machen.113 Entscheidend für die sittliche Praxis der Anerkennung, die die Art von Grün­ den, die diese Praxis autorisieren, bestimmt und begrenzt, ist, dass die Erfüllung der jeweils geforderten und eingeforderten Verpflichtungen zugleich als Bedin­ gung der eigenen Selbstverwirklichung verstanden werden kann. Dies setzt voraus, dass die im wechselseitigen Anerkennungsprozess „gebilligten Normen ethische Zwecke zum Ausdruck bringen“, in denen sich die Bestrebungen, Neigungen und Absichten der Akteure widerspiegeln.114 Dabei gilt, dass – obwohl die Legitimität der jeweiligen Praxis der kollektiven Normbefolgung von Akten der Autorisierung jener Normen durch die Individuen abhängt – die Praxis selbst als eine solche be­ griffen werden muss, die der individuellen Kontrolle entzogen bleibt: Denn welche Normen auf „ethische Resonanz“ stoßen und welche nicht, ist nicht vorhersehbar und letztlich dem Wechselspiel der individuellen Neigungen anheimgegeben.115 Ähnlich beschreibt auch Eva Illouz die Dynamik der sozial vermittelten Autono­ mieausübung, wenn sie von „zwei soziologischen Tatsachen“ ausgeht, zum einen, „dass unser Wert und unsere Wertschätzung nicht schon vor Interaktionen gegeben sind und a priori feststehen, sondern fortwährend bearbeitet und bestätigt werden Pippin, Hegel’s Practical Philosophy, S. 115. Honneth, Die Normativität der Sittlichkeit, S. 793. 112  Vgl. ebd., S. 791. 113  Vgl. ebd., S. 792. 114  Ebd., S. 793 f. 115  Ebd., S. 794. 110  111 

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Einleitung

müssen“ und zum anderen, „dass unser Wert davon abhängt, dass wir uns in einer Beziehung bewähren“.116 Bei aller Aufschlusskraft dieses Modells, das von der sozialen Konstitution des Subjekts durch Prozesse wechselseitiger Autorisierung ausgeht, fällt eines doch besonders auf – dass es in letzter Instanz an Hegels Begriff der bürgerlichen Ge­ sellschaft orientiert bleibt. Für die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft gilt, was auch für das Autorisierungsmodell gilt – dass „der besondere Zweck […] sich durch die Beziehung auf andere die Form der Allgemeinheit [gibt] und [sich] befriedigt […], indem er zugleich das Wohl des anderen mit befriedigt“.117 Doch während die Aktivität des Subjekts in der bürgerlichen Gesellschaft bei Hegel (und Marx) noch in dem schöpferischen und transformativen Moment der Arbeit gesehen wurde, wird sie bei den hier diskutierten Autoren, die das Autorisierungsmodell zum Para­ digma der sozialen und individuellen Freiheit erheben, in erster Linie als Ausübung von kommunikativer Freiheit verstanden. Die kommunikative Kompetenz, unsere Handlungen in einem kooperativen Miteinander vom Standpunkt der Normen, die jeweils allgemeine Zustimmung für sich beanspruchen können, zu prüfen, zu be­ gründen und zu rechtfertigen, wird zum entscheidenden Gesichtspunkt der sittli­ chen und individuellen Freiheit erklärt. Die Autorität der Norm als eine dynamische Praxis der Autorisierung aufzufas­ sen, wird Hegels Kant-Kritik auf den ersten Blick gerecht, auf den zweiten Blick ist jedoch zu erkennen, dass damit gerade die Pointe dieser Kritik verfehlt wird. Dieses dynamische Modell wird Hegels Kant-Kritik insofern gerecht, als es der mit dem klassischen Liberalismus verbundenen Gefahr entgeht, die Autorität der Norm der gesichtslosen Autorität einer anonymen Macht überantworten zu müssen. Die­ sen Grundzug des klassischen Liberalismus, dessen zentrale Begriffe ‚Gewissen‘ und ‚Vernunft‘ die „Forderung nach unpersönlicher Herrschaft“ mit aussprechen,118 hat Hegel früh erkannt – und zwar nicht als Stärke, sondern als Problem, denn für das klassische liberale Denken ist es unmöglich, die Frage nach der Herkunft von Autorität konkret zu beantworten: Politisch soll die Herrschaft des Gesetzes gelten, das sich am Ideal der Unparteilichkeit orientiert und sich im Prozess der öffentli­ chen Meinung und des freien Diskurses unter Gleichen bildet; ökonomisch soll die Herrschaft des Marktes durch freie Konkurrenz angetrieben werden; sozial wird die Herrschaft des Individuums als eines atomisierten und nur in dieser Weise als autonom geltenden Einzelnen behauptet, und so fort.

116  Eva Illouz, Das Verlangen nach Anerkennung. Liebe und die Verletzlichkeit des Selbst, in: Rainer Forst u.a. (Hrsg.), Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt am Main 2009, S. 64 – 86, hier: S. 65 (Herv. T. S.). Den Hinweis auf die Nähe dieser Überlegung zu Hon­ neths Anerkennungslehre verdanke ich Norbert Axel Richter. 117  GPR, § 183, Z, S. 340. 118  Ulrich Dierse/Ralf K. Hočevar/Horst Dräger, Art. „Liberalismus“, in: Joachim Rit­ ter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel/Stutt­ gart 1980, Sp. 256 – 272, hier: Sp. 267.

D.  Von der Autonomie zur Logik der Autorisierung

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Die Entkoppelung der Autorität von konkreten einzelnen Instanzen dient hier zwar dem Zweck, den Menschen aus persönlichen Abhängigkeiten freizusetzen und Konstellationen zu verhindern, in denen direkte Herrschaft von Menschen über Menschen ausgeübt werden kann. Doch die Kehrseite der Anonymisierung von Autorität und Herrschaft ist die Blindheit für die Herkunft der Autorität, die Hegels genealogische Perspektive etwa in der Frage nach den Bedingungen der Geltung des Rechts wieder in den Blick gerückt hat. Eine weitere Kehrseite der Ano­nymisierung ist die undurchschaute Entfremdungsgefahr: Mit Hegel lässt sich die anspruchsvolle Frage, was diese Form der unpersönlichen Herrschaft von einem Zustand der Entfremdung unterscheidet bzw. mit welchen begrifflichen Mitteln diese Unterscheidung getroffen werden kann, überhaupt erst formulieren. Denn auch für die entfremdete Welt gilt, dass sie, mit Castoriadis gesprochen, von „einer kollektiven Anonymität“ beherrscht bleibt, die „in der Unpersönlichkeit der ‚öko­ nomischen Marktmechanismen‘, einer ‚Planungsrationalität‘ oder in ‚dem‘ Gesetz, wohinter sich das Gesetz einiger weniger verbirgt“,119 ihr anonymes Gesicht zeigt. Gegen die entfremdete Welt – so lautet auch Castoriadis’ Antwort – lässt sich nur die Logik der Autonomie und Individualisierung in Anschlag bringen. Diese Einsicht macht das Modell der Autorisierung produktiv, und dennoch lässt sich bei näherem Hinsehen ein Vorbehalt gegen das Autorisierungsmodell äußern. Die Herkunft der Autorität wird hier in die Normativität von sozialen In­ teraktionen aufgelöst, während die Reflexion darauf, ob das Modell der wechsel­ seitigen Autorisierung, das dieser Normativität zugrunde liegt, nicht gerade auf ei­ nem bestimmten Rechtsverständnis basiert, gänzlich unterbelichtet gelassen wird. Dabei liegt die Frage besonders nahe, ob das Autorisierungsmodell aus der sozialen Praxis allein zu erklären ist oder sich nicht doch auf die Logik der subjektiven Rechte stützt, wenn es sich dieser Logik nicht sogar allererst verdankt. Schließ­ lich besteht das charakteristische Merkmal von subjektiven Rechten gerade darin, deren Inanspruchnahme oder Ausübung von der autorisierenden Entscheidung des Rechtsträgers abhängig werden zu lassen. Trifft es zu, dass dieses Rechtsver­ ständnis, das für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiv ist, tatsächlich die ebenso unhintergehbare wie undurchschaute Voraussetzung für ein Modell des Sozialen bildet, das auf Formen der reziproken Autorisierung beruht, so ist unschwer zu sehen, dass damit von Anfang an die Möglichkeit ausgeschlossen wird, die Logik der bürgerlichen Gesellschaft jemals infrage zu stellen. Dies würde bedeuten, dass die gegenwärtige Hegel-Forschung an einem Modell des Sozialen festhält, das He­ gel selbst nicht für das letzte Wort hielt – und zwar aus Gründen, die es verdienen, ernst genommen zu werden. Es lässt sich zeigen, dass die Kritik am Liberalismus, die Hegel im Naturrechts­ aufsatz in aller Radikalität und Schärfe formuliert hat, von jenen Theoretikern, die Kants „Paradox der Autonomie“ in einen Normativität generierenden Vollzug von sozialen Praktiken überführen, nicht ernst genug genommen und in ihrer Tragwei­ 119 Vgl. Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer po­ litischen Philosophie [1975], Frankfurt am Main 1990, S. 185 f.

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Einleitung

te unterschätzt wird. Insbesondere Hegels Entpolitisierungsdiagnose wird in der gegenwärtigen Hegel-Forschung keine Beachtung geschenkt. Dies hat jedoch zur Folge, dass das politische Moment, das Hegel gegen die entpolitisierte Moderne in Anschlag gebracht hat, in allen bislang erwähnten Positionen, die mit Hegel auf die soziale Konstitution von Individualität hinweisen, zu kurz kommt. Insoweit wird auch die politische Brisanz von Hegels Modernitätskritik letztlich nicht erfasst. Diesem Desiderat sucht die Untersuchung zu begegnen – daher der enge Fokus auf Hegels Naturrechtsaufsatz, der den bleibenden Bezugspunkt der Argumentation darstellen wird. Die moderne Hegel-Forschung hat dieser Abhandlung wenig Be­ achtung geschenkt. Was spricht also dafür, dass man sich für diesen frühen Aufsatz dennoch interessieren sollte?

E.  Warum Hegels Naturrechtsaufsatz? Wer Hegels „genialischen Aufsatz“120 Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften aufschlägt, wird sich in den vom Titel geweckten Erwartungen enttäuscht sehen: Weder geht es hier um die Veror­ tung des Naturrechts in der praktischen Philosophie noch um überpositives Recht im Verhältnis zum geltenden Recht, etwa dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 oder sonstigem zeitgenössischen positiven Recht.121 Die Beschäftigung mit dem Naturrechtsaufsatz birgt außerdem gewisse Risiken, weil man sich – über die Ratlosigkeit hinsichtlich des Inhalts dieser Abhandlung hinaus – einer ebenso großen Verunsicherung darüber ausgesetzt findet, welche politische Position Hegel zu dieser Zeit einnimmt.122 Vordergründig bildet die Sittlichkeit der antiken Polis für Hegel das paradigma­ tische Modell politischer Freiheit und wird von ihm gleichsam als Folie verwen­ det, um die Verwerfungen der modernen Gesellschaft, die sich in naturrechtlichen Positionen spiegeln, bloßzustellen. In der Sittlichkeit der Polis konnte die Freiheit nach Hegels Überzeugung noch als Vereinigung mit dem Volk gedacht werden, während der Einzelne niemals isoliert, sondern stets als Teil der lebendigen Selbst­ organisation des Ganzen auftrat. Die Frage nach der sittlichen Organisation wäre demnach im Rückgriff auf Aristoteles als eine Frage nach dem Verhältnis von Teil und Ganzem zu diskutieren. Doch wäre es zu einfach und einseitig, wenn man He­ 120  Karl-Heinz Ilting, Art. „Naturrecht“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Ko­ selleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, Sp. 245 – 313, hier: Sp. 304. 121 Vgl. Hans Brockard/Hartmut Buchner, Einleitung, in: Georg Wilhelm Friedrich He­ gel, Jenaer Kritische Schriften (II), hrsg. von Hans Brockard/Hartmut Buchner, Hamburg 1983, S. VII–XXX, hier: S. XXIII. 122 Vgl. Mährlein, Volksgeist und Recht, S. 65 ff.; zur ambivalenten politischen Position Hegels in den Frankfurter Jahren siehe Georg Lukács, Der junge Hegel. Über die Beziehun­ gen von Dialektik und Ökonomie [1948], Bd. 1, Frankfurt am Main 1973, S. 166 ff.

E.  Warum Hegels Naturrechtsaufsatz?

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gel so verstünde, als sei in einer restlos integrierten politischen Einheit schon die Einlösung des Versprechens vorgezeichnet, das Individuum mit der Gemeinschaft zu versöhnen. Eine differenzlose Integration wäre nach Hegel nicht nur keine Versöhnungsop­ tion, sondern überhaupt kein politisch relevantes Gebilde. Denn das Modell einer restlosen Integration des sittlichen Lebens kennt nur Besonderes und Allgemeines, aber kein Einzelnes. In einem Zustand, in dem die Bürger „nur am Nichts oder am Ganzen Anteil haben“123 können, kann es keine konkrete Existenz des Individuums geben. Die Behauptung individueller Freiheit stünde hier im Zeichen eines doppel­ ten Untergangs: Die absolute Freiheit wäre entweder nur in der äußersten Gefahr des Todes des Individuums realisierbar oder aber das Individuum würde sich auf Kosten der Gemeinschaft behaupten – durch Zerstörung des sittlichen Ganzen. Mit anderen Worten: Das antike Modell beschreibt keinen Idealzustand. Hegel kann unmöglich einen Rückfall in die Figuren dieses alten „Zutrauens“ propagieren, „dass die Gesellschaft als ganze politisch regiert, daß sie als ganze politisch inte­ griert werden könne“,124 – so als „könnte auch das Staatsrecht sich als solches aufs Einzelne schlechthin beziehen“, schreibt Hegel, „und als eine vollkommene Polizei das Sein des Einzelnen ganz durchdringen wollen und so die bürgerliche Freiheit vernichten, was der härteste Despotismus sein würde“.125 Der „Despotismus“ endet im Terror, wie er Hegel in Gestalt des jakobinischen Terrors noch vor Augen stand. Demnach kann es Hegel mit den Begriffen ‚Organisation‘ und ‚Gestalt‘, die im Naturrechtsaufsatz immer wiederkehren, nur darum gehen, die Differenz zu einem Integrationsmodell des sittlichen Lebens zu markieren. Zwar ist die organizistische Metaphorik, die im Übrigen auch sonst, denkt man nur an die Diskussionen um Blumenbachs Theorie des ‚Bildungstriebs‘ (nisus formativus),126 die Debatten der Zeit beseelte,127 auch im Naturrechtsaufsatz allenthalben präsent, etwa wenn Hegel 123 In Anlehnung an Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main 2002, S. 22: „Wer ohne Anteil ist – die Armen der Antike, der dritte Stand oder das moderne Proletariat –, kann in der Tat nur am Nichts oder am Ganzen An­ teil haben.“ Damit soll nicht gesagt werden, dass Rancières Politikbegriff, der sich auf den „Streit“ um die „Zählung“ der Teile einer Gemeinschaft noch vor allem Recht bezieht, mit Hegels Verständnis von Politik, das einen Rechtsbegriff wiederum voraussetzt, kompatibel ist. 124  So die Formulierung von Christoph Menke, „Anerkennung im Kampfe“. Zu Hegels Jenaer Theorie der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften, in: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 77/4 (1991), S. 493 – 507, hier: S. 494. 125  NR, S. 519. 126  Johann Friedrich Blumenbach [1789], Über den Bildungstrieb und das Zeugungsge­ schäfte, 3. Aufl., Göttingen 1791, S. 32. 127  Zur Frage, inwieweit organische Natur bei Hegel als Modell für Staat und Gesell­ schaft fungiert, ohne dass Hegel sich dem Vorwurf des Naturalismus oder Biologismus aussetzen muss, siehe Johannes Rohbeck, Staat und kulturelle Evolution nach Hegel, in: Andreas Arndt/Jure Zovko (Hrsg.), Staat und Kultur bei Hegel, Berlin 2010, S. 105 – 118, zu Hegels Bezugnahme auf Blumenbach: ebd., S. 112 f.

Einleitung

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vom Verhältnis der „organischen zur unorganischen Natur“ spricht,128 oder dort, wo von der „Vereinzelung“ als „Krankheit und […] Anfang des Todes […], wenn ein Teil sich selbst organisiert und sich der Herrschaft des Ganzen entzieht“,129 die Rede ist. Doch darf man, wie Ludwig Siep betont, nicht übersehen, dass „gerade der Begriff des Organischen – der immer wieder als romantisch und totalitär kriti­ siert wurde“, so paradox es auch klingen mag, „die ‚liberalen‘ Züge der hegelschen Staatsphilosophie [enthält]: Wenn Hegel der liberalen politischen Tradition irgend­ wo nahekommt, dann […] im Gedanken der Selbstständigkeit der Teile und ihrer Selbstverwaltung“.130 Der Eindruck von Ambivalenz in den frühen Schriften Hegels, der mit der un­ klaren politischen Position Hegels und der so starken Präsenz der organizistischen Metaphorik zusammenhängt, verrät letztlich nur, dass Hegel zu diesem Zeitpunkt „noch keine ausgereifte politische Theorie entwickelt hatte, sondern mit Wider­ sprüchen zwischen aufklärerischen Gedanken und seinem Ideal der griechischen Polis rang“.131 Dennoch ist der Naturrechtsaufsatz außerordentlich reich an innova­ tivem Potential und in vielerlei Hinsicht radikal und provozierend. Schon auf den ersten Blick ist Hegels Ansatz originell, weil er sich anderen bekannten philoso­ phischen Versuchen, über die Fundierung der Gesellschaft nachzudenken, nicht wirklich zuordnen lässt: Weder geht Hegel von einer Theorie des Selbstbewusst­ seins aus, wie Fichte, noch geht er von Sittengesetz, Rechts- und Tugendpflichten aus, wie Kant; auch von anthropologischen Annahmen und vertragstheoretischen Überlegungen, wie man sie von Bodin bis Hobbes, von Locke bis Rousseau kennt, wendet sich Hegel ab und kritisiert sie als unterkomplex, wenn nicht sogar als fehl­ geleitet; ebenso wenig entwickelt Hegel eine Theorie der Gerechtigkeit, wie sie im Zentrum der politischen Theorie der Gegenwart steht. Stattdessen geht es Hegel, wie es Hans Brockard und Hartmut Buchner zu Recht herausgestellt haben, um „grundsätzliche Vorüberlegungen zu einer systematischen Ethik“.132 Dabei verwirft Hegel kriteriologische und begründungstheoretische Verfahren als ungeeignet, um die Frage nach der politischen und sozialen Ordnung philo­ sophisch – das heißt aber für Hegel: angemessen komplex – auch nur zu stellen, geschweige denn zu beantworten. Diese Verfahren greifen Hegel zufolge schon auf dem Feld der Epistemologie zu kurz, seien aber ganz und gar unzulänglich, wenn es um Fragen der politischen Philosophie und der Moralphilosophie geht.133 Dem­ gegenüber entwickelt Hegel ein eigenes Verfahren, das er sogleich performativ im 128 

NR, S. 487 f., 494 f., 521. NR, S. 517. 130  Ludwig Siep, Zum Freiheitsbegriff der praktischen Philosophie Hegels in Jena, in: Dieter Henrich/Klaus Düsing (Hrsg.), Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit Schelling, Bonn 1980, S. 217 – 228, hier: S. 224 f. 131 So Mährlein, Volksgeist und Recht, S. 66. 132  Brockard/Buchner, Einleitung, S. XXIV. 133 Vgl. Seyla Benhabib, Critique, Norm and Utopia. A Study of the Foundations of Cri­ tical Theory, New York 1986, S. 9. 129 

E.  Warum Hegels Naturrechtsaufsatz?

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Zuge der Zurückweisung der von ihm kritisierten Positionen vorführt, zu denen so­ wohl der „Empirismus“ der älteren Rechts- und Staatstheorien zählt (womit Bodin, Hobbes und Rousseau gemeint sein dürften) als auch der begründungstheoretische Apriorismus der Vernunftrechtslehren Kants und Fichtes, die er provozierender­ weise als einen Empirismus im neuen Gewand entlarven will.134 Hegels eigenes Verfahren ist die Methode der immanenten Kritik. Es wäre nicht übertrieben, zu sagen, dass Hegel diese Methode im Naturrechtsaufsatz überhaupt erfunden hat.135 Was unter immanenter Kritik zu verstehen ist, hat Seyla Benhabib im Anschluss an Hegel vermittels der Unterscheidung von criticism und critique besonders treffend erläutert: Während Kritizismus außerhalb des kritisierten Ge­ genstands steht, Normen gegen Fakten geltend macht und der Unvernünftigkeit der Welt die Vorschriften der Vernunft entgegenstellt, hält sich Kritik an das im­ manente, normative Selbstverständnis ihres Gegenstands und konfrontiert dieses Selbstverständnis mit seiner eigenen materiellen Wirklichkeit.136 So erläutert es auch Herbert Schnädelbach: Ihrem „Grundsatz“ nach soll immanente Kritik „ohne äußeres Zutun zeigen lassen, daß die kritisierten Positionen durch ihre eigene Lo­ gik auf das Gegenteil dessen hinauslaufen, was sie intendieren“.137 Wie diese Kritik in actu funktioniert, lässt sich an den Einwänden Hegels gegen Hobbes, der sich als Referenzfigur der Kritik identifizieren lässt, verfolgen: Gegen Hobbes wendet Hegel ein, dass die Opposition von Natur- und Rechtszustand sich in Wahrheit einer Projektion des Aposteriorischen, des gelebten „Chaos“, ins apri­ orisch Normative verdanke.138 Das Verlassen eines gewaltsamen Naturzustands misslingt, weil sich ein neuer Zustand der Gewalt etabliert, in dem das Recht nur der Legitimierung der Herrschaft dient und der Status der Unterwerfung des Ein­ zelnen gleichsam auf Dauer gestellt wird. Gerade weil das „Sein der Einzelnen“ beim Entwurf des politischen oder gesellschaftlichen Zustands „als das Erste und Höchste“ vorausgesetzt wird, so Hegels Argument, „[bedingt] die vorausgesetzte Freiheit […] die Unterwerfung unter eine dem einzelnen äußerliche und darum selbst einzelne und besondere Gewalt“.139 Somit wird die Einzelheit des Menschen im Naturzustand nicht etwa im Sozialen aufgehoben, sondern nur das „Verhältnis des ‚unterwürfigen Einsseyns‘ ständig reproduziert“.140 134 

Vgl. ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 9. 136  Ebd., S. 33 (Übers. T. S.); im Original: „While criticism […] stands outside the object it criticizes, asserting norms against facts, and the dictates of reason against the unreasonab­ leness of the world, critique refuses to stand outside its object and instead juxtaposes the im­ manent, normative self-understanding of its object to the material actuality of this object.“ 137  Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung, Frankfurt am Main 2000, S. 65. 138  Vgl. NR, S. 445. 139  Manfred Riedel, Hegels Kritik des Naturrechts [1967], in: ders., Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1969, S. 42 – 74, hier: S. 51. 140 Ebd. 135 

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Einleitung

Hegels Methode der immanenten Kritik hat die linkshegelianische Tradition über Marx bis hin zur Kritischen Theorie maßgeblich geprägt. Um eine poin­ tierte Formulierung Rahel Jaeggis aufzunehmen, „kritisieren sich hier die Dinge selbst“.141 Die Kritik ist „objektiv“ verfasst, „sofern sie als kritischer Nachvollzug der auf Seiten der Objekte (der Verhältnisse) liegenden Spannungsverhältnisse, Krisenmomente und Defizite auftritt“.142 Im Vollzug der Kritik werden die Voraus­ setzungen der kritisierten Verhältnisse eingeholt:143 „Immanente Kritik“, so Jaeggi, „lokalisiert die Normativität sozialer Praktiken in den Vollzugsbedingungen dieser Praktiken selbst“,144 doch indem die Kritik davon ausgeht, „dass die Kontexte, aus denen sie ihre Maßstäbe bezieht, gleichzeitig in sich widersprüchlich sind“, geht sie über die Aufgabe hinaus, Vollzugsbedingungen von jeweiligen Praktiken ledig­ lich auszuweisen, und ist zugleich „auf eine durch die immanenten Probleme und Widersprüche einer bestimmten sozialen Konstellation beförderte Transformation des Bestehenden ausgerichtet“.145 Diese Strukturbeschreibung der Kritik lässt sich bereits auf Hegels Vorgehens­ weise im Naturrechtsaufsatz beziehen: Wenn Hegel hier die Projektion bereits bestehender rein privatrechtlich geregelter Verhältnisse ins apriorisch Normative offenlegt und beklagt, so verbindet sich in der Kritik die Perspektive der Eman­ zipation aus den bestehenden Verhältnissen mit dem Versprechen eines Frei­ heitsgewinns, der durch gesteigerte Selbstreflexion erreicht werden kann. Diese Selbstreflexion ist von der Art, dass sie vor keinem auch noch so selbstverständlich erscheinenden Rationalitätsmodell haltmacht. Mit dieser doppelten Wirkung der immanenten Kritik, auf die Rahel Jaeggi hingewiesen hat, – mit der Transforma­ tion der gesellschaftlichen Verhältnisse und dem Freiheitsgewinn durch gesteiger­ te Selbstreflexion – hängt ein weiterer Punkt zusammen, der die Radikalität von Hegels Naturrechtsaufsatz vor Augen führt. Dieser Punkt trifft die moderne po­ litische Philosophie im Kern, denn er besteht in Hegels Relativierung desjenigen Kriteriums, das seit Hobbes und seit Kant als die Basis der Legitimität einer jeden politischen Entscheidung, von der Frage nach legitimen Herrschaftsformen ganz zu schweigen, betrachtet werden kann.146 Gemeint ist das Kriterium der rationalen Zustimmung, das Hegel kurzerhand zur Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft erklärt147 und damit in seiner Geltung relativiert. Hegels Kritik richtet sich insbesondere gegen das Kantische Verfahren der reflexiven Prüfung von Normen auf ihre moralische Verbindlichkeit, gegen das 141  Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2014, S. 279; zur Form der immanen­ ten Kritik siehe insgesamt grundlegend ebd., S. 277 – 308. 142 Ebd. 143  Vgl. ebd., S. 281. 144  Ebd., S. 277. 145 Ebd. 146  Seyla Benhabib spricht von „rational consent“ als „the basis of legitimate political authority“ (dies., Critique, Norm, and Utopia, S. 9). 147  Vgl. ebd.

E.  Warum Hegels Naturrechtsaufsatz?

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„Vermögen dieses praktischen Gesetzgebens der reinen Vernunft“.148 Nach Kant ist es die „bloße gesetzgebende Form der Maximen“, die den individuellen Willen „mit allseitiger Einstimmung regiert“.149 In dieser Form der Selbstregierung ma­ nifestiert sich Hegel zufolge jedoch nicht mehr und nicht weniger als das „Prinzip des bürgerlichen Radikalismus“, der in Gestalt des allgemeinen Willens „zunächst vorbereitend bei Rousseau und dann in der Kantisch-Fichteschen Philosophie auf[trat]“.150 Was „bürgerlicher Radikalismus“ hier bedeutet, wird ganz plastisch, wenn man an die bekannten Figuren bei Rousseau und Kant erinnert, in denen Allgemeinheit als strikte Gegenseitigkeit gedacht wird: So macht etwa Rousseau für den Gemeinwillen geltend, dass es niemanden mehr geben kann, „der sich die­ ses Wort Jeder nicht zu eigen macht und der nicht an sich denkt, wenn er für alle stimmt“, denn niemand kann bei der Erfüllung der sich aus dem Gesetz ergeben­ den Verpflichtungen für andere arbeiten, „ohne zugleich für sich zu arbeiten“.151 Ähnlich äußert sich auch Kant, wenn er sich im Kontext der Reflexion über die Selbstgesetzgebung eines Volkes in der Metaphysik der Sitten von der Annahme leiten lässt, dass niemand sich entschließen werde, Unrecht zu tun „in dem, was er über sich selbst beschließt“.152 Der bürgerliche Radikalismus, der in diesen repub­ likanischen Figuren sichtbar wird, äußert sich darin, dass sich hinter dem Prinzip der „allgemeinen Einstimmung“, so Andreas Wildt, die „Wahrheit des sicherlich nicht leeren Prinzips der ‚Nützlichkeit‘“ verbirgt.153 Die von Hegel bereits entlarvte Verbindungslinie zwischen dem Kriterium der rationalen Zustimmung und bloßem Nützlichkeitskalkül zeigt an, dass es darauf ankommt, das von den Figuren der Selbstreferenz beherrschte Denken zu überschreiten. Hegels Forderung nach einer Rückgewinnung politischer Freiheit muss demnach auch im Lichte dieser Abstand­ nahme von republikanischen Denkfiguren gedeutet werden. Ungeachtet der Innovationskraft von Hegels Naturrechtsaufsatz, die insbeson­ dere in der von ihm erprobten Methode der immanenten Kritik zu sehen ist, sollen die methodologischen Schwierigkeiten keineswegs verschwiegen werden, mit de­ nen die Untersuchung zu kämpfen hatte. Der grundlegende Zug von Hegels Zeit­ 148 

NR, S. 463. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft [1788], hrsg. von Horst D. Brandt/Heiner F. Klemme, Hamburg 2003, [28], S. 37; im Folgenden unter Angabe der Sigle KpV zitiert; Seitenangaben in eckigen Klammern beziehen sich auf die Paginierung des Abdrucks der Kritik der praktischen Vernunft in der Akademie-Ausgabe (= Bd. 5 der Ge­ sammelten Schriften, Berlin 1908; 2. Aufl., 1913). 150  Andreas Wildt, Hegels Kritik des Jakobinismus, in: Hans-Georg Gadamer (Hrsg.), Stuttgarter Hegel-Tage 1970, Bonn 1974, S. 417 – 427, hier: S. 418 (Herv. der Namen entfernt, T. S.). 151  Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts [1762], hrsg. von Hans Brockard, Stuttgart 1977, hier: S. 33. 152  Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten [1797], in: ders., Werkausgabe in 12 Bän­ den, Bd. 8, Frankfurt am Main 1977, S. 309 – 634, hier: § 46, S. 432 (im Folgenden unter Angabe der Sigle MS zitiert). 153 Vgl. Wildt, Hegels Kritik des Jakobinismus, S. 418. 149 Vgl.

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diagnostik, politische und individuelle Freiheit zu verschränken, ist ungewöhnlich und verdient fraglos Beachtung. Doch wird er von Hegel nicht als ein konstruktiver Vorschlag entwickelt, sondern gleich doppelt überlagert: Zwar liegt die Verbin­ dung von politischer Freiheit und Individualität all seiner Zeitdiagnostik und sei­ ner Kritik der privatrechtlich organisierten und apolitischen Ordnung der Moderne unübersehbar als Voraussetzung oder vielmehr als eine Art Gegenfolie zugrunde. Aber diese Figur wird von Hegels geradezu euphorischer Heroisierung des antiken Freiheitsverständnisses überblendet und kommt aufgrund seiner einseitigen Ver­ urteilung der modernen Gesellschaftsform, die er insbesondere im Naturrechts­ aufsatz als einen Auswuchs des römischen Verrechtlichungsprozesses begreift, letztlich nicht zur Geltung. Will man eine solche Verbindung von individueller und politischer Freiheit, wie sie Hegel fordert, dennoch denken, so bedeutet dies, sie mit und über Hegel hinaus zu denken, und sich insbesondere auf seine Kritik der neueren natur- und vernunft­ rechtlichen Entwürfe einzulassen. Dabei ist stets zu beachten, dass Hegels Kritik, im Naturrechtsaufsatz wie anderswo in seinem Werk, „keine Auseinandersetzung mit individualisierten Personen [ist], sondern eine überspitzte Grundlage für die Herausarbeitung seiner eigenen Position“.154 So ist etwa bei Hegels selektivem Zu­ griff z.B. auf Kants Moralitätsbegriff und auf Fichtes Legalitätsverständnis stets im Auge zu behalten, dass Hegel zu keiner Zeit vor hat, fair zu kritisieren. Viel­ mehr ist die Einseitigkeit dieses Zugriffs selbst Teil der inhaltlichen Auseinander­ setzung, deren Zielrichtung sich erst nach der Kritik jener aus seiner Sicht unzurei­ chenden, wenn nicht gar fehlgeleiteten Denkmodelle offenbart, die er im Aufsatz diskutiert. Diese Doppelung der Perspektive erschwert die Textrekonstruktion. Die Pointe von Hegels Krisendiagnose und der geforderten Verbindung von individu­ eller und politischer Freiheit tritt erst allmählich – im kritischen Durchgang durch Hegels Kritik selbst – hervor. So viel ist immerhin gewiss: Hinter der Kritik an der modernen Nivellierung der Verhältnisse steht nicht die Rückkehr zum Tugendbe­ griff, sondern die Aufforderung, den Rechtsbegriff neu zu denken. Am Ende steht ein neuer Anfang – die Aussicht auf eine veränderte Theorie der Legalität, die ihre natur- und vernunftrechtliche Prägung, die „unechten Arten der wissenschaftli­ chen Behandlung des Naturrechts“,155 überschreitet.

F.  Struktur der Arbeit Die Untersuchung gliedert sich – entsprechend den drei großen Kapiteln – in einen zeitdiagnostischen, einen kritischen und einen konstruktiven Teil: (1) Das zeitdiagnostische erste Kapitel gilt der Rekonstruktion von Hegels mo­ dernitätskritischer Diagnose einer umfassenden Entpolitisierung, die mit dem Zustand der Entzweiung einhergeht und individuelle und öffentliche Freiheit 154  155 

Mährlein, Volksgeist und Recht, S. 73. So Hegel in Bezug auf den Empirismus und den Kritizismus: NR, 439.

F.  Struktur der Arbeit

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gleichermaßen bedroht. Hegels These vom Verfall politischer Freiheit wird dabei insbesondere hinsichtlich der Folgen für Sozialität diskutiert. Im Anschluss an eine ausführliche Rekonstruktion des Naturrechtsaufsatzes werden einzelne Dis­ kussionsstränge herausgehoben und interpretiert: Dazu gehört zum einen Hegels Problematisierung der neuzeitlich-modernen (für Hegel: römisch-bürgerlichen) Trennung von Moralität und Legalität und zum anderen seine Kontrastierung der ‚alten‘ und der ‚modernen‘ Form der Freiheit. Zugleich wird Hegels genealogische Sicht auf die Entstehung der Gesellschaft aus der Transformation der Polis in den Fokus gerückt. Dies erlaubt es, Hegels Verfallsgeschichte politischer Freiheit einer anderen Deutung zu unterziehen, als sie nach dem Muster eines Regresses hin zu tradi­ tionalen Formen der Sittlichkeit zu interpretieren. So zeigt sich, dass Hegel nicht den Vorschlag macht, gegen den modernen Zustand der umfassenden Privatheit den emphatischen Freiheitsbegriff der Polis zu restituieren. Vielmehr beschreibt er die modernen Verhältnisse sogar so, als ließe sich hier ein Rückfall in ‚antike‘ Formen der Beziehungslosigkeit konstatieren. Dieser Rückfall äußert sich als eine Wiederkehr der Beziehungslosigkeit auf der Ebene der entwickelten Beziehung. Es wird die These entfaltet, dass die moderne Form der Beziehungslosigkeit mit der Verfestigung einer politischen Kultur zusammenhängt, deren Recht und Moral es unmöglich machen, Beziehungen, die anders als relational bestimmt sind – de­ ren Freiheit sich nicht in der Wahlfreiheit erschöpft, die keine Tauschbeziehungen sind, etc. –, aus ihrer inneren Logik heraus eine Berechtigung zuzusprechen. Als Zwischenfazit kann daher festgehalten werden, dass die Wurzeln des allgemeinen Zustandes der Privatheit, von dem Hegel die moderne Gesellschaft bedroht sieht, in der ‚moralisch-juridischen‘ Verfasstheit einer politischen Kultur zu suchen sind, die sich Hegel zufolge wiederum in Kants Moralitätskonzeption abbildet. (2) Das zweite Kapitel stellt Hegels Kant-Kritik ins Zentrum und verfolgt dabei das Ziel, den Grundzügen des moralisch-juridischen Modells nachzugehen und die Beschränkungen dieses Modells auszuweisen. Hegels Kritik an Kant ist selektiv: Sie konzentriert sich auf das Verfahren der Prüfung von Maximen, insbesonde­ re auf den Verallgemeinerungstest, während die Dimension der Ausführung der Moral vollkommen ausgeblendet wird. Ausgehend von einer Reflexion darüber, weshalb Hegel so selektiv verfährt, wird gezeigt, dass Hegels Kritik an Kants Mo­ ralitätsbegriff in erster Linie als eine Kritik am Kantischen Legalismus zu inter­ pretieren ist. Es ist wichtig zu erkennen, dass Hegels Moralitätskritik zugleich als Kritik einer bestimmten Rechtsform zu verstehen ist, denn andernfalls wäre man gezwungen, Hegels Kritik an Kant tatsächlich, wie oft geschehen, als platt und „unglaublich einfältig“156 zurückzuweisen. Hegels Argumentation führt jedoch vor Augen, dass es ihm um etwas ganz Bestimmtes geht – darum, auf die Spiegelung privatrechtlicher Kategorien im moralischen Urteil der Subjekte hinzuweisen und 156  So etwa Marcus G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik. Zur Logik des morali­ schen Argumentierens, übers. von Claudia Langer/Brigitte Wimmer, Frankfurt am Main 1975, hier: S. 291.

Einleitung

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sie zu problematisieren. Hegels Kritik gilt einer Moral, die in letzter Instanz am ‚formellen‘ ‚bürgerlichen‘ Recht – und damit am Modell enger Pflichten – orien­ tiert bleibt. Dies schränkt das Handlungsspektrum des Subjekts (und damit seine Autonomie) auf das Erlaubte und Nichtverbotene ein, während das positiv Gebote­ ne ‚tautologisch‘ bleiben muss. Kants Prozedur der Überprüfung von Normen auf ihre moralische Verbindlich­ keit, von der die Möglichkeit der individuellen Selbstbestimmung abhängt, deutet Hegel als einen Empirismus im neuen Gewand: Das Subjekt könne nämlich gar nicht anders, als gewissen moralischen Normen vorweg allgemeine Gültigkeit zu unterstellen. Im Grunde muss man sogar befürchten, dass sich ein Verfahren der Urteilsfindung, das sich am Maßstab der Unparteilichkeit und Neutralität orien­ tiert, unter der Hand in ein Verfahren der Legitimierung von beliebigen (strittigen) Maximen verkehrt. Wenn aber das Prüfungsverfahren ununterscheidbar wird von einem Legitimierungsverfahren, kann sich im moralischen Urteil des Subjekts nur Bestehendes reproduzieren. Dies kommt Hegel zufolge einer tautologischen Un­ verständlichkeit von Recht und Pflicht gleich, womit der Anspruch der Autonomie nicht nur nicht eingelöst, sondern sogar ins Gegenteil verkehrt zu werden droht. Hinter diesem düsteren Befund verbirgt sich ein bestimmter Typus von Rechts­ kritik, von der gezeigt wird, dass sie sich auf die im ersten Kapitel ausgesprochene Klage über beziehungslose, formelle Verhältnisse zurückbeziehen lässt. Hinter der Rechtskritik eröffnet sich jedoch auch die Perspektive eines neuen, adäquateren Verständnisses von freier Subjektivität: Das Subjekt soll nicht in erster Linie, wie bei Kant, als eine Instanz verstanden werden, die Ansprüche stellt, deren Legiti­ mität sie zugleich feststellt oder prüft, sondern es soll als das Subjekt des Rechts verstanden werden – im doppelten Sinn des genitivus objectivus wie subjectivus. Subjekt zu sein, bedeutet, ein Subjekt des Rechts zu sein, d.h. keine Ansprüche nach außen zu richten, sondern das Recht selbst zu wollen – mit Hegel: „daß also die Freiheit die Freiheit wolle“.157 Im Ergebnis zeigt sich, dass die eigentliche Pointe von Hegels Kant-Kritik darin zu sehen ist, dass Hegel die moraltheoretische Begründung der Autonomie gegen eine handlungs- und rechtstheoretische vertauscht. Im Grunde hat Andreas Wildt diese Einsicht schon vorbereitet, indem er darauf hingewiesen hat, dass jede „posi­ tiv-rechtlich[e] Wirklichkeit […] in einem Bedingungsverhältnis zur Wirklichkeit von Moralität“ steht158 – ohne daraus freilich die Konsequenz zu ziehen, dass die von ihm im Anschluss an Hegel unternommene Rechtskritik auf ein konstruktives, erweitertes Rechtsverständnis hin zu überschreiten wäre. Die in dieser Arbeit vor­ geschlagene Interpretation von Hegels Auseinandersetzung mit Kant führt dem­ gegenüber in die Überlegungen hinein, wie eine solche Überschreitung gedacht werden könnte. Im Ergebnis zeigt sich nämlich, dass man – um der Auflösung des Rätsels der subjektiven Freiheit in ihrer modernen Form näher zu kommen und um 157  158 

GPR, § 21, Z, S. 74. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 108.

F.  Struktur der Arbeit

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zu verstehen, wie Hegel der Auffassung sein konnte, dass gelingende Individualität zugleich politisch ist – nicht an die Moralphilosophie, sondern an die Reflexion der Genese des Rechts verwiesen ist. Mit dieser neuen Perspektive der Rechtsgenese erreicht man jedoch nicht schon die Lösung, sondern steht erneut vor einer – dies­ mal aber überhaupt erst richtig gestellten – Aufgabe. (3) Das dritte Kapitel begibt sich auf die Spurensuche nach Alternativen zu dem zuvor umrissenen ‚engen‘ Verständnis von Moral und Recht. Die Beantwortung der wiederaufgenommenen Frage nach der Handlungsfähigkeit und Autonomie des Subjekts stützt sich dabei auf den Willensbegriff bei Kant und den genealogischen (und ebenfalls willensbasierten) Begriff des Rechts bei Hegel. Ausgehend von He­ gels Forderung, Subjektivität als „das Verwirklichende“159 aufzufassen, wird in ei­ nem ersten Schritt erneut – diesmal aber nicht mehr in kritischer, sondern in konst­ ruktiver Absicht – an Kant, seine Konzeption der Autonomie, angeknüpft. Kant hat subjektive Freiheit zum einen mit der auktorialen Urheberschaft „der Verbindlich­ keit nach dem Gesetze“160 aufs Innigste verknüpft, zum anderen diese Fähigkeit, sich die Form der Verbindlichkeit zu geben, mit der Kraft des Willens verbunden und, drittens, jene Kraft als ein „Faktum der Vernunft“ zu untermauern versucht. Die in seinem Lehrstück über das „Faktum der Vernunft“161 aufgeworfene Frage, wie das Begehrungsvermögen vernünftiger Wesen durch bloßes Denken allgemein bestimmt werden kann,162 wird im dritten Kapitel zum Ausgangspunkt genommen für eine erneute Reflexion über Autonomie. Daraufhin wird die These entfaltet, dass Hegel diese Form der ‚auktorialen Autonomie‘, wie sie Kant prototypisch ent­ worfen hat, in einem völlig neuen Kontext produktiv gemacht hat – im Kontext der Rechtsgeschichte und der Rechtsgenese.163 Dafür steht in Hegels Phänomenologie des Geistes – am Übergang zur post-tra­ ditionalen Sittlichkeit – die „sittliche Handlung“ Antigones, der Heldin der gleich­ namigen Tragödie des Sophokles. Die Figur der Antigone, die sich dem Befehl des Stadtherren Kreon widersetzt und das göttliche Recht für sich in Anspruch nimmt, ihren im Kampf gegen Theben gefallenen Bruder zu beerdigen, wird als Prototyp einer politisch handelnden Individualität diskutiert. Weitere Überlegungen, die da­ ran anschließen, gelten der Spezifik der Transformation der Polis zur Gesellschaft, die als ein Prozess der Gesellschaftsbildung rekonstruiert und mit einer Reflexion über ‚Plastizität‘ von zwischenmenschlichen Beziehungen verbunden wird. Dieser Gang der Untersuchung – der von der Autonomie als „Faktum der Vernunft“ zu 159 

GPR, § 141, N, Anm., S. 290. MS, AB 28, S. 334. 161  KpV, § 7, [31], S. 42. 162 Vgl. Michael Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist. Auflösung ei­ niger Verständnisschwierigkeiten in Kants Grundlegung der Moral, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57/4 (2009), S. 511 – 549, hier: S. 517 f. 163 Vgl. Walter Jaeschke, Genealogie des Rechts, in: Birgit Sandkaulen/Volker Ger­ hardt/Walter Jaeschke (Hrsg.), Gestalten des Bewusstseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, Hamburg 2009, S. 284 – 301, insb. S.  284 – 291. 160 

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Einleitung

Hegels Genealogie des Rechts (einschließlich der Reflexion der Faktoren, die für Gesellschaftlichkeit als solche bestimmend sind) geführt hat – wird schließlich mit Hegels Theorie der „modernen Sittlichkeit“ aus den Grundlinien konfrontiert. Da­ bei wird deutlich, dass die Dimension der „auktorialen Autonomie“ der Subjekte in der Exposition des Willensbegriffs in der Einleitung zu Hegels später Rechtsphi­ losophie zwar eine entscheidende Rolle spielt, innerhalb des Sittlichkeitsmodells jedoch marginalisiert wird – mit nachteiligen Folgen für Institutionen wie Gesell­ schaft und Staat. Im Zentrum des Kapitels steht der Versuch, individuelle Freiheit und Autono­ mie mit einer politischen Theorie der Legalität zu verbinden, die das Recht als eine politische Praxis der Subjektivierung – der Rückwendung auf eigene Freiheit – versteht. Dieser Versuch wird in den gegenwärtigen Deutungen des Übergangs von Kant zu Hegel nicht unternommen. Ziel der kritischen Diskussion der Ansät­ ze von Terry Pinkard und Robert Brandom, die den Schritt von der „Paradoxie der Autonomie“ zum „sozialen Geist“ vollziehen, ist, zu zeigen, dass gerade das politische Moment der Freiheit, das Hegel selbst, wie zuvor bereits erwähnt, für zentral erachtete, in diesen Entwürfen zu kurz kommt. Um die Gründe dafür zu skizzieren, wird über das Problem der Verabsolutierung der Logik des Selbstbe­ wusstseins nachgedacht, die in sozialphilosophischen Ansätzen nach wie vor eine zentrale Rolle spielt. In diesem Zusammenhang wird erneut über das Profil des modernen Zustands der Entzweiung nachgedacht – diesmal wird allerdings He­ gels Rede von der „relativen“ Gestalt des Sittlichen als einer Form von „zweiter Freiheit“ aufgegriffen und interpretiert. Mit der Problematisierung eines solchen Freiheitsverständnisses fordert Hegel nichts Geringeres als eine Neubestimmung des Verhältnisses von Natur und Freiheit. So bruchstückhaft die Andeutungen, wie eine derartige Neubestimmung zu denken wäre, in dieser Arbeit auch ausfallen mögen, sie führen schneller als man denkt über Hegel hinaus – zu Schiller. * Die Untersuchung schließt mit Schillers Vision ästhetischer Freiheit. Auf die Frage nach dem „Bau einer wahren politischen Freiheit“164 hat Schiller eine ganz ei­ gene Antwort gefunden. Diese Antwort gleicht einer Provokation, besteht sie doch in der Auskunft, dass die Gesellschaft nur im Schein – allerdings im „ästhetischen Schein“ – wirklich sei.165 Es ist wahr: Schillers Reflexion über die entscheidende Rolle des Schönen für die Verwirklichung einer freien Gesellschaft verstrickt sich vor der Folie seiner problematischen Auseinandersetzung mit Kants Ästhetik und Moralphilosophie in zahlreiche Aporien, die die Realisierung der „ästhetischen Kultur“ letztlich als utopisch und undurchführbar erscheinen lassen. Dessen unge­ 164  Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders., Sämtliche Werke (= SW), hrsg. von Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert, Bd. 5, München 1967, S. 570 – 669, hier: 2. Brief, S. 572. 165  Vgl. ebd., 27. Brief, S. 667.

F.  Struktur der Arbeit

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achtet ist es gerade vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Hegels Ent­ zweiungskritik von besonderer Bedeutung, an Schillers Vision eines „ästhetischen Staates“ – an seinen Versuch, die natürliche Bedingtheit des Menschen mit den moralischen und politischen Ansprüchen ästhetisch zu vermitteln – zu erinnern. Der scharfsinnige Zeitdiagnostiker Hegel hat darauf aufmerksam gemacht, dass subjektive Freiheit sich unter bestimmten politisch-ökonomischen und posi­ tiv-rechtlichen Bedingungen verfehlen kann. Mit dem Verweis darauf, dass die Existenz des Menschen unter den Bedingungen der römisch-bürgerlichen Entzwei­ ung im Zeichen der „politischen Nullität“166 steht, hat er das Augenmerk darauf gelenkt, dass die Autonomie des Menschen Deformationen ausgesetzt sein kann. Die Einzelnen halten sich zwar für autonom, doch in ihrem moralischen Urteil reproduziert sich nur ein „Leben, das ihnen angeboten und erlaubt wird“.167 Indi­ viduelle Selbstverwirklichung würde demgegenüber erst darin unverkürzt ihren Sinn erhalten, dass sie, wie es Michael Theunissen einmal formuliert hat, „Allge­ meinheit realisier[t], indem das einzelne Subjekt in sich vernünftige Sachen in der Orientierung an der Allheit ihm gleicher Subjekte verfolgt“.168 Unnötig zu sagen, dass dies mehr erfordert als eine gute Gesinnung. Hinter Hegels Kritik an Kant eröffnet sich die Perspektive auf ein dem Subjekt nicht äußerliches Recht. Doch erst mit der Erinnerung daran, dass politische Befreiung nicht nur im Medium des Rechts, sondern auch auf ästhetischem Wege erfolgt, kann der politische Sinn der Aufgabe, eine höhere Allgemeinheit als die des bloß Gemeinsamen der Subjekte zu realisieren, unverkürzt vor Augen treten. Mit dieser Erinnerung wäre die Hoffnung verbunden, „die schiefe Vereinigung des Eigenen, das nicht wirklich eigen, und des Gemeinsamen, das nicht wirklich gemeinsam ist“,169 zu überwinden.

166 

Vgl. NR, S. 494. Hegel, Verfassungsschrift, S. 16; hierzu Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, S. 28 f. 168  Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, S. 45. 169  Rancière, Das Unvernehmen, S. 26. 167 Vgl.

Erstes Kapitel

Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen 1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

A.  Die Krise politischer Freiheit: Im Vorfeld der Jenaer Modernitätskritik Wenn Politik dazu berufen ist, gemeinsame Angelegenheiten öffentlich zu re­ geln, dann wird sie verkommen, wenn der Sinn für das Öffentliche in eine Krise gerät. Von einer Krise dieser Art sieht Hegel seine Zeit bedroht. Eine gewisse Ori­ entierungslosigkeit hinsichtlich dessen zu konstatieren, was ungeachtet dieser oder jener partikularen Interessen alle und jeden einzelnen angeht, ist allerdings erst der Anfang. Denn das Nachdenken darüber, was den Sinn für das Öffentliche auszeich­ net und was ihn verstellt, muss fundamentaler ansetzen und macht es erforderlich, die scheinbar unverfängliche Frage „Wie leben wir gemeinsam?“ neu zu bewerten. Den Versuch einer philosophischen Neubewertung dieser Frage unternimmt Hegel in seinem Naturrechtsaufsatz. Es handelt sich um die letzte größere Ab­ handlung in dem gemeinsam mit Schelling herausgegebenen Kritischen Journal der Philosophie, die dort 1802 und 1803 in zwei Teilen erscheint. Das dringende Motiv, diesen Text zu verfassen, ist die Diagnose einer Krise politischer Freiheit, die Hegel seiner Zeit attestiert.1 Doch diese Diagnose ist nicht neu. Sie durchzieht Hegels politische Schriften, in denen „geradezu die Not der Zeit“ beschworen wird, wie es Jürgen Habermas einmal formulierte, „das Gefühl des Widerspruchs, das Bedürfnis nach Veränderung, de[r] Drang, die Schranken zu durchbrechen. ‚Das Bild besserer, gerechterer Zeiten ist lebhaft in die Seele der Menschen gekommen, und eine Sehnsucht, ein Seufzen nach einem reineren, freieren Zustand hat alle Gemüter bewegt und mit der Wirklichkeit entzweit.‘“2 Hegels Diagnose der Entzweiung steht zweifellos im Kontext großer soziohis­ torischer und politischer Veränderungen. Neben dem Prozess der Herausbildung des Bürgertums und dem Ereignis der Französischen Revolution ist allerdings ein weiterer Hintergrund für Hegel besonders wichtig, der seiner Zeitdiagnostik eine besondere Prägung gibt. Hegel beschäftigt sich immer wieder mit den Verhält­ 1  Von den „zeitgeschichtlichen Krisenerfahrungen, die [Hegel] in Tübingen, Bern und Frankfurt gesammelt, verarbeitet und nach Jena mitgebracht hatte“ spricht Jürgen Habermas, Hegels Begriff der Moderne, in: ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, S. 34 – 58, hier: S. 35. 2  Ebd., Anm. 13, S. 38; Habermas zitiert aus Hegels Text „Daß die Magistrate von den Bürgern gewählt werden müssen“ [1798], in: ders., Werke, Bd. 1, S. 268 – 273, hier: S. 268 f. (Herv. T. S.).

A.  Die Krise politischer Freiheit: Im Vorfeld der Jenaer Modernitätskritik

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nissen der altständischen Ordnung im territorial zersplitterten Deutschen Reich. So schreibt er in der Verfassungsschrift von 1801/02: „Deutschland ist kein Staat mehr“;3 das Reich habe „über der ungehinderten Inanspruchnahme partikulärer, ‚privater‘ Rechte der Reichsmitglieder […] seine Staatsqualität eingebüßt“ und „das existenzielle Minimum an einheitlicher, den Mitgliedern gegenüber durch­ setzbarer Staatsgewalt“ verloren.4 Dass Hegel die Prozesse einer umfassenden Privatisierung beklagt, ist ein wichtiger Zug, der seine Schriften durchzieht und etwa auch dann wiederkehrt, wenn Hegel sich in seinen geschichtsphilosophischen Vorlesungen kritisch zu den Bestimmungen des Westfälischen Friedens äußert. Dort ist von „konstituierte[r] Anarchie“ die Rede, „wie sie noch nie in der Welt gesehen worden“, denn „alle Verhältnisse [werden] so privatrechtlich bestimmt […], daß das Interesse der Teile für sich, gegen das Interesse des Ganzen zu handeln oder das zu unterlassen, was dessen Interesse fordert und selbst gesetzlich bestimmt ist, dabei aufs unverbrüch­ lichste verwahrt und gesichert ist.“5 Die Diagnose einer Privatisierung der Freiheit, die in Hegels politischen Schrif­ ten immer wieder ausgesprochen wird, bildet einen wichtigen, vielleicht sogar den zentralen Hintergrund für Hegels Kritik der modernen Entzweiung. Das Anliegen, den in der Moderne eingetretenen Privatisierungsprozess zu durchbrechen und in andere Formen zu überführen, kommt gerade im Naturrechtsaufsatz deutlich zum Tragen. Der Zugriff auf dieses politische Problem, den Hegel dort wählt, ist aller­ dings von Anfang an ungewöhnlich. Denn er behandelt es gleichsam auf Umwe­ gen – im Rückgriff auf eine bestimmte sozialphilosophische These. Diese These besagt, dass politische Freiheit sich nur dann verwirklichen kann, wenn Individu­ alität und öffentliche Freiheit sich verbinden. Was unter der Realisierung dieser komplexen Verbindungsfigur zu verstehen ist, lässt sich nicht unmittelbar angeben und wird im Rahmen dieser Untersuchung zu erhellen sein. Doch bereits an dieser Stelle ist anzumerken, dass der Eindruck, Hegel nehme einen sozialphilosophi­ schen Umweg, um das im eigentlichen Sinne politische Problem der Privatisierung von Freiheit zu lösen, streng genommen in die Irre führt. Dies wird offenbar, wenn man das vitale Anliegen, das Hegel seit seinen frühen Schriften bewegt, wirklich ernst nimmt. Dann zeigt sich nämlich, dass dieser sozialphilosophische Zugriff auf 3  Hegel, Die Verfassung Deutschlands [1800 – 1802], in: Werke, Bd. 1, S. 451 – 610, hier: S. 451. 4  Gertrude Lübbe-Wolff, Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphiloso­ phie, S. 436. 5 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke, Bd. 12, hier: S. 518. Wie Gertrude Lübbe-Wolff rekonstruiert hat (Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphilosophie, vgl. insb. S. 438 – 442), gilt Hegels Kritik dabei einerseits dem mangelnden Verständnis des Staates als einer Einheit, die es im Kriegsfall zu ver­ teidigen gilt; andererseits richtet sie sich aber gegen die nur eingeschränkte Gültigkeit des Mehrheitsprinzips, von dem all jene Angelegenheiten ausgenommen werden konnten, die wohlerworbene Rechte betrafen, darunter auch die Erhebung von Steuerabgaben, die „nach Maßgabe freien Beliebens eingebrach[t]“ werden konnten (ebd., S. 440).

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

ein politisches Problem keineswegs ein Umweg ist, sondern ins Zentrum des He­ gelschen Philosophierens hineinführt: die Grundlagen einer normativen Ordnung zu untersuchen, in der selbstbestimmte verantwortungsbewusste Einzelne und ver­ nünftige Praxis sich wechselseitig erhellen. Dieses Projekt zieht sich von Anfang an durch Hegels Schriften. Philosophie ist dazu berufen, die Bedingungen freizulegen, unter denen die „gleichwohl selbstän­ digen“6 Einzelnen befähigt sind, ein „allgemeines Leben zu führen“.7 Mit diesem praktisch-politischen Ziel ist Hegel bereits sehr früh als Diagnostiker der Zustände seiner Gegenwart aufgetreten. Deshalb ist es wichtig, sich der Spezifik des He­ gelschen Anliegens im Vorfeld seiner Jenaer Periode zu vergewissern, bevor man sich dem Naturrechtsaufsatz zuwendet. Ohne diese Sensibilisierung bleibt Hegels Abhandlung über weite Strecken unverständlich. Denn die Fragen, Perspektiven und Annahmen, die in Hegels kritische Auseinandersetzung mit den modernen Naturrechtslehren in der einen oder anderen Form eingehen und durch die seine Naturrechtskritik gleichsam instruiert ist, sind spezifisch und zudem in bestimm­ ter Weise miteinander verschränkt. Zu diesen vielfältigen Fragen und Perspektiven gehören Reflexionen über die Religion und die Notwendigkeit ihrer Kritik, das Nachdenken über die besondere Rolle der Subjektivität im Hinblick auf die Verwirklichung der Freiheit in der Welt, die Perspektive auf die Liebe als die vereinigende und zugleich Gleichheit verbür­ gende Kraft sowie die eigentümliche Stringenz, mit der sich Hegels Nachdenken über Individualität mit einer umfassenden Kritik an der Moderne verbindet. Diese Themenvariationen des jungen Hegel sollen nun in aller Kürze umrissen werden. Ihre Akzentuierung wird es zum einen erlauben, den Blick für die besondere Fra­ geperspektive zu schärfen, die mit dem Befund der Krise des Öffentlichen zu­ sammenhängt, und zum anderen die Grundlagen bereiten für die Diskussion des Hegelschen Naturrechtsaufsatzes, in dem dieses Problem des in der Moderne ver­ stellten Sinns für ‚das Öffentliche‘ in aller Dringlichkeit zutage tritt. Bedenkt man, dass Hegel in einer Zeit schreibt, in der die Religion „die gesamte Grammatik des Legitimen prägte“,8 so ist es nicht verwunderlich, dass es zunächst neben dem ästhetischen gerade der religiöse Zugang ist, den Hegel in seinen Tü­ binger und Berner Entwürfen wählt, um die Perspektive auf die emanzipatorische Befreiung des Einzelnen zu eröffnen. In diesen Entwürfen ist Hegel von der Über­ 6  Vgl. Ernst Tugendhat, der die treffende Formel „Identität des gleichwohl selbständigen Subjekts mit der Realität“ als Definition für „die Struktur der Wahrheit im spekulativen Sinn“ vorgeschlagen hat, um das Prinzip zu veranschaulichen, nach dem die einzelnen Ge­ stalten des Geistes in Hegels Phänomenologie angeordnet werden (vgl. Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt am Main 1979, S. 314). 7  GPR, S. 399. 8  Thomas Becker, Die Verdrängung der écriture sociale durch die Magie des Sozialen, in: ders., Die Hegemonie der Moderne. Zur Neubestimmung politischer Romantik im Na­ turrecht Kants und Hegels, Hildesheim u. a. 1996, S. 109 – 123, hier: S. 112.

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zeugung geleitet, dass diejenigen, die zur ästhetischen und moralischen Selbstre­ gulierung nicht fähig sind, gefährdet sind, Opfer von tyrannischer Herrschaft zu werden. Deshalb richten sich seine Bemühungen darauf, Wege aufzuzeigen, wie die Verknechtung an die positive Religion, in der sich der Glaube in fremde Au­ torität verkehrt, durch Kritik durchbrochen werden kann.9 Hegels frühe Schriften zählen Thomas Becker zufolge zu einer „Prosa intellektueller Kritik“, die „ge­ sellschaftlich orientiert[e] Selbstreflexion der kritischen Position der Autoritäten auf dem Feld der Religion“10 betreibt. Dabei tritt Hegel mit seiner Kritik geradezu performativ als Verteidiger einer besonderen Dimension des Individualisierungs­ prozesses auf, die Becker – mit positiver Wertung – als „dissoziierte Privatisierung gegenüber der legitimen Öffentlichkeit“ bezeichnet.11 Die Spannung zwischen der Dimension des ‚Öffentlichen‘ und der Dimensi­ on des ‚Subjektiven‘ kommt, mit Dieter Henrich gesprochen, auch dort deutlich zum Tragen, wo „[p]rivate und bürgerliche Religion als Mittel zur Beförderung der Autonomie [konkurrieren] und Hegel […] darzulegen [versucht], daß auf die bürgerliche nicht verzichtet werden kann, weil mit ihr zugleich die wichtigsten Mo­ tivationen zur Freiheit preisgegeben würden“.12 Die Aufmerksamkeit der frühen Berner Fragmente über Volksreligion und Christentum (1793 – 96) gilt in der Tat der Unterscheidung von privater und öffentlicher Religion. Doch Hegels emphati­ scher Begriff der Freiheit zielt bereits unübersehbar darauf, die Bedingungen ihrer Realisation freizulegen: „Meine Absicht“, so lautet Hegels berühmtes Diktum, „ist nicht, zu untersuchen, […] wie die Lehren einer Religion beschaffen sein müssen, die ein Volk besser und glücklicher machen soll, sondern was für Anstalten dazu gehören, daß die Lehren und die Kraft der Religion in das Gewebe der menschli­ chen Empfindungen eingemischt, ihren Triebfedern zum Handeln beigesellt [seien] und sich in ihnen lebendig und wirksam erweise[n], – daß sie [die Religion, T. S.] ganz subjektiv werde; […].“13 Mit diesem Vorhaben scheint Hegel den „Plan“, „Moralität in die Religiosität seiner Nation zu bringen“, an dem Jesus „gänzlich scheiterte“,14 gleichsam wieder­ 9  Becker weist darauf hin, dass Hegels wissenschaftliche Religionskritik eine „écriture sociale“ initiiere, die jeglicher Form der „Magie des Sozialen“ eine Absage erteile. Gerade die „Verdrängung der écriture sociale durch die Magie des Sozialen“, der die konservati­ ven Interpreten Hegels in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfallen seien, habe es aber erlaubt, Hegel zum „Volkserzieher“ zu stilisieren, „dessen Geschäft in der Erziehung der Gesellschaft zu einer einheitlichen Öffentlichkeit bestehe“ (ders., Die Verdrängung der écriture sociale durch die Magie des Sozialen, S. 109). 10  Ebd., S. 112. 11  Ebd., S. 120. 12  Dieter Henrich, Historische Voraussetzungen von Hegels System, in: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt am Main 1971, S. 41 – 72, hier: S. 56. 13  Hegel, [Fragmente über Volksreligion und Christentum] [1793 – 1794], in: ders., Wer­ ke, Bd. 1, S. 16. 14  Hegel, Positivitätsschrift, S. 107.

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

aufnehmen zu wollen. Dieser „Plan“ weist noch eine große Nähe zu Kants Morali­ tätsbegriff auf, in dem Subjektivität und Freiheit eine Verbindung eingehen. Doch die beiden zentralen Motive aus Hegels frühen Schriften – seine emphatische Beto­ nung des Öffentlichen bei gleichzeitiger Radikalisierung der Individualitätsdimen­ sion der Autonomie – weisen gerade in ihrer scheinbar paradoxen Verschränkung bereits unverkennbar über Kant hinaus. Denn anders als für Kant und Fichte, die die moralische und damit die universale, da in der Vernunft gründende Dimension der Religion betonen, „ist die subjektive Religion [für Hegel] ‚etwas individuelles, objektive die Abstraktion‘“.15 Und so bahnt sich bereits hier, in der Betonung des Öffentlichen als bewegender Kraft für das autonome Handeln des Individuums und in der Überzeugung, dass die freie Wirksamkeit in der Welt – in offenkundi­ gem Anschluss an Friedrich Schiller16 – das gesamte Empfindungsvermögen des Menschen umfassen soll, eine Differenz zu Kant an, die in Hegels Frankfurter Systementwürfen noch viel entschiedener zum Tragen kommt. Neben dem „Systemfragment“ von 1800 sind in diesem Zusammenhang die kantkritischen Frankfurter Fragmente über Religion und Liebe von besonderem Interesse, die vermutlich 1797/1798 entstanden sind. Liest man diese Entwürfe zu­ sammen,17 so legen sie einen regelrechten Bruch mit Kant nahe, der mit Hegels Kritik an der „Rechtschaffenheit“ zusammenzufallen scheint. Letztere bezeichnet Hegel als eine „[b]los subjektive Religion ohne Einbildungskraft“:18 Das ursprüng­ 15 Vgl. Becker, Die Verdrängung der écriture sociale durch die Magie des Sozialen, S. 113. Das Hegel-Zitat stammt aus den Berner Fragmenten (Hegel, [Fragmente über Volks­ religion und Christentum] [1793 – 1794], in: ders., Werke, Bd. 1, S. 14). 16 Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 8. Brief, hier: S. 592: Die „Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfniß der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zu Verbesserung der Einsicht erweckt“. Noch im letzten der Briefe ist von der „totalen Revolution“ der „ganzen Empfindungsweise“ des Menschen die Rede (ebd., 27. Brief, S. 662). 17  Seit der neuen Edition der Handschriften, die Hegel in seiner Frankfurter Zeit von 1797 bis 1800 überarbeitet oder neu verfasst hat, ist es nicht mehr möglich, von einem Ent­ wurf zu sprechen. Die im Folgenden interpretatorisch verbundenen Texte liegen als lose Handschriften vor, deren chronologische Folge sich über das neue Verfahren der Wasser­ zeichenanalyse des Papiers, auf dem Hegel geschrieben hat, erschließen lässt. In dieser Reihenfolge (nummeriert und mit editorischen Zwischentiteln versehen) wurden die Texte nun zugänglich gemacht: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Frühe Schriften II, bearb. von Friedhelm Nicolin/Ingo Rill/Peter Kriegel, hrsg. von Walter Jaeschke, in: Gesammelte Werke, in Verb. mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von der Nordrhein­ westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Bd. 2, Hamburg 2014. Zur Wasserzeichenanalyse siehe Walter Jaeschke, Editorischer Bericht, in: ebd., S. 631 – 667, hier: S. 631 – 632. Im Folgenden unter Angabe der Nummer und des editorischen Titels des jeweiligen Hegelschen Textes sowie der jeweiligen Spalte zitiert (Hegel hat mit zwei Textspalten gearbeitet, wobei er die linke Spalte zuerst beschriftete, während die rechten Randspalten für Überarbeitungen genutzt wurden, siehe Jaeschke, Editorischer Bericht, S. 631).

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lich Subjektive unterliege dann dem „moralische[n] Begrif“, der „ein positiver Be­ grif“ ohne „eine reflektierte Thätigkeit“ sei und dessen „Wirksamkeit nur durch ein Achtung oder Furchterwekendes Objekt“19 gesichert werde. An anderer Stelle spricht Hegel von einer „ewige[n] Trennung“,20 die dem spezifischen Charakter von Subjektivität nicht gerecht werde. Subjektivität könne erst in der Liebe zur Geltung kommen und sich entfalten.21 18

In dem Fragment „Religion …“ wird Liebe darüber hinaus sogar als die wahre und einzige Gleichheit verbürgende Kraft bestimmt: „Liebe kan nur – statt finden, gegen das gleiche gegen den Spiegel, gegen das Echo unseres Wesens.“22 Hegels Reflexionen gehen allerdings noch weiter und situieren die Liebe im Kontext von Eigentums- und Besitzverhältnissen. Hegel sucht insbesondere eine Antwort auf die Frage zu geben, woran die Liebe ihre Grenze erfährt und was sie gefährden kann: Es sind Recht und Ökonomie, kurzum, die bürgerliche Gesellschaft, vor der sich die Liebe ‚fürchtet‘. Allerdings ist Liebe „nicht eine Furcht für das Sterbliche, Eigene sondern vor demselben“, schreibt Hegel.23 Die Sorge um das Eigene wird an dieser Stelle mit dem Phänomen der Scham in Verbindung gebracht: Ob es nun der eigene Körper ist, der der Hingabe in der Liebe im Wege steht, oder das Be­ harren auf dem „Recht des Eigentums“, welches nicht „aufheb[en]“ zu können den Liebenden unfähig macht, zu „schenk[en]“,24 für Hegel steht fest: „[D]ie Liebe ist unwillig über das noch getrennte, über ein Eigenthum; dieses Zürnen der Liebe über Individualität ist die Schaam“.25 Trotz dieser konstatierten ‚Unwilligkeit‘ der Liebe über alles Trennende und Entzweiende steht Hegel allerdings ebenso klar vor Augen, wie wirkmächtig die ökonomischen Verhältnisse längst geworden sind: 18  Hegel, Text 41: Religion…, S. 8 – 9, hier: S. 8: „Religion ist freie Verehrung der Gott­ heit. Blos subjektive Religion ohne Einbildungskraft – ist Rechtschaffenheit – / Begreiffen ist beherrschen / die Objekte beleben, ist sie zu Göttern machen.“ 19  Hegel, Text 40: Positiv wird ein Glauben genannt…, S. 5 – 7, hier: S. 6. 20  Hegel, Text 50: so wie sie mehrere Gattungen…, S. 96 – 97, hier: S. 97. 21  Hegel schreibt (ebd.): „Wenn da, wo in der Natur ewige Trennung ist, wenn unverein­ bares vereinigt wird, da ist Positivität. Dieses vereinigte, dieses Ideal ist also Objekt; und es ist etwas in ihm, was nicht Subjekt ist. / Das Ideal können wir nicht ausser uns sezen, sonst wäre es ein Objekt, – nicht in uns allein, sonst wäre es kein Ideal. / die Religion ist eins mit der Liebe; der geliebte ist uns nicht entgegengesetzt, er ist eins mit unserem Wesen; wir sehen nur uns in ihm – und dann ist er doch wieder nicht wir – ein Wunder, das wir nicht zu faßen vermögen.“ 22  Hegel, Text 41: Religion…, S. 8 – 9, hier: S. 9. Obwohl die Datierung dieses Manu­ skripts nach Wasserzeichen auf Bern 1795 – 96, wahrscheinlich 1796, verweist, sei eine Da­ tierung auf die Frankfurter Zeit nicht auszuschließen (siehe dazu Jaeschke, Editorischer Bericht, S. 634); insofern lassen sich die beiden Fragmente „Religion…“ und „welchem Zwekke…“ durchaus parallel lesen. 23  Hegel, Text 49: welchem Zwekke…, S. 83 – 95, hier: S. 88 (linke Spalte)/S. 89 (rechte Randspalte). 24  Ebd. S. 92 (linke Spalte). 25  Ebd., S. 87 (rechte Randspalte).

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„[U]nd wenn der Besiz und Eigenthum einen so wichtigen Theil des Menschen, seiner Sorgen und Gedanken ausmacht, so können auch Liebende sich nicht enthal­ ten, auf diese Seite ihrer Verhältnisse zu reflektiren; […].“26 Hegels Reflexionen über die entzweiten Verhältnisse in der Moderne treten in verschiedenen Gestalten auf. Die Auseinandersetzung mit Kant, die zunächst entlang der Begriffe „Autorität“ und „Furcht“ geführt wurde, wird im System­ fragment von 1800 fortgesetzt und gleichsam am neuen Themenfeld erprobt. Sie wird nun vermittels der Problematik „Gesetz“ versus „Leben“ verhandelt. Zwar gelten Hegels Überlegungen im Systemfragment von 1800 vordergründig dem Ent­ wurf einer religiösen Gemeinschaft. Doch sie berühren auch hier den Komplex von Recht, Autorität und Gleichheit. Die Überlegungen, die Hegel zu dieser Zeit unter der Einwirkung seines Frankfurt-Homburger Freundeskreises27 anstellt, wo­ bei neben Sinclair allen voran Hölderlins Einfluss auf Hegel hervorzuheben ist,28 sind hochinteressant: Der eigentümliche Begriff von Freiheit, die hier als „Vereini­ gung ungezwungener Wesen gleichen Rechts“29 entworfen wird, ist originell und von unüberholter Aktualität, nicht zuletzt wegen der darin enthaltenen Ansätze zu einem Modell von gemeinschaftlicher Verbundenheit und Solidarität. Von beson­ derem Interesse ist aber auch der Umstand, dass Hegel seinen Freiheitsbegriff auf eine Reihe von Figuren bezieht, die allesamt für eine philosophische Auseinander­ setzung mit Individualität wesentlich zu sein scheinen: Tätigkeit versus Leiden, Leben versus Gesetz, Furcht (als Sorge um das Eigene, hier insbesondere um das Eigentum und den Besitz) und ihre Überwindung, Festlegung auf Bestimmtheiten versus Entzug aller Bestimmtheit.30 Es wäre nicht übertrieben, zu behaupten, dass dieses Freiheitsverständnis, das vor der Folie einer Auseinandersetzung mit Indi­ vidualität im weitesten Sinne entwickelt wird, als Grundelement in allen weiteren kritischen Auseinandersetzungen, die Hegel mit seinen Kontrahenten in den Jenaer Schriften austrägt, weiterhin wirksam bleibt. Und zwar ungeachtet dessen, ob die

26 

Ebd., S.  95 (rechte Randspalte). Zum Frankfurt-Homburger „Bund der Geister“ siehe Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 16. 28  Vgl. dazu Dieter Henrich, Hegel und Hölderlin [1967], in: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt am Main 1971, S. 9 – 40, vor allem die Ausführungen zu der gegenüber Hölderlin differenten voraussetzungslosen logischen Struktur, die Hegel, von Hölderlin inspiriert, in Frankfurt zu entwickeln beginnt (hierzu insb. S. 36), sowie ders., Historische Voraussetzun­ gen von Hegels System, darin insb. S. 61 – 71. 29  Henrich, Historische Voraussetzungen von Hegels System, S. 67. 30  Zur Präsenz des existentialistischen Motivs der Angst, des Schreckens und der Bedro­ hung in Hegels Schriften siehe Hermann Schmitz, Hegel als Denker der Individualität, Mei­ senheim am Glan 1957, S. 20 – 89, insb. S. 75 ff. (den Verweis auf Schmitz und den Hinweis, dass „Hegels dialektische Denkform überhaupt wesentlich in elementaren Erfahrungen von Bedrohung [wurzelt]“, entnehme ich Andreas Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 23). Zum Charakter der Unbestimmtheit der Individualität, die sich Festlegungen wie auch jeder endgültigen Bestimmtheit entzieht, siehe Christoph Menke, Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frankfurt am Main 2004, S. 45 – 50. 27 

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Wahl der Adressaten seiner Kritik selbst nur ein taktischer Zug in der Argumenta­ tion ist oder als sachlich berechtigt gelten kann. Anhand der Interpretation des Naturrechtsaufsatzes wird noch zu zeigen sein, dass Hegels kritische Auseinandersetzung mit Kant und Fichte, aber auch mit Rousseau und Hobbes gänzlich unverständlich bliebe, wenn man verkennte, dass Hegel sich von einem ganz spezifischen Begriff von Freiheit leiten lässt. Den in­ haltlichen Kern dieses Freiheitsbegriffs bildet der Nachweis einer genuinen Verbindung von Individualität und Sozialität. Von besonderer Relevanz ist allerdings noch ein weiterer Zusammenhang, der in dieser kurzen Retrospektive auf Hegels Schriften bereits angeklungen sein dürfte: Den Anspruch, den Zusammenhang von individueller und öffentlicher Freiheit adäquat zu denken, verbindet Hegel mit ei­ ner umfassenden Kritik an der Moderne. Die Anfänge dieser immer weiter durchgreifenden und dennoch ambivalent bleibenden Kritik an der Moderne liegen bereits in der Berner und vor allem in der Frankfurter Zeit. Noch Hegels gesamte Jenaer Periode steht im Zeichen sei­ ner modernitätskritischen Bemühungen. So avanciert die Kritik an der entzwei­ ten Kulturwelt der Moderne zum zentralen Thema der Differenzschrift (1801). Die Angriffsfläche für Hegels Kritik bilden hier die Abstraktionen der Reflexi­ onskultur der Aufklärung, die keinen urteilenden und spekulativen, sondern nur den reflektierenden, in Gegensätze und ‚ewige Trennungen‘ zerrissenen Verstand kennt. Die diagnostizierte Entzweiung wecke allerdings nicht nur Sehnsüchte nach Totalität31 und Versöhnung, sondern umso stärker auch das „Bedürfnis der Philosophie“: „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philo­ sophie.“32 Mit der berühmten Formulierung vom „Bedürfnis der Philosophie“ wird die sich immer weiter verfestigende „Entgegensetzung der festgewordenen Subjek­ tivität und Objektivität“33 zum wesentlichen Gegenstand der Kritik. Hegel sieht diese Entgegensetzung in der Philosophie Kants und Fichtes theoretisch auf die Spitze getrieben. Seine Rede von der „Macht der Vereinigung“ erinnert an die frühere Formel von der „Vereinigung ungezwungener Wesen gleichen Rechts“.34 Doch gilt für Hegel zu diesem Zeitpunkt noch nicht als ausgemacht, wie die 31  Selbstverständlich stellt bereits Kant mit seinem Begriff der Vernunft die Forderung nach systematischer Totalität auf; ebenfalls spricht Kant vom „Bedürfnis“ und „Interesse der Vernunft“, auf das Ganze zu gehen (vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [1781, ²1787], in: ders., Werkausgabe, Bde. 3 – 4, Frankfurt am Main 1977, dort: B 490 – 504; im Folgenden unter Angabe der Sigle KrV zitiert). Doch in dem Maße, wie Hegel Geist, nicht Vernunft zum zentralen Begriff seiner Philosophie bestimmt, verändert sich, wie noch zu verfolgen sein wird, die Qualität von ‚Bedürfnis‘ und ‚Interesse‘. 32  Hegel, Differenzschrift, S. 22. 33 Ebd. 34  Henrich, Historische Voraussetzungen von Hegels System, S. 67.

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versöhnende „Macht der Vereinigung“ angesichts der Entzweiung zu denken sei. Die Chiffre für diese „Macht“ ist für Hegel das „Absolute“. Das „gesuchte“ Absolute sei aber in Wahrheit „schon vorhanden – wie könnte es sonst gesucht werden?“35 Im Folgenden wird Hegels Naturrechtsaufsatz zum Ausgang und zur Grund­ lage genommen, um darüber Aufschluss zu gewinnen, was diese Formel von der „Macht der Vereinigung“ unter den Bedingungen der Entzweiung letztlich besagen kann. Insbesondere soll dabei Hegels These nachgegangen werden, dass die Kultur der Entzweiung der Vereinigung gerade im Wege stehe und deren Realisierung gefährde. Zugleich soll aber der Bezug dieser These zu dem weiteren Zusammen­ hang beleuchtet werden, der für Hegel nicht minder zentral ist: Gemeint ist die Diagnose der Entpolitisierung, von der eingangs die Rede war. Im Fluchtpunkt der folgenden Ausführungen steht mithin die Frage, wie Hegels Entzweiungskri­ tik samt seiner Forderung nach Vereinigung mit dem Befund der Entpolitisierung zusammenhängt.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz I.  Die Problemstellung und die Vorannahmen Hegels Aufsatz über das Naturrecht greift sowohl einige Motive seiner Frank­ furter Fragmente wieder auf als auch die in der Differenzschrift ausgesprochene Kritik der Entzweiung. Im Naturrechtsaufsatz variiert Hegel seine kritische Diag­ nose allerdings noch einmal und setzt den Akzent explizit auf die gesellschaftspo­ litischen Verhältnisse. Hegels wichtigste Kontrahenten, aber auch Inspiratoren sind hier erneut Kant und Fichte. Die Intensität seiner kritischen Auseinandersetzung mit deren Positionen legt die Vermutung nahe, dass Hegel die beiden zentralen mo­ ral- und rechtsphilosophischen Werke – Fichtes Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796) und Kants Metaphysik der Sitten (1797) – so gelesen haben muss, als hätte sich die bürgerlich-liberale politische Kultur in diesen Schriften gleichsam über sich selbst verständigt. Diese Selbstverständigung geschieht im Medium der Unterscheidung zwischen Moralität und Legalität, die aber nicht von ungefähr, sondern unter dem Druck der Französischen Revolution eingeführt worden ist. Die Differenzierung von Recht und Moral, wie sie Fichte noch viel expliziter als Kant fordert,36 lässt sich gera­ dezu als philosophische Konsequenz aus dem tragischen Verlauf der Revolution begreifen. Als eine Moral und Recht gleichermaßen begründende Instanz war es die Vernunft, die die Französische Revolution inspirierte und für die Revolutionä­ re eine dauerhafte Legitimationsquelle darstellte. Der revolutionäre Terror machte Hegel, Differenzschrift, S. 24. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissen­ schaftslehre [1796/97], hrsg. von Manfred Zahn, Hamburg 1979, S. 9 – 13. 35 

36 Vgl.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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aber die philosophische Einsicht unumgänglich, dass es notwendig sei, „rechtliche und moralisch-sittliche Normen rigoros voneinander [zu] trennen, auch wenn sie aus derselben Quelle (der praktischen Vernunft) entspringen“.37 Eines der zentralen Ziele, die Hegel im Naturrechtsaufsatz verfolgt, ist es nun, zu erweisen, dass die Art und Weise, wie diese Unterscheidung getroffen und ver­ nunftrechtlich begründet worden ist, nicht sinnvoll sei. Hegel kritisiert insbeson­ dere den Umstand, dass die Einheit des gemeinschaftlichen Lebens aufgrund der Trennung von Recht und Moral nicht als „Organisation“ auftrete, sondern jeweils als eine „bloße“ Form gedacht werde – als eine Form, die von den Inhalten getrennt sei.38 Mit dem Befund des Auseinandertretens von Form und Inhalt will Hegel auf diejenigen Konsequenzen der Trennung von Moral und Recht aufmerksam ma­ chen, die sowohl Moral als auch Recht in ihrer Geltung auflösen.39 So sei etwa ge­ gen die Ausprägungsform der Legalität kritisch einzuwenden, dass die Rechtsform der realen Vielfalt von Situationen und Kontexten gegenüber gleichgültig bleibe. Dies sei ein ernst zu nehmendes Problem, denn eine mögliche Schranke der Gül­ tigkeit der Gesetze liege gerade in der Wandelbarkeit ihres Anwendungsgebiets, wie Hegel unterstreicht, indem er sich auf Platons in Politikos geäußerte Gesetzes­ kritik bezieht.40 Was die Defizienz von Moralität betrifft, so mahnt Hegel an, dass das „Subjekt der Sittlichkeit“ sich in der Moralität vom „Begriff der Sittlichkeit“ abgeschnitten finde.41 Die Verwendung des Begriffs „Sittlichkeit“ ist dabei Hegels philosophischer Kunstgriff, der allerdings eine eigene Geschichte vorweisen kann: Karl Rosen­ kranz’ Berichten zufolge ist Hegel schon seit dem „strengen Studium“ von Kants Metaphysik der Sitten, das er 1798 aufnahm, bestrebt gewesen, „die Legalität des positiven Rechts und die Moralität der sich selbst als gut oder böse wissenden In­ nerlichkeit in einem höheren Begriffe zu vereinigen, den er in diesen Kommentaren häufig schlechthin Leben, später Sittlichkeit nannte“.42 Im Naturrechtsaufsatz wird diesem Begriff nun eine fundamentalere Bedeutung verliehen. Mit dem Begriff „Sittlichkeit“ nimmt Hegel hier eine doppelte Abgrenzung vor. Zum einen will er damit die Differenz zum Moralitätsbegriff markieren, den „die neueren Systeme

Jean-François Kervégan, VII. Das Recht und der Staat. 1. Recht und Staat – zur Ein­ führung, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Handbuch Deutscher Idealismus, Stuttgart/Wei­ mar 2005, S. 172 – 183, hier: S. 173. 38  NR, S. 439. 39 Vgl. Christoph Menke, Art. „Sittlichkeit“, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hrsg.), Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd. 2, Berlin 2008, S. 1181 – 1186, hier: S. 1181. 40  Vgl. NR, S. 485. 41  Ebd., S. 471. 42  Karl Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben, S. 87 (zit. nach Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Anmerkungen der Redaktion zu Band I, in: Hegel, Werke, Bd. 1, S. 621 – 637, hier: S. 632). 37 

1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

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der Sittlichkeit“ verwenden, „um ihre Sache zu bezeichnen“.43 So sei „Moralität“ im Unterschied zur Sittlichkeit, schreibt Hegel, ein „gemachtes Wort“, das in dieser Form erst bei den „neuere[n] Systeme[n]“ aufkomme, „da sie ein Fürsichsein und die Einzelheit zum Prinzip machen“.44 Zum anderen wird der Begriff „Sittlichkeit“ für Hegel aber gerade auch deshalb interessant, weil mit ihm eine Distanz zum römisch-lateinischen Ursprung von „Moral“ markiert werden soll. Das deutsche Wort „Sitten“ ist an „das griechische Wort“ angelehnt,45 schreibt Hegel, und gibt damit indirekt zu erkennen, dass er es nicht zuletzt deshalb gewählt hat, weil dieses Wort besser geeignet ist, die Perspektive auf die Überwindung des Zustands der „Herrschaft“ des „abstrakten Rechts“ zu eröffnen: Da Hegel die Etablierung des Zustands des „abstrakten Rechts“ als das historische Ergebnis des Römischen Reichs begreift und dessen Pendant wiederum in der „Leerheit“ der Moral zu erkennen meint, beansprucht er, sich mit dem Begriff „Sittlichkeit“ auch schon dem Wort nach von diesem römischen Ursprung zu distanzieren. Wollte man allerdings von einer – durch das „griechische Wort“ indizierten – Überwindung der Herrschaft des „abstrakten Rechts“ sprechen, so träfe dies die Sache auch wie­ der nicht. Denn praktisch ist die Trennung von Recht und Moral nach Hegel immer schon in der Sittlichkeit, im eigentlichen praktischen Leben selbst, aufgehoben. In Hegels Verwendung ist der Begriff „Sittlichkeit“ denkbar weit gefasst. Er steht für Sitten und Gebräuche, für die Kultur einer bestimmten Gemeinschaft, für konkrete Sozialbeziehungen und Verpflichtungen wie überhaupt für eine ver­ nünftige Praxis, die in Bildungsprozessen angeeignet wird. Entscheidend ist, dass diese Praxis eine eigene, „innere“ Normativität freisetzt, im Unterschied zu der „äußeren“, etwa bloß sein sollenden.46 Nicht zufällig ist es Montesquieu, den Hegel im Naturrechtsaufsatz als beispielgebenden Theoretiker der Sittlichkeit anpreist: In De l’esprit des lois (1748) habe Montesquieu konkretes historisches Denken unter Beweis gestellt und sei auf diese Weise der „lebendige[n] Individualität eines Volkes“ nähergekommen.47 Hegels Insistieren auf dem Sittlichkeitsbegriff samt der Bezugnahme auf Mon­ tesquieu legt die Vermutung nahe, dass er im Naturrechtsaufsatz dafür plädiert, die Frage der Normativität letztlich der Geschichte und der philosophischen Ge­ schichtsforschung zu überantworten. Hegel schreibt, dass die Philosophie in be­ sonderem Maße dazu aufgerufen sei, der Verabsolutierung von einzelnen sittlichen 43 

NR, S. 504.

44 Ebd. 45 Ebd. 46  Vgl. etwa Odo Marquard, Hegel und das Sollen [1964], in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt am Main 1982, S. 37 – 51. Hegels Sol­ lenskritik gelte nicht dem Sollen schlechthin, sondern beziehe sich auf die Weigerung der Transzendentalphilosophie, „die allgemeinen Zwecke, die freiheitsbetreffenden also, an den Realisierungsprozeß ihrer Vermittlung und damit das Sollen an Wirklichkeit zu binden“ (ebd., S. 44). 47  Vgl. NR, S. 524 f.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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Prinzipien – etwa des Vertragsprinzips – entgegenzuwirken, indem „jedes [Prin­ zip; T. S.] in seiner Grenze [gehalten]“ werde.48 Da diese Grenzen „in der Realität“ jedoch geschichtlich gezogen sind und „dieses Einschränken und Ideellsetzen der Potenzen49 [sich] als die Geschichte der sittlichen Totalität dar[stellt]“,50 lässt sich die Aufgabe der Philosophie tatsächlich so verstehen, dass sie dazu berufen sei, Geschichte zu schreiben bzw. zu erzählen. Es ist wahr, dass die Idee der Geschichtlichkeit mit Hegel die Oberhand gewinnt über die Naturrechtsidee.51 Darin mag sogar eine der bahnbrechenden Neuerungen des Naturrechtsaufsatzes gesehen werden. Doch in welchem Sinne und mit wel­ chen Konsequenzen tritt die Naturrechtsidee in die Geschichte ein? Der Versuch, diese Frage zu erhellen, ist ein schwieriges Unterfangen, wie im Folgenden noch deutlich werden wird. Doch so viel lässt sich vorab schon feststellen: Der Eindruck, dass die Normativität sich schlichtweg auflöst in einer Geschichtsentwicklung, der man sich von nun an nur noch beschreibend nähern könnte, muss revidiert werden. Vielmehr äußert sich Hegel selbst unzweideutig darüber, dass die Frage nach der Sittlichkeit und der historischen Evolution ihrer Gestalten erst dann zu einer im eigentlichen Sinne philosophischen Frage wird, wenn mit ihrer Erörterung nichts Geringeres auf dem Spiel steht als die „Rechtfertigung des Einzelnen als Bestehen­ den“.52 Wenn aber gilt, dass „Sittlichkeit“ für Hegel eine Explikationsweise derje­ nigen normativen Ordnung ist, in der Einzelne Bestand haben, so löst sich diese „Sittlichkeit“ als solche keineswegs in bloße Geschichtlichkeit auf. Vielmehr gilt umgekehrt, dass der Gang der Geschichte selbst auf die Bedingungen der Entste­ hung von frei handelnden Subjekten hin untersucht werden muss. Deutet man Hegels Sittlichkeitsbegriff in diesem Sinne, so wird damit gleich­ sam ein neues philosophisches Forschungsprogramm in Aussicht gestellt. Es gilt, ein Verfahren zu entwerfen, das in der Lage ist, einer doppelten Anforderung gerecht zu werden: Der neuzeitlich-modernen Figur der Autonomie des Indivi­ duums ist auf eine Weise Rechnung zu tragen, dass diese Autonomie weder von den „Grundeinsichten des aristotelischen Tugendbegriffs“53 noch vom Ethos der 48 

Ebd., S. 519. Rede von „Potenzen“ übernimmt Hegel aus Schellings Naturphilosophie, vgl. hierzu Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, S. 74, der darauf hinweist, dass Schel­ ling den aus der Mathematik stammenden Begriff der „Potenzen“ im Zuge der Erörterung seiner „These von der Indifferenz des Idealen und Realen im Absoluten“ verwendet: „Onto­ logisch gesehen sind Potenzen die Gestalten, die das Absolute als die Einheit des Endlichen und Unendlichen oder als Indifferenz von Idealität und Realität auf den jeweiligen Stufen seiner Realisierung annimmt; zugleich sind die Potenzen die Gedankenformen, in denen jene ontischen Gestalten allein angemessen erfaßt werden können“ (ebd.). 50  NR, S. 519. 51 Vgl. Karl-Heinz Ilting, Naturrecht und Sittlichkeit. Begriffsgeschichtliche Studien, Stuttgart 1983, S. 106 f. 52  NR, S. 523. 53  Menke, Art. „Sittlichkeit“, S. 1181. 49  Die

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

Gemeinschaft abgeschnitten wird. Wertet man Hegels Forschungsprogramm, wie es Christoph Menke vorgeschlagen hat, als einen Vermittlungsversuch zwischen Kants Ethik der Autonomie und der aristotelischen Tugendethik, so kann diesem Versuch nicht nur bleibende Aktualität zugesprochen werden, sondern er verleiht Hegel zugleich eine Sonderstellung. Denn durch eine völlig andere theoretische Rahmung des Problems der Autonomie scheint Hegels Reflexion über die moderne Form der Sittlichkeit dem Streit zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, der in der politischen Philosophie seit den 1980er Jahren in der einen oder anderen Form immer wieder ausgetragen wird, ganz und gar zu entgehen. Hegels Sittlich­ keitsbegriff wird jedenfalls von Anfang an so konzipiert, dass er von dem theore­ tischen Zwang, ethisch-politische Fragen anhand des Gegensatzes zwischen Kant und Aristoteles zu modellieren und zu entscheiden, unberührt bleibt.54 Eine der Konsequenzen des Hegelschen Vermittlungsversuchs besteht aller­ dings darin, nahezulegen oder gar zu fordern, dass die moderne Deutung der Au­ tonomie einer grundlegenden Revision unterzogen werden muss. Dieser Impli­ kation ist wohl auch der Eindruck einer „gewisse[n] antinormative[n]“ Tendenz geschuldet, die in Hegels Sittlichkeitskonzept angelegt zu sein scheint.55 Die Ten­ denz zum Antinormativen tritt immer dort zutage, wo Hegel als Kritiker derje­ nigen Form von Verbindlichkeit auftritt, die ihren bemerkenswerten Ausdruck in der Figur der Autonomie gefunden hat, wie sie von Kant und dann von Fichte philosophisch begründet wurde. In dieser spezifischen Gestalt der Autonomie, die aus der modernen Form des Denkens und Handelns nicht mehr wegzudenken ist, werden Freiheit und Gesetz zu einer Einheit verschränkt.56 Der Ort dieser Ein­ 54  Paradigmatisch ist in diesem Kontext die modernitätskritische Position von Alasdair MacIntyre, After Virtue, Notre Dame 1981. 55  Von einer „gewisse[n] antinormative[n] Stoßrichtung“, die Hegel „von den Anfängen in Jena an […] inne[wohnt]“, spricht Vittorio Hösle, Eine unsittliche Sittlichkeit. Hegels Kri­ tik an der indischen Kultur, in: Wolfgang Kuhlmann (Hrsg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt am Main 1986, S. 136 – 182, hier: S. 140: „Nicht ein jenseitiges Sollen, sondern die reale Gegenwart eines politischen Systems soll als das Absolute begriffen werden.“ Hösles Feststellung bezieht sich insbesondere auf Hegels „System der Sittlichkeit“. Für den Naturrechtsaufsatz gilt allerdings, wie noch zu zeigen sein wird, dass Hegels ‚antinormative‘ Haltung erst vor dem Hintergrund seiner Polemik gegen die Reduktion der Normativität auf juridische, legalistisch verfasste Normativität ad­ äquat verstanden werden kann. 56  Die Idee einer an Gesetze und an das moralische Sollen gebundenen Freiheit, durch die sich Kants Autonomieverständnis spezifisch auszeichnet, hält Jerome Schneewind für so befremdlich, dass er in Bezug auf Kants Autonomiebegriff von einer Erfindung („in­ vention“) und nicht von einer Erklärung („explanation“) spricht: „Readers who hold, as I do, that our experience of the moral ought shows us no such thing will think of his version of autonomy as an invention rather than an explanation“ (Jerome Schneewind, The Inven­ tion of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy, New York 1998, S. 3). Um die entwicklungsgeschichtlichen Gründe für ein so ungewöhnliches Autonomieverständnis wie das Kantische näher zu beleuchten, begibt sich Schneewind auf Spurensuche im neuzeitli­ chen Naturrecht.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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heit ist das Individuum. Genau diesen Ausgangspunkt im Individuum hält Hegel aber für ungeeignet, Autonomie zu explizieren: „Es ist also nicht die Philosophie, welche das Besondere darum, weil es ein Besonderes ist, für ein Positives nimmt, sondern nur insofern es außer dem absoluten Zusammenhange des Ganzen als ein eigener Teil Selbständigkeit errungen hat.“57 Hegel zufolge nehmen die Vernunft­ rechtslehren Kants und Fichtes ihren Ausgang vom Individuum als dem „Nega­ tiven“ der sittlich-positiven Folie. Im Ergebnis erhalte man aber nur ein „System des Negativen“, in dem „die Auflösung und Abtrennung von der sittlichen Totali­ tät fest[ge]setzt“ werde.58 In Kants und Fichtes Entwürfen, fügt Hegel polemisch hinzu, spiegele sich überhaupt die allgemeine Tendenz der Zeit, „die Ausnahmen des Einzelnen vom Allgemeinen [zu] konstituieren“59 und einzelne Bestimmungen vom Ganzen zu isolieren. Nicht die wahre Figur der Autonomie, sondern nur die Auflösung des sittlichen Ganzen reproduziere sich im Kantisch-Fichteschen Autonomieverständ­ nis, eine Auflösung, die die moderne Zeit allerdings überhaupt bestimme. Die Re­ flexionsphilosophie propagiere nur die „Gesetze der Trennung“, wie sie „in einem aufgelösten Volk, wie z.B. im deutschen“ auf einen fruchtbaren Boden fallen.60 Be­ merkenswert ist an dieser Diagnose nicht zuletzt Hegels rhetorische Strategie: Er scheut sich nicht, bewusst dramatische Töne anzuschlagen, so als wäre es ohnehin aussichtslos, sich angesichts des fortschreitenden Prozesses der Entsittlichung Ge­ hör zu verschaffen. Der grassierende „Formalismus“ der Reflexionsphilosophie, schreibt Hegel, reproduziere nur „die bestimmte Vorstellung des gegenwärtigen Todes“.61 Denn ohne die sittliche Grundlage sei nicht nur die Vernunft im „Schein“ des Nichts befangen – auch das Subjekt „gibt sich den formellen Schein wie von Erkenntnis so von Gesetzen, deren inneres Wesen das Nichts ist“.62 57 

NR, S. 528. Ebd., S. 527. 59 Ebd. 60 Ebd. 61  Ebd.; siehe auch Johann Gottfried Herders Formulierung „lebend tot sein und modern“ in seiner 1774 anonym veröffentlichten Schrift: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts, in: Johann Gott­ fried Herder, Werke in 10 Bänden, hrsg. von Martin Bollacher/Günter Arnold, Bd. 4: Schrif­ ten zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774 – 1787, hrsg. von Jürgen Brummack/ Martin Bollacher, Frankfurt am Main 1994, S. 9 – 107, hier: S. 44 (im Folgenden zitiert unter Angabe des Kurztitels „Auch eine Philosophie“). 62  NR, S. 528. Hegels Urteil bezüglich des von der Reflexionskultur freigesetzten „Nihi­ lismus“ hat zuvor bereits Jacobi im Sendschreiben an Fichte prominent vorgetragen: Friedrich Heinrich Jacobi, Jacobi an Fichte (Sendschreiben) [1799], in: Walter Jaeschke (Hrsg.), Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philoso­ phie (1799 – 1807). Quellenband, Hamburg 1993, S. 3 – 43, hier: S. 19. Der „Nihilismus“ der absoluten Subjektivität verkehre die „Vernunft“ zu einem „chemische[n] Prozeß“, „wodurch alles außer ihr in Nichts verwandelt wird“ (ebd., S. 10), hierzu eingehend Birgit Sandkaulen, Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000, insb. Kapitel III–V; siehe 58 

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

Die Quintessenz von Hegels Äußerungen ist in der Befürchtung zu sehen, dass sich im Zuge des diagnostizierten Prozesses der Ablösung der individuellen Auto­ nomie von der Praxis und den Erfahrungen konkreten Lebens, deren Einheit sich ebenfalls auflöst, eine leere Freiheit etabliert. Was diese Behauptung beinhaltet und wie die Konsequenzen dieser leeren Freiheit zu bewerten sind, wird noch aus­ führlich zu diskutieren sein. Im Lichte der bisherigen kritisch-diagnostischen Be­ obachtungen lässt sich aber der Blick dafür schärfen, vor welchen theoretischen Herausforderungen Hegels eigenes Vorhaben steht: Es gilt, eine Ordnung in ihrer Verbindlichkeit zu explizieren, in der Einzelne zu ihrem Recht kommen können. Die Ordnung selbst darf dabei aber nicht so gedacht werden, als gründe sie auf dem Prinzip der Autonomie des Einzelnen. Vor diesem Hintergrund erhalten die Fragestellung und das Ziel der im Na­ turrechtsaufsatz vorgenommenen Untersuchung eine spezifische Prägung: Was Sittlichkeit bedeutet, ist zum einen so zu explizieren, dass aus der Modifikation ihrer Form heraus der neuzeitliche Freiheitsbegriff begreifbar gemacht werden kann. Zum anderen steht aber eine Organisation des gemeinsamen Lebens im Fo­ kus des Interesses, die hinreichend komplex ist, der zur Existenz gekommenen Freiheit des Einzelnen gerecht zu werden: Diese Freiheit gilt es aufrechtzuerhalten und in ihrem Bestehen immer wieder neu zu rechtfertigen. Die in Rede stehende Organisationsform des Sittlichen darf weder hinter die Trennung von Moral und Recht zurückfallen, noch dürfen die Autonomie und die Freiheit des Individuums preisgegeben werden. Die „Philosophie der Sittlichkeit“ erhält mithin ihr Profil, wenn sie buchstäblich gegen den „Formalismus“, der den „Standpunkt“63 der Autonomie ausgebildet hat, und im selben Zug – da dieser Standpunkt bereits real geworden ist – durch den Formalismus hindurch erarbeitet wird. Insofern soll nicht mehr die Reflexionskul­ tur des Formalismus, sondern Sittlichkeit – als Strukturformel für die Freiheit des Denkens und des Handelns – die Grundlage dafür bilden, dass die Unterscheidung zwischen Moral und Recht überhaupt sinnvoll getroffen und deren Zusammenhang lebendig werden kann: Erst wenn es gelingt, „die Unterschiede der Wissenschaft des Naturrechts und der Moral nach der absoluten Idee [zu] bestimm[en]“, hält Hegel fest und setzt es sich zugleich als Aufgabe, wird „ihr Wesen nicht eine Abs­ traktion, sondern die Lebendigkeit des Sittlichen [sein]“.64 Dem neuen Konzept der Sittlichkeit ist es gleichsam aufgetragen, die negativen, Moral und Recht in ihrer Geltung „auflösenden“,65 weil in die Abstraktion und Sinnentleertheit verkehren­ den Konsequenzen zu unterlaufen. Deshalb seien erst diejenigen Gesetze die „wah­ ren“ Gesetze zu nennen, die in der Lage wären, gegen die besagte – im Zeichen des auch Otto Pöggeler, Hegel und die Anfänge der Nihilismus-Diskussion, in: Dieter Arendt (Hrsg.), Der Nihilismus als Phänomen der Geistesgeschichte in der wissenschaftlichen Dis­ kussion unseres Jahrhunderts, Darmstadt 1974, S. 307 – 349. 63  NR, S. 458, 523. 64  Ebd., S. 509. 65 Vgl. Menke, Art. „Sittlichkeit“, S. 1181.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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inadäquat verstandenen Autonomiebegriffs stehende – allgemeine „Auflösung“ vorzugehen und „die Einheit des Ganzen [zu] konstituieren“.66 Vor dieser Folie lässt sich Hegels eigenes Programm konkretisieren: Deutet man Hegels Sittlichkeitskonzept als den „Versuch, die Grundeinsichten des aristoteli­ schen Tugendbegriffs so zu reformulieren, dass er dem von Kant (im Anschluss an Rousseau) formulierten modernen Prinzip subjektiver Freiheit gerecht zu werden vermag“,67 so zeichnet sich nach dem bisher Gesagten ab, dass es nicht mehr der Tugendbegriff sein kann, auf den Hegel von nun an setzt, sondern der Begriff des Rechts. Hegel würde die heute geläufige Erfahrung, dass „traditionelle normative Begriffe wie Gebot und Tugend“ gegenüber dem modernen Rechtsbegriff „merk­ würdig antiquiert“ erscheinen,68 gewiss ebenfalls schon teilen. Überaus bezeich­ nend ist es allerdings, dass im Zuge seiner Ausführungen im Naturrechtsaufsatz nicht nur der Tugendbegriff für obsolet erklärt wird, sondern auch der Begriff des Rechts einer massiven, auf eine Revision abzielenden Kritik unterzogen wird. Im Fluchtpunkt der Bemühungen des Naturrechtsaufsatzes steht mithin ein neues Ver­ ständnis von Recht, das gemessen an den neuzeitlichen Naturrechtsentwürfen zu­ gleich umfassender angelegt ist: Das Naturrecht „[soll] konstruieren [nach seinem Namen]“, so Hegel, „wie die sittliche Natur zu ihrem wahrhaften Rechte gelangt“.69 Zu beachten ist dabei die entscheidende, wenn nicht gar revolutionäre Neue­ rung, die Hegel im Naturrechtsaufsatz in Aussicht stellt: Mit dem neuen Rechtsver­ ständnis, für das er eintritt, soll die neuzeitliche Bedeutung des Begriffs „Natur­ recht“ geradezu umgekehrt werden: Rechte sollen nicht mehr, wie im neuzeitlichen Naturrecht üblich, als „Positivierungen ‚natürlicher‘ Rechte“ oder als „Reservate natürlicher privater Freiheit“ aufgefasst werden, als solche Rechte also, die vorpo­ litisch wären und die der Einzelne deshalb gerade auch gegen das Ganze der sittli­ chen Organisation würde geltend machen können.70 Vielmehr will Hegel demonst­ rieren, dass die Rechte des Einzelnen ohne das Ganze zur Abstraktion verkommen, wie umgekehrt das Ganze dort, wo es zu einer solchen Abstraktion gekommen ist, sich bereits in Auflösung befinden muss. Bei der bloßen Umkehrung des Vorrangverhältnisses zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, etwa nach dem aristotelischen Grundsatz „totum parte prius esse necesse est“, will Hegel es andererseits aber auch nicht bewenden lassen. Die Auf­ gabe, der das moderne Naturrecht Hegel zufolge nicht gewachsen ist und der er sich mit seinem Sittlichkeitskonzept stellt, ist komplexer: Die Strukturformel der Sitt­ lichkeit muss, wie bereits erwähnt, so bestimmt werden und so verfasst sein, dass 66 

NR, S. 527. Menke, Art. „Sittlichkeit“, S. 1181. 68  So die Formulierung von Markus S. Stepanians, Einleitung: „Rights is a term that drips confusion“, in: ders. (Hrsg.), Individuelle Rechte, Münster 2007, S. 7 – 31, hier: S. 8. 69  NR, S. 505. 70 Vgl. Lübbe-Wolff, Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphilosophie, S. 426, 441. 67 Vgl.

1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

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einerseits der Einzelne in seinem Bestehen durch die Form der Sittlichkeit selbst „gerechtfertigt“ werden kann, dass andererseits aber das Sittliche nicht mehr als ein solches missverstanden werden kann, das vom Einzelnen ausgeht bzw. im Prin­ zip der Autonomie des Einzelnen gründet. Gesucht ist, mit anderen Worten, ein Begriff des Rechts, in dem Einzelnes und Allgemeines gemäß der oben genannten Herausforderung einander vermitteln und wechselseitig erhellen können. Interes­ sant ist nun zu sehen, wie Hegel vorgeht, um die besagte Strukturformel für die gesuchte Sittlichkeitsformation gemäß diesem Anforderungsprofil zu erarbeiten.

II.  Das Verfahren Verblüffend ist an Hegels Vorgehensweise, dass er das geforderte neuartige Rechtsverständnis den von ihm kritisierten „unechten“71 Behandlungsarten des Naturrechts selbst abzuringen sucht. Nach dem bisher über den Status des „For­ malismus“ für Hegels Sittlichkeitskonzept Gesagten ist dies allerdings auch wie­ der nicht unerwartet. Hegels Methode lässt sich folgendermaßen beschreiben: Im Durchgang durch die aus seiner Sicht defizienten naturrechtlichen Positionen sol­ len deren theoretische Prämissen freigelegt werden, indem sie auf ihre praktischen Konsequenzen hin kritisch durchleuchtet werden. Um zum „wahrhaft Sittlichen“ vorzustoßen, sollen die Verzerrungen des Sittlichen offengelegt werden. Diese Verzerrungen seien aber gerade den fehlgeleiteten Annahmen des neuzeitlich-mo­ dernen Naturrechts zuzurechnen. Dazu zählt Hegel insbesondere die Annahmen über die Natur des Menschen, über die Entgegensetzung von Natur- und Rechts­ zustand, über die auseinandertretenden Sphären von Moralität und Legalität sowie über das Spezifikum ihres Verhältnisses. Bevor man sich Hegels kritischer Darstellung dieser verzerrend, wenn nicht gar entsittlichend wirkenden Konsequenzen zuwendet, die er wiederum auf die im neuzeitlichen Naturrecht getroffenen Prämissen zurückführt, ist es allerdings wichtig, sich über seine eigenen Vorannahmen einen Überblick zu verschaffen. Vor allem sind das Hegels Annahmen über das Verhältnis von Praxis und Theorie, die schon deshalb besonders hervorzuheben sind, weil sie den Duktus und den Grund­ tenor seiner Ausführungen insgesamt bestimmen. Hegel räumt dem Praktischen, auch den praktischen Wissenschaften, ein Primat vor dem Theoretischen ein: Während die empirische Erfassung der Wirklichkeit an Qualitäten interessiert sei, so Hegel, gehe es den praktischen Wissenschaften um Verhältnisse, und damit um „reell allgemeines“, um die Einheit von Differentem. Diese Einheit soll jedoch noch spekulativ überstiegen werden: Durch eine Radi­ kalisierung und Freilassung der Differenz soll sie in eine „wahre Unendlichkeit“ umschlagen. Im auffallenden Unterschied zu Kant, Fichte und Schelling strebt He­ gel keine theoretische Begründung des Systems an. Hegels Aufmerksamkeit gilt den „Aporien des sittlichen Lebens“ selbst, aus denen allein „eine Theorie freier 71 

NR, S. 439.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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Verhältnisse“, wie es Dieter Henrich einmal formuliert hat, „ihre Evidenzen“ be­ ziehen kann.72 Ganz im Einklang mit dieser Überzeugung lautet das erklärte Ziel des Natur­ rechtsaufsatzes, den „empirischen Zustand der Welt sich in dem ideellen Spiegel der Wissenschaft reflektieren zu sehen“.73 Dieses Ziel kann Hegel nur deshalb so formulieren, weil er der Auffassung ist, dass die wissenschaftliche Erfassung der „empirischen Gestalt des Sittlichen“ dieselbe Wirklichkeit sei, nur „in der Form der Allgemeinheit“ ausgedrückt.74 Der Naturrechtswissenschaft komme dabei aber eine besondere Rolle zu. Denn es sei Hegel zufolge gerade „der Zustand des Natur­ rechts“, an dem sich der „Zustand der Welt“ gleichsam ablesen lasse: Das Natur­ recht gibt noch am ehesten Aufschluss über den „Zustand der Welt“, „weil es un­ mittelbar sich auf das Sittliche, den Beweger aller menschlichen Dinge bezieht“.75 Trotz der unüberhörbaren Anspielungen auf Aristoteles reicht Hegels Nostal­ gie bezüglich vergangener Zeiten politischer Freiheit nicht so weit, dass er sich über die Tragweite der Veränderungen täuschen würde, die mit der Herausbildung der Gesellschaft im Unterschied zur Polis erreicht worden sind. Über die Unum­ kehrbarkeit dieser Umwälzungen hat Hegel keine Zweifel. Dementsprechend ist er auch gegenüber den Rückwendungen zur Vergangenheit – zu einer Zeit, „in welcher die im Gesetz fixierte, aber erstorbene Bestimmtheit lebendige Sitte und in Übereinstimmung mit der übrigen Gesetzgebung war“ – äußerst skeptisch: Ein „Gesetz“, schreibt Hegel, „das nur in einem vergangenen Leben Wahrheit hatte“, könne nicht „für die Gegenwart gerechtfertigt werden“.76 Statt der Vergangenheit nachzutrauern, erweist sich Hegel als scharfsinniger Diagnostiker der Gegenwart, als Diagnostiker eben jener Umwälzungen, ohne die es nicht möglich wäre, die Gegenwart zu begreifen. An der von Hegel eingeführten Spiegelungsfigur von Theorie und Praxis scheint noch ein anderes Motiv auf, das im Naturrechtsaufsatz in der Methode der Kritik zur Geltung kommt und eine echte Innovation darstellt. Mit seinem Theorem, dass sich eine schlechte Praxis in der verkehrten Theorie spiegelt und umgekehrt, legt Hegel das wirkmächtige Motiv einer Ideologiekritik frei,77 die in dieser Schärfe wohl überhaupt erstmalig ausgesprochen worden ist. Der revolutionäre Impuls, der von Hegels Spiegelungstheorem ausgeht, ist im Naturrechtsaufsatz viel deutlicher 72 Vgl. Dieter Henrich, Hegels Grundoperation. Eine Einleitung in die „Wissenschaft der Logik“, in: Ute Guzzoni/Bernhard Rang/Ludwig Siep (Hrsg.), Der Idealismus und seine Gegenwart. Festschrift für Werner Marx zum 65. Geburtstag, Hamburg 1976, S. 208 – 230, hier: S. 209. 73  NR, S. 438. 74 Ebd. 75 Ebd. 76  NR, S. 526. 77 Siehe Schnädelbachs Hinweis darauf, dass „wir [hier] die Grundfigur des Marxschen Ideologiebegriffes vor uns [haben], dem zufolge Ideologie gesellschaftlich notwendig fal­ sches Bewusstsein ist“ (ders., Hegels praktische Philosophie, S. 25).

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

präsent als in den späteren Werken Hegels. In beinahe jeder Zeile dieser Schrift ist zu vernehmen: Über die theoretischen Figuren der neuzeitlich-modernen poli­ tischen Philosophie grundsätzlich hinauszukommen, würde bedeuten, die Wirk­ lichkeit selbst zu verändern. Die Dynamik dieser Veränderung wird jedoch hier, anders als bei Marx, der sie in dem Maße gesellschaftstheoretisch verkürzt, wie er die Theorie selbst auf einen „gesellschaftlichen Tatbestand“78 reduziert, als ein Strukturprogramm für eine Kultur des Politischen aufgefasst, die der individuellen Differenz Rechnung zu tragen vermag. Die aufgeworfene Frage nach der Verfasstheit einer normativ verbindlichen Or­ ganisation, in der Individualität zu ihrem Recht kommen kann, wird von Hegel allerdings an keiner Stelle direkt beantwortet. Falls Hegels Ausführungen über­ haupt eine Antwort auf diese Frage zu entnehmen ist, so ist sie nur in dem Maße rekonstruierbar, wie man sich auf die Argumente einlässt, die er in kritischer Aus­ einandersetzung mit fremden Positionen und Theoremen vorbringt, mit Positionen, in denen er die Quintessenz des neuzeitlich-modernen Naturrechts zum Ausdruck gebracht sieht. Hegel setzt sich mit den Positionen des empirischen und rationalen Naturrechts auseinander, um anhand dieser Auseinandersetzung den Blick für ein anderes, davon abweichendes, gleichwohl deren Kritik abgerungenes Denkmodell zu schärfen – ein Modell, das es wiederum erlauben würde, die Folgen der als „unsittlich“ entlarvten Prinzipien der in Frage stehenden Theorien zu unterlaufen. Diese Doppelbewegung macht die Textanalyse schwierig. Es scheint, als wäre es sinnvoll, den Aufsatz, in dem der konstruktive Teil auf den kritisch-diagnostischen folgt, rückwärts zu lesen, um die Motive von Hegels Kritik und die Relevanz der einzelnen Argumente des kritischen Teils angemessen einordnen zu können. Denn im Zuge der genannten Doppelbewegung macht Hegel seinerseits Gebrauch von Voraussetzungen, die nicht sofort, sondern erst im zweiten, konstruktiven Teil des Aufsatzes, gleichsam nachholend, expliziert oder offengelegt werden. Auffallend ist dabei, dass Hegel in seiner Kritik der Natur- und Vernunftrechts­ lehren stets nach einem bestimmten Muster verfährt: Zunächst wird die zentrale Frage herausgegriffen, die die von ihm ins Visier genommenen Denker bewegt – allen voran sind das Hobbes und Rousseau, die er allerdings nicht namentlich erwähnt, sowie Kant und Fichte. Daraufhin wird diese Frage als eine schlecht ge­ stellte exponiert, wenn nicht gar gänzlich verworfen. Dies geschieht, indem Hegel wiederum auf die implizite Voraussetzung dieser Frage hinweist, die durch die fehlgeleitete Fragestellung verdeckt war, allerdings nur, um im nächsten Schritt zu demonstrieren, dass die Antwort auf die aufgeworfene Frage letztlich als eine Projektion dieser – implizit in der Frage selbst bereits enthaltenen – Voraussetzung entlarvt werden muss. Auf diese Weise versucht Hegel den Sachverhalt, auf den die Theorien jeweils zielen, als das Gegenteil des ursprünglich Intendierten zu er­ weisen. 78  Vgl. ebd., S. 26, mit Bezug auf Karl Marx, Die Frühschriften [1837 – 1848], hrsg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1953, S. 213 f.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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Hegels Verfahrensweise lässt sich an dieser Stelle in aller Kürze am Beispiel sei­ ner Kritik etwa an Kant und Hobbes verdeutlichen, deren Grundzüge im Folgenden noch ausführlich diskutiert werden: Im Fall von Hobbes wendet Hegel ein, dass die Opposition von Natur- und Rechtszustand sich in Wahrheit einer Projektion des Aposteriorischen, des gelebten „Chaos“, ins apriorisch Normative verdanke.79 Ohne dass Hobbes von Hegel einer namentlichen Erwähnung gewürdigt wird, lässt er sich als Referenzfigur der Hegelschen Kritik identifizieren. Was an dieser Kri­ tik bezeichnend ist, fasst Michael Schulte besonders treffend zusammen, indem er darauf hinweist, dass das, was das moderne „Naturrecht status naturalis genannt hat“, für Hegel „nichts anderes“ sei „als eine Projektion des bürgerlichen Rechts­ zustandes in einen fiktiven vorstaatlichen Bereich“.80 Als Modell dieses vorstaat­ lichen Zustands, als „Modell eines bürgerlichen Rechtszustandes überhaupt“, fun­ giert für Hegel aber das Römische Reich: Bereits hier werde die Allgemeinheit und Gleichheit der Menschen, allerdings nur als Privatpersonen, behauptet. Deshalb erfülle das Römische Reich für Hegel dem Profil nach dieselbe „Funktion“, die „im modernen Naturrecht durch den status naturalis ausgedrückt“ werde.81 Was Kant betrifft, so deutet Hegel auch dessen Moralitätsbegriff als eine bloße Reproduktion bürgerlicher Moralvorstellungen, wobei letztere ihrerseits in den be­ stehenden Rechtsverhältnissen gegründet seien: Als „verkehrte Vernunft“82 vermö­ ge die Moralität, die im Prinzip der individuellen Autonomie gründet, nicht zu er­ kennen, dass sie nur den Rechtszustand reproduziere.83 Für Kants Moralphilosophie sind aus Hegels Sicht zwei Entwicklungen repräsentativ: zum einen die Begrenzung der Ethik auf die Reflexion im Subjekt und zum anderen die Engführung der Moral mit einem bestimmten Typus von bürgerlicher Moral. Diese beiden Entwicklun­ gen bewertet Hegel wiederum als symptomatisch dafür, dass das öffentliche Leben in eine Krise geraten ist. Die ideologiekritische Perspektive erlaubt es Hegel, die Symptomatik mit den aus seiner Sicht problematischen Zügen der Theorie selbst zu verbinden. Auf Wittgensteins berühmte Metapher vorausgreifend könnte man sa­ gen, dass Hegel bereits davon auszugehen scheint, dass die Theorie diejenigen, die ihr gemäß denken und handeln, wie ein „Bild“ gefangen hält.84 In jedem Fall macht Hegel darauf aufmerksam, dass jeder Versuch, Normativität zu begründen, von An­ nahmen Gebrauch machen muss, die ihrerseits nichts anderes sind als normative Setzungen, die einer bestimmten bereits bestehenden Praxis entspringen. 79 

Vgl. NR, S. 445. Michael Schulte, Die „Tragödie im Sittlichen“. Zur Dramentheorie Hegels, München 1992, S. 44. 81 Ebd. 82  NR, S. 452. 83  Vgl. ebd., S. 506. 84  Hier in Anspielung auf Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen [1953], in: ders., Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1969, § 115, S. 343: „Ein Bild hielt uns gefan­ gen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.“ 80 

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So stellt sich derjenige, der die Annahme einer ursprünglichen ersten Natur des Menschen als eine Fiktion und Stütze benötigt, um die Frage zu beantworten, wie eine normative Ordnung, ein Rechtszustand, entsteht bzw. wie er legitimiert werden kann, Hegel zufolge von Anfang an die falsche Frage. Denn wer so fragt, hat bereits die Tatsache übersprungen, dass die Ordnung schon existiert, primär sogar in der Form einer präreflexiven Evidenz, die keiner weiteren Begründung bedarf. Letzteres scheinen zumindest Hegels Sympathien für die unbefangene, na­ ive Anschauung zu suggerieren, die, „rein und glücklich“, von der „Verunreinigung mit fixen Begriffen“ nicht kontaminiert sei.85 Doch mit dem Verweis auf das Im­ mer-schon-Gegebensein einer Ordnung – etwa einer, die auf den Grundelementen des römischen Rechts basiert – gelten die Fragen keineswegs als erledigt. Vielmehr fangen sie für Hegel damit allererst an. Gegenüber den Ordnungsfiktionen hat sich Hegels Fokus autonomietheoretisch verschoben. Die Frage, wie es sich erklären lässt, dass in einer gegebenen Ordnung geistige Wesen existieren, die Individualität und ein Wissen von sich ausbilden, ist für Hegel zum vordringlichen Problem geworden. Mit dieser Frage nach den Wesen, die über sich selbst zu reflektieren vermögen und sich nicht nur als frei ansehen (so dass Freiheit einer Selbsttäuschung gleichkäme), sondern tatsächlich Freiheit ausüben, ist eine doppelte Frageperspektive verbunden. Für diese Perspek­ tive gilt, dass sie die Veränderungen in der Struktur der Regierung – als Regelung gemeinsamer Angelegenheiten verstanden – an diejenigen Züge in der Praxis kop­ pelt, in denen Individualität zur Geltung kommt. Deshalb tritt jede Veränderung in dieser Perspektive zugleich als Voraussetzung und als Folge auf. Eine so verstande­ ne Ordnung muss sich gleichsam unaufhörlich verschieben (und ist insofern einem permanenten Wandel unterworfen), um die Autonomie des Einzelnen sowohl zu ermöglichen als auch dieser Autonomie Rechnung tragen zu können. Die wirklich zentrale Frage für Hegel ist nicht die nach der Begründung einer Ethik, sondern die nach der immerwährenden Möglichkeit der Transformation des menschlichen Zusammenlebens, in dem subjektive Freiheit zu ihrem Recht kommen kann.

III.  Die Struktur und die Argumentationsstränge 1.  Der kritisch-diagnostische Teil a)  Die „unechten“ Behandlungsarten des Naturrechts und die philosophische Aufgabe Analysiert man die Struktur des Naturrechtsaufsatzes, die auf den ersten Blick recht intransparent erscheint, so liegt es nahe, die Abhandlung in einen kritischdia­g nostischen86 und einen konstruktiven Teil87 zu gliedern. Im kritischen Teil 85 

NR, S. 436. NR, S.  434 – 479. 87  Ebd., S.  479 – 530. 86 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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setzt sich Hegel mit den beiden „unechten Arten der wissenschaftlichen Behand­ lung des Naturrechts“88 – dem Empirismus und dem Formalismus – auseinander. Die Ausführungen des konstruktiven Teils lassen sich wiederum so verstehen, als ginge es Hegel darum, einen neuen, eigenen Anfang zu machen und im Zuge die­ ses Versuchs zugleich die Voraussetzungen und Bedingungsverhältnisse des zuvor Kritisierten rekonstruktiv einzuholen. Bevor man auf die konstruktive Wendung zu sprechen kommt, gilt es aber, sich einen Überblick über die einzelnen Stränge der Kritik zu verschaffen und die grundlegenden Problemfelder zu markieren, de­ nen Hegels besonderes Augenmerk gilt. Bezeichnend sind schon Hegels einleitende Bemerkungen,89 die er dem kriti­ schen Teil seines Aufsatzes vorausschickt. Darin bedauert er die Auswanderung der Fragen des menschlichen Zusammenlebens aus der Philosophie in die empiri­ schen Wissenschaften. Hegel beklagt vor allem, dass die Philosophie ihren Status verloren habe, etwas Wesentliches zu Fragen der Staatlichkeit, des Rechts und der Ethik beizutragen. Dieser Verlust des Stellenwerts der praktischen und politischen Philosophie ist nach Hegel allerdings selbstverschuldet. Er deutet ihn als Konse­ quenz der Verengung der Philosophie auf Metaphysik,90 die sich aus der Erfahrung „ins ‚Reine‘“ zurückgezogen habe.91 Zugleich macht Hegel für die Einzelwissen­ schaften – darunter auch für die Wissenschaft des Naturrechts – geltend, dass die Abkoppelung von der Philosophie ihnen nur geschadet habe: Dadurch seien sie „in ihrem besonderen Prinzip, ganz unabhängig von der Idee gehalten“ worden92 und hätten den Bezug zum Absoluten verloren. Mit seiner Kritik an der Verbindung der Ethik mit Metaphysik scheint Hegel an die traditionelle Unabhängigkeit der Ethik von den Prämissen der ‚ersten Philoso­ phie‘ zu erinnern. Dies lässt sich so deuten, dass Hegel sich auf diese Weise – hier noch im Unterschied zu seiner eigenen späteren Theorie des objektiven Geistes – von der neuzeitlichen Entwicklung der praktischen Philosophie insgesamt dis­ tanziert.93 Jedenfalls hat Manfred Riedel in einer ideenhistorischen Skizze darauf hingewiesen, dass weder Aristoteles noch die Scholastik einen Begründungszu­ sammenhang zwischen Metaphysik und praktischer Philosophie etablierten. Erst das Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts machte sich dieses Verfahren zu eigen. So richteten dessen wichtigste Protagonisten, etwa Hobbes, ihre praktisch-politi­ schen Entwürfe entweder am geometrischen Erkenntnisideal aus, oder sie machten sie, wie Christian Wolff, zum Gegenstand rationaler Ableitung. Mit Kant gelangte diese Entwicklung zur Vollendung. Wie immer man Kants transzendentalphiloso­ phisches Begründungsverfahren auch bewerten mag, fest steht, dass die Etablie­ 88 

Ebd., S. 439. Ebd., S.  434 – 440. 90  Ebd., S. 434. 91  Vgl. hierzu Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, S. 15 f. 92  NR, S. 434. 93 Vgl. Riedel, Objektiver Geist und praktische Philosophie, S. 14. 89 

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rung dieses Verfahrens dazu geführt hat, dass „Politik, Ökonomik und Ethik“, so Riedel, „[als Klugheits- und Glückseligkeitslehren] aus der praktischen Philoso­ phie ganz ausgeschlossen [wurden]“.94 Hegels Forderung nach einer philosophischen Umdeutung des Naturrechts lässt sich durchaus in diesen Kontext einordnen. Sie gilt insbesondere der rationalisti­ schen Verengung der Praxis auf eine dieser Praxis selbst nicht immanente äußere Normativität. Hegels Begriff des Absoluten lässt sich vor diesem Hintergrund gleichsam als Signal dafür deuten, dass es höchste Zeit ist, lebendige Praxis als Gegenstand der Philosophie zurückzugewinnen. Wenn es darum geht, die „innere Wahrheit und Notwendigkeit“ gerade auch der geschichtlichen „Begriffe, Grund­ sätze, Verhältnisse […] aus[zu]drücken“,95 muss dabei die entscheidende Rolle der Philosophie zukommen. Um dies zu unterstreichen, versteigt sich Hegel sogar zu der Behauptung: „Was die Philosophie als nicht reell erweist, von dem ist unmög­ lich, daß es in der Erfahrung wahrhaft vorkomme“, denn „[o]b etwas eine subjekti­ ve Ansicht oder eine objektive Vorstellung, ein Meinen oder Wahrheit sei, kann die Philosophie allein ausmachen.“96 Dieser Höhenflug der Philosophie, der Hegel ganz emphatisch den Anschluss an die Praxis zu verschaffen sucht, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es letztlich ein recht pragmatisches – gesellschaftspolitisches – Anliegen ist, das Hegel im Naturrechtsaufsatz verfolgt: Wie bereits erwähnt, ist Hegel der Auffas­ sung, dass die Frage der Organisation des Gemeinwesens – etwa die Frage nach der Verfasstheit der Sittlichkeit qua Volk oder Staat – nicht immer schon eine genuin philosophische Aufgabe darstellt. Philosophisch ist eine „Behandlungsart“ des Na­ turrechts einzig dann zu nennen, wenn es ihr um die „Rechtfertigung des Einzel­ nen als Bestehenden“ zu tun ist.97 Genau dieser Aufgabe werden Hegel zufolge weder die vernunftrechtlichen Systeme noch die „empirischen“ Konzeptionen von Normativität gerecht: „Es ist […] der formelle Standpunkt, der an eine Individu­ alität die Form der Besonderheit bringt und die Lebendigkeit, in welcher die Be­ sonderheit real ist, aufhebt, – aber der empirische Standpunkt, welcher da, wo die Realität einer bestimmten Stufe gesetzt ist, eine höhere verlangt.“98 Gerade wegen dieser beiden Defizite – wegen des mangelnden Verständnisses des Einzelnen als „Bestehenden“ und wegen der nivellierenden Konsequenzen für die Ordnung im Ganzen – bezeichnet Hegel die empirische und die rein-formelle Wissenschaft als zwei „unecht[e] Arten der wissenschaftlichen Behandlung des Naturrechts“.99 Mit seinem eigenen „philosophischen“ (und deshalb ‚echten‘) Naturrechtsverständnis

94 

Ebd., S. 16. NR, S. 511. 96 Ebd. 97  Ebd., S. 523. 98 Ebd. 99  Ebd., S. 439. 95 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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beansprucht Hegel, sich von den beiden Spielarten der modernen Naturrechtsleh­ ren abzugrenzen, die er als „unecht“ und unphilosophisch diskreditiert. Erstaunlich ist nun, dass Hegel seine eigene Diskussion des Rationalismus ver­ sus Empirismus offenbar ganz analog zum Streit der Parteien entwirft, den Kant in der Kritik der reinen Vernunft im Anschluss an die dritte Antinomie, in der das Problem der Freiheit verhandelt wird, beschrieben hat.100 Dort lässt Kant die dogmatische Position gegen die empirische antreten.101 Diesen Positionen werden wiederum die jeweiligen „Interessen der Vernunft“ – das „spekulative“ und das „praktische“ (bzw. das „populäre“) Interesse – zugeordnet, und beide werden ge­ geneinander abgewogen. Während Kant dem „reinen Empirismus“ das praktische Interesse an der Mindestannahme der Willensfreiheit schlichtweg abspricht,102 betrachtet er dessen wissenschaftliches Interesse als gespalten. Diese Spaltung sei Kant zufolge darauf zurückzuführen, dass der Forscherdrang, immer weitere Stufen der Realität erkennen zu wollen, der „dogmatisch“ genannten Kohärenz­ bestrebung der Vernunft, dem architektonischen Systeminteresse,103 zuwiderläuft. Das „spekulative Interesse“ rechnet Kant aber bezeichnenderweise gerade dem Empirismus zu; schließlich suche er nach endloser Erweiterung der Erfahrung, ohne sich durch die Totalitätsansprüche des Dogmatismus begrenzen lassen zu wollen. Dieser unbegrenzte Forscherdrang könne nur unter der Voraussetzung gestillt werden, dass immer neues Material beschafft werde. Damit öffnet sich hier gleichsam ein unausschöpfliches Möglichkeitsspektrum, das einem „Boden“ gleicht, der immer mehr „erweitert werden kann“.104 Deshalb beschreibt Kant den so verstandenen Empirismus als eine Horizontale, die keine Hierarchien oder Pri­ oritäten kenne. Auch Hegel scheint denselben Sachverhalt im Blick zu haben, wenn er am Em­ pirismus das Fehlen jeglichen Beurteilungsmaßstabes kritisiert: „[D]as richtende Prinzip für jenes Apriorische ist das Aposteriorische.“105 Der Streit zwischen dem formellen und dem empirischen Standpunkt des Naturrechts führe Hegel zufol­ ge aber letztlich dazu, dass die Organisation oder die Gestaltung einer Ordnung gänzlich preisgegeben werden. An deren Stelle tritt ein gleichwertiges Nebenei­ nander, eine „Vielheit von Geteiltem oder von Verhältnissen“, die mit „de[m] lee­ ren Namen einer formlosen und äußeren Harmonie unter dem Namen der Gesell­ schaft und des Staats“ versehen werde.106 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, beschränkt sich Hegels Kritik am Empirismus allerdings nicht auf den Einwand der Äußerlichkeit. 100 

Vgl. KrV, B 472 – 479 sowie B 490 – 504. Ebd., B 494. 102  Vgl. ebd., B 496. 103  Ebd., B 502. 104  Ebd., B 496. 105  NR, S. 445. 106  Ebd., S. 447. 101 

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b)  Der reine Empirismus Hegels Polemik gegen das Naturrecht rein empiristischer Provenienz wie auch gegen die wissenschaftliche, rationale Spielart desselben107 lässt sich anhand einer Unterscheidung von drei Angriffsflächen rekonstruieren. Hegels Einwände bezie­ hen sich zum einen auf das Prinzip der empirischen Forschung, die von der On­ tologie der Einzeldinge ausgeht, zum anderen auf das zur Anwendung kommende „abstraktive“ Verfahren und – wohl am schwerwiegendsten – auf die praktischen Konsequenzen dieses Naturrechts. Mit welchen Argumenten Hegel diese Kritik des Prinzips, des Verfahrens und der Konsequenzen des rein empirischen Natur­ rechts begründet, soll nun in aller Kürze skizziert werden. Der erste wesentliche Kritikpunkt betrifft das Prinzip und das Verfahren des empirischen Naturrechts. Da der Empirismus von einer atomistischen Anordnung von Individuen ausgeht, – Hegel spricht vom „mannigfaltige[n] Sein“ als dem „Prinzip“ des Empirismus –, vermag er entgegen seiner Intentionen keine „we­ sentliche Einheit“ zu erreichen. Gemeint ist hier, dass es dem Empirismus niemals gelingen wird, eine staatliche oder gesellschaftliche Einheit sinnvoll zu begrün­ den.108 Deshalb müsse zur Begründung der „Einheit“ behelfsweise eine genetische Perspektive konstruiert werden. Diese Perspektive zwingt dazu, sich der Frage nach der Legitimität der Gesellschaft oder des Staates durch Visionen eines ur­ sprünglichen Zustands zu nähern, der „durch Phantasie als Naturzustand“ vorge­ stellt oder im Rekurs auf so etwas wie die „Natur und Bestimmung des Menschen“ näher bestimmt werde.109 Zu diesen „Fiktionen“ gelangt der empirische Forscher wiederum durch Abstraktion: Die Vorstellung von der „Natur und Bestimmung des Menschen“ abstrahiert etwa von „Vermögen und Neigungen“,110 oder man stellt sich einen Zustand der Auflösung aller rechtlichen Bindungen vor und erhält einen vermeintlich ursprünglichen Naturzustand, nur um von dort wieder zurück zum Rechtszustand zu gelangen: „Nach der Fiktion des Naturzustandes wird er um der Übel willen, die er mit sich führt verlassen, was nichts anderes heißt als: es wird vorausgesetzt, wohin man gelangen will.“111 Mit der so verstandenen genetischen Perspektive, die zur Begründung des Ge­ meinwesens konstruiert wird, projiziert der Theoretiker unmerklich nur den un­ befragt bestehenden bürgerlichen Rechtszustand ins apriorisch Normative hinein – einen Zustand, der auf privatrechtlichen Figuren beruht und Hegel zufolge eben aus diesem Grunde als „Naturzustand“ erscheinen kann: „[D]as richtende Prinzip für jenes Apriorische ist das Aposteriorische“, schreibt Hegel, denn „es fehlt […] dem Empirismus fürs erste überhaupt alles Kriterium darüber, wo die Grenze zwi­ schen dem Zufälligen und Notwendigen gehe, was also im Chaos des Naturzustan­ 107 

Ebd., S.  440 – 453. Vgl. ebd., S. 444. 109 Ebd. 110 Ebd. 111  Ebd., S. 447. 108 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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des oder in der Abstraktion des Menschen bleiben und was weggelassen werden müsse.“112 Diese problematische Verschmelzung von normativer, faktischer und historisch-genetischer Perspektive, von der man sagen kann, dass sie in den Ver­ tragslehren von Hobbes und Locke tatsächlich vorkommt,113 gleiche einem Amal­ gam aus einer „geringe[n] Menge von Qualitäten“.114 Gerade weil es an normativer Kompetenz fehlt, Wichtiges vom Unwichtigen begründet zu unterscheiden, lösen sich aber Hegel zufolge überhaupt alle Hierarchien von Wertigkeit auf, die einer Organisation erst ihre Form und Gestalt geben, sie zu einem zusammenhängenden, in sich strukturierten Ganzen machen. Die durch „Abstraktionen“ fälschlich gewonnenen Erkenntnisse können sich aber auch umgekehrt bis zu „reinen Negationen“ der eigentlichen Erfahrungsbasis erstrecken, wie es nach Hegel in den rationalen Auswüchsen des Empirismus zu beobachten sei. Hegel rechnet Letztere verächtlich zur „Metaphysik“, die sich „zu [noch] leereren Abstraktionen erschwang und sich reinerer Negationen bemächtigte wie Freiheit, reiner Wille, Menschheit usw.“ und im Naturrecht wie auch im Staatsund Strafrecht „philosophische Revolutionen hervorgebracht zu haben glaubte“,115 sich in Wahrheit jedoch immer weiter von der Erfahrung entfernte. Hegels Kritik gilt all jener theoretischen Arbeit, die unter Berufung auf den „gesunden Menschenverstand“ und vermeintliche Erfahrung nur eine „festgewor­ den[e] Verkehrtheit der Anschauung“116 reproduziere. Die kritische Arbeit habe daher die „Nichtigkeit“ von „Vorurteilen und zweifelsfreien allgemeingeltenden Gedanken […] durch Aufzeigung des realitätslosen Grundes und Bodens, aus dem sie erwachsen“,117 zu erweisen. Doch fragt man sich, wem genau Hegels Ausfüh­ rungen gelten, so lassen sich darüber nur Vermutungen anstellen. Neben Hobbes, Rousseau und Locke hat Hegel vermutlich auch Christian Wolff im Visier seiner Kritik, zumal Wolff in seinem für die preußischen und österreichischen Geset­ zeswerke bedeutsam gewordenen achtbändigen Werk zum Naturrecht tatsächlich positives und natürliches Recht vermischte.118 Einen wesentlichen Bestandteil der Hegelschen Kritik an der „Künstelei von Grundsätzen“119 machen allerdings seine Verweise auf die reellen praktischen Kon112 

Ebd., S. 445. Richard Schottky, Untersuchungen zur Geschichte der staatsphilosophischen Vertragstheorie im 17. und 18. Jahrhundert (Hobbes – Locke – Rousseau – Fichte) mit einem Beitrag zum Problem der Gewaltenteilung bei Rousseau und Fichte, Amsterdam/Atlanta, GA 1995, S. 5 ff. 114  NR, S. 444. 115  Ebd., S. 451. 116  Ebd., S. 453. 117  Ebd., S. 442. 118 Vgl. Anton Hügli, Art. „Naturrecht: IV. Neuzeit“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel/Stuttgart 1984, Sp. 582 – 594, hier: Sp. 593. 119  NR, S. 442. 113 Vgl.

1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

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sequenzen der Theorie aus. Der erste Hinweis darauf lässt sich so verstehen, dass er die Verhältnisse zwischen den Individuen betrifft. Hegel spricht davon, dass durch die reine Empirie, „für welche jedes gleiche Rechte mit dem anderen hat und welche keine Bestimmtheit, deren eine so reell ist, als die andere, der anderen vor­ zieht“,120 die „Stellung des Mannigfaltigen“ notwendigerweise „verrückt“121 werde. Auch wenn es sich nicht unmittelbar belegen lässt, scheint die Vermutung nicht ab­ wegig zu sein, dass diese Kritik auf die für den Vertragsbegriff grundlegende Idee der „wenigstens formellen Gleichheit der Partner wie der ausgetauschten Rech­ te“122 abzielt. Nach den Prämissen des Vertragsbegriffs, der in den neuzeitlichen Positionen des Naturrechts zu dem zentralen Konzept überhaupt avanciert, werden zwischenmenschliche Beziehungen und Interaktionen wie „ein nüchterner Rechts­ handel guter Geschäftsleute“ modelliert. In Richard Schottkys Formulierung: „Es handelt sich lediglich um die Herstellung einer juristisch-äußerlichen Willensbin­ dung zwischen den Individuen, die dann automatisch und wie ein gut errechneter Mechanismus funktioniert und dabei die erwarteten nützlichen Wirkungen für je­ den Einzelnen abwirft.“123 Hegels Sorge, dass die „Stellung des Mannigfaltigen verrückt werde“, gilt je­ doch nicht so sehr dem Unpersönlichen der rein äußeren Willensbindung. Viel­ mehr scheint Hegel auf einen anderen Sachverhalt aufmerksam machen zu wollen: Wenn gilt, dass Einzelne nur gemäß der privatrechtlichen Vertragslogik über glei­ che Rechte verfügen, d.h. das gleiche Recht haben, sich einem Vertragsbestand per Willensakt freiwillig zu unterwerfen, so muss berücksichtigt werden, dass sie nur kraft einer Verdeckung reeller Interessenkonflikte und Herrschaftsverhältnisse als Gleichberechtigte anerkannt werden. Hegels kritische Ausführungen scheinen sich darauf zu beziehen, dass nicht im Vertrag selbst, sondern genau in der ver­ tragstheoretisch verdeckten Herrschaftsbeziehung der weitere, vielleicht sogar der eigentliche Ort von Verbindlichkeit erkannt werden muss. Ist die Verbindlichkeit aber von der Art, dass sie erst durch die Operation der Verdeckung der „Herrschaft über Subjekte mit anderen Interessen oder Wünschen“124 entsteht, ja, in radikalerer Lesart, dieser Herrschaft allererst entspringt, so wäre sie mit Hegel „unsittlich“ zu nennen. Der Hinweis darauf, dass im empirischen Naturrecht die individuelle „Stellung“ des Mannigfaltigen – hier recht frei als das Verhältnis zwischen den Einzelnen interpretiert – „verrückt“ werde, erscheint vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht. 120 

Ebd., S. 444. Ebd., S. 443. 122 Vgl. Richard Schottky, Untersuchungen zur Geschichte der staatsphilosophischen Vertragstheorie im 17. und 18. Jahrhundert, S. 9; vgl. auch die dazugehörige Anm. 13 mit Verweisen auf Hobbes’ Leviathan (1651) und Lockes The second treatise of civil govern­ ment (1690), § 130 (ebd.). 123  So Schottky mit neutraler Wertung und ohne Bezugnahme auf Hegels Kritik (ebd., S. 10). 124 Vgl. Menke, Art. „Sittlichkeit“, S. 1181. 121 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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Hegels Kritik richtet sich jedoch überhaupt gegen den Gebrauch von rein funk­ tionalistischen oder instrumentellen Argumenten. Er hält sie für ungeeignet oder zumindest für nicht hinreichend, wenn es darum geht, die Autorität und Verbind­ lichkeit von solchen Institutionen wie Staat oder Familie zu begründen. Hegel zu­ folge ist es jedenfalls völlig unzureichend, die Verbindlichkeit derartiger Instituti­ onen etwa im Wunsch nach Sicherheit, in den Bedürfnissen und Interessen, in den Gründen der Selbsterhaltung oder aber in den faktischen Machtverhältnissen zu suchen. Auch von funktionalistischen Bestimmungen hält er nicht viel: Geht es bei­ spielsweise darum, die Institution Ehe zu definieren, schreibt Hegel, so wird einmal die „Kinderzeugung“, einmal die „Gemeinschaft der Güter“125 als deren Auszeich­ nungskriterium festgelegt. Werden daraus dann „Grundsätze, Gesetze, Pflichten, usw. aufgestellt“,126 so verliert man die Ganzheitlichkeit des „organischen Verhält­ nisses“127 aus dem Blick, das diese Institution typischerweise auszeichnet. Analog zur Kritik an der Vertragsbeziehung zwischen den Individuen, die auf eine interessenbasierte Herrschaftsrelation zurückgehe, vielleicht sogar durch Letztere überhaupt erst zusammengehalten werde, gibt Hegel zu bedenken, dass vertragsrechtliche Kategorien zu kurz greifen, wenn es um Probleme der Staats­ herrschaft geht. Wäre die Vertragstheorie auf diesem Feld das letzte Wort, so grün­ dete die Autorität des Staates in nichts anderem als seinem Gewaltmonopol und dem faktischen Gewaltpotential gegenüber den einzelnen Staatsbürgern. Derge­ stalt stünde aber das Individuum zum Allgemeinen ausschließlich in einem Herr­ schafts- und Unterwerfungsverhältnis, um den Preis, dass „die Anschauung als innere Totalität“ auf diese Weise „vernichtet“ würde.128 Um die unendliche Distanz zu unterstreichen, die zwischen dem so gefassten Staat und den einzelnen Indivi­ duen herrschen würde, wird Hegel an dieser Stelle sogar unverkennbar ironisch: Nicht nur ist auf einmal von der „Majestät und Göttlichkeit des Ganzen“129 die Rede, sondern auch der Ausdruck „Staat“ wird an dieser Stelle bezeichnenderwei­ se überhaupt vermieden. c)  Der Formalismus Alle bislang diskutierten „Konstruktionen“ des Gemeinwesens, die unter die Rubrik des „reinen Empirismus“ fallen, verwirft Hegel als abstrakt. Die Gering­ schätzung, die er seinen sozusagen unphilosophischen Kontrahenten entgegen­ bringt, kommt darin zum Ausdruck, dass er es noch nicht einmal für nötig hält, sie einer namentlichen Erwähnung zu würdigen. Den naturrechtlichen Entwürfen des „reinen Empirismus“ bescheinigt Hegel ein rein historisches Interesse.130 Anders 125 

NR, S. 440. Ebd., S. 441. 127  Ebd., S. 440. 128  Ebd., S. 449. 129 Ebd. 130  Vgl. ebd., S. 437. 126 

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verhält es sich mit den Positionen des „Formalismus“ bzw. des „Kritizismus“, unter die Hegel die „Reflexionsphilosophien“ Kants und Fichtes subsumiert. Die darin auf den Begriff gebrachte Unterscheidung von Moralität und Legalität stellt für Hegel den unzweifelhaft höchsten Stand nicht nur der naturrechtlichen Diskussion, sondern auch der theoretischen Erfassung der Wirklichkeit selbst dar – den höchs­ ten, aber nicht den letzten Stand, wie Hegel gleichwohl zu zeigen sucht. Die intensive Auseinandersetzung mit den Positionen Kants und Fichtes bildet das Gravitationszentrum des kritisch-diagnostischen Teils der Hegelschen Ab­ handlung. Will man sich über die einzelnen Schritte dieser Auseinandersetzung einen Überblick verschaffen, so ergibt sich folgendes Bild: Hegel kommt zunächst auf den Dualismus von theoretischer und praktischer Philosophie zu sprechen,131 übt heftige Kritik an Kants Moralitätsbegriff 132 und problematisiert die Ausdiffe­ renzierung der praktischen Wissenschaft in „verschiedene Wissenschaften“, Mora­ lität und Legalität,133 deren theoretische Prämissen und praktische Konsequenzen er ausführlich diskutiert. Die Diskussion mündet schließlich in eine Darstellung und Kritik von Fichtes „System der Legalität“.134 Bei dieser Kritik lässt sich Hegel offenbar von der Annahme leiten, dass Freiheit in Fichtes „System der Legalität“ auf die Freiheit der Wahl reduziert werde. Deshalb gilt Hegels Interesse in diesem Abschnitt insbesondere dem Konzept der Wahlfreiheit, deren Folgen für individu­ elle und allgemeine Freiheit er zu erörtern sucht.135 Hegels eigene Umdeutung der Wahlfreiheit gemäß der von Spinoza inspirierten Figur der „bestimmten Negation“ mündet schließlich in die Erörterungen zum Verhältnis von Verbrechen und Stra­ fe,136 mit denen er die Ausführungen des zweiten Abschnitts des kritischen Teils seines Aufsatzes beschließt. Unter den vielen genannten Angriffspunkten lässt sich aus Hegels Kritik am Formalismus ein wesentlicher Zusammenhang herausgreifen: Nachdem von ver­ tragstheoretisch verdeckten Herrschaftsbeziehungen im Kontext des „reinen Empi­ rismus“ bereits die Rede war, wird dieselbe Figur der Verkehrung der Sittlichkeit in „Unsittlichkeit“ nun auch als Einwand gegen die „rein-formelle Behandlungsart des Naturrechts“ formuliert. In diesem Fall kehrt der Einwand allerdings in Gestalt der Diagnose vom doppelten – inneren und äußeren – Zwang wieder: Der innere Zwang der Moral richtet sich gegen die eigene sinnliche Natur einschließlich der Motivatio­ nen und der Triebe. Die Äußerlichkeit des Rechts führt dazu, dass sich alle Verbind­ lichkeit in orientierungslose Beliebigkeit auflöst. Dabei ist es gewiss kein Zufall, dass Hegel ausgerechnet das Beispiel des Verbrechens wählt, um die Grenze dieser besonderen Gestalt der von ihm so genannten „relativen Sittlichkeit“ zu markieren. 131 

Ebd., S. 455 f. Ebd., S.  460 – 469. 133  Ebd., S. 470. 134  Ebd., S. 470 ff. 135  Ebd., S.  476 – 480. 136  Ebd., S. 480. 132 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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So wie die verdeckte Herrschaftsbeziehung als die Grenze der Vertragsverhält­ nisse erwiesen werden konnte, weil sie deren innere Logik und Intention sprengt, so setzt auch die Frage nach dem Umgang mit dem Verbrecher für Hegel gleichsam eine Markierung, durch die demonstriert werden soll, dass diese Frage so lange nicht adäquat beantwortet werden kann, wie es nicht gelingt, die Logik des doppel­ ten Zwangs von Recht und Moral zu überschreiten. In Hegels Reflexionen über die Strafe tritt diese Figur der Überschreitung des moralisch-juridischen Zwangs als eine Operation der „bestimmten Negation“ auf: Legitime Strafe ist Hegel zufolge Ausdruck der Nichtanerkennung, durch die der Verbrecher aber gleichwohl in sei­ ner Freiheit „geehrt“ werde. Hegel behauptet, dass Akte der „Wiederherstellung“ der Gerechtigkeit durch Strafe erst dann legitim werden, wenn Strafe die Logik des äußeren Zwangs über­ schreitet. Würde man die Strafe nicht als „Wiederherstellung der Freiheit“137 ver­ stehen, sondern bloß mit „äußerem Zwang“ gleichsetzen, so ergäbe sich nach Hegel das „peinliche Bild“ eines Staates, der „als richterliche Gewalt einen Markt mit Bestimmtheiten [hält], die Verbrechen heißen und die ihm gegen andere Bestimmt­ heiten feil sind, und das Gesetzbuch ist der Preiskourant“.138 Erst wenn die Strafe als ein Akt gesellschaftlicher, im Dienst der Freiheit stehender und nicht allein ju­ ridischer Nichtanerkennung verstanden werden kann, widerfährt dem Verbrecher Gerechtigkeit, wird er als ein Vernunftwesen anerkannt. Hegel lenkt den Blick darauf, dass die Anerkennung des Verbrechens, gerade weil sie als „Wiederherstel­ lung der Freiheit“ im Akt der Strafe verstanden werden muss, weder juridisch noch moralisch erfolgen kann, sondern erst durch sittliche Verhältnisse möglich wird. Den Nachweis für diesen Zusammenhang führt Hegel im Rückgriff auf Die Eumeniden von Aischylos, den dritten Teil der Orestie-Trilogie. Im Zentrum von Hegels Ausführungen steht die Rechtsprechung der „Athene Athens“, die Hegel überhaupt als paradigmatischen Akt deutet, durch den sittliche Verhältnisse aller­ erst begründet werden: In der Tragödie wird Orest, der von den Erinyen verfolgte Muttermörder, durch Athenes Schiedsspruch freigesprochen, und die „wilde Na­ tur“ der Erinyen, der Rachegöttinnen, wird besänftigt, indem ihnen der Bürgersta­ tus zugesprochen wird. Die Tragödie wird für Hegel im Kontext der Frage nach der Entstehung und Transformation einer normativen Ordnung interessant, weil „das Verbrechen Orests“, wie es Schulte herausgearbeitet hat, „[durch diesen Schieds­ spruch Athenes] nicht nur in einem ‚höheren‘ Recht aufgehoben [wird], sondern dies Verbrechen selbst […] zu einem die absolute Sittlichkeit der Polis konstituie­ renden Akt [wird]“.139 Die Folgen des Schiedsspruchs der Athene sind allerdings gerade für die Erinyen am weitreichendsten, denn „fragt [man] nur“, so Schulte, „worin die Anerkennung der Erinyen besteht, so kann die Antwort eigentlich nur lauten: Die Erinyen werden 137 Ebd. 138 Ebd. 139 

Schulte, Die „Tragödie im Sittlichen“, S. 60.

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anerkannt, indem sie nicht anerkannt werden. Sie willigen ein, den Platz und die Verehrung anzunehmen, die ihnen die Polis und ihre neue Ordnung zuweist, eine Ordnung aber, die sich in der Negation derjenigen Substanz, die sie vertreten, erst konstituiert hat.“140 Im Rückgang auf Aischylos’ Tragödie thematisiert Hegel den Zusammenhang der Zurückweisung der Logik der Rache und der Vergeltung und deren Ablösung durch die Logik der strafenden Gerechtigkeit – allerdings ohne den gewaltsamen Charakter aus dem Blick zu verlieren, der einer jeden Etablierung der neuen Ordnung inhärent ist. Der Bezug auf die Tragödie erlaubt es Hegel aber auch, darauf hinzuweisen, dass die Logik der strafenden Gerechtigkeit im „höhe­ ren Recht“ des Freispruchs überschritten werden kann. Solche Grenzfälle für Fragen der Normativität herauszugreifen, etwa den Grenzfall des Verbrechens zu benennen oder die Entscheidung für den Freispruch zu erwähnen, scheint im Kontext der Kritik des „reinen Formalismus“ einen be­ stimmten Zweck zu erfüllen: Damit soll diejenige Gestalt der Praxis, die der For­ malismus theoretisch auf den Begriff bringt, in ihrer Geltung relativiert und auf einen höheren Zusammenhang der „Sittlichkeit“ verpflichtet werden. In welchem Zusammenhang die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und solche Grenzphä­ nomene wie der Rechtsbruch letztlich zur Sittlichkeit stehen, lässt sich aus dem Naturrechtsaufsatz allein nicht erhellen, wohl aber, wenn man Hegels System der Sittlichkeit in die Überlegungen einbezieht. So zeichnet Christoph Menke unter dem Titel die „Geburt der Sittlichkeit aus dem Verbrechen“141 nach, wie Hegel im System der Sittlichkeit durch eine „Rekonstruktion“ der Sittlichkeit „aus der ‚Ver­ letzung des Lebens‘“142 zum Nachweis des „geltungstheoretische[n] Zusammen­ hang[s] von bürgerlicher Gesellschaft und politischer Sittlichkeit“ gelangt.143 Der Nachweis, dass sittliche Anerkennungsbeziehungen Geltungsvorrang besitzen, wird dabei ex negativo geführt: Hegel bemüht sich, zu zeigen, „daß […] der Ein­ spruch des Verbrechers [bei einer Verabsolutierung der bürgerlichen Gesellschaft] nicht begründet zurückgewiesen werden kann“.144 Dies ist deshalb der Fall, weil „die (rächende oder strafende) Zurückweisung des Verbrechens […] nur [dann] [legitim ist], wenn seine Zurückweisung als seine Anerkennung verstanden wer­ den kann“.145 Um diese anspruchsvolle Figur zu realisieren, so fasst Menke Hegels Argument zusammen, müssen aber sowohl die „Rechtsperson“ als auch der „Ver­ brecher“ in ihrem „Konflikt“ notwendigerweise „in nicht mehr rechtliche Verhält­ nisse eintreten“. Auf diese Weise will Hegel darauf aufmerksam machen, dass „die rechtlich integrierte bürgerliche Gesellschaft“ in solchen Fällen „in die kategorial

140 

Ebd., S. 50 f. Christoph Menke, „Anerkennung im Kampfe“, S. 493 – 507. 142  Ebd., S. 500. 143  Vgl. ebd., S. 501, Anm. 13. 144  Ebd., S. 501. 145  Ebd., S. 502. 141 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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verschiedene Gestalt intersubjektiver Praxis, die Hegel unter dem Titel ‚Sittlich­ keit‘ behandelt […]“, tatsächlich übergehen muss.146 Die bisherigen Lektüren haben deutlich gemacht, dass Hegel mit seiner Kritik am Formalismus die Absicht verfolgt, die Grenzen dieses „Systems des Negativen“, des juridisch-moralischen Zwangs, aufzuzeigen und in eins damit seine Geltung zu relativieren. Daran zeigt sich aber zugleich, dass Hegels kritische Ausführungen immer auch auf eine konstruktive Wendung drängen. Eine derartige Wendung lässt sich im weiteren Verlauf des Naturrechtsaufsatzes in der Tat feststellen: Die Kritik wird dann konstruktiv, wenn Hegel dazu übergeht, die Bedingungs- und Voraus­ setzungsverhältnisse des kritisierten „System[s] des Negativen“ näher zu explizie­ ren. Mit diesem neuen Ziel verändert sich auch der Tenor seiner Ausführungen, die insgesamt etwas konzilianter werden. 2.  Der konstruktive Teil a)  Die Ausdifferenzierung der Sittlichkeit in Disziplinen, Sphären und Stände In den einleitenden Ausführungen des hier ‚konstruktiv‘ genannten Teils stellt Hegel die von der praktischen Philosophie Kants und Fichtes herrührenden Prob­ leme zunächst einmal zurück. Die früh ausgesprochene eigene Forderung nach der Form und nach positiver Organisation aufnehmend, geht es Hegel nun darum, zu erörtern, worin die Totalität des Ganzen, das Positive, besteht. Hegel geht gleich­ sam aristotelisch vor und unterscheidet verschiedene Bezirke des Problemfelds ‚Sittlichkeit‘. Sie wird zunächst mit der Sittlichkeit des Volkes gleichgesetzt. Fer­ ner steht das Verhältnis von Volk und Individuum wie das zwischen den Völkern, im Krieg und in Handelsbeziehungen, im Fokus.147 Für die Untersuchung der in den Handelsbeziehungen herrschenden Konkurrenzverhältnisse ist das System der sogenannten politischen Ökonomie zuständig. In dieser Disziplin gehe es einerseits um den Ordnungs- und Notwendigkeitszusammenhang von physischen Bedürfnis­ sen und Genüssen und andererseits um den Komplex Arbeit und Entlohnung. Interessant ist nun, zu sehen, wie sich das Nachdenken über die Totalität des sitt­ lichen Ganzen als das Positive durch die Einbeziehung der Reflexion über die öko­ nomischen Zusammenhänge verändert, die Hegel als das „System der allgemeinen gegenseitigen Abhängigkeit“ oder auch das „System der Realität“148 bezeichnet. Hegel bezieht sich nicht mehr auf die Kategorie „Volk“ und damit auf die vorstaat­ lichen bzw. vormodernen Verhältnisse, sondern spricht mit einem Mal vom Staat. Der Begriff des Staates wird im Naturrechtsaufsatz bezeichnenderweise überhaupt erst im Zusammenhang mit der Ökonomie eingeführt und diskutiert.149 146 Ebd. 147 

NR, S. 481 f. Ebd., S. 482. 149  Ebd., S. 483 f. 148 

1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

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Hegel behauptet bereits in dieser frühen Schrift ein wechselseitiges Abhängig­ keitsverhältnis von Staat und Ökonomie. Für dieses spezifische Verhältnis ist es allerdings wesentlich, wie Hegel betont, dass die Hierarchie zwischen den beiden aufrechterhalten bleibt.150 Die ökonomische Macht darf nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar – durch die spezifische Einordnung in den Staat – wirken: Dem Staat ist es aufgetragen, die ökonomische Sphäre, die Hegel mit dem Ausdruck „das Sys­ tem des Besitzes“ bezeichnet, zu begrenzen und „die Bildung zu immer größerer Differenz und Ungleichheit, als worauf seine Natur geht, [zu] [ver]hinder[n]“.151 Zu­ gleich macht Hegel – wohlgemerkt: lange vor seiner späteren Theorie der „bürgerli­ chen Gesellschaft“152 – darauf aufmerksam, dass „mit dem Wachstum des Systems des Besitzes [der Aufwand des Staats selbst] [wächst] […] – bis auf solche Grade […], in welchen die positive Sittlichkeit des Staats selbst die Unabhängigkeit von dem rein reellen Systeme und die Behauptung der negativen und einschränkenden Haltung erlaubt“.153 Dass sich hier bereits eine Theorie der Differenzierung von Staat und Gesell­ schaft abzeichnet, einschließlich der Reflexion über die wechselseitige Abhängig­ keit und das hierarchische Verhältnis zwischen den beiden, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Hegel als Diagnostiker der modernen Gesellschaft eine Pionierrolle zukommt.154 Legt man Hegels Argument über die Logik des Verhältnisses von Ge­ sellschaft und Staat zugrunde, so liegt außerdem die Folgerung nahe, dass der Zu­ wachs an Komplexität auf dem Weg von der „bürgerlichen Gesellschaft“ zu einer Massengesellschaft wohl einen starken Staat verlangen würde. Hegels Überlegun­ gen lässt sich aber entnehmen, dass umgekehrt für den Staat auch gelten muss, dass er durch die ökonomischen Verhältnisse gleichsam mitlaufend mitkonstituiert und „vermehrt“ wird. Nachdem Hegel seiner Theorie der Sittlichkeit diesen neuen Rahmen gegeben hat, kommen die Rechtswissenschaften zur Sprache. Hegel bindet das Recht an 150 

Ebd., S. 483.

151 Ebd. 152  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830]. Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes, in: ders., Werke, Bd. 10, § 523 ff. (im Folgenden unter Angabe der Sigle Enz. III zitiert) und insb. GPR, § 182 ff. 153  NR, S. 483. 154  Aus der umfangreichen Literatur zur „bürgerlichen Gesellschaft“ bei Hegel seien hier nur einige wenige Beiträge exemplarisch herausgegriffen: Rolf-Peter Horstmann, Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie, S. 276 – 311; ders., He­ gels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (§§ 158 – 256), in: Ludwig Siep (Hrsg.), G. W. F. He­gel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 2005, S. 193 – 216; vgl. auch die sich auf die ökonomischen Motive in Hegels frühen Schriften konzentrierende marxistisch gepräg­ te Interpretation von Lukács, Der junge Hegel; vgl. auch Manfred Riedel, Hegels Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“ und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs [1962], in: ders. (Hrsg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 2, Frankfurt am Main 1975, S. 247 – 275; sowie ders., Die Rezeption der Nationalökonomie [1969], in: ders., Zwischen Tra­ dition und Revolution. Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Stuttgart 1982, S. 116 – 139.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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die Sphäre des „Besitzes und Erwerbs“ zurück, die er nun nicht mehr rein öko­ nomisch, sondern als einen praktisch-rechtlichen Komplex155 auffasst: „Durch die Identität, in welche das Reelle in der Beziehung der Verhältnisse gesetzt wird, wird der Besitz Eigentum und überhaupt die Besonderheit, auch die lebendige, zugleich als ein Allgemeines bestimmt, wodurch die Sphäre des Rechts konstituiert ist.“156 Hegel würdigt die Leistung des Rechts, die darin besteht, die ökonomische Sphäre rechtlich zu zivilisieren und den herrschenden Naturzustand zwischen den konkur­ rierenden Einzelnen gleichsam zu zähmen. Doch trotz dieser wichtigen Funktion des Rechts führt Hegel den rechtlich-ökonomischen Komplex als eine Realität vor, die gegenüber dem „absolut Sittlichen“ defizient bleibt. Man befinde sich hier in der Sphäre der „relativen Sittlichkeit“. Mit dieser Behauptung des Vorrangs des „absolut Sittlichen“ gegenüber seiner Festlegung und Beschränkung auf die „rela­ tive“ Sphäre von Ökonomie und Privatrecht kehrt Hegel zu seiner Polemik gegen „relative Sittlichkeit“ zurück. In diesen Ausführungen scheint der Schlüssel zum Verständnis von Hegels vorausgegangener Polemik gegen den Formalismus Kants und Fichtes zu liegen. Zumindest lassen sich die Vorwürfe des kritischen Teils, die dort noch recht in­ transparent wirkten, von hier besehen wenn nicht gänzlich konkretisieren, so doch hinsichtlich ihrer Stoßrichtung besser einordnen. Das Problematische scheint He­ gel darin zu sehen, dass das Recht im Modell der „relativen Sittlichkeit“ funktional auf die Zivilisierung der ökonomischen Sphäre hin verengt wird. Demgegenüber sucht Hegel nach einem breiteren, gehaltvollen Verständnis des Rechts, von dem ausgehend dessen abstrakt funktionale Bestimmung als leer ausgewiesen werden kann. Der erste Schritt, den Hegel auf dem Weg zu diesem neuen und umfassende­ ren Rechtsverständnis unternimmt, besteht darin, die „Sphäre der relativen Einheit oder des Praktischen und Rechtlichen“ in verschiedenen „Realitäten“ auftreten zu lassen, die zueinander als „Stände“ in Beziehung treten.157 Hegels Ständelehre entwirft das Modell einer in sich differenzierten gesell­ schaftlichen Organisation, deren interne Hierarchien durch das jeweilige Verhält­ nis der „Stände“ zum „Absoluten“ oder zur sittlichen Freiheit bestimmt sind.158 Es ist vielfach bemerkt worden, dass Hegels Überlegungen zur ständischen Aus­ differenzierung der Gesellschaft bereits auf eine Theorie der sozialen Rollen vo­ rausweisen.159 Da Hegel die jeweiligen Standeszugehörigkeiten aber noch „nicht 155 

NR, S. 489. Ebd., S. 484. 157  Ebd., S. 489. 158  Ebd., S.  491 – 495. 159  Vgl. hierzu Horstmann, Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (§§ 158 – 256), S. 200 ff.; wie wichtig für Hegels Theorie des modernen Staates die Idee der sozialen Dif­ ferenzierung ist, betont Charles Taylor, Hegel, Cambridge 1975, S. 408 ff.; vgl. auch ders., Hegel and Modern Society, Cambridge 1979, S. 100 ff., insb. S. 108 ff. Zu Hegels Theorie sozialer Rollen siehe Hardimon, Hegel’s Social Philosophy, Kapitel 5, S. 144 – 173 sowie Pippin, Hegel’s Practical Philosophy, Kapitel 9, S. 239 – 272. 156 

1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

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als jedem zugängliche soziale Rollen faßt“, ist der Charakter dieser Theorie noch „vormodern“.160 Dabei hätte Hegel bereits an dieser Stelle die Idee der Gleichberechtigung ein­ führen können. Ebenfalls ließe sich die Behauptung aufstellen und weiterverfol­ gen, dass die Artikulation von individuellen Grundrechten erst mit dem Loslö­ sungsprozess der Gesellschaft vom Staat möglich geworden ist. Auf diesem Wege hätte Hegel bereits im Naturrechtsaufsatz eine affirmative Einstellung zur moder­ nen Entzweiungsstruktur gewinnen können. Für eine solche Einstellung sind die Interpretationen Joachim Ritters maßgeblich geworden, der unentwegt unterstri­ chen hat, dass „Freiheit des Menschen als Freiheit aller Menschen“ die reelle Ent­ zweiung zur Voraussetzung habe, wobei unter „Entzweiung“ die Trennung von Gesellschaft und Staat verstanden wird.161 Vor dieser Folie erstaunt es umso mehr, ist aber zugleich auch bezeichnend, dass Hegel diese optimistische Einschätzung im Naturrechtsaufsatz gerade nicht teilt. Vielmehr ist provozierenderweise sogar das Gegenteil der Fall: Die von Hegel dargebotene Ständelehre wird in eine Ver­ fallsgeschichte politischer Freiheit eingebettet, an deren Ende die Depravierung von Freiheit steht. Die Geschichte des Verfalls politischer Freiheit präsentiert Hegel als einen Pro­ zess der Auflösung bzw. Nivellierung der Standesunterschiede.162 Im Verlauf die­ ser Entwicklung komme es zur universellen Verbreitung des „bourgeois“, dessen Existenz Hegel in „die matte Gleichgültigkeit des Privatlebens“163 herabsinken sieht. Um die „politische Nullität“164 des Privatmenschen herauszustellen und die­ se Existenzweise der Bürger der modernen Gesellschaft mit dem emphatischen Bürgerbegriff der Polis zu kontrastieren, bedient sich Hegel einer geschichtsphi­ losophischen Perspektive. Dieselbe Perspektive gibt ihm allerdings auch Mittel an die Hand, eine gegenüber den Theoretikern der Polis-Sittlichkeit Platon und Aristoteles, die er zitiert, wie auch gegenüber den modernen Naturrechtslehren ori­ ginelle Überlegung auszusprechen und weiter zu verfolgen: Wenn die Freiheit im Privaten eine depravierte Freiheitsform darstellt, dann kommt alles darauf an, die Menke, „Anerkennung im Kampfe“, S. 494. Joachim Ritter, Art. „Entzweiung, entzweien“, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Histo­ risches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel/Stuttgart 1972, Sp. 565 – 572, hier: Sp. 570. 162  Zur berühmten Wiederaufnahme dieser These von der Aufhebung der ständischen Differenzen siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest [1848], in: Karl Marx, Die Frühschriften, Stuttgart 1964, S. 525 – 560, hier S. 528 f.: „Die fortwähren­ de Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen anderen Epochen aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehr­ würdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseiti­ gen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ 163  NR, S. 492. 164  Ebd., S. 494. 160 Vgl. 161 Vgl.

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genuine Verbindung von individueller und öffentlicher Freiheit – nunmehr unter den Bedingungen der modernen Entzweiung – neu zu entwerfen. Wie lassen sich aber die Bedingungen der Möglichkeit dieses „Einssein[s] der allgemeinen und der individuellen Freiheit“165 erschließen? Hegel hat auf diese Frage, obwohl sie letztlich die leitende Frage des Natur­ rechtsaufsatzes ist, keine Antwort gefunden. Für das Problem der „politischen Nul­ lität“ findet sich keine direkte Lösung. Doch wenn man bereit ist, sich auf Hegels eigene Antwortsuche via negationis einzulassen, dann lassen sich durchaus einige Rückschlüsse darüber gewinnen, worin dieses „Einssein der allgemeinen und der individuellen Freiheit“ besteht und wie es zu verwirklichen ist. Besonders wichtig sind in diesem Kontext Hegels Überlegungen über die Auflösung des ursprüng­ lichen „Einsseins“ des sittlichen Lebens. Die Gründe für den Zerfall der Einheit sucht er aus einer Soziogenese zu rekonstruieren, wie vor dem Hintergrund der Diskussion seiner Zeitdiagnose der „politischen Nullität“ der bürgerlichen Indivi­ duen noch zu zeigen sein wird. Doch neben diesem interessanten Ansatz Hegels, das Problem der Abstumpfung des Sinns für politische Freiheit aus der Genese der Sozialität heraus zu verstehen, gibt es im Naturrechtsaufsatz noch einen weiteren originellen Strang von Überlegungen: Um eine andere Antwort auf das Problem der Entzweiung zu finden als die gewohnte politische Antwort, entwickelt Hegel – gleichsam in Miniatur – eine ästhetische Theorie der Moderne. b)  Das ästhetische Intermezzo: Die Tragödie und Komödie der Moderne Mit der Abkoppelung des „Systems von Besitz und Erwerb“ vom sittlichen Gan­ zen scheint die Verfallsgeschichte politischer Freiheit ihr Endstadium erreicht zu haben. Doch an diesem Punkt angelangt, erfährt die Geschichte eine überraschen­ de Wendung, die dadurch eingeleitet wird, dass Hegel die Verhältnisse mit einem Mal durch die Brille eines Ästhetikers betrachtet. Nun wird „relative Sittlichkeit“ selbst zum Akteur in einem immerwährenden Geschehen, zu dessen Dynamik es gehört, dass „relative Sittlichkeit“ seitens der „absoluten Sittlichkeit“ anerkannt, und zwar paradoxerweise gerade im Sinne einer Anerkennung ihrer Nichtintegrierbarkeit anerkannt wird, die wiederum zur „Freilassung“ dieser Sphäre nötigt. Diesen Prozess veranschaulicht Hegel mit den rätselhaften Worten von der „Aufführung der Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich selbst spielt“.166 Bei aller Rätselhaftigkeit dieses Bildes ist es gewiss, dass Hegel seine Modernitätskritik damit keineswegs in eine Versöhnungsoption überführen will. Vielmehr verhält es sich genau umgekehrt: Die Versöhnung selbst wird zur Chiff­ re des modernen Entzweiungsgeschehens. Diese originäre Einsicht ist eingebettet in einen exkursartigen ästhetischen Einschub,167 der insofern aus der Reihe fällt, 165 

Ebd., S. 471. Ebd., S. 495. 167  Ebd., S.  495 – 500. 166 

1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

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als Hegel die zuvor geäußerten Überlegungen zu den verschiedenen Weisen der sittlichen Organisation unterbricht und sie nun in ästhetischen Termini – als eine Theorie der Tragödie und der Komödie – entfaltet. Diesen „Rückgriff auf Tragödientheorie zur Deutung der gesellschaftlichen Verhältnisse“ bezeichnet Walter Jaeschke als „ein Proprium Hegels“,168 während Christoph Menke die Hegelsche Metapher zum Leitfaden nimmt, um in Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel ein komplexes Bild der Moderne zu zeichnen.169 Mit dem Tragödienbild wird die Figur einer Versöhnung durch die Selbstentzweiung des Sittlichen als das „Schicksal“ moderner Sittlichkeit greifbar: Die Quintessenz der Hegelschen Tragödienmetapher sei in der Einsicht zu sehen, dass moderne Gesellschaften „sich nur so [integrieren], daß sie sich auf unversöhnliche Weise entzweien“.170 Dergestalt enthalte Hegels Tragödienbild in nuce eine Theorie der wechselseitigen Anerkennung sozialer Sphären, vermittels derer die Integrationsdynamik differenzierter Gesellschaften beschrieben werden kann. Hegel stelle damit den Schlüssel zur Logik der „Ausdifferenzierung moder­ ner Gesellschaften mittels einer Theorie sozialer Konflikte“ bereit, „deren Ent­ scheidung keiner externen Instanz mehr, sondern nur noch ihrer internen Dialektik übertragen ist“.171 Auf diese Weise lasse sich die Formel „Tragödie im Sittlichen“ jedoch als Chiffre für die strukturelle Dynamik nachsittlicher Gerechtigkeit über­ haupt lesen, mithin als ein Vorstoß zu einem neuen Sinn von Politik: In dem Maße, wie in diesem Modell die Behauptung des Vorrangs, ja der „Übermacht“ der Ge­ rechtigkeit vor „individueller Selbstverwirklichung“ und „Authentizität“ unterlau­ fen wird, öffne sich hier eine ethische Perspektive „auf einen umfassenden Begriff des Guten“, so Menke, „in dem Gerechtigkeit und Individualität durch ihre tragi­ schen Kollisionen ihre Gleichberechtigung zurückgewinnen“.172 Während die Verfallsgeschichte von der politischen Freiheit der Polis-Bürger und der „politischen Nullität“ der Bourgeois erzählt und damit bestimmte gesell­ schaftliche Verhältnisse, die sich verfestigt haben, beklagt, positioniert sich Hegel mit der Tragödienfigur neu zu seiner bisherigen Modernitätskritik. Mit der Rede von der „Tragödie im Sittlichen“ weicht er von seiner ersten Versöhnungsvision, die noch in der Engführung des Sittlichen mit dem Volk bestand, ebenso ab wie von seiner Modernitätskritik, mit der er sich vom apolitischen Charakter der bür­ gerlichen Gesellschaft abwendet. Die antikisierte Versöhnungsoption, die Hegel gegen die zerrütteten modernen Verhältnisse zunächst ins Feld geführt hat, be­ stand noch darin, Individuen mit der Aufgabe zu betrauen, die Gemeinschaft des Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 148. Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt am Main 1996. 170  Menke, „Anerkennung im Kampfe“, S. 496. 171  Vgl. ebd., S. 497. 172  Menke, Tragödie im Sittlichen, Buchumschlag. 168  169 

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Volkes durch vortreffliche Verkörperung der Tugenden dieser Gemeinschaft zu individualisieren.173 In seinem ästhetischen Intermezzo zeichnet Hegel jedoch ein anderes Bild: Die Option der Versöhnung weist nicht mehr in die antike Sittlichkeit zurück, sondern gibt den Blick auf die tiefere Struktur der Moderne selbst frei. Dabei beschreibt Hegel zugleich, was passieren würde, wenn diese tiefere Struktur der Tragödie der Moderne verkannt oder ausgeblendet wäre. Dieser Fall wird unter dem Stichwort der Komödie der Moderne diskutiert. Die Moderne gibt sich dann als eine „komödiantisch“ gespaltene zu erkennen. Diese untragische Ko­ mödie der Moderne wirkt auf ihre Protagonisten polarisierend: Einerseits huldi­ gen sie dem Kult der „göttlichen Monstruositäten“174 und preisen Individuen als exemplarische Verkörperungen von Tugenden an, wie es in der „alten Komödie“ geschieht. Andererseits sind sie aber den Verwerfungen der „neueren Komödie“ wehrlos ausgesetzt, die nichts anderes zustande bringt, als die „Affektation von Charakter“175 zur Schau zu stellen. In dieser äußeren Polarisierung von „Substanz“ in der „alten“ und „Subjekt“ in der „neuen Komödie“ tritt die Sittlichkeit in zwei „Zonen des Sittlichen“176 auseinander. Die Komödie ist für Hegel der sinnfällige Ausdruck dieses Auseinandertretens des Absoluten und des Endlichen, wobei die eine „Zone“ der jeweils anderen in Hegels Bild die Existenzberechtigung streitig macht oder gar abspricht: Für die alte Komödie seien die „Gegensätze und das End­ liche ein wesenloser Schatten“, für die neue sei „das Absolute eine Täuschung“.177 Diese untragische komödiantische Spaltung, so wie sie Hegel beschrieben hat, lässt sich zum Sinnbild der modernen Gesellschaft überhaupt stilisieren. Es lassen sich kaum treffendere Worte finden, um das tief gespaltene Profil moderner Sub­ jektivität ins Auge zu fassen, als von Charakteren zu reden, die zwischen Selbst­ überschätzung und Affektiertheit oszillieren. Auf der einen Seite der Komödie treten, ohne sich für die Begrenzungen des Endlichen zu interessieren, gleichsam personifizierte Exzellenzleistungen auf die Bühne. Hegel spricht von „extreme[n] individuelle[n] Ausprägungen des Talents in Kunst, Wissenschaft, Geschicklich­ keit, Sport“.178 Doch er nennt sie „komische Züge“. Sie tragen zur „Erheiterung“ der Gestalt des Sittlichen bei, ohne sie zu verändern.179 Auf der anderen Seite der 173 

NR, S. 508. Ebd., S. 497. 175  Ebd. S. 498. 176  Ebd. S. 499. 177 Ebd. 178  Ebd., S. 497. 179  Angesichts der Darstellung dieser Dimension moderner Verhältnisse liegt die Brücke zu den gegenwärtigen Modellen von ethischer Perfektibilität durchaus nahe. Dabei abstra­ hiert der scheinbar mühelose Perfektionismus, der sich selbst feiert, nur zu gern von allen konkreten Bedingungen der Existenz des Einzelnen, etwa dann, wenn jedem Einzelnen, dem Credo „du kannst, was du sollst“ folgend, die verheißungsvolle Aufgabe auferlegt wird, sich in der Kultivierung von aristokratisch anmutenden Tugenden zu üben (siehe etwa Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt am Main 2009). 174 

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modernen Polarisierung treten affektierte Charaktere auf, für die der wahrhafte „Kampf“ Hegels Urteil zufolge unmöglich geworden ist. Diese Unmöglichkeit er­ klärt Hegel sogar zum grundlegenden Zug dieser „anderen“, der neueren, modern und „nichtlebendig“ genannten Komödie. Hegels Beschreibungen zufolge ist es „die sittliche Natur“ selbst, sind es nicht die Einzelnen, die in jenen Kampf ver­ strickt sind.180 Die sittliche Natur ist zwar bemüht, diesen Kampf aus sich heraus zu beenden, vermag ihre eigene beschränkte Sphäre jedoch nicht zu überschreiten, wie es zum Ausfechten des Kampfes nötig wäre. Es ist nicht leicht zu verstehen, was genau Hegel mit dieser Beschreibung im Auge hat. Ohne den Anspruch zu erheben, eine gänzlich zufriedenstellende In­ terpretation anzubieten, kann man immerhin feststellen, dass sich in diesem von Hegel gezeichneten Bild zumindest gewisse Anklänge an das zuvor erörterte Pro­ blem finden – an seine Behauptung, dass es unmöglich sei, die Sphäre der „relati­ ven Sittlichkeit“ zu verlassen oder zu überschreiten. Dies ist so lange unmöglich, wie die Grenzphänomene dieser Sphäre, die am Beispiel des Rechtsbruchs bereits diskutiert worden sind, nicht eine über sie hinausgehende Tragweite erhalten und eine Veränderung der sittlichen Ordnung bewirken. Diese Überlegung ließ sich anhand der Tragödientrilogie von Aischylos exemplifizieren. Hegels Bezugnahme auf Aischylos hat im Kern deutlich gemacht, dass die ethische Beurteilung eines Rechtsbruchs sich der Frage nicht entziehen kann, ob dieser Rechtsbruch sich nicht zugleich auch als eine solche Verletzung der sittlichen Ordnung begreifen lässt, die eine neue Ordnung zum Vorschein bringt oder diese sogar zu instituieren vermag. Dieser Zusammenhang lässt sich unter Rückgriff auf eine Denkfigur veran­ schaulichen, die Robert Pippin in seiner Analyse von John Fords Western „The Man Who Shot Liberty Valance“ (1962) verwendet. Sie kommt der Quintessenz dessen nahe, was Hegel mit seiner Rede vom „wahren Kampf“ und von der Über­ schreitung der beschränkten Sphäre möglicherweise vor Augen haben könnte. In diesem Western wird gezeigt, wie Recht und Ordnung erst nach dem Mord an Li­ berty Valance instituiert werden können, dessen gesetzlose anarchische Gewalt den kleinen Ort, in dem die Handlung spielt, in Angst und Schrecken hält. Es­ sentiell für diesen Western ist, dass die Gemeinschaft nach der Eliminierung des Verbrechers im Glauben gelassen wird, dass Valance von dem Repräsentanten der neuen Ordnung, dem jungen Anwalt Ranse Stoddard, im Duell getötet worden sei. In Wahrheit wurde der ‚villain‘ Valance jedoch von dem Rancher Tom Doniphon aus dem Hinterhalt erschossen. Dies rettet Ranse das Leben. Doch während der eine als Held gefeiert wird und politische Karriere macht, gerät Tom – der mit diesem Mord, so Pippin, alle Gesetze des Westens verletzte, um den Weg zu der ‚neuen Ordnung‘ zu bahnen – in völlige Vergessenheit.181 Pippins Interpretation 180 

NR, S. 498. Robert Pippin, Who Cares Who Shot Liberty Valance? The Heroic and the Prosaic in The Man Who Shot Liberty Valance, in: ders., Hollywood Westerns and American Myth. The Importance of Howard Hawks and John Ford for Political Philosophy, New Haven/ London 2010, S. 61 – 101, hier: S. 80 f. 181 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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zufolge führt der Western vor Augen, dass eine neue Ordnung nur gewaltsam ein­ gesetzt werden kann. Diese Gewalt, die der neuen Ordnung des Rechts vorangeht und an deren Etablierung sie paradoxerweise sogar beteiligt ist, muss jedoch not­ wendigerweise gesetzlos („lawless“) sein, um mit der alten Ordnung endgültig bre­ chen zu können. Und dennoch muss dieses Paradox gerade um der neu etablierten Rechtsordnung willen, die es zu begründen und aufrechtzuerhalten gilt, zum Ver­ schwinden gebracht und – wenn es nicht ohnehin längst in Vergessenheit geraten ist – eliminiert werden.182 Die neuere moderne Komödie, wie Hegel sie beschreibt, ist nun aber gerade vom Bewusstsein solcher Paradoxien weit entfernt. Für die transformierende Kraft der sittlichen Ordnung bleibt sie gänzlich blind. Die neuere Komödie reiche nur so weit, dass sie die für den „sittlichen Trieb ernsthaft[en], für den Zuschauer aber ko­ misch[en] Gegensätz[e]“183 zur Schau stelle. Jedoch werde „die Rettung gegen sie“, so Hegel, „in einer Affektation von Charakter und Absolutheit gesucht, die sich be­ ständig getäuscht und abgesetzt findet“.184 Aus Furcht vor dem „Absoluten“ – in der hier versuchten Interpretation: aus Furcht vor dem Übergang in eine andere Logik des Umgangs mit dem Konflikt, mit Gewalt und außerrechtlichen Verhältnissen – werde „das Bestehende vom sittlichen Trieb“, der den „Ernst“ will, „in die formale und negative Absolutheit des Rechts verwandel[t]“.185 Hegel scheint an dieser Stelle zu behaupten, dass formalrechtliche Verfahrens­ weisen zwar Festigkeit suggerieren, die Unsicherheit und Angst jedoch allenfalls zu überspielen vermögen. Die Furcht, die die „affektierten“ Subjekte einer solchen Komödie befällt, ist für den Hegel der Jenaer Periode überhaupt ein bleibendes Motiv. In der Phänomenologie kehrt dieses Motiv in noch radikalerer Form wieder. Dort, wo es um die „absolute Freiheit“ geht, wird diese Furcht noch zur Todes­ furcht vor dem „absoluten Herrn“ gesteigert:186 „Diese Furcht allein“, so erläutert es Elisabeth Weisser-Lohmann, „ermöglicht den Verzicht auf die Verwirklichung 182  Vgl. ebd., S. 82; die komplexe Überlegung, die Pippin hier entfaltet, lautet: „What this suggests is that the conditions necessary for law and political order are doubly morally pro­ blematic. First, there can be no law unless the lawless are eliminated, controlled, but given what the lawless are willing to do, this violent elimination cannot itself be just or fair, cannot play by the rules. Valance is ambushed, shot down from the dark. Second, it seems that a ci­ vilized order must view itself as founded by heroic and unproblematic violence, so this truth about the founding must be hidden by a lie. […] Valance must be killed by a representative of a new order; his death must mean that. So since Tom is unseen and quickly vanishes, everybody can think that Ransom Stoddard killed Valance and so can distinguish this act of violence from a personal one by associating it with Ranse’s ideals, can believe that the rule of law and democracy triumphed. Violence before there is law is unavoidably lawless, but if it is for the sake of law the paradox can be lessened if not eliminated“ (ebd., S. 80 – 82). 183  NR, S. 498. 184 Ebd. 185 Ebd. 186 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes [1807], in: ders., Werke, Bd. 3, S. 438 (im Folgenden unter Angabe der Sigle PhG zitiert).

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

des Allgemeinen durch den Einzelnen und damit die Rückkehr zu einem geteilten und beschränkten Werke.“187 Fasst man zusammen, so lässt sich festhalten, dass die doppelte Komödie der Moderne deshalb eine beschränkte Form des Sittlichen darstellt, weil sie das sitt­ liche Leben entweder auf die substantialistische oder auf die reflexiv-subjektivis­ tische Praxis und auf ebensolche Deutungsvarianten dieser Praxis reduziert. Vor diesem Hintergrund stellt Hegels „Tragödie im Sittlichen“ eine dritte Option dar, durch die, wenn nicht explizit gemacht, so doch angezeigt wird, welche Anforderungen die gesuchte Formation des Sittlichen, die auf keines der beiden Extreme reduziert werden darf, zu erfüllen hätte. Hegel schwebt ein Modell des Sittlichen vor, in dem die gegensätzlichen „Zonen des Sittlichen“ strukturell vermittelt wer­ den können, oder, wie er sich ausdrückt, ineinander „scheinen“. Diese Metapher des „Widerscheins“ ist nicht neu. Im Naturrechtsaufsatz taucht sie schon an frü­ herer Stelle einmal auf, wenn Hegel vom „Widerschein der absoluten Sittlichkeit“ spricht, den die relative „in sich trägt“.188 Es ist zu bedauern, dass der Ertrag aus diesen Überlegungen über die tragische Verfasstheit der Moderne in Hegels weite­ re Ausführungen nicht eingeht. Im weiteren Verlauf des Naturrechtsaufsatzes wird es Hegel jedenfalls nicht mehr gelingen, dasjenige, was er in ästhetischen Termini noch anschaulich machen konnte, in vergleichbarer Klarheit wieder einzuholen. c)  Das Primat des Sittlichen: Die Relativierung der Moral und die Kritik des Rechts aa)  Die Behauptung des Vorrangs des Sittlichen: Hegels Programm Im Folgenden nimmt Hegel den alten Faden wieder auf und fragt nach dem Verhältnis „der Sittlichkeit des Individuums zur realen absoluten Sittlichkeit“.189 In diesem Abschnitt behauptet Hegel den Vorrang des Sittlichen vor seiner in Recht und Moral gespaltenen Gestalt. Mit dieser These legt er die Frage des Verhältnisses von Moralität und Legalität zur Neuverhandlung vor und stellt in eins damit eine neue Auffassung von Normativität in Aussicht. Da die neue Normativitätstheorie gleichwohl nirgends in ausgearbeiteter Form vorliegt, lässt sich vorerst nur eine einzige Vorgabe für sie angeben: Sie muss unbedingt von der zuvor deskreditierten Normativität des „relativ-Sittlichen“, von den rechtlich-moralisch verfassten Ver­ hältnissen, abweichen. Wie diese Abweichung zu denken ist, wogegen sich die von Hegel geforderte neue Normativitätsauffassung richtet und wie er vorgeht, diesen Fragen gilt es im Folgenden nachzugehen. 187  Elisabeth Weisser-Lohmann, Gestalten nicht des Bewußtseins, sondern einer Welt, in: Dietmar Köhler/Otto Pöggeler (Hrsg.), G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Berlin 1998, S. 183 – 207, hier: S. 204 f. 188  NR, S. 488. 189  Ebd., S. 504.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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Hegel fordert zunächst dazu auf, eine Umdeutung des Verständnisses von Moral und Recht vorzunehmen. Sein Argument lässt sich folgendermaßen rekonstruie­ ren: Hegel definiert die Moral als Wissenschaft von der „Sittlichkeit des Indivi­ duums“. Nachdem dieses Individuum aber als Bourgeois190 apostrophiert und zum apolitischen Privatmenschen herabgesetzt wurde, relativiert sich auch die Geltung der Moral zu einem bloßen moralischen Standpunkt dieses Einzelnen. Dergestalt in ihrer Geltung relativiert, kann die Moral aber nicht mehr für sich beanspruchen, den in Kants Philosophie gültigen Vorrangstatus in Fragen der Ethik, aber auch der Gerechtigkeit des Rechts noch zu bewahren. Jedenfalls kann die Moral Hegel zufolge gerade keine verlässliche Ratgeberin sein, wenn es darum geht, das Verhältnis von Teil und Ganzem, von Individuum und Allgemeinheit sinnvoll zu bestimmen. Deshalb müsse man von der „Idee der Natur der absoluten Sittlichkeit“191 ausgehen und sich nicht mehr der Moral, son­ dern der Wissenschaft von der „realen absoluten Sittlichkeit“ zuwenden – also dem Naturrecht in der wahren Bedeutung dieses Wortes. Demnach fällt auch die Aufga­ be der „Rechtfertigung des Einzelnen als Bestehenden“, die Hegel zuvor zur Auf­ gabe ersten Ranges für jedes philosophische Naturrecht im Unterschied zu seinen „unechten“ Ausprägungsarten erklärt hat, mit einem Mal, technisch gesprochen, nicht mehr in den ‚Zuständigkeitsbereich‘ der Moral, sondern des Naturrechts. Un­ ter „Naturrecht“ versteht Hegel allerdings nicht mehr seine „Kantisch-Fichtesche Form als ‚Vernunftrecht‘“.192 Vielmehr nimmt er es beim Namen: als das „Recht der sittlichen Natur“, mithin als denjenigen Rechtsweg, um auf der Linie von He­ gels Wortspiel zu bleiben, auf dem die Sittlichkeit „zu ihrem Rechte gelangt“.193 Bevor über diese Veränderungen auf dem Feld des Normativen weiter nachge­ dacht und der Versuch unternommen wird, zu explizieren, worin sie bestehen und worin ihre Tragweite gesehen werden kann, drängt sich zunächst die elementarere Frage auf, warum Hegel überhaupt so viel Mühe darauf verwendet, die vernunft­ rechtlich begründeten rechtlich-moralischen Verhältnisse zu diskreditieren und ihnen gegenüber den Vorrang des Sittlichen zu behaupten. Die Frage nach den Gründen, die Hegel dazu bewogen haben, die Sphäre des „relativ-Sittlichen“ in ihrer Geltung zu relativieren, lässt sich recht eindeutig beantworten: Hegels Protest richtet sich gegen die vernunftrechtliche Auslegung der individuellen Autonomie. Das Postulat der individuellen Fähigkeit zur Selbstbestimmung durch Vernunft vermag zwar zu erreichen, dass die Freiheit des Individuums unabhängig von jeder faktisch gegebenen Herrschaftsordnung gesichert werden kann. Kraft dieser Ver­ änderung im Denken kann bürgerliche Freiheit ihre Emanzipation und Ablösung von der Feudalgesellschaft feiern. Doch die Kehrseite dieser emanzipatorischen Entwicklung ist mit Hegel darin zu sehen, dass individuelle Autonomie dergestalt 190 

Ebd., S. 506. Ebd., S. 504. 192 Vgl. Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 145. 193  NR, S. 505. 191 

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

zu einem Fehlurteil über sich selbst verleitet wird: Autonomie kann sich unter die­ sen Voraussetzungen gar nicht anders begreifen denn als eine „Instanz gegen die Mächte von Staat und Gesellschaft“.194 Auch das Recht erweist sich als kein geeig­ netes Mittel, dieser Abspaltung des Einzelnen von der Gesellschaft entgegenzuwir­ ken. Vielmehr wird sie durch das Recht sogar noch weiter vertieft. Axel Honneth fasst diesen Gedanken besonders treffend zusammen: „[I]n eine[r] gesellschaftli­ che[n] Organisation, die durch rechtliche Anerkennungsformen charakterisiert ist, sind die Subjekte nicht anders als durch negative Freiheiten, also bloß in ihrer Fä­ higkeit zur Negation sozialer Angebote, konstitutiv miteinbezogen.“195 Hegels Polemik gegen diese Sphäre des „relativ-Sittlichen“ lässt sich so ver­ stehen, dass er damit zum einen in Erinnerung rufen will, dass diese Sphäre des Rechtlich-Moralischen in dem Maße, wie sie sich als eine von der Sittlichkeit unabhängige konstitutiert hat, eigentlich „un-sittlich“ genannt werden müsste. An­ dererseits scheint sich Hegel darüber im Klaren zu sein, dass dieser Prozess der Autonomisierung des rechtlich-moralischen Komplexes als ebenso irreversibel wie notwendig zu bewerten ist. Mit anderen Worten: Es ist zwar notwendig, dass die moralisch-rechtliche Auffassung der Autonomie die Freiheit entsittlicht, doch führt sie zu einer verkürzten Form von Freiheit, bleibt bei ihrer Gestalt als negative Freiheit stehen, ohne ein Positives anbieten zu können. Genau auf dieses Desiderat scheint Hegel mit dem Ausgriff auf eine neue Auf­ fassung von Normativität eine Antwort geben zu wollen: Es gilt, Wege aufzuzei­ gen, die aus der „negativen Freiheit“ herausführen werden. Die Fragen, deren Be­ antwortung Hegel sich für die weiteren Schritte seiner Untersuchung vornimmt, bringen dies zum Ausdruck. Die erste Frageperspektive betrifft das Verhältnis von Moralität, die im Prinzip der Autonomie des Einzelnen gründet, zur Sittlichkeit: Es soll geklärt werden, wie sich die sittliche „Natur“ von der Kantischen Moral un­ terscheidet, wobei Hegel, um einmal mehr die Überlegenheit der sittlichen „Natur“ gegenüber der Moral zu betonen, auch von der „Moral überhaupt der Moralität“196 spricht. Die zweite Frageperspektive zielt auf das Verhältnis von sittlichem Recht, das aus dem neu gefassten Normativitätsverständnis erst näher zu bestimmen wäre, zum positiven Recht, welches Hegel auch „abstrakt“ nennt. Hier nimmt er sich vor, zu bestimmen, wie sich der Begriff des Rechts im Sinne des „Rechts der sittlichen Natur“ von dem der „positiven Rechtswissenschaften“197 unterscheidet. Um es vorwegzunehmen: Das Ergebnis der Hegelschen Ausführungen ist er­ nüchternd. Für das Problem der „negativen Freiheit“ findet Hegel letztlich keine 194 So Rüdiger Bubner, Zwischenrufe. Aus den bewegten Jahren, Frankfurt am Main 1993, S. 113 (zit. nach Hauke Brunkhorst, Demokratie und Differenz. Egalitärer Individua­ lismus. Vom klassischen zum modernen Begriff des Politischen, Frankfurt am Main 1994, S. 10). 195  Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 35; allerdings bezieht sich Honneth an die­ ser Stelle auf Hegels System der Sittlichkeit, wo dieser Zusammenhang deutlicher zutage tritt. 196  NR, S. 507. 197  Vgl. ebd., S. 509 ff.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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Lösung: Der erste Versuch, auf das Problem zu reagieren, erfolgt ausgerechnet im Rückgriff auf eine Anthropologie der Substanz und endet damit, dass Hegel sich letztlich demselben Vorwurf des Dogmatismus aussetzt, den er zuvor an die an­ deren von ihm mit scharfen Worten kritisierten Gesellschaftstheoretiker richtete. Hegels zweiter Zugriff auf das Problem besteht darin, dass er sich dem Komplex der „relativen Sittlichkeit“ – nachdem deren Moral der „Unsittlichkeit“ überführt198 und deren Recht als „Naturunrecht“ ins Gegenteil verkehrt wurde199 – bewusstseinstheoretisch zu nähern sucht. „Relative Sittlichkeit“ erzeuge ein Bewusstsein, welches das andere, gleichwohl fundamentale Bewusstsein eines „anschaulichen“ Eingebundenseins in die Gemeinschaft verdränge. Wiewohl sich aus dieser The­ se interessante Einsichten in genuin soziale (im Unterschied zu moralischen und rechtlichen) Formen der Verbindlichkeit gewinnen lassen, wie im Rückgriff auf die Interpretation von Andreas Wildt noch zu zeigen sein wird, bleiben auch diese Bemühungen Hegels, die „negative Freiheit“ zu überschreiten, letztlich unbefrie­ digend. Offenbar ist sich Hegel selbst noch nicht darüber im Klaren, wie diesem Problem zu begegnen ist. Die Suchbewegung hat aber dennoch ein Ergebnis: Nach den beiden Sackgassen der substantialistisch gefärbten Anthropologie und der subjekt- und bewusstseinstheoretischen Reflexion bleibt noch ein dritter Weg, den Hegel für aussichtsreicher hält – die Option der Neubewertung des Rechts unter Einbeziehung einer historisch-genetischen Perspektive. Die einzelnen Schritte, die zu diesem Punkt führen, sollen nun im Einzelnen nachvollzogen werden. bb)  Hegels Begründungen des Vorrangs des Sittlichen (1)  Die substantialistische Begründung Den ersten Versuch, das Dilemma der negativen Freiheit zu lösen und den Vor­ rang der Sittlichkeit vor der Moralität zu erweisen, unternimmt Hegel im Rekurs auf eine aristotelisch inspirierte substantialistische Anthropologie. Christoph Menke weist zu Recht darauf hin, dass Hegel im Naturrechtsaufsatz „noch über kein durchschlagendes Argument [verfügt], um dieses anthropologische Theorem von dem normativen Vorrang der Sittlichkeit zu erweisen“.200 Daher vermag er nur auf die letztlich dogmatische Behauptung zurückzugreifen, dass die substantielle Grundlage für die Kantische, vom Individuum ausgehende Moralität die „Sittlich­ keit aller“201 sei. Die „Sittlichkeit aller“ wird dabei substantiell – als „Durchdrin­ gung“ des Einzelnen – verstanden. Die Sittlichkeit sei sein Wesen, seine „Seele“, „ein Allgemeines und der reine Geist eines Volks“.202

198 

Ebd., S. 459. Ebd., S. 506. 200  Menke, „Anerkennung im Kampfe“, S. 500. 201  NR, S. 504. 202  Ebd., S. 505. 199 

1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

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Um Missverständnissen vorzubeugen, ist mit Herbert Schnädelbach zu unter­ streichen, dass mit „Volk“ der politische Begriff des Volks als „ein sittlich verfass­ tes Kollektiv“ gemeint ist und keineswegs „der naturalistische, ‚völkische‘, qua­ si-biologische Volksbegriff der damals entstehenden politischen Romantik“.203 Die Frage der politischen und kulturellen Zugehörigkeit entscheidet Hegel an dieser Stelle aristotelisch: Der Mensch ist Teil der Gemeinschaft. Seine Selbständigkeit darf daher nur negativ, von der „Positivität“ des Volkes her gedacht werden. Mit jeder Selbständigkeitsbehauptung hingegen, die diese fundamentale Abhängigkeit übersieht, entzieht sich der Einzelne selbst den Boden unter den Füßen: „[D]enn wenn der Einzelne abgesondert nichts Selbständiges ist, so muß er gleich allen Teilen in einer Einheit mit dem Ganzen sein; wer aber nicht gemeinschaftlich sein kann oder aus Selbständigkeit nichts bedarf, ist kein Teil des Volks und darum entweder Tier oder Gott“,204 so lautet hier Hegels Argument, das an die Politik des Aristoteles205 anschließt. Es ist verblüffend, dass Helmuth Plessner ganz ähnlich argumentiert, um daraus allerdings völlig andere, dieser Vision der sittlichen Einheit diametral entgegenge­ setzte Schlüsse zu ziehen: Sofern wir Menschen keine Tiere und solange wir keine Engel sind, müssen wir uns verkörpern, schreibt Plessner.206 Damit hat er eine be­ sondere Form von Sozialität im Sinn, die die Entfremdung als conditio humana in ihr Selbstverständnis aufgenommen hat. Mit der Notwendigkeit zur Verkörperung gehe aber unmittelbar einher, dass für uns Menschen gesellschaftliche Distanzie­ rungsleistungen unerlässlich sind, während sämtliche Formen von Vertrautheit, Intimität und Abhängigkeit nur gebrochen realisiert werden können.207 Während Plessner dieser spezifischen Hiatus-Kondition des Menschen in seiner Anthropologie einen zentralen Platz zuweist, weil sie aus dem Menschen allererst ein kulturelles und öffentliches Wesen macht, ist Hegels Verständnis von Öffent­ Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, S. 43. NR, S. 505. 205  Aristoteles, Politik, I, 2, 1253a, 25 – 29. 206 Vgl. Helmuth Plessner, Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfrem­ dung, in: ders., Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie, Düssel­ dorf/Köln 1966, S. 9 – 22, hier: S. 20. 207  Zur Kritik an der in Plessners Schriften angelegten Tendenz, die Idee der Gesellschaft zu verabsolutieren, mit der Konsequenz, dass die für sie konstitutiven Distanzierungsfor­ men sich letztlich so weit erstrecken, dass alle zwischenmenschlichen Beziehungen einen nur noch politischen Charakter annehmen, da sie nur noch über wechselseitige Grenzziehungen zu realisieren sind, siehe den Beitrag von Birgit Sandkaulen, Helmuth Plessner: Über die „Lo­ gik der Öffentlichkeit“, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 3/2 (1994), S. 255 – 273, hier: S. 272. Zur Verteidigung Plessners gegen diesen Einwand vgl. Hans-Peter Krüger, His­ torismus und Anthropologie in Plessners Philosophischer Anthropologie. Ein Rückblick auf Hegels Phänomenologie des Geistes, in: Birgit Sandkaulen/Volker Gerhardt/Walter Jaeschke (Hrsg.), Gestalten des Bewußtseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, Hamburg 2009, S. 156 – 178, hier: S. 161, Anm. 8 sowie Olivia Mitscherlich, Natur und Geschichte. Helmuth Plessners in sich gebrochene Lebensphilosophie, Berlin 2007, S. 263, Anm. 273. 203 Vgl. 204 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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lichkeit, so wie er es in diesen Passagen in Anlehnung an Aristoteles entfaltet, von der Vision einer Einheit und Totalität geleitet, die jeder Differenzierung vorausliegt und jedem erfahrbaren Dualismus von Physis und Vernunft zugrunde liegen muss. Hegels Vision ist eine Einheit, für die gilt, dass sie auch noch aus den Verhältnis­ sen der Trennung und der Differenz wiederhergestellt werden kann. In radikaler Konsequenz kann die Wiederherstellung der Einheit jedoch nur als Opfer gedacht werden. Deshalb verweist Hegel in diesem Kontext immer wieder auf die Tugend der Tapferkeit, die sich in letzter Konsequenz bis zur Bereitschaft zum Tode, zur Aufopferung des Einzelnen für das sittliche Leben der Gemeinschaft erstreckt.208 In gewisser Weise lässt sich darin eine aristotelisch inspirierte Umkehrung von Hobbes’ Konzeption der politischen Gemeinschaft erkennen. Hobbes gründet sei­ ne Staatstheorie auf dem anthropologischen Prinzip der Selbsterhaltung. Hegel ist aber bestrebt, zu zeigen, dass der soziale Zusammenhang gerade nicht „aus Akten individueller Selbsterhaltung ab[geleitet]“ werden kann.209 Vielmehr verhalte es sich genau umgekehrt: Der Begriff des Sozialen sei in seiner Reinheit und in der Freiheitsvision, die mit ihm verbunden ist, paradoxerweise gerade an die Mög­ lichkeit der absoluten Preisgabe des Selbst im freiwilligen Tod geknüpft. Erst im Akt der Überschreitung des Strebens nach Selbsterhaltung vermag das Individuum seine absolute Freiheit zu erlangen. Nicht im Streben nach Selbsterhaltung, son­ dern gerade in der äußersten Möglichkeit der Selbstaufopferung, ohne die es He­ gel zufolge wiederum keine Option zur radikalen Vereinzelung gäbe, manifestiere sich Freiheit in ihrer reinsten Form. Deshalb bezeichnet Hegel das Bewusstsein der Möglichkeit dieser Extreme als „das reale absolute Bewußtsein der Sittlichkeit. Es ist Bewußtsein und als solches nach der negativen Seite reine Unendlichkeit und die höchste Abstraktion der Freiheit, d. i. das bis zu seiner Aufhebung getriebene Verhältnis des Bezwingens oder der freie gewaltsame Tod; – nach der positiven Seite aber ist das Bewußtsein die Einzelheit und Besonderheit des Individuums.“210 Bei dieser Umkehrung der Figur der Selbsterhaltung verfährt Hegel, wie man unschwer erkennen kann, strukturell nicht anders als die von ihm zu Beginn des Aufsatzes kritisierten Empiristen: Er stützt sich auf nicht ausgewiesene anthropo­ logische Annahmen, deren Gültigkeit letztlich nur dogmatisch postuliert werden kann. Zu erinnern ist an die staatstheoretisch in Gebrauch genommenen anthro­ pologischen Prämissen wie die unterstellte Vernünftigkeit des Menschen, die etwa bei Hobbes in der quasireligiösen Neulegitimierung des Staates zum Ausdruck kommt, oder an die unterstellte moralische Uneigennützigkeit des Menschen, die für Rousseaus politische Theorie die Grundlage bildet. Hegels rückwärtsgewandte Suche nach der verloren geglaubten sittlichen Totalität ist mit Seyla Benhabib nicht minder dogmatisch zu nennen als die von Hegel selbst kritisierten Visionen des Natur- und Gesellschaftszustandes, die die Natur des Menschen in eine unverän­ 208 

NR, S. 481 f., 489 f. Schulte, Die „Tragödie im Sittlichen“, S. 36 ff.; zum Problem des Opfers vgl. ebd., S. 40 ff. 210  NR, S. 500. 209 Vgl.

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

derliche statische Entität verkehren und dabei, ohne es zu merken, nur den gegen­ wärtigen Gesellschaftszustand reifizieren.211 (2)  Die bewusstseinstheoretische Begründung In seinem zweiten Versuch, den normativen Vorrang der Sittlichkeit gegen die Konsequenzen der Verabsolutierung der Moralität zur höchsten Form von Frei­ heit zu behaupten, verzichtet Hegel darauf, den Begriff der Sittlichkeit aus der anthropologisch fundierten Retrospektive auf die sittliche Totalität des Volkes zu erläutern. Stattdessen wird das Problem nun in subjekt- und bewusstseinstheoretischen Termini erörtert. Hegel unterscheidet zwei unterschiedliche Weisen der Verbundenheit mit dem Sittlichen – auf der Ebene des „reinen“ und auf der des „empirischen“ Bewusstseins. Auf der Ebene des „reinen Bewußtseins“ existiert der Einzelne noch in ungelöster Verbindung mit der Sittlichkeit, und das, obwohl er zuvor von Hegel als „das Negative“ des Sittlichen bestimmt wurde. Wie lässt sich diese These von der Verbundenheit mit dem Sittlichen deuten? In seiner Untersuchung Autonomie und Anerkennung gebraucht Andreas Wildt den Ausdruck „sittliche Moralität“, um eine derartige ungelöste Verbindung mit der Sittlichkeit zu bezeichnen, wie sie Hegel hier vermutlich vor Augen hat. Mit diesem Ausdruck beansprucht Wildt, eine grundlegendere Schicht von Moralität freizule­ gen, die noch vor aller Forderbarkeit, Einklagbarkeit und Sanktionierbarkeit wirk­ sam sei und sich, streng genommen, noch nicht einmal institutionalisieren lasse: Wildt spricht deshalb nicht so sehr von vorinstitutionellen Verpflichtungen, sondern von solchen, die „[sich] prinzipiell jeder legitimen Institutionalisierung [entziehen]“, die aber „[f]ür Hegels praktische Philosophie“, so Wildts These, „stets orientierend gewesen“ seien: „Ich fasse sie unter dem Titel einer nicht-rechtsförmigen, spezifisch ‚sittlichen‘ Moralität zusammen. […] Verpflichtungen sind aber vor allem dann nicht forderbar, einklagbar und sanktionierbar, wenn sie erst dadurch entstehen, daß eine entsprechende altruistische Neigung aufkommt; dann aber steht die Neigung der Pflicht nicht nur nicht entgegen, sondern begründet sie sogar positiv.“212 Es gibt viele Anhaltspunkte, Hegels Unterscheidung von „reinem“ und „empiri­ schem“ Bewusstsein im Lichte dieses Hinweises auf die pflichtbegründende Rolle von altruistischen Neigungen zu lesen. In der Tat scheint Hegel auf die „anschauli­ che“, gleichsam präreflexive Weise des Eingebundenseins in die Gemeinschaft zu verweisen, die auch für das Phänomen des Altruismus grundlegend zu sein scheint. So lässt sich Hegels Kritik an Kant so verstehen, dass er Kant vorwirft, diese „ganz 211  Seyla Benhabib verweist zu Recht darauf, dass Hegel sich in einen Dogmatismus ver­ rennt, sobald er den Pfad der „immanenten Kritik“ verlässt und zu einem „retrospektiven“ normativen Standard zurückkehrt, „drawn from memory“: Dabei lasse er völlig ungeklärt, „why the view of a unified Sittlichkeit should be considered any less dogmatic an assumption in the face of the realities of the modern world than the assumption of natural right theories that human nature is a static, unchanging entity“ (dies., Critique, Norm and Utopia, S. 32). 212  Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 17.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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reine und indifferente Gestalt“ des Sittlichen213 in seinem Moralitätsbegriff bereits übersprungen zu haben. Wenngleich sie die fundamentalere Schicht des Sittlichen ist, kommt sie hier gleichsam nicht mehr vor, weshalb das Übersehen um so schwe­ rer wiegt. Kants Moralphilosophie gerät ins Visier der Hegelschen Kritik, weil sie die for­ melle Gestalt der Moralität verabsolutiert. Diese formelle Gestalt der Moral ist aber Hegel zufolge schon deshalb eine Verkürzung, weil sie überhaupt nur auf der Ebe­ ne des empirischen Bewusstseins auf diese Weise erscheint und zu dem „reinen“ Bewusstsein gar nicht vorzustoßen vermag.214 Gemessen an Kants transzendental­ philosophischem Freiheitsbegriff ist diese Interpretation gewiss befremdlich. Doch mag man sich an dieser Stelle an Hegels These erinnern, dass der Empirismus und der Rationalismus letztlich keine gegensätzlichen Positionen sind, sondern ledig­ lich unterschiedliche Ausprägungen desselben modernen Empirismus darstellen.215 Für die hier vertretene These, dass Hegel Kants Moralbegriff dem Empirismus zurechnet, spricht auch die Tatsache, dass Hegel die Moralität zu einem bloßen Standpunkt, der „auf das empirische Bewußtsein begründet“ sei,216 relativiert. Da­ bei geht es Hegel nicht darum, diesen Standpunkt zu negieren – er sei nicht „zu leugnen“, so Hegel, sei er doch immer schon der Introspektion zugänglich. Die­ ser Standpunkt entspricht „allgemeiner Erfahrung“, denn introspektiv befinde ich mich wie jeder anderer tatsächlich im „Zwiespalt“ und in der „Einheit“ der Ver­ nunft. Jeder könne „die Abstraktion des Ich in sich […] finden“.217 Worin genau dann aber das „Formelle“ an dieser introspektiv zugänglichen Moralität besteht, wird erst in den späteren Ausführungen deutlicher: Moralität in ihrer „formellen“ Gestalt offenbart sich dem Einzelnen, wiederum introspektiv, als die „Möglichkeit des allgemeinen Gesetzes“.218 Diese „formell“ genannte Moralität lässt sich in Anlehnung an Andreas Wildt – im Unterschied zur „sittlichen Mora­ lität“ – auch „rechtsförmige“ Moralität nennen. In der Tat wird Hegels Kritik an Kant vor dem Hintergrund dieser Spaltung in „sittliche“ und „rechtsförmige Mo­ ralität“ konkreter und nachvollziehbarer.219 Hegels Ausführungen legen jedenfalls 213 

NR, S. 500. Für diese Interpretation spricht, dass Hegel noch in seiner Philosophiegeschichte mit der gewohnten Überheblichkeit Kant vorwirft, „innerhalb ganz roher empirischer Ansich­ ten“ zu verbleiben (Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III [1833 – 1836], in: ders., Werke, Bd. 20, S. 337). 215  Siehe hierzu die erhellende Analyse von Benhabib, Critique, Norm and Utopia, S. 23: „[W]hile empiricism remains formalistic, formalism – which Hegel here equates with trans­ cendental philosophy – remains a version of empiricism. Both proceed from certain givens in knowledge and moral theory which they simply assume to be valid.“ 216  NR, S. 458 (Herv. T. S.). 217 Ebd. 218  Ebd., S. 505. 219  Die ausführliche Rekonstruktion der Kant-Kritik erfolgt im zweiten Kapitel der vor­ liegenden Untersuchung. 214 

1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

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die Interpretation nahe, dass die „rechtsförmige“ Moral sich erst als Reflex der bürgerlichen Rechtsverhältnisse im Individuum einstellt. Sie verdichtet sich in ihm zu einem gewichtigen „Standpunkt“, während die „sittliche Moralität“ darüber aus dem Blickfeld verschwindet oder gar verdrängt wird. Die von Wildt vorgeschlagene Deutung, dass Hegels Kritik in Wahrheit genau dieser „rechtsförmigen“ Moralitätsdimension gelte, findet Rückhalt auch in Hegels Rede von der „Vermischung beider Prinzipien […] der Legalität und Moralität“.220 Darin liege die „oberflächliche“221 und beschränkte Erscheinung des Absoluten: oberflächlich, weil im empirischen Bewusstsein der Subjekte verankert, beschränkt wegen der Blindheit für ihre eigene Grundlage, für jene fundamentalere Schicht des Sittlichen, die, hält man sich an die in diesem Abschnitt angestellten Überlegungen, im „reinen Bewußtsein“ – in der „sittlichen Moralität“ – zu suchen sei. Ob diese Interpretation zutreffend ist, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Denn was genau unter „reinem Bewußtsein“ zu verstehen ist, bleibt vom Text­ befund her gesehen strittig. Doch ungeachtet der zahlreichen Unklarheiten ist es geradezu auffallend, dass Hegel in diesem Abschnitt ausgerechnet die Anschauung in besonderem Maße privilegiert. Bereits an früheren Stellen spricht Hegel von „lebendiger Beziehung und absoluter Gegenwart“. Deren Charakter von Unmit­ telbarkeit wird noch zusätzlich durch den deiktischen Ausdruck „Dieses“222 un­ terstrichen. Es scheint, als käme es darauf an, die „sittlich-moralische“ Dimension des ethischen Lebens gleichsam zu rehabilitieren, die durch die Dominanz eines Moralverständnisses, das ausschließlich als individuelle Selbstbestimmung ausge­ legt wird, verdrängt zu werden droht. Erst im Lichte dieses Befundes wirkt es weniger befremdlich, dass Hegel an einer Stelle sogar mit der unbefangenen, naiven Anschauung sympathisiert, die „rein und glücklich“, von der „Verunreinigung mit fixen Begriffen“ noch nicht kon­ taminiert sei,223 so wie er überhaupt die Kraft der „Anschauung“ immer wieder gegen das trennende Denkens ins Feld führt.224 Doch auch hier stößt die Lektüre an ihre Grenzen: Auf die naheliegende Frage, wie diese Kraft der Anschauung, die den „Widerschein des Absoluten“ in sich trage, angesichts der durch das Prinzip der Subjektivität eingetragenen Brechungen der Verhältnisse auf der Ebene des „relativ-Sittlichen“ zu kultivieren wäre, ohne in Naivität zurückzufallen, gibt der Naturrechtsaufsatz keine klare Antwort. d) Zwischenbilanz Hegels Ausführungen zur Sittlichkeit changieren zwischen der substantialisti­ schen und der subjekttheoretischen Variante der Begründung ihres Vorrangs vor 220 

NR, S. 509. Ebd., S. 484. 222  Ebd., S. 468. 223  Ebd., S. 436. 224  Vgl. etwa Hegels Diskussion zum Erfahrungsbegriff (ebd., S. 511). 221 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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der Moralität des Einzelnen. Die erste substantialistisch genannte Variante setzt auf die Einheit der Gemeinschaft, die durch sittliche Bildung hervorgebracht wer­ den soll, und begreift die einzelnen Individuen als Verkörperungen des „Volks­ geistes“, ganz nach dem Leitgedanken: „[S]ittlich sei, den Sitten seines Landes gemäß zu leben“.225 Die zweite Variante konzentriert sich, statt die Retrospektive zu wählen und in die griechische Antike zurückzublicken, auf die moderne Gestalt der „relativen Sittlichkeit“ selbst. Gesucht wird nach einer tieferen Schicht sozialer Verbundenheit, von der behauptet werden kann, dass sie im „reinen Bewußtsein“ zwar vorhanden, im „empirischen“ jedoch verschüttet worden ist. Einerseits spricht Hegel von der „absoluten Sittlichkeit, die ganz inwohnend in den Individuen und ihr Wesen sei“, andererseits von der „relativen Sittlichkeit, die ebenso in Individuen reell ist“.226 Dies lässt erneut an Hegels „dritte Option“ denken, in der er die Spal­ tung zwischen „substantiell“ und „reell“ als ein Spiel von „tragisch“ ineinander widerscheinenden „Zonen des Sittlichen“ präsentierte. Doch zu diesem Bild kehrt Hegel in seinem vierten, abschließenden Teil des Aufsatzes nicht wieder zurück. In diesen abschließenden Überlegungen wird nicht mehr das Verhältnis zwi­ schen den beiden Formationen der Sittlichkeit in den Visionen ihrer Unverbunden­ heit und ihres Ineinander-Scheinens zum Thema gemacht. Vielmehr konzentriert sich Hegel von nun an auf das Verhältnis des „sittlichen“ Rechts zum positiven Recht. Dies ist vor der Folie der bisherigen Ausführungen nicht überraschend. Denn zum einen hat Hegel an einer früheren Stelle bereits die Forderung nach einem er­ weiterten Rechtsverständnis ausgesprochen, als er schrieb, es komme darauf an, das Recht als „den Widerschein der absoluten Sittlichkeit in sich [tragend]“227 neu zu interpretieren. Zum anderen ist Hegels Fokus auf das positive Recht gerade auch vor dem Hintergrund seiner Kritik an der Moralität nur konsequent. Denn nach­ dem der „formelle“ Standpunkt der Moralität provozierenderweise zum „empiri­ schen Reflex“ des geltenden Rechts erklärt wurde, ist die Betrachtung des Rechts unvermeidlich; man könnte sogar sagen, unter diesen Vorzeichen avanciere eine Neubewertung des Rechts zu der Aufgabe schlechthin. Daher liegt es in der Lo­ gik der Sache selbst, wenn Hegel sich im Folgenden darum bemüht, die Differenz zwischen dem „sittlichen“ und dem „positiven“ Recht deutlicher als zuvor heraus­ zuarbeiten – diesmal allerdings vor allem unter Zuhilfenahme der Perspektive der historischen Entwicklung. e)  Die Neubewertung des Rechts Hegel ist überzeugt, dass in seiner Zeit „das Prinzip und System des bürgerli­ chen Rechts, welches auf Besitz und Eigentum geht, [sich] so in sich selbst vertieft“ habe, dass es für das einzig Reelle gehalten werde, oder, wie es Hegel ausdrückt: „in der Weitläufigkeit, in die es sich verliert, sich für eine Totalität nimmt, die an 225 

Ebd., S. 508. Ebd., S. 488. 227 Ebd. 226 

1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

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sich, unbedingt und absolut sei“.228 Im letzten Teil des Aufsatzes gilt sein Interesse daher der ausführlichen „formalen“ und „materiellen“ Beschreibung dieses Zu­ standes. Hegel greift damit auf die oben erwähnte zweite Frageperspektive zurück und fragt nach dem Verhältnis des Naturrechts zu den „positiven Rechtswissen­ schaften“. Die typische Denk- und Handlungsoperation in Zeiten „äußerer Gerechtig­ keit“229 des positiven Rechts ist Hegel zufolge die Anwendung der „Form“ auf die Realität. Dabei steht das Subjekt gleichsam auf dem Kopf: Während das Ideelle für realer gehalten wird als die Realität selbst, verlieren die reellen Phänomene an Gewicht. Im Zuge einer unaufhaltsamen das Ganze zerstörenden Fragmentierung wird dieses Ganze laut Hegel zu Verhältnissen depotenziert, die „nur im Endlichen und Einzelnen“ Bestand haben.230 Umgekehrt werden gleichwohl einzelne Prin­ zipien verabsolutiert und dehnen sich in ihrem Geltungsanspruch auf das Gan­ ze aus. Hegel beschreibt einen Prozess, in dem der „Charakter der Positivität der Rechtswissenschaften“231 unzulässigerweise auch auf andere Gebiete wie Religion oder Philosophie ausgreift. Ein Beispiel, das Hegel vor Augen steht, ist etwa das aus seiner Sicht problematische Übergreifen der Logik des Vertrags, der „Verhält­ nisse gegenseitiger Leistung“ regelt, wie sie zwischen endlichen Subjekten beste­ hen, auf das Gebiet des Völkerrechts.232 Diese Projektion des Vertragsverhältnisses zwischen Individuen auf völkerrechtliche Zusammenhänge sei deshalb unzuläs­ sig, weil sie am Charakter der Völker als „sittlicher Totalitäten“233 vorbeigehe. Die „Idee der sittlichen Organisation“,234 innerhalb derer Besonderes und Allgemeines mannigfach vermittelt werden, könne auf diese Weise nicht zur Geltung kommen. Nachdem Hegel kritisiert hat, wie die „Form“ auf die Realität – ungeachtet ihrer besonderen Verfasstheit – angewendet werde, betrachtet er auf Seiten des Materi­ ellen „das Besondere als solches“.235 Auch hier beklagt er, dass die „Realität“ und die Lebendigkeit des Besonderen, die anschaulich gegebene „Identität des Allge­ meinen und Besonderen“, die ihm „Individualität und Gestalt“ verleihe,236 durch Reflexion, die die Hinsichten des Allgemeinen und Besonderen trennt, „zerrissen“ werde:237 Das Verhältnis des Besonderen und des Allgemeinen weist dann keine Organisation oder Gestalt mehr auf, denn beides sinkt auf die gleiche Ebene herab und wird einander entgegengesetzt. Hegel scheint dieses Auseinandertreten des 228 

Ebd., S. 518.

229 Ebd. 230 

NR, S. 519. Ebd., S. 520. 232  Ebd., S. 518. 233  Ebd., S. 519. 234 Ebd. 235  Ebd., S. 520. 236  Ebd., S. 521. 237  Ebd., S. 520. 231 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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Allgemeinen und Besonderen als Unterdrückung des „Realen“ und des „Lebendi­ gen“ zu deuten, denn „in der reinen Vernunft des formellen Denkens muß durchaus jede Mehrheit und Unterscheidbarkeit wegfallen“.238 Bei dieser Beschreibung des desolaten Zustands der Positivierung des Natur­ rechts bleibt Hegel nicht stehen. Er versucht diesem positivierten Zustand einen his­ torischen Sinn abzugewinnen und kommt zu dem Ergebnis, dass die Positivierung unvermeidlich ist, da sie in der Logik des historischen Prozesses selbst angelegt ist: Es sei notwendig, dass „bestimmte Sitte“ in „[d]ie Form des Gesetzes“239 überführt werde. Denn mit der Herausbildung immer größerer Gemeinschaften sei es unver­ meidlich geworden, dass sie sich auf eine „negativ-absolute“ Weise „organisieren“ müssen. Der Zusammenhalt großer Gemeinschaften könne mithin gar nicht anders garantiert werden als durch die Allgemeinheit des Rechts. So erhalte das Recht „den Schein eines Ansichseienden“ und dränge die „Sitte“ in den Hintergrund,240 „und wenn die Masse eines Volkes groß ist“, schreibt Hegel weiter, „so ist auch der Teil desselben groß, der sich in jener Bestimmtheit [d.h. vermittels des ‚ansichseienden‘ Rechts; T. S.] organisiert, und das Bewußtsein, das im Gesetz über sie ist, hat ein großes Gewicht über das Bewußtlose des neu aufstrebenden Lebens; […] und in­ dem die neue Sitte ebenso anfängt, sich in Gesetzen aufzufassen, so muß schlecht­ hin ein innerer Widerspruch der Gesetze unter sich hervorkommen.“241 Indem Hegel die Einsicht gewinnt, dass das Recht in die Dynamik der histori­ schen Prozesse eingelassen ist, gelangt er zu einem neuen Rechtsverständnis. Die Prozesse, von denen hier die Rede ist, haben jedoch keinen rein historischen Cha­ rakter. Vielmehr sind Politik und Geschichte ineinander verschränkte Medien der Freiheitsrealisierung.242 Dies erlaubt Hegel nicht nur die Dynamik der Entwick­ lungsprozesse des menschlichen Zusammenlebens ins Auge zu fassen, sondern auch Einsicht in die Asymmetrie zwischen den jeweiligen Bewusstseinsstufen innerhalb dieser Entwicklung zu gewinnen. So macht Hegel auf das interessante Problem aufmerksam, dass die Entwicklung von natürlich-anschaulichen und re­ flexiv-geistigen Prozessen ungleichzeitig verläuft. Dieses Problem der Ungleich­ zeitigkeit beschreibt Hegel so, als handele es sich um eine Komplikation, die dem historischen Prozess inhärent ist. Von seinen Überlegungen ausgehend lässt sich die These aufstellen, dass das Ungleichzeitigkeitsproblem in dieser Form über­ haupt erst mit der Durchsetzung von individuellen Rechten auftritt und mit dem rechtlichen Schutz von Individuen zusammenhängt. Wenn Individualität in zuneh­ mendem Maße zu Bewusstsein kommt, so muss, folgt man Hegels Prämissen, in eins damit auch das Problem der disparat verlaufenden Entwicklung von natür­ 238 

Ebd., S. 521. Ebd., S. 525. 240  Ebd., S. 525 ff. 241  Ebd., S. 526. 242 Vgl. dazu den gleichnamigen Teil IV „History and Politics“, in: Taylor, Hegel, S. 365 – 461. Allerdings diskutiert Taylor nicht das Problem der rechtlichen Integration. 239 

1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

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lichen und geistigen Prozessen immer deutlicher zutage treten. Denn „mit dem Wachstum des Individuums“, schreibt Hegel, „[schreitet] das Ganze nicht gleich­ mäßig fort […], so trennt sich Gesetz und Sitte, […] und es ist in der Gegenwart des Ganzen kein absoluter Zusammenhang und Notwendigkeit mehr.“243 Hegels Ausführungen lassen sich an dieser Stelle sogar auf die Behauptung hin zuspitzen, dass mit der Auflösung der Einheit von „Sitte und Gesetz“244 überhaupt erst Geschichte beginnt. Sie nimmt dort ihren Anfang, wo „die Notwendigkeit mit der Freiheit nicht mehr eins [ist]“ und „insofern ganz der reinen Geschichte an­ heim[fällt]“.245 Dieser komplexe Zusammenhang führe aber einmal mehr vor Au­ gen, dass „das Individuum nicht aus sich selbst erkannt werden [kann], denn seine Bestimmtheit ist ohne das Leben, welches sie erklärt und begreiflich macht […].“246 Die Freisetzung der Individualität, so lassen sich Hegels Ausführungen ver­ stehen, markiert nicht nur den Beginn eines irreversiblen geschichtlichen Ent­ wicklungsprozesses. Sie ist zugleich auch das notwendige Ziel und der Vektor in der Dynamik dieses Prozesses. Es ist „notwendig“, „daß die Individualität fort­ schreite“, und zwar bis zu einem solchen Grad, so lautet Hegels Formulierung, dass „alle Stufen der Notwendigkeit an ihr als solche erscheinen“.247 Seine eigene Zeit begreift er indes als die „Periode des Übergangs“, die erst dann „ruckartig“ überwunden werde, wenn das „Negative“ sein „Positives“ als ein solches erkenne, das in dem „Vergangenen“ liege,248 und das „Positive“ sich umgekehrt auch für das „Negative“ öffne. Dieser Begriffsgebrauch erschwert das Verständnis, denn mit dem „Negativen“ ist hier das „Erstarken der neuen Bildung“ gemeint, die den formalrechtlichen Zustand in seiner allgemeinen Ausdehnung als positiv-rechtli­ cher Zustand umfasst. Mit dem „Positiven“ hingegen wird das „Positive“ dieser Negativfolie bezeichnet, mithin diejenige Schicht der Sittlichkeit, in der „Sitte und Gesetz“ noch eins sein konnten. Trotz der kryptischen Beschreibung dieses Zusammenhangs von „negativ“ und „positiv“, erinnert dies erneut an die Strukturformel von der „Tragödie im Sittli­ chen“. Wie bereits erwähnt, wird damit eine neue, historisch vermittelte Auffas­ sung von Politik angezeigt, für die gilt, dass – gleichsam durch eine Änderung der Logik – die Dynamik der Anerkennungsverhältnisse freigelegt werden soll, die zwischen den beiden Sphären der alten sittlichen Bildung und dem moralisch-ju­ ridisch-ökonomischen Komplex der „neuen Bildung“ bestehen. Die veränderte Auffassung von Politik käme einer Praxis gleich, die den Sinn für die immerwäh­ rende Möglichkeit offenhielte, die Beschränkungen des formellen entpolitisierten Rechtszustandes zu überwinden. In eins damit wäre aber auch der Zustand über­ 243 

NR, S. 526.

244 Ebd. 245 Ebd. 246 Ebd. 247  248 

Ebd., S. 528. Ebd., S. 529.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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wunden, dessen Negativfolgen sich in dem Psychogramm eines in die Extreme der „Furcht“ und der „Affektiertheit“ gespaltenen Subjekts manifestieren, wie man es Hegels Beschreibungen der modernen „Komödie“ entnehmen konnte. Hegel setzt also sowohl auf die Reflexion als auch auf eine bewusste, von der Anschauung und den materiellen Gehalten ungetrennte Praxis. Konkret bedeutet dies für die Vielheit von Lebensformen, Kulturgemeinschaften und Staaten, dass ihre Freiheit, mit Henning Ottmann zu reden, „nicht rechtferti­ gungspflichtig [ist] vor dem Universalismus des modernen Rechts und der modernen Weltökonomie. Vielmehr ist diese selbst daran zu messen, wie viel Anerkennung konkreter Vielfalt der Lebensformen durch sie möglich ist.“249 Statt „zur Gestaltlo­ sigkeit des Kosmopolitismus [zu] fliehen“, so Hegel, oder „zu der Leerheit der Rech­ te der Menschheit und der gleichen Leerheit eines Völkerstaats und der Weltrepub­ lik“,250 die er als Abstraktionen des formalrechtlichen Zustands betrachtet, komme es darauf an, „für die hohe Idee der absoluten Sittlichkeit auch die schönste Gestalt [zu] erkennen“.251 Bei der Beschreibung dieser „schönsten Gestalt“ tritt Hegels Privi­ legierung der „Anschauung“ erneut zutage, denn „die reinste und freieste Individu­ alität“, schreibt Hegel, sei eine solche, „in welcher der Geist sich selbst vollkommen objektiv in seiner Gestalt anschaut und ganz, ohne Rückkehr zu sich aus der An­ schauung, sondern unmittelbar die Anschauung selbst als sich selbst erkennt […].“252 Am Ende kehrt Hegel zu seinen tragödientheoretisch gewonnenen Einsichten zurück, wenn er erneut herausstellt, dass die Sittlichkeit „ihre Verwicklung mit dem Negativen“, die „Verwicklung“ mit der bürgerlichen Gesellschaft, die er recht unspezifisch als einen praktisch-rechtlichen Komplex auffasst, nur so „abzuwehren“ vermag, dass sie sich diese Sphäre „als objektiv und Schicksal gegenüberstellt“.253 Mit diesem Bild der Entzweiung hat Hegel nicht die in Recht und Moral aufspalten­ de Entzweiung der „relativen Sittlichkeit“ samt ihren internen „realen“ Differen­ zierungsformen im Blick, d. h. weder die Entzweiung von Gesellschaft und Staat noch die Entzweiung des Individuums in seiner Differenz zu oder seiner Heraus­ lösung aus der „Totalität“ des sittlichen „Ganzen“. Die Entzweiung bezeichnet hier vielmehr die basale Struktur des Verhältnisses zwischen der negativen Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer internen Differenzstruktur (in ihrer internen Entzweiung) und jener der Anschauung zugänglichen positiven Sittlichkeit in ihrer Kraft der Versöhnung und der Integration. Erst wenn Letztere die in sich entzweite Sphäre der Ökonomie, des „Praktischen“ und des Rechts anerkennt – und das heißt hier aber: sie durch die paradoxe Operation der freilassenden Nicht-Integration inte­ griert –, werden beide Sphären in eine neue Qualität übergehen. 249  Henning Ottmann, Die Weltgeschichte (§§ 341  – 360), in: Ludwig Siep (Hrsg.), G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 267 – 286, hier: S. 274. 250  NR, S. 529 f. 251  Ebd., S. 530. 252 Ebd. 253 Ebd.

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

Schlägt man nun den Bogen zurück zu der Ausgangsfrage „Wie leben wir ge­ meinsam?“, so lassen sich im Wesentlichen zwei Ergebnisse festhalten: Zum einen steht Hegels Behauptung im Raum, dass der Zusammenhang zwischen Individuum und Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft zerrissen wird, mit depravieren­ den Folgen für das Öffentliche, und zum anderen scheint mit der neuen Figur der wechselseitigen Anerkennung der Sphären, denen jeweils eine andere Logik zu­ grunde liegt, ein Weg, eine Aufgabe für das Denken angezeigt – aber mehr vorerst auch nicht –, das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem, von Individuum und Sozialität, im Vollzug zu denken. Eine ausführliche Diskussion der Zeitdiagnose, die den nächsten Untersu­ chungsschritt bildet, verfolgt nun das Ziel, zu zeigen, wie die erste Behauptung über die Zerrissenheit der modernen Gesellschaft genau zu deuten ist. Die Klärung der Frage, worin die tiefere Schicht der Gesellschaftskritik letztlich zu sehen ist, wird aber wiederum Voraussetzungen schaffen für den zweiten Teil der Untersu­ chung. In diesem zweiten Teil soll die von Hegel gelegte Spur wiederaufgenommen werden, die zu der innovativen These führt, dass das Verhältnis von Individualität und Sozialität im Vollzug gedacht werden muss. Der zweite Teil wendet sich der aus Hegels Sicht problematischen Gestalt der politischen Kultur des bürgerlich-libera­ len Modells zu, für die Recht und Moral nach Hegels Deutung zu zwei Seiten einer Medaille geworden sind. Der Ausweis der inneren Paradoxien des Zusammen­ hangs von Recht und Moral wird es erlauben, ihn einer Neubewertung zu unterzie­ hen und Hegels Forderung nach der Vermittlung von individueller und öffentlicher Freiheit zu konkretisieren.

IV.  Hegels Zeitdiagnosen 1.  Von der Moderne in die Antike und zurück: Freie Unfreiheit und unfreie Freiheit a)  Moderne Freiheit als „allgemeines Privatleben“ Die moderne Gesellschaft steht Hegel zufolge im Zeichen der Privatisierung der Freiheit. Zu dieser Beurteilung gelangt er nach seinem Studium von Platon, Aris­ toteles und Spinoza,254 seiner Lektüre der englischen und französischen National­ ökonomen 255 und unter dem Eindruck von Edward Gibbons Schrift History of the 254  Zu den platonischen Zügen von Hegels Sittlichkeitskonzeption siehe Klaus Düsing, Politische Ethik bei Platon und Hegel, in: Hegel-Studien 19 (1984), S. 95 – 145; zur Verbin­ dung von spinozistischen und aristotelischen Vorstellungen in Hegels Sittlichkeitsbegriff siehe Karl-Heinz Ilting, Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik, in: Phi­ losophisches Jahrbuch 71 (1963/64), S. 38 – 58. 255  Vgl. hierzu Lukács, Der junge Hegel, insb. Bd. 1, S. 273 – 291 sowie Bd. 2, S. 495 – 523; vgl. auch Horstmann, Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie, S. 276 ff. Für eine Übersicht über die jüngere Literatur zu diesem Hintergrund siehe die Einleitung von Albena Neschen, Ethik und Ökonomie in Hegels Philosophie und in

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Decline and Fall of the Roman Empire (1787), die er selbst zitiert.256 Im Zentrum von Hegels Interesse steht der Befund einer in der Moderne eingetretenen politischen Entmächtigung des Bürgers: Verglichen mit dem Bürgerbegriff der antiken Stadtstaaten habe die moderne Idee der Bürgerschaft ihre emphatischen Freiheits­ konnotationen eingebüßt. Hegel beklagt den modernen Verfallszustand politischer Freiheit und kontrastiert ihn mit dem hohen Stellenwert des Politischen in der an­ tiken Polis. Doch dieser Kontrast zwischen ‚frei‘ und ‚unfrei‘, zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘ ist letztlich fehlgeleitet. Bei genauem Hinsehen lässt sich feststellen, dass beiden Formen von Freiheit, wie radikal sie sich auch voneinander unterscheiden mögen, ein gemeinsames Problem zugrunde liegt, wiewohl es in verschiedenen Ausprägungen auftritt: Es ist das Problem der Beziehungslosigkeit, an der die bei­ den Gestalten des Sozialen, jede auf ihre Weise, leiden und worin sie letztlich sogar miteinander verwandt sind. Die Interpretationsschritte, die im Folgenden unternommen werden, verfolgen das Ziel, den Blick dafür zu schärfen, dass die Krise politischer Freiheit, die Hegel diagnostiziert, letztlich auf eine Krise des Sozialen verweist. Die tiefere Schicht der Kritik an der Moderne muss mithin im Problem der beziehungslosen Beziehun­ gen gesucht werden. Wie Rahel Jaeggi eindringlich gezeigt hat, ist für diesen spe­ zifischen Fall der paradoxen Beziehung der Beziehungslosigkeit, die in modernen Gesellschaften auftritt, der Begriff der ‚Entfremdung‘ reserviert.257 Folgt man He­ gels Ausführungen im Naturrechtsaufsatz, so müssen die Wurzeln dieses Problems allerdings bereits in der Polis gesucht werden. Auf dem Weg zu dieser Erkenntnis, die für den weiteren Verlauf der Untersuchung zentral sein wird, sollen nun zwei Schritte unternommen werden: Als Erstes wird Hegels Diagnose einer Privatisie­ rung der Freiheit in der Moderne zu diskutieren sein. Im nächsten Schritt soll aber eine genauere Analyse der von Hegel privilegierten Form der Freiheit in der Antike vorgenommen werden. Im Zuge dieser Analyse wird zunehmend deutlich werden, dass der Eindruck, Hegel gebe der antiken Freiheit den Vorzug, letztlich trügt. Hegels Diagnosen der modernen Verhältnisse hängen mit derjenigen Innova­ tion zusammen, der sie sich verdanken – der Figur des modernen Bürgers. Das auffallend Neue am modernen Bürgerbegriff ist darin zu sehen, dass er sich nun auf jeden Einzelnen erstreckt. Dieser neue Universalismus ist rechtlich verbürgt und hängt mit einer bestimmten Entwicklung zusammen – damit nämlich, dass die Besitzverhältnisse nunmehr rechtlich geregelt oder, wie sich Hegel ausdrückt, modernen wirtschaftsethischen Entwürfen, Hamburg 2008, S. 11 – 24, insb. S. 21. Wichtige Einflussquelle für Hegels eigene gesellschaftlich-ökonomische Überlegungen ist vor allem Adam Smith, An Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations (1776); in Hegels späteres enzyklopädisches und rechtsphilosophisches Konzept der „bürgerlichen Gesell­ schaft“ fließen Überlegungen ein aus Jean-Baptiste Say, Traité d’économie politique (1803) und David Ricardo, On the principles of Political Economy and Taxation (1817). 256  Vgl. NR, S. 492, Anm. 257  Rahel Jaeggi, Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt am Main/New York 2005, insb. S. 19 ff.

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

in die „formale Einheit des Rechts aufgenommen“ werden.258 Das Recht wird von nun an mit der Sphäre der Ökonomie, die ihrerseits zu relativer Unabhängigkeit gelangt ist, auf eigentümliche Weise verklammert. Der so verstandene Rechtsbe­ griff ist im Wesentlichen funktional bestimmt: Dem Recht ist es notwendigerweise aufgetragen, die „relative Identität“ zwischen den „Extremen des Verhältnisses“ zu stiften, durch die die ökonomische Sphäre gekennzeichnet ist, genauer: zwischen den physischen Bedürfnissen und Genüssen auf der einen und dem Zusammen­ hang von Arbeit und Entlohnung auf der anderen Seite. Dergestalt sind das Recht und die Ökonomie zu einem „System der Realität“,259 wie es Hegel bezeichnet, zusammengeschlossen. Diese rechtlich-ökonomische Ordnung deutet Hegel im Naturrechtsaufsatz aller­ dings, mit Rolf-Peter Horstmann gesprochen, als „Folge einer fundamentalen Verfäl­ schung“ der „Prinzipien“ der wahren Sittlichkeit.260 Die Verfälschung besteht Hegel zufolge darin, dass es zu einem „System der allgemeinen gegenseitigen Abhängig­ keit“ gekommen sei, das sich „durch die alleinige Gültigkeit des Eigentums- und Rechtsprinzips“261 auszeichnet. Bei der Regulierung gemeinsamer Angelegenheiten wird in diesem System stets auf privatrechtliche Figuren zurückgegriffen. Hegel spricht daher von einem Zustand des allgemeinen Privatlebens,262 das sich mit dem „System der sogenannten politischen Ökonomie“263 etabliert und verfestigt habe. Das Allgemeine komme hier nur als Verlängerung des Einzelnen in Betracht, umgekehrt werden aber auch die Einzelfälle unter das Allgemeine des Rechts subsumiert. Diese Analyse weist bereits voraus auf die Sittlichkeitstheorie, die Hegel in aus­ gereifter Form erst 1821 in den Grundlinien der Philosophie des Rechts präsentie­ ren wird. Doch bereits hier, im Naturrechtsaufsatz, tritt Hegel als scharfsinniger Diagnostiker der modernen bürgerlichen Gesellschaft auf – der Gesellschaft, die sich im 18. Jahrhundert als eine eigenständige Sphäre vom Staat abzulösen beginnt. Hegel diagnostiziert eine Trennung von Staat und Gesellschaft: Während der Staat, an dem der Bürger nicht politisch partizipiert, als Garant der bürgerlichen Freiheit im formalen Recht fungiert, wird die Gesellschaft als eine entpolitisierte Sphäre der arbeitsteilig organisierten Bedürfnisbefriedigung und Interessendurch­ setzung von Individuen vorgestellt.264 Ein neuer Bürgerbegriff bildet sich heraus: Für den Bourgeois rückt seine wirtschaftliche Stellung in den Vordergrund. Seine politischen Ansprüche beschränken sich auf die Einklagbarkeit der bürgerlichen Privat- und Eigentumsrechte, wobei der Staat aus dieser Perspektive nur unter dem 258 

NR, S. 489. Ebd., 482. 260 Vgl. Horstmann, Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (§§ 158 – 256), S. 200. 261  NR, S. 484, 489 f. 262  Ebd., S. 492. 263  Ebd., S. 482. 264 Vgl. Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, S. 190 f. 259 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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Gesichtspunkt der Erweiterung von Eigeninteressen erscheint, gleichsam als Ver­ längerung der eigenen „Einzelheit“. In gewisser Weise scheint Hegel damit diejenige Bestimmung des Bürgerbe­ griffs aufzunehmen, die ihm Kant in seinen staatsphilosophischen Überlegungen gegeben hat. Für Kant erstreckt sich der Titel Citoyen auf alle „Staatsbürger“ mit „Stimmrecht in der Gesetzgebung“, so erörtert er es in seiner Schrift Über den Gemeinspruch (1793). Der Titel kommt mithin denjenigen Bürgern zu, die nicht nur „Schutzgenossen“ sind „unter schon vorhandenen öffentlichen Gesetzen“, sondern kraft ihrer ökonomischen und rechtlichen Selbständigkeit auch das Recht genießen, an der Gesetzgebung zu partizipieren. „Die dazu erforderliche Qualität“ ist aber, wie Kant unmissverständlich klar macht, an die Bedingung gekoppelt, „dass er [der Bürger; T. S.] sein eigener Herr (sui iuris) sei, irgend ein Eigentum habe […], welches ihn ernährt“.265 Zwar sind nämlich alle als Menschen und als Untertanen frei und gleich, jedoch „was das Recht betrifft, diese Gesetze zu geben“, sind kei­ neswegs „alle für gleich zu achten“, hält Kant fest.266 In dieser Struktur, die Kant noch bejaht, lässt sich mit Hegel aber gerade eine problematische Vermischung des politischen Status mit dem ökonomischen erken­ nen und kritisieren. Hegels Überlegungen aus dem Naturrechtsaufsatz lassen sich sogar so verstehen, dass gerade diese Vermischung als Symptom für die Krise politischer Freiheit in der Moderne gedeutet werden muss. Die moderne bürger­ liche Welt präsentiert sich Hegel, wie Schnädelbach schreibt, als „eine Welt der verlorenen, in Extreme zersprengten Sittlichkeit. In diesem System von Besitz und Erwerb, dem ein formales Recht korrespondiert, dominiert der Privatmann, der seine durch einen Staat, an dem er nicht teilhat, bewirkte bürgerliche Sicherheit mit ‚politischer Nullität‘ bezahlt.“267 Weshalb ist aber dieser Befund der „politischen Nullität“ für Hegel so alarmie­ rend? Schließlich lassen sich auch gegenteilige zeitgenössische Positionen anfüh­ ren, die diese moderne Entwicklung hin zu einer unpolitischen Existenz sogar un­ bedingt begrüßen. Man denke etwa an Benjamin Constant, der sich 1819 durchweg positiv über diese neue Freiheitsform „der Modernen“ äußert: Während „die Alten“ in der Freiheit noch die „Verteilung der staatlichen Gewalt unter alle Bürger eines Landes“ sahen, „[erstreben] [d]ie Modernen […] Sicherheit im privaten Genuß; sie bezeichnen als Freiheit die Rechtsgarantien, die die Institutionen diesem Genuß

265  Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis [1793], in: ders., Werkausgabe, Bd. 11, S. 125 – 172, hier: S. 151, A 246 – 247 (Herv. im Orig. durch Sperrung); im Folgenden unter Angabe der Sigle ÜG zitiert. 266  Ebd., S. 150, A 244. Zu den Kontroversen um diesen Punkt des passiven und aktiven Wahlrechts vgl. etwa Iring Fetscher, Grenzen der Aktualität der politischen Philosophie Kants, in: Dietmar H. Heidemann/Kristina Engelhard (Hrsg.), Warum Kant heute?, Berlin 2012, S.  286 – 305. 267  Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, S. 52.

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

gewähren.“268 Und das ist Constant zufolge auch gut so, denn „[p]ersönliche Unab­ hängigkeit ist das vornehmste Bedürfnis der Menschen der Moderne: Folglich darf man von ihnen nie fordern, sie zugunsten der politischen Freiheit zu opfern.“269 Während Constant diese neue unpolitische Freiheit der Modernen feiert, betrachtet Hegel sie als Anlass zur Sorge. Wie ist es zu erklären, dass Hegel gegen den Ge­ danken, dass die „Modernen“ eben kein tugendhaftes, sondern ein angenehmes Leben führen wollen, so energisch Protest erhebt? Wesentlich scheint zu sein, dass Hegel die moderne Gesellschaft durch eine Tendenz zur Nivellierung der Differenzen charakterisiert und zugleich bedroht sieht. Nur so lässt sich der merkwürdige Umstand erklären, dass noch nicht ein­ mal die Französische Revolution – das politische Ereignis ersten Rangs – Hegel davon abhalten konnte, seine Diagnose der Entpolitisierung der Verhältnisse in der Moderne in dieser Schärfe zu formulieren und daran festzuhalten. Hegel muss offenbar unterstellen, dass das Ereignis der Revolution sich dem ‚römisch‘ herbei­ geführten Prozess der Nivellierung der Verhältnisse nicht nur nicht zu widersetzen vermochte, sondern diesen Prozess sogar noch auf die Spitze getrieben habe. Die Revolution kommt einem gewaltigen Akt der Integration gleich. Sie hat vor Augen geführt, dass die Befreiung der Bürger nur in dem Maße durchgesetzt wer­ den konnte, wie die Herrschafts- und Rechtsunterschiede der alten Gesellschaft aufgehoben und die Privilegien der Citoyens durch die Constitution Française aus dem Jahr 1791 abgeschafft wurden. Statt diese Errungenschaften aber mit dem neuen Sinn von Politik überhaupt zu verbinden, scheint Hegel der Auffassung zu sein, dass selbst dieser revolutionäre Anspruch einer bedingungslosen gesellschaft­ lichen Integration nicht anders verwirklicht werden konnte als durch den Übergang in einen Zustand des „allgemeinen Privatlebens“ – und damit in eine beschränkte Form von Freiheit; zumindest legen seine Ausführungen aus dem Naturrechtsauf­ satz, aber auch Teile der Phänomenologie diese Lesart nahe. Die vollzogene Etablierung dieses Zustands „allgemeinen Privatlebens“ scheint genau der Grund zu sein, weshalb Hegel sich genötigt sieht, seinen Blick von der (so verfassten) modernen Gesellschaft vorerst gänzlich abzuwenden und – gegen die moderne Nivellierung der Verhältnisse – an die ständische Differenzierung der Polis zu erinnern. Dieser Rückblick auf die Polis lässt sich allerdings nicht adäquat verstehen, deutet man ihn allein im Sinne einer Retrospektive. Vielmehr scheint Hegel, wenn er an die ständische Differenzierung der Polis erinnert, zugleich da­ rum bemüht zu sein, einen neuen Anfang für die Theorie der modernen Gesell­ schaft freizulegen. Diese Interpretation wird durch Hegels eigene Aussage gestützt, in der die mo­ derne Zeit als eine „Periode des Übergangs“ bezeichnet wird, die es nur dann ge­ 268  Benjamin Constant, Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen [1819], in: ders., Werke in vier Bänden, Bd. 4: Politische Schriften, hrsg. von Axel Blaeschke/ Lothar Gall, Berlin 1972, S. 363 – 396, hier: S. 377. 269  Ebd., S. 383.

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lingen wird, „ruckartig“ zu überwinden, wenn das „Negative“ sein „Positives“ als eines erkenne, das im „Vergangenen“ liegt.270 Vor dem Hintergrund dieser Aussage lässt sich Hegels Rückgang in die Antike tatsächlich gerade nicht als eine rück­ wärtsgewandte Geste, sondern produktiv verstehen – als die Suche nach einem neuen Ausgangspunkt für die Reflexion über die moderne Gesellschaft selbst. Im Folgenden soll darüber nachgedacht werden, was dies zu bedeuten hat, und erwo­ gen werden, welchen Schlüssel die Betrachtung der Vergangenheit für das Problem der politischen Freiheit bereithält. b)  Antike Freiheit oder Freiheit durch Ungleichheit In Anlehnung an den Bürgerbegriff des Aristoteles aus dem 3. Buch der Politik unterscheidet Hegel zwei Stände, in die sich die Sittlichkeit der Polis ausdifferen­ ziert: den Stand der Freien und den der Nichtfreien. In nostalgisch anmutenden Passagen bezeichnet Hegel den „Stand der Freien“ als „das Individuum der abso­ luten Sittlichkeit“.271 Die einzelnen Individuen, die diesem Stand angehören, fun­ gieren als Organe des Absolutsittlichen, die bis zur heroischen Aufopferungsbe­ reitschaft „in und für [ihr]272 Volk leben, ein allgemeines, dem Öffentlichen ganz gehöriges Leben führen“.273 Dies ist die Lebenshaltung der aristotelischen politein, deren tugendhafte Vortrefflichkeit sich an den Idealen der Polis bemisst. Die frei­ en Bürger des ersten Standes sind Ehren- und Amtsträger, die an der Herrschaft der Polis partizipieren. In Erinnerung an Platon sieht Hegel das in diesem Sinne verstandene politische Leben im selben Zug auch mit dem „Philosophieren […] schlechthin verknüpft“.274 Die auf diese Weise bestimmte substantiell-sittliche Standschaft ist nach Hegel nicht statisch zu verstehen, denn erst in dem „göttliche[n] Selbstgenuß dieses Gan­ zen in der Totalität der Individuen“275 sei sie real. Was die einzelnen Individuen anbelangt, so sind sie mit der Totalität des Ganzen vereinigt und haben sich noch nicht aus der lebendigen Bewegung dieses Ganzen herausgelöst. Für die leben­ dige Bewegung und den „Selbstgenuß“ des Ganzen ist es aber wesentlich, dass sie in keine Prozesse der herstellenden Arbeit eingebunden werden, sondern frei gehalten werden für die Praxis im emphatischen Sinne – für eine Praxis, „deren Produkt ebenso nicht Einzelnes“ sein dürfe, „sondern das Sein und die Erhaltung des Ganzen der sittlichen Organisation“.276 Der bios politikos verlangt ein Handeln im Dienst des Allgemeinen und die Bereitschaft, bei Gefahr für das Ganze bis zum Äußersten – bis zum Tode – zu gehen. 270 

NR, S. 529. Ebd., S. 489. 272  Im Original: „in und für sein Volk“ (ebd., S. 489). 273 Ebd. 274 Ebd. 275 Ebd. 276 Ebd. 271 

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

Aus dem bisher Gesagten dürfte deutlich geworden sein, dass die Vision politi­ scher Freiheit, wie sie von Hegel als Prärogativ des ersten Standes der Freien nach­ gezeichnet worden ist, keineswegs bedingungs- und voraussetzungslos ist. Denn sie ist per definitionem an die Bedingung der Nichteinmischung der absolut Freien in jegliche produktive Formen der Arbeit gebunden. Diese Trennung von poiesis und praxis, von herstellender Arbeit und Handeln, bildet ein zentrales konstituti­ ves Element des antiken Freiheitsverständnisses. In Manfred Riedels Formulie­ rung verdankt der Polisbürger die politische Autonomie „seiner ökonomische[n] Autarkie als Oikosdespot“, doch als Herrscher über „die Arbeit für das zum Leben Notwendige […] [bleibt er] ihrer Notwendigkeit selber enthoben“.277 Nicht so verhält es sich beim Stand der „nicht Freien“, zu dem gewissermaßen der Rest – Kaufleute, Bauern, Frauen und Kinder – zählt. Der zweite Stand der ge­ werbetreibenden Kaufleute, deren „Arbeit auf die Einzelheit geht“,278 stehe außer­ halb der Todesgefahr und existiere ganz und gar in der „Differenz der Bedürfnisse und Arbeit und im Rechte und der Gerechtigkeit des Besitzes und Eigentums“.279 Den dritten Stand, zu dem die Bauern gehören, bestimmt Hegel als den Stand der „nicht bildenden Arbeit“; er habe es mit der Erde zu tun und sei an keiner vermittel­ ten Objekterzeugung beteiligt. Seine „Natur“ sei „Verstand eines Anderen“, doch obwohl er „seinen Geist nicht in sich selbst“280 habe, erfüllt er Hegel zufolge eine wichtige Funktion für das Gemeinwesen, vermag er doch „den ersten Stand nach der Masse und dem elementarischen Wesen zu vermehren“.281 Im Rekurs auf die „ständische“ Differenzierung in der Antike spricht Hegel den Bauern und rechtlo­ sen Sklaven geistige Freiheit ab. Deshalb könne auch ihr Tod für das Allgemeine unmöglich ein heroischer wie derjenige der politein sein. Hegels Illustrationen des antiken Freiheitsbegriffs machen mehrere Dinge deut­ lich: Über das Offensichtliche hinaus, dass politische Freiheit in ihrer emphati­ schen Bedeutung Privileg eines Bruchteils der Bevölkerung war, radikalisiert He­ gel diese Beobachtung zu einem noch weitreichenderen Befund. Hegel zeigt, dass der antike Freiheitsbegriff überhaupt an die Bedingung der Aufrechterhaltung der Sklaverei geknüpft war: Als die „Sklaverei […] in der empirischen Erscheinung der Universalität des römischen Reichs von selbst verschwunden [ist,] [sind sich] in dem Verluste der absoluten Sittlichkeit und mit der Erniedrigung des edlen Standes Manfred Riedel, Art. „Bürger, bourgeois, citoyen“, in: Joachim Ritter (Hrsg.), His­ torisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel/Stuttgart 1971, Sp. 962 – 966, hier: Sp. 962. Riedel zufolge bilde dieser Zusammenhang auch noch für Hegels berühmtes Kapi­ tel über Herrschaft und Knechtschaft aus der Phänomenologie den entscheidenden Hinter­ grund; zu dieser These ebenso wie zu „Hegels spekulative[r] Auflösung des Verhältnisses von Herstellen (poiesis) und Handeln (praxis)“ siehe ders., Objektiver Geist und praktische Philosophie, S. 17. 278  NR, S. 490. 279  Ebd., S. 489. 280  Ebd., S. 491. 281  Ebd., S. 490. 277 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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[…] die beiden vorher besonderen Stände gleich geworden, und mit dem Aufhören der Freiheit hat notwendig die Sklaverei aufgehört.“282 Mit dieser Aussage macht Hegel auf drastische Weise deutlich, dass eklatante Ungleichheit für die antike Form der politischen Freiheit gerade begriffsnotwendig war und sie wie ein Schat­ ten begleitete. Der Zusammenhang von Sklaverei und Freiheit ist entscheidend, weil er vor Augen führt, dass Hegels nostalgisch anmutende Rückwendung zum „Stand der Freien“ die Standards seiner eigenen Definition sittlicher Freiheit und Einheit ganz offensichtlich unterschreitet. Hegel bestimmt sittliche Einheit als eine „Identität der Indifferenz und des Verhältnisses“.283 Überträgt man die beiden Hinsichten der Indifferenz und des Verhältnisses etwa auf die Beschreibungen der Stände der Freien und der Unfreien in ihrer jeweiligen Existenzweise, so fällt auf, dass sie zu­ sammengenommen nicht nur keine Einheit bilden, sondern durch unüberbrückbare Distanz voneinander geschieden sind. Denn die in der Indifferenz mit der sittlichen Totalität lebenden politein unterscheiden sich auf Schärfste sowohl vom zweiten Stand, der in den Verhältnissen der „Bedürfnisse und Arbeit“ existiert, als auch von den erdgebundenen Bauern und erst recht von den rechtlosen Sklaven. Wollte man im Wortlaut der Hegelschen Formel verbleiben, so müsste man demnach in Bezug auf das antike Sittlichkeitsmodell vielmehr von einer „Nicht­ identität der Indifferenz und des Verhältnisses“ sprechen. Die freien Bürger der Polis erhalten ihre Identität als Gleiche unter- und füreinander überhaupt erst durch diese scharfe und bewusste Abgrenzung von anderen Ständen. Zugespitzt könn­ te man sogar sagen, dass sie dieser externalisierten Form von Ungleichheit sogar bedurften, um ihre Existenz als Freie und Gleiche aufrechtzuerhalten. Unter dem systematischen Gesichtspunkt von Hegels eigener Theorie der Sittlichkeit muss das Urteil über das antike Freiheitsmodell mithin – fernab von jeder Nostalgie – fol­ gendermaßen ausfallen: Die antike Auffassung von politischer Freiheit beruht auf einer Gleichheitslogik, die die Ungleichheit nicht nur nicht zu überwinden vermag, sondern sie im Gegenteil sogar auf alle Ewigkeit zementiert. c)  Antike und moderne Freiheit: Der Befund einer doppelten Beziehungslosigkeit Die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs, dass die antike Form von Freiheit nur um den Preis der Ungleichheit bestehen konnte, führt zu einer weiteren wichti­ gen Feststellung. Es ist die Beobachtung, dass die substantiell bestimmten Stände nur nebeneinander existieren konnten, ohne sich jemals zu vermischen. Diese Art der Beziehungslosigkeit ließ es jedoch nicht zu, dass Individuen überhaupt jemals als Einzelne – als solche, die unabhängig von ihrem jeweiligen Stand existieren – wahrgenommen werden konnten. Ohne den Bezug auf den eigenen Stand, den das Individuum repräsentierte, sank es zur bloßen rechtlosen Besonderheit herab. Zwar 282  283 

Ebd., S. 491. Ebd., S. 457.

1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

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lag das andere Extrem in der Ehrung der Individualität, jedoch wiederum nur in­ soweit, als sich an ihr eine gelingende Verkörperung des substantiell Allgemeinen instantiieren konnte. Die Perspektive des Ausbruchs aus den so verfassten antiken Verhältnissen der Beziehungslosigkeit wird erst durch die Etablierung des neuen „Prinzip[s] der for­ mellen Einheit und der Gleichheit“284 denkbar und real. Hegel ist mithin darin recht zu geben, dass er die antike Form der Sittlichkeit als fundamentale Folie für die Selbstreflexion der Moderne würdigt: Die historische Bedeutung und Innovation des modernen Gleichheitsgedankens lässt sich in der Tat erst durch die Kontras­ tierung der antiken mit der modernen Freiheitsform herausstellen. Hegel ist sich dessen bewusst. Andernfalls ließe sich nicht erklären, wie es dazu kommt, dass seine Ausführungen bereits die wesentlichen Einsichten in das qualitativ Neue an der modernen Gleichheitsidee enthalten. Hegels Beobachtungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Für die antike Sittlichkeit wird geltend gemacht, dass die Stände sich in dieser Konstellati­ on immer nur auf eine bestimmte Weise voneinander absondern konnten. Sie konn­ ten nur „unter der Form der Allgemeinheit“285 zueinander ins Verhältnis treten. Dies hatte darin den Grund, dass ihre Beziehung so verfasst war, dass sie einander „nur als ganzer Stand zum ganzen Stand im Verhältnisse der Herrschaft und der Abhängigkeit“ begegnen konnten – und zwar so, „daß auch in diesem Verhältnisse die beiden, die in der Beziehung sind, allgemeine bleiben; wie hingegen im Ver­ hältnis der Sklaverei die Form der Besonderheit die bestimmende desselben [des Verhältnisses; T. S.]“ ist.286 Für die modernen Verhältnisse macht Hegel nun etwas völlig anderes geltend. Der Zusammenhang hat sich radikal verändert, weil die Stände nun nicht mehr gegeneinander – „Stand gegen Stand“ – auftreten müssen, ohne jemals im eigent­ lichen Sinne miteinander zu interagieren, sondern mit einem Male Einzelne zueinander in Abhängigkeitsverhältnisse geraten. Mit der Durchsetzung des neuen Gleichheitsprinzips habe man einen Zustand herbeigeführt, in dem „diese Einheit eines jeden Teils in der realen Beziehung aufgelöst ist und die Einzelnen von Ein­ zelnen abhängig sind“.287 Eindeutiger lässt sich die spezifische Differenz der anti­ ken Gleichheitsidee zu der modernen kaum herausstellen: Mit der Instantiierung des neuen Prinzips der Gleichheit kommt so etwas wie die „reale Beziehung“ eben­ so auf wie persönliche Abhängigkeiten. Beides ist Hegel zufolge das Ergebnis und die Errungenschaft des Römischen Reichs. Verblüffend ist nun, dass Hegel aus dieser neu gewonnenen Erkenntnis gera­ de nicht die Konsequenzen zieht, die eigentlich naheliegend wären. Zum Beispiel wäre es denkbar, diesen neuen Gedanken der „Einheit“, die „in der Beziehung 284 

Ebd., S. 491.

285 Ebd. 286 Ebd. 287 Ebd.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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aufgelöst ist“, mit der Emanzipation des Einzelnen aus sittlich determinierten Zu­ sammenhängen und Kontexten zu verbinden. Von hier aus könnte man dann etwa der Frage nachgehen, wie es überhaupt zu dieser Möglichkeit kommen konnte: wie es also möglich war, den Zustand der Beziehungslosigkeit derer zu durchbrechen, die einander zuvor – mit Ausnahme der Intimität der Familie – nur als Repräsen­ tanten des jeweiligen Standes und nicht als einzelne Individuen begegnen konnten. Doch zieht Hegel weder diese Konsequenz noch stellt er Überlegungen dieser Art an, jedenfalls nicht im Naturrechtsaufsatz. Vielmehr scheint sogar das Gegenteil der Fall zu sein: Hegels Beschreibungen der aus dem Römischen Reich hervorgehenden „nivellierten“ bürgerlichen Ge­ sellschaftsformation suggerieren, dass es nicht gelungen sei, die Struktur der Be­ ziehungslosigkeit hin zu freien Verhältnissen zu durchbrechen, sondern dass sich auch hier ein Zustand der Beziehungslosigkeit etabliert habe, wenngleich diese Beziehungslosigkeit von ganz anderer Art ist als ihr antiker Widerpart. Galten die Individuen in der Antike nur dann als frei, wenn sie den entsprechenden Status als Gemeinschaftsmitglieder besaßen und in ihrer Praxis, in ihrem Handeln, sub­ stantiell-allgemeine Zwecke und Werte verkörperten, so spaltet sich der moderne Freiheitsbegriff in zwei Hinsichten auf: Moderne Individuen betrachten sich in ih­ rer Freiheit einerseits als partikulare und besondere; andererseits gelten sie aber, sofern sie über gleiche Rechte verfügen, auch als freie Personen. Dieser Zusammenhang wird von Hegel in der Phänomenologie im Abschnitt über den „Rechtszustand“288 wiederaufgenommen und dort viel deutlicher heraus­ gearbeitet. Im Naturrechtsaufsatz scheint jedoch ein anderer Befund angelegt zu sein, wenngleich er an keiner Stelle explizit gemacht und durch Hegels geradezu euphorische Beschreibungen der Polis beinahe gänzlich verdeckt wird: Hegel stellt beide Freiheitsbegriffe – den substantialistisch bestimmten Freiheitsbegriff der An­ tike und den auf der Trennung von Moral und Recht basierenden der Moderne – so auffallend überpointiert dar, dass es legitim zu sein scheint, sie in ihrer Zuspitzung als zwei Extreme zu deuten, die in Wahrheit allerdings auf einen gemeinsamen Problemkern verweisen. Diesen beiden Freiheitszuständen ist gemeinsam, dass sie jeweils von Freiheitsbegriffen ausgehen, die als defizient zu bewerten sind: Ihr De­ fizit besteht darin, dass sie den Zustand der Beziehungslosigkeit fortschreiben, statt ihn zu überwinden. Vor dieser Folie lässt sich erneut zumindest die Suchbewegung nach einem angemessenen Freiheitsverständnis registrieren. Hegel lässt es aber völ­ lig ungeklärt, von welchen Faktoren ein solches Freiheitsverständnis abhängt. Hegels Ausführungen lassen sich jedoch immerhin einige Hinweise entneh­ men, wie diese Frage zu beantworten sein könnte. Besonders aufschlussreich ist dabei der spezifische Fokus seiner Kritik, deren wesentliche Motive und Aspekte im Folgenden herausgehoben und interpretiert werden sollen. Zum einen geht es um Hegels These der Nivellierung aller Unterschiede zugunsten der universellen Ausbreitung des „zweiten Standes“, die er als ein Ergebnis der römischen Kaiser­ 288 

PhG, S.  355 – 359.

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

zeit deutet. In eins damit wird Hegels Befund einer Verengung des Rechts auf das Privatrecht zur Sprache kommen – sowie die damit einhergehende Privatisierung der Rechte, die von nun an in Gestalt der vorpolitischen, naturrechtlich verbürgten Individualansprüche auftreten. Zum anderen wird Hegels Provokation wieder auf­ gegriffen, die Moral des „zweiten Standes“ zu einer gespaltenen Moral zu erklä­ ren, in der sich der formelle Rechtszustand spiegele: womit er sie in ihrer Geltung relativiert. Auch Hegels Diagnose vom doppelten inneren wie äußeren Zwang, der für die modernen Zeiten äußerer Gerechtigkeit konstitutiv sei, wird zu diskutieren sein. Alle diese Gedankenstränge sind nun im Lichte der soeben rekonstruierten Dia­ gnose der doppelten Beziehungslosigkeit näher zu betrachten. Die weiteren Unter­ suchungsschritte verfolgen das Ziel, für diese Diagnose eine tiefere Begründung zu finden. Auf dem Weg dahin soll aber auch das Profil der Beziehungslosigkeit selbst allmählich eine weitere Konkretisierung und inhaltliche Anreicherung erhalten. 2.  Privatisierung des Rechts und der Moral: Die Zeiten „äußerer Gerechtigkeit“ Mit einiger Verwunderung wurde bereits festgestellt, dass Hegel, weit davon entfernt, die Freisetzung der Gleichheitsidee zu feiern, in der rechtlichen Durch­ setzung dieser Idee vielmehr die ersten Anzeichen eines um sich greifenden Ver­ fallsprozesses politischer Freiheit erblickt. Hegel bringt diese Entwicklung mit der römischen Kaiserzeit in Verbindung, deren „welthistorisches“ Ergebnis da­r in bestand, die antike Sittlichkeit durch die Aufhebung aller Standesunterschiede aufgelöst und zugleich abgelöst zu haben. Diese These von der Nivellierung aller Unterschiede, die wiederholt im Zusammenhang mit der römischen Epoche geäu­ ßert wird, bildet eine merkwürdige Konstante in Hegels Werk. Noch in der Vorrede zur Rechtsphilosophie rechnet Hegel es dem „Despotismus der Kaiser Roms“ zu, „Adel und Sklaven, Tugend und Laster, Ehre und Unehre, Kenntnis und Unwis­ senheit gleichgemacht […], alle Gedanken und alle Stoffe nivelliert [zu haben]“.289 Im Naturrechtsaufsatz folgt Hegel Edward Gibbons Einschätzung, dass „[d]er lange Friede und die gleichförmige Herrschaft der Römer“ dazu geführt haben, dass die Existenz der Menschen „unmerklich in die matte Gleichgültigkeit des Privatlebens“290 herabgesunken sei.291 Zwar konnte die Rechtskultur im Prozess des „langen Friedens“ sich entwickeln und gedeihen, jedoch verbindet Hegel diese Phase weitaus eher mit der zunehmenden Einebnung von Gesinnungen und nimmt dies zum Anlass, den Verlust des „öffentlichen Muts“ zu beklagen, „welcher von der Liebe zur Unabhängigkeit, dem Sinne der Nationalehre, der Gegenwart der Ge­ 289 

GPR, S. 23. NR, S. 492. 291  Hegels wichtigste Quelle bezüglich des römischen Rechts war Edward Gibbons History of the Decline and Fall of the Roman Empire, insb. das 44. Kapitel dieser Schrift; vgl. hierzu Mährlein, Volksgeist und Recht, S. 108 – 115. 290 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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fahr und der Gewohnheit zu befehlen genährt wird“.292 Der öffentliche Mut und die Tapferkeit machen dem „persönlichen Mut“ Platz, in dem nunmehr der Privatwille unter Beweis gestellt wird. Die Todesgefahr des allgemeinen Standes der Freien, dessen Verdienst in der Aufopferung für das Allgemeine bestand, weiche nun der Sorge des Einzelnen um „die absolute Unsicherheit alle[n] Genusses und Besitzes und Rechts“:293 Aus Bürgern werden Untertanen. Neben diesen nostalgisch-kontrastierenden Beobachtungen steht im Natur­ rechtsaufsatz jedoch ein fundamentalerer Zusammenhang im Zentrum, der die Kritiker dazu veranlasst hat, von Hegels „eigentümliche[r] Projektion der Figur des bourgeois an den Ausgang der antiken Welt“294 zu sprechen. Die Rede ist von der Nivellierung aller ständischen Differenzen zugunsten des einen Standes: „Das Prinzip der Allgemeinheit und Gleichheit […] [setzte] an die Stelle einer Absonde­ rung eine Vermischung beider Stände […]; unter dem Gesetz der formalen Einheit ist in Wahrheit der erste Stand ganz aufgehoben und der zweite zum alleinigen Volk gemacht […].“295 Statt darin einen Akt der Demokratisierung zu sehen, sieht Hegel die „freie Sittlichkeit“296 überall dort zerstört, „wo sie mit jenen Verhält­ nissen [i. e. mit der Ausbreitung des Systems des Besitzes und des Rechts zum ‚allgemeinen Zustand‘;297 T. S.] vermischt und von denselben und ihren Folgen [der Verabsolutierung der Einzelheit und dem Verlust des ‚Absoluten‘ und ‚Ewigen‘; T. S.] nicht ursprünglich gesondert ist“.298 Zu den Konsequenzen dieser allgemeinen Ausbreitung des zweiten Standes und des damit einsetzenden umfassenden egalitären Prozesses der Verrechtlichung ge­ hört Hegel zufolge, dass Menschen „eine von anderen als Herren und Richtern auferlegte Gerechtigkeit zu haben [sich] genötigt [fühlen]“.299 Trotz dieses anachro­ nistischen Bezugs auf Platon, der in Politikos als Diagnostiker der Gesetzesmisere auftritt, hat Hegel an dieser Stelle die modernen Zeiten im Blick. Die Gerechtig­ keit, die sich etabliert habe, sei keine, die sich von selbst versteht, sondern eine der Gesetzeskataloge, die aber nicht mehr allgemeine Angelegenheiten, sondern persönliche Abhängigkeiten regeln.300 Das Recht stehe dabei in Kontinuität zu den Anforderungen der „bürgerlichen Gesellschaft“ von egoistisch vereinzelten Individuen, an die es funktional und ideologisch gebunden bleibt. Unter diesen 292 

NR, S. 492. Ebd., S. 494; im Original: „alles Genusses“ (ebd.). 294  Zu Hegels Interpretation des römischen Rechts und seiner These von der Aufhebung der Differenzen im Personenbegriff siehe kritisch Manfred Riedel, Die Rezeption der Nati­ onalökonomie, insb. S. 125 ff. 295  NR, S. 491. 296  Ebd., S. 494. 297  Ebd., S. 493. 298 Ebd. 299 Ebd. 300  Vgl. ebd., S. 492. 293 

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

Vorzeichen verkehre sich die Rechtskultur, die von nun an auf die Regelung gesell­ schaftlich determinierter Abhängigkeitsverhältnisse festgelegt ist, in eine „Macht ohne Weisheit“,301 so Hegel, während die Weisheit zur privaten Moral herabsinke. Die Misere des Rechts besteht Hegels Einschätzung zufolge darin, dass es auf das Privatrecht verengt wird. Die Kritik des Privatrechts ist überhaupt ein Grund­ zug von Hegels politischer Philosophie.302 Schon in der Reichsverfassungsschrift von 1801/02 verbindet Hegel den Zerfall des Deutschen Reichs und den Verlust sei­ ner „Staatsqualität“, wie bereits erwähnt, mit der „ungehinderten Inanspruchnah­ me partikulärer, ‚privater‘ Rechte der Reichsmitglieder“.303 Hegels Rezension der Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg der Jahre 1815 – 16, die er in den „Heidelbergischen Jahrbüchern“ 1817 anonym veröffentlicht hat, enthält eine nicht minder scharfe Polemik gegen die Tendenz zum Missbrauch des Rechts für private Zwecke und Interessen. In dieser Schrift, die als Hegels „umfang- und einflussreichste politische Flugschrift“304 gelten kann, äußert er seinen Protest gegen die „Nullität und Unwirklichkeit des öffentlichen Lebens“,305 gegen die „Leerheit und Tatlosigkeit der vormaligen Staatsversamm­ lung, des deutschen Reichstags“,306 die mit dem Festhalten an überkommenen Pri­ vilegien koinzidieren. Die „bürgerliche Aristokratie“, schreibt Hegel dort, sei ins „Privatinteresse [versumpft]“ und setze das Land einer „Privat-Plünderung“ aus.307 Hegels Kritik gilt insbesondere den Widerständen der Landstände gegen den neu­ en Verfassungsentwurf des Königs, der es vorsieht, die königliche Macht um die Nationalrepräsentation zu ergänzen. Hegel spricht von einer „Szene“, „wo die Er­ scheinung der Majestät dem inneren Gehalte ihrer Handlung so entsprechend ist“, für die jedoch „[u]nsere politische Erstorbenheit […] unempfänglich [ist]“.308 Wichtig ist, zu erkennen, dass Hegels Vorbehalte gegenüber dem Privatrecht, die über sein ganzes Werk verstreut sind, im Kern dem Konzept der vorpolitischen Rechte gelten. Letztlich lässt sich auch Hegels fehlende Bereitschaft, Grundrechten in seiner Rechtsphilosophie größeres Gewicht beizumessen, erst vor diesem Hin­ tergrund adäquat beurteilen, wie es Lübbe-Wolff gezeigt hat, die dem merkwürdi­ gen und oftmals beklagten Zusammenhang nachgegangen ist, dass fundamentale Rechte wie „Freiheit und Sicherheit des Eigentums, Elemente der Gewerbefreiheit und der Glaubensfreiheit, Ausprägung des Gleichheitsgrundsatzes u.ä.“ in Hegels Rechtsphilosophie zwar „eine Rolle [spielen]“, aber noch nicht „in die […] rechtliche 301 

Ebd., S. 471. Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 258. 303  Lübbe-Wolff, Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphilosophie, S. 436. 304  Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 257. 305  Hegel, Landständeschrift, S. 469. 306 Ebd. 307  Ebd., S. 500; vgl. hierzu Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 258. 308  Hegel, Landständeschrift, S. 467 f. 302 Vgl.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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Form verfassungsmäßig gewährleisteter Individualrechte, – kurz: Grundrechte –, [gegossen]“ werden.309 Gerade im Lichte der Emphase, mit der Individualrechte in die Verfassungen des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts aufgenommen wurden, mag Hegels ablehnende Haltung gegenüber Grundrechten befremdlich erscheinen, zumal der Verkündung dieser Rechte in allen wichtigen Verfassungen Vorrang eingeräumt wurde.310 Doch die Berücksichtigung des historischen Hintergrunds der württem­ bergischen Verfassungskämpfe, mit denen sich Hegel intensiv beschäftigte, lässt seine Position in einem anderen Licht erscheinen. Wie Lübbe-Wolff rekonstruiert hat, kritisierte Hegel insbesondere die alten Stände, die in den württembergischen Verfassungskämpfen eine Partei bildeten. Am Verhalten der altständischen Partei konnte Hegel beobachten, dass deren Mitglieder sich zwar oftmals darauf beriefen, „daß der eigentliche Zweck des Staates die Sicherung der Menschenrechte sei“, die Berufung auf die Menschenrechte sie aber nicht im Geringsten daran hinderte, den wohl bekanntesten Satz aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776), dass die Aufgabe der Regierung in der Sicherung gewisser unveräußerlicher Rech­ te (darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit) bestehe – „That to secure these rights Governments are instituted among Men“ –, hemmungslos für die eigenen politischen Zwecke zu instrumentalisieren.311 Gerade diese historische Perspektivierung der Hegelschen Kritik macht deut­ lich, dass seine ablehnende Haltung gegenüber Individualrechten durchaus eine differenzierte Betrachtung verdient: Denn in Wahrheit war Hegels Skepsis gegen Individualrechte auf etwas ganz Spezifisches gerichtet – sie galt, in Lübbe-Wolffs Formulierung, der „naturrechtlichen Auffassung von dem Staate vorgelagerten und in den Staatsverband nur nach Maßgabe freien Beliebens eingebrachten ‚na­ türlichen‘ Rechten und Freiheiten […], auf der ungebrochen auch noch das Grund­ rechtsverständnis des frühen neunzehnten Jahrhunderts fußte“.312

309  Lübbe-Wolff, Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphilosophie, S. 425. 310  Lübbe-Wolff illustriert dies am Beispiel der französischen Déclaration (1789) und der Revolutionsverfassung (1791), der Paulskirchenverfassung der Frankfurter National­ versammlung (1849), der die Frankfurter Grundrechte (1848) vorausgingen, sowie des österreichischen Verfassungsentwurfs von Kremsier. Auch die amerikanische Verfassung (1789) bildet hier keine Ausnahme: Zwar wurde ihr der Grundrechtskatalog erst 1793 an­ gefügt, doch existierten neben der Unabhängigkeitserklärung von 1776 bereits zahlreiche Rechte-Erklärungen der Einzelstaaten (ebd., S. 422 – 425). Doch dürfe allem Enthusiasmus bei der Verkündung von Grundrechten zum Trotz nicht übersehen werden, dass spätes­ tens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenüber Grundrechten – in Anbetracht der Schwierigkeiten bei deren Umsetzung – mehr Nüchternheit einkehrt: So kommen die Reichsverfassung von 1871 wie auch die französische Verfassung von 1875 ohne Grund­ rechtskataloge aus (ebd., S. 445). 311 Ebd., Anm. 11, S. 423. 312  Ebd., S. 440 f.

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

Diese Polemik gegen „private“ Freiheiten, die es erlauben, Verpflichtungen „freiem Belieben“ zu überantworten, hat bereits im Naturrechtsaufsatz ihren Ort, allerdings wird sie hier mit einer anderen entscheidenden Nuancierung vorgebracht. Im Naturrechtsaufsatz bringt Hegel solche privaten Freiheiten mit der Verfasstheit der Moral des „zweiten Standes“ in Verbindung. Es scheint, als würden in die­ ser Feststellung zwei Gedankenstränge zusammenlaufen: Einerseits bemüht sich Hegel darum, die Genese der modernen Gesellschaft samt der für sie typischen Struktur von individuellen Abhängigkeiten aus dem Zerfall der antiken Sittlichkeit heraus zu begreifen. Andererseits bildet Kants Moralverständnis für Hegel einen wichtigen Hintergrund; dies ist aber nicht zuletzt deshalb so, weil das Erreichen des moralischen Standpunkts, den Kant auf den Begriff gebracht hat, gleichsam als Abschluss dieses Transformations- und Zerfallsprozesses der antiken Sittlichkeit gedeutet werden kann. Der erste Punkt ist mit dem zweiten verklammert. Hegel versteht das neue „System der Realität“, das er als das „System wechsel­ seitiger Abhängigkeiten“ definiert, so, dass für dieses System der Zusammenhang von Ökonomie und Recht konstitutiv geworden ist. Diese Überlegung verlangt je­ doch einen Zwischenschritt: Hegel scheint anzunehmen, dass die Auflösung der antiken Sittlichkeit mit einer Freisetzung der Sphäre des Hauses (oíkos) einher­ ging. Im Zuge dieses Prozesses seien die ökonomisch-rechtlichen Verhältnisse aber gleichsam nach außen getreten. Auf diese Weise sind sie – gerade weil sie von nun an jeden Einzelnen angehen – zugleich öffentlich geworden. Dies besagt aber nichts anderes, als dass alle möglichen Dinge, die zuvor außerhalb der Politik angesiedelt waren, sich nun zu einem Vorgang von potentiell gesamtgesellschaftlicher Rele­ vanz transformieren können. Herbert Schnädelbach veranschaulicht diesen Zusammenhang, indem er auf die große Veränderung hinweist, die in der Familienstruktur eingetreten ist: „Was die bürgerliche Intimfamilie von der traditionellen Großfamilie – sei es im Sinne des oíkos des Aristoteles oder des ländlich-aristokratischen ‚ganzen Hauses‘ – unter­ scheidet, ist die Trennung von Haushalt und Ökonomie, d.h. die Produktion ist aus der Familie herausverlagert und als ein gesellschaftlicher Vorgang vorausge­ setzt.“313 Hegel scheint dies bereits im Naturrechtsaufsatz – und lange vor Marx – erkannt zu haben. Im Naturrechtsaufsatz interessiert sich Hegel aber insbesondere für den Umstand, dass die gesellschaftliche bzw. „öffentliche“ Anerkennung der Ökonomie durch das Recht erfolgt. Das Augenmerk gilt hier den Folgen dieses besonderen Anerkennungszusammenhangs. Dabei scheint Hegel anzunehmen, dass dieser rechtliche Anerkennungsvorgang nicht nur die Verfasstheit der Gesell­ schaft, sondern auch den moralischen bzw. den individualpsychologischen Haus­ halt der Seele grundlegend verändert. Hegels Einschätzung ist hier von einseitigem Pessimismus geprägt. Um die See­ le des modernen Individuums scheint es schlecht bestellt zu sein: Die Existenz des Bourgeois als Privatmenschen sieht Hegel vom „moralischen und hypochondri­ 313 Vgl.

Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, S. 261.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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schen Privatdünkel gegen das Öffentliche“314 begleitet. Diese Diagnose aus der Landständeschrift deckt sich auch mit den Grundintentionen, die Hegel mit dem Naturrechtsaufsatz verfolgt, in dem er vor allem als Kritiker der Moralität auf­ tritt. Diese Haltung ist nicht neu: Bereits eine seiner Habilitationsthesen (1801) be­ sagt: „Moralitas omnibus numeris absoluta virtuti repugnat: Der Standpunkt einer schlechthinnigen Moral steht im Gegensatz zur Tugend.“315 Im Naturrechtsaufsatz geht Hegel jedoch einen Schritt weiter und behauptet, dass in Kants Moralitätsver­ ständnis ausgerechnet die von Hegel kritisierte apolitische Haltung des Bourgeois am deutlichsten auf den Begriff gebracht wurde. Diese Interpretation erscheint auf den ersten Blick – schon aufgrund einer völ­ lig unkantischen Empirifizierung von Kants Moralverständnis – als eine groteske Missdeutung und Verzerrung von Kants Absichten. In der Tat gesellt sich diese Behauptung Hegels zu einer Reihe weiterer, die unweigerlich Protest auf sich zie­ hen. Die offenkundige Provokation Hegels besteht darin, das rigorose und uni­ versalistische Moralitätsverständnis Kants, das bis heute einstimmig als eine Re­ volution in der Ethik gefeiert wird,316 infrage zu stellen, und zwar in dem Maße, wie Hegel Moralität zu einer Form der Sittlichkeit depotenziert, die keineswegs allen Menschen, sofern sie freie und denkende Wesen sind, gemeinsam sei, son­ dern vielmehr die Moralvorstellungen einer bürgerlichen Schicht der handel- und gewerbetreibenden Kaufleute reproduziert. Diese von Hegel gelegte Spur für eine Kant-Kritik lässt sich bis in die Gegenwart verfolgen. Man denke etwa an die nicht besonders schmeichelhaften Äußerungen von Hermann Schmitz in Richtung Kant: „Wenn ich hiernach eine zusammenfassende Form für den ‚Geist‘ der kantischen Philosophie wagen darf, so sollte sie lauten: Es ist der prometheische Trotz des aufstrebenden kleinen Mannes.“317 Dieses Urteil betrifft insbesondere auch Kants Philosophie der Autonomie, die Schmitz zufolge „aus der Gesinnung eines sozialen Aufsteigers“ resultiert.318 Im Vergleich zu dieser von Schmitz bewusst provozierend eingesetzten Simpli­ fizierung fällt Hegels Analyse zweifellos komplexer aus: Die Moralvorstellungen, die für die „Sittlichkeit des bourgeois oder des Privatmenschen“319 und für Kants Moralbegriff repräsentativ sein sollen, bezeichnet Hegel als „Reflex der Sittlich­ keit“ am Individuum, das als das „Negative“ des Sittlichen in Erscheinung tritt. Auf diese Negativitätsbestimmung wurde bereits hingewiesen, doch die Frage, was genau sich in der Moral reflektiert, wenn sie zu etwas gleichsam von ihrem ‚Außen‘ her zu Verstehendem relativiert wird, wurde noch nicht diskutiert. Mithin

Hegel, Landständeschrift, S. 468. Hegel, Habilitationsthesen [August 1801], in: ders., Werke, Bd. 2, S. 533. 316  Vgl. die Untersuchung von Schneewind, The Invention of Autonomy. 317  Hermann Schmitz, Was wollte Kant?, Bonn 1989, S. 369. 318  Ebd., S. 364. 319  NR, S. 506. 314 

315 

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

drängt sich die Frage auf, was genau dieses ‚Außen‘ ist, von dem die Moral des Individuums nur ein „Reflex“ sein soll. Die individuelle Moral sieht Hegel einerseits vom Begriff der „absoluten Sitt­ lichkeit“, vom konkreten Allgemeinen, abgeschnitten. Andererseits reproduziere sich an ihr aber der formalrechtliche Zustand, den er zuvor als eine beschränk­ te Gestalt des Sittlichen identifiziert hat. Das Spezifikum dieses Zustands sei die „Trennung des Begriffs und des Subjekts der Sittlichkeit“.320 Damit scheint Hegel darauf aufmerksam machen zu wollen, dass die Moral von nun an nur noch als eine intern gespaltene auftreten kann. Sie spaltet sich in eine individualpsychologische Seite auf, wo jeder sich als einen Besonderen wahrnimmt, und in die rechtsförmig verfasste Seite, sofern sie den formalrechtlichen Zustand der „allgemeine[n] Frei­ heit aller“321 – „worin Alle als Jede, als Personen gelten“322 – internalisiert hat. Das Sittengesetz dieser Moralität beansprucht allgemeine und universelle Gül­ tigkeit, jedoch nur als Forderung in Gedanken. Noch in der Rechtsphilosophie hält Hegel an dieser Bestimmung der Moralität als „Standpunkt des Verhältnisses und des Sollens oder der Forderung“323 fest. Auf die Erfüllung dieser Forderung ist jedoch kein Verlass. Dieses Defizit der Moral kann erst das Recht überwinden, das ungeachtet der partikularen Gesinnungs- und Motivationsfragen verbindliche Vorschriften machen soll. Realiter ist es folglich erst das juridische Recht, das fürs Allgemeine gleichsam ‚zuständig‘ ist. In dieser Bestandsaufnahme bekundet sich eine Einsicht, der man die Aktualität auch heute nicht absprechen wird: Es wird konstatiert, dass die Spannung zwischen individualistischen Selbstverwirklichungsansprüchen und privaten Überzeugun­ gen auf der einen und der institutionell garantierten, vom subjektiven privatmo­ ralischen Befinden entkoppelten Sphäre des Rechts auf der anderen Seite für die moderne politische Kultur konstitutiv geworden ist. Bei dieser Charakterisierung der bürgerlich-liberalen Gesellschaft handelt es sich Hegel zufolge jedoch um ein verzerrtes Bild ihrer Wirklichkeit, um ein Bild, mit dem suggeriert wird, dass In­ dividuen vom wahren Allgemeinen abgeschnitten seien. Auf die komplexe Frage, worin das „wahre“ Allgemeine unter den Bedingungen der Moderne für Hegel überhaupt bestehen kann und in welchem Verhältnis es zur entzweiten Gestalt des Sittlichen steht, wird noch zurückzukommen sein. Fest steht, dass Hegel ein solches entzweites Gefüge von Moral und Recht, sofern es für sich genommen und isoliert wird und den Bezug zum wahrhaft Allgemeinen ver­ liert, als problematisch bewertet: Denn eine derartige Ordnung, so lässt sich sein Einwand verstehen, könne nur dann vor dem Zerfall bewahrt werden, wenn durch eine spezifische Verklammerung von Recht und Moral eine Relation des Zwangs hergestellt wird und es zur Perpetuierung dieses Zwangs kommt. 320 

Ebd., S. 471. Ebd., S. 470. 322  PhG, S. 355. 323  GPR, § 108, S. 206. 321 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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Moral und Recht – das sind die moderne Freiheit verbürgenden Grundbegrif­ fe. In postrevolutionären Zeiten werden sie zu philosophischen Begriffen ersten Ranges. Nun behauptet Hegel aber, dass sie zusammengenommen bzw. in ein spe­ zifisches Verhältnis zueinander gesetzt unweigerlich zur Figur des Zwangs gera­ ten. Der moralische Zwang tritt in Gestalt des Imperativs zutage, der an Einzelne adressiert wird, mit der Folge, dass die empirische Person, mit Kant gesprochen, „als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, so fern sie zugleich zur intelligibelen Welt gehört“.324 Das „Vermögen“, nur den „von seiner eigenen Vernunft gegebenen reinen praktischen Gesetzen“ zu gehorchen,325 ist für Kant Ausdruck von Freiheit. Für Hegel ist es aber Ausdruck des inneren Zwangs. Die unvermeidliche Konsequenz der Unterwerfung unter die reine Gesetzge­ bung der Vernunft ist Hegel zufolge darin zu sehen, dass die Notwendigkeit des Sollens und die Zufälligkeit des Gesollten stets nur einander gegenüberstehen können. Auf diese Weise wird aber auch die Freiheit zu einer nur relativen und bedingten Größe, deren Realisierung entweder dem Zufall überlassen oder aber rechtlich gesichert werden muss. Die allgemeine Freiheit zu garantieren, setzt mit­ hin voraus, dass ein Zustand des äußeren Zwangs des Gesetzes etabliert wird. Das allgemeine Gesetz der Freiheit, so formuliert es Kant selbst, wird zur „Befugnis zu zwingen“.326 Was Hegel zuvor im Rekurs auf Platon als einen Zustand der äußeren Gerechtigkeit der Gesetze bezeichnete, findet in Gestalt dieser doppelten Figur des rechtlich-moralischen Zwangs mithin eine moderne Konkretisierung. Nivellierung der Verhältnisse, Privatisierung der Freiheit, Zeiten äußerer Ge­ rechtigkeit, nach innen wie nach außen wirksamer rechtlich-moralischer Zwang – über die moderne Existenz des Menschen scheint Hegel im Naturrechtsaufsatz ein Pauschalverdikt zu verhängen. Das Bild der bürgerlichen Kultur, das Hegel zeich­ net, suggeriert den Zustand eines bloßen Nebeneinanders oder aber des Konflikts von äußerem Rechtszwang und einer innerlichen, „nicht zwangsbewehrte[n] Mo­ ral“,327 die als eine Ordnung von Pflichten und Tugenden vorgestellt wird. Der Re­ alisierungserfolg dieser Moral bemisst sich am Grad der souveränen Beherrschung der eigenen (sinnlichen) Triebe und Neigungen, die zur Selbstauferlegung eines in­ neren Zwangs nötigen. Doch letztlich wird die bürgerlich-liberale politische Kultur unter Generalverdacht gestellt, individuelle Existenz in orientierungslose Beliebig­ keit absinken zu lassen und die Moral dem Zufall zu überantworten. Nun könnte man meinen, dass die immer differenzierter werdende Kultur des Rechts diese Entwicklung aufzuhalten vermag. Genau dies scheint Hegel allerdings mit ebenso großer Vehemenz zu bestreiten: Weder teilt er den naturrechtlichen Glauben an den Perfektibilitätscharakter des Rechts, noch überzeugt ihn die Möglichkeit der An­ 324 KpV,

S. 117 f.

325 Ebd. 326 

Vgl. MS, § B. Gertrude Lübbe-Wolff, Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Birgit Sandkaulen/Volker Gerhardt/Walter Jaeschke (Hrsg.), Gestalten des Bewußtseins. Genea­ logisches Denken im Kontext Hegels, Hamburg 2009, S. 328 – 349, hier: S. 330. 327 

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

näherung an eine vollkommene Gerechtigkeit. Darin zeige sich „nur das Formale der zunehmenden Bildung“.328 3.  Vorbehalte gegenüber Hegels Pauschaldiagnose Es fällt schwer, den vielfältigen Diagnosen Hegels, die bislang rekapituliert wurden, umstandslos zuzustimmen. Zum einen ist es verblüffend, dass Hegel im Naturrechtsaufsatz verschweigt, dass gleichsam auf der Rückseite des Zwangs die Subjektivität selbst in Erscheinung tritt. Zum anderen ist Hegels Diagnose der Entpolitisierung und des Verfalls der Öffentlichkeit fragwürdig und schlicht nicht überzeugend. Doch zunächst zum ersten Einwand, der mit moderner Subjektivi­ tät zusammenhängt: Die Kritik an der Moderne, die Hegel im Naturrechtsaufsatz ganz pauschal äußert, ist einseitig, nicht zuletzt deshalb, weil er – ungeachtet der Reflexion über die Tragödie und Komödie – die ästhetische Dimension in anderer Hinsicht völlig außer Acht lässt. Tatsächlich aber ist der ordnungserhaltende Zwang nicht das einzige Phänomen, das mit der Möglichkeit des Individuums, sich aus dem Allgemeinen reflexiv herauszulösen, auf den Plan tritt: Mit dieser Möglichkeit öffnet sich ebenso der Raum für Spiel und ästhetisches Verhalten. Die wohl berühmteste Artikulation dieses Zusammenhangs verdankt sich den Entwürfen der Romantiker,329 die insbesondere in der Figur des Ironikers330 ästhe­ tische Freiheit verkörpert sahen. Wenige Jahre später, insbesondere in der Phänomenologie, hat Hegel selbst die Paradoxie der unverbindlichen Verbindlichkeit, die diese Figur ausmacht, als Pendant zu dem auf die Autonomie des Einzelnen ge­ gründeten moralischen Universalismus Kants gedeutet. Wie Ludwig Siep in Bezug auf Hegels Überlegungen gezeigt hat, kommt moderne Subjektivität gerade in die­ ser „‚Eitelkeit‘ des ironischen Subjekts“ am deutlichsten zum Ausdruck: „Die Kan­ tische Moralphilosophie und ihre romantische Gegenposition sind […] für Hegel nur zwei Seiten derselben Münze: wenn das unbedingt Gute von aller empirischen Bestimmtheit frei sein soll, dann kann ‚allein der gute Wille‘ unbedingt gut sein. Aber der nicht empirisch gebundene Wille ist derjenige, der sich der Freiheit, sich alles anzueignen und zugleich von allem frei zu sein, bewußt ist. Er kann mit allem spielen – ob er sich die größtmögliche Regellosigkeit des Handelns vornimmt, oder sich alles Mögliche als allgemeines Gesetz denkt, oder sich von allen bestehenden 328 

NR, S. 486. den Romantikern zu reden, als bildeten sie eine homogene Gruppe, ist freilich problematisch, zumal die frühromantische Bewegung von außerordentlich heterogenen Per­ sönlichkeiten – und Denkfiguren – geprägt war. Es versteht sich von selbst, dass August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Caroline Michaelis, Dorothea Veit, Novalis, Ludwig Tieck sowie – in deren Umfeld – Schelling, Fichte, Niethammer und Schleiermacher sich nicht unter den Titel „die Romantiker“ subsumieren lassen. 330  Wenn hier von der Figur des Ironikers die Rede ist, die Hegel in besonderer Weise provoziert hat, so gilt Hegels immerwährende Kritik vor allem Friedrich Schlegel. Unver­ kennbar ist allerdings auch, dass Hegels Kritik an Schlegel eine gehörige Portion an Faszi­ nation für Schlegelsche Denkfiguren verrät. 329 Von

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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Gesetzen ausnimmt, macht dabei letztlich keinen Unterschied. Das ‚Wesen‘ des subjektiven Willens ist nur das Sichbestimmen, das als Tätigkeit aber von allen seinen Bestimmungen frei bleibt.“331 Nach den bisherigen Erkenntnissen aus Hegels Naturrechtsaufsatz lässt sich hin­ zufügen, dass diese Dimension der Moralität, die in der Tätigkeit des Sichbestim­ mens liegt, erst dann ihr Profil erhält, wenn sie im Konnex mit der Frage nach den Folgen diskutiert wird, die rechtlich-moralische Entzweiung für das Individuum entfaltet. Nachdem Hegel moderne Individuen zu Repräsentanten des nivellierten „zweiten Standes“ erklärt hat, bestehe ihre Tätigkeit – weit entfernt von den Eindeu­ tigkeiten der öffentlich Gesinnten der Antike – in der „Verwirrung und Aufhebung dieser Verwirrung durch eine andere“.332 Diese Charakterisierung gibt bereits einen Vorgeschmack auf weitere Analysen und Bemühungen, gleichsam ein Psychogramm der modernen Individuen zu entwerfen, wie sie Hegel in der Phänomenologie des Geistes, aber auch im Moralitätskapitel seiner Rechtsphilosophie unternimmt. Sieht Hegel die Tätigkeit des „zweiten Standes“ im Naturrechtsaufsatz noch in der permanenten Ablösung der einen „Verwirrung“ durch eine andere, so verflüch­ tigt sie sich im Bildungskapitel der Phänomenologie zu einer bloßen Rhetorik. An die Stelle des tätigen Subjekts tritt eine bloße „Rede dieser sich selbst klaren Verwir­ rung“,333 die Hegel in Diderots Satire Rameaus Neffe334 paradigmatisch vorgeführt sieht. „Die Welt des sich entfremdeten Geistes“,335 die eine „Sprache der Zerrissen­ heit“336 spricht, findet in diesem Dialog ihren beredtsten literarischen Ausdruck. Rüdiger Bubner zufolge gelingt Hegel eine „kongeniale Benutzung der brillanten Satire von Diderot“, die „zu den mit Recht gepriesenen Glanzstücken der Phänomenologie des Geistes und überdies zu den herausragenden Exempeln eines pro­ duktiven Austausches zwischen Philosophie und Literatur“ zählt.337 In Gestalt von Rameaus Neffen wird die „Zweideutigkeit eines geistreich über alles schwatzenden Bewußtseins“ vor Augen geführt.338 Doch nicht nur das ist bemerkenswert: Diderot 331  Siep, Was heißt: „Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit“ in Hegels Rechtsphiloso­ phie?, S. 227. 332  NR, S. 494. 333  PhG, S. 387. 334  Ein erwähnenswertes Detail: Der Dialog „Rameaus Neffe“ war Hegel in Goethes Übersetzung zugänglich; Goethe berichtet wiederum, dass ihm Diderots Manuskript von Schiller 1804 „anvertraut“ wurde, mit dem Zweck, diesen Text auf Wunsch von Göschen dem breiten Publikum in deutscher Übersetzung zugänglich zu machen (Johann Wolfgang von Goethe, Nachträgliches zu „Rameaus Neffe“ [1824], in: Denis Diderot, Rameaus Neffe. Ein Dialog, übers. von Johann Wolfgang Goethe, Nachwort von Günter Metken, Stuttgart 1984, S. 135 – 150, hier: S. 135). 335  PhG, S. 362 f. 336  Ebd., S. 384. 337  Rüdiger Bubner, Rousseau, Hegel und die Dialektik der Aufklärung, in: ders., Inno­ vationen des Idealismus, Göttingen 1995, S. 97 – 109, hier: S. 103. 338 Ebd.

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

inszeniert überhaupt einen neuen Typus des Menschen, dessen plurale und wan­ delbare Existenz einem Chamäleon gleicht.339 Die Anspielung auf Rameaus Wand­ lungsfähigkeit ist bereits in der Widmung zu dieser Schrift enthalten.340 Die Beto­ nung des Wandels verleitete Schneewind sogar zu der Ansicht, dass der Charakter von Diderots Neffen eigens dafür erschaffen wurde, La Mettries These über die Vielfalt zu illustrieren.341 Doch was die Vorlage für Diderots Satire auch gewesen sein mag, Hegels knappe Formulierungen über den Zustand der „Verwirrung“ schei­ nen dazu geeignet zu sein, ein individuelles Psychogramm zu skizzieren, welches durchaus dem einer postmodernen ironischen Existenz avant la lettre gleicht.342 Allerdings bleiben Ironie, insbesondere in ihrer Schlegelschen Fassung des sub­ jektiven Höhenflugs „im steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernich­ tung“,343 und der damit verbundene Genuss der Wandelbarkeit und Vielgestaltigkeit des „eigenen Soseins“344 Hegel immer suspekt.345 Die Operation der Umkehrung 339  Eine interessante Parallele zu Rousseaus Bekenntnissen zieht Robert Darnton, Rous­ seau in Gesellschaft. Anthropologie und der Verlust der Unschuld [1985], in: Ernst Cassirer/ Jean Starobinski/Robert Darnton, Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen, Frankfurt am Main 1989, S. 104 – 114, hier: S. 109: „Das mag schwer zu beweisen sein […]. Doch zwischen dem Antihelden von ‚Rameaus Neffe‘ und dem Helden der ‚Bekenntnisse‘ Rousseaus sehe ich einige schlagende Ähnlichkeiten: Beide waren Musiker; beide waren leidenschaftliche Schachspieler; beide waren halbverrückte Genies und spektakuläre Exzentriker; beide leb­ ten an den Rändern einer zivilisierten Gesellschaft und ernährten sich von den Brotkrumen vom Tisch der Reichen und Mächtigen; und beide untergruben die konventionelle Moral, indem sie erst ihre eigene Niedrigkeit bekannten und dann die Scheinheiligkeit der Konven­ tionen entlarvten, nach welchen sie verdammt wurden“. 340  In der Widmung wird Vertumnus erwähnt, der römische Gott des Wandels, der im­ stande war, jede beliebige Gestalt anzunehmen: „Vertumnis, quotquot sunt, natus iniquis – Geboren unter dem Zorn aller möglichen Vertumnen“ (Horaz, Satiren, II, 7, 14; vgl. auch Ovid, Metamorphosen, Buch XIV, 679 – 681). 341 Vgl. Schneewind, The Invention of Autonomy, S. 468. 342 Vgl. Jean-François Lyotard, der auf Diderots Rameaus Neffe in diesem Kontext Be­ zug nimmt: ders., La pensée post-moderne: Extrait de „Dialogues sur la condition post-mo­ derne avec Vincent Descombers“, produit par Roger Pillaudin (France-Culture, 18 décemb­ re 1979), in: Anthologie sonore de la pensée française par les philosophes du XXème siècle, CD 5, Track 4. 343  Friedrich Schlegel, „Athenäums“-Fragmente [1798/1799], in: ders., Kritische und theoretische Schriften, hrsg. von Andreas Huyssen, Stuttgart 1978, S. 76 – 142, hier: S. 82. 344  Michael Grossheim, Innerlichkeit und Entfremdung. Wege der Moderne nach der Aufklärung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55/5 (2007), S. 815 – 839, hier: S. 818. In seiner Buchkritik von Isaiah Berlins Die Wurzeln der Romantik verweist Grossheim dar­ auf, dass der mit der romantischen Figur der Ironie verbundene „Genuss der Plastizität bald zum Leiden an der Labilität werden kann, dass der ‚Kult des Ich‘ den Sprung in den ‚Kult des Wir‘ fördert“ – ein Umstand, den „Hegel [schon] an den Konversionen der Romantiker beobachtet“ habe (Grossheim, Innerlichkeit und Entfremdung, S. 821, Anm. 7). 345  Zur Verteidigung der ästhetischen Freiheit gegen Hegels „Missverständnis“ siehe Juliane Rebentisch, Hegels Missverständnis der ästhetischen Freiheit, in: Christoph Menke/ Juliane Rebentisch (Hrsg.), Kreation und Depression, Berlin 2010, S. 172 – 190.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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von Sachverhalten in ihr Gegenteil, die für das Phänomen der Ironie typisch ist, wird im Naturrechtsaufsatz zum wesentlichen Merkmal des Systems von Recht und Moral erklärt, das auf dem „Prinzip“ der „Einzelheit“346 gründet und für das die Reflexionslogik vorherrschend geworden ist. Am Schärfsten wird die Kritik an der Ironie allerdings später im Moralitätskapitel der Rechtsphilosophie vorgetra­ gen, wo Hegel eine geradezu vernichtende Bewertung formuliert: Als „abstruseste Form des Bösen“347 übertreffe die Ironie nicht nur die schlimmsten Übel wie Dop­ pelmoral, Heuchelei oder rigide Sturheit eines unerschütterlichen Glaubens an die Güte eigener Absichten und Überzeugungen, sondern führe letztlich sogar zu einer Zerstörung der Subjektivität selbst.348 Die Facetten der subjektiven Freiheit gegen Hegels Pauschalverdikt über die Moderne ins Feld zu führen und zu verteidigen, ist das eine. Wie steht es aber mit dem zweiten Punkt der Hegelschen Analyse, seiner Diagnose der Entpolitisierung und des Verfalls der Öffentlichkeit? Auch dieser Befund vermag nicht zu überzeu­ gen. Allein schon wenn man an die heterogene Öffentlichkeit des absolutistischen Staates denkt,349 wirkt Hegels Kritik an der Nivellierung aller Unterschiede de­ platziert. Es war ja das System des Absolutismus, das mit der Überwindung der ständestaatlichen Ordnung des Mittelalters und mit der Zentralisierung der Gewalt überhaupt erst Bedingungen schuf, unter denen die bürgerliche Gesellschaft als „indirekte Gewalt“ sich formieren konnte.350 Reinhart Koselleck spricht in diesem Kontext von der „Geburtskonstellation der neuen Elite“, die er in die Zeit der Regentschaft von Ludwig XIV. in Frank­ reich verortet.351 Die Heterogenität dieser neuen Gesellschaft, zu der Kaufleute, Bankiers, Steuerpächter und Geschäftsleute ebenso gehörten wie die Philosophen und Literaten der Aufklärung, schließlich auch die wachsende Schicht von Be­ amten und Richtern,352 ist verblüffend, von den vielfältigen Orten ihrer Öffent­ lichkeit – der Börse und den Kaffeehäusern, den Akademien und den Clubs, den Salons und den Bibliotheken, nicht zuletzt den literarischen Gesellschaften – ganz zu schweigen. Dies ist aber noch nicht alles. Denn alle diese auf den ersten Blick „völlig ‚unpolitischen‘“353 öffentlichen Versammlungsorte existierten parallel zum 346 

NR, S. 504. GPR, S. 265. 348  Vgl. ebd., S. 265 – 286, § 140. 349  Vgl. hierzu Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt [1959], Frankfurt am Main 1973; ferner Jürgen Habermas, Strukturwan­ del der Öffentlichkeit [1962], Frankfurt am Main 1990 und Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main 2004, insb. Teil II, S. 71 – 171. 350 Vgl. Koselleck, Kritik und Krise, 2. Kapitel, II, S. 49 ff. 351  Ebd., S. 49. 352  Ebd., S.  49 – 51. 353  Ebd., S. 53. 347 

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

„Geheimnis“ des „privaten Untergrunds“, den Freimauerlogen.354 Gerade Letzte­ re sind nach Koselleck ein Paradebeispiel dafür, dass soziale Gleichberechtigung der politischen vorauseilt: „Wie in den Salons vor den Frauen kein sozialer Rang­ unterschied galt, so behauptete sich auch in den Logen das Prinzip der égalité. ‚No­ blemen, gentlemen and working men‘ fanden hier Zutritt, und der Bürger gewann somit eine Plattform, auf der alle ständischen Unterschiede eingeebnet wurden.“355 Dieses „Organisationsprinzip“ der Logen, in denen „die soziale Gleichheit eine Gleichheit außerhalb des Staates“ war, verschaffte ihnen – und darin liegt nach Koselleck „das eigentliche Politicum der bürgerlichen Logen“ – eine relative „Frei­ heit vom bestehenden Staat“.356 Der Zusammenhang, den Koselleck hier am Beispiel der französischen Ge­ sellschaft aufdeckt, ähnelt strukturell Hegels Ausführungen über den Prozess der modernen Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Sphären, die sich dem kon­ struktiven Teil des Naturrechtsaufsatzes interpretatorisch entnehmen lassen. Auch Hegel beschreibt diesen Prozess als eine Freilassung aus der sittlichen Totalität – und damit als Gewinnung einer relativen Unabhängigkeit vom Staat. Die politische Dynamik dieses Autonomisierungsprozesses hat er mit dem Bild der „Tragödie im Sittlichen“ eingefangen, das – als Strukturformel für nachsittliche Verhältnisse aufgefasst – in Hegels eigene einseitige Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft notwendige Korrekturen einzutragen und eine neue Perspektive auf die gesell­ schaftlichen Prozesse zu eröffnen erlaubte. Neben Hegels einseitigem Urteil über die Nivellierung aller Unterschiede wirkt auch sein Verdikt über die apolitische Haltung der Bourgeois schief, wie es Kosellecks Analysen vor Augen führen. Denn gerade weil sich die heterogenen Gruppen der neuen Elite „in dem modernen Staat, der allein in der Person des absoluten Fürsten repräsentiert war, jeglicher politischen Entscheidungsfreiheit entblößt oder beraubt sahen“, wurde nicht der Rückzug ins Private, sondern der Wunsch nach politischer Emanzipation zum „verbindende[n] Element der neu­ en Gesellschaft“.357 Ferner weist Koselleck darauf hin, dass ausgerechnet diese Differenz, wenn nicht gar Gegenüberstellung zwischen Gesellschaft und Staat äußerste politische Sprengkraft entfalten sollte. Zwar hatte die „finanzkräftige“ Schicht im System des Absolutismus keinen Einfluss auf die Staatspolitik, doch waren Großkaufleute und Financiers die sozial mächtigen Geldgeber eines Staa­ tes, dessen Verschuldung bald auch politische Konsequenzen nach sich ziehen sollte. Koselleck zitiert Rivarol, der diese Situation in seinen Memoiren als die „Aus­ gangssituation der Französischen Revolution“ beschreibt: „Presque tous les sujets 354 

Ebd., S. 55 ff. Ebd., S. 57; Koselleck bezieht sich dabei auf „The Constitutions of Freemasons“ von 1723 (ebd., 2. Kapitel, II, S. 183, Anm. 49). 356  Koselleck, Kritik und Krise, S. 58 (Herv. T. S.). 357  Ebd., S. 49. 355 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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sont créanciers du maître […] qui est esclave comme tout débiteur“.358 Insofern verhält es sich mit der von Hegel diagnostizierten Apolitizität der bürgerlichen Schicht der Kaufleute durchaus komplizierter, als es vordergründig scheint. Sie gehörte, greift man Kosellecks Argument auf, sogar zu den Faktoren, die den Ab­ solutismus zu Fall brachten. Gerade „[i]n diesem Wechselverhältnis zwischen dem finanziellen Kapital, das in den Händen der Gesellschaft zugleich ein moralisches Guthaben war, und der finanziellen Verschuldung des Staates, der aus politischer Machtvollkommenheit, aber ganz unmoralisch, die Schulden verdeckte oder aus­ strich“, erkennt Koselleck „eine[n] der stärksten sozialen Impulse für die Dialektik von Moral und Politik“.359 Wichtig ist es allerdings, an dieser Stelle etwas zu Hegels Verteidigung zu be­ denken zu geben. Es ist zwar angedeutet worden, aber bisher dennoch weitgehend unterbelichtet geblieben, dass Hegels Kritik der modernen Gesellschaft nicht zu­ letzt staatsphilosophisch motiviert ist. Konsequenterweise sind es deshalb vor al­ lem die den Staat zersetzenden Folgen, die Hegel der apolitischen Haltung seiner „bürgerlichen“ Untertanen anlastet. Hegel hat dabei, wenn er die „politische Nulli­ tät“ des zweiten Standes angreift, nicht die Verhältnisse in Frankreich vor Augen, auf die sich Kosellecks Darstellung konzentriert, sondern den Zustand des Deut­ schen Reiches. Unter Rückgriff auf Lübbe-Wolffs Analysen wurde bereits betont, dass es Hegel bei seiner Naturrechtskritik in ganz entscheidendem Maße darum ging, den – streng genommen – vorstaatlichen Charakter der neuzeitlichen politi­ schen Organisation zu demonstrieren. Die Vorstaatlichkeit manifestiert sich nach Hegel aber, wie bereits erwähnt, bereits dann, wenn die Stände an wohlerworbenen Rechten, den jura singulorum, festhalten. Seine Polemik gilt also solchen Rechten, die – nicht zuletzt aufgrund des fehlenden Mehrheitsprinzips – ungehindert ge­ gen allgemeine Interessen des Landes und als Abwehrmittel gegen konstitutionelle Verfassungen eingesetzt werden konnten.360 Dies ist ein wichtiger Hintergrund, der es ermöglicht, den Eindruck einer vor­ modernen Orientierung des Naturrechtsaufsatzes zu revidieren. Bevor man Hegels Orientierung an der Antike vorschnell für historisch überholt erklärt und sein pole­ misches Bild der modernen Verhältnisse pauschal als nicht zutreffend verwirft, gilt es also, diese staatsphilosophische Motivation zu bedenken. Über den berechtigten staatsphilosophischen Einwand Hegels hinaus ist es allerdings auch noch aus ei­ nem anderen Grund lohnenswert, bei Hegels Krisendiagnostik zu verweilen. Denn die Kritik an der modernen Trennung von Moral und Recht erschöpft sich nicht in der Reflexion ihrer Auswirkungen auf die seelische Verfassung und das Verhalten von Individuen. Die eigentlich spannende Diagnose Hegels liegt tiefer, wie im Fol­ genden zu zeigen sein wird. Zit. nach Koselleck, Kritik und Krise, S. 51, vgl. auch 2. Kapitel, II, Anm. 26, S. 178. Ebd., S. 51. 360  Lübbe-Wolff, Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphilosophie, S.  439 – 442. 358 

359 

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

4.  Die Tiefenstruktur der Hegelschen Kritik Zieht man Bilanz, so ergibt sich folgendes Bild: Die Entstehung der neuzeit­ lichen Idee des Rechtsstaates sieht Hegel, anders als Hobbes, nicht als Resultat der konfessionellen Bürgerkriege, die es erforderlich machten, Gesinnungsfragen aus der politischen Herrschaft zu verbannen.361 Er geht viel weiter zurück und betrachtet die abseits der Politik gerückte moderne bürgerliche Lebensform „als das welthistorische Resultat des Römischen Reichs und römischen Rechts“.362 In der römischen Zeit gelingt es Hegel zufolge, dem „Prinzip der Allgemeinheit und Gleichheit“ zur Durchsetzung zu verhelfen363 und dessen Kompatibilität mit dem „formale[n] Rechtsverhältnis, welches das Einzelnsein fixiert und absolut setzt“, zu sichern.364 Hegels Beschreibung der Folgen dieser Entwicklung ist Ausdruck der Kritik und der frühen Krise des modernen Gleichheitsgedankens gleichermaßen, die sich später noch in verschiedenen Variationen – bei Tocqueville, Nietzsche, Arendt, Benjamin und Adorno, um nur einige wenige zu nennen – wiederholen wird.365 Wie offenkundig geworden sein dürfte, gilt Hegels Kritik jedoch nicht der Idee der Gleichheit selbst, sondern vielmehr der moralisch-juridischen Durchsetzung dieser Idee. Denn unter der Dominanz des römisch-bürgerlichen Rechtszustands – so kann die Grundthese von Hegels Krisendiagnostik formuliert werden – bildet sich eine politische Kultur heraus, in der der Einzelne juridisch zu einer bloßen Einzelheit und moralisch zu einer bloßen Besonderheit depotenziert zu werden droht. Der Einzelne wird gleichsam zu einem Exemplar inmitten der allgemein gelebten bürgerlichen Moral. So sieht Hegel auch in den Aspirationen der univer­ salistischen Moral ausschließlich die Interessen der bürgerlichen Schicht vertreten und ihre Vorstellungen reproduziert. Wenn er die bürgerliche Schicht jedoch zu­ gleich als eine Gruppe bezeichnet, „für welche die Differenz der Verhältnisse fest ist und welche von ihnen abhängt und in ihnen ist“,366 dann macht er darüber hinaus noch auf den Umstand aufmerksam, dass die Moral dieser Gruppe selbst rechtsförmig verfasst und auf „relative Einheit“ bezogen sein muss, um den Fortbestand des „Systems“ zu sichern. Eine solche „bürgerlich“ genannte Moral des inneren Zwangs wird für Hegel zum Pendant des äußeren Zwangs des Rechts. Diese Feststellung enthält eine wichtige Beobachtung über die Modalität der Hegelschen Kritik selbst: Die Kritik der bürgerlichen Lebensform muss mit der Kritik am Formalismus des Rechts koinzidieren. In der Kritik steht ein Recht, das nach Maßgabe von Allgemeinheit und Gleichheit die besonderen Fälle unter das Vgl. dazu Koselleck, Kritik und Krise, 1. Kapitel, insb. S. 17 – 39. Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, S. 51. 363  NR, 492. 364  PhG, S. 355 ff. 365  Zur „Befragung“ dieser normativen Idee der Moderne und zu ihrer „Kritik […] am Maßstab der Individualität“ siehe Menke, Spiegelungen der Gleichheit. 366  NR, S. 506. 361 

362 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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Gesetzesallgemeine subsumiert, ein Recht, für welches „der Ausdruck dieser in die Form [der reinen Einheit] aufgenommenen Bestimmtheit […] das Gesetz [ist]“.367 Mit anderen Worten findet die Nivellierung der Verhältnisse, die von Hegel beklagt wird, ihren Ausdruck in derjenigen Gestalt des Rechts, deren Funktion darin be­ steht, zu subsumieren, vom abstrakten Allgemeinen ausgehend die Einzelfälle dem Gesetz unterzuordnen. Dieser Gesetzesform korrespondiert ein Verständnis von Freiheit, das Hegel in seiner elaboriertesten Form in Kants Moral- und in Fichtes Rechtsphilosophie fin­ det. Aus Hegels Sicht übertreffen Kant und Fichte dabei sogar die anderen „Sys­ tem[e], welche antisozialistisch heißen und das Sein des Einzelnen als das Erste und Höchste setzen“, indem sie diese Systeme zur „reine[n] Abstraktion“368 stei­ gern. Dessen ungeachtet besteht für Hegel kein Zweifel darüber, dass Kants und Fichtes Positionen sich durch einen besonderen Grad von Komplexität auszeichnen. Jeder Kritiker findet sich hier vor besondere Herausforderungen gestellt, zumal der Gesetzesbegriff in Kants und in Fichtes Philosophie mit der Idee der Autonomie des Individuums genuin verklammert wird. In Anbetracht dessen, dass Hegel selbst das „Einssein der allgemeinen und der individuellen Freiheit“369 fordert und die „Rechtfertigung des Einzelnen als Bestehenden“ sogar zur eigentlichen Aufgabe einer philosophischen Rechtslehre erklärt, stellt sich umso mehr die Frage, weshalb sich Hegel so vehement gegen Kants und Fichtes Entwürfe ausspricht. Einen der Angriffspunkte bildet die von Hegel unterstellte Absolutheit des Ge­ setzes. So wendet Hegel gegen Fichtes „System der Legalität“ ein, dass dieses System beide voneinander getrennten Größen – „das leere Sittengesetz“ und das Subjekt als Vernunftwesen bzw. „die allgemeine Freiheit aller“ und die „einzeln[e] Freiheit“ – nur „äußerlich“, durch „Zwang“ vereinigen kann.370 Die Vereinigung durch Zwang basiere aber auf der Voraussetzung, dass „Treu und Glauben verlo­ rengehe“.371 Diese Feststellung übernimmt Hegel wörtlich aus Fichtes Grundlage des Naturrechts (1976).372 Auf den ersten Blick scheint Hegel damit auf etwas Evi­ dentes hinzuweisen – auf den Umstand, dass das Vertrauen und die Verlässlichkeit von intersubjektiven Bindungen in dem Maße, wie das „System der Legalität“ sich positiviert und von der Evidenz des Sittlich-Guten gleichsam abkoppelt, neue For­ men annehmen muss. Mithin ist durch den Verweis auf den „Verlust von Treu und Glauben“ die Frage aufgeworfen, wie sich der Rechtsformalismus auf die gelingenden Formen von So­ zialität auswirkt. Mit der Rede von „Verlust“ scheint Hegel an eine Schicht des So­ zialen erinnern zu wollen, die gleichsam rechtsförmig verdrängt zu werden droht. 367 

Ebd., S. 460. Ebd., S. 454. 369  Ebd., S. 471. 370 Ebd. 371 Ebd. 372  Ebd., Anm. 5. 368 

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

Für diese Lesart ist insbesondere Andreas Wildt eingetreten, der den Gesetzesab­ solutismus, der für den Rechtsformalismus charakteristisch ist, gerade aufgrund seiner negativen Folgen für soziale Praxis für besonders problematisch erklärt hat: Der Absolutismus des Gesetzes sei deshalb gefährlich, weil er einen bestimmten Bereich dieser Praxis – und zwar nichts Geringeres als die im Vollzug begriffene Sozialität selbst – zum Verschwinden bringt. Für das Recht werde sie jedenfalls gänzlich unthematisch. In der Tat verhält sich das formale Recht gegenüber den genuin sozialen Bezie­ hungen zwischen Einzelnen als Individuen völlig indifferent, wie auch umgekehrt Beziehungen genuin sozialer Natur mit streng gesetzeskonformem Verhalten we­ nig gemein haben. Wildt schlägt daher vor, Beziehungen der Freundschaft, der Lie­ be und überhaupt alle Beziehungen, die mit altruistischen Neigungen verbunden sind, als „vordeontologisch“ zu bezeichnen. Dieser Terminus sei aber nicht zuletzt deshalb so passend, weil Beziehungen dieser Art nicht nur moralisch und rechtlich neutral sind, sondern vielmehr sogar gänzlich außerhalb der Logik von morali­ schen Forderungen und rechtlicher Einklagbarkeit stehen.373 Um den spezifischen Charakter von altruistischen Phänomenen, supererogatorischen Verpflichtungen, Idealen der Heiligkeit und der Liebe herauszustellen, radikalisiert Wildt diesen Gedanken sogar noch weiter, indem er behauptet, dass solche Phänomene „sich prinzipiell jeder legitimen Institutionalisierung [entziehen]“.374 Damit zieht Wildt allerdings eine entweder ganz und gar unhegelianische Konsequenz oder aber er geht von einem viel zu engen Begriff von Institution aus. Vergewissert man sich noch einmal der verstreuten Momente von Hegels Kritik, so scheint Hegel zu suggerieren, dass der Sphäre der gelingenden intersubjekti­ ven Beziehungen seitens des formalen Rechts schon deshalb keine Gerechtigkeit widerfahren kann, weil solche Beziehungen formalrechtlich irrelevant sind und vom Recht zunächst gänzlich unbeachtet gelassen werden. Noch deutlicher kommt diese Überlegung in der Phänomenologie des Geistes zum Ausdruck. Dort schreibt Hegel im Abschnitt „Der Rechtszustand“: „Das Allgemeine, in die Atome der ab­ solut vielen Individuen zersplittert, dieser gestorbene Geist ist eine Gleichheit, worin Alle als Jede, als Personen gelten.“375 Unter diesen Vorzeichen könne aber nur „dieses spröde Selbst“376 – gewissermaßen als Derivat des Abstrakt-Allgemei­ nen – Anerkennung finden. Besonders pointiert bringt Hegel diese Überlegung zum Ausdruck, wenn er schreibt: „[E]in Individuum als eine Person bezeichnen ist Ausdruck der Verachtung.“377 Die Rede von „Verachtung“ ist dabei durchaus wört­ lich zu nehmen: Person zu sein, ist selbstverständlich keine Beleidigung, nur wird 373  Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 17, vgl. auch insgesamt die „Einführung“, S.  11 – 23. 374 Ebd., S. 17. 375  PhG, S. 355. 376 Ebd. 377  Ebd., S. 357.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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in dieser juridischen Eigenschaft als Person auf die Individualität des Menschen gerade nicht geachtet. Die Individualität des Einzelnen (dieses Einzelnen) bleibt unthematisch, als konkrete befindet sie sich außerhalb des Rechts und bleibt vom Recht unberührt. Verbindet man diese Überlegungen mit Hegels Kritik, so müsste man es bei­ nahe für trivial halten, wenn im Ergebnis lediglich zu konstatieren wäre, dass die Verhältnisse zwischen den Individuen sich im Zuge eines umfassenden Verrecht­ lichungsprozesses von der Vertrautheit der „anschaulich“ gegebenen Beziehungen zunehmend wegbewegen und man den Verlust von „Treu und Glauben“ nunmehr als Verlust von Lebendigkeit zu beklagen hätte. Stellt man jedoch in Rechnung, dass Hegel das „Einssein der allgemeinen und der individuellen Freiheit“378 for­ dert, so ist es evident, dass sich die Frage nach gelingenden Formen von Sozialität zugleich mit der Frage nach einem bestimmten Anforderungsprofil verbindet, das diese Sozialitätsformen zu erfüllen hätten. Gelingende soziale Beziehungen sind demnach sehr wohl durch einen normativen Zug gekennzeichnet: In ihnen reali­ siert sich eine gelingende Weise der Verbindung. Streng genommen genügt es für diese Verbindung indes nicht, sich auf eine Weise zu realisieren, dass individuelle Autonomie und allgemeine Orientierungen darin nicht (oder nicht mehr) im Widerspruch zueinander stehen. Es muss sich um eine stärkere Verbindungsfigur handeln, um eine Verbindung, die es den Indivi­ duen allererst erlaubt, ihre Verpflichtungen nicht als äußerlichen, mit Sanktionen überzogenen Zwang wahrzunehmen, sondern als genuine Erfahrung von Freiheit zu erleben. Erst wenn die Frage nach Sozialität und nach Individualität, die sich als „öffentlich“ handelnde versteht, so gestellt wird, dass sie diese normative Aufgabe zugleich mitträgt, wird sie dem Initialimpuls der Hegelschen Naturrechtskritik – der es um die philosophische „Rechtfertigung des Einzelnen als Bestehenden“ zu tun ist – wirklich nahekommen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es sich erklären lässt, dass Hegel im Naturrechtsaufsatz eine weitaus radikalere These zu vertreten scheint, als es die einschlägigen Beobachtungen über den „Rechtszustand“ in der Phänomenologie nahelegen. Im Naturrechtsaufsatz wird suggeriert, dass das Zwangssystem des Rechts genuin intersubjektive Formen des Sozialen nicht einfach nur unberührt lässt, sondern gelingenden intersubjektiven Beziehungen überhaupt im Wege steht oder sie sogar gefährdet. Hegels Polemik gegen Fichte ist in diesem Zusammen­ hang aufschlussreich: In seiner Schrift Grundlage des Naturrechts hat Fichte den Begriff des Rechts als „Bedingung des Selbstbewußtseins“ transzendentalphiloso­ phisch rekonstruiert und es für schlicht undenkbar erklärt, dass Intersubjektivität sich außerrechtlich konstituieren, dass es sie außerhalb des Rechts überhaupt ge­ ben könnte. Im Lichte der Polemik gegen Fichte mag Hegels Bezugnahme auf Fichtes eigene Rede von verlorengegangenem „Treu und Glauben“ nun auch noch anders als bis­ 378 

NR, S. 471.

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

her gedeutet werden. Es ist nicht zwingend, diese Formel mit vertrauensvollen zwi­ schenmenschlichen Beziehungen, die rechtlich unbeachtet gelassen oder gar ver­ drängt werden, in Verbindung zu bringen, wie es bislang im Anschluss an Andreas Wildt diskutiert wurde. Dass Hegel über den Verlust von Treu und Glauben spricht und diesen Verlust als implizite „Voraussetzung“ des rechtlichen Formalismus the­ matisiert, kann ebenso sehr darauf hindeuten, dass die Form des modernen Rechts so verfasst ist, dass im Recht die ursprüngliche Gewalt des Konflikts schlicht aus­ geblendet – und nicht etwa, um es in der Sprache des reiferen Hegel zu sagen, darin „aufgehoben“ – werde. In der Tat wird man faktisch erst dann Zuflucht zum formalen Recht nehmen, wenn zwischenmenschliche Beziehungen scheitern oder irrelevant werden und „persönliche“ oder direkte Wege der Konfliktbeilegung nicht mehr greifen. Wie Wildt treffend bemerkt, „kann der Formalismus seine Wurzel nur in defizienten Formen von Intersubjektivität haben“.379 Formales Recht erwächst nicht aus ge­ lingenden, sondern aus scheiternden sittlichen Beziehungen, nicht aus Einigung, sondern aus Konflikt, der erst eine Einigung erzwingt. Der „Begriff des Rechts [hat] da seine Rolle“, so Wildt, „wo zwischen unvereinbaren Bedürfnissen begrün­ det entschieden werden soll, daß alle dem rational zustimmen können.“380 Der Ursprung des Rechts in Konflikt, Leid und Not wird jedoch durch den rationalen Konsens verdeckt. Einmal etabliert, tendiert formales Recht dazu, reale Konflikte, Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse zu verdecken. Damit lässt sich eine weitere Implikation markieren, die aus der Überführung des Konflikts in recht­ liche Termini resultiert: Sie hängt damit zusammen, dass es unklar bleibt, ob die Auflösung des Konflikts in Begriffe des Rechts die Gewalt zu überwinden vermag oder ob die rechtliche Form der Konfliktlösung nicht vielmehr selbst einen neuen Typus von Gewalt etabliert.381 Es ist der Verlust von intakten Beziehungen, der zum Anlass für rechtliche Handlungen wird. Zugleich verdankt sich die Etablierung des Rechtssystems der Verdrängung des vorausgegangenen Konflikts und damit der Verdrängung seiner eigenen Voraussetzung. Aus diesem Grund, so lässt sich Hegels Einwand gegen Fichte deuten, vermag das „System der Legalität“ in seiner positivierten Gestalt die Perspektiven der „einzelnen“ und „allgemeinen“ Freiheit nur äußerlich – dem Schein nach – zu vereinigen. Das „System der Legalität“ tritt diesen beiden Frei­ heitsperspektiven buchstäblich als ein Außen entgegen. Dergestalt wird aber eine bestimmte Art von Beziehungen für das Recht gleichsam unsichtbar: Es sind ge­ rade solche Beziehungen, in denen Einzelnes und Allgemeines nicht (oder nicht mehr) im Widerspruch zueinander stehen, Beziehungen, in denen einzelne und allgemeine Perspektiven sich nicht mehr nur äußerlich, sondern auch innerlich – auf eine authentische Weise – verbinden können. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 104. Ebd., S. 143. 381  Siehe hierzu Christoph Menke, Recht und Gewalt, Berlin 2011. 379 

380 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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Hegel bringt diesen Gedanken folgendermaßen zum Ausdruck: „Indem hiermit diese Äußerlichkeit des Einsseins“, des „Systems der Legalität“ durch das Zwangs­ recht „schlechthin fixiert und als etwas absolutes Ansichseiendes gesetzt ist, so ist die Innerlichkeit, die Wiederaufbauung des verlorenen Treu und Glaubens, das Einssein der allgemeinen und der individuellen Freiheit und die Sittlichkeit unmög­ lich gemacht.“382 Das „System der Legalität“ kehrt sich gleichsam gegen diejenigen Formen von Sozialität, in denen „allgemeine“ und „individuell[e] Freiheit“ sich verbinden, in denen sie „eins“ sein können. Die stärkere rechtskritische Aussage lautet demnach, dass das Rechtssystem in seiner Gestalt als ein System äußeren Zwangs freie Beziehungen gar „unmöglich“ mache. An dieses Urteil schließen eine Reihe von Fragen an: Worin sind die verunmöglichenden Wirkungen zu sehen? Wie wäre demgegenüber die sogenannte „Wiederaufbauung des verlorenen Treu und Glaubens“ zu denken? Und was könnte überhaupt mit „Wiederaufbauung“ ge­ meint sein? Diese Fragen lassen sich so schnell nicht klären, zumal Hegel selbst darauf keine Antwort gibt. Ein Klärungsversuch lässt sich allerdings dennoch unterneh­ men, wenn man erneut an Hegels theoretisch innovativen Vorschlag erinnert, den Zustand der modernen Krise als das Resultat der vorangegangenen Umwälzung der antiken Sittlichkeit zu begreifen. Damit steht die Genese oder der Prozess der Gesellschaftsbildung im Unterschied zur Polis im Mittelpunkt. Bevor aber über die mögliche Logik dieser Genese ausgehend von Hegels Naturrechtsaufsatz nach­ gedacht wird, sei noch einmal daran erinnert, dass die von Hegel diagnostizier­ te Krise politischer Freiheit sich letztlich als eine doppelte Krise offenbart hat: Hegel sieht die sittlich-substantielle Normativität des Freiheitsbegriffs der antiken Stadtstaaten in einem Gegensatz zur spezifischen Normativität der modernen bür­ gerlichen Gesellschaft von Gleichen, die zwar universale Gültigkeit für sich bean­ sprucht, aber privatrechtlich verkürzt ist. Diese Kontrastierung hat aber vor Augen geführt, dass beide Formationen des Sittlichen letztlich in eine Sackgasse führen: Um es plakativ zu sagen, verfehlt sowohl der „bürgerliche Robinson“ als auch die „monolithische Volksglückselig­ keit“383 den Begriff politischer Freiheit. Die antike Gestalt des Sittlichen vermag nach Hegel die Individualität des Volkes, nicht die des Einzelnen zu denken. Für die moderne Ordnung des Sittlichen gilt, dass sie die Sphäre der arbeitsteilig or­ ganisierten Bedürfnisbefriedigung absolut setzt. Verabsolutiert man diese Sphäre, für die Konkurrenz- und Abhängigkeitsverhältnisse konstitutiv sind, für deren Re­ gelung – oder, wie Hegel sagt, „Idealisierung“ – ein Rechtssystem unerlässlich ist, dann drohen aber die Individuen abstrakt (das heißt: bloß partikular) zu werden und sich von sich selbst und von der Welt zu entfremden. Sie werden in letzter Kon­ sequenz, wie es Andreas Reckwitz für das Subjekt in der Postmoderne formuliert

382 

NR, S. 471 (Herv. T. S.). Becker, Die Hegemonie der Moderne, S. 121.

383 Vgl.

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

hat, zu leeren „ästhetisch-ökonomischen Doubletten“,384 wobei die postmoderne Ordnung durchaus als eine späte Entwicklung desselben Prozesses betrachtet wer­ den kann – eines Prozesses, der sich im Anschluss an Hegels Kritik als das Resultat eines umfassenden Verrechtlichungsprozesses rekonstruieren lässt. Die Krise der Beziehungslosigkeit, die bisher unter dem Stichwort „Verlust von Treu und Glauben“ diskutiert wurde, offenbart sich mithin als das Resultat einer doppelten Krise: Die Krise der bürgerlichen Gesellschaft muss laut Hegel mit der nivellierenden Ausdehnung des „zweiten Standes“ in Verbindung gebracht werden. Die Glorifizierung der politischen Freiheit der Polisbürger in der Antike findet wiederum daran ihre Grenze, dass sie die Ungleichheit zur wesentlichen Voraussetzung hat. Sucht man dieses von Hegel dargebotene Szenario konsequent weiterzudenken, so scheint es evident zu sein, dass sowohl die antiken „lebendig freien“ Verhältnisse als auch die „formell freien“ des römisch-bürgerlichen Rechts­ zustands in Wahrheit Extrempole eines Zusammenhangs bilden, der auf das eigent­ liche Problem verweist: den Mangel des Verhältnisses, der Beziehung, und damit auf ein unzureichendes Verständnis von Sozialität und von sozialer Praxis als Ort der Verwirklichung von Freiheit. Dieser Zusammenhang hat aber seinen eigenen doppelten Ursprung – in der Entstehung der Gesellschaft in Absetzung von der Polis und in der Transformation der Gerechtigkeit. Diese beiden Prozesse – der Prozess der Gesellschaftsbildung385 und die Transformation der Gerechtigkeit – sind für Hegel auf komplexe Weise verklammert. Im Folgenden wird zu überlegen sein, wie diese beiden Prozesse jeweils zu denken sind und in welchen Punkten sie sich berühren.

V.  Hegels Innovationen 1.  Das Zugleich von Mensch und Bürger Hegels Ausführungen ließ sich entnehmen, dass man von der Gesellschaft im Unterschied zur Polis erst dann sprechen kann, wenn persönliche Abhängigkeiten aus der Sphäre des oíkos und des Familienverbands heraustreten und in den öffent­ lichen Bereich übergehen. Den entscheidenden Umbruch, der die „unbefangene“ Sittlichkeit der Polis transformiert hat, beschreibt Hegel, wie bereits gezeigt, als den Prozess der Vermischung der Stände. Die Entstehung der Gesellschaft löst den Zustand eines Neben- und Gegeneinanders der Stände ab. Dieser Ablösungspro­ 384  Vgl. den Titel des Kapitels 4.2. „Das Subjekt der Postmoderne als ästhetisch-öko­ nomische Doublette (seit 1980)“ in Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S.  500 – 630. 385  Von „gesellschaftsbildenden“ Anerkennungskämpfen spricht mit Bezug auf Hegels Jenaer Geistphilosophie Christoph Menke, „Anerkennung im Kampfe“, S. 497 ff., wobei zum bildenden Aspekt die Hinsichten auf Gesellschaftsveränderung, -differenzierung und -erhaltung noch hinzukommen.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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zess lässt sich so denken, dass gerade durch das Aufeinandertreffen des Allgemei­ nen und Besonderen die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, dass sich ein Verständnis für Einzelnes und Individuelles bildet. Dies erlaubt zwei Feststellun­ gen: Zum einen öffnet sich der Blick dafür, dass mit dem Übergang von der Polis zur Gesellschaft die Form der persönlichen Abhängigkeit allgemein geworden ist bzw. sich gleichsam verallgemeinert haben muss. Und zum anderen gibt uns He­ gel eine Ahnung davon, wie durch diese neue Form der Abhängigkeit Einzelner von Einzelnen ein Transformationsprozess in Gang gesetzt wurde, in dem die zwi­ schenmenschlichen Beziehungen nunmehr unversehens dem Urteilskriterium der Gerechtigkeit ausgesetzt waren. Zunächst stellt sich die Frage, was geschieht, wenn sich persönliche Abhän­ gigkeiten, die bislang in dem Herrschaftsbezirk des oíkos ihren Ort hatten, auf den öffentlichen Bereich ausdehnen. Dieser Vorgang ist wichtig, schuf er doch, wie sich im Anschluss an Hegel feststellen lässt, überhaupt erst Voraussetzungen dafür, dass sich eine neue Art von Anerkennungsverhältnissen etablieren konnte. Denn auf diese Weise konnten besondere Einzelne auch außerhalb der Intimität der Familie als konkrete Einzelne wahrgenommen und anerkannt werden. Darin ist allerdings zugleich ein Potential angelegt, das über diesen Vorgang hinausweist, weil der Einzelne auf diese Weise überhaupt zum ersten Mal als Einzelner in den Blick rückt, als ein solcher, dessen Individualität sich nicht darin erschöpft, auf einen bestimmten „Stand“ festgelegt zu sein oder, moderner gesprochen, eine be­ stimmte soziale Rolle zu erfüllen. Die besondere Brisanz dieser Herauslösung des Einzelnen aus vorbestimmten Festlegungen muss jedoch auf der Ebene ihrer jewei­ ligen Implikationen gesucht werden, zum Beispiel darin, dass der Einzelne für den transformierten öffentlichen Bereich selbst nicht mehr ausschließlich als Repräsentant des Allgemeinen relevant wird. Damit wird aber die Logik der Repräsentation überhaupt sukzessive infrage gestellt. Dies wäre die radikalere Konsequenz aus Hegels Rückführung der modernen Krise politischer Freiheit auf ihren Ursprung in der Antike. In dieser Hinsicht hebt sich Hegels Position sowohl von Rousseau als auch von Marx deutlich ab. Tatsächlich ist in Hegels Ausführungen eine ganz eigene Antwort auf das Pa­ radox der Gesellschaftsbegründung systematisch angelegt, ein Paradox, das von Rousseau wohl am deutlichsten aufgeworfen wurde und später von Marx in modi­ fizierter Form wieder aufgegriffen worden ist. Auf die entscheidende Rolle Rous­ seaus bei der Formulierung dieses Paradoxes hat Robert Pippin hingewiesen: Über­ haupt sei es Rousseau, dem sich die Überlegung verdanke, dass die Entstehung der Gesellschaft mit dem Prozess des Öffentlichwerdens von zuvor persönlichen Abhängigkeiten verbunden sei. Mit dieser These macht Pippin zunächst auf eine besondere Art von persönlicher Abhängigkeit aufmerksam, die in dieser Form als ‚Paradoxie‘ des gesellschaftlichen Zustandes überhaupt erst in Erscheinung tritt: „Rousseaus Paradox“ bestehe darin, dass die Einzelnen, sobald sie sich vergesell­ schaften, das Grundgefühl ihrer Existenz, das zuvor noch als das jeweils Eigene galt, mit einem Male als von anderen abhängig erfahren. Der Akt der Befreiung aus

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

gesellschaftlich generierten Formen von Abhängigkeit verdanke sich jedoch einem politisch-legislatorischen Akt der Preisgabe des Selbst an den allgemeinen Willen, an den Staatsverband. Erst dieser paradoxale Zwang zur bürgerlichen Freiheit ver­ mag den Menschen in Rousseaus Entwurf von persönlichen Abhängigkeiten und Bindungen freizusetzen.386 Die Befreiung aus der Abhängigkeit von anderen kann nach Rousseau, mit an­ deren Worten, nur durch die Preisgabe der individuellen Freiheit zugunsten der Bindung an die volonté générale geschehen. Vor der Folie dieses legislatorischen Freiheitsverständnisses wird es jedoch unmöglich, eine Gesellschaft zu denken, in der persönliche Beziehungen zwischen Individuen zugleich öffentlich – und damit von politischer Qualität und Relevanz – sein könnten. Vielmehr wird man die Di­ chotomie zwischen ‚privat‘ und ‚öffentlich‘, zwischen ‚bourgeois‘ und ‚citoyen‘, zwischen ‚Gesellschaft‘ und ‚Gemeinschaft‘ unter der Ägide des ‚Zwangs zur Frei­ heit‘ nur fortschreiben können. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass der Unterscheidung von ‚Gesellschaft‘ und ‚Gemeinschaft‘ in Rousseaus Werk eine so fundamentale Bedeutung zukommt. Auf die Zentralität dieser Differenz für Rousseau hat Ernst Cassirer hingewiesen, indem er die Ausgangsfrage von Rousseaus Contrat social folgendermaßen reformuliert hat: „Wie können wir eine echte und wahrhafte menschliche Gemeinschaft aufbauen, ohne damit den Übeln und der Verderbnis der konventionellen Gesellschaft zu verfallen?“387 Die spezi­ fische Wertung, die Rousseau vornimmt, tritt hier unverkennbar deutlich zutage. Das Dilemma wirkt lange nach und lässt sich noch in Marx’ Distinktion zwi­ schen Bourgeois und Citoyen deutlich wahrnehmen. Marx weist auf die Differenz des Menschen in sich selbst hin, auf seine interne Spaltung in ein Individuum als diesen und einen Staatsbürger. Doch auch die von Marx geforderte Ergänzung der staatsbürgerlichen, politischen Emanzipation durch die menschliche führt nicht aus dem Mangel an Konkretion heraus. Die in Marx’ Entwurf geforderte Befrei­ ung von der Kategorie der Privatperson, von der Bourgeoisie, die sich über den Mechanismus der sozialen Partikularisierung in Klassen differenziert, fällt damit zusammen, dass das Proletariat sich ausbildet. Doch der Proletarier ist für Marx ebenso wenig ein konkreter dieser wie der Bourgeois, insofern er nämlich nur ein Repräsentant des Menschen ist. 386 Zu „Rousseau’s paradox“ siehe Robert Pippin, Idealism as Modernism. Hegelian Variations, S. 95: „Once we are socialized, the very sentiment of our own existence, so thoughtlessly esteemed by us, in which we take so much pride, is not ours, but depends on others. However, to be dependent on the civic unit or state, on the whole as general will, is not to be dependent on others, but, finally and truly, on ourselves“ sowie ebd., Anm. 7: „This is the infamous, paradoxical claim of the Social Contract, bk. I, ch. 7, that such a ‚giving of each citizen to the country,‘ or the ominous ‚forcing him to be free,‘ ‚ensures him against all personal dependence‘.“ 387  Ernst Cassirer, Das Problem Jean Jacques Rousseau [1932], in: ders./Jean Starobinski/ Robert Darnton, Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen, Frankfurt am Main 1989, S. 7 – 78, hier: S. 22.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

137

Was seine politische Anthropologie betrifft, so denkt Marx in den Bahnen Rousseaus, dem das Verdienst zukommt, dieses Dilemma, wie man Mensch und Bürger zugleich sein kann, als Erster in aller Schärfe erkannt zu haben. Die Frage nach dem Zugleich von Mensch und Bürger zieht sich durch Rousseaus Werk. So wird sie im Émile, in dem es durchweg um das Problem der Dichotomie zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen Freiheit und Gewohnheit oder gesellschaftlicher Konditionierung geht, überhaupt als das Grunddilemma der Erziehung diskutiert: „Wenn man einen Menschen für andere erzieht, statt für sich selbst? Dann ist Über­ einstimmung unmöglich. Man bekämpft dann entweder die Natur oder die sozialen Einrichtungen und muß wählen, ob man einen Menschen oder einen Bürger erzie­ hen will: beides zugleich ist unmöglich.“388 Für Hegel muss aber beides möglich sein, wenn politische Freiheit keine leere Formel bleiben soll. Neben Hegels Opposition gegen Staatsvertragsdenken mag darin mithin ein weiterer, tiefer liegender Grund zu sehen sein, weshalb Hegel Rousseaus Lösung des Problems von gesellschaftlichen Abhängigkeiten, die der Freiheit des Einzelnen im Wege stünden, für nicht befriedigend hält. Fest steht: Mit der politisch-legislatorischen Lösung kann Hegel nicht einverstanden sein, wie vor ihm schon prominent Schiller, der Rousseau in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen gerade in diesem Punkt der Sozialitätsorientierung vehement widerspricht.389 Die Frage bleibt aber bestehen, wie die Möglichkeit des Zugleich von Mensch und Bürger – nunmehr ausgehend von Hegel – gedacht wer­ den kann. 2.  Die Freisetzung von Individualität Mit der Figur des komplexen ‚Einsseins‘ von individueller und öffentlicher Frei­ heit scheint Hegel einerseits die Entzweiungsoption von vornherein auszuschlie­ ßen. Andererseits und zugleich wird im Naturrechtsaufsatz die Forderung ausge­ sprochen, Individualität im Konnex mit einer Sozialität anderer Art zu denken. Wie vage und unspezifisch die Rede von Sozialität vorerst auch bleibt, zeichnet sich zumindest ab, dass sie deshalb ‚von anderer Art‘ sein muss, weil sie mit der Unterscheidung von Bourgeois und Citoyen bricht. Ebenso wenig kann sie die Trennung von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ auf die herkömmliche Weise fortschreiben. Nachdem das Auseinandertreten der privaten und der öffentlichen Sphäre gera­ de als eine der Ursachen des modernen Problems der Beziehungslosigkeit in der bürgerlich-rechtlichen Kultur identifiziert worden ist – darauf hat Hegel im Na­ turrechtsaufsatz wie indirekt auch immer hingewiesen –, gilt es, die Hinsichten von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ in ein spezifisch neues, noch näher zu bestimmendes Verhältnis zueinander zu überführen. 388  Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung [1762], übers. und hrsg. von Ludwig Schmidts, 13. Aufl., Paderborn 1998, I. Buch, S. 12. 389 Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, insb. die Briefe 10 und 26.

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

Hegels Kritik lässt sich so verstehen, dass die bürgerlich-liberale politische Kultur durch das Auseinandertreten von privater und öffentlicher Sphäre einer gegenläufigen Bewegung ausgesetzt wird. Einerseits werden die Unterschiede im Öffentlichen eingeebnet, andererseits aber – gleichsam im Rahmen eines begriffs­ notwendigen Parallelvorgangs – die Partikularismen im Privaten freigesetzt. Diese Freisetzung des Partikularen, die bereits von Hegel kritisch angemahnt worden ist, charakterisiert noch heute die modernen Massengesellschaften: „Die sogenann­ te Massengesellschaft“, so Hermann Lübbe, „ist in Wahrheit die Gesellschaft der massenhaft freigesetzten Individualismen.“390 Ähnlich äußert sich Axel Honneth, der darauf hinweist, dass Hegels Rechtsphilosophie gerade angesichts der gegen­ wärtigen gesellschaftsdiagnostischen „Behauptung einer bedrohlichen Individua­ lisierung“ besondere Aktualität zukomme.391 Die gegenwärtigen Diagnosen verbinden sich meist mit der Klage über die De­ formierung von genuinen Formen von Solidarität und Verbindlichkeit. Vor diesem Hintergrund erhält die Fragestellung, wie Sozialität zu denken ist (die hier ausge­ hend von Hegels Naturrechtsaufsatz entwickelt wurde), umso mehr Relevanz. Al­ lerdings wählt Hegel im Naturrechtsaufsatz einen völlig eigenen Zugang zu dieser Frage, der deutlich macht, dass altruistische Verhaltensweisen und Rufe nach mehr Solidarität gerade für das Problem des Juridismus keine Lösung bieten können. Vielmehr gilt sogar das Gegenteil: Trotz aller Kritik am Formalrecht hält Hegel da­ ran fest, dass es immer noch das Recht ist, von dem ausgegangen werden muss. Das eigentliche Novum von Hegels Ausführungen liegt aber darin, dass die Perspektive auf das Recht sich mit der Idee des soziogenetischen Ursprungs der Individualität verbindet. Dies mag überraschend klingen; schließlich wird diese Überlegung von Hegel selbst nicht direkt expliziert und kündigt sich nur indirekt innerhalb seiner Ausei­ nandersetzung mit Fichte und Kant an. Doch liest man Hegel mit und gegen Hegel, so kann es kein Zufall sein, dass die Frage nach der Genese von Individualität in­ nerhalb von Hegels Kritik am römischen Rechtszustand nicht aufkommt. Sie kann an dieser Stelle auch gar nicht aufkommen, weshalb Hegels Kritik an der Moderne gerade durch den Umstand, dass diese Frage hier übersprungen wird, bestätigt wird: Dass die Frage nach der Genese von Individualität nicht sinnvoll gestellt wer­ den kann, ist Teil dieser Kritik. Hegel kritisiert die Moderne vor allem in einer Hin­ sicht – insofern er sie als die Verlängerung des römischen Weltzustands begreift. Als zentrale Motivation für diese Kritik kann aber der Wunsch gewertet werden, auf den Prozess der Privatisierung der Individualität aufmerksam zu machen. Wie bereits angedeutet wurde, ist dieser Privatisierungsprozess problematisch, weil er 390 Vgl. Hermann Lübbe, Modernisierung und Folgelasten. Kulturelle Aspekte, in: An­ nemarie Gethmann-Siefert/Elisabeth Weisser-Lohmann (Hrsg.), Kultur – Kunst – Öffent­ lichkeit. Philosophische Perspektiven auf praktische Probleme, München 2001, S. 21 – 36, hier: S. 35. 391  Axel Honneth, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, Stuttgart 2001, hier: S. 9.

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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eine bestimmte Ausübungsweise der sozialen Praxis für den Einzelnen unzugäng­ lich oder unverständlich werden lässt. Die Entwicklung und Dynamik dieser Pra­ xis wird dadurch eher gehemmt, als dass sie zur Entfaltung kommen kann. Einen der hemmenden Faktoren sieht Hegel offenbar darin, dass Individualität auf den Status des Individuums qua Rechtsperson reduziert werde. Wollte man Hegels Kritik an der Rechtsperson als einen Angriff auf die Idee der rechtlichen Gleichheit deuten, so wäre dies allerdings ein Missverständnis. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Hegel die Durchsetzung der rechtlichen Gleichheit für ebenso historisch unumkehrbar wie normativ notwendig hält. Deshalb kann seine Kritik letztlich nur dem Modus der Verwirklichung von Gleichheit gelten. In diesem Zu­ sammenhang entwickelt Hegel die innovative Überlegung, dass der Prozess der Verwirklichung von Gleichheit in eine Transformationsgeschichte der Gerechtig­ keit eingebettet ist, an deren vorläufigem Ende erst das formelle Recht steht. Die Rede vom ‚vorläufigen‘ Ende ist erklärungsbedürftig und hängt mit Hegels Kritik am formellen Recht zusammen. Erst wenn die Spezifik dieser Kritik zur Sprache kommt, wird man sehen und bewerten können, worin genau die Verkür­ zungen des Konzepts ‚Rechtsperson‘ nach Hegel bestehen. Hegels Urteil über die Verengung des Rechts auf das formelle Recht zielt auf etwas ganz Spezifisches. In der Phänomenologie heißt es: Das formale Recht betrachtet nicht „diesen Einzelnen […], der handelt und schuldig ist“, sondern den Einzelnen sofern „er […] nur als allgemeines Selbst und die Individualität rein das formale Moment des Tuns überhaupt [ist]“.392 Dieses Absehen von Handlungen, von der Tat im emphatischen Sinn, ist jedoch kein Vorzug, sondern ein großes Defizit dieses Rechts, denn das Selbst kann Hegel zufolge ohne die Tat und den durch diese Tat erwirkten Akt von Gerechtigkeit niemals ‚wirklich‘ werden. Besonders aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist neben der zuvor er­ wähnten Interpretation der Orestie von Aischylos auch Hegels Deutung von So­ phokles’ Antigone. So beansprucht Hegel im Abschnitt über die „sittliche Hand­ lung“ in der Phänomenologie zu zeigen, dass die spezifische Beschaffenheit des Gegensatzes zwischen dem allgemeinen Willen und dem Blut der Familie, der die Polis durchherrscht, die „einzelne Individualität“ nicht zur Wirklichkeit und zu ihrem Recht kommen lässt:393 „[D]ieser Einzelne gilt nur als der unwirkliche Schatten. – Es ist noch keine Tat begangen; die Tat aber ist das wirkliche Selbst. – Sie stört die ruhige Organisation und Bewegung der sittlichen Welt.“394 Hegel ist durchgängig an Handlungen interessiert, die gerechtigkeitstransfor­ mative Wirkungen entfalten können. Außer an seine Deutung der Antigone sei in diesem Kontext an seine bereits erwähnte These über die Wiederherstellung der Sittlichkeit aus dem Verbrechen erinnert, denn auch hier handelt es sich nach He­ gels Auffassung nicht um eine bloße Restitution der alten Ordnung, sondern um 392 

PhG, S. 347. Vgl. ebd., S. 342. 394 Ebd. 393 

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

deren Umgestaltung. Die Parteinahme für Orest, sein Freispruch, die Bekräftigung von Apollos Stellung und die Zähmung der Erinyen, indem sie zu Bürgerinnen gemacht werden395 – all dies zerbricht das „ruhige Gleichgewicht der Teile“396 und führt zwischen den verschiedenen „Mächten“ des Rechts erstmalig Hierarchien ein. Anhand der Orestie von Aischylos veranschaulicht Hegel einen Akt der Ge­ rechtigkeit, der von der „Athene Athens“397 „göttlicherweise“ vollbracht wird. An diesem Beispiel zeigt er auf, dass die neue Rechtsordnung erst dann in Erscheinung treten kann, wenn das Verbrechen, das Orest begangen hat, „in einem ‚höheren‘ Recht“ des Freispruchs aufgehoben wird. Auf diese Weise wird die mythische „Wiederkehr des Immergleichen“ durchbrochen, die, mit Adorno zu reden, einer „immerwährende[n] Reproduktion der Schuld von Menschen gegen Menschen“398 gleichkommt – in diesem Fall die Wiederkehr der Gesetze der Rache.399 Der Akt der Gerechtigkeit, der durch Athene vollzogen wird, besteht darin, ein Gerichtsver­ fahren einzurichten und damit ein Moment der Institutionalisierung einzuführen. Durch Athenes Intervention wird aber zugleich die Minimalbedingung einer jeden institutionellen Logik – dass man nicht zugleich Richter und Partei sein kann – überhaupt erst sichtbar gemacht. Mit der Etablierung der Institution verändert sich aber alles Nachfolgende – und retrospektiv auch alles, was zuvor gewesen ist. Letztlich lassen sich alle Handlungen, für die sich Hegel in seinem Werk beson­ ders interessiert, als gerechtigkeitstransformative Größen begreifen. Doch es wird schnell deutlich, dass die Logik des formalen Rechts quer steht zu diesem Zusam­ menhang: Dem formalen Recht geht es nicht um die Behauptung des „wirklichen“ Selbst durch die Tat, sondern um die Realisierung einer völlig anderen Figur. In Hegels „Einteilung der Weltgeschichte“, die im Rahmen seiner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (1837) vorgestellt wird, kommt dieser Zusam­ menhang klar zur Sprache: Dort heißt es, dass die Individuen im Zuge des gewalti­ gen, ja gewaltsamen Bildungsprozesses, der durch das formale Recht initiiert wird, vom Allgemeinen so sehr „unterjocht“ werden, dass „sie die Allgemeinheit ihrer selbst, d.h. die Persönlichkeit [erhalten]: sie werden rechtliche Personen als Priva­ te“.400 Dieser Gesichtspunkt ist für Hegel so zentral, dass er auch das bestimmende Moment des Römischen Reichs darin sieht, dass „die Individuen dem abstrakten Begriffe der Person einverleibt“ werden.401 395 

NR, S. 495. PhG, S. 340. 397  NR, S. 496. Die „Athene Athens“ ist dabei „der göttliche Geist der Polis selbst“, so Schulte, Die „Tragödie im Sittlichen“, S. 60. 398 Vgl. Theodor W. Adorno, Spengler nach dem Untergang [1950], in: ders., Gesammel­ te Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 10/1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt am Main 1977, S. 47 – 70, hier: S. 68. 399 Vgl. Menke, Recht und Gewalt, S. 13 ff. 400  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 138. 401 Ebd. 396 

B.  Hegels Naturrechtsaufsatz

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Nach weltgeschichtlichen Maßstäben ist dies eine gewaltige Leistung im „gro­ ße[n] Tagewerk des Geistes“.402 Im Naturrechtsaufsatz scheint Hegel es aber noch als Indiz undurchschauter und sich selbst legitimierender rechtlicher Gewalt zu bewerten. Diese Gewalt wiege, wie Christoph Menke hervorgehoben hat, auch deshalb schwer, weil sich das Problem, das ihr zugrunde liege, „dialektisch“ nicht lösen lasse: „Denn dass die politisch autonomen Bürger – als Autoren des Rechts – sich – als Adressaten des Rechts – die Gewalt selbst antun, mindert diese Gewalt nicht.“403 Menkes Bedenken richten sich an dieser Stelle offensichtlich gegen die bekannte Formel aus der diskurstheoretisch fundierten Demokratietheorie von Jür­ gen Habermas, wonach jeder einzelne Bürger sich als Autor und Adressat der Ge­ setze verstehen können muss.404 Es ist unschwer zu sehen, dass man sich auch hier im Horizont desselben Problems bewegt, das bereits durch Rousseaus Legalismus aufgeworfen wurde. Die spannende Frage ist daher auch vor diesem Hintergrund einmal mehr, inwieweit es Hegel gelingt, diese Struktur wenn nicht zu durchbre­ chen, so doch zumindest einer anderen Deutung zu unterziehen. Um einer vorläufigen Antwort auf diese Frage näherzukommen, lohnt es sich, erneut zu überlegen, was genau dem Formalrecht aus Hegels Sicht entgeht. Wie bereits erwähnt, bezeichnet Hegel das Gefüge von Ökonomie und Recht als das „System der Realität“.405 Den Prozess der „Zivilisierung“ von real-ökonomischen Abhängigkeiten durch das Recht, das „aus Besitz Eigentum“ macht und „die Besonderheit […] zugleich als Allgemeines bestimmt“,406 bringt Hegel in der Phänomenologie mit dem Begriff der Anerkennung in Verbindung. Der positive Wert dieser Wirklichkeit, innerhalb derer „aus Besitz Eigentum“ wird,407 liege darin, „daß es Mein in der Bedeutung der Kategorie, als ein anerkanntes und wirkliches Gelten ist“.408 Doch Hegel gibt zugleich zu bedenken, was in dieser Rechtskon­ struktion fehlt. Die Besitz- und Eigentumsverhältnisse und die Gleichheit der darin zur Wirklichkeit kommenden Personen interessieren hier nicht als konkrete und bestimmte: „[D]er wirkliche Inhalt oder die Bestimmtheit des Meinen – es sei nun eines äußerlichen Besitzes oder auch des inneren Reichtums oder Armut des Geis­ tes und Charakters – ist nicht in dieser leeren Form enthalten und geht sie nichts an.“409 Weder ist die äußere Beschaffenheit des Eigentums relevant noch sind Rück­ schlüsse auf den Charakter des Eigentümers zulässig. Die egalitäre Einstellung, für die Eigentumsverhältnisse von Belang sind, gilt nur hinsichtlich der Anerkennung 402 

Ebd., S. 134. Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 12. 404 Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992, S. 153 ff. 405  NR, S. 482. 406  Ebd., S. 284. 407  Ebd.; PhG, S. 357. 408  PhG, S. 357. 409 Ebd. 403 

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

dieser Verhältnisse als solcher, unabhängig davon, was konkret besessen wird oder in wessen Händen es sich befindet. Diese Logik des Rechts stellt Hegel nicht infrage, interessiert sich aber für ihre weiteren Konsequenzen und Implikationen. Insbesondere scheint Hegel die Frage aufzuwerfen, was nun mit den „wirklichen Bestimmtheiten“ geschieht, nachdem sie – da sie nicht dem „Formal-Allgemeine[n]“ des Rechts angehören – für das Recht irrelevant geworden sind. Wo spielen sie überhaupt noch eine Rolle? Hegel gibt darauf eine Antwort: Unter den Bedingungen des formalen Rechts „gehört [der wirkliche Inhalt] einer eigenen Macht an, die der Zufall und die Willkür ist. – Das Bewußtsein des Rechts erfährt darum in seinem wirklichen Gelten selbst vielmehr den Verlust seiner Realität und seine vollkommene Unwesentlichkeit, und ein Individuum als eine Person [zu] bezeichnen ist Ausdruck der Verachtung.“410 Diese Äußerung gewinnt einen neuen Sinn, wenn man erkennt, wogegen sie sich richtet. Hegel scheint damit einerseits die Reduktion der Freiheit auf Willkürfrei­ heit zu konstatieren, die sich zu einer „eigenen Macht“ gegenüber dem Recht kon­ stitutiert hat. Andererseits wird aber die Unfähigkeit des Rechts problematisiert, dieser „Macht“, der gegenüber das Recht „vollkommen unwesentlich“ geworden ist, etwas entgegenzusetzen. Sieht man von der spezifischen Wertung ab, die Hegel vornimmt, so darf fest­ gehalten werden, dass er mit der Behauptung der „eigenen Macht“, in der „Zufall“ und „Willkür“ zuhause sind und die unter dem Schutz des „formal-allgemeinen“ Rechts gleichsam wächst, eine wichtige Einsicht in die Transformationsprozesse des modernen Rechts gewinnt: Mit der neu gewonnenen Einsicht wird ein neues Terrain der „subjektiven Rechte“411 erschlossen. Erst mit der Durchsetzung dieser besonderen Form des Rechts kann ein neues modernes Zeitalter beginnen – ein Zeitalter, in dem die einzelnen Subjekte „ermächtigt“ sind, Forderungen zu stellen und andere zu verpflichten, wenn sie es denn so wollen.412 Auf die Konsequenzen, die daraus erwachsen, wird im Folgenden noch zurückzukommen sein.

410 Ebd. 411 Vgl. Luhmann, Subjektive Rechte; fundamental ansetzend Christoph Menke, Kritik der Rechte; siehe zuvor schon zu den konzeptuellen Voraussetzungen von subjektiven Rech­ ten, insb. zu den Spezifika ihrer philosophischen Reflexion innerhalb der drei Modelle der Kritik, der Systemtheorie und der Dekonstruktion ders., Subjektive Rechte: Zur Paradoxie der Form, in: Gunther Teubner (Hrsg.), Nach Jacques Derrida und Niklas Luhmann: Zur (Un-)Möglichkeit einer Gesellschaftstheorie der Gerechtigkeit, Stuttgart 2008, S. 81 – 109 sowie ders., Das Nichtanerkennbare. Oder warum das moderne Recht keine „Sphäre der Anerkennung“ ist, in: Rainer Forst/Martin Hartmann/Rahel Jaeggi/Martin Saar (Hrsg.), Sozialphilosophie und Kritik. Axel Honneth zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 2009, S.  87 – 108, insb. S.  94 – 100. 412  Zu dieser Dimension des „Ob“ der Inanspruchnahme der Rechte, die die Rechtssub­ jekte ebenso gut auch unterlassen können, siehe Menke, Das Nichtanerkennbare, S. 97, 99. Zur ‚facultas‘ des „Verpflichtenkönnens“ im Anschluss an Luhmann siehe Menke, Subjek­ tive Rechte: Zur Paradoxie der Form, S. 87 f. sowie ders., Das Nichtanerkennbare, S. 96 ff.

C.  Offene Fragen

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C.  Offene Fragen Hegels Diagnostik hat es nahegelegt, dass ein tieferes Verständnis politischer Kultur, das dem Anspruch nach gegenüber Hegels Kontrahenten zugleich ein weiteres und ‚noch‘ moderneres sein soll, sich nur dann gewinnen lässt, wenn die Figur der Autonomie und der Rechte des Einzelnen in Rückbindung an die Transformationsprozesse der Gerechtigkeit begriffen wird. In der bislang vorge­ nommenen Interpretation ließ sich dieser Anspruch Hegels, die Perspektive der Transformation ins Auge zu fassen, als Grund dafür rekonstruieren, weshalb er im Naturrechtsaufsatz eine auf den ersten Blick merkwürdig anmutende Rückschau vornehmen musste: Weil Hegel den Transformationsprozess der Gerechtigkeit in den Blick nehmen will, ist er gezwungen, die Kritik des modernen Rechts an Um­ wälzungen zurückzubinden, die ihren Ausgang bereits in der Antike nehmen.413 In diesem Kontext sei nur daran erinnert, dass Hegel seine Zeit als eine „Periode des Übergangs“ bezeichnet, die man nur dann „ruckartig“ werde überwinden können, wenn das „Negative“ sein „Positives“ als eines erkenne, das in dem „Vergangenen“ liege.414 Wie kryptisch dieser Gedanke auch sein mag, es scheint unstrittig zu sein, dass man mit Hegel, um die moderne Krise der Beziehungslosigkeit produktiv – ins Positive – zu wenden, an die „Urszene“415 dieser Krise verwiesen ist: Wie bereits gezeigt, halten Hegels Ausführungen die Erkenntnis bereit, dass die Ausübung in­ dividueller Freiheit konkreter Einzelner mit der Entstehung des neuen Typs von So­ zialität gedanklich verknüpft werden muss. Den Ursprung dieses wechselseitigen Prozesses verortet Hegel in der antiken Polis, die sich zu transformieren beginnt. Berücksichtigt man diesen Zusammenhang, so muss der eigentliche Schlüssel zu dem konstruktiven Vorschlag, den Hegels politische Philosophie bereithält und mit dem sie sich von Kant und Fichte absetzen will, zunächst in der richtigen Bewer­ tung dessen gesucht werden, wie eine gesellschaftliche Sphäre im Unterschied zur Polis entsteht. Allerdings kommt noch ein weiterer Gedanke zum Zuge, der im Naturrechtsaufsatz noch weitgehend implizit geblieben ist, kurze Zeit später aber, etwa im System der Sittlichkeit (1802/03) oder in der Phänomenologie, weitaus deutlicher artikuliert wird. Gemeint ist Hegels innovative Überlegung, Individu­ alität als eine sich sozial konstituierende und zugleich die Sozialität verändernde Kraft aufzufassen. In Hegels verstecktem Vorschlag, die Autonomie des Individuums soziogenetisch zu explizieren, liegt mithin der Schachzug, die Frage nach der politischen Kultur der modernen Sittlichkeit so zu stellen, dass das Problem, wie individuelle Autonomie (und Moralität) sich mit sozialem und politischem Handeln verbindet, vorrangig behandelt werden muss.

Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 202 – 241. NR, S. 529. 415  Siehe Menkes Vorschlag, die „klassische Tragödie als Urszene der Moderne“ zu le­ sen (ebd., S. 73). 413 Vgl. 414 

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1. Kap.: Hegels Zeitdiagnostik: Die Krise des Öffentlichen

Zu diesem Ergebnis gelangt man auch mittels der Kritik am formellen Recht. Der wesentliche Einwand gilt hier der Verrechtlichung aller Beziehungen gemäß der legalistischen Logik dieses Rechts, die dazu beiträgt – so lässt sich Hegels Kritik verstehen –, dass die Relation von Besonderem und Allgemeinem zu einer ausschließlichen wird. Die Logik bzw. die Operationsweise des formalen Rechts schneidet Besonderes vom Allgemeinen gleichsam ab. Das Recht bleibt dabei in­ different gegenüber demjenigen Voraussetzungs- und Relationsgefüge, welches das Verhältnis des Besonderen und Allgemeinen so bestimmte, dass auch Einzelnes denkbar wäre. Dieser Ort, an dem das Verhältnis von Besonderem und Allge­ meinem sich zur Anerkennung des „Einzelnen als Bestehenden“416 fortbestimmt, ist aber die soziale Praxis. Die eigentliche Frage, die sich vor der skizzierten kritisch-diagnostischen Folie des Naturrechtsaufsatzes stellt, ist demnach, wie eine Praxis gedacht werden muss, in der der Einzelne zu seinem Recht kommen kann. Zum Anforderungsprofil ei­ ner so verstandenen Praxis gehört, dass sie dem Einzelnen sein Recht widerfahren lässt, ohne dabei die Rechte des Einzelnen rationalistisch zu verengen, indem sie sie auf die – vom Individuum als Besonderem ausgehende und zugleich allgemeine Zustimmung fordernde – rationale Ordnungsvorstellung verpflichtet und normativ überhöht. In der Realisierung dieses Anforderungsprofils bestünde zugleich der – gegen die „politische Nullität“ gekehrte – politische Charakter dieser Praxis. Nach all den bisherigen Untersuchungsschritten gelangt man mithin erneut zur Formulierung der entscheidenden Aufgabe, mit deren Bearbeitung sich der natur­ rechtliche Diskurs Hegel zufolge erst in den Rang einer philosophischen Disziplin erheben kann. Fasst man zusammen, so kommt man nicht umhin, den Blick auf Hegels ent­ scheidende Neuerung zu lenken. Dass Hegel das Augenmerk auf die Sphäre der „eigenen Macht“ des „Zufalls“ und der „Willkür“ lenkt, die in der Phänomenologie gleichsam als die Rückseite des formellen Rechts präsentiert wird, kann als eine Radikalisierung der neuzeitlich-modernen Naturrechtslehren hin zu einem Kon­ zept „subjektiver Rechte“ verstanden werden. Diese innovative Operation zeigt an, dass die bürgerliche Kultur des Politischen sich als eine Etappe in jenem Prozess der Individualisierung verstehen lässt, der sich an der Idee rechtlicher Gleichheit orientiert. Das Schlüsselkonzept zur Beschreibung dieses Prozesses der Individualisie­ rung im Konnex mit der Verrechtlichung lautet Autonomie. Kant und Fichte geben dem Begriff eine radikal neue Wendung, indem sich darin Gesetz und Freiheit, Besonderes und Allgemeines, Notwendigkeit und Spiel verbinden sollen. Hegel drängt aber darauf, diese Autonomiefigur einer Umdeutung zu unterziehen. He­ gels Provokation, die bis heute oder gerade heute schwer wiegt, wenn man das verstärkte Interesse an dem „Paradox der Autonomie“ in der gegenwärtigen Dis­

416 

NR, S. 523.

C.  Offene Fragen

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kussion registriert,417 scheint allerdings nicht so sehr darin zu bestehen, dass er die Autonomie des Individuums sittlichkeitstheoretisch in ihr Gegründetsein und ihren Fortbestand in sozialen Praktiken überführt hat.418 Die wahre Provokation steckt vielmehr in den Überlegungen, die Hegels Auseinandersetzung mit den neuzeitlichen Naturrechtsentwürfen abgerungen werden konnten: in seiner The­ se, dass das Autonomieverständnis der bürgerlich-liberalen politischen Kultur vor allem das problematische rechtsförmige reproduziert. Während noch zu klären bleibt, was „rechtsförmig“ hier besagt, lässt sich so viel schon festhalten: Nicht die Autonomie des Einzelnen – dies ist in der Tat eine voraussetzungsvolle und anspruchsvolle Figur – ist nach Hegel problematisch, sondern Autonomie als Wei­ terführung des römischen Rechtsverständnisses, in dem Einzelne gerade nicht als Einzelne, sondern nur als Besondere zu ihrem Recht kommen, als Privatleute anerkannt werden. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, zu klären, was genau darunter zu verstehen ist, dass die rechtsförmige Realisierung der Autonomie das Soziale, das Hegel zufolge wiederum als Garant von Individualität fungiert, gefährdet. Da dieser Befund nicht direkt ausgesprochen wird, lässt er sich bestenfalls als Kon­ trastfolie zu Hegels äußerst selektiver Kritik an Kant rekonstruieren.419 Die Re­ konstruktion soll zunächst in den Fokus rücken, wodurch genau Hegels Kritik ver­ anlasst ist und welche Dimensionen von Kants Moralitätsbegriff wiederum ganz außer Acht gelassen werden. Dieser Schritt wird es erlauben, Rückschlüsse auf ein alternatives Modell von politischer Kultur zu gewinnen. Es bietet sich geradezu an, Hegels Motive für die – zunächst einfach nur frappierende – Selektivität seiner Kant-Kritik als Signale dafür zu deuten, was durch die Kantische Festlegung auf ein bestimmtes Denkmodell verdrängt und verhindert wird oder gar als Element sozialer Praxis verlorengeht. Im Fluchtpunkt der nächsten Untersuchungsschritte wird daher die Aufgabe stehen, zu klären, um welche Art von Sozialität es sich handelt, und, was noch wichtiger ist, zu zeigen, weshalb diese Sozialität überhaupt bewahrens- und beförderungswürdig ist. Mithin wird die Frage nach ihrer Norma­ tivität, ihrer Begründbarkeit und ihrer Rechtfertigung aufgeworfen.

417 Siehe Pinkard, German Philosophy 1760 – 1869, S. 59, 118, 226; Pippin, The Realiza­ tion of Freedom, S. 180 – 199; vgl. auch Korsgaard, The Sources of Normativity. 418 Vgl. Terry Pinkard, Tugend, Moralität und Sittlichkeit. Von Maximen zu Praktiken, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49/1 (2001), S. 65 – 88 sowie Pippin, Hegel’s Practi­ cal Philosophy. 419  Die im zweiten Kapitel vorgenommene Untersuchung konzentriert sich auf Hegels Kant-Kritik. Hegels Kritik des „Systems der Legalität“, die sich auf Fichtes Grundlage des Naturrechts bezieht und in deren Zentrum der Prozess der Autonomisierung des Rechts durch seine Positivierung zum Rechtssystem steht, wird dabei unerörtert gelassen, wiewohl sie zweifellos ebenfalls eine nähere Untersuchung verdient.

Zweites Kapitel

Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell 2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

A.  Die Ausgangslage: Die Diagnose der Beziehungslosigkeit Die bislang rekonstruierte Diagnose lässt sich folgendermaßen zusammenfas­ sen: Mit der Durchsetzung des römischen Rechts kommt es Hegel zufolge zur Ni­ vellierung der Standesunterschiede. Hegel sieht darin jedoch nicht so sehr einen Fortschritt auf dem Weg zur Verwirklichung einer egalitären Gesellschaft, sondern interessiert sich vielmehr für die beklagenswerten Konsequenzen dieser Entwick­ lung. Zu diesen Konsequenzen gehört, dass es zu einem allgemeinen „Herabsinken in die matte Gleichgültigkeit des Privatlebens“1 gekommen sei. Den politisch-öf­ fentlichen Zustand schildert Hegel als ein allgemeines Privatleben des „zweiten Standes des Besitzes und Erwerbs“, dessen Fortbestehen durch das „System von Eigentum und Recht“ gesichert werde. Dabei wird diese Beschreibung noch zu­ gespitzt, indem Hegel diesen bürgerlichen Privatleuten, deren einzige Sorge der Aufrechterhaltung von Besitzverhältnissen gelte, „politische Nullität“ vorwirft. Die desinteressierte Haltung gegenüber der Politik wie auch die allgemeine Ab­ kehr von der öffentlichen Sphäre bringt Hegel jedoch – und hier beginnt es philo­ sophisch interessant zu werden – mit den strukturellen Merkmalen der modernen Sittlichkeit selbst in Verbindung. Insofern ist dies keine zufällige Fehlentwicklung, die ebenso gut auch hätte ausbleiben können und dementsprechend leicht zu über­ winden wäre. Vielmehr scheint Hegel den Prozess der „Privatisierung“ bzw. Ent­ politisierung der Freiheit – in dem Maße, wie er ihn mit der neuen Gesellschafts­ form strukturell verbunden sieht – implizit als notwendig anzuerkennen. Dies gilt auch dann, wenn Hegel sich allenthalben bemüht, zu zeigen, dass dieser Privatisie­ rungsprozess zu einer Gestalt des Sittlichen gehört, die sowohl theoretisch ihre ei­ gene Umdeutung erzwingt als auch praktisch auf ihre eigene Überwindung drängt. Die Rekonstruktion der tieferen Schicht der von Hegel zeitdiagnostisch geführ­ ten Kritik hat ergeben, dass Freiheit in der modernen Gesellschaft sich nur auf eine defiziente Weise zu verwirklichen vermag. Dies ist deshalb der Fall, weil moderne Freiheit durch eine Form von Beziehungslosigkeit gekennzeichnet ist. Das Problem der Beziehungslosigkeit hängt jedoch damit zusammen, dass es, vorerst ganz sche­ matisch gesprochen, zwar möglich geworden ist, die Kategorien des ‚Besonderen‘ 1 

NR, S. 492.

A.  Die Ausgangslage: Die Diagnose der Beziehungslosigkeit

147

und ‚Allgemeinen‘ zu denken, die Ausschließlichkeit dieser Kategorien, die sich zur alleinigen Relation verfestigt haben, es jedoch nicht erlaubt, die „philosophi­ sche Rechtfertigung des Einzelnen als Bestehenden“ zu leisten, ja überhaupt seine Wirklichkeit zu denken. Genau dies, die Wirklichkeit des Einzelnen zu denken, hat Hegel aber zur Aufgabe einer jeden Rechtswissenschaft erklärt, die es im Un­ terschied zu ihren empirischen oder rationalen Ausprägungen verdiente, philosophisch genannt zu werden: Wer philosophisch über das Recht nachdenke, dem gehe es darum, den „Einzelnen als Bestehenden“ gleichsam zurückzugewinnen. Auf dieses philosophische Ziel, das Bestehen des Einzelnen zu rechtfertigen, bezieht sich auch Hegels Forderung nach der Verbindung von individueller und allgemei­ ner Freiheit. Erst wenn es gelingt, diese Verbindung als notwendig zu erweisen und die Bedingungen ihrer Realisierung freizulegen, lässt sich eine Antwort auf das Problem der Beziehungslosigkeit der modernen Verhältnisse finden. Nachdem im ersten Kapitel der Untersuchung Hegels Zeitdiagnose in ihren Grundzügen dargestellt wurde, zielt nun die weitere Explikation dieser Diagnose darauf ab, die Frage zu beantworten, worin genau die moderne Form der Bezie­ hungslosigkeit besteht. Es wurde bereits mehrfach angedeutet, dass der Befund der Beziehungslosigkeit damit zusammenhängt, dass ‚Besonderes‘ und ‚Allgemeines‘ sich zu exklusiven Kategorien verfestigt haben. Für diese Konstellation hat Hegel den Begriff der „Entzweiung“ geprägt. Da Entzweiung Hegel zufolge jedoch mit der Form der modernen Sittlichkeit selbst strukturell verbunden ist, kann dieser Aufgabe, die Struktur der beziehungslosen Beziehungen zu explizieren, nur nach­ gegangen werden, wenn auch die theoretische Fundierung dieser Form der moder­ nen Sittlichkeit freigelegt wird. Als Erstes ist daher das Profil der Entzweiung, so wie es von Hegel gezeichnet wird, in seiner Spezifik näher zu beleuchten. In einem zweiten Schritt wird nach­ zuverfolgen sein, wie diese Entzweiungsform sich in der Theorie widerspiegelt: Den elaboriertesten Ausdruck dieser Theorie, die in diesem Sinne gleichsam als ein Indikator für die Entzweiung gelesen werden kann, stellt Hegel zufolge Kants Moralphilosophie dar. Daher lassen sich Hegels kritischer Auseinandersetzung mit Kant wertvolle Hinweise darauf entnehmen, wodurch der Zustand beziehungsloser Beziehungen letztlich bedingt wird und wie dieser Zustand zugleich über sich hinausweist, weil er auf eine Neubestimmung der Natur nicht nur der moralischen, sondern auch der rechtlichen Verpflichtung drängt. Mit der Rekonstruktion der Hegelschen Kant-Kritik, der die nachfolgenden Ausführungen gelten, soll Hegels Urteil über die Moderne präziser ausgeleuchtet werden. Insbesondere gilt es, die Einsicht in denjenigen Zusammenhang zu gewinnen, in dem die beiden Befunde, die bislang zur Sprache gekommen sind – der Befund der Beziehungslosigkeit und derjenige der Entpolitisierung – zueinander stehen.

148

2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

B.  Zum Profil der Entzweiung Hegels Entzweiungsthese lässt sich in Umrissen bereits seiner Zustandsbe­ schreibung der spätantiken römisch-bürgerlichen Gesellschaft entnehmen, wie er sie bereits in Bern, insbesondere in seinen Arbeiten über die Positivität der christlichen Religion (1795/1796) gezeichnet hat. Georg Lukács’ Untersuchung Der junge Hegel (1948) hat vor Augen geführt, dass diese Hegelschen Fragmente gerade als politisch-ökonomische Entwürfe von besonderem Interesse sein können. Wie sie nun zu interpretieren seien, darüber besteht seit langem Streit: Während Lukács etwa das „religionsgeschichtliche Interesse des jungen Hegel ausschließlich als po­ litisch motivierte Kritik am institutionalisierten Christentum“2 verstanden wissen wollte, hat Wilhelm Dilthey die „Jugendschriften“ Hegels wiederum „zu frühen literarischen Zeugnissen des Historismus und der Lebensphilosophie [stilisiert]“.3 Beides mag einseitig sein; doch wie immer man die verschiedenen Interpretationen auch zu bewerten geneigt sein wird, scheint eines unstrittig zu sein – nämlich die Tatsache, dass es Hegel recht früh schon gelungen ist, zu diagnostizieren, worin die konstitutiven Elemente der modernen Gesellschaft bestehen: Moderne Gesell­ schaft steht im Zeichen der Entzweiung. Dies hängt aber mit ihrem Ursprung zu­ sammen, der im Akt der Freisetzung des besonderen Einzelnen aus sittlich-homo­ genen Kontexten zu suchen ist. Die Freisetzung des neuen Prinzips der Autonomie des Einzelnen wurde erst in der Kantischen Philosophie in aller Deutlichkeit ausgesprochen und reflektiert. Doch diese Feststellung allein genügt nicht. Vielmehr nimmt Hegel an, dass die Freisetzung des Autonomieprinzips durch einen langen historischen Prozess nicht nur vorbereitet, sondern sogar in gesteigerten Formen der Autonomie, zu denen Hegel etwa die „Besonderung des Sokrates“4 oder die exemplarische Tat der Anti­ gone zählt, bereits vorweggenommen wurde. Hegel spricht in diesem Zusammen­ hang von „aufkeimenden Individualisierungen“,5 die in den historischen Prozess einbrechen und die Gestalt des Gemeinwesens unwiderruflich verändern. Moder­ ne Gesellschaft stellt für Hegel mithin das vorläufige Ende einer Entwicklung dar, zugleich ist sie aber auch der Anfang für weitere Entwicklungen innerhalb dieses Prozesses. Hegels Zeit- und Gesellschaftsdiagnostik lässt sich entnehmen, dass der ge­ genwärtige Zustand der modernen Gesellschaft sich Akten der Anerkennung des (besonderen) Einzelnen, insbesondere der Einsicht in die Notwendigkeit seines Schutzes durch das Recht, verdankt. Die Operationsweise des Rechts besteht da­ 2  Thomas M. Schmidt, Anerkennung und absolute Religion. Formierung der Gesell­ schaftstheorie und Genese der spekulativen Religionsphilosophie in Hegels Frühschriften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, S. 22. 3  Ebd., S. 20 – 21; zu Hegels in der Positivitätsschrift geäußerter Verfallsdiagnose siehe insb. ebd., Kapitel II, Abs. 4., S. 78 ff. 4  NR, S. 497. 5 Ebd.

B.  Zum Profil der Entzweiung

149

rin, Konflikte durch den Rückzug auf eine gemeinsame Basis, durch Berufung auf ein – die Perspektive des Einzelnen übersteigendes – gemeinsames Allgemei­ nes zu schlichten oder aber präventiv gar nicht erst aufkommen zu lassen. In die­ ser Beschreibung klingt bereits die Figur des Verhältnisses zwischen Subjekt und Rechtsperson an, wobei die geläufigen Unterscheidungen von ‚privat‘ und ‚öffent­ lich‘, von Bourgeois und Citoyen zu kurz greifen, um den Sinn dieses Verhältnis­ ses adäquat zu erfassen. Hegels Deutung dieses Verhältnisses macht vielmehr eine Entwicklung sichtbar, in deren Zuge die moderne politische Kultur sich in zwei Sphären aufspaltet – in die Sphäre der Willkürfreiheit, in der sich Partikularismen zunehmend freisetzen, und in die Sphäre der Normalisierung, der Normierung und der rechtlich erzeugten und gesicherten Gleichheit. Diese „sogenannte neue Bildung“,6 um den Ausdruck Herders zu verwenden, betrachtet Hegel allerdings mit einer gehörigen Portion Pessimismus. Es trifft da­ her keineswegs zu, dass Hegel, wie Adorno behauptet hat, „die Ideologie des posi­ tiven Rechts [lieferte], weil er ihrer, in der bereits sichtbar antagonistischen Gesell­ schaft, am dringendsten bedurfte“.7 Denn in Wahrheit liefert Hegel gerade keine „Ideologie“ des positivierten oder sich positivierenden juridischen Rechts, sondern erweist sich, wie es allemal für seine frühen Schriften gilt, als deren scharfsinniger Kritiker. Ironischerweise ist das Recht für Adorno selbst geradezu „das Urphäno­ men irrationaler Rationalität“: „In ihm wird das formale Äquivalenzprinzip zur Norm, alle schlägt es über denselben Leisten. Solche Gleichheit, in der die Diffe­ renzen untergehen, leistet geheim der Ungleichheit Vorschub.“8 Zwar spielt Adorno hier offenbar auf die Kritik des positiven Rechts aus Marx’ Kritik des Gothaer Programms an,9 doch dieselbe Feststellung bezüglich des po­ sitiven Rechts ist bereits in vollem Umfang in Hegels Entzweiungsdiagnostik prä­ sent: Der im ersten Kapitel rekonstruierte Zusammenhang hat jedenfalls gezeigt, dass es Hegel mit seiner Kritik des neuzeitlichen Naturrechtsdenkens allem voran darum ging, vor der Herausbildung einer politischen Kultur zu warnen, in der der Einzelne juridisch zu einer bloßen Einzelheit und moralisch zu einer bloßen Be­ sonderheit depotenziert zu werden droht. Damit ist es Hegel aber gelungen, die Bedrohungslage aufzuspüren, in die moderne Gesellschaft hineingerät: Plakativ gesprochen, gelingt es dieser Gesellschaft nicht, den desolaten und auf unproduk­ tive Weise widersprüchlichen Zustand, in dem das Gute privat wird, während das Private durch die Rechtsperson verwüstet zu werden droht, zu überwinden. Die Gefahr der Schädigung des Besonderen und Partikularen hängt mit der Verengung des Rechts auf das „formelle“ Recht zusammen, die Hegel unentwegt beklagt. Dieser Zusammenhang lässt sich Hegels Phänomenologie des Geistes, wie bereits erwähnt, deutlicher entnehmen als dem Naturrechtsaufsatz. In der Herder, Auch eine Philosophie, S. 60. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik [1966], Frankfurt am Main 1975, S. 303. 8 Ebd. 9  Vgl. hierzu Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 106, Anm. 148. 6  7 

150

2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

Phänomenologie schreibt Hegel, dass man den Menschen innerhalb des formellen Rechts lediglich als eine Rechtsperson wahrnehme, das heißt aber, „als allgemei­ nes Selbst“, nicht als „diesen Einzelnen […], der handelt und schuldig ist […]“.10 Die „leere Form“ des Rechts leiste zwar sehr Wichtiges, insofern in ihr und durch sie Besitzansprüche als legitime Ansprüche anerkannt und geschützt werden kön­ nen. Doch der defiziente Charakter des formellen Rechts besteht Hegel zufolge da­ rin, dass der „Inhalt“ und die „Bestimmtheit des Meinen“ dabei gerade unbeachtet bleiben. Dies hat aber zur Konsequenz, dass der ganze empirische Rest, der for­ malrechtlich nicht von Interesse ist, gleichsam auf die „eigene Macht“ verschoben wird, „die der Zufall und die Willkür ist“11 – eine Macht, die, einmal freigesetzt, unter dem Schutz des Formal-Rechtlichen wächst. Im Lichte dieser Beschreibung lässt sich das Dilemma der Entzweiung auch folgendermaßen wiedergeben: Die Macht des Zufalls wächst, es bleibt ihr aber ver­ gönnt, sich mit dem Recht zu vermitteln. Dergestalt bilden sich zwei Machtsphären heraus: In der einen waltet das Allgemeine, das deshalb abstrakt genannt wer­ den kann, weil es von allen Konkretisierungsmomenten und Gehalten freigehalten wird; in der anderen herrscht das Besondere, das – in die Freiheit der Willkür ent­ lassen – sich als Besonderes entfalten kann. Mit dieser Beschreibung scheint He­ gel, wie zuvor bereits erwähnt, auf einen wichtigen Umbruch im Rechtsverständnis aufmerksam geworden zu sein, mit dem ein neues Zeitalter ‚subjektiver Rechte‘ beginnt: Einmal freigelassen, entwickelt sich die Willkürfreiheit zunehmend zu einer selbständigen Größe und überdies zur latent wirksamen Einflusssphäre, in der es darum geht, dass besondere Einzelne qua Subjekte mit einem Male in die Lage versetzt und dazu ermächtigt werden, Forderungen zu stellen und andere zu verpflichten.12 Zwar ist diese Beschreibung des Auseinandertretens von Besonderem und All­ gemeinem noch äußerst schematisch, doch sie gibt bereits zu erkennen, dass Hegel eine komplexere Struktur vorschwebt als diejenige, die etwa aus der Aufklärungskritik hervorgeht. Worin der Gewinn an Komplexität besteht, lässt sich sofort er­ messen, wenn man die Hegelsche Rede von ‚Willkür‘ und ‚Zufall‘ versuchsweise einmal mit Herders Kritik an seiner eigenen ‚aufgeklärten‘ Zeit kontrastiert. Dies ist schon deshalb gewinnbringend, weil Hegels Entzweiungskritik vielen Motiven aus Herders Schrift mit dem sprechenden Titel Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts (1774) tatsächlich besonders nahesteht. Die Ähnlichkeit mit Herders Polemik gegen die Aufklärung ist frappierend – zumindest der Idee nach, die hinter Hegels Ent­ zweiungsdiagnose steht. Und doch weicht Hegels Position gerade in der Frage, wie die Entwicklung hin zur modernen Form der Entzweiung systematisch zu verorten 10 

PhG, S. 347. Ebd., S. 357. 12  Vgl. hierzu Menke, Subjektive Rechte: Zur Paradoxie der Form, S. 87 f.; ders., Das Nichtanerkennbare, S. 96 ff. sowie umfassender ders., Kritik der Rechte, Teil III: „Kritik: Die Ermächtigung des Eigenen“, insb. S. 175 – 225. 11 

B.  Zum Profil der Entzweiung

151

ist, in einigen entscheidenden Punkten von Herder ab. Das Spezifikum der Hegel­ schen Position lässt sich daher gerade vor der Folie von Herders Polemik besonders deutlich herausstellen. Das zuvor erwähnte Diktum Adornos, dass das Recht „das Urphänomen irra­ tionaler Rationalität“ sei, wurde durch Herders Kritik bereits vorweggenommen. In seiner Bildungsgeschichte der Menschheit tritt Herder geradezu als Ahnherr der Dialektik der Aufklärung auf, indem er die neuzeitliche Bildung als einen fatalen Irrweg, mehr noch, als eine verhängnisvolle Mutation eines organisch verlaufen­ den Bildungsprozesses beschreibt. Dabei setzt die unheilvolle Entwicklung Herder zufolge mit der Renaissance und der Reformation ein und erreicht in der Refle­ xionskultur der Aufklärung ihren unrühmlichen Höhepunkt. Besonders an die Adresse Voltaires, den Herder zum Hauptübeltäter der Reflexionskultur stilisiert, richten sich seine wortreichen, allerdings wenig schmeichelhaften Äußerungen: „[D]ie ganze Erde leuchtet beinahe schon von Voltärs Klarheit!“13 Doch die Wurzeln der Reflexionskultur der Zerrissenheit verlagert Herder – und dies ist gerade im Hinblick auf Hegels Polemik gegen das römische Recht interessant – in die römische Kultur, für die er die Metapher der Maschine verwen­ det. Der Untergang Roms enthält Herder zufolge bereits die Momente all dessen, was sich erst im 18. Jahrhundert vollends manifestiert habe: Die „sogenannte neue Bildung“ der Aufklärung sei deshalb pervertiert, weil sie den Anspruch erhebt, selbstgebildet und selbstgewertet zu sein, in Wahrheit aber den Zufall auslässt, von den Schicksalsfiguren Abstand nimmt und stattdessen an einen selbstgemachten Fortschritt glaubt. In dem Maße, wie sie sich dergestalt von der organischen Ent­ wicklung abkoppelt, verkommt sie aber selbst zu einem Mechanismus. Die von Herder verwendete organizistische Metaphorik wird zum Sinnbild der Perversion der modernen Bildung: Die höchsten Wipfel der Äste tragen in dieser „Epoche“ keine natürlichen Früchte mehr; stattdessen erzeugen sie die Räderwerke der Me­ chanik, „Maschinen der kalten europäischnordischen Abstraktion“.14 Herders Polemik gilt der Selbstgefälligkeit und der Hybris des „neuen“ aufge­ klärten Menschen, der sich selbst zu einem Schaffenden, zum Produzenten seiner selbst und der Welt stilisiert. Die Selbstüberschätzung dieser Kultur ist aber nicht zuletzt deshalb fatal, weil sie ins Gegenteil umschlägt und den Menschen dazu bringt, sich selbst „von Tage zu Tage mehr als Maschine [zu] fühlen“.15 Der aufge­ klärten europäischen Welt wirft Herder vor, dass sie in ihrer kalten Rationalität und Fortschrittsgläubigkeit die Macht des Zufalls und des Schicksals aus den Augen verliert und dabei einer äußerlichen Bildung verfällt, die keine Wurzeln schlägt: „Kopf und Herz ist einmal getrennt: der Mensch ist leider! so weit, um nicht nach dem was er weiß, sondern was er mag, zu handeln.“16 13 

Ebd., S. 71. Ebd., S. 87. 15  Ebd., S. 64. 16  Ebd., S. 66. 14 

2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

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Kontrastiert man Herders Position nun mit Hegels Entzweiungskritik, so tritt die Pointe des Hegelschen Ansatzes umso deutlicher hervor. Sie besteht darin, dass Hegel keine Kritik an der Aufklärung betreibt, sondern die ihr zugrunde­ liegende Rechtsform kritisiert. Damit verändert und verkompliziert sich jedoch das gesamte Bild: Hegel zufolge wird im zur Dominanz gekommenen formalen Recht der Zufall gleichsam übergangen. Herders Diagnose ist mithin zuzustim­ men, doch in dieser Diagnose steckt nur eine halbe Wahrheit. Denn gerade weil der Zufall im Recht übergangen wird, ist der paradoxe Sachverhalt ebenso wahr, dass der Zufall dadurch auf ungeahnte Weise potenziert wird. Der Zufall ist in der modernen Zeit also nicht nur ausgelassen, wie es Herder beklagt, sondern erst recht losgelassen. Mithin müsste man aus der Perspektive Hegels den ironischen Ton, den Herder beim Übergang zur Moderne mit einem Male anschlägt – „in unserm Jahrhun­ dert ist leider! so viel Licht!“17 – für symptomatisch erklären: „[J]eder klassische Schöndenker, der die Polizierung unsers Jahrhunderts fürs non plus ultra der Menschheit hält“, schreibt Herder, „hat Gelegenheit ganze Jahrhunderte auf Barbarei, elendes Staatsrecht, Aberglauben und Dummheit, Mangel der Sitten und Abgeschmacktheit […] zu schmähen, und über das Licht unseres Jahrhunderts, das ist, über seinen Leichtsinn und Ausgelassenheit, über seine Wärme in Ideen und Kälte in Handlungen, über seine scheinbare Stärke und Freiheit, und über sei­ ne würkliche Todesschwäche und Ermattung unter Unglauben, Despotismus und Üppigkeit zu lobjauchzen“.18 Mit diesen Worten übt Herder keine Verfallskritik von außen. Vielmehr kommt in seiner Stellungnahme gerade diejenige Ambiva­ lenz und Zerrissenheit zum Ausdruck, die für den Zustand der Entzweiung selbst charakteristisch ist. Während Herder sich allerdings seiner Empörung über die Selbstherrlichkeit des modernen Menschen in einer Weise hingibt, die geradewegs als ein Prototyp für jede Art von Kulturpessimismus gelten kann, wählt Hegel einen anderen Weg und greift im Naturrechtsaufsatz auf ganz basale Kategorien zurück – ‚Form‘, ‚In­ halt‘, ‚Allgemeines‘, ‚Besonderes‘ –, um mit deren Hilfe die Struktur der Entzwei­ ung aufzuschlüsseln und ihre Implikationen freizulegen. Hegels Entzweiungskri­ tik setzt im Vergleich zu Herders Polemik konzeptuell viel fundamentaler ein. Um diesen Einsatzpunkt zu bestimmen, scheint das zuvor erwähnte Bild aus der Phänomenologie des Geistes besonders aufschlussreich zu sein: Dort malt Hegel einen Zustand aus, in dem der freigelassene Zufall sich zu einer eigenen Machtsphäre konstituiert, die der Sphäre des Rechts gegenübertritt. Diese Weise, den Entzwei­ ungszustand zu beschreiben, die mit den Begriffen ‚Zufall‘ und ‚Norm‘ operiert, ist besonders hilfreich, liefert sie doch Anschauungsmaterial dafür, wie sich die von Hegel im Naturrechtsaufsatz beschriebene spezifisch moderne, in Besonderes und Allgemeines entzweite Freiheitsform verstehen lässt. 17 

Ebd., S. 51.

18 Ebd.

C.  Hegels Kritik an Kant

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Es wäre nicht falsch, zu behaupten, dass Hegel genau diese Form der Entzwei­ ung in ‚Norm‘ und ‚Zufall‘, wie er sie in der Phänomenologie später beschreiben wird, im Naturrechtsaufsatz noch in der Trennung der beiden Sphären von Moral und Recht abgebildet sieht. Wie bereits erörtert, hält Hegel diese Trennung für problematisch und wendet alle Mühe darauf, zu zeigen, dass eine Moral, die den Charakter des Zufalls, der Willkür und der Beliebigkeit annehmen kann, und ein Recht, das lediglich eine von allen Inhalten gereinigte äußere Form repräsentiert, als defizient zu bewerten sind. Die Diskussion über die beschränkten Formen der Moral und des Rechts ist wichtig, um das Profil der Kultur der Entzweiung und die damit verbundenen Gefahren für die moderne Gesellschaft näher zu bestim­ men. Doch diese Diskussion ist nicht auf Anhieb zugänglich. Sie wird nicht direkt geführt, sondern in eine kritisch-polemische Auseinandersetzung mit Kant einge­ bettet – in eine Auseinandersetzung, die sich als Moralitätskritik ausgibt, in Wahr­ heit jedoch ebenso sehr eine Rechtskritik ist. Dieser Verflechtung von Moral- und Rechtskritik gelten grosso modo die folgenden Ausführungen.

C.  Hegels Kritik an Kant I.  Die Spezifik der Kritik 1.  Hegels Kritik an Kant als Theoretiker des „relativ Sittlichen“ Hegels Kritik der „formellen Behandlungsart“ des Naturrechts verfolgt das Ziel, auf die spezifische Beschränktheit und Einseitigkeit des Modells der Ent­ zweiung in Besonderes und Allgemeines hinzuweisen. Der besagte Auftrag an die philosophische Rechtslehre lautet, Besonderes und Allgemeines so zu vermitteln, dass auch Einzelnes nicht nur denkbar wird, sondern sich als wirklich erweist. Dies setzt aber nach Hegel voraus, dass der Bezug der „relativen“ – in Recht und Moral entzweiten – Form des Sittlichen zur sittlichen Totalität wiederhergestellt wird. Was immer „absolute Sittlichkeit“ auch heißen mag und worin ihre Verwirk­ lichung nach Hegel bestehen kann, von der „relativen“, intern entzweiten Form der Sittlichkeit ist bekannt, dass sie sich aus ihr herausgelöst und den Bezug zum „wahrhaften Absoluten“ verloren habe. Anstelle jenes Absoluten habe sich das nunmehr „relativ Absolute“ instituiert. Über die spezifische Figuration der modernen „relativ“ verfassten Form der Sittlichkeit schreibt Hegel, dass sie durch die „in Beziehung auf [die absolute Sitt­ lichkeit] herrschende Unterscheidung von Legalität und Moralität“19 bestimmt sei. Damit ist zweierlei gesagt: Moderne Sittlichkeit ist in sich selbst, aber auch von der absoluten Sittlichkeit entzweit. Die theoretische Reflexion dieser Isolierung der „relativen Sittlichkeit“ aus der Totalität des Sittlichen geschieht Hegel zufolge in Kants Moralphilosophie: In ihr „isolier[t]“ Kant, so Hegel wörtlich, „diese Seite 19 

NR, S. 509.

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

der relativen Identität der sittlichen Natur“20 und hält daran fest, als wäre es das „wahrhafte Absolute“.21 Achtet man auf die Akzente, die Hegel innerhalb seiner Kritik setzt, so wird schnell deutlich, dass es ihm nicht darum geht, den mit „Entgegensetzungen“ ar­ beitenden „absoluten Begriff“ als modus operandi der Subjektphilosophie bloßzu­ stellen, um der subjektphilosophisch heraufbeschworenen Brechung und Desor­ ganisation der sich ansonsten organisch in die „absolute Sittlichkeit“ fügenden Momente entgegenzuwirken. Es geht nicht allein um den nicht eingelösten Totali­ tätsanspruch. Vielmehr kommt es darauf an, die Sphäre des relativ Sittlichen, bei der Kant gleichsam stehengeblieben ist, anders zu fassen oder weiterzudenken. Hegels kryptischer Formulierung zufolge muss diese Sphäre als die „gedoppelte Seite der Notwendigkeit oder der Erscheinung des Absoluten“22 erkannt werden. Absolute Sittlichkeit „erscheint“ mithin „notwendig“ so – in der spezifischen Kon­ stellation der relativen Sittlichkeit, die sich in die Sphären der Moralität und Lega­ lität ausdifferenziert hat. Hegels Vorwurf an Kant lässt sich so verstehen, dass der Irrtum nicht schon da­ rin besteht, dass es zur Entzweiung in Recht und Moral überhaupt gekommen ist. Vielmehr scheint er zu meinen, dass der eigentliche Sachverhalt – die spezifische Beziehung zwischen Recht und Moral, in der das Absolute erscheint – auf diese Weise verkannt und verfälscht wird. Durch die Kritik soll die Verwechslung des re­ lativ Absoluten mit dem „wahrhafte[n] Absoluten“ nachgewiesen werden. Die Ver­ wechslung kommt aber Hegel zufolge schon dadurch zustande, dass Kants Moral­ philosophie vom individuellen „Standpunkt“ der „negativen Absolutheit“ ausgeht.23 Allerdings bemüht sich Hegel von Anfang an um die Klarstellung, dass „nicht die Rede davon sein [kann], diesen Standpunkt zu leugnen“,24 sondern es nur darauf ankomme, dessen „Isolieren“, so Hegel, „als etwas Einseitiges [zu] beweis[en]“.25 Wenn Hegel von der Einseitigkeit oder gar Falschheit des individuellen „Stand­ punkts“ spricht, so hat er damit insbesondere den Kantischen Standpunkt der Vernunft in der Differenz im Blick. Für die Realität dieser Vernunft gelte „die einmal gesetzte unüberwindliche Trennung“:26 Vernunft und Sinnlichkeit, Form und Ma­ terie, Allgemeinheit und Bestimmtheit, Unendlichkeit und Endlichkeit, Unbeding­ tes und Bedingtes, Einheit und Vielheit – das sind die in Hegels Kritik an Kant immer wiederkehrenden Dualismen, aus denen die Vernunft nicht herausfindet. Hegel zufolge lehrt uns Kants praktische Philosophie, wie „inneres Einssein“ der Sittlichkeit auf zweierlei Weise „getrennt“ sein kann: entweder „unter der Form 20 

Ebd., S. 458. Ebd., S. 459. 22  Ebd., S. 457. 23 Ebd. 24  Ebd., S. 458. 25  Ebd., S. 459. 26  Ebd., S. 469. 21 

C.  Hegels Kritik an Kant

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der reinen Einheit“ oder „in der Form der Vielheit“.27 Mit „Einheit“ ist „Recht und Pflicht“, mit „Vielheit“ die Pluralität der „denkende[n] und wollende[n] Subjekt[e]“ angesprochen.28 Dabei tritt das Verhältnis von Einheit und Vielheit angesichts der „reell“ bestehenden Entzweiung des Subjekts der Pflicht und des Rechts vom Begriff des Rechts und der Pflicht29 als ein „doppeltes“ Verhältnis auf: Entweder das Subjekt befindet sich in Übereinstimmung mit dem „Begriff der Sittlichkeit“ – und dieses innere Einssein heißt „Moralität“ – oder aber das Subjekt und der Begriff der Sittlichkeit stehen im Verhältnis des „Nichteinsseins“, womit die Sphäre der „Legalität“ betreten wird. Diese Sphäre wird dann relevant, wenn der äußerliche Gesetzesgehorsam sichergestellt werden muss.30 Diese Beschreibung erinnert an Kants eigene Auffassung der Differenz von Moral und Recht. Hegel scheint diese Auffassung also zunächst einmal nur zu referieren bzw. ihr vorerst noch zu folgen. Will man hingegen erfassen, worin die Spe­ zifik von Hegels Kritik an Kant zu sehen ist – zumal in dieser Kritik das Verhältnis von Recht und Moral gerade als das entscheidende Problem herausgehoben wird –, so erscheint es wichtig, sich zunächst zu vergewissern, entlang welcher Linien Kant selbst die Unterscheidung von Moralität und Legalität in seiner praktischen Philosophie entwickelt. Dies ist kurz zu skizzieren. 2.  Über das Verhältnis von Moralität und Legalität bei Kant Die von Kant unternommene Gliederung der Metaphysik der Sitten (1797) in Rechts- und Tugendlehre etabliert die Unterscheidung von legalem und morali­ schem Verhalten, der äußeren Gesetzesentsprechung und der „unzugänglichen“31 inneren Orientierung am „reinen Sollen“. Hinter dieser Differenzierung steht eine bestimmte Betrachtungsweise dessen, wie Freiheit ausgeübt wird: „[S]o mag die Freiheit im äußeren oder inneren Gebrauche der Willkür betrachtet werden“,32 schreibt Kant. Die Unterscheidung von Innen und Außen verdankt sich dabei einer „Hinsichtenunterscheidung“33 in der Art und Weise, wie der Bezug auf dasselbe 27 Ebd. 28 Ebd. 29 

Ebd., S. 470.

30 Ebd. 31  Hegel selbst macht von dieser Unterscheidung Gebrauch, vgl. den einschlägigen Pas­ sus in seiner Rechtsphilosophie: „Indem der Mensch nach seiner Selbstbestimmung beur­ teilt sein will, ist er in dieser Beziehung frei, wie die äußeren Bestimmungen sich auch ver­ halten mögen. In diese Überzeugung des Menschen in sich kann man nicht einbrechen; ihr kann keine Gewalt geschehen, und der moralische Wille ist daher unzugänglich. Der Wert des Menschen wird nach seiner inneren Handlung geschätzt, und somit ist der moralische Standpunkt die für sich seiende Freiheit“ (GPR, § 106, Z, S. 205; Herv. T. S.). 32 MS, AB 7, S. 319. 33 Vgl. Ulrich Claesges, Legalität und Moralität in Hegels Naturrechtsschrift. Zur Pro­ blematik der praktischen Philosophie im Deutschen Idealismus, in: Ute Guzzoni/Bernhard

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

Grundgesetz der Vernunft realisiert wird, das Kant als Kategorischen Imperativ fasst. In seiner wohl bekanntesten Formulierung lautet dieses sittliche Grundgesetz der Freiheit: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“34 Der zentrale Stellenwert des Kategorischen Imperativs in Kants Ethik bemisst sich nicht zuletzt daran, dass er mehrere Funktionen zugleich zu erfüllen hat. Be­ reits in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wird deutlich, dass es Kant nicht nur darum geht, in Gestalt des Kategorischen Imperativs das oberste Prinzip der Moral zu formulieren, das es erlaubt, die Maximen qua subjektive Handlungs­ grundsätze lediglich zu beurteilen und auf ihre moralische Richtigkeit hin zu prü­ fen. Der Gebotscharakter der Moral erstreckt sich gerade auch auf die subjektive Fähigkeit zur Selbstverpflichtung und damit insbesondere auf die Motivation und Ausführung der Handlung selbst. Das von Kant aufgestellte oberste Moralprinzip muss mithin einer doppelten Anforderung gerecht werden: Das Gesetz ist sowohl Prinzip der Beurteilung von Maximen als auch Prinzip der Handlungsausführung,35 denn es muss über die Kraft verfügen, den Handelnden zu motivieren, sitt­ licher Einsicht Folge zu leisten. Dieser Anspruch kann nur dann eingelöst werden, wenn sich der „Bestim­ mungsgrund der Willkür […] mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft“.36 Auf diese Weise wird subjektive Freiheit identisch mit der autonom gewollten Geset­ zesnotwendigkeit: Nach Kant „ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“.37 Der freie Wille unterliegt Kant zufolge der Kausalität der praktischen Vernunft, weil er „unter sittlichen Gesetzen“, d.h. unter Vernunftge­ setzen steht. Doch über die Vernunftkausalität hinaus muss ebenso und zugleich gelten, dass „[d]er Wille […] nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen [wird], daß er auch als selbstgesetzgebend, und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterwor­ fen, angesehen werden muß“.38 Vor dieser Folie wird aber für Kants Ethik gerade die Frage nach der Verknüpfung des „objektiven“ Gesetzes mit der „subjektiven“ inneren Einstellung zur Handlung zentral. Es geht darum, die Einheit von Freiheit und Normativität oder zumindest die Möglichkeit dieser Einheit zu denken. Die Unterscheidung von Moralität und Legalität markiert indes zwei unter­ schiedliche Modi der Verbindlichkeit. Im Unterschied zur Legalität, bei der es auf Rang/Ludwig Siep (Hrsg.), Der Idealismus und seine Gegenwart. Festschrift für Werner Marx zum 65. Geburtstag, Hamburg 1976, S. 53 – 74, hier: S. 55. 34  KpV, § 7: „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“, [30], S. 41. 35  Zu diesem „zwiefachen Sinne“ der Begründung der Handlungen durch Vernunft vgl. Dieter Henrich, Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus, in: Paulus Engelhardt (Hrsg.), Sein und Ethos, Mainz 1963, S. 350 – 386, hier: S. 356 ff. 36  MS, AB 13 f., 323. 37  GMS, S. 82. 38  Ebd., S. 64.

C.  Hegels Kritik an Kant

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die äußere Gesetzeskonformität ankommt, deren Ausbleiben Sanktionen nach sich zieht, ist moralische Gesetzgebung von außen nicht erzwingbar. Sie beruht auf unbedingter Selbstverpflichtung des Handlungssubjekts, in der die ursprüngliche Einheit der Moralität zum Ausdruck kommt.39 Von einer „ursprünglichen Einheit“ kann man sprechen, weil in diesem Fall das handlungsverpflichtende Gesetz – die „Idee der Pflicht“, die als „Richtschnur“ für die Überprüfung der Maximen fun­ giert – und die motivierende „Triebfeder“ im Subjekt zusammenfallen.40 Dass es diese Verknüpfung des objektiven Gesetzes mit der subjektiven Motivation tat­ sächlich gibt, davon zeugt Kant zufolge das moralische Gefühl der „Achtung“ für das Gesetz. Dieses Gefühl indiziert gleichsam eine derartige ursprüngliche Ver­ knüpfung und ist von anderen Gefühlen insofern „spezifisch unterschieden“, als es sich um ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ handelt.41 Demgegenüber ist der Fall der Legalität anders gelagert, hier wird die moralische Figur der Zusammenstimmung von Gesetz und „Triebfeder“ nicht mehr realisiert. Die „Richtschnur“ und die „Triebfeder“, das Beurteilungs- und das Ausführungs­ prinzip, lassen sich in diesem Fall getrennt voneinander betrachten. Im Naturrechtsaufsatz fasst Hegel diesen Zusammenhang ganz ähnlich: Wäh­ rend Moralität als Vereinigungsfigur von Subjekt und Begriff vorgestellt wird, ist der Bereich der Legalität in Hegels Rekonstruktion durch die Trennbarkeit der beiden Hinsichten gekennzeichnet. Es bleibt allerdings unklar, ob Hegel mit sei­ ner Rede von „Nichteinssein“ – von der Nichtübereinstimmung von „Subjekt“ und „Gesetz“ bzw. „Recht und Pflicht“ – auch schon Handlungen im Blick hat, die von „Recht und Pflicht“ abweichen bzw. sie verletzen oder ob er an dieser Stelle nur auf der Ebene der Handlungsmotive argumentiert. Letzteres ist deshalb plausibel, weil Hegel vom Denken und Wollen des Subjekts spricht, das sich – wie es im Modus der Moralität geschieht – mit dem reinen Begriff von Recht und Pflicht verbinden kann. Für die strafrechtlichen Konsequenzen, die mit der oben genannten Trennung zwischen dem Gesetz und der Ausführung einer Handlung zusammenhängen, hat sich Hegel wiederum insbesondere in seinen Berner Entwürfen interessiert. Doch auch hier bahnt sich bereits eine entscheidende Abweichung von Kant an, die vor allem auf sehr unterschiedliche Erkenntnisinteressen Kants und Hegels hinweist. Während Kant den spezifischen Ausübungsmodus „allgemeiner Gesetzgebung“, in dem die ursprüngliche Einheit der Moralität nicht notwendigerweise vorhanden sein muss, dem Bereich der Legalität zuordnet, sieht Hegel diese Trennung bereits im Begriff der Moralität selbst am Werk, weshalb er Moralität mit dem äußeren Rechtszwang in Verbindung bringt. Im Geist des Christentums spricht Hegel da­ von, dass in der legislatorischen Moral „das Sollen und die Ausführung dieses Sol­ Claesges, Legalität und Moralität in Hegels Naturrechtsschrift, S. 56. Vgl. ebd.: „Im Sittengesetz, durch das reine Vernunft für sich selbst praktisch ist (und das als solches die ratio cognoscendi der Freiheit darstellt), fallen Richtschnur (principium diiudicationis) und Triebfeder (principium executionis) zusammen.“ 41  Vgl. GMS, S. 28; zum Begriff der Achtung siehe ferner KpV, 3. Hauptstück. 39 Vgl. 40 

2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

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lens […] getrennt ist, wie beim Gesetz, das nur eine Regel, ein Gedachtes ist und ei­ nes ihm Entgegengesetzten, eines Wirklichen bedarf, von dem es Gewalt erhält“.42 Von dieser Logik des Auseinandertretens des Sollensgesetzes und der Hand­ lungsausführung macht Hegel insbesondere dann Gebrauch, wenn er den Begriff der strafenden Gerechtigkeit entwickelt: Durch die Strafe wird die Losbindung des Besonderen vom Allgemeinen, die im Verbrechen eingetreten ist, wieder rückgän­ gig gemacht, indem das Gesetz qua Allgemeines wieder ins Recht gesetzt wird. Hegel beansprucht zu zeigen, dass dieser Beziehung des Allgemeinen und Beson­ deren im Fall des rechtlichen Strafens eine Äußerlichkeit anhaftet. Deshalb kont­ rastiert er dieses Modell mit der „Strafe als Schicksal vorgestellt“: In diesem Fall tritt die Strafe dem Verbrecher als eine „feindliche Macht“ entgegen. Mit dieser Gegenüberstellung zweier Auffassungen des Strafens will Hegel vor Augen füh­ ren, dass die Strafe überhaupt erst ihren Sinn erhält, wenn sie als „ein Individu­ elles“ begriffen werden kann, „in dem Allgemeines und Besonderes auch in der Rücksicht vereinigt ist, daß in ihm das Sollen und die Ausführung dieses Sollens nicht getrennt ist […]“.43 Erst dann wird der Rechtsbrecher zu der Einsicht gelan­ gen können, die es ihm ermöglicht, den Weg in die Gemeinschaft zurückzufinden: „Der Verbrecher meinte es mit fremdem Leben zu tun zu haben“, so Hegel, „aber er hat nur sein eigenes Leben zerstört; denn Leben ist vom Leben nicht verschieden, weil das Leben in der einigen Gottheit ist […].“44 Für eine derartige Überwindung der äußeren auf eine ‚individuelle‘ Gerechtig­ keit hin, innerhalb derer die Hinsichten des Besonderen und Allgemeinen nicht ge­ trennt wären, findet sich bei Kant schwerlich ein Konzept. Ganz im Gegenteil: Für das Verhältnis von Moral und Recht, wie es in der Metaphysik der Sitten erörtert wird, spielt nicht der Begriff des Individuellen, sondern der des Zwangs eine ent­ scheidende Rolle. Dessen ungeachtet würde Kant sich durch Hegels Einwände ge­ gen den legislatorischen Charakter seiner Moralkonzeption vermutlich noch nicht einmal angesprochen fühlen, weil das Problem, das Kant am Verhältnis von Moral und Recht interessiert, ganz anders gelagert ist als das Hegelsche. In Kants Selbst­ verständnis behält Moralität stets ihren höheren Status gegenüber dem Recht. Dies ist schon deshalb so, weil die rechtlichen Normen moralischer Überprüfung und Beurteilung standhalten können müssen. Weit davon entfernt, in seine Konzepti­ on schicksalhafte „Mächte“ integrieren zu wollen, mit denen jeder je individuell konfrontiert werden könnte, geht Kant davon aus, dass wir „unsere eigene Freiheit (von der alle moralischen Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen)“ nur durch den moralischen Imperativ kennen. Dieser Imperativ „[ist] ein pflichtgebietender Satz […], aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann“.45 42 

Hegel, Der Geist des Christentums [1796 – 1800], in: ders., Werke, Bd. 1, S. 342.

43 Ebd. 44  45 

Ebd., S. 343. MS, AB 48, S. 347.

C.  Hegels Kritik an Kant

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Beachtet man diese Asymmetrie im Verhältnis von Moral und Recht bei Kant, so erscheinen auch seine Überlegungen zur Trennbarkeit dieser beiden Prinzipien von Gesetz und Ausführung in einem besonderen Licht. Kant geht es nicht zuletzt darum, die Frage nach der „moralischen Möglichkeit des von Menschen gegen Menschen ausgeübten Zwanges“46 aufzuwerfen. Erst mit dem Problem der mora­ lischen Legitimierbarkeit des Zwangs, genauer: des von außen Erzwingbaren, be­ trete man mit Kant, wie Ulrich Claesges betont hat, die Sphäre der rechtlich-politi­ schen Gemeinschaft im anspruchsvollen Sinn. Ähnlich äußert sich Andreas Wildt zu diesem Zusammenhang: „Kant wollte […] keinen allgemeinen Begriff des gel­ tenden oder des positiven Rechts definieren. Denn die ‚Möglichkeit‘ des äußeren Zwangs versteht er als die ‚Befugnis dazu‘ und diese – meist unausgesprochen – als dessen ‚moralische Möglichkeit‘. Da er dabei nicht an die Möglichkeit eines durch moralische Sanktionen geltenden Rechts denkt, gebraucht er den Terminus ‚Recht‘ demnach im Sinne von ‚moralisch legitimem Zwangsrecht‘.“47 In Über den Gemeinspruch (1793) definiert Kant Recht als „die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Frei­ heit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist […]“.48 Die Verbindlichkeit der juridischen49 Gesetzgebung, des legal Gebotenen, wird dabei nicht durch Selbsteinschränkung eigener Freiheit generiert, sondern durch die Einwilligung zur Fremdeinschränkung eigener Freiheit durch andere, al­ lerdings nicht durch konkrete andere, sondern in Gestalt der rationalen Einsehbar­ keit und Übereinkunft, die – gleichsam im Voraus oder nachholend – Bedingungen festgelegt oder ermittelt hat, unter denen Freiheitskollisionen neutralisiert und zum Ausgleich gebracht werden können. Das „allgemeine Rechtsgesetz“ wird von Kant daher auch folgendermaßen formuliert: „[H]andle äußerlich so, daß der freie Ge­ brauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne.“50 Ob man die Rechtspflichten aus eigenem Antrieb erfüllt oder unter Zwang und Androhung von Sanktionen, interessiert da­ bei nicht. Die Prüfung der Zulässigkeit des von außen Erzwingbaren orientiert sich an den Gesichtspunkten allgemeiner Gerechtigkeit. Claesges, Legalität und Moralität in Hegels Naturrechtsschrift, S. 56. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 112, mit Bezug auf MS, S. 339 sowie MS, S. 512. 48 ÜG, S. 144. Die endgültige Formulierung findet sich in MS, Rechtslehre (1797), §§ B–C, S. 336 – 338. 49 Zur Unterscheidung von „juridisch“ (vernunftrechtlich) und „juristisch“ (positiv­ rechtlich) siehe Kants Beschreibung der Tätigkeit des Juristen: „Der schriftgelehrte Jurist sucht die Gesetze der Sicherung des Mein und Dein (wenn er, wie er soll, als Beamter der Regierung verfährt) nicht in seiner Vernunft, sondern im öffentlich gegebenen und höchsten Orts sanktionierten Gesetzbuch“ (Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten [1798], in: ders., Werkausgabe, Bd. 11, Frankfurt am Main 1977, S. 261 – 393, hier: S. 287, A 19 – 20). 50  MS, B 34, S. 338; vgl. Claesges, Legalität und Moralität in Hegels Naturrechtsschrift, S. 56 f. 46  47 

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

Die Selbständigkeit des Rechts gegenüber der Moral bekundet sich gerade in seiner Unabhängigkeit von der Rücksichtnahme auf die inneren Verpflichtungs­ gründe, von dem Interesse an der Erfüllung des moralischen Gesetzes und damit auch von ethiko-theologischen Implikationen, etwa dem Streben nach der Ver­ wirklichung des „höchsten Guts“, die jedoch für Kants Moralphilosophie insge­ samt entscheidende Horizonte bilden.51 Zwar entwickelt Kant kein System des po­ sitiven Rechts, doch zeichnet sich durch die spezifische Konstellation von Recht und Moral sehr wohl bereits die Möglichkeit der Positivierung des Rechtssystems ab. Expliziter als bei Kant wurde sie bereits kurz zuvor in Fichtes Grundlage des Naturrechts philosophisch ausgearbeitet und weist voraus auf die rechtspositivisti­ schen Lehren des 19. Jahrhunderts.52 Fasst man zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Kant entwirft den Begriff einer reinen Moralität, die sich am Prüfstein der von außen weder zugänglichen noch erzwingbaren, jedoch unbedingten Selbstverpflichtung messen und sich vor dem Gewissensforum der Innerlichkeit des Subjekts verantworten muss. Im Fall einer legalen Handlung wird hingegen von der Erwartung einer solchen unbeding­ ten Selbstverpflichtung abgesehen. Legalität wird als die Sphäre der egalitären Normierung der Verhältnisse entworfen. Die juridische Gesetzgebung verknüpft eine Norm mit Sanktion, ungeachtet dessen, ob diese Sanktion für den Handelnden selbst als äußerer Verpflichtungsgrund eine Rolle spielen mag oder nicht. Daraus ergibt sich eine Asymmetrie in ihrem Verhältnis: Während das Recht moralischer Beurteilung zugänglich bleiben muss, gilt die Umkehrung dieses Beurteilungszu­ sammenhangs nicht. 3.  Hegels Kant-Rezeption: Das Lob und das Verschwiegene Kehrt man nun vor diesem Hintergrund zu Hegels Kritik an Kants Moralphi­ losophie zurück, so werden einige wichtige Beobachtungen über die spezifische Ausrichtung seiner Kritik an Kant augenfällig. Hegel bezeichnet Kants Moralphi­ losophie als einen „falschen Versuch, in dem negativ Absoluten ein wahrhaftes […] aufzuzeigen“ und setzt sich zum Ziel, diesem Versuch „in seinen Hauptmomenten nach[zu]gehen“.53 Was Hegel zu den „Hauptmomenten“ von Kants praktischer Phi­ losophie zählt, ist aber gerade im Hinblick auf Hegels eigene Position besonders aufschlussreich. Von welchen „Hauptmomenten“ ist also hier die Rede? Im Zentrum von Hegels Kritik steht das Prüfverfahren der subjektiven Hand­ lungsgrundsätze – der Maximen – unter Anleitung des Kategorischen Imperativs, 51  Vgl. hierzu ausführlich Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen – Jena (1790 – 1794), Bd. 2, Frankfurt am Main 2004, S. 1467 – 1548: „Die Moraltheologie auf dem Weg zum Absoluten“. 52  Vgl. etwa Rudolf von Jhering, der das Recht als „Inbegriff der in einem Staat gel­ tenden Zwangsnormen“ bestimmt (ders., Der Zweck im Recht [1877], Bd. 2, Leipzig 1923, S. 249). 53  Vgl. NR, S. 459.

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und mit diesem Verfahren die legislative, gesetzgebende Form der Moral. Ferner ist es die Vorstellung des Gesetzes selbst als reiner Gesetzesform, die von Hegel problematisiert wird, und mit ihr das Problem der Äußerlichkeit im Verhältnis von Form und Inhalt von Maximen.54 Hegel verweist außerdem auf das Problem, dass es aufgrund der Ununterscheidbarkeit des Subjekts vom „Prädikat“ des „morali­ schen Satzes“ unmöglich werde, Urteile zu fällen.55 Darüber hinaus kritisiert er das Prinzip der Widerspruchsfreiheit,56 in dem er die problematische Orientierung der praktischen an der theoretischen Vernunft erblickt, sowie die Absolutsetzung der „Bestimmungen“ Gesetz, Recht und Pflicht. Worin die Spezifik von Hegels kritischer Kant-Rezeption besteht, springt sofort ins Auge, wenn man noch einmal an den für Kants Freiheitsbegriff entscheidenden „Doppelaspekt“ erinnert, der bereits bei der Erörterung der Kantischen Unterschei­ dung von Moralität und Legalität zur Sprache kam. Freiheit ist für Kant sowohl Prinzip der vernünftigen Einsicht – ein Beurteilungsprinzip – als auch Prinzip der „realen Verbindung“ dieser Einsicht mit der empirischen Welt – ein Prinzip der Handlungsausführung.57 In Dieter Henrichs Erläuterung besagt das Prinzip der Ausführung des Guten (principium executionis bonitatis), dass die Vernunft dem Willen ihre Verbindlichkeit geben soll, denn „[w]ürde sie nur das Rechte erkennen, nicht aber zugleich Grund seiner verpflichtenden Kraft sein, so wäre sie zwar das Vermögen, durch das es uns bekannt wird, aber nicht sein Ursprung. Es gäbe eine Autognosie der Vernunft hinsichtlich vernünftigen Handelns, aber keineswegs eine Autonomie. Zu ihr gehört ebenso sehr, dass die Vernunft die Kraft hat, Handlungen zu bewirken, die allein deshalb geschehen, weil sie vernünftig sind.“58 Berücksichtigt man diesen Zusammenhang, dass der Kantische Autonomie­ begriff sich in die Dimensionen der Beurteilung und der Ausführung von sub­ jektiven Handlungsgrundsätzen differenziert, so wird Hegels kritische Rezeption Kants umso bemerkenswerter. Denn es ist geradezu auffallend, dass der Aspekt der Ausführung einer autonomen Handlung, mit dem nach den Möglichkeitsbedin­ gungen von individueller Verbindlichkeit gefragt wird, in Hegels Kritik an keiner Stelle explizit erwähnt wird. Stattdessen zielt Hegels Kritik, mit Andreas Wildt gesprochen, ausschließlich auf den „rechtsförmigen Teilbereich […] moralischer Geltung“.59 Seine Einwände gelten insbesondere der Form des Vernunftgesetzes. 54 

Ebd., S. 461, 465. Ebd., S. 464, 466. 56  Vgl. über den Naturrechtsaufsatz hinaus: PhG, S. 317 f.; Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: ders., Werke, Bd. 20, S. 367 f.; GPR, § 135, S. 252 f. 57  Vom „Doppelaspekt“ und von „realer Verbindung“ spricht Dieter Henrich, Between Kant and Hegel. Lectures on German Idealism, Cambridge, MA 2003, S. 58: „[F]reedom be­ longs to the intellectual world, but has effects on the sensible world. The nature of such free­ dom has a double aspect. It is both a principle of insight and a principle of real connection.“ 58  Henrich, Ethik der Autonomie, S. 14. 59 Vgl. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 113, der diesen Gedanken allerdings nicht anhand der Analyse des Naturrechtsaufsatzes verfolgt. 55 

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

Es ist bekannt, dass Hegels – teils mit unfairen Mitteln geführte – Polemik ge­ gen Kant sich allem voran im Unmut über den Kategorischen Imperativ entlädt. Die Liste von Hegels Einwänden gegen den Kategorischen Imperativ ist lang. Zu ihr gehören nicht nur die Vorwürfe der Tautologie,60 der Willkürlichkeit und Belie­ bigkeit,61 der Überflüssigkeit,62 Widersprüchlichkeit63 und Falschheit,64 sie gipfelt sogar im Vorwurf der „Unsittlichkeit“.65 Hegels Bezugnahme auf den Kategori­ schen Imperativ ist allerdings insofern sehr spezifisch, als sie deutlich macht, dass seine Kritik sich insbesondere auf das Beurteilungsmoment und damit auf die Hin­ sicht der Erkenntnis des Guten konzentriert. Es ist die Prozedur der Beurteilung, deren Ergebnis in Hegels Augen desaströs ist: Von Kants Gesetzesformel ausge­ hend sei es geradezu unmöglich, „das Rechte zu erkennen“; stattdessen produziere das Gesetzgebungsverfahren lauter „Tautologien“. Wichtige Aufschlüsse darüber, wie diese Kritik gedeutet werden kann, lassen sich Dieter Henrichs Rekonstruktion des Problemzusammenhangs entnehmen, vor dem Kant selbst stand, als er seine Auffassung der moralischen Handlung als „Akt des Willens“66 entwickelte. Im Hinblick auf die Hegelschen Vorwürfe der „Tauto­ logie“ und „Formalität“, die er gegen Kants Moralitätsbegriff richtet, entbehrt es nicht der Ironie, dass Kant selbst sein Autonomiekonzept gerade gegen den forma­ len und tautologischen Charakter des Guten in den Lehren von Christian Wolff und William Wollaston herausarbeitete, wie Henrich gezeigt hat: Für Wolff bestand der formale Charakter des Guten in der „Übereinstimmung aller Tätigkeiten im größtmöglichen Ausmaß“, während Wollaston davon ausging, „man könne gute Handlungen an ihrer ‚inneren Wahrheit‘ erkennen, während böse immer zugleich einen Verstoß gegen einen evident wahren Satz implizieren“.67 Kants Einwand richtete sich nun Henrich zufolge vor allem gegen die jewei­ lige Tautologie, die sich in die Auffassung vom Guten einschleicht, wenn davon ausgegangen wird, dass der Wille seine Regeln „aus der Form der Vernunft nur als Erkenntnisvermögen“ bezieht. Denn in diesem Fall wären die Regeln nicht vo­ raussetzungslos. Sie setzten „Weltkenntnis“ und die Kenntnis der „Natur des Men­ schen“ bereits voraus.68 Nach all dem, was Hegels Kritik der Naturrechtsentwürfe vor Augen geführt hat, käme dies aber den naturrechtlichen Begründungsmustern gleich und wäre allein schon deshalb vormodern zu nennen. Es würde nämlich bedeuten, dass die „Erkenntnis des Guten“ bereits vorhanden wäre und der Prozess der Willensbildung und der willentlichen Handlung für überflüssig erklärt werden 60 

NR, S. 460. Ebd., S. 461. 62  Ebd., S. 463. 63  Ebd., S. 465. 64  Ebd., S. 463. 65  Ebd., S. 459. 66  Henrich, Ethik der Autonomie, S. 18 f. 67  Ebd., S. 18. 68 Ebd. 61 

C.  Hegels Kritik an Kant

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müsste.69 Die Frage, auf welche Weise der moralische Akteur zum Wissen vom Guten gelange, bliebe dabei völlig ungeklärt. Genau auf diese Frage, so Henrich weiter, suche Kant eine Antwort zu geben, wenn er die Aufmerksamkeit auf „die Form der Vernunft in ihrem Verhältnis zum Willen“ lenke. Kants Antwort könne aber vor diesem Hintergrund einzig lauten: „‚Wahrheit‘ (Wollaston) und ‚Übereinstimmung‘ (Wolff) hat der Wille nur in Be­ ziehung auf sich selbst, nicht auf Anlagen oder Sachverhalte.“70 Die gehaltvolle Bestimmung des Guten lasse sich nach Kants transzendentalphilosophischen Prä­ missen mithin nur funktional ableiten aus der Verpflichtung, die Allgemeinheit der Vernunft herzustellen bzw. zu realisieren. Henrich schlägt daher vor, „[d]as Ver­ hältnis des Gewollten zum guten Willen in Kants Ethik“ in Analogie zu „dem von Gegenstand und Verstand in seiner Theorie der Erkenntnis“ zu betrachten, deren Verwiesenheit aufeinander die „synthetische Einheit des Bewusstseins“ sichern soll:71 „Wer Kants Formel anwenden will, muß nur die Intentionen, die im Willen selbst gelegen sind, darauf prüfen, ob sie der Form der Vernunft, der Allgemein­ heit, angemessen sind, oder ob sie ihr widersprechen.“72 Hegels Kritik setzt nun genau an dieser Stelle ein: Eine „Form der Vernunft“, die wie eine „Formel“ angewendet werden soll, lautet Hegels Warnung, habe un­ sittliche Folgen für das Individuum und die Gemeinschaft. Das Unsittliche bestehe darin, dass es schlicht unmöglich werde, nach dieser Formel – also nach Maßgabe des Kategorischen Imperativs – darüber zu urteilen, wie man in konkreten Situa­ tionen handeln soll:73 „[J]ene reine praktische Vernunft“ erleidet Hegels Beschrei­ bung zufolge ein Fiasko, da sie gerade die für sie dringlichste Frage, was Recht und Pflicht ist, nicht beantworten könne, vor dieser Frage kapitulieren müsse.74 Dass Hegels Kritik auffallend einseitig ist, springt sofort ins Auge: Er konzen­ triert sich – in Henrichs Terminologie – auf die Hinsicht der „Autognosie“, der Erkenntnis des Guten, während das autonome Moment der Ausführung, um das es Kant doch gerade zu tun war, in der Hegelschen Kritik nahezu verschwiegen wird. Tatsächlich spricht aber paradoxerweise gerade wegen dieses merkwürdigen Ver­ schweigens alles dafür, Hegels Kritik als Ausdruck einer stillschweigenden Übereinstimmung mit Kant zu verstehen. Das Einverständnis besteht hinsichtlich der Behauptung der Autonomie: dass es darauf ankommt, ein Verständnis von Auto­ nomie als einer „Einheit von Vernunft und Triebkraft des Willens“75 zu gewinnen, worin sich die „handelnde Freiheit“76 des Einzelnen manifestiert. 69 Ebd. 70 

Ebd., S. 19. Ebd., S. 23. 72  Ebd., S. 20. 73  NR, S. 466. 74  Vgl. ebd., S. 460. 75  Henrich, Ethik der Autonomie, S. 13. 76  „Politisch handelnde Freiheit“ fordert Hannah Arendt, Der Verfolg des Glücks [1963], in: dies., Über die Revolution, München/Zürich 1964, S. 147 – 182, hier: S. 159. 71 

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

Für dieses Rätsel der selbstverpflichtenden Kraft des Willens, die in der sponta­ nen Verbindung von Begehren und Denken besteht, für das Rätsel des Handelns, in dem das „Mysterium der Freiheit“77 liege, interessiert sich auch Hegel unentwegt. Daher bringt er selbst inmitten seiner Kant-Kritik stets sein unmissverständliches Lob zum Ausdruck, das genau derjenigen „Seite“ der Moralität gilt, „nach welcher das Wesen des Rechts und der Pflicht und das Wesen des denkenden und wollenden Subjekts schlechthin eins sind“.78 Hegel bezeichnet diese Dimension der genuinen Übereinstimmung des Subjekts mit der über es hinausgehenden Verbindlichkeit als „die große Seite der Kantischen und Fichteschen Philosophie“.79 Diese Hinsicht der Übereinstimmung des handelnden Akteurs mit dem allgemeinen Gesetz als normativem Grundsatz seines Handelns, in dem sich nicht nur das vorausgesetzte Erfahrungswissen reproduziert, ist nicht nur eine äußerst wichtige, sondern sogar die entscheidende Bedeutungsdimension von Moralität. Mit ihr wird in die Ausübung von moralischer Freiheit überhaupt erst die aukto­ riale Perspektive der Autonomie eingetragen. Damit eröffnet sich aber zugleich die Möglichkeit, das Versprechen einzulösen, Individualität kraft egalitär verfasster rechtlicher und politischer Kultur zu verwirklichen, einer Kultur, mit der das In­ dividuum im Einklang sein kann. Genau auf dieser Erfahrung, „dass Vollzug und Wissen, eigenes Tun und eigene Einsicht sich entsprechen“, beruht in Christoph Menkes Formulierung „[d]ie Möglichkeit der anspruchsvollen Idee einer Rationa­ lisierung der Gleichheit durch ihre Selbstreflexion“.80 Kurzum: dass Moralität im Kern in dieser reflexiven Erfahrung der auktorialen Autonomie liege, die in der Realisierung von individueller und zugleich allgemeiner Verbindlichkeit besteht – darin folgt Hegel klarerweise Kants autonomietheoretischem Vorstoß. Vor dem Hintergrund der Auszeichnung der auktorialen Autonomie ist es ge­ wiss auch kein Zufall, dass Hegel der Moralität – spätestens in seiner Phänomenologie des Geistes, wo Moralität als „der seiner selbst gewisse Geist“ bestimmt wird – einen überaus privilegierten Ort zuweist: Moralität bildet hier den krönenden Abschluss des Geist-Kapitels, wird aber von Hegel nicht allein als das moderne Freiheitsprinzip gewürdigt, sondern genau in der Glück verheißenden Qualität ihres „Zwecks“ gefeiert. Dieser Zweck bestehe darin, „da[ss] die erfüllte Pflicht ebensowohl rein moralische Handlung als realisierte Individualität sei, und die Natur, als die Seite der Einzelheit gegen den abstrakten Zweck, eins sei mit diesem“.81

77  Vom „Mysterium der Freiheit“ spricht Hegel im Moralitätskapitel der Rechtsphiloso­ phie bezeichnenderweise dann, wenn es um die „wahrhafte“ Bedeutung des „Gewissens“ geht: „Gewissen ist das Gute, als bestimmend, wollend, sich entschließend. […] Gewissheit seiner selbst – als Gew[ißheit] Wissen von dem Guten – Sein und Setzen – Mysterium der Freiheit – dass es seine Selbstbestimmung ist, – an sich – Begriff“ (GPR, § 137, Z, S. 256). 78  NR, S. 469 f. 79  Ebd., S. 470. 80  Menke, Spiegelungen der Gleichheit, S. 204 – 205 (Herv. T. S.). 81  PhG, S. 444.

C.  Hegels Kritik an Kant

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Hegels Kritik an Kants Moralitätskonzeption kann sich mit anderen Worten gar nicht auf den Zweck der Autonomie beziehen, sondern nur auf die Mittel ihrer Re­ alisierung. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass es insbesondere das von Kant vorgeschlagene Verfahren der Unterwerfung unter selbstgegebene Gesetze ist, das ins Visier der Hegelschen Kritik gerät und als ungeeignet verworfen wird. Dieses Verfahren wird aber nicht grundlos verworfen, denn Hegel zufolge lässt sich die Autonomie des Subjekts auf diesem Wege gerade nicht bzw. nur in einge­ schränkter, einseitiger oder gar verfälschter Form verwirklichen. Bedenkt man, dass Hegels Kritik durch Bedenken dieser Art veranlasst ist, kann man sie zwar gewiss einseitig, jedoch keinesfalls „einfältig“82 nennen. Paradoxer­ weise erlaubt es sogar gerade diese einseitige Betrachtung, eine differenziertere Sicht auf das Verständnis von Autonomie selbst zu gewinnen: Hegel warnt davor, dass, solange in der Autonomiefigur die Perspektive des handelnden – und deshalb erst individuellen – Subjekts der juridischen Dimension der Selbstgesetzgebung untergeordnet bleibt, sich auch die inhaltlichen Fragen, was man tun soll, was rech­ tens und was Pflicht ist, zur Selbstaffirmation der bloßen Form des Vernunftge­ setzes – und indirekt des Bestehenden – verflüchtigen werden. Ein beschränktes Autonomieverständnis ist mithin eines, das lediglich der Bekräftigung der Form des obersten moralischen Gesetzes – des Kategorischen Imperativs – dient. Hegels Argumentation verrät jedoch ein weiteres wichtiges Anliegen, nämlich zu zeigen, dass die Einsicht in das moralisch Gebotene nach dem kritisierten Ver­ fahren der Gesetzesprüfung nicht nur die bereits bestehenden Normen affirmiert, sondern auch stets prekär bleiben muss. Hegels Einwände lassen sich so verstehen, als ginge es ihm – nicht weniger als Kant – um die Sicherung von rechtlichen und moralischen Verhältnissen. Gerade weil Hegel aber unterstellt, dass eine solche Sicherung in Kants Entwurf unvermeidlich misslingen muss, fordert er dazu auf, die Natur der rechtlichen und moralischen Verpflichtung einer Umdeutung zu un­ terziehen. Hegels kritische Bewertungen gelten mithin nur einer bestimmten, begrenzten Auffassung von Moralität, während zugleich ein anderes Verständnis von Morali­ tät83 stillschweigend affirmiert wird, das in Kants Moralphilosophie zwar behaup­ tet, aus Hegels Sicht jedoch zugleich verstellt wird und erst dann zur Geltung kom­ men kann, wenn man den Rahmen der Kantischen Philosophie insgesamt verlässt. 82  Zu der Klage, wie „unglaublich einfältig“ Hegels Einwand der Inhaltsleere gegen das Kantische Moralprinzip sei, siehe etwa Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, S. 291; eine bekannte Richtigstellung – neben unzähligen anderen aus der Hegel-Kant-Diskussion – ist die von Julius Ebbinghaus, Deutung und Missdeutung des kategorischen Imperativs [1948], in: ders., Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, S. 80 – 96. 83  Zur differenzierten Sichtweise Hegels auf die Kantische Moralitätskonzeption, in der sich Kritik und Affirmation verbinden, siehe – allerdings vorwiegend mit Bezug auf He­ gels Moralitätskritik in den Grundlinien – Allen W. Wood, Hegel’s Critique of Morality, in: Ludwig Siep (Hrsg.), G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1997, S.  147 – 166.

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

Vor allem das bedenkenswerte Fehlen einer expliziten Aufnahme des Kantischen Autonomiemotivs innerhalb jener Kritik an Kant, die Hegel im Naturrechtsaufsatz äußert, erweist sich mithin als symptomatisch: Diese Auslassung ist nicht zufällig und muss als konstitutiver Teil auch der inhaltlichen Auseinandersetzung Hegels mit Kants praktischer Philosophie gedeutet werden. Denn ihrem Gehalt nach trans­ portiert Hegels Kritik die Aussage, dass gerade diejenige Dimension subjektiver Freiheit, um die es Kant letztlich zu tun war, in Kants eigenem Rahmen verdrängt, wenn nicht gar verunmöglicht wird. Falls es aber tatsächlich zutrifft, dass Autonomie auf die Kantische Weise nicht oder nur unvollständig und eingeschränkt zur Geltung kommen kann und genau dieser Zusammenhang letztlich die Quintessenz der Hegelschen Kant-Kritik bildet (wofür hier argumentiert wurde), stellt sich die Frage nach den Gründen, die zu erklären vermögen, weshalb oder wodurch Autonomie in ihrer Entfaltung blockiert wird. Um den Verlauf der weiteren Untersuchungsschritte vorwegzunehmen, sei an dieser Stelle kurz skizziert, welche Perspektiven berücksichtigt werden müs­ sen, um diese Frage zu beantworten. Eine mögliche erste Antwort hängt mit dem Befund der wechselseitigen Defizienz von Recht und Moral zusammen und mit dem Problem der notwendigen Perpetuierung des Zwangs, der ihrem Verhältnis inhärent ist. Die zweite Antwort betrifft die Kritik am Verfahren der Prüfung von subjektiven Maximen und überhaupt den Prozess der Urteilsbildung über das Gute. Dieser zweite Schritt berührt ganz unmittelbar die Fragen der Subjektkonstitution und des selbstregierten Lebens. Die dritte Antwort betrifft schließlich die sozialphilosophischen Implikationen dessen, wie die Natur der moralischen und rechtli­ chen Verpflichtungen ausgehend von Kant gedacht – oder aber gerade nicht mehr gedacht – werden kann. Im Durchgang durch alle diese autonomietheoretisch relevanten Felder, die im Folgenden nacheinander diskutiert werden sollen, darf ein weiterer wichtiger Zusammenhang nicht außer Acht gelassen werden. Wie bereits erwähnt, steht im Fluchtpunkt von Hegels Polemik gegen Kant der Befund und der Vorwurf der „Ver­ wechselung“ der „relativen“ mit der „absoluten“ Sittlichkeit, des „falschen“ Auto­ nomieverständnisses mit dem wahren. Auf den ersten Blick ist es aber gar nicht verständlich, weshalb ein beschränktes Verständnis von Autonomie nicht einfach nur ein unvollständiges und dementsprechend zu korrigierendes oder um weitere Elemente zu ergänzendes sein sollte, sondern eines, das von Hegel als „falsch“ gebrandmarkt wird. Gelingt es, auch darüber Aufschluss zu gewinnen, worin der Vorwurf der Falschheit gründet, so wird man erkennen, dass Hegels Kant-Kritik nicht nur eine im Gewand der Moralitätskritik geführte Rechtskritik ist, sondern letztlich auch als eine Ideologiekritik des Rechts gedeutet werden muss.

C.  Hegels Kritik an Kant

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II.  Die Gegenstände der Kritik 1.  Über die wechselseitige Defizienz von Recht und Moral: Die Notwendigkeit des Zwangs In Hegels Auseinandersetzung mit Kant verbinden sich Affirmation und Kritik. Zweifellos würdigt Hegel die Leistung Kants, die Herausforderung erkannt zu ha­ ben, Autonomie nur dann begründen zu können, wenn sie auf eine neue theoreti­ sche Grundlage gestellt wird: Der freie Wille darf seine Regeln nicht „aus der Form der Vernunft als bloßes Erkenntnisvermögen“ beziehen,84 so als wären die Gehalte dieser Regeln – ihr Stoff – bereits vorhanden und im moralischen Urteil bloß zu reproduzieren oder zu bestätigen. Darin ist Kant recht zu geben. Doch zugleich nimmt Hegel einschränkend an, dass Autonomie gerade aufgrund der Begründung, die ihr Kant gegeben hat, nicht zur Geltung kommen kann. Im Folgenden soll nun in mehreren Schritten erwogen werden, was genau Hegel zufolge an der Kantischen Begründung letztlich fehlgeht bzw. wodurch Autonomie verunmöglicht wird. Die­ se Frage ist nicht zuletzt deshalb komplex, weil Hegel sie nicht direkt beantwortet und man sich daher der Gründe seiner Kritik nur in einer Reihe von interpretativen und rekonstruktiven Anstrengungen vergewissern kann. Sie erschließen sich erst aus den Implikationen von Hegels explizit vorgetragenen Einwänden. Im ersten Zugriff geht aus Hegels Ausführungen hervor, dass das Ausbleiben der Realisierung von Autonomie damit zusammenhängt, dass das ganze Feld des Sittlichen in der Kantischen Moraltheorie buchstäblich auseinanderfällt. Dieses Auseinanderfallen bringt einen Zuwachs an Unsicherheit, Unverlässlichkeit und Instabilität in das „System des Sittlichen“ hinein. Die Unsicherheit betrifft dabei sowohl die Möglichkeit des selbstregierten Lebens des Individuums als auch die Verlässlichkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen und sozialer Praxis: Die „Notwendigkeit verkehrt sich in Zufälligkeit“85 – so lautet die zentrale Formel, mit der Hegel diesen Zustand der Unsicherheit charakterisiert. Diese beiden Stränge – auf der einen Seite der Befund, der sich auf die Mög­ lichkeit eines selbstregierten Lebens des Einzelnen bezieht, und auf der anderen Seite die Reflexion auf eine Dimension von intersubjektiven Beziehungen, deren Gelingen unter dem „System des relativen Sittlichen“ bedroht zu sein scheint – sind näher zu diskutieren. Doch zuvor noch ist darüber nachzudenken, wie Hegel über­ haupt zu dieser Auffassung gelangt, dass Unsicherheit durch rechtlich-moralische – am Autonomieprinzip ausgerichtete – Mechanismen nicht etwa abgeschafft, son­ dern durch diese Mechanismen selbst aufrechterhalten wird und sich fortschreibt, wenn nicht gar potenziert. Hier ist Hegels Einsicht in die wechselseitige Defizienz von Recht und Moral aufschlussreich, weshalb dieser Zusammenhang als Erstes zu diskutieren sein wird.

84  85 

Henrich, Ethik der Autonomie, S. 18. NR, S. 467.

2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

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Um ins Auge zu fassen, worin diese Defizienz besteht, ist es wichtig, an Kants Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft zu erinnern. Für Hegel signalisiert diese Unterscheidung, dass die Sphären der „physischen“ und der „sitt­ lichen Natur“ auseinandergetreten sind. Auf die eine Seite fällt dabei die unkalku­ lierbare kontingente Realität der „Vielheit“, etwa der Bedürfnisse und Neigungen. Mit diesem Bereich der „physischen Natur“ befasst sich die auf die Empirie an­ gewiesene theoretische Vernunft. Auf die andere Seite fällt die „sittliche Natur“, die dem Kompetenzbereich der praktischen Vernunft zuzurechnen ist und sich ih­ rerseits in die besagten Sphären der Moralität und der Legalität aufspaltet. Wie bereits erwähnt, geht es hier einerseits um „das wollende und denkende Subjekt“ der Moral; andererseits soll aber gerade das äußere Zwangssystem der Gesetze die äußere Übereinstimmung der Handlungen des Subjekts mit Recht und Pflicht sicherstellen. Mit dieser Unterscheidung von Natur und Sitte scheint Hegel auf den ersten Blick auch hier auf Kants eigene Position zu rekurrieren: „Die Philosophie der Natur geht auf alles, was da ist“, hält bereits Kant fest, „die der Sitten nur auf das, was da sein soll.“86 Der wesentliche Einwand, den Hegel gegen Kants Trennung zwischen Sein und Sollen vorbringt, zielt indes darauf ab, dass die Kantische Sollensforderung so­ lange defizient bleibt, wie „das, was da sein soll“ nur über die Relation des Zwangs sichergestellt werden kann. Mit dem Verweis auf das Problem des Zwangs macht Hegel aber auf die wechselseitige Defizienz von Recht und Moral aufmerksam: Zwar scheinen sie sich zu voneinander unabhängigen Sphären verfestigt zu haben, doch diese Unabhängigkeit ist nur Schein. Denn in Wahrheit werden sie – solange man innerhalb der Relation von Besonderem und Allgemeinem verbleibt – niemals zu klar voneinander unterscheidbaren oder gar trennbaren Größen. Gerade weil sie sich immer nur wechselseitig bestimmen – denn „jede ist beides in der Relation aufeinander“, so Hegel –, ist aber „weder die Legalität noch die Moralität absolut positiv oder wahrhaft sittlich“.87 Wie lässt sich dieses Argument verstehen, dass Recht und Moral sich nur über eine Zwangsrelation und damit immer nur auf eine problematische Art und Weise wechselseitig bestimmen können? Die Überlegung scheint nicht besonders originell zu sein: Der Zwang ist dem Kantischen Modell der moralisch-rechtlichen Verhältnisse deshalb inhärent und er­ scheint unvermeidlich, weil auf die Erfüllung der moralischen Pflichten seitens der jeweiligen Subjekte kein Verlass ist. Hegels Argument würde demnach – wie zuvor schon die von Schiller geäußerte Kritik an Kant – auf bestimmten anthropologi­ schen Annahmen basieren: Sich auf die pünktliche Erfüllung der Pflicht verlassen zu können, sei unmöglich, weil die einzelnen Subjekte unter den Bedingungen der Endlichkeit stehen, ihrer sinnlich-pathologischen Natur misstrauen müssen und gerade über keinen „uneingeschränkt guten Willen“ verfügen. Die Ausführungen im Naturrechtsaufsatz erlauben es, diese Überlegungen sogar zu der Feststellung zuzuspitzen, dass in dem Maße, wie die Erfüllung der Moral (qua interne Ver­ 86 

KrV, B 868, S. 701.

87 Ebd.

C.  Hegels Kritik an Kant

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pflichtungsfähigkeit) zufällig bleibt, das Recht notwendig88 wird. Das Recht wird zum buchstäblich äußeren Zwang, denn nur in dieser Form kann der Zufallscha­ rakter der Erfüllung von moralischen Pflichten überwunden werden. In der Hegel-Forschung ist dieser transzendentalanthropologisch gestützte Ein­ wand gegen den Zufallscharakter der Moral des Einzelnen häufig betont und als Begründungsmotiv dafür angegeben worden, dass Hegel darauf insistiert, dass substantielle Lebensformen und Institutionen dem einzelnen Individuum vorgängig seien.89 Die Kritik an Gesellschaftstheorien, in denen vom Einzelnen ausge­ gangen wird, hält sich bei Hegel in der Tat bis in die Berliner Rechtsphilosophie durch: „Nach diesem einmal angenommenen Prinzip“, schreibt er dort im Hinblick auf Kant und Rousseau, „kann das Vernünftige freilich nur als beschränkend für diese Freiheit [des Einzelnen; T. S.] sowie auch nicht als immanent Vernünftiges, sondern nur als ein äußeres, formelles Allgemeines herauskommen.“90 Doch He­ gels Einwände scheinen fundamentaler zu sein und über die bloßen Bedenken hinsichtlich der Durchführbarkeit des transzendentalphilosophischen Programms hinauszugehen. Versucht man Hegels Einwände zu systematisieren, so ist es insbesondere die oben erwähnte Problematik der Äußerlichkeit von Form und Inhalt, von der die moralische Gesetzgebung betroffen ist, die sich wie ein roter Faden durch alle kriti­ schen Ausführungen bezüglich Kants hindurchzieht. Hegel liest Kant so, als würde er über die Annahme eines äußerlichen Verhältnisses von Form (die Hegel auch „Einheit“, „Allgemeinheit“ oder schlicht „Gesetz“ nennt) und Inhalt (die er auch „Materie“ oder „Stoff“ nennt) nicht hinausgelangen. Über die Form äußere sich Kant so, als sei sie etwas, was zu den Inhalten qua „Bestimmtheit“ („Einzelheit“) bloß „hinzukommt“91 oder darauf gleichsam appliziert wird, ohne dass die Vermittlung von Inhalt und Form gedacht werden kann: „Daß also dieser Formalismus ein Gesetz aussprechen könne, dazu ist notwendig, daß irgendeine Materie, eine Be­ stimmtheit gesetzt werde, welche den Inhalt des Gesetzes ausmache, und die Form, welche zu dieser Bestimmtheit hinzukommt, ist die Einheit oder Allgemeinheit.“92 An anderer Stelle spricht Hegel vom „Gesetz“ als dem „Ausdruck dieser in die Form aufgenommenen Bestimmtheit“,93 wobei die Rede von der bloßen Aufnahme der Inhalte in das Gesetz ebenfalls suggeriert, dass das so verstandene Gesetz den Inhalten äußerlich bleibt. 88 

Vgl. NR, S. 467. etwa Rüdiger Bubner, Hegels politische Anthropologie, in: ders., Innovationen des Idealismus, Göttingen 1995, S. 72 – 85, insb. S. 75 ff.; siehe auch Lübbe-Wolff, Die Aktu­ alität der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 328 – 349 sowie Horstmann, Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie, S. 280 f. 90  GPR, § 29, S. 81. 91  NR, S. 460, S. 461. 92  Ebd., S. 461. 93  Ebd., S. 460. 89  Vgl.

2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

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Auf einer sehr basalen Ebene kommt es Hegel darauf an, zu zeigen, dass die Äußerlichkeit des Verhältnisses von Form und Stoff sowohl dem Inhalt schadet als auch die Form verfälscht. Als besonders problematisch wird dabei zum einen die imperativische Form des Gesetzes als Befehl herausgehoben, weil sie zwangsläufig im Verhältnis zwischen dem „Einen“ und dem „Vielen“ einen Vorrang des „Einen“ etabliert, und zum anderen die formale Verfasstheit dieses Imperativs, der als Prin­ zip der Verallgemeinerung fungiert. Diese bloß formale Verfasstheit des Kategori­ schen Imperativs lässt aber die Unterscheidung zwischen moralisch Richtigem und rechtlich Erlaubtem unscharf werden. Dabei konstatiert Hegel, dass das Subjekt angesichts des Problems des Auseinandertretens von Form und Inhalt, von Not­ wendigkeit und Kontingenz, von Allgemeinheit und Besonderheit nicht nur stets auf rechtliche Sicherungsmechanismen zur Aufrechterhaltung der gesellschaftli­ chen Ordnung angewiesen bleibt, sondern auch jederzeit selbst an einem inneren Widerspruch leiden muss. Bereits Schiller hat in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen ähnlich gelagerte Bedenken gegen transzendentalphilosophische Figuren geäußert: „In einer Transzendentalphilosophie“, schreibt Schiller lange vor Hegels Naturrechtsaufsatz, „wo alles darauf ankommt, die Form von dem Inhalt zu be­ freien und das Notwendige von allem Zufälligen rein zu erhalten, gewöhnt man sich gar leicht, das Materielle sich bloß als Hindernis zu denken und die Sinnlich­ keit, weil sie gerade bei diesem Geschäft im Wege steht, in einem notwendigen Widerspruch mit der Vernunft vorzustellen.“94 Und er fügt hinzu: „Eine solche Vorstellungsart liegt zwar auf keine Weise im Geiste des Kantischen Systems, aber im Buchstaben desselben könnte sie gar wohl liegen.“95 Hegel argumentiert ganz analog zu diesem Einwand Schillers: Da Besonderes und Allgemeines, Materie und Form nicht vermittelt werden können, muss notwendigerweise angenommen werden, dass „[jene bestimmte] Materie und [diese unendliche] Form sich wider­ sprechen“96 müssen, denn die Gleichsetzung beider würde „nur ein Vernichten der Bestimmtheit“ bedeuten.97 In dieser Beschreibung kehrt die oben dargestellte Form der modernen Entzwei­ ung zurück – die Form der Trennung von formellem Recht auf der einen Seite, dem es um die (Wieder)herstellung des Allgemeinen geht, allerdings ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des Einzelnen, und der Moral auf der anderen Seite, die sich vom Zufallscharakter der stets besonderen Pflichterfüllung nicht freimachen kann. Von „besonders“ ist hier in Bezug auf das einzelne Subjekt die Rede, wobei seine Begierden und Neigungen gemeint sind, denen es nicht immer trauen darf, aber auch im Hinblick auf die situativen Anwendungsbedingungen, unter denen die „Vorstellung“ der „reinen Pflicht“ sich konkretisieren muss. Denn auch sie 94 

Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 607 f., Anm. zum 13. Brief.

95 Ebd. 96 

NR, S. 465.

97 Ebd.

C.  Hegels Kritik an Kant

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bleiben kontingent. Solche Bedingungen sind nicht immer günstig, wie Hegel im Abschnitt über die „moralische Weltanschauung“ in der Phänomenologie betont: „[D]ie Natur [ist] unbekümmert darum, ihm [dem moralischen Bewusstsein; T. S.] das Bewußtsein der Einheit seiner Wirklichkeit mit der ihrigen zu geben, und [läßt] es also vielleicht glücklich werden […], vielleicht auch nicht.“98 Unter diesen Umständen gewinnt das „System der Legalität“ enorm an Bedeu­ tung: Das Recht erhält die Funktion, moralisches Fehlverhalten zu kompensieren, denn „die Möglichkeit, daß der reine Begriff und das Subjekt der Pflicht und des Rechts nicht eins seien, muß unabänderlich und schlechthin gesetzt werden“.99 Die „Idealität“ von Recht und Moral – ihre Angewiesenheit auf die höhere sittliche Ein­ heit, von der aus es möglich wäre, den Gehalt von Recht und Moral sowie die Krite­ rien ihrer Unterscheidung zu bestimmen – bleibt „bloße Möglichkeit beider“100 und damit letztlich zufällig, vom subjektiven Belieben oder von kontingenten Umstän­ den affiziert. Hegel scheint damit auf eine Fehlkonzeption dessen aufmerksam zu machen, worin die Funktion von Recht und Moral besteht, und unterstreicht damit nochmals den Gedanken, dass Moralität und Legalität „nach der absoluten Idee“101 bestimmt werden müssen, damit sie in ihrer jeweiligen Spezifik überhaupt richtig erkannt und in ihren Kompetenzbereichen voneinander abgegrenzt werden kön­ nen. Hegel argumentiert dabei aber vor allem hinsichtlich der Konsequenzen, die widrigenfalls eintreten, eben dann, wenn Recht und Moral nicht „nach der absolu­ ten Idee“ bestimmt werden. Mit seinem Befund der wechselseitigen Defizienz von Recht und Moral bringt Hegel zum Ausdruck, dass das Recht als äußeres Zwangs­ system notwendig wird, während die Moral im Rahmen des bloß Möglichen und letztlich Zufälligen verbleibt. Im Dilemma des Widerspruchs scheint sodann einer der Gründe für den Zu­ stand, in dem Moral zufällig und das Recht notwendig wird, nachgeliefert zu sein: Geht man immer schon von einem Widerspruch zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen aus, oder schwächer formuliert, von einer Nichtübereinstim­ mung des Einzelnen mit dem (moralischen) Gesetz, so wird das Misstrauen – ge­ genüber sich selbst und gegenüber anderen – zur Begleiterscheinung einer jeden Handlung. Einerseits wird suggeriert, dass das Subjekt sich aufgrund seiner sinnli­ chen, empirisch-individuellen Natur immer schon und unvermeidlich im Konflikt mit dem moralischen Gesetz befinde. Diese Suggestion benimmt dem Handelnden die Verlässlichkeit seines eigenen Tuns, wodurch selbstregiertes Leben verunmög­ licht wird. Andererseits geht aber auch das Vertrauen in soziale Praktiken verlo­ ren. Wenn Hegel unter Rückgriff auf Fichte vom Verlust von „Treu und Glauben“ spricht, so kommt darin sein Bedauern darüber zum Ausdruck, dass die Gemeinschaft in letzter Konsequenz erst durch die für ihre Konstitution notwendige Ein98 

PhG, S. 444. NR, S. 470. 100 Ebd. 101  Ebd., S. 509. 99 

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

willigung zum äußeren Zwang Bestand erhält. Die Äußerlichkeit des Zwangs lässt aber, dies scheint Hegels eigentliche Sorge zu sein, das ganze gesellschaftliche Ge­ füge instabil werden. In der Begrifflichkeit des Naturrechtsaufsatzes lässt sich das Gesagte folgen­ dermaßen wiedergeben: Der Widerspruch zwischen der bestimmten Materie und der unendlichen Form führe entweder zu einem „Vernichten“ der Bestimmtheit, zur „Negation des Vielen“ oder aber zur Perpetuierung der Differenz zwischen den beiden.102 Dieser Widerspruch zwischen Materie und Form lässt sich also nicht als ein produktiver Widerspruch begreifen. Hegels Beschreibungen, insbesondere seinem Befund der Äußerlichkeit der Form bzw. ihres Unvermögens, dem Indivi­ duellen gerecht zu werden, ist folgendes Argument zu entnehmen: Da zwischen Inhalt und Form, zwischen Subjekt und Gesetz keine echte Differenz, sondern le­ diglich ein „analytisches Verhältnis“ bestehe, werde nur eine falsche Allgemeinheit generiert. Falsch sei sie aber deshalb, weil Inhalt und Form, Subjekt und Gesetz, so­ bald die Allgemeinheit erzeugt wird, darin nicht mehr voneinander unterschieden werden können. Hegel zufolge führt das aber dazu, dass überhaupt keine Urteile mehr gefällt werden können,103 „weil das Verhältnis des Subjekts zum Prädikat bloß formell und gar keine Differenz derselben gesetzt ist“.104 Dass Hegel es „falsch“ nennt, Besonderes und Allgemeines auf diese Weise zueinander ins Verhältnis zu setzen, lässt sich zum einen so verstehen, dass die Logik des formellen Prinzips eine andere ist als die des Besonderen, so dass es zwangsläufig zu unproduktiven Widersprüchen führen muss, wenn die Differenz der beiden Logiken nicht bedacht wird. Zum anderen besteht das „Falsche“ an dem Verhältnis in der misslingenden Vermittlung zwischen dem Besonderen und Allge­ meinen: „Und indem sie [die unendliche Form; T. S.] so isoliert wird, ist sie selbst nur die kraftlose, von der wahrhaft vernichtenden Macht der Vernunft verlassene Form, welche die Bestimmtheiten in sich aufnimmt und beherbergt, ohne sie zu vernichten, sondern sie im Gegenteil verewigt.“105 Dieser Einwand lässt sich so interpretieren, dass die Differenz – als das Andere der gesetzesförmigen Einheit – in der Suggestion von gesetzesmäßiger Überein­ stimmung übergangen, aber gerade dadurch paradoxerweise freigesetzt und potenziert wird. Trägt man bei „Differenz“ beispielsweise „sinnliche Natur“ ein, die, um Schillers Bild zu verwenden, gegen ihre Unterdrückung seitens der Vernunft rebelliert, so ist es unausweichlich, dass die Natur qua Differenz „mit Nachdruck ihre Rechte [behauptet], und da sie niemals willkürlich fordert“, schreibt Schiller, „so nimmt sie, unbefriedigt, auch keine Forderung zurück“.106 In Hegels Bild wird 102 

Ebd., S. 466. Vgl. ebd., S. 466 f. 104  Ebd., S. 466. 105  Ebd., S. 469. 106 Vgl. Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde [1793], in: ders., SW, Bd. 5, S. 439 – 488, hier: S. 472. 103 

C.  Hegels Kritik an Kant

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aber aus der „Differenz“, der kein Recht widerfährt, eine schlechte Differenz: Be­ liebigkeit der Willkürfreiheit, die ihr Recht fordert. Hegel will offenbar sagen, dass die bloß äußere Anwendung der Form auf kon­ krete Gehalte, die mit der Form nicht vermittelt sind, zu einer bloßen Vervielfäl­ tigung des Vielen führt, das sich in seinem bloßen Bezug zum Allgemeinen, zu der ihm als Besonderem stets fremden und äußeren Form, erschöpft. Mit diesen Beschreibungen verbindet sich das Bild der Perpetuierung des Bestehenden und in eins damit eine Vision des Stillstands und der unsittlichen Aufspreizung des Bedingten zum Unbedingten, das Bild der unzulässigen Verabsolutierung der „Bestimmtheit“ und „Einzelheit“ zu einem „Ansich“. Die Verselbständigung der Einzelnen ist aber für Hegel wiederum ein Signal dafür, dass die wahre Aufhe­ bung im Allgemeinen misslungen ist. „[D]as verkehrte Wesen jener Einheit“,107 die gegenüber den eigenen Gehalten ihren äußeren Status behält, erlaube es nicht, eine „positive Indifferenz der Bestimmtheiten“ zu denken. Die „Vermischung von Bestimmtheiten“, die aufgrund der misslungenen Vermittlung eintritt, führt aber zu der problematischen „Verkehrung des Notwendigen zum Zufälligen“.108 Hegels Klage über die „Vermischung“ einzelner Bestimmungen statt ihrer Auf­ hebung in einer höheren Form betrifft im Kern das Gesetzgebungs- und Prüfungs­ verfahren, das für Kants Moralitätsbestimmung grundlegend ist und das Hegel ins Zentrum seiner Kritik stellt. Aus Hegels Sicht produziert dieses Verfahren keine sinnvollen Ergebnisse,109 denn im Zuge dieses Verfahrens werde die Absolutheit der Form dem „Bedingten des Inhalts“ nur „untergeschoben“. Auf diesem Weg sei das moralisch Gebotene jedoch nicht nur nicht zu bestimmen, sondern die Sach­ verhalte werden sogar ins Gegenteil verkehrt und es werde „Taschenspielerei“ be­ trieben.110 Es mag zynisch erscheinen, aber Hegel scheint zu unterstellen, dass das Kantische Verfahren zur Prüfung von Maximen erst dann einsetzen muss, wenn eine Strategie zur Legitimierung von (strittigen) Maximen gebraucht wird. Dies impliziert aber, dass Hegel in der Prüfung der Maximen unter der Ägide des allge­ meinen Gesetzes nicht mehr als einen bloßen Vorgang sieht, mit dem das rechtlich oder subjektiv Erlaubte aufgefunden werden kann. In Hegels Kritik schwingt da­ bei unausgesprochen mit, dass die Bestimmung dessen, was moralisch richtig und positiv geboten ist, unter diesen Vorzeichen stets prekär und ungesichert bleiben muss. Warum es sich so verhält, ist nun zu diskutieren.

107 

NR, S. 466. NR, S. 467. 109  Ebd., S.  459 – 469. 110  Ebd., S. 464. 108 

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

2.  Hegels Kritik des Verfahrens a)  Die Verkehrung von moralischer Richtigkeit in rechtliche Erlaubtheit Hegels Auseinandersetzung mit Kant wird besonders häufig als eine Kritik am Kantischen Formalismus wahrgenommen. Andreas Wildt hat treffend beschrie­ ben, was unter „Formalismus“ zu verstehen ist: Es ist „die Annahme, aus der mo­ ralischen Richtigkeit einer Handlung folge notwendig ihre praktische Richtigkeit schlechthin (‚Formalismus‘), unabhängig von dem sittlichen Kontext der Hand­ lung (‚Absolutismus‘)“.111 Als wäre dieser „für Kantianer schwer erträglich[e] Ein­ wand“112 des Formalismus nicht schon genug, werden die Vorwürfe des Forma­ lismus und Absolutismus durch Hegels Ausführungen selbst konterkariert, wenn er an einer späteren Stelle des Aufsatzes113 ausgerechnet nach der kontextuellen Basis für die Moral dieses Typs fragt und ihren Geltungsanspruch auf diese Weise noch zusätzlich relativiert. Völlig unbeirrt davon, dass Kant selbst es für ganz es­ sentiell hielt, dass Moralität kontextunabhängig begriffen werde, sucht Hegel die historischen und ideologischen Voraussetzungen dieser Vorstellung von Moral zu exponieren, um sie dann wiederum – im Sinne eines rekonstruierten Kontextes – auf das Verfahren zur Bestimmung moralischer Richtigkeit zurückzuprojizieren. Am radikalsten hat sich Andreas Wildt dazu geäußert: „Wie immer man die Kantische Ethik interpretieren sollte, Hegel hat sie seit Frankfurt im wesentlichen als ein System des bloßen Rechtsbewußtseins […] aufgefaßt, wenn er auch stets dazu neigte, sie als ein System von leeren Tautologien, Formalismen und Wider­ sprüchen pauschal zu verwerfen.“114 Dabei erkläre sich diese Ambivalenz in Hegels Kant-Rezeption „systematisch aus der Ambivalenz des Rechts im Kapitalismus, die die Kantischen Aporien erzeugte: In der Sphäre der Zirkulation gilt das Ge­ setz des Äquivalententausches, in der Produktion aber das der Ausbeutung, der Aneignung fremder Mehrarbeit. Die Ausgrenzung des entscheidenden sozialen Faktors, der Verfügung über die Produktionsmittel, aus dem Bereich gesellschaft­ licher Kontrolle und die entsprechende ‚Rechtsform‘ der Erzwingbarkeit erlauben lediglich ‚formalistische‘ Handlungsregeln.“115 Im Naturrechtsaufsatz, auf den Wildt keinen Bezug nimmt, setzt Hegels Kritik jedoch nicht erst bei der Ausblendung des sittlichen Kontextes ein oder bei der spä­ ter von Marx analysierten Operation des Entzugs der gesellschaftlichen Kontrolle über den „sozialen Faktor, der Verfügung über die Produktionsmittel“,116 die sich einzig als Reflex des Rechts im Kapitalismus verstehen lässt. Die Kritik setzt schon Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 13. Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, S. 67. 113  NR, S. 506 ff. 114  Wildt, Hegels Kritik des Jakobinismus, S. 422 (Herv. entfernt, T. S.). 115  Ebd. (Herv. entfernt, T. S.). 116 Ebd. 111 

112 Vgl.

C.  Hegels Kritik an Kant

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früher ein – bereits bei der Bestimmung von moralischer Richtigkeit oder, besser gesagt, des moralisch Gebotenen. Hegels Kant-Kritik, die sich insbesondere auf den Kategorischen Imperativ richtet, zielt darauf ab, das Verfahren als solches, das von Kant zur Klärung der moralischen Qualifikation von subjektiven Handlungs­ prinzipien vorgestellt wird, als ungeeignet zu verwerfen. Vor allem das Ungenügen des Verallgemeinerungstests wird dabei als das zentrale Problem herausgestellt. Als Erstes springt ins Auge, dass Hegel den Kategorischen Imperativ überhaupt nur in der oben bereits zitierten Universalisierungs- bzw. Verallgemeinerungsfor­ mel wahrnimmt: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“117 Hegel wendet sich gegen den Formalismus dieser Formel. Dies ist gewiss nicht fair, wenn man be­ denkt, dass weitere Formulierungen des Kategorischen Imperativs wie die Selbst­ zweckformel und die vom Reich der Zwecke sich durchaus auf materiale gehaltvol­ le Zwecksetzungen beziehen.118 Hegels verkürzte Wahrnehmung mag überraschen, doch andererseits ist nicht zu leugnen, dass Kant selbst die Verallgemeinerungsfor­ mel für absolut grundlegend erachtete: Sie ist das aufgefundene formale Prinzip, welches am Beginn des Unternehmens der Begründung der Moral steht und Kants Ethik ihren spezifischen Charakter einer Gebots- und Gesinnungsmoral verleiht. Genau darauf scheint sich Hegel folgerichtig zu konzentrieren. Dass es bei Kant

117  KpV, § 7; Kant entwickelt auch andere Formeln des Sittengesetzes, um dessen Be­ deutung mit weiteren (materialen) Aspekten anzureichern, siehe GMS, 2. Abs. Bei der Un­ terscheidung zwischen den Formeln des Kategorischen Imperativs ist es üblich geworden, der Einteilung von Herbert J. Paton, Der Kategorische Imperativ, Berlin 1962, zu folgen. Patons Einteilung umfasst (I) die Universalisierbarkeitsformel: „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS, S. 51), darunter (I a) die Naturgesetzformel: „[H]andle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte“ (ebd.); (II) Menschheit als Zweck an sich: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (ebd., S. 61) und (III) Autonomie als Selbstgesetzgebung des Willens: Handle „nur so, daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne“ (ebd., S. 69) samt (III a) Reich der Zwecke: „[H]andle nach Maximen eines allgemein gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reich der Zwecke“ (ebd., S. 73). Kant zufolge handele es sich bei den verschiedenen Formeln um die „Formeln eben desselben Gesetzes“ (ebd., S. 69): „Die angeführten drei Arten, das Prinzip der Sittlichkeit vorzustellen, sind aber im Grunde nur so viele Formeln eben desselben Gesetzes, deren die eine die anderen zwei von selbst in sich vereinigt“ (ebd.). Vgl. hierzu Allen W. Wood, The Moral Law as a System of Formulas, in: Hans Friedrich Fulda/Jürgen Stolzenberg (Hrsg.), Architektonik und System in der Philosophie Kants, Hamburg 2001, S. 287 – 306, hier: S. 304 ff. 118  Siehe als Interpretationen, die diese Komponente der materialen Zwecksetzungen ins Zentrum stellen: Christine M. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, Cambridge 1996, Kapitel 3 und 4; Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik. Analyse, Kritik und Rekonstruktion ethischer Rationalitätsansprüche, Frankfurt am Main 1980, S. 205 f.

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

weitere Anreicherungen dieses Prinzips gibt,119 ist mithin als unerheblich dafür zu betrachten, was Hegel kritisieren will. Die Konzentration auf den Verallgemeinerungstest lässt erkennen, dass Hegel vor allem bestrebt ist, zu zeigen, dass die Prüfung gemäß dem Kategorischen Im­ perativ nur negativ arbeitet, dass sie mit Verboten operiert. Auf dieser Grundlage wird es jedoch problematisch, das positiv Gebotene zu bestimmen. Wie die ge­ genwärtige Kant-Forschung zeigt, ist diese Hegelsche Beobachtung gewiss nicht „einfältig“. So verweist etwa Allen Wood genau auf diesen Sachverhalt, wenn er die Kantische Verallgemeinerungsformel in ihrem Gehalt dahingehend präzisiert, dass durch sie nur ein Kriterium der moralischen Möglichkeit bzw. Erlaubtheit aufgestellt werden könne.120 Andreas Wildt hat allerdings gezeigt, dass Hegel noch einen Schritt weitergeht. Hegels Kritik lenkt den Blick auf ein zentrales Problem der praktischen Philosophie Kants überhaupt – auf die bei Kant unaufgelöst geblie­ bene Zweideutigkeit im Verhältnis von moralischer Richtigkeit und (rechtlicher) Erlaubtheit.121 Gerade die Unterscheidung von erlaubten, gebotenen und verbotenen Handlun­ gen ist für Kant besonders wichtig. Dies zeigt sich schon daran, dass er sie an 119  Zu den notwendigen Interdependenzen zwischen den verschiedenen Formeln des Ka­ tegorischen Imperativs siehe Wood, The Moral Law as a System of Formulas, S. 287 – 306; Wood unterstreicht hier die Bedeutung des systematischen Verhältnisses zwischen diesen drei Formulierungen des Moralgesetzes: 1) die Universalisierungsformel (FUL = Formula of Universal Law) mit Variierung in der Naturgesetzformel (FLN = Formula of the Law of Nature), 2) die Formel der Menschheit als Zweck in sich selbst (FH = Formula of Humanity as End In Itself) sowie 3) die Autonomieformel (FA = Formula of Autonomy) und ihre Va­ riante als Reich der Zwecke (FRE = The Formula of the Realm of Ends) (ebd, S. 287 – 288). Wood ordnet sie (in der Reihenfolge der Aufzählung) den jeweiligen Vermögen – Verstand, Urteilskraft, Vernunft – sowie den Modalitäten Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit zu (vgl. die tabellarische Übersicht der jeweiligen Zuordnungen auf S. 297). Die „Progres­ sion“ der Formeln von der einen zur anderen, wie sie Kant in der Grundlegung präsentiert, entspricht überdies Wood zufolge den drei Kategorien von Quantität, nämlich Einheit, Viel­ heit und Allheit, ebd. S. 303: „For just as the unit provides the basis for plurality, so the con­ cept of the legislative form of maxim leads in Kant’s argument to the search for the objective end or motive which could serve, subjectively, to represent this legislative form, and this end is located in the plurality of rational beings as ends in themselves. Likewise, just as unity and plurality combine to form totality, so FUL and FH are put together to yield FA, in which the worth of rational nature (which grounds FH), conceived as the idea of rational will, is represented as the author of the universal laws (which are presupposed in FUL).“ 120 Vgl. Wood, The Moral Law as a System of Formulas, S. 299: „FUL should be treated as specifying merely a criterion of moral possibility (or permissibility) since the absence of contradiction between one’s maxim and the principles of universal legislation can never show anything more than that one is acting in a way that is morally possible or permissible.“ Und ferner: „Kant goes beyond what he is entitled to claim, however, when he converts this into a test of the noncontradictoriness of the maxims themselves when they are considered as universal laws“ (ebd.). 121 Vgl. Wildt, Autonomie und Anerkennung S. 61 ff.

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prominenter Stelle gleich zu Beginn der Metaphysik der Sitten diskutiert und diese Unterscheidung mit der Frage der „Verbindlichkeit“ des Kategorischen Imperativs in seiner Qualität als „ein moralisch-praktisches Gesetz“122 verbindet: „Weil aber Verbindlichkeit nicht bloß praktische Notwendigkeit (dergleichen ein Gesetz über­ haupt aussagt) sondern auch Nötigung enthält, so ist der gedachte Imperativ ent­ weder ein Gebot- oder Verbot-gesetz, nachdem die Begehung oder Unterlassung als Pflicht vorgestellt wird. Eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugnis) ein­ schränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht gibt. Eine solche Handlung heißt sittlich-gleichgültig (indifferens, adiaphoron, res merae facultatis).“123 Mit dieser Unterscheidung macht Kant darauf aufmerksam, dass die Denk­ notwendigkeit eines Gesetzes allein noch kein Kriterium seiner Verbindlichkeit darstellt. Ein bloß „gedachter Imperativ“ mag zwar in seiner „praktischen Not­ wendigkeit“ erkannt werden, erhält aber noch nicht den Status eines Gebots oder Verbots, denn es müsse auch die „Nötigung“ hinzukommen, weil die Freiheit sich durch das Gesetz „einschränken“ können muss. Erst durch diese „Nötigung“ er­ hält der „gedachte Imperativ“ seinen Pflichtcharakter und die zu prüfende Maxime lässt sich als eine moralische qualifizieren. Es kommt hier mit anderen Worten auf ein gelingendes Zusammenspiel von Denken und Wollen an. Für die Bestimmung moralischer Richtigkeit ist nämlich beides relevant, denn die Denkbarkeit einer Maxime als allgemeines Gesetz „[sei] nur notwendige Bedingung für die mora­ lische Erlaubtheit [dieser] Maxime“, so erläutert es Andreas Wildt, wohingegen die Maxime sich nur dann auch als hinreichend qualifiziert, moralisch richtig und gut zu sein, wenn sie auch das Kriterium des Wollen-Könnens erfüllt: „[E]rst die Eignung, als allgemeines Gesetz gewollt werden zu können, sei die notwendige und hinreichende Bedingung dafür.“124 Es ist bemerkenswert, dass Kant diese wichtige und für die Bestimmung mo­ ralischer Richtigkeit konstitutive Zutat des „Wollen-Könnens“ in den oben zitier­ ten Erläuterungen zur Abgrenzung von Geboten, Verboten und bloßer Erlaubtheit als Nötigung beschreibt. Dies zeigt, dass auch die Moral bei Kant – in „Analogie zum äußeren Zwang im Recht“125 – mit „Nötigung“ und „Selbstzwang“ konnotiert ist: „Alle Pflichten enthalten einen Begriff der Nötigung durch das Gesetz, die ethischen eine solche, wozu nur eine innere, die Rechtspflichten dagegen eine sol­ che Nötigung, wozu auch eine äußere Gesetzgebung möglich ist; beide also eines Zwanges, er mag nun Selbstzwang oder Zwang durch einen anderen sein.“126 Die 122 

MS, B 21, S. 328. Ebd., S. 329. 124  Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 68 (Herv. T. S.). 125  Vgl. ebd., S. 129, mit Bezug auf MS, A 2, A 3, Anm., S. 508, Kant spricht hier von der „Unvermeidlichkeit“ des „Selbstzwangs“ beim Menschen, der ein Naturwesen und „moralisches Wesen zugleich“ ist. 126  MS, Einleitung zur Tugendlehre, A 28, S. 525. Da Hegel diese Unterscheidung zwi­ schen dem inneren und äußeren Zwang als ganz zentral hervorhebt, kann keine Rede da­ 123 

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

subjektive Potenz des Wollen-Könnens fällt nach Kant letztlich mit objektiver Nö­ tigung zusammen. Bei näherem Hinsehen lässt diese Engführung des subjektiven Wollens mit ob­ jektiver Nötigung den Status des Gebotenen jedoch ganz problematisch werden. Die Abhängigkeit der Moralität von der Nötigung, die mit dem äußeren Zwang konnotiert ist, stellt Moralität auf eine Ebene mit Legalität, mit der Konsequenz, dass das moralisch Gebotene und Richtige sich letztlich aus dem Nichtverbotenen ableiten muss. Im Zuge dieser Reduktion auf das Nichtverbotene verflacht aber auch der Sinn von Moralität in ihrer genuinen Verbindung mit autonomem Wollen. Jedenfalls kann das Nichtverbotene nach Kants eigenen Prämissen, die in den Er­ läuterungen zum Status der Autonomiefigur bei Kant und zur Trennung von Recht und Moral bereits zur Sprache kamen, letztlich nichts anderes beinhalten als das aufgefundene rechtlich Erlaubte.127 Dieses Problem der (tendenziellen) Verkehrung von moralischer Richtigkeit in (rechtliche) Erlaubtheit, von dem Kants Moralphilosophie affiziert sein soll, ist He­ gel nicht nur nicht entgangen, sondern bildet vermutlich sogar den Horizont seiner Kritik. Dies lässt sich schon daran erkennen, dass Hegel ausgerechnet die Kriterien der Denknotwendigkeit und Verallgemeinerbarkeit herausgreift, um sie als unge­ eignet zur Bestimmung von moralischer Richtigkeit zu verwerfen. Ähnlich verhält es sich mit Hegels Fixierung auf Kants Kriterium der Widerspruchsfreiheit. Auch dieses Kriterium verrät etwas über die Unzulänglichkeit des Imperativs, die da­ rin besteht, dass vom Prinzip der Widerspruchsfreiheit ausgehend das moralisch Mögliche und Erlaubte nur gedacht werden könne, man jedoch auf diesem Weg niemals zum echten Wissen darüber werde gelangen können, was moralisch richtig und geboten sei. Kant orientiere sich an der theoretischen Philosophie, so Hegel, und übertrage deren Logik und Maßstäbe unzulässigerweise auf die „praktische Form“: „[D]ie reine Identität des Verstandes, im Theoretischen als der Satz des Wi­ derspruchs ausgedrückt, bleibt, auf die praktische Form gekehrt, ebendasselbe.“128 Indem Hegel genau diese Kriterien der Verallgemeinerbarkeit und der wider­ spruchsfreien Denknotwendigkeit der Maxime qua Gesetz kritisiert, macht er da­ rauf aufmerksam, dass es nach Kantischen Vorgaben (nach den genannten, die er kritisch hervorhebt) unmöglich werde, das moralisch Richtige zu bestimmen. Des­ halb wird auch die Prüfungsprozedur „überflüssig“ genannt, denn in den Urteilen könne sich ohnehin nur Bestehendes reproduzieren. Wenn Hegel damit recht hat, so ist es offensichtlich, dass der moderne Sinn von Autonomie auf diese Weise tat­ sächlich nicht ausgeschöpft werden kann. von sein, dass er Kants Metaphysik der Sitten nicht berücksichtigt und stattdessen nur die Grundlegung gelesen habe, wie manche Interpreten – entgegen der biographischen Aus­ kunft von Rosenkranz – behauptet haben, so z. B. Schnädelbach, Hegels praktische Philo­ sophie, S. 66 – 67, mit Bezug auf Heinz Kimmerle, Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels „System der Philosophie“ in den Jahren 1800 – 1804, Bonn 1982. 127 Vgl. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 60 f. 128  NR, S. 460.

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b)  Das Problem der Unterminierung der Handlungsinitiative oder die Eitelkeit des Subjekts Bislang wurde auf das Problem der Verkehrung der moralischen Richtigkeit in rechtliche Erlaubtheit hingewiesen. Nun sollen weitere Implikationen zur Sprache kommen, die sich aus dieser Schwierigkeit, im Rahmen der Kantischen Theorie festzustellen, was tatsächlich geboten ist, ergeben. Andreas Wildt hat besonders deutlich gezeigt, dass Kants Theorie vordergründig nur eine Festlegung erlaube, was verboten oder erlaubt ist, wohingegen das Gebotene erst ex negativo ermittelt werden könne: „Kant [macht] nicht immer klar, ob sein Moralprinzip ein Prinzip ist, das Handlungen gebietet, verbietet oder erlaubt bzw. freistellt.“129 „In der ‚all­ gemeinen Formel‘ der ‚Grundlegung‘: ‚Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde‘ kommt es“, so Wildt weiter, „[…] entscheidend auf das scheinbare ‚nur‘ an. […] [D]arin [ist] nämlich eine Negation impliziert.“130 Dies wird Wildt zufolge besonders ersicht­ lich, wenn man den folgenden Passus aus Kants Grundlegung mit bedenkt: „Ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.“131 Auf dieser Grundlage reformuliert Wildt den Imperativ deshalb auch folgen­ dermaßen: „Handle nach der Maxime, nach der du noch wollen (oder handeln) könntest, wenn dadurch, daß du so handelst, alle so handeln würden.“132 Oder, noch einmal anders: Du sollst nach keiner anderen Maxime handeln, „durch die du nicht zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“.133 „Der kategori­ sche Imperativ ist also zunächst ein Kriterium für moralische Verbotenheit. Na­ türlich folgt daraus sofort, daß er Handlungen dann erlaubt, wenn sie dem Test der Verallgemeinerung standhalten. Und vermittels des Begriffs des Unterlassens er­ gibt sich auch das Prinzip für die Gebotenheit von Handlungen: Wenn eine Hand­ lung verboten ist, so ist ihre Unterlassung geboten; und wenn ihre Unterlassung verboten ist, so ist sie geboten.“134 Bemerkenswert ist nun, dass Hegel in seiner Besprechung des Kategorischen Imperativs im Naturrechtsaufsatz genau solche Handlungsfälle herausgreift, deren Unterlassung verboten ist, von denen man also wissen will, ob sie positiv geboten sind. Es sind Fälle, in denen Maximen geprüft werden, die eine gehaltvolle Hand­ lungsanweisung beinhalten, und von denen es heißt, sie seien „dem praktischen Gesetzgeben beschwerlich“.135 Dazu gehören insbesondere Fälle, die auf die Ne­ Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 60. Ebd., S. 61. 131  GMS, S. 28. 132  Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 67. 133  Ebd., S. 61. 134 Ebd. 135  NR, S. 465. 129  130 

2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

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gation oder die Aufhebung eines Zustands abzielen, wie z.B. Armut oder Krieg.136 Hegels sophistisch anmutende Argumentation zielt hier vor allem darauf ab, das Kriterium der Verallgemeinerung ad absurdum zu führen; sie hat aber noch weit­ reichendere Implikationen, wie gleich noch zu erörtern sein wird. Wenn z.B. die Maxime: „den Armen helfen“137 auf die Aufhebung der Armut zielt, dann entsteht im „praktischen Gesetzgeben“ ein Widerspruch, so Hegel: „Wird es gedacht, daß den Armen allgemein geholfen werde, so gibt es entweder gar keine Armen mehr oder lauter Arme, und da bleiben keine, die helfen kön­ nen, und so fiele in beiden Fällen die Hilfe weg; die Maxime also, als allgemein gedacht, hebt sich selbst auf.“138 Diese zynisch anmutende Bemerkung wird durch eine weitere komplementiert: „Sollte aber die Bestimmtheit, welche die Bedingung des Aufhebens ist, nämlich die Armut bleiben, so bleibt die Möglichkeit der Hilfe, aber als Möglichkeit, nicht als Wirklichkeit, wie die Maxime aussagt; wenn Armut bleiben soll, damit die Pflicht, Armen zu helfen, ausgeübt werden könne, so wird durch jenes Bestehenlassen der Armut unmittelbar die Pflicht nicht erfüllt.“139 „So die Maxime, sein Vaterland gegen Feinde mit Ehre zu verteidigen, und unendli­ che mehr heben sich, als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gedacht, auf; denn jene z.B., so erweitert, hebt sowohl die Bestimmtheit eines Vaterlandes als der Feinde und der Verteidigung auf.“140 Hegels Argumentation führt vor Augen, dass er den Imperativ in seiner Ver­ allgemeinerungsformel zugleich als ein Verbotsprinzip ansetzt. Dies muss als ein argumentativer Zwischenschritt mitgedacht werden, um Hegels Behauptung, der gefasste Vorsatz verkehre sich in sein Gegenteil, adäquat zu verstehen. Denn diese spezifische Art des Vorsatzes, einen Zustand zu beenden, würde sich erst dann in eine Perpetuierung dieses Zustands (also in das Gegenteil des Beabsichtigten) ver­ kehren, wenn die Prüfung der betreffenden Maxime auf ihre moralische Richtig­ keit im Ergebnis auf eine doppelte Negation hinausliefe. Erst in diesem Fall stünde man vor der – von Hegel behaupteten – Paradoxie der Verkehrung der ursprüng­ lichen Absicht in ihr Gegenteil: „[W]enn Armut bleiben soll, damit die Pflicht, Armen zu helfen, ausgeübt werden könne, so wird durch jenes Bestehenlassen der Armut unmittelbar die Pflicht nicht erfüllt.“141 Hegel behauptet darüber hinaus, dass sich der Vorsatz, die Armut zu bekämpfen, im Zuge des Verallgemeinerungstests undurchschauterweise in das Interesse ver­ kehrt, die Armut aufrechtzuerhalten, damit die Maxime der Armutsbekämpfung nach wie vor angewendet werden kann, denn sonst würden die Anwendungsbedin­ gungen der Ausübung der moralischen Maxime, nämlich die Armutsverhältnisse 136 Ebd. 137 Ebd. 138 

Ebd., S. 466.

139 Ebd. 140  141 

Ebd., S. 465 f. Ebd., S. 466.

C.  Hegels Kritik an Kant

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selbst, wegfallen. Hegel schildert damit die offenkundig absurden Konsequenzen eines Prüfungsverfahrens, welches Regeln auch dann durchsetzen will, wenn deren Anwendbarkeit nicht gegeben ist, oder aber umgekehrt, wenn die Anwen­ dungsbedingungen, unter äußerem und innerem Zwang der Regel stehend, gleich­ sam künstlich gefunden, im Prüfungsverfahren legitimiert und reflexiv bekräftigt werden, damit die Maxime um jeden Preis und daher blind – im Übergehen der konkreten Situationsspezifik – durchgesetzt werden kann. Eine strukturelle Analogie zu diesem Argument der Bezogenheit des morali­ schen Gesetzes auf die Bedingungen seiner Anwendung findet sich in zahlreichen Diskussionen wieder, die Kants vermeintliche (durch den Wortlaut seiner Texte freilich wiederholt suggerierte) Entgegensetzung von Pflicht und Neigung zum Gegenstand haben: Würde sich moralische Vollkommenheit am Grad der Beherr­ schung eigener Neigungen bemessen, so ergäbe sich die paradoxe Notwendigkeit, „den Widerstand der Neigungen immer neu zu entfachen, um die moralische Ge­ sinnung durch deren Überwältigung unzweideutig zu manifestieren“.142 Obwohl Kant dies als eine unzulässige Pervertierung seines Moralbegriffs von sich weist – so etwa in seiner Verteidigung gegen die Einwände Christian Garves143 –, hat sich dieser Zug der Verkehrung von Kantischen Absichten ins Gegenteil in der Rezep­ tion dennoch als besonders hartnäckig erwiesen. Ein besonders prominentes Bei­ spiel dafür ist sicherlich die Psychoanalyse, die Kant unter diesem Gesichtspunkt gar als einen Widerpart des Marquis de Sade für sich entdeckt hat. So wird hier etwa die Suche nach „Galgen“-Situationen als willkommenes Mittel dafür gedeu­ tet, die eigene Lust zu zügeln.144 Hegel hat an verschiedenen Stellen seines Werks den Verdacht geäußert, dass der Verallgemeinerungstest von Maximen zur Eitelkeit verleite. Die Suggestion von Eitelkeit scheint schon deshalb unvermeidlich zu sein, weil Kant die Pflicht­ erfüllung notgedrungen an Überlegungen zum moralischen „Verdienst“ koppeln muss, um dem Problem entgegenzuarbeiten, dass das Subjekt psychologisch dazu neigen könnte, die Verwirklichung von Moralität als ein vergebliches Geschäft auf­ zufassen. Dieter Henrich zufolge verwendet Kant alle Mühen darauf, den „für das Gewissen unerträgliche[n] Gedanke[n]“ zurückzuweisen, „daß der Gewissenhaf­ te mit seinem Handeln sich selbst und denen, denen er helfen will, am Ende nur schadet“; deshalb spiele das „Bekenntnis des savoyischen Vikars“ aus Rousseaus

Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 96. einer differenzierteren Deutung des Kantischen Autonomieverständnisses an­ hand des ihm zugrunde liegenden Problems des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Glück­ seligkeit siehe Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 244 – 251, insb. S. 247 ff. 144  Vgl. insbesondere Jacques Lacans Diskussion, die sich auf Kants eigenes Beispiel des drohenden Galgens nach der Befriedigung der „Wollust“ (KpV, § 6: Aufgabe II, Anm., [30], S. 40) bezieht: Jacques Lacan, Kant mit Sade [1971], in: ders., Schriften II, hrsg. von Norbert Haas, übers. von Chantal Creusot/Wolfgang Fietkau/Norbert Haas/Hans-Jörg Rheinberger/Samuel M. Weber, Weinheim/Berlin 1986, S. 133 – 163. 142 

143 Zu

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Émile für Kants Moraltheologie eine so ausschlaggebende Rolle.145 Kant muss von einem „System der sich selbst lohnenden Moralität“ ausgehen, das auf Subjekte wenn nicht motivierend, so doch zumindest sinnstiftend wirken können soll, um sie in die Lage zu versetzen, den Widerstand ihrer Neigungen tatsächlich brechen zu wollen.146 Die Pflichterfüllung muss daher stets auf eine durchaus paradoxe und problematische Weise mit dem „Glücksverlangen“ verknüpft sein. Diesem Zusam­ menhang wird in Kants Lehre vom „höchsten Gut“ Rechnung getragen: „Nach Kant“, so Dieter Henrich, „ist dies der Inbegriff zweier höchster Handlungsori­ entierungen, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen, der Orientierung an der sittlichen Richtigkeit des Handelns und der am Ziel der höchstmöglichen Be­ friedigung aller in Bedürfnissen begründeten Interessen, die aber doch beide zur höchsten Erfüllung sollen kommen können.“147 Die Notwendigkeit dieser in beide Richtungen gehenden Denkoperation disku­ tiert Hegel allerdings stets unter dem Titel der „Verstellung“.148 Was den Befund der Eitelkeit des Subjekts betrifft, so stellt diese sich immer dann ein, wenn sich die „Gesinnung vom guten Willen“ in ein „gut-sein-Wollen des Subjekts“ verwan­ delt.149 Wenn moralische Reinheit der „letzte Zweck“ ist, „dem sich der gute Wille in allem Tun unterordnet“, dann muss sich beim Menschen als besonderem Ein­ zelnen unweigerlich ein Gefühl der „Ohnmacht“ und der eigenen „Zufälligkeit“ einstellen.150 Eine derartige Selbstwahrnehmung droht jedoch stets in das ande­ re Extrem zu kippen: In Henrichs treffender Formulierung ist es „[d]ie Meinung, man müsse die Stärke seiner Gesinnung dadurch zu beweisen suchen, daß man der

145 Vgl. Henrich, Grundlegung aus dem Ich, Bd. 2, S. 1474 ff., hier: S. 1475; siehe zu diesem Komplex auch Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 154: „Richtig ist […], daß Verpflichtungen dann ihre praktische Evidenz verlieren, wenn es keine berechtigte Hoff­ nung darauf gibt, daß sich an dem Vorherrschen unmoralischer Motivationen etwas ändern lässt.“ Und ferner ebd., S. 155: „[D]ie Situation eines allgemeinen moralischen Verfalls im gesellschaftlichen Zustand ohne berechtigte Hoffnung auf Veränderung zum Besseren hebt zwar nicht die moralischen Verpflichtungen auf, aber zerstört ihren Sinn, ihre praktische Überzeugungskraft.“ 146 Vgl. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 17, 23, 90. 147  Henrich, Grundlegung aus dem Ich, Bd. 2, S. 1476. Zum Korrespondenzverhältnis zwischen dem „guten Willen“ und dem „ihm gemäße[n] Maß an Glück“ vgl. ebd., S. 1486 ff.: „[D]ie Beziehung des sittlich Gebotenen auf die höchstpersönliche Glückshoffnung [ist] das Scharnier, über das allein die moraltheologische Idee zu einer Glaubensgewißheit werden kann“ (ebd., S. 1487). Zur Problematik der Notwendigkeit, „eine Strategie der Selbstüber­ redung in die Ausbildung der moralischen Motivation“ einbauen zu müssen, die die „zweite Version der Kantischen Moraltheologie“ von 1785 erzwingt, vgl. ebd., S. 1488 ff. sowie S. 1510 f. 148  Vgl. etwa PhG, S. 453 ff. 149  Dieter Henrich, Das Prinzip der kantischen Ethik, in: Philosophische Rundschau 2 (1954/55), S. 20 – 38, hier: S. 26. 150  Vgl. NR, S. 467 f.

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Moralität bewußt herkuleische Aufgaben stellt […]“.151 Auf dieses Dilemma, das der Form der Autonomie, wie sie ihr Kant gegeben hat, anhaftet, ist zuvor bereits Jacobi zu sprechen gekommen,152 wenn er in seinem Roman Woldemar (1796)153 eine der Figuren ausrufen lässt: „Eigendünkel ist mir einmal über alles fürchterlich geworden; so fürchterlich und gräulich, daß ich lieber nach der Kette des unbe­ dingtesten Gehorsams, als nach der hirnversengenden Krone der Selbstregierung greifen mag.“154

151 Ebd. 152  Zu sozialphilosophischen und gesellschaftspolitischen Implikationen des in Jacobis Roman Woldemar verhandelten Konflikts siehe Tatjana Sheplyakova, Vom inneren Richter zum Recht auf Authentizität. Zur sozialethischen Wendung eines nachkantischen Problems in Jacobis Woldemar, in: Simon Bunke/Katerina Mihaylova (Hrsg.), Gewissen zwischen Gefühl und Vernunft. Interdisziplinäre Perspektiven auf das 18. Jahrhundert, Würzburg 2015, S.  337 – 356. 153  Hegel kannte Jacobis Romane – sowohl Woldemar als auch Allwill – bereits seit dem Tübinger Stift. Für einige Forscher steht außer Frage, dass Jacobis Woldemar für Hegels Ge­ wissenskapitel in der Phänomenologie als Vorlage diente, „wobei das handelnde Gewissen mit Woldemars ‚Gegenspielerin‘ Henriette, das beurteilende Gewissen aber mit Woldemar selbst zu identifizieren“ sei, so Dietmar Köhler, Hegels Gewissensdialektik, in: ders./Otto Pöggeler (Hrsg.), G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Berlin 1998, S. 209 – 225, hier: S. 214. Zu Hegels Rezeption von Jacobis Woldemar siehe auch Gustav Falke, Hegel und Jacobi. Ein methodisches Beispiel zur Interpretation der Phänomenologie des Geistes, in: Hegel-Studien 22 (1987), S. 129 – 142 sowie Emanuel Hirsch, Die Beisetzung der Romanti­ ker in Hegels Phänomenologie. Ein Kommentar zu dem Abschnitte über die Moralität, in: Hans Friedrich Fulda/Dieter Henrich (Hrsg.), Materialien zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1973, S. 245 – 275. 154  Friedrich Heinrich Jacobi, Woldemar [1779; 1794/1796], in: ders., Werke, Gesamt­ ausgabe, hrsg. von Klaus Hammacher/Walter Jaeschke, Bd. 7/1: Romane II: Woldemar. Unter Mitarbeit von Dora Tsatoura hrsg. von Carmen Götz/Walter Jaeschke, Hamburg/ Stuttgart-Bad Cannstatt 2007, S. 439. Diese Äußerung fällt in einem Gespräch zwischen Biderthal und Dorenburg, der sich in seiner Entgegnung auf Biderthal bezeichnenderweise auf die Wahlfreiheit des Menschen beruft: „Wie wolltest du es anfangen, irgend einem Ge­ setz, irgend einer Autorität blinden Gehorsam – Knechtschaft anzugeloben, ohne eine Wahl vorhergehen zu lassen, ohne dich selbst in und nach dir selbst zu entscheiden? […] Denn daß wir prüfen, wählen, beschließen, und auf unserm Entschluß beharren können: darin allein besteht die Würde des Menschen; […]“ (ebd.). Daraufhin ruft Biderthal aus: „Beschließen, […], das Rechte beschließen, und darauf beharren: das ist allerdings die Sache! Du hast wohl geredet, Dorenburg; und siehe, ich bin bereit dir zu gestehen – Daß sich der Mensch in einer wunderlichen Klemme befindet. | An der einen Seite: Vernunft und Freyheit, die er nicht aufgeben; an der anderen: ihre | Formen, | Aeusserlichkeiten, Bestimmungen […], die er nicht entbehren kann, und deren Gebrauch Unterwürfigkeit, oft den unbedingtesten Gehorsam fordert. Beharrlichkeit und unbedingter Gehorsam sind unzertrennliche Gefähr­ ten; und wenn es keine Vorschrift, und, zu der Vorschrift, auch noch ein Vermögen des unbedingten Gehorsams giebt: so giebt es auch keine eigentliche, wahre Tugend“ (ebd., S. 439 f.). Unnötig zu sagen, dass die hier verhandelten Aspekte des offenkundig Kantischen Autonomieverständnisses in Hegels Auseinandersetzung mit Kant mit einfließen.

184

2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

Für Hegel ist Eitelkeit nicht primär ein individuelles Phänomen. Wie man sei­ nen Beschreibungen in der Phänomenologie entnehmen kann, lässt sich Eitelkeit auch kollektiv und gemeinschaftlich ausleben. Der „Geist und die Substanz“ dieser Gemeinschaft ist Hegel zufolge „die gegenseitige Versicherung von ihrer Gewis­ senhaftigkeit, guten Absichten, das Erfreuen über diese wechselseitige Reinheit und das Laben an der Herrlichkeit des Wissens und Aussprechens, des Hegens und Pflegens solcher Vortrefflichkeit“.155 Später hat Hegel diese Paradoxie, die Kants Autonomiekonzeption anhaftet, als eine Verkehrung der Selbstbestimmung in ra­ dikale Fremdbestimmung dargestellt. Diese Verkehrung gehört zu den unweiger­ lichen „Verstellungen“ des moralischen Standpunkts, von denen der „seiner selbst gewisse Geist“, so wie ihn Hegel in der Phänomenologie in Szene setzt, geplagt wird.156 Worin dieses Dilemma der Verstellung besteht, hat Christoph Halbig be­ sonders treffend beschrieben: „[D]as Ergebnis, auf das nach Hegel die Forderung nach einer reinen, allein im Prinzip der freien Selbstgesetzgebung gegründeten Moral führt, […] [ist] die Verstellung: Das Bewußtsein erkennt durchaus, daß es nicht in der Lage ist, den Forderungen reiner Moral zu entsprechen, ohne jedoch den Anspruch, dies zu tun, in Frage zu stellen. […] [E]s hofft […] auf Glückse­ ligkeit als Gnadengabe – damit aber ist der äußerste Gegenpol zu einer Ethik der Autonomie erreicht.“157 Die Gefahr der narzisstischen Selbstbespiegelung und der Verstellung im Lichte des Anspruchs, moralisch vortreffliche, besonders verdienstvolle Handlungen zu vollbringen, hängt aber auf paradoxe Weise damit zusammen, dass überhaupt nicht gehandelt wird. Blickt man zurück auf Hegels Befund der Verkehrung des mora­ lisch Gebotenen ins (rechtlich) Erlaubte, so weist er ebenso sehr auf das Problem hin, dass die eigentliche Handlungsinitiative Einzelner auf diese Weise systema­ tisch unterminiert wird. Andreas Wildt hat in diesem Kontext von unzureichender Berücksichtigung der „moralischen Motivation“ des Akteurs gesprochen. Doch „Motivation“ klingt noch zu psychologisch, um Hegels kritischen Absichten ge­ recht zu werden. Denn es geht hier nicht so sehr um die Frage der Motivation, sondern vielmehr um die Aktivität des handelnden Subjekts und damit um das genuine Interesse am moralisch Richtigen, in derjenigen ursprünglichen Bedeu­ tung von inter-esse verwendet, die mit der (wohlverstandenen) Innerlichkeit des Subjekts verbunden ist. Dies unterstreicht auch Allen Wood, der mit Bezug auf Hegels Rechtsphilo­ sophie (§ 122) herausstellt, dass es Hegel mit seiner Kant-Kritik stets darum ge­ gangen sei, handelnde Individualität zu verteidigen: Moralität zielt auf das Glück

155 

PhG, S. 481. Ebd., S. 453 ff. 157  Christoph Halbig, Die Wahrheit des Gewissens, in: Klaus Vieweg/Wolfgang Welsch (Hrsg.), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüs­ selwerk der Moderne, Frankfurt am Main 2008, S. 489 – 503, hier: S. 491. 156 

C.  Hegels Kritik an Kant

185

und die Befriedigung des Subjekts, auf sein Innerstes.158 Das „Innerste“ ist jedoch nicht als Privation misszuverstehen, sondern ganz im Gegenteil als eine Dimension von Spontaneität und „Dabeisein“ im Handeln, die Hegel ausdrücklich verteidigt. Hegel stellt sie in seiner Rechtsphilosophie in einen Zusammenhang mit der „un­ endlichen Berechtigung“ des Subjekts, wie Ludwig Siep betont: „Ohne Interesse hätte die Handlung für das Subjekt keinen ‚Wert‘, ohne es wäre man bei der eigenen Handlung nicht ‚dabei‘. Ohne ein solches Dabeisein beim eigenen Handeln gäbe es aber auch kein wirkliches Handlungssubjekt, keine Person […].“159 Wenn aber die­ ses „Dabeisein“ im Handeln bei Kant schon innerhalb der Moralität den Charakter der „Nötigung“ (und daher auch den Charakter von Fremdheit und Äußerlichkeit) annimmt, wenn die Potenz des Wollen-Könnens mit innerem Zwang durch Geset­ zeseinschränkung gleichgesetzt wird, dann ist tatsächlich nicht zu sehen, wie sich der Eindruck der Verkürzung des moralischen Handelns auf rein legales Verhalten vermeiden ließe. Wildt ist zuzustimmen, dass dieser Punkt zu dem wesentlichen Problemhori­ zont gehört, durch den Hegels Kritik an Kant motiviert ist. Hegels Kritik verweist auf die Dominanz eines bestimmten Denkmodells, das – gerade weil mit ihm auch ein kulturelles Modell verbindlich gemacht wird – problematische Effekte zeitigt: Wird eine rechtliche Kultur dominant, die auf Erlaubnisgesetzen basiert und de­ ren Logik Rechtssubjekte auch in ihren moralischen Urteilen internalisieren, so bleibt dies nicht ohne Folgen für das Handeln der Einzelnen, die die Frage „Was ist richtig?“ unmerklich vertauscht haben mit der Frage „Was ist erlaubt?“ bzw. „Was ist nicht verboten?“. In Orientierung an der Allgemeinheit würde man prü­ fen, unter welchen Bedingungen diese oder jene Maxime unter dem Gesichtspunkt rationaler Einsehbarkeit als Gesetz für jeden denkbar, mit dem Konsens verträglich und zumutbar sein könnte. Fragt man danach, woran die Denkbarkeit bzw. die Zumutbarkeit ihre Grenze findet, so wäre diese Grenze durch rational zu begrün­ dende Kompatibilitätserwägungen zu ermitteln. Im Grunde wäre sie immer schon gezogen. Dies scheint mit dem Kantischen Bild durchaus im Einklang zu stehen, zumal Kant selbst das Moralprinzip, den Kategorischen Imperativ als das Prinzip

158 Vgl. Allen W. Wood, The Emptiness of the Moral Will, in: The Monist 73 (1989), S. 454 – 483, hier: S. 467: „An action’s ‚motive‘, then, is just the agent’s interest in it, the fact that success in the action will confirm or vindicate the agency of the individual who per­ forms it. Hegel emphasizes that ‚interest‘ in this sense is present even in the most unselfish actions, since it derives from my awareness of the confirmation of my agency in a successful action, whether the action itself is oriented to my own good or not. […] But ‚interest‘ does in Hegel’s view belong to the agent’s well-being or happiness, along with the satisfaction of the agent’s needs, inclinations, passions and so on“ (mit Bezug auf Hegel, Enz. III, § 475 sowie GPR, § 123; Nachweise im Zitat weggelassen). 159 Vgl. Siep, Was heißt: „Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit“ in Hegels Rechts­ philosophie?, S. 221 (Herv. T. S.), mit Bezug auf Hegel, GPR, § 122 (Nachweise im Zitat weggelassen).

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

„allseitiger Einstimmung“160 bezeichnet. Spätestens an dieser Formulierung wird man auch ablesen können, dass die Frage der individuellen Handlungsperspektive in der Tat keine, jedenfalls keine wesentliche Rolle spielt. In der Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft betont Kant selbst, wie wichtig es ist, an den Beweggründen der Handelnden Interesse zu nehmen, will man nicht im „Maschinenwesen“ der rechtlich geregelten Verhältnisse ohne Zutun des Einzelnen enden.161 Doch dadurch, dass Kant die Dimension des sub­ jektiven Wollens mit Nötigung gleichsetzt und diesem Wollen und der dadurch an­ gestoßenen individuellen Handlungsinitiative keine wesentliche Rolle zukommen lässt – jedenfalls keine, die über die Prozedur des Abwägens zwischen verschiede­ nen Alternativen, deren Kompatibilität mit „allgemeiner Einstimmung“ sicherzu­ stellen ist, hinausgeht –, wird es unmöglich, das Kriterium für moralisch Richtiges und Gebotenes anders zu denken, als darunter ausschließlich das Nichtverbotene zu verstehen. Angesichts eines Zustands, in dem moralische Richtigkeit im Urteil nur die in­ ternalisierte (rechtliche) Erlaubtheit reproduziert, gerät das Subjekt aber in eine missliche, wenn nicht gar ausweglose Lage. Um die Spezifik dieser subjektiven Lage mit einem literarischen Beispiel einzufangen, sei an die Situation erinnert, wie sie dem „Mann vom Lande“ aus Kafkas Der Prozeß (1925) widerfährt: Er befindet sich in der Tat in der misslichen Lage, „vor dem Gesetz“ zu stehen und gleichwohl auf einen „Türhüter“ zu treffen, der keinen „Eintritt in das Gesetz“ gewährt – obwohl das Tor zum Gesetz „offensteht wie immer“.162 Auf Hegels Aus­ einandersetzung mit Kant übertragen, stellen sich die Dinge mithin folgenderma­ ßen dar: Das Subjekt des Rechts und der Moral findet sich in einem bestimmten Denkmodell gefangen, dem es aus eigener Urteilskraft nicht entrinnen kann. Diese geistige Gefangenschaft – wenn man so reden darf – besteht darin, dass das Sub­ jekt nicht zu durchschauen vermag, dass das Verfahren der Prüfung seiner Maxi­ men auf ihren moralischen Gehalt auf geradezu unheimliche und paradoxe Weise 160  KpV,

106.

[28], S. 37; § 4, Anm.; vgl. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 78, Anm.

161  Hier verhandelt Kant das Thema, wie die Tugend auch das menschliche Herz errei­ chen könne: Wollen wir „in unseren eigenen Augen“ nicht „als nichtswürdige, verworfene Menschen erscheinen“, so Kant, dann reiche es nicht hin, „ein von uns angenommenes na­ türliches oder göttliches Gesetz, unserem Wahne nach“ dadurch unschädlich zu machen, dass man es „mit dem Maschinenwesen ihrer [der Vernunft; T. S.] Polizei, die sich bloß nach dem richtete, was man tut, ohne sich um die Bewegungsgründe, warum man es tut, zu bekümmern, verbunden hätte“ (KpV, [152], S. 202). Um es nicht bei der Beobachtung „allein“ der „sittliche[n] Richtigkeit“ der äußeren „Tat“ zu belassen, sondern auch den „sitt­ lichen Wert“ einer Handlung „als Gesinnung ihrer Maxime nach“ (vgl. ebd., [159], S. 212) zu erkennen, dürfe man „nicht bei den objektiven Gesetzen der Sittlichkeit stehen bleiben, um sie zu bewundern, und in Beziehung auf die Menschheit hochzuschätzen, sondern ihre Vorstellung in Relation auf den Menschen und auf sein Individuum betrachten […]“ (ebd., [157], S. 209 f.). 162  Franz Kafka, Der Proceß [1925], Frankfurt am Main 2009, S. 226.

C.  Hegels Kritik an Kant

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lediglich der Legitimierung des äußeren und inneren Zwangs dient, gleichsam die Gründe für seine Anwendungsbedingungen liefert. c) Legitimierungsstrategien: Zwischen Inhaltsleere und Willkürherrschaft Über Kants strengen Rationalismus „ohne die mindeste Beimengung von Empi­ rie“ findet sich in Ernst Blochs Naturrecht und menschliche Würde (1961) die Äu­ ßerung: „Das logische Gesetz des Nichtwiderspruchs, welches Kant unter dem Na­ men Allgemeinheit und Notwendigkeit zum Kriterium der praktischen Vernunft macht, eint Rechtsphilosophie und Ethik um den Preis, daß beide gleichgültig ge­ gen jeden Inhalt sind, also – was dasselbe ist – jeden Inhalt vertragen.“163 Bloch scheint hier Hegels Formalismus-Einwand gegen Kant exakt zu wiederholen: Der Einwand bezieht sich auf die von Kant als verbindlich vorgestellte Prozedur der Prüfung der „Tauglichkeit der Maxime der Willkür“164 unter der Ägide der prakti­ schen Vernunft, wobei dies eine Prüfung ist, die sich nicht auf die Inhalte, sondern auf die Adäquatheit der Form der betreffenden Maxime bezieht.165 Als Resultat eines reflexiven Verfahrens der Prüfung der Maxime auf ihre Gesetzesförmigkeit allein, so lautet Hegels Einwand, könne kein „allgemeines Kriterium der Wahr­ heit“166 gewonnen werden, die ja „gerade diesen Inhalt angeht“, von dem in der rei­ nen Form des Gesetzes „abstrahiert“ werde.167 Glaubt man Hegels Beschreibung, so negiert der reine Begriff der Pflicht das Viele und abstrahiert das Eine, entledigt sich des Gesetzesstoffs. Dieser bildhaften Vorstellung liegt Hegels Vorwurf der Inhaltsleere zugrunde, den er gegen Kants Moralkonzeption vorbringt. Hegels Einwand der Inhaltsleere scheint auf den ersten Blick an Kants Konzep­ tion völlig vorbeizugehen. Die erste Missdeutung besteht, wie Julius Ebbinghaus herausstellt, darin, dass Kants Forderung, „von aller Materie des Willens, d.h. von allen Zwecken [zu] abstrahieren“, irrtümlich mit der Abstraktion „von aller Materie der Pflicht“ gleichgesetzt wird.168 Andreas Wildt bemerkt zu dieser Hegelschen „These von der Leerheit des allgemeinen Moralprinzips“, dass sie vor allem dann weitreichende Implikationen hätte, wenn Hegel damit „die Möglichkeit von mora­ lischer Begründung letztlich […] bestreiten“ würde.169 Läse man Hegels Kantkritik so, als würde sie entweder „die Möglichkeit eines gehaltvollen Moralprinzips […] nichtrelativistischer Art, und […] damit die Möglichkeit einer rationalen normati­ ven Ethik überhaupt [untergraben]“, oder als polemisierte sie nur „gegen partiku­ läre […] Schwächen“, die die „tieferliegenden Voraussetzungen“ nicht berühren, Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt am Main 1972, S. 85. NR, S. 460. 165 Ebd. 166 Ebd. 167  Ebd., S. 481. 168  Ebbinghaus, Deutung und Missdeutung des kategorischen Imperativs, S. 83. 169  Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 13; vgl. dazu ebd., insb. Kapitel I, 1. 163 

164 

188

2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

so wäre man in der Tat gezwungen, diese Kritik als „moralphilosophisch unergie­ big“ einzustufen.170 Will man Hegels Vorwurf der Inhaltsleere jedoch nicht einfach als „grundfalsch“ zurückweisen, so muss man davon ausgehen, dass er von He­ gel nicht als eine Absage an jede Form von rationaler normativer Ethik überhaupt gemeint war. Dann stellt sich aber die Frage, was die Rede von der Inhaltsleere ausdrücken soll. Hegels Protest richtet sich immer wieder genau gegen das „oberste Gesetz“ der „Form der Tauglichkeit der Maxime der Willkür“.171 Hegel bezieht sich dabei of­ fenbar auf den Passus aus der Einleitung zur Metaphysik der Sitten, in dem Kant den Begriff der „positiven“ „Freiheit der Willkür“, die durch Vernunft bestimmt werde, entwickelt: „Denn, als reine Vernunft, auf die Willkür […] angewandt, kann sie, […] da ihr die Materie des Gesetzes abgeht, nichts mehr, als die Form der Taug­ lichkeit der Maxime der Willkür zum allgemeinen Gesetze selbst zum obersten Gesetze und Bestimmungsgrunde der Willkür machen […].“172 Unter den Bedin­ gungen des Primats des „allgemeinen Gesetzes“, den Hegel bei Kant wirksam sieht – denn genau diese Gesetzesfähigkeit der Maximen fungiert schließlich als Krite­ rium dafür, dass sie auf ihre „Tauglichkeit“ hin überprüft werden können –, stelle sich aber die Frage, wann die Bestimmtheiten überhaupt „gerechtfertigt“ sind.173 In einer Terminologie ausgedrückt, die Kant näher steht, wird hier sowohl nach dem „moralischen Wert“ der jeweiligen Handlungsbestimmungen gefragt,174 die im Zuge der Prüfung gegeneinander abgewogen werden, als auch (damit zusammen­ hängend) nach dem moralischen „Wert“ des einzelnen abwägenden Subjekts selbst. Kant selbst schreibt in seiner Grundlegung: „Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel gibt.“175 Analog dazu bemisst sich auch der „innere Wert“ des mora­ lischen Willens daran, ob es dem Willen gelingt, sich dem Gesetz unabhängig von allen materiellen Anreizen, Zwecksetzungen, Absichten und Neigungen zu unter­ werfen.176 Kant spricht sogar vom „Entzug“ des „materielle[n] Prinzip[s]“ zuguns­ ten des formellen:177 „Nun soll eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung, und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als objektiv das Gesetz und subjektiv

170 

Vgl. ebd., S. 15. NR, S. 460. 172  MS, AB 6 f., S. 318. 173  Ebd., S. 461. 174 Vgl. Wood, The Emptiness of the Moral Will, S. 455 ff., insb. § 2, dem zufolge Hegel mit seinem Vorwurf der Leere auf Kants Konzept des guten Willens und des moralischen Werts der Handlungen zielt. 175  GMS, S. 28, Anm. 176  Vgl. ebd., S. 26 f. 177  Vgl. ebd., S. 26. 171 

C.  Hegels Kritik an Kant

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reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime, einem solchen Gesetze, selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen, Folge zu leisten.“178 Hegel lenkt den Blick darauf, dass die Frage des moralischen Werts der Hand­ lung oder der Person selbst sich in Kants Moralphilosophie danach entscheidet, ob die jeweilige Bestimmtheit widerspruchsfrei in die Form des Gesetzes überführt bzw. aufgenommen werden könnte. Mithin entscheidet die rationale Reflexionsfä­ higkeit allein über den moralischen Wert von Entscheidungen und letztlich sogar über die Würde des Menschen. Ausschlaggebend ist die letztgültige Orientierung am Gesetz, d. h. die Fähigkeit, sich allgemeinen Maßstäben zu unterwerfen, „jene Bestimmtheit in die Form der reinen Einheit zu erheben“.179 Die Art und Weise, wie Hegel diese Figur der Erhebung beschreibt, in der „das absolute Gesetz der prakti­ schen Vernunft“ besteht,180 macht deutlich, dass er in ihr eine Figur der Herrschaft und Unterwerfung sieht. Darin bekunde sich die Herrschaft des „leeren Einen“ über das bloße Viele. Dabei wird das leere Eine als das abstrakte und gewisserma­ ßen anonyme Allgemeine gemäß dem Prinzip der Beurteilung von Maximen er­ zeugt. Es lässt keine Pluralität zu, denn die Inhalte sollen stets den Anforderungen der ‚leeren‘ Form genügen, wobei die Form den Inhalten äußerlich bleibt. Hegel beschreibt diese äußerliche Beziehung von Form und Inhalt als eine Ver­ zerrung im Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, die sich als das Resul­ tat der Form des Verfahrens der Gesetzgebung ungewollt verfestigt. Im Ergebnis findet man sich mit einer Paradoxie der Missachtung des Besonderen durch seine Nichtbeachtung konfrontiert. Der Einzelne „erfährt“ sich in „seine[r] vollkomme­ ne[n] Unwesentlichkeit“,181 indem er als besonderer gleichsam hinter die Form des Rechts rückt und dabei buchstäblich übersehen wird.182 Diese Konsequenz aus der Form der moralischen Beurteilung kann aber gar nicht beabsichtigt sein, denn in Wahrheit ist es ja gerade die „Sittlichkeit im Besonderen“, so Hegel, „um welche 178 

Ebd., S. 27. NR, S. 460. 180 Ebd. 181 Ebd. 182  Hegels Befund des Übersehens des Besonderen und Vielen durch die leere Formalität des Einen verleitet dazu, eine Parallele zu Heideggers Parmenides-Vorlesung zu ziehen. Ins­ besondere im § 3 dieser Vorlesung beschreibt Heidegger unter der Überschrift „Klärung des Wandels der ἀλήθεια und des Wandels der Gegenwesen (veritas, certitudo, rectitudo, iusti­ tia, Wahrheit, Gerechtigkeit – λήθη, ψεῦδος, falsum, Unrichtigkeit, Falschheit)“ die Verhält­ nisse der juridifizierten Gerechtigkeit des römischen Imperiums. Er beschreibt sie in einer Metaphorik, die der Hegels – hier jedoch mit Bezug auf Kants Moralitätsbegriff – auf eine geradezu frappierende Weise ähnelt. Die Figuren, die zu dem von Heidegger verwendeten begrifflich-semantischen Feld gehören – Heidegger spricht von „Stillstand“, der „Überhö­ hung“, dem „Übersehen“, der „Bestandssicherung“, schließlich auch von der „Falschheit“ und der „Täuschung“ – finden sich allesamt in Hegels Naturrechtsaufsatz. Siehe Martin Heidegger, Parmenides. Freiburger Vorlesung Wintersemester 1942/43, in: ders., Gesamtausga­ be, Bd. 54: 2. Abteilung: Vorlesungen 1923 – 1944, hrsg. von Manfred S. Frings, Frankfurt am Main 1992, insb. S. 51 – 86. 179 

190

2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

es jener gesetzgebenden Vernunft zunächst zu tun [ist]“.183 Hegels Einwand scheint zu sein, dass Subjekte mit ihren Wünschen, Grundsätzen, Handlungsabsichten und Vorstellungen in diesem Prozess der Unterwerfung unter die ihnen äußere Form zwangsläufig Gewalt erleiden. Die Folge davon ist aber, dass „selbst nicht einmal eine Mehrheit von Gesetzen möglich“ sei.184 Unter diesen Bedingungen kommen di­ verse „Bestimmtheiten“ nicht wirklich bzw. wahrhaft und unverfälscht zur Geltung. Die Orientierung am Gesetz besagt nach Hegels eigentümlicher Kant-Lektüre allerdings nicht nur, dass die jeweiligen Bestimmungen (oder Subjekte) vom Ge­ setz unterdrückt werden, sondern auch das Gegenteil davon: dass sich einzelne disparate Bestimmungen selbst umstandslos zum Gesetz erheben können, dass sich Bedingtes zum Unbedingten gleichsam aufspreizt. Mit dieser Feststellung nimmt Hegel die für die Philosophie des 20. Jahrhundert maßgeblich gewordene Kritik an der fatalen (Selbst)Ermächtigung des Subjekts vorweg, wie sie beispielsweise Hei­ degger in seiner radikalen – und nicht minder ambivalenten – Nietzsche-Interpre­ tation zum Ausdruck gebracht hat.185 Hegel schreibt, dass „dieses nicht Absolute, Bedingte wider sein Wesen zu einem Absoluten […] erhoben [wird]“.186 Wie bereits erwähnt, sieht Hegel Kants Verfahren der Prüfung des moralisch Gebotenen sich unter der Hand in ein Legitimierungsverfahren verwandeln, so als hätte Kant der Willkür, und zwar der ungebundenen, absoluten Willkür, in Ge­ stalt des reflexiven Gesetzgebungsverfahrens ein Mittel, eben ein Verfahren, an die Hand gegeben, wie sie sich in ihrer bloß besonderen Freiheit legitimieren kann, indem sie in die Lage versetzt wird, für alle beliebigen Impulse die passenden Gründe zu finden: „Die Willkür hat die Wahl unter entgegengesetzten Bestimmt­ heiten, und es wäre nur eine Ungeschicklichkeit, wenn zu irgendeiner Handlung kein solcher Grund, der nicht mehr nur die Form eines probablen Grundes wie bei den Jesuiten hat, sondern die Form von Recht und Pflicht erhält, aufgefunden werden könnte; […].“187 Wird der Eudämonismus, mit Selbstliebe konnotiert, bei Kant als das Gegenprinzip zur Moral entworfen, so behauptet Hegel mit dem ty­ pischen Gestus der Verkehrung der eigentlichen Absichten seiner Kontrahenten in ihr Gegenteil, dass die Kantische Moral selbst dieses Prinzip der eudämonistischen Selbstliebe freisetzte. Dieses Prinzip wird paradoxerweise dadurch freigesetzt, dass die formelle „Identität des Subjekts und Prädikats“188 behauptet wird, „und dieser moralische Formalismus geht nicht über die moralische Kunst der Jesuiten und die Prinzipien der Glückseligkeitslehre, welche zusammenfallen, hinaus“.189 183 

NR, S. 467. Ebd., S. 459. 185  Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 1 und 2, Pfullingen 1961, darin insb. „Wahrheit als Gerechtigkeit“ (Bd. 1, S. 632 – 648) und „Die Gerechtigkeit“ (Bd. 2, S. 314 – 334). 186  NR, S. 464 (Herv. T. S.). 187  Ebd., S. 464. 188 Ebd. 189 Ebd. 184 

C.  Hegels Kritik an Kant

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Mit seinen Diagnosen der Inhaltsleere und der Willkürherrschaft macht Hegel auf zwei gegensätzliche Effekte aufmerksam, die das Verfahren der „gesetzprüfen­ den Vernunft“190 zur Konsequenz hat: Es ist zum einen das Übersehen des Einzel­ nen (respektive der „Bestimmtheit“, der „Einzelheit“ und der Partikularität) und zum anderen, gleichsam auf der Rückseite dieses Übersehens, seine Verabsolutie­ rung zu einem „Ansich“. Beide Effekte sind illegitim: „Wo aber eine Bestimmtheit und Einzelheit zu einem Ansich erhoben wird, da ist Vernunftwidrigkeit und, in Beziehung aufs Sittliche, Unsittlichkeit gesetzt.“191 Da das Verhältnis von Beson­ derem und Allgemeinem nicht vermittelt, sondern das Besondere nur unter das Allgemeine subsumiert werden kann, kommt es zu einer Polarisierung: Entweder die „Bestimmtheiten“ nehmen die ihnen äußere Form des Gesetzes an oder aber sie ziehen sich – kraft der Leerheit des formalen Gesetzes davon freigestellt – auf ihr Ansich zurück und erheben sich selbst zum Gesetz: „[D]aß eine Maxime dei­ nes Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten müsse, dieses Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft drückt aus, daß irgendeine Bestimmtheit, welche den Inhalt der Maxime des besonderen Willens ausmacht, als Begriff, als Allgemeines gesetzt werde. Aber jede Bestimmtheit ist fähig, in die Begriffsform aufgenommen und als eine Qualität gesetzt zu werden, und es gibt gar nichts, was nicht auf diese Weise zu einem sittlichen Gesetz gemacht werden könnte.“192 Hegel scheint Kant hier so zu verstehen (oder misszuverstehen), dass jede belie­ bige subjektive Maxime zum Gesetz erhoben werden könnte. Dies zu unterstellen, ist schon deshalb nicht korrekt, weil Kant selbst sich gegen Missdeutungen dieser Art ausdrücklich verwahren wollte: „[W]enn man der Maxime die Allgemeinheit eines Gesetzes geben wollte“, schreibt er, so „[würde] grade das äußerste Wider­ spiel der Einstimmung, der ärgste Widerstreit und die gänzliche Vernichtung der Maxime selbst und ihrer Absicht erfolgen. […] Empirische Bestimmungsgründe taugen zu keiner allgemeinen äußeren Gesetzgebung, aber auch eben so wenig zur innern; denn jeder legt sein Subjekt, ein anderer aber ein anderes Subjekt der Nei­ gung zum Grunde, und in jedem Subjekt selber ist bald die, bald eine andere im Vorzuge des Einflusses.“193 Kants eigene Bemühung, Missverständnissen vorzubeugen, zeigt, dass es ihm vor Augen gestanden haben muss, dass die Denkbarkeit einer Maxime als allgemeines Gesetz allein, die bloße „Vorstellung des Gesetzes“ oder, mit Hegel ge­ sprochen, die Aufnahme der Maxime in eine „analytische Einheit“ nicht ausrei­ chen können, um einen subjektiven Handlungsgrund als moralisch, als einen guten Grund zu qualifizieren. Wäre dem so, dann könnten sich in der Tat alle beliebigen Gründe potentiell zu einer Form des Rechts oder der Pflichten qualifizieren. Die 190  Vgl. den gleichnamigen Unterabschnitt des Vernunft-Kapitels der Phänomenologie: PhG, S. 316 ff. 191 Ebd. 192  NR, S. 461. 193  KpV, [28], S. 36 f.

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guten Gründe wären dann aber nicht mehr unterscheidbar von den schlechten. Sie würden gleichrangig werden, wenn sie nur als Optionen der subjektiven Wahl in den Blick rückten. Auf diese Weise deckt Hegel neben dem Problem der Legiti­ mierung von subjektiv-beliebigen Gründen einen weiteren wichtigen Hintergrund auf: Hegel scheint Kant vorzuwerfen, den Prozess der moralischen Gesetzgebung so konzipiert zu haben, dass Willensfreiheit sich in diesem Prozess zwangläufig auf die Freiheit der rationalen Wahl verengen wird. Diesen Typus von rationaler Wahlfreiheit bringt Hegel jedoch bezeichnenderweise gerade nicht mit dem freien Willen, sondern vielmehr mit der ungebundenen Willkür in Verbindung. Hegel hat den Blick darauf gelenkt, dass die Überprüfung der Maxime auf ihre Pflicht- und Gesetzesqualitäten überhaupt erst dann relevant wird, wenn das mo­ ralisch Gebotene mit einem Male fragwürdig wird oder bereits fragwürdig ge­ worden ist. Wenn dies geschieht, so muss dem Einzelnen, der als Vernunftwesen das formale Gesetz des Willens in sich trägt und über dieses Gesetz gleichsam verfügt, alles, „was sittlich notwendig ist“,194 zugleich so erscheinen, als stünde es jederzeit zur Disposition. In Hegels Lesart gehört es überhaupt zur Logik des Prüfungsverfahrens von Maximen dazu, dass die „leere Einheit“ dieses Gesetzes alles Einzelne „zu einem Zufälligen macht“, indem „sie es in dem Gegensatz gegen Anderes erscheinen lässt“.195 Dies lässt sich so verstehen, dass der Einzelne, der eine Entscheidung treffen will, in eine Situation der Wahl zwischen verschiedenen Alternativen gerät. Da die Entscheidung ins Belieben des Einzelnen gestellt ist, haftet ihr jedoch stets ein Moment der Beliebigkeit und der willkürlichen Setzung von Bestimmtheiten196 an. Dabei mag diese Setzung aus Sicht des Subjekts zwar so erscheinen, als wäre es ihm möglich, aus sich heraus eindeutig oder gar endgültig über die Güte der Maxime zu entscheiden, doch dieser Eindruck verdankt sich in Hegels Augen einem undurchschauten Missverständnis. Die Überzeugung, die jeweilige Wahloption sei endgültig oder einzig richtig, beruht auf der Verkennung des eigentümlichen nur relativen Status dieses Besonderen oder dieser „Bestimmt­ heit“: „[E]s steht ihr die entgegengesetzte Bestimmtheit gegenüber, und sie ist nur Bestimmtheit, insofern ihr eine solche gegenübersteht“ (ebd.). Mangels eines ge­ haltvollen Kriteriums, weshalb das Subjekt nun dieses oder jenes wählen soll, kann es sich nur auf die rationale Form seiner Wahl selbst verlassen. Doch worin jene Rationalität besteht, kann nach Hegel unmöglich nur vom subjektiv-individuellen Standpunkt aus eingesehen werden. Die Art und Weise, wie Hegel das Problem der Wahlfreiheit behandelt, rückt Kants Konzeption von Moralität recht nahe an die heutigen Überlegungen zur ra­ tionalen Konstitution von handelnden Subjekten. Besonders naheliegend ist da­ bei Christine Korsgaards Vorschlag, das formgebende Verfahren der reflexiven Prüfung der Maximen als wesentliches Konstituens der Herausbildung praktischer 194 

NR, S. 467.

195 Ebd. 196 

Vgl. NR, S. 461.

C.  Hegels Kritik an Kant

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Identität zu begreifen. Dieser Vorschlag, der die Frage des selbstregierten Lebens ganz unmittelbar betrifft, wird im Folgenden aufgenommen und diskutiert. Dabei soll die Auseinandersetzung mit dem Komplex der Subjektkonstitution verdeutli­ chen, was auf dem Spiel steht, wenn man Hegels Anspruch ernst nimmt: zu zeigen, dass Autonomie ausgehend von den Kantischen Prämissen nicht oder nur auf eine unvollständige und problematisch-defiziente Weise zur Geltung kommen kann. 3.  Ein Exkurs zu Fragen der Subjektkonstitution a)  Die „Inkorporationsthese“: Das Subjekt der Wahl Eine der bislang rekonstruierten Thesen Hegels lautet, dass das reflektierende Subjekt in einer Situation, in der das Verhältnis des Besonderen und Allgemeinen sich zur alleinigen Relation verfestigt – wie es Hegel für den neuzeitlich-modernen Entzweiungszustand geltend gemacht hat – zum Subjekt der Wahl depotenziert wird. Der Ausgang dieser Wahl bleibe aber stets prekär, weil die Ausübung der bloß subjektiven Freiheit der Wahl Hegel zufolge niemals zu einer sicheren Ent­ scheidung führen kann. Hegels Fokus auf die Verengung von subjektiver Freiheit zur Freiheit der Wahl muss zunächst einigermaßen erstaunen. Denn es springt sofort ins Auge, dass er dadurch genötigt ist, die von ihm zuvor aufgestellte Be­ hauptung ein Stück weit zu revidieren. Gemeint ist Hegels Einwand, dass Kants kompromisslose Ausrichtung auf die Form des Gesetzes mit einer Abstraktion von allen Inhalten einhergehe und noch nicht einmal eine „Mehrheit von Gesetzen“ möglich mache. Letzteres ist, wie Andreas Wildt zu bedenken gibt, schon deshalb nicht korrekt, weil nach Kant „die gegebenen Neigungen und Maximen durch den moralischen Willen nicht nur geordnet, sondern auch selegiert und umgeformt wer­ den. Demnach ist die moralische Einheit bei Kant wesentlich Form des Mannigfal­ tigen, nämlich der Maximen und der Triebe“.197 Diese Fähigkeit des rationalen Akteurs, das Mannigfaltige zu formieren, wird heute in Aufnahme des Vorschlags von Henry E. Allison unter dem Stichwort „in­ corporation thesis“198 diskutiert. Allison hat vorgeschlagen, freie Handlungen als solche zu begreifen, die auf Wünschen, Neigungen, Bestrebungen und Interessen­ lagen eines Akteurs basieren, der diese frei in die Maxime seiner Handlung aufgenommen hat. Im Hintergrund steht die Annahme, dass Wünsche, Neigungen und Bestrebungen niemals als solche handlungswirksam werden können. Vielmehr muss der Handelnde sie zuvor als „Triebfeder“ in seine Maxime aufgenommen haben, also bereits die Wahl getroffen haben, sie zum Grund seiner Maxime zu machen. Diese These stützt sich auf eine „für die Moral wichtig[e] Bemerkung“ Kants aus der Religionsschrift, die ihm zur „Beantwortung der […] Frage nach der ri­ goristischen Entscheidungsart“ dient: „[D]ie Freiheit der Willkür“, schreibt Kant, 197  198 

Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 295. Henry E. Allison, Kant’s Theory of Freedom, Cambridge 1990, S. 40.

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

„ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will) […].“199 Bedenkt man diesen Zusammenhang der Inkorpo­ ration, so erscheint Hegels Behauptung nicht stichhaltig, dass selbst „die Mehrheit von Gesetzen“ – da das Gesetz der Form nach gelten soll – „unmöglich“ sei.200 Denn selbstverständlich gibt es ganz unterschiedliche empirische Gehalte, die der reflexiven Aneignung fähig sind. Deshalb müsste man eigentlich sagen, dass sich die Frage der moralischen Selbstgesetzgebung – gerade dann, wenn sie derart nah an die Optik der Wahl- und Willkürfreiheit gerückt wird – überhaupt erst mit der Frage nach der Herausbildung von eigener Identität verbindet. Vor allem Christine Korsgaard hat diesen Zusammenhang der „Selbstkonstitu­ tion“ durch normativ bindende Entscheidungen als zentral herausgehoben und sich darum bemüht, auszubuchstabieren, worin das selbstregierte Leben besteht. Ins­ besondere hält Korsgaard an Kants Selbstgesetzgebungsgedanken fest und unter­ streicht seine Relevanz für die Begründung einer gelingenden Praxis.201 Korsgaard zufolge komme es darauf an, die Selbstgesetzgebung als „reflective endorsement“ zu deuten, als einen Prozess, in dem es nicht darum gehen kann, beliebige Inhalte, Impulse, Wünsche oder Triebe zu Gründen für bestimmte Handlungsvollzüge zu machen oder umzuformen, wie es Hegels Kant-Diskussion fälschlich suggeriert. Selbstgesetzgebung muss vielmehr als ein Prozess verstanden werden, in dem nur diejenigen Maximen reflexiv bekräftigt werden, die so verfasst sind, dass sie im Zuge der reflexiven Prüfung die Form eines Gesetzes annehmen können, und de­ ren Gesetzesform das Subjekt zum Grund seiner eigenen Handlung machen kann. Korsgaard spricht daher von einer „procedure of making laws for ourselves“.202 Hegels Darstellung, dass das reflexive Verfahren darin bestehe, „jene Be­ stimmtheit in die Form der reinen Einheit zu erheben“,203 entspricht durchaus Korsgaards Interpretation des deliberativen Prozesses, an dessen Ende die „reflexi­ ve Bekräftigung“ einer Maxime steht. Kant selbst beschreibt es ähnlich: Nicht die „Materie“ von Maximen als subjektiven Prinzipien, sondern deren Form allein soll für den Willen verbindlich bzw. für die Willensbestimmung hinreichend effizient werden: Die Maximen sollen „sich nach [dieser Form] zur allgemeinen Gesetzge­ bung schicken“ und der Akteur soll sich erst diese Form zum „praktischen Gesetz mache[n]“.204 199  Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft [1793], in: ders., Werkausgabe, Bd. 8, B 10/11, S. 669 f. 200  Vgl. NR, S. 459. 201 Vgl. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends. 202  Korsgaard, The Sources of Normativity, S. 90 – 131: „The authority of reflection“, hier: S. 112. 203  NR, S. 460. 204  Vgl. KpV, § 4, [27], S. 35.

C.  Hegels Kritik an Kant

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Dass die Betonung auf der Form liegt, ist vollkommen richtig und überzeugend, jedoch setzt es nicht Hegels Zweifel daran außer Kraft, dass die Gesetzesform im Prozess der rationalen Überlegung oder die individuelle Wahl zwischen den Ma­ ximen allein jemals imstande sein können, Kriterien für die Güte der jeweiligen Maxime zu liefern. Das Objekt der Wahl wird nicht deshalb schon zu einer guten Wahl, weil die Wahlprozedur selbst nach rationalen Kriterien verlaufen ist. Dies scheint aber Korsgaard zu behaupten, wenn sie schreibt: „[I]t must be that rational choice itself makes its object good.“205 Für Hegel ist das Verfahren allein jedoch kein Garant der Güte der gewählten Maximen. Denn es sind nach wie vor die Ob­ jekte und Gehalte meiner Wahl, die „gut“ sind und deshalb rational zu wählen sind. Diesen Einwand hat Allen Wood gegen Korsgaards „dubiose“206 Haltung gegen­ über dem Realismus und der Objektivität des Guten zum Ausdruck gebracht: „As I understand it, rational choice confers value in the way that a university confers a degree – it recognizes and responds to the fact that its normative demands are met. As I understand it, this does not preclude – but on the contrary, presupposes – that that on which value is conferred has in itself the qualities that meet the demands of rational choice.“207 Wenn Korsgaard demgegenüber zeigen will, dass „objective values are derived or, better, constructed from subjective ones“,208 dann verste­ he man nicht, wie dies vonstattengehen soll, wie Wood scherzhaft sein Argument pointiert: „[I]f you construct a house out of straw, then what you have at the end is a straw house, and not a brick one.“209 Es ist mit anderen Worten nicht so, dass das Gewählte, nur weil das Subjekt es auf eine rationale Weise gewählt hat, schon automatisch das Prädikat „gut“ erhält. Besonders brisant wird die emphatische Betonung der rationalen Wahl, wie Wood treffend bemerkt, aber dann, wenn es um Fremdzuschreibungen von Rationalität und Freiheit geht. Denn wären die Menschen nicht wirklich frei und rational, und würde man sie nur dafür „halten“ oder so „behandeln“, als wären sie es, dann be­ fände man sich „under the grip of some kind of illusion“.210 Man würde sich einer Illusion hingeben.

205  Das ausführliche Zitat lautet: „What makes the object of your rational choice good is that it is the object of a rational choice. That is, since we still do make choices and have the attitude that what we choose is good in spite of our incapacity to find the unconditioned condition of the object’s goodness in this (empirical) regress on conditions, it must be that rational choice itself makes its object good“ (Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, S. 123; siehe zu diesem Punkt die Kritik von Allen W. Wood, Creating the Kingdom of Ends. By Christine M. Korsgaard, in: The Philosophical Review 107/4 (1998), S. 607 – 611, hier: S. 609). 206  Wood, Creating the Kingdom of Ends. By Christine M. Korsgaard, S. 607. 207  Ebd., S. 610. 208  Ebd., S. 611. 209 Ebd. 210  Ebd. (Übers. T. S.).

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

b)  Die Superfigur des Ich Korsgaard ist in ihren Ausführungen genötigt, eine Figur anzunehmen, der man in Kants Philosophie allenthalben begegnet: Es ist die Annahme eines überem­ pirischen Ich, das über dem empirischen Selbst des Einzelnen steht und die Güte der eigenen Wahl gleichsam überwacht. Diese Form des Selbst ist der freie Wille, dessen reflexivem Formgebungsverfahren das jeweilige Selbst seine „praktische Identität“ verdankt. Dabei besteht die freie Potenz dieses willentlichen Selbst dar­ in, zwischen verschiedenen Wünschen und Impulsen „intrinsisch“ wählen zu kön­ nen: „When you make a choice, you do not view yourself as simply impelled into it by desire or impulse. Instead, it is as if there were something over and above all of your desires, something that is you, and that decides which if any of your desires to gratify.“211 Abgesehen davon, dass man sich fragen könnte, ob diese Vorstellung vom Subjekt sich nicht in Wahrheit erst einer Massenkultur verdankt, die „vor allem eine Erfahrung [generiert], die Subjektivität an Selbstoptimierung koppelt“,212 steht Korsgaard mit der Annahme eines „höheren Ich“ durchaus auf einer Linie mit Kant. So scheint diese Vorstellung etwa Kants Beschreibungen eines durch Vernunft „selbstgewirkte[n] Gefühl[s]“ inhärent zu sein, das nach Kant „also ein Gefühl [ist], das durch Einschränkung der Sinnlichkeit bewirkt ist“.213 Im Entwurf seiner Antwort an Schiller radikalisiert Kant, der sich von Schillers Schrift Über Anmut und Würde provoziert fühlte, diesen Gedanken noch weiter: Kant spricht hier sogar von der „Anarchie der Naturneigungen“, die im Zuge einer Reglementie­ rung und Begrenzung durch Sittlichkeit „abgeschafft“ werden solle.214 Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, S. 57. Michael Makropoulos, Theorie der Massenkultur, München 2008, hier: S. 132 (Herv. T. S.). 213 Vgl. Henrich, Das Prinzip der kantischen Ethik, S. 20 – 38, hier: S. 31, mit Bezug auf KpV, [80], S. 109. 214  Zit. nach Henrich, Das Prinzip der kantischen Ethik, S. 30. Henrich stellt heraus, dass Kant in diesem Zusammenhang die besondere Bedeutung der Gewohnheit unter­ streicht; sie erwecke eine „Neigung zur Pflicht“, denn „eine anhaltende und mit Erfolg aus­ geübte Tätigkeit“ könne gar nicht anders, als eine „Neigung zu ihr [zu] erweck[en]“ (ebd.). Zeichnet sich eine solche Theorie der Kultivierung ansatzweise bereits bei Kant ab, so stellt sie Hegel – insbesondere im Abschnitt über die „Gewohnheit“ innerhalb seiner in die Enzy­ klopädie förmlich eingegliederten Anthropologie – auf eine neue Grundlage (vgl. § 409 in Hegels Anthropologie, Enz. III, §§ 388 – 412, S. 43 – 198). Der Mensch erscheint in Hegels enzyklopädischem System am Beginn des „Überwindungs- bzw. Vergeistigungsprozesses“ der Natur, wobei die Seele, von der die Anthropologie handelt, von der natürlichen zur füh­ lenden wird, um sich wiederum als die „wirkliche Seele“ von ihrer Leiblichkeit zu befreien: So wird der Körper schließlich zum „Kunstwerk der Seele“, die „Äußerlichkeit“ zum „Zei­ chen der Seele“, zu einer freien Gestalt, die sich in der Stimme, in der Sprache und in allen Bewegungen und Haltungen des Menschen kundtut (Enz. III, § 411, S. 192). Die Bedeutung der Gewohnheit für diesen Prozess der Befreiung wird dabei gerade im Hinblick auf die Entwicklung des Selbstbezugs und der eigenen Identität unterstrichen. 211 

212 Vgl.

C.  Hegels Kritik an Kant

197

In den Grundlinien beschreibt Hegel das Verhältnis des Menschen zu seinen „Trieben“ allem Anschein nach so ähnlich wie Kant und heute Korsgaard, und dennoch mit einer entscheidenden Differenz: Für Hegel ist die Fähigkeit, sich zu „unmittelbaren“ „natürlichen“ Trieben verhalten zu können, wie bereits für Schil­ ler,215 kein bloßer Akt der Reflexion und damit der bekräftigenden Wahl, sondern ein Akt des Willens selbst: „Der Trieb ist in der Natur, aber daß ich ihn in dieses Ich setze, hängt von meinem Willen ab, der sich also darauf, daß er in der Natur liegt, nicht berufen kann.“216 Wenn man demgegenüber in der reflexiven Prozedur der Wahl sich für oder gegen bestimmte Triebe entscheidet, wenn „die Befriedigung des einen die Unterordnung oder Aufopferung der Befriedigung des anderen for­ dert“,217 dann verwechsele man Freiheit, in der auch „der Trieb […] das Maß […] in sich selbst hat“, mit Freiheit der Willkür: Erst diese letztere ist es, die „mit berech­ nendem Verstande [verfahre], bei welchem Triebe mehr Befriedigung zu gewinnen sei, oder nach welcher anderen beliebigen Rücksicht“.218 Der kritische Punkt, an dem sich die Positionen scheiden, besteht darin, dass eine Verstandeskontrolle über die Triebe Hegel zufolge versagen muss. Sie muss deshalb versagen, weil sie letztere nicht in ihrer Ganzheitlichkeit – als „ein System aller Triebe“219 – zu fassen vermag und daher eines immer nur auf Kosten des anderen (oder aller anderen) durchsetzen kann. Demgegenüber deutet Hegel „die Natürlichkeit“ zu etwas um, das es so – als etwas der Reflexion Vorausliegendes – gar nicht gibt. Vielmehr verhält es sich genau umgekehrt: Die Kategorie des „Natürlichen“ wird überhaupt erst „von der Reflexion hervorgebracht“ und dabei gleichwohl als etwas hervorgebracht, dessen „Unmittelbarkeit“ erst in einem höhe­ ren Allgemeinen als dem reflexiv erzeugten „aufgehoben ist“.220 In dieser Aufhebung besteht nach Hegel nicht nur die befreiende Arbeit der „Bildung“, sondern überhaupt „das im Willen sich durchsetzende Denken“.221 Von diesem Denken wüsste man nichts, wäre der Mensch nicht in der Lage, sich zu der höheren Form des Allgemeinen aufzuschwingen. Die „Forderung“ nach „einem bloßen Unterordnen der Triebe“ käme hingegen einer Verkennung von Natur und Geist gleich und wäre aus diesem Grund, folgt man der Logik des Hegelschen Ge­ dankens, sogar buchstäblich ungebildet zu nennen: Mangels eines „Maßes dieser 215  Vgl. Schillers Ausführungen im Abschnitt über die Würde (ders., Anmut und Würde, S. 470 ff.), wo er den Begriff des Willens ins Zentrum stellt: „Bei dem Menschen ist noch eine Instanz mehr, nämlich der Wille, der als ein übersinnliches Vermögen weder dem Ge­ setz der Natur, noch dem der Vernunft so unterworfen ist, daß ihm nicht vollkommen freie Wahl bliebe, sich entweder nach diesem oder nach jenem zu richten. Das Tier muß streben, den Schmerz los zu sein, der Mensch kann sich entschließen, ihn zu behalten“ (ebd., S. 471). 216  GPR, § 11, Z, S. 63. 217  Ebd., § 17, S. 68. 218 Ebd. 219  Ebd., § 17, Z, S. 69. 220  Ebd., § 21, S. 72. 221 Ebd.

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

Anordnung“, schreibt Hegel, würde eine solche Forderung sich „daher gewöhnlich in die Langweiligkeit allgemeiner Redensarten“ auflösen.222 c)  Die Unerklärlichkeit des Scheiterns Die Problematik der Annahme einer Superinstanz im Ich und der Unterschei­ dung von „notwendigen“ und „zufälligen“ Identitäten lässt sich weiter vertiefen, wenn man die Bedenken berücksichtigt, die Robert Pippin gegen Korsgaards Aus­ legung des selbstregierten Lebens vorgebracht hat.223 Pippin bringt eine weitere wichtige Nuance ins Spiel: Die Kantische Autonomiefigur besagt, dass wir als au­ tonom Handelnde uns selbst nur dem unterwerfen, was wir reflexiv billigen kön­ nen. Wenn aber das Handeln von konstitutiven Regeln und Normen regiert wird, die im Prozess der Überlegung zu Verpflichtungsquellen heranwachsen, dann be­ sagt dies, „dass wir irgendwie immer schon die grundlegende Verpflichtung für alles, was wir tun, übernommen haben“.224 So dürfte es aber einen Zustand, in dem wir nicht verpflichtet wären, niemals geben. Dies wäre ein geradezu erstaunliches Ergebnis, wenn man bedenkt, dass die von Kant verwendete „Metapher“225 der Urheberschaft der Gesetzgebung, ohne die es keine Autonomie gäbe, paradoxerweise gerade einen solchen Zustand – einen Null­ punkt der Einsetzung – suggeriert.226 Im Lichte dieser Beobachtungen dürfe man Pippin zufolge „das etwas Verwirrende“ an der Selbstgesetzgebung keineswegs verschweigen: den Umstand nämlich, dass sie uns zwar den Status des Subjekts, der Person und des Handelnden verleiht, dass aber „Subjekt zu sein“ zugleich be­ deutet, „die Möglichkeit zu haben, es nicht zu sein“.227 Dies wirft die Frage auf, was passieren würde, wenn man einen solchen Spielraum, dem nicht nur Berechtigung, sondern auch eine eigene Normativität zukommt, die die rationale Zweckorientie­ rung übersteigt, aus dem Blick verlöre.228 Einerseits räumt Kants Autonomiebegriff die Denkmöglichkeit eines solchen Spielraums ein und trägt dem Umstand Rechnung, dass es „auf uns selbst an­ kommt“, ob wir von der Vernunft geleitet werden und uns an den vernünftigen 222 Ebd.

Robert B. Pippin, Über Selbstgesetzgebung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51/6 (2003), S. 905 – 926; ausführlicher: Pippin, Hegel’s Practical Philosophy, S. 65 – 91, Ka­ pitel 3: „On giving oneself the law“ (im Folgenden unter diesem Titel zitiert). 224  Pippin, Über Selbstgesetzgebung, S. 919. 225  Pippin, On giving oneself the law, S. 73. 226  Zu diesem „Paradox der Autonomie“ siehe Pinkard, German Philosophy 1760 – 1869, S. 59, 118, 226; vgl. auch Pippin, The Realization of Freedom. Pippin selbst spricht aller­ dings nicht vom Nullpunkt; die hier verwendete Anspielung bezieht sich auf die berühm­ te Formulierung Schillers: „In dem ästhetischen Zustande ist der Mensch also Null […]“ (Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 635, 21. Brief). 227  Pippin, Über Selbstgesetzgebung, S. 914. 228  Ebd., S. 915. 223 

C.  Hegels Kritik an Kant

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Grund binden wollen oder nicht.229 Andererseits scheint diese Möglichkeit sich sofort wieder zu verschließen. Dies scheint etwa dann der Fall zu sein, wenn die Inkorporationsthese sich zur Behauptung radikalisiert, dass der Einzelne auch noch alle seine Impulse gewählt und gewollt haben muss, um sie gelten lassen zu können. Diese Interpretation liegt nahe, zumal Kants philosophische Innovation gerade darin besteht, Autonomie an die Willensfreiheit und Letztere an die not­ wendige Zugkraft der Verpflichtung gekoppelt zu haben: „Da an sich Pflichten auf der Freiheit des Willens beruhen und zugleich mit einer absoluten Nötigung ver­ bunden sind, so lässt es sich nicht begreifen“, so Kant in seinen Vorlesungen über Metaphysik der Sitten, „wie jemand nach den Gesetzen der Freiheit wider seinen Willen zu einer Pflichthandlung genötigt werden kann.“230 Konsequent gedacht wäre der Einzelne, selbst wenn er unter dem Einfluss von Fremdbestimmung und Manipulation stünde, nach Kant dazu angehalten, nicht zu verkennen, dass er selbst dafür verantwortlich sei. Würde der Einzelne dies nicht erkennen können oder wollen, so unterläge er einer bequemen Selbsttäuschung: „By ‚letting ourselves‘ be commanded or determined we are actually not passive at all, but are determining ourselves to act on such a principle, and this claim gets us closer to the inescapability that Kant’s Urheber principle must involve.“231 An­ gesichts der Unausweichlichkeit der Urheberschaft des Subjekts verschließt sich paradoxerweise gerade die Möglichkeit eines individuellen Spielraums. Ein sol­ cher Spielraum wird aber auch dann unerklärlich, wenn man beim Verständnis von Autonomie das Konzept der vernünftigen Überlegung bzw. der instrumentell-ra­ tionalen Deliberation zugrunde legt: Das instrumentelle Prinzip besagt ja gerade, dass jeder, der Zwecke wählt oder aufrichtig will, auch die entsprechenden Mittel wählt und will.232 Pippin verweist zu Recht auf das Problem der Fallibilität oder des „rationalen Versagens“, das vor diesem Hintergrund besonders brisant wird.233 Nach dem obi­ gen Konzept kommt es dann zur „rational failure“, wenn man sich einen Zweck zwar gesetzt hat, die zu seiner Verwirklichung nötigen Mittel jedoch nicht mit­ realisiert. Dieses Konzept der instrumentellen Vernunft stößt spätestens dann an seine Grenzen, wenn man erklären will, worin die Defizienz von Handlungen, die auf derartige Fehler in ihrem Ablauf verweisen, tatsächlich besteht: „Um ein ra­ tionales Versagen nachzuweisen, müssen wir zeigen, dass wir durch die Erforder­ Pippin, On giving oneself the law, S. 75 (Übers. T. S.). Immanuel Kant, Vorlesungen über Moralphilosophie, IV: Metaphysik der Sitten Vi­ gilantius 1793/94, in: Kant’s gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. 27 (2. Hälfte, 1. Teil), Berlin 1975, S. 475 – 732, hier: S. 579. 231 Vgl. Pippin, On giving oneself the law, S. 73 – 74. 232  Zu den Schwierigkeiten für die Praxis selbst, die sich aus der von Kant behaupteten Analytizität der Zweck-Mittel-Beziehung ergeben, siehe Pippin, Über Selbstgesetzgebung, S. 915 ff. respektive ders., On giving oneself the law, S. 79 ff. 233 Vgl. Pippin, Über Selbstgesetzgebung, S. 915 sowie ders., On giving oneself the law, S. 79. 229 Vgl. 230 

200

2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

nisse der Vernunft motiviert sind, wenn wir vernünftig handeln, und dass wir diese Forderungen missachten können, obwohl wir sie anerkennen und akzeptieren.“234 Nun lässt sich mit Korsgaard sehr wohl erklären, worin das „rationale Versa­ gen“ gründet; sie erläutert es, indem sie sich auf das Problem der Willensschwä­ che beruft oder auf fremde „Kräfte“ verweist – darunter Angst, Bequemlichkeit, Schüchternheit oder Depression –, die die Vernunft „blockieren“.235 Pippin wider­ spricht dieser Darstellung, indem er zu bedenken gibt, dass es irreführend sei, zu suggerieren, dass Schwächen oder Fehler sich von der begründeten Absicht des Handelnden überhaupt trennen lassen. Denn gäbe es diese Möglichkeit, Schwä­ chen von Gründen abzulösen, so wäre die Rede von „meinem Scheitern oder meiner Schwäche“ streng genommen sinnlos236 – es sei denn, man würde das ‚Meine‘ mit bloß privat-subjektiver und kontingenter Beliebigkeit gleichsetzen, die ‚mei­ nem‘ rationalen Ego im Weg stünde bzw. hinderlich sein könnte. Das so bestimmte ‚Meine‘ wäre als das zu Überwindende und zu Unterdrückende zu behandeln, als eine meinem rationalen Ich äußerliche – und daher auch tendenziell feindliche und bedrohliche – Pathologie. Letzteres ist aber auch schon deshalb keine Lösung – so ließen sich Pippins Ausführungen um eine Formulierung von Peter Rohs ergänzen –, weil das „transzendentale Ich keine 80 Kilo wiegen kann“.237 Sich in Fällen des ‚rationalen Versagens‘ auf Willensschwäche, die der Hand­ lung äußerlich wäre, zu berufen, würde mit anderen Worten bedeuten, es sich mit dem Problem der Fallibilität zu leicht zu machen. Die Berufung auf Willensschwä­ che widerspräche nicht nur der Inkorporationsthese, sondern würde auch uner­ klärlich werden lassen, wie es im Handlungsverlauf zuweilen zu Abweichungen von ursprünglich gesetzten Zwecken überhaupt kommen kann.238 Dies betrifft ge­ ringfügige und grundlegende Veränderungen – bis hin zu Revisionen der eigenen Lebenskonzeption – gleichermaßen.239 Gegen Korsgaard (und Kant) lautet Pippins berechtigter Einwand, dass man vielleicht ganz und gar nicht im Lichte eines ‚glo­ balen Plans‘ gescheitert sei – etwa weil man irrationalen Antrieben aus „Schwä­ che“ nachgegeben habe –, sondern dass man einfach ein „Ideal“240 von sich selbst aufgegeben hat, weil man feststellen musste, dass das, wofür man sich gehalten hat, nicht (mehr) zum Ausdruck bringt, wer man ist.241 Pippin, Über Selbstgesetzgebung, S. 915. Korsgaard, The Sources of Normativity, S. 246: „[T]imidity, idleness and de­ pression […] will attempt to control or overrule my will“ (zit. nach Pippin, On giving oneself the law, S. 82). 236  Pippin, On giving oneself the law, S. 83. 237 So Peter Rohs, Über Sinn und Sinnlosigkeit von Kants Theorie der Subjektivität, in: Neue Hefte für Philosophie 27/28 (1988), S. 56 – 80, hier: S. 58, allerdings in Bezug auf Peter Strawsons Distinktion zwischen Person und Subjekt. 238 Vgl. Pippin, On giving oneself the law, S. 83. 239  Vgl. ebd., S. 82. 240  Ebd., S. 85. 241  Vgl. ebd. 234 

235 Vgl.

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201

„[D]ass Korsgaard ihre kantische Bewunderung der Autonomie außer Kon­ trolle geriet“,242 schreibt Pippin, wird aber spätestens dann offensichtlich, wenn sie die „Nichtübereinstimmung mit einem instrumentalen Prinzip“ zum Anlass nimmt, dem Handelnden seinen Status als Handelnder überhaupt abzusprechen.243 Im Unterschied zu Korsgaard insistiert Pippin darauf, dass der Fähigkeit zu schei­ tern eine ganz grundlegende Bedeutung für das menschliche Handeln eingeräumt werden muss. Denn gäbe es diese Fähigkeit nicht, so wären alle Handlungen bis ins letzte Detail berechenbar.244 Das Scheitern als produktive Veränderung des Selbst aufzufassen, erweist sich nur dann als schwierig, so Pippin, wenn man vom vorausgesetzten Primat der instrumentellen Rationalität ausgeht, das dazu führt, dass der Mensch in erster Linie als ein Prüfer, Gutachter und rationaler Zweck­ setzer wahrgenommen werde,245 während alle weiteren Identitäten des Menschen im Verhältnis dazu als bloß „partikuläre“ und „kontingente“ erscheinen, mithin zweitrangig werden. Die absurden Konsequenzen, die sich aus der Annahme ei­ nes instrumentellen Verhältnisses von „notwendiger“ und „kontingenter“ Identität ergeben, führe schließlich das Beispiel des schnellen Fahrens vor Augen, das als solches wohl schwerlich deshalb als unmoralisch einzustufen und zu verurteilen wäre, weil es die als Fähigkeit zur Deliberation bestimmte moralische Identität des Subjekts gefährdet. Pippins Argumentation führt vor Augen, dass eine Hierarchie von notwendigen und zufälligen Identitäten nicht nur künstlich, sondern auch unproduktiv ist. Zum einen gerät unter diesen Vorzeichen die normative Dimension des Konfligierens und der Abweichung aus dem Blick. Zum anderen wird es unmöglich, Hierarchien der Wertigkeit zu bestimmen, also eine Entscheidung darüber zu treffen, ob etwas mehr zählt oder mehr Wert hat als etwas anderes („a case of counting something as worth more than something else“).246 Damit wird aber die Möglichkeit der sinn­ vollen Wahl – mithin genau dasjenige, was das Subjekt der Wahl leisten können soll – überhaupt fraglich. Darauf hat bereits Hegel hingewiesen. Nun könnte man der These, dass Kants Philosophie kein geeignetes Instrumen­ tarium biete, um die Frage nach einer Hierarchie der Wertigkeit zu entscheiden, entgegenhalten, dass sie sehr wohl die gehaltvolle Idee der Menschheit als Zweck in sich selbst bereithält. Diese Idee spielt in Korsgaards Interpretation des „Unbe­ dingten“ in der Tat eine wesentliche Rolle.247 Es erscheint daher nur konsequent, wenn im Rückgriff auf diese Formel sich nicht nur die Frage nach dem Wert, son­ 242 

S. 82.

Pippin, Über Selbstgesetzgebung, S. 918 sowie ders., On giving oneself the law,

243 Vgl. Pippin, On giving oneself the law, S. 82 f.: „If, in not conforming to an in­ strumental principle, I have ceased to be an agent, then surely what we have here is not my failure of rationality.“ 244  Pippin, Über Selbstgesetzgebung, S. 916. 245 Vgl. Pippin, On giving oneself the law, S. 87 (Übers. T. S.). 246  Ebd., S. 84. 247 Vgl. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, S. 188 ff.

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dern auch das Problem des paradoxalen Regresses der Setzung und Voraussetzung entschärfen ließe, in den Autonomie als Selbstgesetzgebungsfigur hineinführt. Als „Regress zum Unbedingten“ gedeutet, findet Autonomie bei Kant in der Achtung der Menschheit als Zweck in sich selbst gleichsam Halt. Demnach wäre allen par­ tikulären Zwecken erst im Lichte der Menschheit, die als oberster Zweck angesetzt wird, überhaupt „Wert“ zu verleihen. Doch auch in diesem Punkt entsteht von Neuem ein schier unlösbares Problem: Die Methode der transzendentalen Deduktion der Anerkennung Anderer, die durch das Bekenntnis zur Menschheit in der anderen Person angeleitet werde, lasse zwei­ erlei Perspektiven ganz problematisch werden: zum einen die zuvor „auktorial“ genannte Perspektive der ersten Person und zum anderen die ethisch relevante Hinsicht der Responsivität gegenüber der zweiten Person. Die begründungsthe­ oretische Prozedur, die zur unbedingten Achtung vor der Menschheit führt (oder vielmehr auf sie zurückführt), so Pippin, „appears to show at most that I must acknowledge the value of each person’s humanity to him or her, and not I must value your humanity“.248 Diese Präzisierung macht deutlich, dass mit der Mensch­ heitsformel in Wahrheit „nichts gelöst“ sei, sondern bestimmte Fragen, darunter auch die nach dem spezifischen Charakter von sozialer Verpflichtung, überhaupt allererst aufgeworfen werden.249

III.  Die Gehalte der Kritik 1.  Die Anwendungsbedingungen von Moral und Recht und ihre Revision a)  Einleitende Erläuterungen Das bisher Gesagte dürfte verdeutlicht haben, dass Hegel mit seiner Morali­ tätskritik keine flache Kritik betreibt. Seine Kritik führt vor Augen, dass mit der Unterscheidung zwischen Sein und Sollen radikal zu brechen sei. Kant selbst hat sie gerade aufgrund der Endlichkeitsbedingungen, unter denen handelnde Subjekte stehen, für unhintergehbar erachtet.250 Mit dem Endlichkeitsargument lässt sich Hegels Versuch, die Sein-Sollen-Unterscheidung für unproduktiv zu erklären, al­ lerdings kaum als illegitim zurückweisen. Denn für Hegel gilt selbstverständlich Pippin, On giving oneself the law, S. 88. diesem Hintergrund plädiert Pippin dafür, auf begründungstheoretische Figu­ ren, die transzendentalphilosophisch gewonnen sind, zu verzichten und stattdessen die von ihm „entwicklungslogisch“ genannte Perspektive und mit ihr einen „expressivistischen“ Handlungsbegriff zu favorisieren, der auch die Möglichkeit von Revisionen einschließt (sie­ he hierzu ders., On giving oneself the law, Anm. 37, S. 84). Zur Expressivität als Bestandteil des Hegelschen Handlungsbegriffs vgl. schon Charles Taylor, Hegel and the Philosophy of Action, in: Lawrence S. Stepelevich/David Lamb (Hrsg.), Hegel’s Philosophy of Action, Atlantic Highlands, NJ 1983, S. 1 – 18. 250 Vgl. Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, S. 70 – 72. 248 

249  Vor

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auch, dass er die Endlichkeitsbedingungen der Existenz des Subjekts anerkennt und ernst nimmt. Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, dass Hegels Kritik Kants Figuren der Subjektkonstitution nicht einfach verfehlt. Vielmehr eröffnet sie die Perspektive auf ein verändertes Verständnis von Subjektivität selbst, die ihre Iden­ tität weder aus der Unterordnung der ‚kontingenten‘ unter die ‚notwendige‘ Iden­ tität gewinnen muss noch – im Spalt zwischen Sein und Sollen gefangen – im permanenten Gestus des Erhebens von Ansprüchen und Forderungen verharrt. Erst eine Überwindung des Gegensatzes zwischen Sollen und Sein würde die Sub­ jektivität aus dem unproduktiven Oszillieren zwischen dem Bewusstsein eigener Vortrefflichkeit und dem eigener Unzulänglichkeit und Defizienz herausführen. Dies würde aber voraussetzen, dass Subjekte Einsicht gewinnen in die notwendige Bezogenheit ihrer Forderungen auf die faktischen und ideellen Anwendungsbedingungen der Moral und des Rechts und diese Bedingungen selbst als das im subjek­ tiven Urteil sich Spiegelnde und zu Legitimierende zum Thema machen. Hegels zentraler Einwand gegen Kant lässt sich demnach folgendermaßen re­ formulieren: Kants Moralbegriff basiert auf dem Verfahren der Überprüfung und gegebenenfalls der Revision der partikularen Maximen im Lichte des Kategori­ schen Imperativs. Doch die Überprüfungsprozedur vermag die Bezogenheit des moralischen Gesetzes auf die Bedingungen seiner Anwendung nur zu verschleiern, statt die Subjekte in die Lage zu versetzen, sie aufzudecken. Hegels Kritik lässt sich nun so verstehen, als verfolgte er damit genau diesen Anspruch: die ver­ schleierten Anwendungsbedingungen der Moral offenzulegen. Dabei bleibt es aber nicht. Diese Bedingungen werden nicht nur offengelegt, sondern im selben Zug auch desavouiert, und zwar diesmal aus dem Grund, dass sie die Natur von sozialen Verpflichtungen gleichsam verstellen. Überhaupt wird der gesamte soziale Verpflichtungszusammenhang, so lässt sich Hegels Kritik an Kant deuten, unter dem Primat dieser unbefragt angenommenen Präsuppositionen gewissermaßen in­ stabil und prekär. Diese beiden Schritte: die Offenlegung der Anwendungsbedingungen der Moral und des Rechts einerseits und die Kritik dieser Bedingungen andererseits – wobei diese Kritik Letztere zugleich in etwas anderes und Neues zu transformieren be­ ansprucht –, zieht Hegel in seinen Ausführungen allerdings stets zusammen. Das erschwert die Rekonstruktion. Doch um den Gehalt der Hegelschen Kritik wirklich zu verstehen, wird im Folgenden versucht, diese beiden Elemente auseinanderzu­ halten, indem drei solche Bedingungen identifiziert werden, die für die Anwen­ dung der Kantischen Moral zwar unerlässlich sind, selbst jedoch weitgehend un­ expliziert bleiben: Dazu gehört erstens das Primat der vertragsrechtlichen Logik, zweitens der reziproke oder enge Pflicht-Recht-Zusammenhang und drittens die Orientierung der Pflichten am moralischen Sollen. Aus allen diesen Bedingungen erwachsen bestimmte Implikationen, die Hegel wiederum angreift. Dabei lässt sich ein zweistufiges Vorgehen ausmachen: Hegel hält diesen Implikationen bestimmte Phänomene entgegen, die zum einen die Be-

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grenzungen des zuvor behaupteten Prinzips oder der vorausgesetzten Bedingung vor Augen führen (sollen) und zum anderen dazu geeignet sind, eine alternative Bedingung des Gelingens von rechtlich-moralischen Beziehungen zu formulieren, in denen freie Subjektivität zur Geltung kommen und erfahrbar werden kann. So wird etwa die vertragsrechtliche Begründungslogik dadurch für unzulänglich er­ klärt, dass aufgezeigt wird, dass das Vertragsprinzip sich in letzter Instanz vom „tautologischen“ Prinzip der Nützlichkeit nicht mehr unterscheide. Gegen die Lo­ gik des Vertrags mobilisiert Hegel die Gegen-Logik des Vertrauens in bestimm­ te Institutionen und der Responsivität gegenüber anderen. Gegen die Enge des Pflicht-Recht-Zusammenhangs wird, wie es Andreas Wildt herausgearbeitet hat, an Phänomene der Supererogation erinnert: Letztere zeichnen sich wesentlich durch den Charakter der Nichtforderbarkeit und Nichterzwingbarkeit aus und tragen der­ gestalt eine Asymmetrie in die Logik der streng reziproken Recht-Pflicht-Bezie­ hungen ein. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, Hegels zweistufig ver­ fahrende Kritik entlang dieser drei umrissenen Bedingungsfelder – Vertrag, Recht-Pflicht-Verhältnis und die Sollensorientierung der Pflicht – zu rekonst­ ruieren. Auf dieser Grundlage wird es möglich, auf Hegels eigenes unexpliziert gebliebenes Programm zurückzuschließen und auf eine wesentliche Implikation dieses Programms hinzuweisen, die über die Hegelsche Kant-Kritik im engeren Sinne hinausweist: Gemeint ist die Preisgabe der moraltheoretischen Begründung der Autonomie zugunsten einer handlungs- und rechtstheoretischen Autonomie­ begründung. b)  Das Primat der vertragsrechtlichen Logik: Das „Tautologische“ des Nützlichkeitsprinzips Die Problematik mangelnder Einsicht in das moralisch Gebotene und Richtige führt in Hegels Augen dazu, dass die moralische Maxime um ihrer selbst willen verallgemeinert wird und nicht um des Zustands willen, den sie bewirken oder aber abschaffen soll. Damit hängen seine Vorwürfe der Überflüssigkeit und der Tautologie zusammen. Wenn Hegel vom „überflüssige[n] Gesetzgeben“ der Vernunft spricht, so hat er die Angewiesenheit der Vernunft auf bereits getroffene Vorent­ scheidungen und Annahmen im Blick.251 Er tendiert dazu, die legislativen Funkti­ onen der reinen Vernunft so zu beschreiben, als würde deren Sinn sich im blinden Bekräftigen von bereits getroffenen Entscheidungen erschöpfen. Die reflexive Prü­ fung wird so gedeutet, als hätte sie die Aufgabe, etwas im Vorfeld bereits Bestehen­ des und Feststellbares lediglich zu legitimieren, wobei die Funktion der Vernunft – nach dieser (so gesehen nachträglichen) reflexiven Vergewisserung des bereits Angeeigneten und Zu-eigen-Gemachten – lediglich darin bestünde, das Subjekt zu Handlungen zu autorisieren. Daher müsste nicht so sehr die reflexive Prüfung selbst, sondern vielmehr das durch sie zu Legitimierende zur Sprache kommen. 251 

NR, S. 463.

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Zur Erläuterung dessen, was die Vernunft voraussetzen muss, greift Hegel auf Kants eigenes Beispiel zurück, in dem es – gemäß der Maxime der Vermögens­ vergrößerung – um den Fall der Unterschlagung eines „Depositums“ geht.252 Im Rückgriff auf diesen Fall beansprucht Hegel zu zeigen, dass die Frage der Un­ rechtmäßigkeit dieser Handlung so lange unentscheidbar bleiben wird, wie man bei der Überprüfung der Zulässigkeit der Maxime nicht auf die bereits geltenden Re­ geln und Institute – in diesem Fall die Institute des Rechts – zurückgreift.253 Kant spekuliert in diesem Fallbeispiel darüber, was passieren würde, wenn jeder sich den Vorsatz der Vermögensvergrößerung durch Unterschlagung zur Regel machen würde. Die entscheidende Frage ist für Kant dabei, ob es „ein solches Gesetz geben könnte: daß jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann“.254 Kant beantwortet die Frage so, „daß ein solches Prin­ zip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe“.255 Dieser Einwand überzeugt Hegel nicht: „Daß es aber gar kein Depositum gäbe, welcher Widerspruch läge darin?“256 Hegel will damit zeigen, dass Kant zwar annimmt, dass es ein Rechtsinstitut des Depositums geben muss, aber versäumt, zu begründen, warum es dieses Institut geben muss. Solange man sich lediglich auf das praktische Wissen oder Erfah­ rungswissen stützt, dass Eigentum ein schützenswertes Gut ist, ohne eigens die Begründung dafür zu liefern, muss Kants Einwand gegen eine willkürliche Instru­ mentalisierung des Kategorischen Imperativs zum Zwecke der „Habsucht“ Hegel zufolge bloß tautologischer Natur sein: „Eigentum ist Eigentum und sonst nichts anderes.“257 Sollte die Entscheidung der strittigen Frage hingegen nicht bloß tauto­ logisch sein, dann müsste man zum einen anerkennen, dass bestimmte moralische Gesetze bereits bestehen und in Geltung sind, und zum anderen die Gründe liefern, weshalb sie eine Praxis zu einer guten Praxis machen – zu einer solchen, die von Subjekten dieser Praxis anerkannt, gewollt und mitgetragen werden kann. Mit dem Rekurs auf das Depositum-Beispiel behauptet Hegel, dass es unmög­ lich wäre, eine Entscheidung zwischen entgegengesetzten Handlungsoptionen 258 – dem Betrug und der Veruntreuung von Geldern und der Einhaltung des Vertrags – zu treffen, wenn man nicht vor dem Prüfverfahren der Vernunft schon wüsste, wie die Entscheidung ausfallen wird. Um „zu entscheiden, welche von entgegenge­ 252 

KpV, § 4, Anm., [27 ff.], S. 35 ff. Wood, The Moral Law as a System of Formulas, S. 305: „Between the supreme principle of morality and the particular facts of any given situation in which someone is to act, moral reasoning always requires an intermediate set of premises or principles through which the supreme principle is to be applied.“ 254  KpV, [27], S. 36. 255  Ebd.; Hegel zitiert diesen Passus selbst, vgl. NR, S. 462. 256  NR, S. 462. 257 Ebd. 258  Ebd., S. 463. 253 Vgl.

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setzten Bestimmtheiten gesetzt werden müsse“,259 so Hegel, muss die Entscheidung bereits „voraus gesetzt“ sein.260 Dadurch wird aber die ganze Prozedur der „rei­ ne[n] Vernunft“ als ein „überflüssiges Gesetzgeben“261 entlarvt. Das eigentliche Interesse verschiebt sich also zu der Frage, worauf sich die Entscheidung stützt, wenn sie bereits feststeht, ohne dass die Überprüfung der Maxime daran etwas ändern könnte. Ungeklärt ist dabei aber immer noch, warum Hegel hier von einer Tautologie spricht. Hegels Ausführungen suggerieren, dass das Tautologische an der Entschei­ dung damit zu tun hat, dass moralische Pflichten ununterscheidbar werden von Rechtspflichten. Die Reflexion auf das moralisch Gute stößt notwendigerweise auf rechtliche Determinanten. In Wahrheit sind sie es, die auf das subjektive Wollen Einfluss ausüben, und zwar in dem Sinne, dass sie eine bestimmte Art zu wollen normativ verbindlich bzw. zwingend machen. Diese Hegelsche Einsicht, dass das „Wollen-Können“ auf bestimmte rechtliche Praktiken rekurriert, findet sich uner­ wartet bestätigt, wenn man auf die Argumente achtet, die zur Verteidigung Kants vorgebracht werden. So schreibt etwa Herbert Schnädelbach: „Hegel übersieht, daß es nach Kant in der Ethik nicht darum geht, irgendeine inhaltliche Bestimmung wie ‚Eigentum‘ zu verallgemeinern […], sondern um die Überlegung, ob man eine Maxime – d.h. einen subjektiven Handlungsgrundsatz wie ‚Ich will fremdes Eigen­ tum nicht respektieren‘ – auch dann noch wollen kann, wenn sie zur Maxime aller und damit zum allgemeinen Gesetz würde. Die Folge wäre nämlich, daß es nichts mehr gäbe, was nicht zu respektieren man sich vorgesetzt hat, und auch das eigene Eigentum, das man durch das Nichtrespektieren fremden Eigentums zu erwerben hofft, wäre hinfällig.“262 Damit ist aber nicht etwa das benannt, was Hegel übersieht, sondern genau das, worauf sich seine Kritik wesentlich richtet. Die von Schnädelbach benannte Nuan­ ce ist entscheidend, um Hegels Tautologievorwurf zu konkretisieren und ihn mit Gehalt zu füllen. Dieser Vorwurf besagt, dass Hegel nicht mit der Rechtsförmig­ keit der Moral selbst – mit einer Moral, die „das Rechte“ weiß und will – nicht ein­ verstanden ist, sondern mit der Festlegung der Moral auf einen bestimmten Typus des Rechts, das an vertragsrechtlichen Figuren allein unhintergehbar orientiert ist. Das Problem dieses vertragsrechtlich verfassten Rechts besteht darin, dass die All­ gemeinheit dieses Rechts untrennbar an Nützlichkeit gekoppelt ist. Hegel scheint Kant vorzuwerfen, dass der wahrhaft allgemeine Charakter des Rechts durch einen bloßen Test auf Verallgemeinerbarkeit der Maxime nicht zu erreichen ist. Vielmehr könne sich im Selbstverständnis des Subjekts, das seine Maximen prüft, nur das Interesse an der Vertragssicherheit tautologisch reprodu­ zieren, und zwar ein solches Interesse, das stets auf den eigenen Nutzen und auf die 259 Ebd. 260 Ebd. 261 Ebd. 262 

Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, S. 66.

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Durchsetzung des eigenen Vorteils zurückbezogen bleibt, die dabei den leitenden Horizont bilden. In diesem Sinne ist Andreas Wildts Beobachtung zuzustimmen, dass Hegel im Kategorischen Imperativ „[d]as Prinzip des bürgerlichen Radikalis­ mus“ erkannte, der in Gestalt des allgemeinen Willens „zunächst vorbereitend bei Rousseau und dann in der Kantisch-Fichteschen Philosophie auf[trat]“.263 Dass Hegel diese Verengung auf das Nützlichkeitsprinzip beklagt, schwingt auch dann stets mit, wenn er Kants Philosophie als eine „Verstandesmetaphysik“ verspottet.264 Jemand, der sich ausschließlich an Nützlichkeitskalkülen orientiert, legt sich auf den Bereich der „empirischen Notwendigkeit“,265 etwa der Notwendig­ keit der Wahl266 fest. Hegel zufolge bleibt man auf diese Weise jedoch noch fremd­ bestimmt. Im Religionskapitel der Phänomenologie geht Hegel sogar so weit, die Preisgabe der wahren Selbstbestimmung zugunsten des Nützlichkeitsdenkens mit dem Phänomen der Auslieferung des Selbst an die ihm fremd und zufällig bleiben­ den Orakelsprüche oder die Zufälligkeit des „Loses“267 zu parallelisieren. Der ein­ schlägige Passus lautet dort wie folgt: „Wenn der Einzelne durch seinen Verstand sich bestimmt und mit Überlegung das wählt, was ihm nützlich sei, so liegt dieser Selbstbestimmung die Bestimmtheit des besonderen Charakters zum Grunde; sie ist selbst das Zufällige, und jenes Wissen des Verstandes, was dem Einzelnen nütz­ lich ist, daher ein ebensolches Wissen als das jener Orakel oder des Loses; nur daß der das Orakel oder Los befragt, damit die sittliche Gesinnung der Gleichgül­ tigkeit gegen das Zufällige ausdrückt, da jenes hingegen das an sich Zufällige als wesentliches Interesse seines Denkens und Wissens behandelt.“268 Demgegenüber ist man nach Hegel dazu angehalten, „die Überlegung zum Orakel des zufälligen Tuns zu machen“, indem man sich etwa stets klarmacht und darum weiß, dass der „Handlung selbst wegen ihrer Seite der Beziehung auf das Besondere und ihrer Nützlichkeit“ letztlich immer etwas „Zufälliges“ anhaftet.269 Rekapituliert man das bisher Gesagte, so lässt sich festhalten, dass Hegels selektive Kant-Kritik, insbesondere die von ihm verwendeten Beispiele, letztlich dreierlei deutlich machen: Erstens weisen sie darauf hin, dass die Kriterien der Denknotwendigkeit und Allgemeinheit nicht hinreichen, die gefasste Maxime als eine moralische auszuweisen: Die Prüfung der Maximen muss durch die Frage komplementiert werden, ob man die Handlung auch dann noch wollen kann, wenn sie einen Gesetzesstatus erlangt. An dieser Stelle scheint aber zweitens überhaupt der wunde Punkt der ganzen Kritik zu liegen, denn das, was man wollen kann Wildt, Hegels Kritik des Jakobinismus, S. 418. Vgl. etwa den Abschnitt zu Kant in Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Phi­ losophie III, S. 329 ff., hier: S. 348. 265  NR, S. 443. 266  Ebd., S. 448. 267  PhG, S. 520. 268  Ebd., S. 520 f. 269  Ebd., S. 521. 263 

264 

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

oder können soll, bestimmt sich in Kants Entwurf letztlich immer nur aus privatrechtlichen Anreizen. Dies hat Schnädelbachs Parteinahme für Kant sogar bestens illustriert, insbesondere durch die Erläuterung, dass es in letzter Instanz um die Aufrechterhaltung des (eigenen wie fremden) Eigentums und nicht primär um ‚das Rechte‘ gehe. Dies deckt sich aber mit Hegels Kritik, denn in dieser Optik gerät der Kategorische Imperativ, den Kant als das Gesetz der „allgemeinen Einstim­ mung“ fasst, drittens zur „Wahrheit des sicherlich nicht leeren Prinzips der ‚Nütz­ lichkeit‘“.270 c)  „Vertrauen“ versus Vertragsprinzip? Das Missverständnis über „das Rechte“ Hegels Kritik hat gezeigt, dass die Frage der Unrechtmäßigkeit einer Handlung – etwa der beabsichtigten Bereicherung durch Veruntreuung von Geldern – so lange unentscheidbar bleibt, wie man bei der Überprüfung der Zulässigkeit der Maxime nicht bereits auf die geltenden Regeln des Rechtszustands zurückgreift: Für jedes freie und vernünftige Verfahren der Überprüfung von einzelnen Maximen auf ihre Eignung, als allgemeine Gesetze zu fungieren, ist es unerlässlich, die Vermittlung der einzelnen Maxime mit dem allgemeinen Gesetz aufzuzeigen. Spätestens an dieser Stelle wird aber die Verwiesenheit auf den geltenden Rechtszustand unver­ meidlich und unausweichlich. Denn Recht ist genau der Ort dieser Vermittlung, ob sie nun gelingt oder misslingt. Nun besteht Hegel aber darauf, dass sich in dem am Rechtszustand orientier­ ten moralischen Willen des Subjekts etwas „Falsches“ reflektiert, weil der Status des Rechts sich auf ein „tautologisches“ Reproduzieren der Verhältnisse verengen kann. Deutlicher wird dieser Zusammenhang erst, wenn Hegel auf „die Sittlichkeit des bourgeois oder des Privatmenschen“ zu sprechen kommt, „für welche die Dif­ ferenz der Verhältnisse fest ist und welche von ihnen abhängt und in ihnen ist“.271 „[J]enes oben erwähnte Aussprechen von Tautologie“, so Hegel, „[findet] hier seine Stelle: dieses Verhältnis ist dieses Verhältnis; wenn du in diesem Verhältnisse bist, so sei, in der Beziehung auf dasselbe, in dem selben; denn wenn du in Handlungen, welche auf dieses Verhältnis Beziehung haben, nicht in Beziehung auf dasselbe handelst, so vernichtest, so hebst du es auf.“272 Mit dieser Darstellung der bloßen Reifizierung der bestehenden Verhältnisse und der Festlegung darauf, einen bestimmten Handlungstypus immer wieder aufs Neue zu wiederholen, malt Hegel erneut eine Situation des Stillstands aus. Zuvor beklagte er bereits, dass die inhaltlichen Bestimmungen in die Form des Gesetzes nicht produktiv aufgenommen, sondern darin nur äußerlich „beherbergt“ und „ver­ ewigt“ werden. Nun steht das gesamte Verfahren der Überprüfung von Maximen aus Hegels Sicht im Dienst der Perpetuierung des Bestehenden, der Aufrechterhal­ Wildt, Hegels Kritik des Jakobinismus, S. 418. NR, S. 506. 272 Ebd. 270  271 

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tung des Status quo. Gerade im Hinblick auf die Bestimmung des ideologiekritischen Gehalts von Hegels Ausführungen ist es wichtig, zu verstehen, was damit gemeint ist. Auf dem Weg dahin sollen nun die bislang gewonnenen Ergebnisse rekapituliert werden. Als Erstes kommt erneut Hegels Beobachtung in den Sinn, dass moralische Ur­ teile an das rechtlich Erlaubte gebunden sind: Auffallend ist dies bereits in Kants eigener Formulierung, die er im Beispiel des Depositums verwendet. Dort schreibt er, „daß jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm nie­ mand beweisen kann“; in dieser Formulierung ist von dem zu überprüfenden Ge­ setz in der Tat so die Rede, als ginge es um ein Erlaubnisgesetz des Rechts.273 Wie im Anschluss an Wildt bereits erläutert, verlangt eine moralische Entscheidung, die subjektive Freiheit ins Spiel bringt, jedoch mehr: Es gilt nicht, zu prüfen, was als allgemeine Praxis legitim und erlaubt ist, weil es alle genauso „dürfen“; die Prü­ fung muss vielmehr nach dem Kriterium erfolgen, ob ein jeder auch wollen kann, dass genau diese intendierte Praxis normativ gültig und verbindlich wird. Um das festzustellen, genügt eine bloße Denkoperation im Subjekt jedoch nicht. Dies ist in Wahrheit schon in Kants eigener Antwort impliziert. Denn ohne es explizit zu machen, muss Kant bei der Entscheidung, dass eine solche Handlung der Veruntreuung unzulässig ist, ihre Auswirkungen auf den zwischenmenschlichen Bereich als Argument heranziehen: Wäre Veruntreuung zum allgemeinen Gesetz geworden, so würde dies die Beziehungen zwischen den Menschen so nachhaltig zerstören, dass es gar keine solche Institution wie Depositum mehr geben könnte. Folglich kann niemand die Etablierung einer solchen Veruntreuungspraxis ernst­ haft wollen. Wenn es aber ganz wesentlich auf das Wollen des Subjekts ankommt, dann verschiebt sich der Fokus von den Regeln des Gesetzgebungsverfahrens hin zu der Frage nach den Bedingungen dieses Wollens. Nun erkennen beide, sowohl Kant als auch Hegel, dass zu diesen Bedingun­ gen das Interesse an der Aufrechterhaltung einer bestimmten Art von zwischen­ menschlichen Beziehungen gehört. Während Kant im Fall des Depositums ledig­ lich mit der Aufrechterhaltung der Vertragssicherheit argumentiert, lenkt Hegel die Aufmerksamkeit auf das Phänomen des „Vertrauens“. Dieses Phänomen geht über die Vertragssicherheit hinaus und muss aus Hegels Sicht für eine Institution wie „Depositum“ als ebenso konstitutiv betrachtet werden. Das Sittliche in den Verhältnissen „von Individuen zu Individuen“ äußere sich hier, hält Hegel fest, als „die reine Anschauung und Idealität, die z.B. in dem Vertrauen eines Depositums ist, welche festzuhalten und von welcher die Einmischung der formalen Einheit und des Gedankens der Möglichkeit anderer Bestimmungen abzuhalten ist“.274 Hegels Feststellung, dass die auf Vertrauen basierenden Beziehungen zwischen Individuen über die bloße Reifizierung der vertraglich abgestimmten Verhältnisse hinausgehen, ist auf den ersten Blick banal. Doch indem Hegel das Phänomen des Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 58. NR, S. 468.

273 Vgl. 274 

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

Vertrauens ins Spiel bringt, scheint er den Zusammenhang gegenüber Kant gewis­ sermaßen umzukehren: Kants Argumentation verweist letztlich auf die Ebene der institutionellen Beziehungen, deren Schädigung den Handelnden von der Absicht der Veruntreuung bzw. des Diebstahls automatisch abhalten müsste. Der Akteur könne seinen rein privaten Zweck unmöglich ernsthaft zu einem allgemeinen Ge­ setz erheben wollen, da sich andernfalls sowohl der Zweck selbst zerstören würde als auch der Handelnde in einen Widerspruch mit sich selbst geraten müsste. Im Unterschied zu dieser kalkulierenden Denkoperation, die mit Negativfolgen des verallgemeinerten eigenen Verhaltens rechnet, lenkt Hegel den Blick auf diejeni­ gen Bindungen, die Verpflichtungen zwischen den Menschen allererst stiften. Hegel unterstellt, dass alle Begebenheiten im Reflexionsprozess der Relativität und der Vergleichbarkeit überantwortet und die Tatsachen, wie es einem beliebt, zurechtgelegt werden können, indem man sich von einem angeblich moralischen, in Wahrheit aber „unsittlichen Prinzip“, etwa dem Prinzip des Eigennutzes und des Egoismus, leiten lässt: „In der Erfüllung der Pflicht gegen den Einzelnen, also gegen sich, wird also auch die gegen das Allgemeine erfüllt. – Die Erwägung und Vergleichung der Pflichten, welche hier einträte, liefe auf die Berechnung des Vor­ teils hinaus, den das Allgemeine von einer Handlung hätte; […].“275 Demgegenüber tritt Hegel für eine Auffassung des Sittlichen ein, die die Phänomene (und in eins damit auch die Subjekte) ihrer Plastizität und Anschauungskraft nicht berauben soll: „Hingegen der Ausdruck der Anschauung enthält ein Dieses, eine lebendige Beziehung und absolute Gegenwart, mit welcher die Möglichkeit selbst schlechthin verknüpft und eine davon getrennte Möglichkeit oder ein Anderssein schlechthin vernichtet ist, als in welchem möglichen Anderssein die Unsittlichkeit liegt.“276 In der von Hegel geforderten Aufhebung von Alternativen kommt zunächst zum Ausdruck, dass er die Evidenz in sittlichen Fragen würdigen und zur Rückbesin­ nung auf den sittlichen Grund des Handelns aufrufen will. Genau diese sittliche Notwendigkeit qua Evidenz wird jedoch erschüttert und aufgehoben, wenn das Pro­ zedere des „praktische[n] Gesetzgebens“ sittlich Notwendiges „in dem Gegensatz gegen Anderes erscheinen lässt“.277 Zur Vergewisserung der Handlungsoptionen sei das anschauliche „Diese“ erforderlich, weshalb eine davon gesonderte Hand­ lungsoption – wenn sie nicht ohnehin nur eine subjektive Täuschung ist, die auf einer bloß eingebildeten eigenen Selbständigkeit beruht – ganz wegfallen müsste. Sie wäre im Hinblick auf das Handeln und die Praxis „unsittlich“. Dies scheint vordergründig Hegels Argumentation zu sein. Hinter der Kritik an der Überprüfung von Maximen ist jedoch ein weiterer, fundamentalerer Einwand erkennbar, der es wiederum erlaubt, sich über Hegels eigene Position mehr Klar­ 275 

PhG, S. 475. NR, S. 468. Vgl. den Passus im Gewissenskapitel der Phänomenologie, in dem Hegel erläutert, dass das Wohl des Einzelnen dem Gemeinwohl nicht nur nicht entgegengesetzt ist, sondern dass beide überhaupt erst wechselseitig zur „Erfüllung“ gelangen (vgl. PhG, S. 475). 277  NR, S. 467. 276 

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heit zu verschaffen. Es ist der Einwand, dass der eigene subjektive Anspruch oder die eigene Forderung durch den Test der Möglichkeit „allgemeiner Einstimmung“ keineswegs begrenzt werden kann. Vielmehr findet die Begrenzung erst durch die Angewiesenheit auf ein „Dieses“278 statt, auf ein „Sosein“, dessen Evidenz so schlagend ist, dass es keiner weiteren Rechtfertigung oder Begründung bedarf. Die Prozedur der Maximenprüfung, die Hegel in der Phänomenologie mit der „Heuchelei“ frei schwebender Begriffe in Verbindung bringt, wobei er darunter die Möglichkeit versteht, jedes beliebige Handeln im Rahmen dieser introspek­ tiven Prüfung zu rechtfertigen,279 wird im Naturrechtsaufsatz in der Anschauung aufgefangen und begrenzt. In der Phänomenologie ordnet Hegel die anschauliche Kraft des „Diesen“ jedoch bezeichnenderweise dem Standpunkt des „Gewissens“ zu: Als eine „Einheit des reinen Denkens und der Individualität“280 erlangt das Gewissen einen gegenüber der kalkulierenden und prüfenden Moralität höheren Status der Evidenz einer unmittelbaren „Selbstgewißheit“281. Bezeichnenderweise bringt Hegel diese „Selbstgewißheit“ allerdings überhaupt mit richtigem Handeln in Verbindung: „[E]s ist einfaches pflichtmäßiges Handeln, das nicht diese oder jene Pflicht erfüllt, sondern das konkrete Rechte weiß und tut.“282 Demgegenüber könne man sich auf die „bloße gesetzgebende Form der Ma­ ximen“, die den individuellen Willen „mit allseitiger Einstimmung [zu] regier[en]“ vermögen soll,283 nicht verlassen. Sie führe nämlich nicht aus der Instabilität der Situation hinaus, deren Fragwürdigkeit Kant beschreibt, sondern vielmehr noch tiefer in sie hinein. Letzteres verweist erneut auf die zuvor bereits identifizierten Probleme des Ge­ setzesprüfungsverfahrens: Verbleibt man innerhalb der reflexiven Prüfung gemäß dem reinen Begriff des „praktischen Gesetzgebens“, so führt dies entweder zur tautologischen Reifizierung des Bestehenden oder zu der Möglichkeit der Verkeh­ 278 

Ebd., S. 468. „Heuchelei“ vgl. insb. PhG, S. 485 ff., 462 f. und GPR, § 140, S. 265 ff.: Dort bezeichnet Hegel die Möglichkeit des Subjekts, die Handlung sich selbst gegenüber als gut zu rechtfertigen, als „die noch höhere Spitze der sich als das Absolute behauptenden Subjektivität“ (GPR, § 140, S. 265). 280  PhG, S. 467. 281  Vgl. ebd., S. 466. Auf die Nähe zu „sinnlicher Gewißheit“ verweist Christoph Halbig und stellt außerdem fest, dass die „Struktur“ dieses „konkrete[n] moralische[n] Geist[es]“ zunächst einmal „denkbar primitiv“ bleibt: „Die Gewißheit, zu etwas all things considered verpflichtet zu sein, stellt zugleich das Ansich der Verpflichtung dar: Was den Grund der Verpflichtung des Handelnden ausmacht, ist nichts anderes als eben dessen Gewißheit, ver­ pflichtet zu sein“ (ders., Die Wahrheit des Gewissens, S. 492). Zwar wird im Gewissen „die Spannung zwischen reiner Pflicht einerseits, wirklicher Natur und Sinnlichkeit andererseits […] aufgehoben“, doch „[d]er Inhalt der Pflicht, und darin liegt das grundlegende Problem des Gewissens, droht hier austauschbar zu werden, insofern er lediglich als zufälliger Ge­ genstand der subjektiven Gewißheit in den Blick kommt“ (ebd.). 282  PhG, S. 467. 283  Vgl. KpV, [28], S. 37. 279  Zur

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

rung der Sachverhalte in ihr Gegenteil, die durch die Reflexion selbst weder abge­ wehrt noch begrenzt werden kann. Entweder die rechtlichen Strukturen bleiben dem Subjekt, nicht zuletzt aufgrund ihrer radikalen Unparteilichkeit, äußerlich, weil seine Partikularität dafür keine Rolle spielt284 oder aber man hat es mit ei­ ner Verkehrung der Sachverhalte in ihr Gegenteil zu tun, indem sich im Zuge der Reflexion die willkürlichen, privat-beliebigen Setzungen durchsetzen: Eine Hal­ tung dieser Art sieht Hegel, wie bereits erwähnt, in der Figur von Rameaus Neffen verkörpert: „Ihr heißet Laster, was ich Tugend nenne, und was ich Laster nenne, Tugend.“285 Für ein Subjekt, das diese Haltung annimmt, stellt der Verallgemeine­ rungstest, wie bereits gezeigt, ein willkommenes Legitimierungsverfahren dar, um vor dem eigenen „Gerichtshof“ in einem vortrefflichen Licht zu erscheinen. Weit davon entfernt, unparteilich zu sein, wird hier die Prüfungsprozedur, was nach Kant gerade nicht sein soll, zum Instrument der Legitimierung von priva­ ten Wunschvorstellungen und Zwecksetzungen. Letzteres hat Hegel beschrieben, indem er die Absurdität der Bestrebung vor Augen führte, die Maxime um je­ den Preis anwenden zu wollen, nur um die eigene moralische Vortrefflichkeit und Reinheit zu demonstrieren und auf diese Weise sein eigenes Selbstwertgefühl zu steigern. Die Quintessenz dieses Gedankens führt Hegel am Beispiel der Armen­ hilfe vor Augen, die dazu instrumentalisiert wird, in der Hilfehandlung die eigene ‚Moralität‘ zur Schau zu stellen. Dieser Zusammenhang verweist jedoch auf ein fundamentaleres Problem, das sich sowohl hinter dem Befund der Reproduktion der bürgerlichen Rechtsverhältnisse im moralischen Urteil des Subjekts verbirgt als auch hinter der Aufdeckung von problematischen Implikationen, die das hie­ rarchisch verstandene Menschenbild bei Kant für die Herausbildung von Subjek­ tivität besitzt. Das Problem, das Hegels Kritik allererst in Bewegung setzt, ist das Missverständnis über das Rechte, das er in natur- wie auch in vernunftrechtlichen Entwürfen gleichermaßen aufgedeckt haben will. Hegels Initialbefund weist darauf hin, dass das Subjekt, das die reflexive Prü­ fung gemäß dem reinen Begriff des „praktischen Gesetzgebens“ vollzieht, es ver­ kennt, dass sie in Wahrheit nur Ausdruck des bürgerlichen Rechtszustandes ist, den es internalisiert hat. Doch selbst wenn diese Zustandsbeschreibung zutreffen sollte, vermag sie noch nicht zu erklären, wo die doch anders gelagerten Vorwürfe der Tautologie und der Falschheit herrühren, die von Hegel so vehement vorgebracht wurden. Das ‚Tautologische‘ und ‚Falsche‘ an einer solchen Gestalt von Moralität, in der sich die bürgerliche Rechtsform widerspiegelt, ist jedenfalls, so scheint es, nicht nur darin zu sehen, dass Letztere dem Subjekt als abstrakt und äußerlich 284  Diese kritische Überlegung provoziert Widerstände, wenn man bedenkt, dass die „Orientierung der Moral am Recht“ überhaupt ein grundlegender Zug einer jeden „rationa­ len Ethik“ ist, weil Letztere im Fall von „Interessenkonflikten“ immer dafür plädiert, „Ent­ scheidungen auf der Grundlage von Prinzipien zu treffen, die ‚ohne Ansehen der Person‘ gelten“ (vgl. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 16). 285  Denis Diderot, Rameaus Neffe. Ein Dialog [1805], übers. von Johann Wolfgang Go­ ethe, Stuttgart 1984, S. 54.

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erscheint, obwohl sie es mit konstituiert. Vielmehr scheint für Hegels kritisches Urteil auch der Umstand relevant zu sein, dass eine so gefasste Moralität das Recht abstrakt und äußerlich bleiben lässt, statt zu einem solchen Recht vorzustoßen, in dem der Einzelne sich auch in seiner Individualität wiederfindet und ‚wirklich‘ werden kann. Eine der zentralen Aussagen von Hegels Kritik ist, dass das Subjekt nicht pri­ mär Forderungen allgemeiner Art an sich selbst und an andere stellen soll, um nicht in einen Widerspruch mit sich selbst zu geraten, sondern dass das Subjekt sich von Anfang an in keiner Widersprüchlichkeit mit dem Recht befindet. Viel­ mehr ist sogar der radikalere Zusammenhang wahr, dass das moderne Subjekt sich durch die Rechtsverhältnisse überhaupt erst konstituiert, wie auch umgekehrt die Rechtsverhältnisse durch autonom handelnde Subjekte verändert werden (können). Das Subjekt darf mit anderen Worten nicht in erster Linie – wie bei Kant – als eine Instanz verstanden werden, die Ansprüche stellt, deren Legitimität es zugleich prüft, sondern es soll als das Subjekt des Rechts verstanden werden, im doppelten Sinn des Begriffs „Subjekt“: Subjekt zu sein bedeutet, ein Subjekt des Rechts zu sein, d.h. nicht Ansprüche zu stellen und sie gleichsam nach innen an sich selbst wie nach außen an die anderen zu richten, sondern das Recht selbst zu wollen: „[…] daß also die Freiheit die Freiheit wolle“,286 wie es Hegel in den Grundlinien auf den Punkt bringt, oder in der bekannteren Formulierung: „[D]er abstrakte Begriff der Idee des Willens ist überhaupt der freie Wille, der den freien Willen will.“287 Mit Hegel lässt sich mithin behaupten, dass der freie Wille nicht schon deswegen frei ist, weil er zur moralischen Deliberation über Neigungen und Handlungsan­ reize fähig ist – so hat etwa Christine Korsgaard diesen Zusammenhang in Bezug auf Kant rekonstruiert. Frei zu sein bedeutet vielmehr gerade das Gegenteil: keinen instrumentellen Umgang mit sich selbst zu pflegen, sondern die eigene Freiheit zu wollen. Erst ein Wille, der seine eigene Freiheit will, kann mit Hindernissen und Zwang umgehen, ja der Zwang selbst wird – gemessen am wohlverstandenen Be­ griff des freien Willens – zum paradoxen Sachverhalt, denn „der freie Wille kann an und für sich nicht gezwungen werden“, so Hegel: „Es kann nur der zu etwas gezwungen werden, der sich zwingen lassen will.“288 Dies lässt sich selbstverständlich bereits mit Kant denken. Doch der Tenor von Hegels Kritik lautet, dass es in Kants praktischer Philosophie ausgerechnet um diesen entscheidenden Gesichtspunkt – die Auffassung eines Subjekts, das ‚das Rechte‘ will – schlecht bestellt ist. In Hegels Darstellung ist das Kantische recht­ lich-moralische Modell mit der Vision des Stillstands und der „tautologischen“ Unverständlichkeit dessen gleichzusetzen, was Recht und Pflicht wirklich bedeuten. Dies erscheint solange unterbestimmt – oder aber als eine absurde Anklage, zumal Kant selbst einen Moral- und Rechtsbegriff entwickelt, der auf dem Begriff des 286 

GPR, § 21, Z, S. 74. Ebd., § 27, S. 79. 288  Ebd., § 91, S. 179. 287 

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

freien Willens basiert –, wie nicht geklärt und präzisiert ist, worin die angemahnte Unverständlichkeit von Rechten und Pflichten aus Hegels Sicht letztlich gründet. 2.  Die Tiefenstruktur der Kritik a)  Die Asymmetrisierung des Recht-Pflicht-Zusammenhangs: Der Vorstoß gegen die Enge der Verpflichtungsordnung? Bislang wurden Hegels Einwände der „Tautologie“ und des „Stillstands“, die er gegen Kants autonomietheoretisch fundierten Moralitätsbegriff vorgebracht hat, in Bezug auf das einzelne Subjekt diskutiert. Im Folgenden soll ein neuer Gesichts­ punkt hinzutreten, der es erlauben wird, zu erkennen, dass diese beiden Einwände auf intrikate Weise mit dem Problem der individuellen Responsivität gegenüber anderen verbunden sind. Andreas Wildt hat sehr überzeugend rekonstruiert, dass Hegels Kant-Kritik wesentlich durch sein Unbehagen gegenüber dem Legalismus in zwischenmenschlichen Beziehungen angetrieben war. In der Orientierung an der „allgemeinen Gesetzgebung“ allein bekundet sich allerdings noch lange kein Legalismus, wie Wildt betont: Schließlich könne die Gesetzesallgemeinheit für die uneingeschränkte Gültigkeit der Naturgesetze ebenso gelten wie für jedes „nor­ mative Gesetz“, etwa die „Gesetze der öffentlichen Meinung oder des Gewissens der Individuen“.289 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, worin genau das Unbehagen am Legalismus begründet ist. Rekapituliert man die bisherigen Ergebnisse, so lässt sich Folgendes festhalten: Um über die moralische Richtigkeit zu entscheiden bzw. um zu wissen, was mo­ ralisch geboten ist, bedarf es bei der Überführung der Maxime in ein allgemeines Gesetz auch der Mitwirkung von willentlich-moralischen Antrieben des Subjekts. Wird das subjektive Wollen jedoch mit Nötigung gleichgesetzt, so lassen sich keine anderen Verpflichtungen (weder sich selbst noch anderen gegenüber) mehr den­ ken, als diejenigen, die sich durch das Kriterium der Erzwingbarkeit auszeichnen. Unter diesen Umständen wird aber der Status des Gebotenen problematisch, weil sich moralische Pflichten, die sich durch Freiwilligkeit und Spontaneität auszeich­ nen, nunmehr auf Rechtspflichten verengen. Dass es Hegel sachlich um diese enge Festlegung des moralisch Gebotenen auf das rechtlich Nichtverbotene geht, verrät insbesondere der Umstand, dass er vor allem den Universalisierungstest (die ers­ te Formulierung des Kategorischen Imperativs) zur Zielscheibe seiner Kritik an Kants Ethik macht. Der Universalisierungstest mag für die Ableitung von vollkommenen Pflichten, also Rechtspflichten, noch ausreichend sein, er ist jedoch unge­ eignet, unvollkommenen Pflichten Rechnung zu tragen. Auf die letzteren kommt es aber in solchen Situationen wie der einer Hilfeleistung gerade an. Auf diese bei Kant tatsächlich unterbelichtet gelassene Dimension von nichtforderbaren bzw. nicht einklagbaren Verpflichtungen hat Wildt in seiner Unter­ suchung Autonomie und Anerkennung eindringlich hingewiesen. Im Lichte dieser 289 

Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 127.

C.  Hegels Kritik an Kant

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Studie lässt sich nur bestätigen, dass es gewiss kein Zufall gewesen sein wird, dass Hegel – um die Begrenzungen des Kantischen Moralbegriffs aufzuzeigen – aus­ gerechnet Beispiele wie die Hilfeleistungen Einzelner den Bedürftigen gegenüber oder das Engagement für die Gemeinschaft in Gestalt der Liebe für das eigene Vaterland gewählt hat. Es ist jedenfalls unschwer zu sehen, dass die Logik, die diesen Beispielen zugrunde liegt, das Rechtsmodell des wechselseitigen Zwangs übersteigt, eines Zwangs, der dazu da ist, die Kompatibilität von vertraglich be­ grenzten Interessen der jeweiligen Interaktionspartner zu regulieren. Hegels Dar­ stellung macht, wenn auch indirekt, deutlich, dass die „allseitige Einwilligung“ in diesen Zwang in Kants Entwurf nicht ohne Rekurs auf das eigene partikulare Interesse auskommt. Für die Bereitschaft, mehr zu geben als wechselseitig – streng reziprok – und ggf. auf strikt einklagbare Weise gefordert werden kann, bleibt in diesem Modell kein Platz. Vor diesem Hintergrund der Vernachlässigung von nichtvollkommenen Ver­ pflichtungen verwundert es wenig, dass Hegel ausgerechnet von Vertrauen spricht, wenn er seine eigene Sicht auf die im Depositum-Beispiel geschilderte Situation darlegt. Beziehungen, die sich durch Vertrauen auszeichnen, sind nicht zuletzt deshalb von besonderer Qualität und Wirkungskraft, weil sie in die sym­ metrisch-rechtliche Struktur von Pflichten eine Asymmetrie hineinbringen: Para­ digmatisch dafür sind Beziehungen der Liebe und der Freundschaft. In dem Maße, wie sie die Logik von streng reziproken Verhältnissen durchbrechen, indem sie sie asymmetrisieren, wenn nicht sogar sprengen und transzendieren, erlauben sie es aber, überhaupt erst in den Blick zu bekommen, worin die Spezifik der genuin zwischenmenschlichen Verpflichtungen im Unterschied zu den rein rechtlich-mo­ ralisch verfassten Verhältnissen besteht. Von hier aus liegt es besonders nahe, den Bogen zurück zu dem Initialbefund der Beziehungslosigkeit zu schlagen. Die bisherigen Ausführungen kreisten um die These, dass sich in der Kantischen Moral ein ‚falsches‘ Rechtsverständnis reflektiere. Hegels Kritik, dass das ‚Falsche‘ und ‚Tautologische‘ am Rechtszu­ stand Folgen zeitige, die gleichsam entsittlichend wirken, lässt sich nun mit der Diagnose verknüpfen, die zuvor herausgearbeitet wurde, dass die Dominanz des juridisch-moralischen Denk- und Handlungsmodells unweigerlich eine bestimmte Form der Beziehungslosigkeit etabliere. Nun stellt sich aber die Frage nach den Gründen dafür, dass es zu dieser Art von beziehungslosen Beziehungen kommt. Einen Erklärungsvorschlag hat Andreas Wildt gemacht, indem er Hegel so in­ terpretiert hat, dass er den Zusammenhang der Nichtforderbarkeit in den Fokus ge­ rückt und auf diese Weise den Verpflichtungszusammenhang gleichsam asymmetrisiert habe. Dieser Vorschlag ist wichtig, weshalb er im Folgenden als Erstes näher zu erörtern sein wird. Doch zugleich soll im darauffolgenden Abschnitt gezeigt werden, dass über den Zusammenhang der nichtforderbaren Pflichten gleichwohl hinauszugehen ist. Denn andernfalls wird man Hegels eigenem Anliegen nicht wirklich gerecht werden können – dem Anspruch, zu zeigen, dass es darauf an­ kommt, die Ausbildung von gelingender Subjektivität und die Gestaltung von ge­

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

lingenden Formen von zwischenmenschlichen Beziehungen gerade nicht jenseits des Rechts anzusiedeln, wie es Wildt in seiner Studie fordert, sondern das Recht selbst als diejenige Form zu begreifen, in der sich Individualität und Sozialität glei­ chermaßen verwirklichen. Diese beiden Gesichtspunkte – der Zusammenhang der Nichtforderbarkeit und die darüber hinausgehenden Überlegungen zum Verhältnis von (Inter)Subjektivität und Recht – sollen nun nacheinander diskutiert werden. Folgt man Andreas Wildt, so sind es allem voran „nichtforderbare Verpflich­ tungen“, die die besondere Qualität von individuellen zwischenmenschlichen Be­ ziehungen überhaupt erst erfahrbar machen. Die Tradition hat dafür den Begriff der unvollkommenen Rechte und Pflichten geprägt, die sich der Logik von strikter Reziprozität widersetzen. Man denke etwa an Hugo Grotius, der dadurch, dass er Überlegungen darüber anstellte, welche Kriegsgründe als legitim gelten kön­ nen und welche nicht, zu einer wichtigen Differenzierung erzwingbarer und nicht erzwingbarer Rechte und Pflichten gelangte. Mit seinem völkerrechtlichen Werk De jure belli ac pacis libri tres (Drei Bücher über das Recht des Krieges und des Friedens), dessen Erstausgabe in Paris 1625, die veränderte Fassung in Amsterdam 1631 erschienen ist, beanspruchte Grotius, durch die Klärung und Scheidung der berechtigten von unberechtigten Kriegsgründen einen Beitrag zur Zivilisierung des Krieges zu leisten. Diese Klärung stützte sich auf die Unterscheidung des Na­ turrechts vom positiven Völkerrecht, doch sie erlaubte es, eine weitere wichtige Differenzierung in vollkommene und unvollkommene Rechte und Pflichten vorzu­ nehmen. Grotius brachte damit zum Ausdruck, dass legitime Kriegsgründe lediglich auf die Durchsetzung von erzwingbaren Rechtspflichten beschränkt werden sollten, wohingegen der Anspruch, nicht erzwingbare Pflichten der christlichen Liebe (zu­ mal durch Kriege) durchsetzen zu wollen, als unberechtigt zurückgewiesen wer­ den sollte. Insbesondere mit diesem letzten Punkt wollte Grotius, wie es Gertrude Lübbe-Wolff herausgestellt hat, verhindern, dass biblische Anweisungen, etwa die Formel „wer dich bittet, dem gib“, gleichsam als Einladung zur „gewaltsamen Selbstbedienung“ instrumentalisiert werden konnten.290 Doch auch unabhängig von dieser spezifischen Fragestellung, die Grotius verfolgte, ist in der gegenwärti­ gen Rechtsphilosophie noch von „unvollkommenen“ Rechten die Rede. Damit wer­ den Rechte bezeichnet, „denen (noch) keine Pflichten korrespondieren“,291 weshalb sie auch nicht einklagbare Rechte genannt werden. Genau dieser Zusammenhang ist jedoch in Kants Moral- und Rechtsphilosophie beinahe gänzlich aus dem Blick­ feld gerückt.

Lübbe-Wolff, Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 329. Markus S. Stepanians, Art. „Rechte/Grundrechte“, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hrsg.), Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd. 2, S. 1067 – 1074, hier: S. 1071, mit Bezug auf Neil MacCormick, Rechte in der Gesetz­ gebung, in: Markus S. Stepanians (Hrsg.), Individuelle Rechte, Münster 2007, S. 164 – 183 sowie Joseph Raz, On the Nature of Rights, in: Mind 93 (1984), S. 194 – 214. 290  291 

C.  Hegels Kritik an Kant

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Obwohl Kant selbstverständlich ebenfalls an der Unterscheidung von Rechtsund Tugendlehre gelegen war, gewinnt man schnell den Eindruck, dass diese Unterscheidung bei ihm einen nur noch nominellen Charakter besitzt. Da der Grundgedanke der Erzwingbarkeit Kant zufolge sowohl für rechtliche als auch für moralische Pflichten Gültigkeit besitzt, wird unklar, wie sich innerhalb des Kantischen Rahmens erzwingbare und nicht erzwingbare Pflichten sinnvoll von­ einander unterscheiden lassen. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass die eigentlichen Gründe für diese Unschärfe vor allem darin zu suchen sind, dass die Differenzierung von Rechten und Pflichten bei Kant ganz „in den Dienst des liberalen Anliegens gestellt [wird], den Gesetzgeber auf das Feld der kraft Vernunftrechts erzwingbaren Rechte und Pflichten zu beschränken“.292 Dieser vernunftrechtlich begründete Schritt erweist sich als außerordentlich folgenreich: So ist ein Spezifikum des Kantischen „Vernunftrechts a priori“, wie es Ernst Bloch bezeichnet hat, etwa darin zu sehen, dass es im Unterschied zur Tradition sowohl der griechischen als auch der römischen Antike ganz ohne Natur auskommt.293 Dies hat jedoch gerade für den zwischenmenschlichen Bereich ganz massive Auswirkungen. Denn dadurch, dass die Natur als das Vor- und Nichtnor­ mative gleichsam ausgeblendet wird, gerät auch die Dimension der Nichterzwing­ barkeit und Nichteinklagbarkeit aus dem Blickfeld. So hat Wildt dafür plädiert, nicht zu verkennen, dass eine der praktischen Konsequenzen dieser theoretischen Entwicklung die ist, dass etliche genuin zwischenmenschliche Formen von Ver­ pflichtung auf diese Weise gleichsam ins Abseits gerückt werden. Dabei handelt es sich bei den besonderen Verpflichtungsformen, die Wildt im Sinn hat, gerade um Formen von Verbindlichkeit, von denen man mit einigem Recht sagen kann, dass sie nicht nur den Großteil der Beziehungen zwischen den Menschen prägen, sondern für gelingende Formen von Sozialität überhaupt konstitutiv sind. Wie Wildt herausstellt, war die Unterscheidung von Erzwingbarem und Nichter­ zwingbarem, von der die Tradition noch wusste, die durch Kants Neubegründung der Moral und des Rechts jedoch unscharf geworden ist, gerade deshalb so wichtig, weil sie denjenigen „Aspekte[n] des moralischen Lebens“ noch Rechnung tragen 292 Vgl.

T. S.).

Lübbe-Wolff, Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 329 (Herv.

293  Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, insb. S. 86. Ebenso sei „individuelle Frei­ heit“ – deren Wirkung „bei den Franzosen“ noch „lebhaft empfunden“ war (ebd., S. 81) – bei Kant nicht mehr so „selbstverständlich“ und schon gar nicht eine Frage des Gefühls. Bei Kant machen sich Bloch zufolge widerstreitende Tendenzen bemerkbar: Einerseits stelle „die bürgerliche Selbstbestimmung“ des Menschen „keine empirische Gegebenheit“ mehr dar, sondern sei ganz emphatisch auf der Idee der Autonomie gegründet, die den „Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ unerbittlich fordert (ebd., S. 83). An­ dererseits müsse man aber auch konstatieren, dass „wichtige Gewinne des bisherigen Natur­ rechts [bei Kant] erstaunlich verringert“ seien (ebd., S. 82). Insbesondere Kants Ablehnung des Widerstandsrechts sowie das im Widerspruch zur Idee des Staatsvertrags stehende Ver­ bot des „Notrechts“ gegen den Fürsten als Gesetzgeber betrachtet Bloch als Momente des Rückfalls „hinter das achtzehnte, sogar sechzehnte Jahrhundert (Althus)“ (ebd.).

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

konnte, „die über die Phänomene von Recht und Pflicht hinausgehen“.294 Diese Unterscheidung sollte insbesondere der „Idee nichtforderbarer Verpflichtungen“295 gerecht werden. Doch was genau besagt es, wenn diese Idee auf dem bei Kant er­ reichten Stand der rechts- und moralphilosophischen Diskussion mit einem Male unverständlich wird? Oder anders gefragt, warum sollte einem überhaupt daran gelegen sein, diese „Idee nichtforderbarer Verpflichtungen“ nicht zu verspielen? Wildts Interpretation zufolge wäre es fatal, diese Idee zu verspielen, weil das Spe­ zifische an „nichtforderbaren Verpflichtungen“ gerade den Unterschied zwischen Recht und Moral überhaupt erst erfahrbar macht. Er veranschaulicht dies anhand des Kriteriums der Einklagbarkeit: Während rechtliche Verpflichtungen einklagbar sind und die Forderung ihrer Erfüllung zum Gegenstand haben, lassen sich genuin moralische Verpflichtungen, wie sie etwa in Phänomenen der Liebe, der Dankbar­ keit und der Verzeihung ihren Ausdruck finden, im Fall ihrer Nichterfüllbarkeit bei keiner äußeren Instanz einklagen, auch dann nicht, wenn die Ansprüche darauf an sich als legitim einzustufen wären.296 Das Kriterium der Nichteinklagbarkeit gelte jedoch nicht nur für die ethischen Phänomene genuin moralischer Natur, an denen vor allem der junge Hegel Interesse nahm – Wildt fasst diese Phänomene unter dem Ausdruck „sittliche Moralität“ zusammen –, sondern auch für solche Phänomene, die zu den ästhetisch zu nennenden Weisen der Verbindlichkeit zählen. Denn auch ästhetisch verfassten Beziehungen eignet die besondere Qualität, nicht zum Gegen­ stand von moralischen Forderungen gemacht werden zu können und nicht rechtlich einklagbar zu sein. Deshalb scheinen sie aber überhaupt außerhalb des im engeren Sinne rechtlich-moralischen Rahmens situiert zu sein. Geschmackvolles Verhalten, taktvoller Umgang, Zuvorkommenheit, Höflich­ keit, Einfühlsamkeit und Responsivität gegenüber anderen – alle diese Verhaltens­ formen gehören zum Repertoire der moralisch wie juridisch neutralen, nichtfor­ derbaren Formen von Verbindlichkeit. Und dennoch würde niemand bestreiten, dass es sich gleichwohl um Weisen der Verbindlichkeit handelt. Wollte man sich des schicklichen Ausdrucks Helmuth Plessners bedienen, so würde man von einer „Verbindlichkeit, die nicht bindet“ sprechen. In Plessners Worten: „Unwahrheit, die schont, ist immer noch besser als Wahrheit, die verletzt, Verbindlichkeit, die nicht bindet, aber das Beste. In dieser Sphäre sollte es weder Gut noch Böse, weder Wahr noch Falsch, sondern nur die Werte des Wohltuns, die Hygiene größtmögli­ cher Schonung geben.“297 In seiner kritischen Wendung gegen Kants Moralphilo­ sophie und einem produktiven Anschluss an Kants Ästhetik und das Denken der

Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 134. Ebd., S. 17 ff. 296  Vgl. ebd., S. 17. 297  Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalis­ mus, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5: Macht und menschliche Natur, hrsg. von Gün­ ter Dux/Odo Marquard/Elisabeth Ströker, Frankfurt am Main 1981, S. 11 – 132, hier: S. 107. 294  295 

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Autonomie hat dieselbe Richtung bereits Schiller eingeschlagen, wie seine Bemü­ hungen auf dem ästhetisch-politischen Feld vor Augen führen.298 b)  Moralische Pflichten als legitime Forderungen versus Wahrnehmbarkeit von Rechten Die Dimension der „unzugänglichen“ Moralität und Empathie, aber auch die der ästhetischen Sensibilisierung, die wohlgemerkt beide (wenngleich auf je an­ dere Weise) zur Gesellschaftsfähigkeit im weitesten Sinne gehören, scheinen bei Kant dadurch gefährdet zu sein, dass er die Tugendpflichten der Achtung und der Liebe nach dem gleichen strukturellen Muster wie die Rechtspflichten konfigu­ riert. Wie bereits erwähnt, gilt das Merkmal der Erzwingbarkeit, das für Kants praktische Philosophie so zentral ist, für rechtliche wie für moralische Pflichten gleichermaßen. Beide Arten der Verpflichtung unterscheiden sich nur hinsichtlich der Richtung der Adressierung der Verpflichtung. Während man sich im Fall von Rechtspflichten verpflichten lässt, indem man gleichsam die eigene Erlaubnis zum „äußeren Zwang“ erteilt, folgen die Tugendpflichten der Logik des an sich selbst adressierten Zwangs. Dabei nimmt Kant die Figur einer „zwiefache[n] Persönlichkeit“ an, „in wel­ cher der Mensch, der sich im Gewissen anklagt und richtet, sich selbst denken muß“.299 Kant inszeniert diese Selbstanklage vor dem „inneren Gerichtshof“ als eine Streitsache mit „Ankläger“ und „Anwalt“, über die „nach der Strenge des Rechts entschieden werden muß“.300 Diese „Strenge“ gegenüber sich selbst kommt in Kants Idee der „Pflichten gegenüber sich selbst“ und in seinem Konzept des Gewissens zum Ausdruck, das er als das „Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen“ begreift, „vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen“.301 Die besonders sprechende Fortsetzung dieser Überlegung lautet: „Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt.“302 In der Figur der Pflichten gegenüber sich selbst, deren „Macht“ wesenhaftes Konstituens dessen ist, was es heißt, Subjekt zu sein, zeigt sich besonders deutlich, wie die Tugendpflichten der Moral letztlich an der Quintessenz des juridischen Rechts orientiert bleiben, und zwar in doppelter Hinsicht, wie Wildt rekonstru­ iert hat: Zum einen müssen sowohl Recht als auch Moral – zumindest aus Sicht 298  Siehe hierzu den aufschlussreichen Aufsatz von Birgit Sandkaulen, Die „schöne See­ le“ und der „gute Ton“. Zum Theorieprofil von Schillers ästhetischem Staat, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76 (2002), S. 74 – 85. 299  MS, § 13, Anm., A 101, S. 574. 300  Ebd., A 103, S. 575. 301  Ebd., A 99, S. 573. 302 Ebd.

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

der „rationalen Ethik“ – auf „Prinzipien“ basieren, „die ‚ohne Ansehen der Per­ son‘ gelten“.303 Doch im Grunde müsste man die Vorstellung von „Pflichten gegen sich selbst“ allein schon aus Gründen der Aporie dieser Figur, über sich „ohne Ansehen der Person“ richten zu müssen, als „unhaltbar“ zurückweisen.304 Zum anderen schreibt sich aber in das eigene Selbstverständnis die Notwendigkeit ein, seine Urteile und sein Verhalten an Sollensforderungen auszurichten. Um die Pro­ blematik der engen Pflichten in den Blick zu bekommen, für die das Merkmal der Erzwingbarkeit spezifisch ist, empfiehlt es sich deshalb, genauer zu überlegen, was es eigentlich bedeutet, „moralische Pflichten als Sollen aufzufassen“.305 Interessanterweise führt ausgerechnet diese Frage auf eine neue Erkenntnis, die über das Problem der Nichtforderbarkeit hinausweist, das bislang am Beispiel der ethischen und ästhetischen Formen der Verbindlichkeit diskutiert wurde, die auf je andere (jedoch nicht rechtliche oder moralische) Weise binden. Mit der Frage, was genau die Orientierung der moralischen Pflichten am Sollen beinhaltet, nä­ hert man sich dem entscheidenden Punkt der Hegelschen Kant-Kritik: „[M]orali­ sche Pflichten als Sollen aufzufassen“ bedeutet, hält Wildt hellsichtig fest, „sie mit Forderungen, genauer: legitimen Forderungen gleichzusetzen.“306 Erst vor diesem Hintergrund gewinnt „Hegels Polemik gegen das ‚Sollen‘“ Wildt zufolge sichtlich an Profil. Hegel unternimmt „[e]ine Kritik an dieser Gleichsetzung“ von Pflich­ ten mit legitimen Forderungen oder Ansprüchen, die laut Wildt aber wiederum „zu einer grundsätzlichen Neubestimmung der Natur moralischer Verpflichtungen [führen]“ muss.307 Diese Einsicht, dass es Hegel mit seiner Kant-Kritik darum gegangen sei, darauf hinzuweisen, dass sich die Spezifik von moralischen Verpflichtungen verändert, wenn die Moral sich an dem besagten Forderungszusammenhang orientiert, ist wichtig, aber sie reicht noch nicht hin. Denn außerdem – und sogar allem voran – führt die Kritik an der Moral, die sich am engen Rechtsverständnis orientiert, zu einer „Neubestimmung der Natur“ auch der rechtlichen Verpflichtung. Dies muss insbesondere im Hinblick auf die Gesamtintention des Naturrechtsaufsatzes, der bei Wildt allerdings nicht im Vordergrund steht, unbedingt festgehalten und unterstrichen werden. Zu erinnern ist nämlich daran, dass Hegel sich gerade im Naturrechtsaufsatz – und insbesondere vor dem Hintergrund seiner Diskussion der Vernunftrechtslehren einschließlich der Kantischen – für ein „Recht der sittlichen Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 16. ebd., S. 142; zur Problematik der doppelten Rolle, Richter und Partei zugleich sein zu müssen, äußert sich Kant selbst, indem er auf die Notwendigkeit der Annahme des „doppelte[n] Selbst“ verweist (MS, § 13, Anm. A 101; vgl. A 100 ff., S. 573 ff.); vom hier­ archischen Verhältnis zwischen den ‚notwendigen‘ und den ‚kontingenten‘ Identitäten war bereits im Hinblick auf Pippins Einwände gegen Korsgaard die Rede (in diesem Kapitel, C, II, 3 b und c). 305 Vgl. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 17. 306 Ebd. 307 Ebd. 303 Vgl.

304  Vgl.

C.  Hegels Kritik an Kant

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Natur“ ausspricht, das die „Rechtfertigung des Einzelnen als Bestehenden“ leisten können soll. Insofern ist es, zumal angesichts des bisher Erläuterten, unerlässlich, von einem erweiterten Verständnis nicht nur der moralischen, sondern auch der rechtlichen Verpflichtung zu sprechen, für das sich Hegel im Naturrechtsaufsatz einsetzt. Inwieweit lässt sich aber von einem solchen erweiterten Rechtsverständ­ nis überhaupt sprechen und was wäre damit gewonnen? Vergegenwärtigt man sich den Zusammenhang von Recht und Pflicht: Für Kant gilt, dass die Beziehung auf das Wohl anderer nur dann moralisch zu nennen sei, wenn man zugleich ein Bewusstsein davon habe, der anderen Person verpflichtet zu sein.308 Hegel gewinnt jedoch ein weiteres Verständnis dieses Zusammen­ hangs, indem er ihn so deutet, dass die moralische Verpflichtung überhaupt erst wahrgenommen309 werden kann, wenn „ich mir bewußt bin, daß diese Person mir gegenüber ein Recht hat“.310 Es ist scheinbar nur eine Nuance, die Hegel von Kant trennt, doch sie ist entscheidend, denn mit ihr wendet sich das Blatt hin zu einem gegenüber Kant – wenn man so will – noch moderneren Rechtsverständnis. Diese Verbindung der moralischen Verpflichtung mit der Wahrnehmung von Rechten bringt Hegel in seiner Berliner Enzyklopädie (§ 486) folgendermaßen zur Sprache: „Dasselbe, was ein Recht ist, ist auch eine Pflicht, und was eine Pflicht ist, ist auch ein Recht.“311 Dies lässt sich noch mit Kant ohne weiteres denken. Doch schon in der Erläuterung, die auf diesen Satz folgt, geht Hegel unverkennbar über Kant hin­ aus. Hegel schreibt: „Denn ein Dasein ist ein Recht nur auf dem Grund des freien substantiellen Willens; […]. Es ist derselbe Inhalt, den das subjektive Bewußtsein anerkennt als Pflicht und den es an ihnen [d.h. an den als subjektiv und einzeln sich unterscheidenden Willen] zum Dasein bringt“.312 Damit wird aber die Fähigkeit, Rechte des anderen Individuums bzw. der anderen Individuen wie auch umgekehrt eigene Rechte wahrzunehmen, für sämtliche Verpflichtungszusammenhänge zu der eigentlichen, entscheidenden Herausforderung erklärt. Diese Rückwendung auf die Anerkennung des Rechts des (anderen) Individu­ ums als Quelle der Verpflichtung deutet sich bei Hegel der Sache nach aber nicht erst in der Enzyklopädie, sondern bereits im Naturrechtsaufsatz an. Mit dieser Um­ wendung des Blicks hängt bereits Hegels Schachzug zusammen, das Verhältnis von Recht und Moral gegenüber Kant umzukehren. Dieser Umkehrungsschritt ist eine der zentralen und innovativen Operationen des gesamten Aufsatzes. Im Fol­ genden ist daher zu diskutieren, worin die Erneuerung besteht, die von Hegel ins Rechtsverständnis eingetragen wurde, sofern man angesichts der Tatsache, dass 308 

Vgl. ebd., S. 102. wird hier bewußt im doppelten Sinn des Wortes verwendet, um zu bezeichnen, dass man eine Verpflichtung sowohl erkennt als auch dass man ihr nachgeht und sie erfüllt. 310  Ebd., S. 102 (Herv. T. S.). 311  Enz. III, S. 304; vgl. auch Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 102 ff., unter Be­ rufung auf diese Stelle. 312 Ebd. 309  „Wahrnehmen“

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

Hegel seine eigene Position nicht herausgearbeitet, sondern sie in eine leider nur wenig transparente Kant-Kritik eingebettet hat, von Erneuerung überhaupt spre­ chen kann. c)  Versuch einer Kontextualisierung: Subjektive Rechte Hegels Umwendung des Blicks kann als Indiz für den Wandel interpretiert wer­ den, der in der Konzeption vom traditionalen zum modernen Recht in seiner spe­ zifischen Gestalt der subjektiven Rechte eingetreten ist. Christoph Menke verweist darauf, dass erst das moderne Recht subjektive Rechte anzuerkennen vermag, in­ dem es der Fähigkeit des „Verpflichtenkönnens“ Rechnung trägt,313 die Subjekte ausgebildet haben bzw. von der sie ein Bewusstsein erlangt haben. Worin diese Verschiebung gesehen werden kann, die im Rechtsverständnis und -bewusstsein eingetreten ist, erläutert Menke unter Bezugnahme auf Hans Kelsen und Max We­ ber314 wie folgt: Die traditionelle „Ordnung von Verpflichtungen“, die mit „Sank­ tionsgewalt“ einhergingen, „schafft auf ihrer Rückseite […] Berechtigungen“.315 „Das gilt in dem elementaren Sinn, dass die rechtliche Auferlegung und Durchset­ zung der Verpflichtung, zum Beispiel nicht zu stehlen, auf der anderen Seite die Berechtigung hervorbringt, nicht bestohlen zu werden.“316 Innerhalb der traditio­ nalen Ordnung der sogenannten Rechte „[gibt] die Verpflichtung […] dem anderen [aber] kein Recht darauf, nicht bestohlen zu werden […]. Von einem allgemeinen Recht auf Eigentum oder gar Leben spricht erst das moderne Recht und dreht damit die Reihenfolge und damit die Perspektive um.“317 So „[folgt] aus dem Recht auf Eigentum […] (unter anderem), dass jeder andere verpflichtet ist, nicht zu stehlen. Die Berechtigung des einen ist nicht mehr ‚Reflex‘ der Verpflichtung des anderen, sondern bringt sie hervor. Die Berechtigung wird zum Können – zur ‚Machtquelle‘. Die Berechtigung im Sinn ‚subjektiver Rechte‘ besteht darin, Macht über das Tun der anderen zu haben: sie verpflichten zu können.“318 Es ist zu vermuten, dass Hegel diesen Zusammenhang der Rückwendung auf das Subjekt als Quelle nicht nur von „Berechtigungen“, sondern von „Rechten“, die Verpflichtungen allererst zu stiften vermögen, klarer erkannt hat als Kant und „facultas“ des „Verpflichtenkönnens“ im Anschluss an Luhmann siehe Menke, Subjektive Rechte, S. 87 f. sowie ders., Das Nichtanerkennbare, S. 96 ff. 314 Zum Zusammenhang von „Berechtigung und Ermächtigung“ siehe Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1969, Kapitel 29, zit. nach Menke, Das Nichtanerkennbare, S. 94; in Bezug auf diese Fähigkeit, verpflichten zu können, spricht Max Weber von einer „Macht­ quelle“ (ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie [1922], hrsg. von Johannes Winkelmann, Tübingen 1980, S. 398, zit. nach Menke, Das Nichtaner­ kennbare, S. 95). 315 Vgl. Menke, Das Nichtanerkennbare, S. 94. 316  Ebd., S. 94 f. 317 Ebd. 318  Ebd., S. 95. 313  Zur

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Fichte. Allemal kann konstatiert werden, dass Hegel auf die Frage, wie der Fähig­ keit des „Verpflichtenkönnens“, die für subjektive Rechte entscheidend ist, adäquat Rechnung getragen werden kann, eine auffallend andere Antwort gegeben hat als seine rechtstheoretisch interessierten Zeitgenossen. Die Antwort auf diese Frage hat aber mit der besonderen Sphäre der Verpflichtungen zu tun, über deren Ver­ fasstheit daher als Erstes nachzudenken ist. d)  Zwei Arten von „Idealität“ oder: Die Fähigkeit, Rechte wahrzunehmen Den Zusammenhang der Rückwendung auf das Recht der anderen Person hatte Hegel im Naturrechtsaufsatz meines Erachtens vor allem dann im Auge, als er verschiedene Begriffsverwendungen von Idealität unterschied. Bedenkt man, dass Idealität für Hegel besagt, dass etwas „sein Sein nicht in sich selbst, sondern in einem anderen hat“,319 so ist es bemerkenswert, dass er bei der Verwendung die­ ses Begriffs zwei Arten von Idealität unterscheidet. Die eine ist „nur formal“, die andere „positiv absolut“,320 und letztere besitzt dergestalt (gemäß der gewohnten Verwendung der Begriffe „formal“ und „absolut“ bei Hegel) einen höheren Status als erstere. Formale oder auch relative Idealität rückt erst dann in den Blick, wenn die „reine Realität“ der naturhaften Beziehung zwischen den Einzelnen, „von der physisches Bedürfnis, Genuß, Besitz und die Objekte des Besitzes und Genusses verschiedene Seiten sind“,321 überwunden wird. Diese in „verschiedene Seiten“ auseinandertre­ tende Beziehung von nur lose verbundenen Einzelnen, wird – wohlgemerkt, im ers­ ten Schritt – so überwunden, dass den Individuen die „Identität“ zu Bewusstsein kommt, die dieser Beziehung zugrunde liegt: „Durch die Identität, in welche das Reelle in der Beziehung der Verhältnisse gesetzt wird, wird der Besitz Eigentum und überhaupt die Besonderheit, auch die lebendige, zugleich als ein Allgemeines bestimmt, wodurch die Sphäre des Rechts konstituiert ist.“322 Damit bringt Hegel zum Ausdruck, dass zwischen den betreffenden Individuen, die miteinander in­ teragieren, erst das Recht eine relative Allgemeinheit – eben „Identität“ als eine den Verhältnissen zugrundeliegende Gemeinsamkeit – zu stiften vermag. Erst wenn die Ebene des Rechts erreicht ist, findet man sich auf die Ebene der freiheit­ lichen „bürgerlichen“ Verhältnisse gestellt. Was Hegel hier als einen Übergang von disparaten zu rechtlichen Verhältnissen, von Besitz zu Eigentum, von Besonderheit zu Allgemeinheit beschreibt, hat bereits Rousseau als einen Übergang von der natürlichen zur gesellschaftlichen Freiheit 319 Vgl. Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, S. 37, mit Bezug auf Hegel, Wis­ senschaft der Logik I. Erster Teil. Die objektive Logik. Erstes Buch [1812], in: Werke, Bd. 5, Frankfurt am Main 1986, S. 172 f. 320  Vgl. NR, S. 484. 321  Ebd., S. 483. 322  Ebd., S. 484.

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

dargestellt, mit der sich notwendigerweise auch die Sichtweise auf die Dinge ver­ ändern muss: Die Willkür und freie Verfügung des Einzelnen über „alles, was ihn reizt und er erreichen kann“, ist aus Sicht der bürgerlichen Freiheit, die durch den Rechtszustand gesichert ist, „Sklaverei“.323 Diesen Austritt aus der Versklavung an die „natürliche“ Freiheit der bloßen Willkür erläutert Rousseau, ganz analog zu Hegel im obigen Zitat, ebenfalls anhand der Unterscheidung von Besitz und Eigentum: Im Unterschied zum Besitz, dessen Beanspruchung für sich durch einen Angreifer jederzeit streitig gemacht werden kann, „[kann] Eigentum […] nur auf einen sicheren Rechtsanspruch gegründet werden […]“.324 Erst die Rechtssicherheit garantiert die Stabilität der Eigentumsverhältnisse, indem die Besitzansprüche auf ihre Legitimität hin geprüft, begrenzt und gegebenenfalls zurückgewiesen werden. Eine so bestimmte allgemeine Grundlage, die im Recht erreicht ist, bezeichnet Hegel jedoch als eine nur „relative“ bzw. „formale“ Form von „Idealität“. Zwar stellt sie gegenüber der bloßen Freiheit der Willkür ein höheres Allgemeines dar. Doch das ändert nichts daran, dass sie gegenüber der „positiv absoluten“ Idealität noch defizient bleibt. Denn eine bloß „formale Einheit“ ist nicht hinreichend, die Verlässlichkeit und längerfristige Stabilität von intersubjektiven Beziehungen zu garantieren. Darauf deutet Hegels Rede vom Vertrauen hin, das eine Institution wie die eines Depositums überhaupt erst zu einer sittlichen Institution mache: „[W]enn das Sittliche sich auf Verhältnisse von Individuen zu Individuen bezieht, so ist es die reine Anschauung und Idealität, die z.B. in dem Vertrauen eines Depositums ist, welche festzuhalten und von welcher die Einmischung der formalen Einheit und des Gedankens der Möglichkeit anderer Bestimmungen abzuhalten ist.“325 Mit seiner Rede von „positiv absoluter“ Idealität scheint Hegel tatsächlich die Dimen­ sion der – höheren – Verlässlichkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen im Blick zu haben, die für die Logik des „formalen Rechts“ unzugänglich ist. Auf diese Weise zeichnet sich ein Zweischritt ab: Die Willkürfreiheit findet ihre Erfüllung erst in einer „Idealität“, die höher ist als die des formellen Rechtszu­ stands, in dem ihre Ansprüche durch reziprok wirksame Herstellung von Identität vor dem Recht zunächst einmal nur gesichert werden. Obwohl Hegel dies nicht explizit formuliert, scheint er nun, wenn er von „positiv absoluter“ Idealität spricht, an eine höhere Allgemeinheit zu denken. Diese Form der Allgemeinheit liegt aber, so lässt sich dieser Zusammenhang interpretieren, in der Wahrnehmung nicht bloß der Berechtigung der Ansprüche anderer, wie sie im formalen Rechtsverhältnis bereits erreicht ist, sondern des Rechts des anderen. Dieses Recht ist es erst, das als Quelle der Verbindlichkeit diesem anderen gegenüber gilt. 323 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundzüge des Staatsrechts, Leipzig 1978, S. 51. Rousseau spricht vom „droit illimité à tout ce qui le tente et qu’il peut atteindre“, vgl. ders., Du Contrat social [1762], in: ders., Œuvres complètes, hrsg. von Bernard Gagnebin/Marcel Raymond, Bd. 3: Du Contrat social. Écrits politiques, Paris 1964, Buch I, Kapitel 8, S. 364. 324  Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, S. 51. 325  NR, S. 468 (Herv. T. S.).

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Um ein höheres Allgemeines handelt es sich deshalb, weil es nicht primär der Vertrag ist, der den Einen von der Unrechtshandlung gegenüber dem Anderen ‚ab­ hält‘ und diesen Anderen vor dem Fehlverhalten des Einen schützt. Vielmehr ist es das Recht des Anderen auf ein bestimmtes, dem Rechtsverhältnis angemessenes Verhalten, welches zugleich auch allgemeine Gültigkeit für jedes so geartete Ver­ hältnis besitzt. Eine solche höhere Form von ‚Idealität‘ könnte man auch ‚Idealität zweiter Ordnung‘ nennen, weil sie die auf der vertragsrechtlichen Form basieren­ den Verhältnisse zu überschreiten vermag, jedoch ohne die darin erlangte bürger­ liche Freiheit und Rechtssicherheit preiszugeben. Dem Anspruch nach findet bür­ gerliche Freiheit sogar erst in dieser höheren Form der Idealität ihre Erfüllung, ihre wahre Realisation. Nun behauptet Hegel aber, dass eine so verstandene Idealität unter den Bedin­ gungen der „relativen Sittlichkeit“ (des rechtlich-moralischen Systems, für das die Ordnung der engen Pflichten konstitutiv ist) keine Wirklichkeit des Sittlichen, sondern immer nur eine „bloße Möglichkeit“ sein kann: „[D]ie beiden entgegen­ gesetzten Bestimmtheiten [das Subjekt und die Normativität des Rechts und der Pflicht; T. S.], als absolut gesetzt, fallen […] in ihrem Bestehen unter die Idealität, die insofern die bloße Möglichkeit beider ist.“326 Dies hat aber zur Konsequenz, dass beide – die Willkür und das Rechtssystem – einander äußerlich bleiben, ohne „Erfüllung“, wie Hegel es noch zu seinen Frankfurter Zeiten sagen würde – „und die Möglichkeit, daß der reine Begriff und das Subjekt der Pflicht und des Rechts nicht eins seien, muß unabänderlich und schlechthin gesetzt werden“.327 Anders ausgedrückt: Unter den Bedingungen der Idealität erster Stufe ist der Einzelne verleitet, sich auf die Vertragssicherheit gleichsam zurückzuziehen, statt sich „in einer spezifisch individualisierenden und spontanen Weise“328 auf den anderen Einzelnen zu beziehen – eben durch Wahrnehmung seiner Rech­ te, die zugleich den Anspruch auf die allgemeine Verwirklichung dieser Rechte mittransportiert. Da aber dies nicht der primäre Modus ist, sondern vielmehr die Vertragssicherheit den letzten Horizont der Rechtsanwendung darstellt, wird die Entwicklung des Rechts gehemmt; ebenso sehr muss auch die Responsivität in zwischenmenschlichen Beziehungen, die von dieser Fähigkeit zur höheren „Ideali­ tät“ abhängt, darunter leiden. Denn so lange, wie die ausschließlich (formal)recht­ lich definierte Beziehung in Geltung bleibt, wird der, so besehen, ethische Bezug auf den Anderen zu einer Frage der Disposition des Einzelnen, der sich entscheiden kann, Rechte des Anderen als verpflichtungsstiftend wahrzunehmen, oder auch – mit gleichem Recht –, es zu unterlassen.

326 

NR, S. 470.

327 Ebd. 328 Vgl. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 42; allerdings bringt Wildt solche Be­ ziehungsformen mit „sittlicher Moralität“ und nicht mit Recht in Verbindung, wie es hier auf Basis von Hegels Naturrechtsaufsatz entwickelt wird.

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

Dies wurde zuvor als das Problem der Verengung der Willensfreiheit auf die Freiheit der Willkür und der Wahl diskutiert. Damit konkretisiert sich aber auch die eingangs nur in Umrissen gegebene Beschreibung des von Hegel beklagten Entzweiungszustands in das formale Recht auf der einen Seite, in dem das „relativ“ Allgemeine gilt, und die Sphäre des „Zufalls und der Willkür“ auf der anderen Seite, in der das Individuum auf ein bloß Besonderes reduziert wird. Trifft diese Beschreibung zu, so bleibt an dieser Stelle zu fragen, worauf denn diese Fähig­ keit, Rechte wahrzunehmen, beruht und was deren Kultivierung gegebenenfalls im Wege steht. Die Frage ist ausgehend von Hegel – wie gewohnt – nur ex negativo zu beantworten. Sie ist aber mit dem zuvor bereits diskutierten Problem verbunden, dass moralische Verpflichtungen so aufgefasst werden, als würden sie nur auf Forderungen reagieren. Dem ist nun nachzugehen. e)  Moralität als „Erhebung über den Stand“ Hegels Umkehrungszug, von dem im Hinblick auf die Rückwendung auf sub­ jektive Rechte die Rede war, geht aus der Einsicht hervor, dass Verpflichtung und Verbindlichkeit aufs Innerste mit der Fähigkeit zur Wahrnehmung von Rechten und der Praxis des Rechteforderns und -einklagens verknüpft sind. Diese Einsicht erhält dann ihren präziseren Sinn, wenn man den Umstand berücksichtigt, dass die Reichweite von Pflichten massiv eingeschränkt wird, wenn sie – wie bei Kant – nur in Gestalt von Sollenspflichten auftreten. Denn die Pflichten werden dergestalt – darauf hat Andreas Wildt hellsichtig hingewiesen – nur als Rückwirkungen von solchen Forderungen denkbar, die man bereits als legitim einstufen kann. Streng genommen besagt dies jedoch, dass der Einzelne als moralisch Handelnder nur denen gegenüber verpflichtet ist, die er als Rechtssubjekte bereits wahrnimmt und anerkannt hat, und zwar in dem Sinne, dass er sie als legitime Adressaten seiner Verpflichtung (an)erkennt. Es ist unschwer zu sehen, dass diese Auslegung von Moralität (unabhängig von der Frage, ob man damit Kants eigenen Absichten gerecht wird oder nicht) prob­ lematische Konsequenzen nach sich zieht: Wird die moralische Verpflichtung le­ diglich als ein Reflex der engen Rechtspflicht aufgefasst, so ist es nicht schwer zu sehen, dass eine ganze Reihe von Personen, deren Ansprüche man – aus welchen Gründen auch immer – eben nicht als legitim anerkennen kann oder will, gänzlich aus dem Blickfeld bzw. dem Raster des Rechts herausfallen.329 Sie werden für das 329 Vgl. Menke, Spiegelungen der Gleichheit, S. 267, insb. Menkes Einwände gegen die „liberale Politik der Ausklammerung“ im Zuge seiner Diskussion des Neutralitätsbegriff in John Rawls’ „Politischem Liberalismus“; Menke zufolge ignoriert der Rawlssche Liberalis­ mus gerade die „Politik der Gleichheit“, zu deren eigentümlicher Logik die Notwendigkeit gehöre, „in sich“ eine „Öffnung“ für die Prozesse der Abgrenzungen und Ausgrenzungen, ohne die keine „bestehende Ordnung der Gleichheit“ auskomme, aushalten zu müssen und auf diese Weise eine „Haltung oder Tugend aus[zu]bilden […], den Leidenserfahrungen und Klagen der einzelnen gerecht zu werden“ (S. 267 f.; zum Abgrenzungs- und Ausgrenzungs­ charakter des liberalen Gleichheitsbegriffs siehe insb. S. 254 ff.).

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Recht – und damit auch für die Sollensmoral, sofern sie die Rückseite der Anerken­ nung von legitimen Forderungen bildet – buchstäblich unwesentlich. Darüber hinaus ist auf eine weitere Implikation hinzuweisen: Richteten sich Verpflichtungen ausschließlich an diejenigen Adressaten, die bereits berechtigt sind, mit deren Erfüllung zu rechnen und sie im Zweifelsfall gar einzuklagen, dann würde ein solches Rechts- und Moralverständnis zur Reproduktion von sozialen Hierarchien und Herrschaftsverhältnissen beitragen. Demgegenüber sollte die Fä­ higkeit zur Verpflichtung jedoch gerade etwas anderes beinhalten, jedenfalls mehr als zum Beispiel darauf festgelegt zu sein, die Erwartungshaltungen, die sich im sozialen Status wechselseitig spiegeln, lediglich zu reproduzieren. Vielmehr sollte sie qua Verpflichtung sogar umgekehrt durch ein Vermögen gekennzeichnet sein, die sozialen Schranken zu überwinden. Die Fähigkeit, Verpflichtungen gegenüber einzelnen Individuen – über ihren so­ zialen Status hinaus – wahrzunehmen, impliziert, dass man diesen Individuen nicht bloß als Repräsentanten eines bestimmten sozialen Status (für Hegel noch: eines „Standes“) begegnet. Denn dann würde man auf eine Form von Beziehungslosig­ keit zurückfallen, wie sie Hegel in Bezug auf die Sittlichkeit der Polis beschrieben hat. Geht es hingegen darum, die Verhältnisse der beziehungslosen Beziehungen zu überwinden, so wird es darauf ankommen, sich aus den Zwängen und Festlegun­ gen dieser Art zu befreien. Unnötig zu sagen, dass diese Befreiung sich schwerlich durch Altruismus (allein) verwirklichen lässt. Vielmehr hängt sie mit derjenigen Fähigkeit zur Verbindlichkeit zusammen, die auf der Wahrnehmung von Rechten beruht. Es handelt sich um eine Form von Verbindlichkeit, die nicht bindet, weil sie nicht, etwa aus Schuldgefühlen, unter Verpflichtungsdruck auf Forderungen re­ agiert. Zugleich handelt es sich bei der Fähigkeit, Rechte wahrzunehmen, überhaupt um Gesellschaftsfähigkeit – eine Fähigkeit, die, wie es Hegels Darstellung nahelegt, den Unterschied zwischen der Polis und der Gesellschaft überhaupt erst kenntlich macht. Dieser Eindruck findet sich bestätigt, wenn man Hegels eigener These folgt, dass die starre ständische Entgegensetzung sich im Zuge des Übergangs von der Polis-Sittlichkeit zu den römisch-nivellierten Verhältnissen „in der realen Bezie­ hung aufgelöst“ habe.330 Diese Figur der Auflösung, von der bereits die Rede war, steht jedoch zugleich für die Konsequenz, dass mit einem Male „die Einzelnen von Einzelnen abhängig“ geworden seien.331 Dies legt aber die bereits geäußerte Vermu­ tung nahe, dass dieser Zustand der Abhängigkeit der Einzelnen voneinander es erst erforderlich macht, die besagte Gesellschaftsfähigkeit zu kultivieren. Es ist bezeichnend, dass Hegel Moralität bereits seit seinen frühen Schriften ganz konsequent mit der so verstandenen Fähigkeit zur Gesellschaft in Verbindung brachte. In diesem Kontext ist Wildts Verweis auf Franz Rosenzweig geradezu schlagend, dem genau dieser wesentliche Zusammenhang nicht entgangen war, dass Hegel „in der Jenaer Realphilosophie die Moralität als ‚Erhebung über den 330 

NR, S. 491.

331 Ebd.

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

Stand‘“332 deutete. Dieser Hegelsche Impuls weist im Übrigen eine große Nähe zu Schillers ästhetischen Bemühungen auf, dem Ziel der Verwirklichung einer egalitären Gesellschaft durch das Projekt einer „ästhetischen Erziehung“ näherzu­ kommen. Nicht zufällig spricht Hegel im Kontext der „Erhebung über den Stand“ überhaupt von der „Erhebung zur Allgemeinheit“ – weshalb aber dann konsequen­ terweise auch nicht mehr von der Moralität des Einzelnen, sondern treffender von Bildung die Rede ist: „Bildung – ist Erhebung zur Allgemeinheit“, oder, anders ausgedrückt, „den Willen selbst in seiner Allgemeinheit [zu wollen]“.333 Dieser Zu­ sammenhang führt erneut vor Augen, dass es Schiller wie Hegel keineswegs um eine Zurückweisung, sondern im Gegenteil um die Verwirklichung des Kantischen Programms zu tun ist. Doch um dem „Geist“ des Kantischen Unternehmens, sub­ jektive Freiheit zu denken, gerecht zu werden, musste dem „Buchstaben“334 eine teils radikale Veränderung widerfahren. 3.  Hegels Umkehrung des Verhältnisses von Recht und Moral oder: Die Befreiung zum Subjekt Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten zeichnet sich folgender Befund ab: Engt man die Sphäre des Sozialen auf den Bereich der Legalität ein (und damit auf diejenige Form von Verbindlichkeit, die sich in vollkommenen bzw. engen Rechten und Pflichten erschöpft) und nimmt man darüber hinaus Hegels Diagnose ernst, dass auch die Moralität des Einzelnen bei Kant in Orientierung an den Zwangsge­ setzen des Rechts konzipiert ist, so lässt sich keine positive Beziehung zum kon­ kreten Anderen mehr denken. Wenn Hegel nun an die Perspektiven des Vertrauens und der Anschauung sowie an die Kraft und die Evidenz des sittlichen „Diesen“ erinnert, so kann dies jedoch nicht bedeuten, dass er eine Rückkehr zu Formen traditionaler Sittlichkeit fordert, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Viel­ mehr deutet sich in seiner Kritik an, dass Beziehungen, die sich nach formalen römisch-rechtlichen Kategorien richten, also auf der Logik von streng reziproken Verhältnissen basieren, nicht hinreichend sind, um dem modernen Prinzip der Autonomie Rechnung zu tragen. Um es in der bislang verwendeten Terminologie zu sagen, ist das rechtlich-moralische Modell, sofern es sich an engen Pflichten und Rechten orientiert, nicht in der Lage, das subjektive Wollen des Guten hinreichend zu erklären, und vermag es deshalb nicht, subjektive Freiheit auf der Höhe der Zeit, das heißt aber als eine durch das Recht vermittelte zu denken. In Hegels späterer Terminologie ausgedrückt, vermag man Autonomie mit Kant zwar „an sich“ zu denken und dergestalt zur „Anlage der Freiheit“ vorzustoßen, 332  Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 43, mit Bezug auf Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat [1920], 2 Bde., Bd. 1, Aalen 1962, S. 218. 333  GPR, § 21, Z, S. 73. 334  Mit „Geist“ und „Buchstabe“ wird auf Schillers Anmerkung zum 13. Brief ange­ spielt, die dort im Kontext der Reflexion über die Beschränkungen der „Transzendentalphi­ losophie“ steht (vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 611).

C.  Hegels Kritik an Kant

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jedoch gelingt es noch nicht, die Autonomie auch „für sich“ zu wissen und zu er­ fahren.335 In diesem Defizit ist auch der Grund zu sehen, weshalb es dem Subjekt der Kantischen Moral, sofern Letztere dem legalistischen Rahmen verhaftet bleibt, nicht gelingt, zum positiv Gebotenen vorzustoßen. Statt sich selbst als Quelle der Autonomie zu begreifen, weshalb sie als auktoriale Autonomie bezeichnet werden könnte, legt sich das Subjekt auf einen Zustand fest, in dem es sich an die Grenzen des Erlaubten und Nichtverbotenen hält und bindet. Zu der Doppelaussage, die man der Hegelschen Kritik entnehmen kann, gehört mithin, dass Kants Moralitäts- und Autonomiebegriff das Potential subjektiver Freiheit deshalb nicht zur Geltung bringen kann, weil er sich von einem Rechtsmo­ dell abhängig gemacht hat, das jene Freiheit eindimensional werden lässt. Durch Verweise auf Phänomene wie Vertrauen und die anschauliche Evidenz der ethi­ schen Verpflichtungen „von Individuen zu Individuen“ macht Hegel geltend, dass es das „formale“ Recht ist, das an solchen Phänomenen seine Grenze erfährt – und nicht umgekehrt. Damit hängt aber eine der zentralen Operationen des Hegelschen Naturrechtsaufsatzes zusammen, von der bereits die Rede war – die geforderte Umkehrung des Blicks von der Moral zum (sittlichen) Recht. Wie ist diese Umkeh­ rung zu deuten? Mit der neu eingeführten Unterscheidung zwischen „Moralität“ und „Sitt­ lichkeit“ leistet Hegel einen entscheidenden Beitrag zur Revolutionierung des praktisch-politischen Feldes.336 Hegels Beschreibung der „Sittlichkeit“ entspricht strukturell dem Faktum der Übereinstimmung von Innen und Außen, das bei Kant aber gerade das Spezifikum der moralischen Handlung ausmachte. Mit der Ver­ schiebung des Fokus von der Moralität zur Sittlichkeit wird aber auch die Form der Legalität – der aus Hegels Sicht unverständlich gewordene öffentliche Bereich, in dem und vermittels dessen sich das Recht der subjektiven Freiheit, das Recht auf Individualität, verwirklicht – höher bewertet, wohingegen das Moralische, auf Seiten des Einzelnen, zweitrangig wird: „[U]nd man sieht, daß das Verhältnis des Naturrechts und der Moral sich auf diese Weise umgekehrt hat“, fasst Hegel zu­ sammen, „daß nämlich der Moral nur das Gebiet des an sich Negativen zukommt, dem Naturrecht aber das wahrhaft Positive, nach seinem Namen.“337 Es ist evident, dass Hegels Umkehrung des Verhältnisses von Moralität und Le­ galität eine Korrektur in Kants Verständnis des richtigen Gebrauchs dieser Begrif­ fe und ihres Verhältnisses zueinander einträgt: „Moralität ist zu einem defizienten Modus der Legalität geworden“, bemerkt dazu Ulrich Claesges, und nicht umge­ 335  Vgl. den Passus zum „an und für sich freie[n] Wille[n]“ in Hegels Rechtsphilosophie: „Wenn man daher nur vom freien Willen als solchem spricht, ohne die Bestimmung, daß er der an und für sich freie Wille ist, so spricht man nur von der Anlage der Freiheit oder von dem natürlichen und endlichen Willen (§ 11) und eben damit, der Worte und der Meinung unerachtet, nicht vom freien Willen“ (GPR, § 22). 336  Vgl. die Interpretation von Claesges, Legalität und Moralität in Hegels Naturrechts­ schrift, S. 53 – 74, hier insb. S. 53. 337  NR S. 505.

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

kehrt, wie es für Kant noch war. Diese Richtungsänderung kommentiert Claesges folgendermaßen: „Wenn so in der absoluten Sittlichkeit als einem das öffentliche Zusammenleben der Menschen betreffenden Bereich jene Einheit von Richtschnur und Triebfeder sich finden läßt, die die Reflexionsphilosophie in die Innerlich­ keit der moralischen Subjektivität verlegt, dann hat sich in der Tat das Verhältnis von Legalität und Moralität umgekehrt.“338 In dieser Umkehrung sieht Claesges zu Recht das „entscheidend Neue der Hegelschen praktischen Philosophie gegenüber Kant und Fichte“.339 In der Tat liegt in der Rückwendung des Moralischen auf das Rechtliche die Pointe des Hegelschen Ansatzes. Die Frage ist nur, wie diese Um­ kehrung der Verhältnisse zu interpretieren ist. Der Schlüssel zum Verständnis des Gewichts, das Hegel der Sittlichkeit als dem öffentlichen Bereich letztlich beimisst, liegt in seiner Moralitätskritik. Auf den ersten Blick ließ sich feststellen, dass Hegel die Moral einer gleichsam doppelten logisch-historischen Relativierung unterzieht. Sie wird, erstens, zum „Negativen“ der Sittlichkeit depotenziert, da es hier um die Moral des Einzelnen und um seine persönlichen Tugenden geht; und sie wird, zweitens, mit der Gestalt der bürgerlichen Moral identifiziert, in der sich der bürgerlich-formelle Rechtszustand spie­ gelt. Die weitere Profilierung der Moralitätskritik hat auf die Zweistufigkeit der Hegelschen Argumente aufmerksam gemacht: Zum einen wurde der Vorrang des Rechts gegenüber der Moral behauptet, womit Kants Moral als eine internalisierte Fassung des bloß formellen Rechts präsentiert wurde. Zum anderen erklärte Hegel jenes Recht zu einem „Naturunrecht“, weil es den willentlichen Bewegkräften des Akteurs äußerlich bleibt, sich mit jenen Kräften nicht vermitteln kann. Die Umkehrung beinhaltet aber auch eine weitere Pointe: Bedenkt man, dass die Moralität für Kant noch als Garant der Glückseligkeit und der exemplarischen Glückserfahrung des Einzelnen fungierte, so muss diese Rolle nach Hegels Um­ deutung der Verhältnisse nun dem Recht zugesprochen werden. Man beachte, dass es von nun an Legalität ist, die zur privilegierten Sphäre avanciert: Sie allein ist der Ort, an dem die „Einheit von Richtschnur und Triebfeder“, mithin die Einheit des Subjekts, sich realisiert. Demgegenüber lässt sich die Dominanz des mora­ lischen Standpunkts des Individuums als das Negative des Sittlichen aus Hegels Sicht nur noch als Indiz für den Zerfall eines solchen Rechtsbewusstseins bewerten und in eins damit als Symptom für die Defizienz des Sinns für das Öffentliche – in emphatischer Bedeutung des Wortes, für die bei Hegel Ausdrücke wie das Recht der „sittlichen Natur“ oder „absolute Sittlichkeit“ reserviert sind. Ein besonders brisantes Detail in diesem Kontext ist, dass Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts das Auseinandertreten von Besonderem und Allgemeinem, genauer: den Standpunkt des „Unterschied[s] der besonderen Sub­ jektivität gegen diese Allgemeinheit“ ausschließlich der „Moral“ zurechnet. Hier sei vom wohlverstandenen Recht noch gar nicht die Rede; eine derartige Entge­ 338  339 

Claesges, Legalität und Moralität in Hegels Naturrechtsschrift, S. 69. Ebd., S. 53.

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gensetzung sei aber historisch überhaupt noch zu sehr den „[p]atriarchalische[n] Verhältnis[sen]“ verhaftet, schreibt Hegel, in denen „mehrere Familien auf Weise einer Familie“ leben; über solche Verhältnisse notiert Hegel in den handschriftli­ chen Notizen zu seinen Rechtsvorlesungen: „noch nicht Recht – noch Moralität“.340 Unnötig zu sagen, dass diese Hegelschen Beobachtungen gerade im Lichte der zu­ vor kritisierten Unfähigkeit, sich „über den eigenen Stand zu erheben“, interessant sind, insbesondere im Hinblick auf die Schwächung des Sinns für das Öffentli­ che, die sich dann einstellt, wenn die Fähigkeit, Rechte wahrzunehmen, durch die Gleichsetzung von Verpflichtungen mit legitimen Forderungen eingeschränkt, wenn nicht gar verunmöglicht wird. Bedeutet dies aber, dass die „Einheit von Richtschnur und Triebfeder“, die zuvor in der Moralität zu erzielen war, mit der Hegelschen Operation der Umkehrung von Moral und Recht nunmehr „aufgelöst“ sei,341 wie es Claesges formuliert hat? Die Frage muss bejaht werden, aber dies betrifft nur die bürgerliche Moral. Nach Hegels Kritik kann die Einheit des Subjekts ihren Ort jedenfalls nicht mehr in der Moralität haben, nachdem diese Form der Moralität sich Hegel zufolge als entpo­ litisierte Erscheinung der „relativen Sittlichkeit“, als Indiz und Symptom der Ent­ zweiung, deskreditiert hat. Dieser Umstand hat jedoch nicht die Konsequenz, dass damit auch der Anspruch des Individuums auf Glück durch moralisch richtiges Handeln, der für Kant maßgeblich war, bei Hegel nun mit einem Male preisgegeben wäre. Vielmehr scheint genau das Gegenteil der Fall zu sein. Zur Provokation von Hegels Umkehrungsgestus gehört die Einsicht, dass In­ nerlichkeit und Individualität sich erst im Öffentlichen konstituieren und wieder­ finden, das heißt aber: auf dem Wege der Durchsetzung von Recht. Nur so können Menschen ihre Subjektivität überhaupt ausbilden und sich zum Subjekt befreien. Erst die Rückwendung auf das Recht führt aus der Situation heraus, in der „das Subjekt sich bloß in seiner Zufälligkeit und Besonderheit erkennt, welche Erkennt­ nis die Empfindsamkeit und die Unsittlichkeit der Ohnmacht ist“.342 Erst die Um­ wendung des Blicks auf die Dynamik des öffentlichen Lebens, das sich im Medium des Rechts verändert und entwickelt, vermag das Subjekt aus dem Dilemma des Verfangenseins in notwendigen und zufälligen Identitäten und in lähmender Wi­ dersprüchlichkeit zu befreien, es aus den Begrenzungen seiner jeweiligen Lage buchstäblich freizusetzen. Insofern ist Andreas Wildt recht zu geben, wenn er betont, dass „Hegels Kant­ kritik […] nicht eine Zurückweisung, sondern sogar eine Ausweitung und Be­ gründung moralischer Autonomie [impliziert]“.343 Die Autonomie des Subjekts hat jedoch nicht in der „sittlichen Moralität“ ihre Fundierung und ihren Ort, wie es Wildt vor dem Hintergrund der Profilierung von nicht-forderbaren Verpflich­ 340 

GPR, § 32, S. 86. Claesges, Legalität und Moralität in Hegels Naturrechtsschrift, S. 69. 342  NR, S. 467 f. 343  Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 27. 341 

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

tungen behauptet. Aus seiner Sicht handelt es sich gerade bei diesen um genuin moralische Verpflichtungen, weshalb er sie auch dadurch näher bestimmt, dass sie von allen „rechtsförmig“ zu nennenden Verpflichtungen, die auf dem Prinzip der Einklagbarkeit basieren, radikal abzugrenzen seien. Es ist allerdings wichtig zu erkennen, dass sich mit dem Befund der Juridifizierung der Moral, der hier ins Zentrum gerückt wurde, notwendigerweise ein verändertes Bild ergibt: Für die begrenzte Gestalt der bürgerlichen Moral wurde geltend gemacht, dass sich die Logik der Unterwerfung unter ein Gesetz innerhalb dieser Moral derart festgesetzt hat, dass sie nur auf Forderungen reagieren kann, die in ihren legitimen Gehalten bereits bestimmt und damit inhaltlich festgelegt sind. Nur deshalb können diese Forderungen überhaupt als legitime und daher auch als einklagbare Forderungen eingestuft und wahrgenommen werden. Nimmt man diese Einsicht, dass Recht und Moral auf eine komplexe Weise ineinander verstrickt sind, wirklich ernst, so ist unschwer zu sehen, dass die Veränderung einer so verfassten Moral hin zu einer Gestalt „sittlicher Moralität“, wie sie Wildt unter Berufung auf Hegel fordert, nicht herbeigeführt werden kann, indem die Moral außerhalb des Rechts oder vor dem Recht verortet wird. „Sittliche Moralität“ kann mit anderen Worten dem Recht nicht vorgängig sein. Sie ist nicht vordeontologisch in diesem Sinn, sondern erfährt vielmehr ihre Realisierung umgekehrt erst im und durch das Recht. Das Recht wird aber hier gleichwohl nicht im Sinn des positiven Rechts, sondern in einem fundamentaleren, ethisch-politischen Sinn verstanden: als ein Recht der „sittlichen Natur“, wie es Hegel formuliert, als ein Recht im Namen einer „wahren“ Allgemeinheit. Im Gefolge der Moralitätskritik des Naturrechtsaufsatzes lautet mithin die überraschende Erkenntnis, dass der „Kampf“ um die Autonomie des Subjekts ein Kampf um das Recht ist, der wiederum im Recht selbst ausgetragen wird. Von hier aus wäre es nicht abwegig, den Bogen zu der gegenwärtigen Men­ schenrechtsdiskussion zu schlagen und dabei an den politischen – und erst in die­ sem Sinne allgemein zu nennenden – Begriff der Menschenrechte zu erinnern, wie ihn etwa Hannah Arendt exemplarisch als das „Recht, Rechte zu haben“ charak­ terisiert hat.344 Während Legalität bei Kant jenseits der Einwilligung aller zum äußeren Zwang durch erlaubte Einschränkung eigener Freiheit durch andere gar nicht eigens zum Problem wird, wird das Öffentliche (und politisch Relevante) oder schlicht: das Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1951] , München/Zü­ rich 1986, S. 614. Diese Arendtsche Figur eines unhintergehbaren „Rechts, Rechte zu haben“ entfaltet eine ethisch-politische Kraft, die die „Kontroverse zwischen einer moralischen und einer politischen Konzeption der Menschenrechte“ in ein neues Licht rückt, siehe hierzu Christoph Menke/Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, Ham­ burg 2012, S. 68 – 70, vgl. dort zur rechtlich-moralischen „Grundbestimmung“ von Men­ schenrechten: S. 25 ff., zur „politische[n] Konzeption“: S. 32 ff. und zum Spagat zwischen den beiden: S. 38 ff. Siehe auch die im Sammelband von Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hrsg.), Die Revolution der Menschenrechte, Frankfurt am Main 2011 versammelten Beiträge aus der Menschenrechtsdiskussion, deren Autoren für ein genuin politisches und nicht lediglich ein moralisch-juridisches Verständnis der Menschenrechte eintreten. 344 

C.  Hegels Kritik an Kant

233

Rechte für Hegel als Garant der „ursprünglichen Einheit“ im Individuum zu dem Problem schlechthin. Denn erst durch die Einsicht in die wahre Dynamik und Ent­ wicklung des Rechts, das als Ort der Vermittlung des Partikularen mit dem Allge­ meinen auftritt, ist Einigkeit in und mit sich selbst zu erreichen; erst so kann die von Hegel beklagte Form der Entzweiung überwunden werden, die von Verhält­ niszusammenhängen ausgeht, die das eigene Selbstverhältnis, das Verhältnis zu anderen Menschen und zur Welt ins „Falsche“ verkehren. Die bisherige Rekonstruktion widerspricht nicht nur den heute geläufigen Ein­ wänden gegen Hegel, sondern ist ihnen ihrem Gehalt nach sogar diametral entge­ gengesetzt. So hat Ernst Tugendhat die Kritik geäußert, dass genau das, was zuletzt als das Glück verheißende Öffentliche rekonstruiert wurde, in dem überhaupt erst Einigkeit zu erreichen ist, in Wahrheit zu einem Zustand der kritiklosen Affir­ mation des Bestehenden345 seitens des Individuums verkomme. Ähnlich argumen­ tiert Ulrich Claesges: Das Öffentliche sei als eine homogene kulturelle Einheit zu denken – „Richtschnur ist das, was alle tun; Triebfeder ist eben dies, daß sie es alle tun“.346 Eine solche Lesart unterstellt, dass Hegel mit seiner Kant-Kritik zu den Modellen traditionaler Öffentlichkeit zurückgekehrt sei. Wie bereits kritisch angemerkt, finden sich für eine solche Interpretation bei Hegel selbst tatsächlich zahlreiche Anhaltspunkte. Doch zu der eigentlich verfolgenswerten Doppelaus­ sage, die man der Hegelschen Kritik entnehmen kann, gehört, dass Kants Mora­ litäts- und Autonomiebegriff das Potential subjektiver Freiheit nicht zur Geltung bringen kann, weil dieser Begriff sich immer noch an das (auch römisch-bürgerlich genannte) Rechtsmodell der engen Pflichten hält und es fortschreibt, statt es in etwas Neues zu transformieren. Das bedeutet aber, dass Hegel die Legitimität der subjektiven Freiheit keines­ wegs leugnet. Dass subjektive Freiheit Berechtigung hat, wird von Hegel nicht be­ stritten. Doch die Frage, wie diese Freiheit zu ihrem Recht kommt, wird von Hegel anders beantwortet, als es Kant getan hat. Ein Teil dieser Antwort ist in der neuen Fassung des „Unterschieds“ zwischen Recht und Moral zu suchen: Nach Hegel soll man erkennen, dass „dieser (neue) Unterschied zugleich das völlig umgekehrte Verhältnis gegen den anderen (Kantischen) [Unterschied] sei“.347 Als „Recht der sittlichen Natur“ gefasst, das die Rechte des Einzelnen wahrnehmbar und erfahr­ bar werden lässt, übersteigt Legalität als öffentlich-konkreter und intersubjektiver Interaktionszusammenhang gleichsam die legalistisch bestimmte Moralität, die abstrakt an die ganze Menschheit appelliert und universell gültig sein sollende Standards proklamiert. Denn es komme zuerst darauf an, so Hegel, „die Moral

345 Vgl. Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, S. 349, an dieser Stelle allerdings mit Bezug auf Hegels Grundlinien; zu Hegels Verteidigung siehe Ludwig Siep, Kehraus mit Hegel? Zu Ernst Tugendhats Hegelkritik, in: Zeitschrift für philosophi­ sche Forschung 35 (1981), S. 518 – 531. 346  Claesges, Legalität und Moralität in Hegels Naturrechtsschrift, S. 69 (Herv. T. S.). 347  NR, S. 509.

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2. Kap.: Hegels Kritik am moralisch-juridischen Freiheitsmodell

überhaupt der Moralität [zu] bestimmen“.348 Zu beachten ist allerdings, dass die Umdeutung des Verhältnisses von Recht und Moral nicht lediglich so zu verstehen ist, dass durch sie demonstriert werden soll, dass und wie das Subjekt sich in der gemeinsamen sittlichen Praxis konstituiert. Vielmehr ist es die Frage des subjektiven Wollens, dass das Recht verwirklicht wird, die als die zentrale Frage identifiziert wird. Schließlich geht es darum, das Recht nicht nur statisch, als „Aufbewahrung“ von Bestimmtheiten und in Positivität erstarrt zu sehen, unter deren Vorgaben sich auch die Moralität in einen „Standpunkt“ verwandelt, ja verkehrt. Vielmehr kommt es darauf an, die Dynamik der Rechtsentwicklung in Rückkoppelung an die Frage der gelingenden Subjektivität selbst zu begreifen. Auf diese Weise eröffnet sich hinter der Kritik die Perspektive auf ein dem Subjekt nicht äußerliches Recht. In­ dividuelle als öffentliche Freiheit zu denken, bedeutet, das Recht der Subjektivität und die Subjektivität des Rechts zu denken.

D.  Hegels Kant-Kritik – und was dann? An diesem Punkt einmal angelangt, stellt sich von Neuem die Frage, wie man der Dynamik eines Rechts, in dem sich individuelle und öffentliche Freiheit ver­ binden, auf die Spur kommen kann. Dabei kommt man nicht umhin, mit einer ge­ hörigen Portion Ernüchterung festzustellen, dass das eigentlich Spannende, worin Hegel beansprucht, über Kant hinausgegangen zu sein, sich dem Leser des Natur­ rechtsaufsatzes nicht einmal auf den zweiten Blick erschließt. Und dennoch ist es im Text präsent. Will man von hier aus weiterdenken, so erscheint es gewinnbringend, den Bo­ gen zurück zu derjenigen Dimension der Autonomie bei Kant zu schlagen, die von Hegel im Vorbeigehen zwar gelobt, dann aber doch – oder vielleicht gerade deshalb – völlig verschwiegen wurde. Es handelt sich um diejenige zuvor „auktorial“ ge­ nannte Dimension der Autonomie, in der sich die Hinsichten des Eigenen und des Vernünftig-Allgemeinen wechselseitig erhellen. Dies bewirkt eine beglückende349 Erfahrung, deren Logik Kant bezeichnenderweise erst dann auf die Spur kommt, wenn er sich selbst von der Logik der Unterwerfung unter den Kategorischen Im­ perativ distanziert, von demjenigen Gesetz, in dem sich Hegel zufolge das juridi­ sche Recht, das Erlaubte und das von anderen Einklagbare, reproduziert. Als Chiffre für diese Distanzierungsleistung steht bei Kant ausgerechnet das „Faktum der Vernunft“. Wie sich im Folgenden noch zeigen wird, lassen sich genau dieser Struktur, die als „Faktum der Vernunft“ entfaltet wird, Bestimmungen eines Rechtsverständnisses abgewinnen, das über das formelle und bürgerliche Recht hinausgeht. Hegel selbst entfaltet diese Bestimmungen später als eine „Genealogie

348 

Ebd., S. 507. „beglückenden Geschmack“ spricht Jean-François Lyotard, Die Analytik des Erhabenen, München 1994, S. 182. 349  Vom

D.  Hegels Kant-Kritik – und was dann?

235

des Rechts“,350 wobei er Letztere mit der emphatischen Bedeutung des individu­ ellen Handelns verschränkt.351 Dergestalt wird Subjektivität zur entscheidenden Produktivkraft in der Entwicklung der rechtlichen Kultur erklärt. Es ist die Aussicht auf ein neues Subjektivitätsverständnis, für das eine Umdeu­ tung des Rechts erforderlich wird, die am Ende als positiver Ertrag der Hegelschen Kant-Kritik mit auf den Weg genommen werden kann: Die bürgerlich-liberalen Aspirationen – Autonomie des Individuums, Freiheit und Selbstverwirklichung – erfüllen sich mithin erst in einer Form von politischer Kultur, die aus der „Ge­ staltlosigkeit“ und Apolitizität des römisch-bürgerlichen Entzweiungszustands herausführt. Die weiteren Überlegungen besitzen keinen definitiven Charakter der Abgeschlossenheit, sondern dienen der Suche nach Anhaltspunkten für eine solche ‚andere‘ Auffassung des Rechts.

Menke, Tragödie im Sittlichen, Kapitel 5 a, S. 203 ff. das Antigone-Kapitel in der Phänomenologie des Geistes, insb. den Abschnitt „Die sittliche Handlung“ (PhG, S. 342 ff.); vgl. hierzu Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 156 – 172, der diesen Abschnitt als Beschreibung eines Individualisierungsprozesses deu­ tet. 350 Vgl. 351  Vgl.

Drittes Kapitel

Individuelle und öffentliche Freiheit 3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

A.  Die Quellen der Autonomie I.  Kants ‚andere‘ Autonomie: Das „Faktum der Vernunft“ Die bisherigen Rekonstruktionen des kritischen Teils hinterlassen den befremd­ lichen Eindruck, dass Hegel Kant wohl so gelesen haben muss, als sähe er bei Kant den Legalismus Rousseaus fortleben. War Hegel tatsächlich ein solcher Leser Kants, ließe sich einwenden, er habe sich nur auf den ‚Buchstaben‘ konzentriert und dabei den ‚Geist‘ des Kantischen Befreiungsprojekts verkannt. Denn in Wahr­ heit sollte Kants Freiheitsbegriff, wie es Kant-Forscher heute betonen, gerade einen Ausweg aus dem Legalismus bieten. Folgt man Jerome Schneewinds umfassender Rekonstruktion der (Vor)Geschichte des Autonomiebegriffs, so sollte mit Kants unerhört neuem Freiheitsverständnis eine gleich doppelte Alternative in Aussicht gestellt werden: eine Alternative sowohl zu den Positionen, die am Determinismus festhielten, wie denen von Leibniz und Hume,1 als auch zu solchen Positionen, die, wie im Fall Rousseaus, für ein legislatorisches Freiheitsverständnis plädierten. Letzteres zeichnete sich aber dadurch aus, dass es die Autonomie ausschließlich an eine bestimmte – auf dem Vertragsprinzip basierende – Art von Gesellschaft koppelte und die Möglichkeit einer individuellen Autonomie kraft unserer Natur ausschloss.2 Ob diese Aussage für Rousseaus gesellschaftstheoretische Überlegungen tat­ sächlich zutrifft, ist fraglich. Bezeichnend ist aber, dass Rousseau es geschafft hat, sich der Herausforderung, sich neben der „bürgerlichen“ auch noch über die „sittliche Freiheit“ auslassen zu müssen, ganz geschickt zu entziehen: „Nach dem 1  Kants Idee des vernunftbestimmten Willens richtete sich vor allem gegen David Hume, der „der Vernunft das Vermögen abgesprochen [hatte], einen ‚ursprünglichen Einfluss auf den Willen‘ (original influence on the will) zu haben“, da er in ihr nichts weiter als eine „Sklavin der Leidenschaften“ sah (vgl. Michael Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, S. 536, mit Bezug auf David Hume, A Treatise of Human Nature [1738], hrsg. von Lewis Amherst Selby-Bigge, Oxford 1975, S. 415; vgl. Kants eigene Bezugnahme auf Hume: KpV, § 3, Anm. I). 2 Vgl. Schneewind, The Invention of Autonomy, S. 514, der an dieser Stelle wohl das Verständnis von Freiheit als Selbstgesetzgebung im Blick hat, das Rousseau im Du Contrat social (1758) in Verbindung mit seiner These vom Austritt aus der natürlicher Verfasstheit des Menschen entwickelt (vgl. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 8. Kapitel: Das Staatsbürgertum).

A.  Die Quellen der Autonomie

237

Gesagten“, so hält Rousseau im Gesellschaftsvertrag (1758) fest, „würde man noch zu den Vorteilen des Staatsbürgertums die sittliche Freiheit hinzufügen können, die allein den Menschen erst in Wahrheit zum Herrn über sich selbst macht; denn der Trieb der bloßen Begierde ist Sklaverei, und der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selber vorgeschrieben hat, ist Freiheit. Aber hierüber habe ich schon allzuviel gesagt, und die philosophische Bedeutung des Wortes Freiheit gehört nicht zu den Aufgaben meiner Arbeit.“3 Kant nimmt sich dieser Sache aber an und setzt nichts Geringeres in Gang als eine durchgreifende Revolutionierung des sittlich-moralischen Feldes. Mit der Etablierung des transzendentalen Begründungszusammenhangs zwi­ schen Metaphysik und praktischer Philosophie erhält die Praxis seit Kant ein völlig neues Gesicht. Moralität als Autonomie zu denken und Autonomie als moralische Selbstregierung des Individuums aufzufassen, war in der Tat etwas Neues, nach dem nichts mehr so sein konnte wie zuvor.4 Im 17. und 18. Jahrhundert konnten je­ denfalls nur Staaten als selbstregierende Entitäten autonom sein.5 Und obwohl die Idee der Selbstregierung, wie es Schneewind dargelegt hat, alt war, so hat man vor Kant doch stets angenommen, dass unser moralisches Wissen ein Wissen von einer von uns unabhängigen Ordnung sei und dass wir Menschen dank unserer Ausstat­ tung in der Lage seien, uns mit dieser Ordnung in ‚Konformität‘ zu bringen.6 Diese Konzeption, Moral als Gehorsam aufzufassen, die bis ins 17. Jahrhundert hinein noch Monopolstellung besaß, fordert Kant unwiderruflich heraus.7 Nach den bisherigen Ausführungen darf man sagen, dass diese Revolution im Freiheitsverständnis an Hegel keineswegs vorbeigegangen ist. Vielmehr hat He­ gels Kritik an Kants Legalismus gezeigt, dass Kant Hegel zufolge nicht weit genug gegangen ist. Hegel hat den Kantischen Begriff moralischer Freiheit nicht per Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, S. 51. dieser Ansicht kommt Jerome Schneewind, dessen Rekonstruktion des langen und komplexen Vorlaufs zu Kants Autonomieverständnis vor Augen führt, dass Kants in­ novatives Verständnis der Autonomie sich einem Aufeinandertreffen verschiedener, teils gegensätzlicher Positionen des Skeptizismus, des Legalismus, der Gefühlsphilosophie und der neuzeitlich-modernen Wissenschaft verdankt, die das Denken des ‚vorkritischen‘ und ‚kritischen‘ Kant geprägt haben – neben Hume, Rousseau, Wolff und Crusius werden Shaf­ tesbury und Hutcheson genannt, von den epistemologischen Problemen der modernen Wis­ senschaft im Anschluss an die Newtonsche Physik ganz zu schweigen. Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Einflussquellen entsteht eine Moralkonzeption, deren Elemente, wie Schneewind demonstriert hat, gänzlich ungewöhnlich sind: Im Wesentlichen gehört dazu die Idee, dass der Welt Gesetzesmäßigkeiten aufzuerlegen sind, die eine basale Ordnung stiften; ferner ein formales Prinzip, das ins Zentrum der Moralität gestellt wird, um jede Form von Selbstwidersprüchlichkeit zu vermeiden; und schließlich der Grundgedanke der moralischen Motivation und die Idee der Versöhnung oder zumindest der Kompatibilität mit den Gesetzen der physikalischen Welt (vgl. Schneewind, The Invention of Autonomy, S. 484). 5  Ebd., S. 483. 6  Ebd., S. 514. 7  Ebd., S. 509. 3 

4 Zu

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

se einer Kritik unterzogen, sondern hinsichtlich seiner letzten Orientierung am Gesetz oder, genauer, an der Ordnung der bürgerlichen Rechtsgesetze, die dem Subjekt äußerlich bleibt. Beklagt wurde die geforderte Unterwerfung der Subjekte unter eine vernunftrechtlich vorausgesetzte (An)Ordnung, die ihnen stets nur als ein unerreichbares Ideal entgegentreten kann – als ein Ideal, das von der Praxis der Subjekte abgeschnitten bleibt. Darin ist Kant, so könnte man es mit Hegel sagen, noch zu sehr Platoniker, zumindest wenn man in diesem Zusammenhang Hegels aufschlussreiche Bemerkung aus den Grundlinien heranzieht: „[D]as Allgemeine, Schöne bei Plato – Besonderes verglichen mit Allgemeinem – noch nicht die Be­ sonderheit, die an ihr selbst allgemein ist.“8 Der Tenor der Hegelschen Kritik scheint unbestritten zu sein: Kant riskiert zu wenig, er traut dem Subjekt nicht zu, ein im eigentlichen Sinne des Wortes Handelnder zu sein und auf das Recht und seine Entwicklung Einfluss nehmen zu können. Stattdessen wird an dem traditionellen Modell der Erzwingbarkeit fest­ gehalten – an einem Modell, das der modernen Idee der Autonomie nicht gerecht zu werden vermag. Durch die Umkehrung des Verhältnisses von Recht und Moral zeigt sich, dass subjektive Freiheit erst im Lichte eines erweiterten, über äußere und innere Sanktionen hinausgehenden Verständnisses von Normativität verwirk­ licht werden kann. Für dieses Normativitätsverständnis gilt, dass die Einzelnen sich darin nicht mehr so auffassen können, als befänden sie sich in einer Opposition zur äußeren Rechtsordnung. Statt sich einem äußeren Gesetz zu unterwerfen, sol­ len sie vielmehr selbst zu Subjekten des Rechts werden, indem sie ihre auktoriale Autonomie ausüben. Die philosophische Erschließung dieser Dimension der Au­ tonomie findet sich aber bereits bei Kant – wäre dem nicht so, so würden wir ihn nicht als den Philosophen der subjektiven Freiheit feiern. Kants eigentliches Novum in der Frage der Autonomie verbirgt sich hinter einer Formel, deren Bedeutung so evident zu sein scheint, dass sie abermals unverstan­ den und hinter ihrem im eigentlichen Sinne innovativen Gehalt zurückzubleiben droht. Die Rede ist vom „Faktum der Vernunft“. Was „Faktum der Vernunft“ be­ deutet, wurde oft so verstanden (und damit missverstanden), wie es Hegels Urteil zufolge „bequem“ ist: „Bequemer ist es aber“, so Hegel in den Grundlinien, „sich kurzweg daran zu halten, daß die Freiheit als eine Tatsache des Bewußtseins gegeben sei und an sie geglaubt werden müsse.“9 Dieser Missdeutung der Freiheit setzt Hegel seinen eigenen Willensbegriff entgegen, ohne zu wissen (oder zugeben zu wollen), dass dieser Begriff bereits bei Kant in der Struktur des wohlverstandenen Faktums der Vernunft angelegt ist, wenn er dieser Struktur nicht gar entspricht. Denn es geht hier um die Verbindung von Denken und Begehren – und damit um die Realität der Willensbestimmung durch Vernunft. Das Grundsatzkapitel, in dem vom „Faktum der Vernunft“ die Rede ist, verfolgt das Ziel, die Wirksamkeit und Realität von „praktischen Grundsätzen“ zu erwei­ 8  9 

GPR, § 134, Z, S. 251 (Herv. T. S.). Ebd., § 4, S. 48.

A.  Die Quellen der Autonomie

239

sen.10 Dabei geht es nicht um die Gültigkeit von logischen Begründungsketten, die in solche praktischen Grundsätze eingehen mögen. Vielmehr wirft Kant die Frage auf, wie es „durch bloßes Denken möglich sein [soll]“, so fasst Michael Wolff diese Frage zusammen, „das Begehrungsvermögen vernünftiger Wesen allgemein [zu] bestimmen“.11 Entscheidend ist für Kant, wie es bereits in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft heißt, dass die Vernunft „ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat [beweiset]“, denn nur so kann sie „wirklich praktisch“ werden, „und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein“, so Kant, „ist vergeblich“.12 Diese „Tat“ liegt in der Bestimmung des Willens, wobei diese Bestimmung als „Wirkung einer reinen Synthesishandlung“ bezeichnet wird, „die der reinen Ver­ nunft zugerechnet werden muss“.13 Die Vernunft wird „real“ und „praktisch“, wenn sie sich mit dem Begehren verbindet. Dabei spricht Kant vom „Faktum der Ver­ nunft“ deshalb im Genitiv, weil die Vernunft hierbei als eine doppelte Urheberin fungiert, wie Wolff erläutert: „als Urheberin der Wirkung einer Handlung, durch die das Bewußtsein der Gültigkeit des praktischen Grundgesetzes hervorgerufen wird, und damit zugleich […] als Urheberin dieser Handlung selbst“.14 Die Wahl des Ausdrucks „Faktum“ begründet sich dabei durch den Sprachgebrauch der für Kant so bedeutsamen Wolff-Schule, die sowohl Wirkungen als auch Handlungen selbst als „Facta“ bezeichnet hat.15 Die Rede vom „Faktum der Vernunft“ erscheint zum ersten Mal in der Anmer­ kung zum § 7 der Kritik der praktischen Vernunft, in demjenigen Paragraphen, in dem Kant das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ formuliert. Dieses Grundgesetz nennt Kant sowohl „Grundsatz […] einer Autonomie des Willens“16 als auch, an anderer Stelle, das „Gesetz“ der „Autonomie der reinen praktischen Vernunft“.17 Es besagt: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zu­ gleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“18 Man könnte meinen, dass damit erneut an das unbedingte Gebot des Kategorischen Imperativs, an das Kantische Sittengesetz, erinnert sei. Doch die Nähe dieser Formulierung zur Formel des „Sittengesetzes“ täuscht. Hier hat Kant einen ganz anderen Sach­ verhalt im Auge. Wie es Wolff dargelegt hat, dürfe man das „Grundgesetz“ mit dem „Sittengesetz“ keineswegs verwechseln, denn es handelt sich um zwei unter­ schiedliche Gesetze: „Der in beiden Gesetzen vorkommende Ausdruck ‚Handle so, dass …‘“ bringt in dem einen Gesetz (dem Grundgesetz, von dem § 7 handelt) die 10 

Vgl. KpV, § 7. Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, S. 517 f. 12  KpV, Vorrede, [3], S. 3. 13  Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, S. 534. 14  Ebd. (Herv. T. S.). 15  Vgl. ebd., S. 535. 16  KpV, § 8, Anm. II, [39], S. 54. 17 Ebd., „Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“, [43], S. 59, zit. nach Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, S. 524. 18  KpV, § 7, [31], S. 41. 11 Vgl.

240

3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

„uneingeschränkt allgemeine (daher auch selbstbezogene) Willensäußerung“ zum Ausdruck, wohingegen es „in dem anderen Gesetz […] als Ausdruck eines Gebotes verstanden werden [muss]“.19 Man hat es hier mit zwei verschiedenen Gesetzesdimensionen zu tun: Auf der einen Seite steht die „selbstbezogene“ und „allgemeine Willensäußerung“ und auf der anderen Seite der Forderungscharakter eines Gebotes. Hält man diese beiden Dimensionen von Normativität nicht auseinander, so wird man die Pointe des Kan­ tischen Autonomiebegriffs nicht fassen können. Sie hat mit dem Ringen um die auktoriale Bestimmung des eigenen Willens zu tun, und (was für Kant unmittelbar damit zusammenhängt) auch um die Bestimmung des Lebens. Denn der Wille ist „das Vermögen“, Vorstellungen zu verwirklichen, für die man selbst als Ursache ihrer Verwirklichung gelten soll, und das „Leben ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln.“20 Mit der Rede vom „Fak­ tum der Vernunft“ geht es Kant mithin um nichts Geringeres als die Wirklichkeit einer solchen Selbstbestimmung philosophisch freizulegen – gegen Hume und im Wissen um das „befremdlich“ Neue der „Sache“, um die es hier geht.21 Deshalb unterstreicht Michael Wolff völlig zu Recht, dass das „Handle so, dass …“ hier nicht, wie so oft geschehen, imperativisch missverstanden werden darf.22 Vielmehr komme darin die Selbstadressierung der Vernunft zur Spra­ che: Mit diesem allgemeinen praktischen Postulat „[wendet] sich […] die reine praktische Vernunft sozusagen an sich selbst, und damit an vernünftige Wesen überhaupt“.23 Die Hinsichten des Eigenen und Allgemeinen stehen hier nicht im Widerspruch zueinander, sondern verbinden sich. Um den Charakter dieser Rück­ wendung auf sich selbst zum Ausdruck zu bringen, die mit diesem Grundgesetz bezeichnet werden soll, spricht Kant in der Anmerkung zu § 6 daher auch vom „Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft“.24 Bereits hier, in der Kritik der praktischen Vernunft, geht es (den Vertretern des Deutschen Idealismus vor­ aus) um die Selbstbezüglichkeit bei gleichzeitiger Willensbestimmung und damit um die Potenz der auktorialen Bestimmung. Das „Grundgesetz“ der Vernunft zielt auf das eigene selbstregierte Leben.25 Deshalb wird es in der Grundlegung vor­ nehmlich auch als das „moralische Gesetz“ bezeichnet. Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, S. 524. Vorrede, Fußnote, [9], S. 11, Anm.: „Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen [eines Wesens], durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (vgl. dazu Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, S. 519). 21  Siehe Kants eigene Bemerkung: „Die Sache ist befremdlich genug und hat ihres glei­ chen in der ganzen übrigen praktischen Erkenntnis nicht“ (§ 7, Anm., [31], S. 41). 22 Vgl. Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, S. 525. 23 Ebd. 24 Ebd. 25  In dieser Verschiebung vom legislatorischen Autonomieverständnis Rousseaus hin zu der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Eigengesetzlichkeit des Subjekts, in 19 Vgl.

20  KpV,

A.  Die Quellen der Autonomie

241

Wolff macht darauf aufmerksam, dass dieser Begriff bei Kant eine umfassende­ re Bedeutung hat als das „Sittengesetz“ (also der gebietende „kategorische Impe­ rativ“). Denn das „moralische Gesetz“ bringt nach Kant zum Ausdruck, dass man „nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen“ sei.26 Auch die anderen Versionen des moralischen Gesetzes, die Kant anbietet, zielen auf die Eigengesetzlichkeit des Willens ab: Der Wille folgt der „Maxime“, „sich selbst zum allgemeinen Gesetz zu machen“.27 Diese Bedeutungsdimension der Ur­ heberschaft in der Selbstgesetzgebung lässt sich bei Kant, so Wolffs Hinweis, bis hin zur Metaphysik der Sitten verfolgen, in der die Verbindlichkeit des Sittengeset­ zes so erklärt wird, dass „es ‚zugleich als aus dem Willen eines höchsten Gesetz­ gebers‘, der ‚keine Pflichten‘ hat, ‚hervorgehend ausgedrückt werden‘ kann.“28 Der Charakter des Vor-allen-Verpflichtungen-Stehens, der zur Autonomie gehört, wird hier als Bedingung aller freiwilligen Verpflichtung überhaupt gedacht. Daran lässt sich erkennen, dass dieses Gesetz der Autonomie „dem Kategorischen Imperativ zu Grunde lieg[t]“.29 Das so verstandene Grundgesetz der Autonomie ist mithin „kein ‚positives‘ Ge­ setz, sodass der höchste Gesetzgeber nicht als ‚Urheber eines [positiven] Gesetzes‘ angesehen werden darf: Er ist nur ‚Urheber (autor) der Verbindlichkeit nach dem Gesetze‘“.30 Diese Verbindlichkeit kommt aber wiederum darin zum Ausdruck, dass die subjektive Gültigkeit der Maxime sich mit der objektiven Gültigkeit „für jedes vernünftige Wesen“31 verbindet. Subjektivität soll sich in Objektivität über­ setzen: Sie gibt sich die „Regel“, „die also hier Gesetz ist“,32 und hat ein Bewusst­ sein davon, das Kant ein „Faktum der Vernunft“ nennt. Wie Wolff treffend be­ merkt, wird damit „eine bestimmte Verfahrensweise“ durch Vernunft „postuliert“, die „für schlechterdings alles Handeln vernünftiger Wesen“ gültig sein soll: „eine Verfahrensweise, nach der immer nur ‚so‘ zu handeln ist, ‚dass‘ die Maxime, aus der die betreffende Handlung folgt, einer ‚allgemein gesetzgebenden Form‘ fähig ist.“33 Bei dieser besonderen Handlungsweise, für die Vernunft Gesetzesförmigkeit diesem Abrücken von der „Selbstgesetzgebung“ zugunsten einer „eigenen Gesetzgebung“, die sich bei Kant bereits abzeichnet, sieht Christoph Menke das entscheidend Neue an Kant, das Hegel wiederum aufgreift und mit der Lehre von Sittlichkeit und mit der Einführung des Geistbegriffs auf eine neue philosophische Basis stellt (vgl. Menke, Autonomie und Befreiung, insb. S. 677 – 679). 26  GMS, S. 65. 27  Ebd., S. 80, zit. nach Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, Anm. 26, S. 525. 28  Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, Anm. 28, S. 526. 29 Ebd. 30 Ebd. 31  KpV, [19], S. 23. 32  Ebd., [31], S. 41. 33  Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, S. 525 f., mit Bezug auf die Stellen aus KpV, § 8, [33], S. 45 sowie § 7, [31], S. 41.

242

3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

postuliert, geht es darum, eine Regel zu formulieren, die „nur die allgemeine Form von subjektiven Grundsätzen“ betrifft.34 Wüsste man nichts von dieser Gesetzes­ förmigkeit des Wollens, so ließe sich das Wollen gar nicht vom bloßen Wünschen unterscheiden.35 Ein Faktum der Vernunft impliziert also die Fähigkeit des Willens, die Form des Gesetzes anzunehmen und sich damit den formalen „Bestimmungsgrund“ zu geben, und zwar den einzigen „Bestimmungsgrund“, der als vorgängig gedacht werden kann. Ein „vernunftbestimmter Wille“ ist mithin ein solcher Wille, „für den das Autonomieprinzip kein Imperativ, sondern lediglich Ausdruck seines eigenen (reinen) Wollens ist“.36 Deshalb lehnt Kant es ausdrücklich ab, dass es sich bei dem „Faktum der Vernunft“ um ein „Bewußtsein der Freiheit“ handelt, denn ein solches wäre uns vorgegeben.37 Vielmehr handelt es sich um „das Bewußsein dieses Grundgesetzes“ vor aller Freiheit, „welches bloß zum Behuf der subjektiven Form der Grundsätze dient, als Bestimmungsgrund durch die objektive Form ei­ nes Gesetzes überhaupt […]“.38 Das Lehrstück vom „einzige[n] Faktum der reinen Vernunft […], die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) ankündigt“,39 fragt demnach, wohlverstanden, gerade nicht nach der Geltung des Grundes,40 sondern nach den Bedingungen der Geltung des Willens. Mit dem Zitat „sic volo, sic jubeo“, das Juvenals Satiren entnommen ist, zeigt Kant an (wie man sofort erkennt, wenn man die Fortsetzung des Juvenal-Zitats in die Überlegung mit einfließen lässt), dass statt des Grundes der Wille gelte: „sit pro ratione voluntas.“41 Die Konsequenz, die damit verbunden ist und die für die weitere Profilierung des Autonomiekonzepts folgenreich zu sein scheint, lässt sich nun auf folgende Formel bringen: Nicht weil das Gesetz es mir befiehlt, will ich etwas, sondern umgekehrt: weil ich es will, wird es mir zum Gesetz. Was in dieser plakativen Formulierung nach Eigensinn klingt, soll nicht als eine fragwürdige Interpretation vorschnell verworfen werden. Denn mit diesem Satz wird das Be­ wusstsein zum Ausdruck gebracht, dass das freie Wollen gilt. Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, S. 529. ebd., S. 530: „Dieses Wollen wäre ein bloßes Wünschen (und nicht realisierbar), wenn es widerspruchsfrei gar nicht denkbar wäre, dass die postulierte Regel ein praktisches Gesetz ist, oder wenn die Naturgesetze es ausschlössen, dass vernünftige Wesen ihre Maxi­ men nach dem Vernunftgesetz einrichten.“ Ähnlich argumentiert Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt am Main 2009, S. 36 – 42. 36 Vgl. Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, S. 546. 37  KpV, § 7, Anm., [31], S. 42. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Für Terry Pinkard ist dies der Ausgangspunkt, das „Paradox der Autonomie“ zu for­ mulieren, das mit der Frage nach der Quelle und der Herkunft des Gesetzes anhebt (vgl. ders., German Philosophy, S. 59, 118, 226). 41  Kant zitiert aus Juvenal, Satiren VI, 223; im Original: „Hoc volo, sic iubeo, sit pro ratione voluntas!“ 34 Vgl. 35  Vgl.

A.  Die Quellen der Autonomie

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Was dies besagt, lässt sich genauer fassen, wenn man Kant folgt und tatsächlich Juvenals Satire zurate zieht. Die sprichwörtlich gewordene Äußerung „sic volo, sic jubeo“, die in Juvenals sechster Satire fällt, wird einer selbstsüchtigen römi­ schen Herrin in den Mund gelegt, die auf der Kreuzigung eines Sklaven besteht, trotz Beteuerung seiner Unschuld seitens ihres Gatten. Von dieser Schilderung der entfesselten Willkür, der die Betroffenen ausgeliefert sind, ist die Bedeutung, die Kant dem Wollen an der zitierten Stelle42 gibt, selbstverständlich weit entfernt. Und dennoch ist den beiden Konstellationen der Umstand gemeinsam, dass es in diesem „Wollen“ auf die Geltung der (guten) Gründe provozierenderweise nicht (mehr) an­ kommt, denn es handelt sich um ein Wollen, das allen inhaltlich bestimmten Grün­ den vorgelagert ist und damit auch der Einflussnahme durch Gründe nicht zugäng­ lich ist. Das Bewusstsein, dass der Wille gilt, ist nach Kant mithin primär: Man kann es „nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft […] herausvernünfteln“.43 Die Bedingung seiner Geltung wird in der Gesetzesform des „reinen Willens“ ent­ deckt. Ist der Wille gesetzesförmig, so handelt es sich um ein freies Wollen. Geset­ zesförmigkeit und freies Wollen stehen nicht im Widerspruch zueinander. Diese freie Wirksamkeit des Willens „beruht“, wie Michael Wolff erläutert, „auf der Verknüpfung von Denken und Begehren“,44 bei der es sich um eine „Syn­ thesishandlung“ der Vernunft handelt. Nach Kant ist diese Wirksamkeit der Ver­ nunft, die der Willensbestimmung Gesetzesform verleiht, allenthalben am Werk: „Daß diese Vernunft nun Kausalität habe, wenigstens wir uns eine dergleichen an ihr vorstellen, ist aus den Imperativen klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben.“45 Mit dieser Verbindung von Wollen und Denken, von Begehren und Vernunft, durch die Vernunft allererst praktisch wird, wird ein neuer Typus von grundloser und unbedingter Kausalität gedacht.46 42 

KpV, § 7, Anm.

43 Ebd.

Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, Anm. 35, S. 531. KrV, A 546 f./B 575, zit. nach Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, Anm. 39, S. 533. 46  Treffender ist es, statt von Kausalität von ‚Präsenz‘ zu reden; zur „‚Präsenz‘ der Idee der absoluten Kausalität im Denken, das will oder begehrt“, siehe Lyotard, Die Analytik des Erhabenen, S. 190, wobei er darunter das Gefühl der Achtung versteht. Vgl. auch die psychoanalytische Lektüre Kants von Alenka Zupančič, Between the Moral Law and the Su­ perego, in: dies., Ethics of the Real. Kant, Lacan, London/New York 2000, S. 140 – 169. Zu­ pančič zeigt vermittels einer innovativen Auslegung des Kantischen Begriffs der „Achtung“ vor dem Hintergrund von Lacan, wie im Autonomiebegriff neben der legislatorisch-reprä­ sentationalen Bedeutungsdimension ein Ausgriff auf die tiefere Schicht einer ‚objektiven‘ Moralität angelegt ist: Die Schwierigkeit, auf die Kants Triebfedernlehre antwortet, bestehe „in finding and articulating another type of causality, one that is foreign to the mode of representation“ (ebd., S. 142). Diese ‚objektive‘ Seite der Autonomie wird nach Zupančič’ Deutung durch die ‚Lücke‘ im Begriff der Achtung eröffnet, die im nochmaligen Verlust des Verlusts der phänomenalen Realität – sie spricht vom „loss“ oder „lack that comes to lack“ (ebd., S. 143) – ein Gefühl der Objektivität allererst erfahrbar macht (vgl. S. 143 ff.). 44  45 

244

3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Denn der Gedanke der Vernunft, der den Willen bestimmt und als „gültiges Ge­ setz […] kausalen Einfluss auf den Willen ausüben kann“, ist selbst nicht verursacht.47 Das Faktum selbst ist mithin Beweis genug, dass es Handlungen gibt, die sich durch eine bestimmte Weise des Handelns auszeichnen: Mit Wolff gesprochen, sind es „Handlungen, an denen man eine ‚Verknüpfung‘ von etwas Bedingtem (ei­ nes Begehrens) mit etwas Unbedingtem (mit einem willensbestimmenden Gedan­ ken) antreffe“.48 Das Subjekt erfährt diese „Verknüpfung“ als eine solche, die a priori in Geltung ist, unabhängig von dem Einfluss der Sinne, der Neigungen, der Lust und – was entscheidend ist – unabhängig von den Gründen anderer und sei es auch, aller anderen, also „unabhängig von ‚irgend einem äußeren Willen‘: Nur das eigene reine Wollen, nicht etwa die äußere (fremde) Verpflichtung durch ei­ nen bloßen Imperativ, ist Grundlage des Bewusstseins der Geltung des praktischen Grundgesetzes.“49 Damit wird erneut der nicht-äußerliche Charakter dieser Form von Verbindlichkeit unterstrichen. Wichtig ist, zu erkennen, dass man es hier Kant zufolge mit der einzigen „Hand­ lungsweise“ zu tun hat, die verbürgt, dass ich als frei handelnde Person in der Lage bin, die Verbindung von Denken und Wollen durch eigene „Apperzeption“ als meine eigene Verbindung zu erfahren. Nach Kant ist dieses Bewusstsein allein einem sol­ chen Wesen eigen, das, wie der Mensch, sich nicht nur „durch Sinne kennt“, sondern „sich selbst auch durch bloße Apperception […] ein bloß intelligibler Gegenstand“ ist, oder, wie Wolff erläutert, dessen „Handlung […] gar nicht zur Receptivität der Sinnlichkeit“, sondern nur „zur Bestimmung des Begehrungsvermögens durch rei­ ne Vernunft gezählt werden kann“.50 Dabei gelte es zu bedenken, dass dieser „intel­ ligible Gegenstand“ Kant zufolge überhaupt „‚das eigentliche Selbst‘ des Menschen ausmacht“51 – „das eigentliche Selbst“ und die Quelle der Autonomie. An dieser Stelle gilt es zu unterstreichen, dass damit überhaupt noch nicht aus­ gemacht ist, ob der Wille sich dazu bestimmen lässt, das Gute oder das Böse zu wollen. Die inhaltliche Auskunft ist in der Form des Gesetzes nicht enthalten. Die Qualifizierung zum praktischen Gesetz, für das das Gute steht, ist mit dem Be­ wusstsein vom „Grundgesetz“ noch nicht erfolgt.52 Deshalb werden das Gute und das Böse gleichermaßen als „Folgen der Willensbestimmung a priori“53 gedeutet. Erst wenn das Objekt des Wollens das Gute ist, vermag sich die Maxime des Han­ delns zum praktischen Gesetz zu qualifizieren. In dem Maße, wie die Wirklichkeit der Vernunft als Bewusstsein eines Wollens verstanden wird, das sich selbst Gesetz ist – eines Wollens, sofern es die Form des 47 Vgl.

Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, S. 535.

48 Ebd. 49 

Ebd., S. 536. Ebd., Anm. 39, S. 533, mit Bezug auf KrV, A 546 f./B 575. 51  Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, Anm. 39, S. 533. 52  Vgl. KpV, [62 – 64], S.  84 – 88. 53  KpV, [65], S. 88. 50 

A.  Die Quellen der Autonomie

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Gesetzes annehmen kann –, scheint sich aber auch der Status von Kants Freiheits­ begriff verändert zu haben. Zumindest lässt sich eine Veränderung im Verhältnis von Freiheit und Gesetz registrieren. Freiheit wird nicht mehr als Prinzip behaup­ tet, wie es noch in der Grundlegung der Fall war. Dort brachte die Idee der Freiheit vor allem noch die Autonomie der Vernunft – und nicht so sehr die Autonomie des Willens qua „Synthesishandlung“ der Vernunft (Wolff) – zum Ausdruck. In der späteren Version seiner Moralkonzeption von 1788 hat Kant Freiheit jedoch nicht (mehr) als Prinzip oder als Grund, sondern als Wirkung eines bestimmten gesetzesförmigen Begehrens aufgefasst. Mit der so veränderten (oder erweiterten) Auffassung von Freiheit scheint Kant von seiner Position in der Grundlegung von 1785 zumindest in diesem Punkt abgerückt zu sein. Um es noch einmal anders zu wenden: In der späteren Version der Kantischen Moralphilosophie ist Freiheit qua Normativität der Gründe zwar nach wie vor Erkenntnisgrund (ratio cognoscendi) des Sittengesetzes bzw. des Kategorischen Imperativs, doch der als Gesetz geltende Wille wird zugleich, wiewohl in einer tieferen Schicht, als Erkenntnisgrund der Freiheit behauptet. Die grundlegende Schicht für die „Beantwortung der Frage, wie kategorische Imperative (praktische Grundsätze) möglich sind“,54 ist demnach genau hier zu suchen: in dem Grundge­ setz der Vernunft, die mit dem „Handle so, dass …“ sich selbst die Anweisung gibt, die Verknüpfung des Willens mit dem Gesetz zu vollziehen, womit sie aber gerade die Vorgängigkeit der Autonomie des Willens vor allen anderen universalgültigen Geboten mit Forderungscharakter behauptet. Mit dieser gegenüber der Grundlegungsschrift expliziteren Fundierung der Frei­ heit und des Pflichtbewusstseins in der Autonomie des Willens hängt wohl auch die gegenüber der Grundlegung veränderte Zielrichtung der Deduktion in der zweiten Kritik zusammen. Während Kant in der Grundlegung die „Deduktion des obers­ ten Prinzips der Moralität“ – die transzendentale Deduktion des Kategorischen Imperativs – aus dem Freiheitsbegriff versucht, wird in der zweiten Kritik, die mit dem „Faktum der Vernunft“ die Akzente anders setzt, die Autonomie des „reinen Willens“ als Deduktionsprinzip der Freiheit und damit auch der praktischen Ge­ bote in Gestalt von kategorischen Imperativen begründet.55 Auffallend ist dabei 54  Heiner F. Klemme, Einleitung, in: Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hrsg. von Heiner F. Klemme/Horst D. Brandt, Hamburg 2003, S. IX–LXIII, hier: S. XXXIII. Allerdings macht Klemme in seinen Ausführungen nicht von der Unterscheidung zwischen dem Moralgesetz und dem Grundgesetz der Vernunft Gebrauch, die hier im Anschluss an Michael Wolff als eine für Kants Autonomieverständnis entscheidende Differenz ins Zen­ trum gerückt wurde. 55  Zwar hält Kant am Projekt der Deduktion auch in der zweiten Kritik fest, wie es Mi­ chael Wolff gegen die in der Forschung häufig vertretene Ansicht, Kant habe die Deduktion preisgegeben, ausführlich darlegt. Doch könne die Deduktion hier nunmehr als „Verteidi­ gung“ des „Grundgesetzes“, so Wolff, unternommen werden, und zwar als Verteidigung durch Zurückweisung möglicher Einwände – durch den Ausweis, dass sie „ihrerseits die Grenzen des berechtigten Vernunftgebrauchs verletzen“ (Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, S. 546).

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

die Verschiebung in der Rede vom Kategorischen Imperativ im Singular zu der von Imperativen im Plural, die wiederum darauf hindeutet, dass Kants Fokus sich von der Universalität des Sittengesetzes zur Betonung der Form von praktischen Grundsätzen hin verschoben hat.56 Deshalb spricht Kant auch von „ein[em] Faktum der Vernunft“ und will den bestimmten Artikel bezeichnenderweise vermeiden.57 Nach dem bisher Gesagten ergibt sich folgende Konstellation: Man hat es in Kants Moralphilosophie mit zwei unterschiedlichen Freiheitsbegriffen zu tun, die nicht aufeinander reduzierbar sind: Einerseits ist es die Freiheit, in diskursive Praktiken einzutreten, ein Teilnehmer von rationalen Begründungs- und Rechtfertigungspro­ zessen zu sein, und andererseits die gleichwohl fundamentalere Form der Freiheit, in der die eigene Gesetzgebung als allgemeine Gesetzgebung erfahrbar wird. Mit seiner Faktumslehre geht es Kant, mit anderen Worten, um diejenige Bedeutung der Autonomie, die zuvor schon als auktoriale Autonomie bezeichnet wurde. Über diese Bedeutungsschicht der Autonomie schweigt sich Hegel, wie bereits erwähnt, seltsamerweise aus, obwohl mit ihr seine eigenen Intentionen eigentlich vorweg­ genommen werden. Im Naturrechtsaufsatz hat Hegel von der „Rechtfertigung des Einzelnen als Bestehenden“ gesprochen, um die Aufgabe, mit der eine Philosophie des Rechts betraut werden sollte, zu formulieren. Diese Aufgabe sollte realisiert werden, indem eine Verbindung von individueller und allgemeiner Freiheit gedacht wird. Durch die bisherigen Reflexionen über das „Faktum der Vernunft“ ist deutlich geworden, dass selbstverständlich bereits Kant die Grundlage dafür geschaffen hat, diese Perspektive der komplexen Einheit von individueller und allgemeiner Freiheit zu erschließen. Interessant ist nun, zu sehen, welchen Wandel diese freiheitstheore­ tischen Überlegungen von Kant zu Hegel durchlaufen haben. Im Lichte dessen, was bisher über das Faktum der Vernunft gesagt wurde, ist es bezeichnend, dass die formgebende Kraft des Willens vor allen Imperativen im Plural, die als das unhintergehbare Element des Kantischen Autonomiebegriffs he­ rausgehoben wurde, in Hegels Phänomenologie unter veränderten Vorzeichen er­ neut zum Thema wird. Was Kant als die formgebende Kraft des Willens erschlos­ sen hat, führt Hegel gleichsam in die „Welt“ hinaus, indem er diese Kraft in der Phänomenologie bezeichnenderweise mit dem Begriff der „sittlichen Handlung“ 56 Genau hier, bei solchen praktischen Grundsätzen im Plural, die gleichwohl den Ansprüchen der Gesetzesform genügen, setzt Christine Korsgaard ein und weist ihre grundlegende Bedeutung für die Herausbildung von „praktischer Identität“ nach. In ihren Kant-Lektüren betont Korsgaard daher konsequenterweise nicht so sehr das Moment der Selbstgesetzgebung, sondern stellt die Selbstkonstitution („self-constitution“) unter dem Einheitshorizont des Formgesetzes des Willens ins Zentrum (vgl. hierzu Menke, Autonomie und Befreiung, insb. S. 677 – 679). 57  KpV, § 7, Anm., [31], S. 42 (Herv. T. S.). Michael Wolff macht gegen Dieter Henrichs Interpretation geltend, dass Kant an dieser Stelle von der Faktizität der Vernunft selbst spre­ che (vgl. Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, Anm. 2, S. 511 f., mit Be­ zug auf Dieter Henrich, Die Deduktion des Sittengesetzes, in: Alexander Schwan [Hrsg.], Denken im Schatten des Nihilismus. Festschrift für Wilhelm Weischedel, Hamburg 1975, S. 55 – 112, hier: S. 112).

A.  Die Quellen der Autonomie

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verbindet und in jener Handlung diejenige formgebende Kraft entdeckt, die nicht nur auf den Einzelnen zurückwirkt, sondern auch das Gemeinwesen zu transfor­ mieren vermag. Im Unterschied zu Kant beschreitet Hegel jedoch andere Wege – er nähert sich der Autonomie des Individuums in ihrer genuinen Verbindung mit den Prozessen des Wandels des Rechts oder, präziser ausgedrückt, durch die Aufde­ ckung der Asymmetrie im Verhältnis von Rechtsgenese und Rechtsbewusstsein,58 auf die sich die nun folgenden Erläuterungen konzentrieren werden. Dass es jedoch trotz dieser Horizontverschiebung gegenüber Kant nach wie vor um die Potenzen der frei handelnden Subjektivität geht, davon zeugt Hegels Entscheidung, den Be­ griff des „freien Willens“ noch in der Rechtsphilosophie – also dort, wo es um die Verwirklichung der Freiheit geht – zu dem grundlegenden Begriff schlechthin zu machen, denn „Wille ohne Freiheit ist ein leeres Wort, so wie die Freiheit nur als Wille, als Subjekt wirklich ist.“59

II.  Hegels Genealogie des Rechts 1.  Antigone als prototypisch handelnde Individualität? Paradigmatisch für die Struktur des gesetzhaften Begehrens, in der sich Allge­ meinheit mit Selbstadressierung verbindet, in der Eigenes und Allgemeines nicht getrennt sind, sondern sich im eigenen Lebensvollzug geltend machen, ist die Figur der Antigone aus Sophokles gleichnamiger Tragödie.60 Durch ihre Handlung ver­ körpert sie diese Struktur des gesetzhaften Begehrens in prototypischer Weise, aber auch in ihrer besonders radikalen, nackten Form. Aus diesem Grund scheint die Betrachtung dieser Tragödie besonders geeignet zu sein, um sich der Transfor­ mation sowohl des Rechts als auch der Öffentlichkeit zu vergewissern, die sich mit dieser Figur der Autonomie verbindet. In den Vorlesungen über die Ästhetik (1835) formuliert Hegel die berühmt ge­ wordene Gleichschaltungsthese, die den tragischen Konflikt zwischen Kreon und Antigone, der in der Tragödie verhandelt wird, als eine Opposition von zwei un­ versöhnlichen Prinzipien des Staates und der Familie deutet. Hegel sieht in der 58  Eine solche Asymmetrie konstatiert in Bezug auf Hegels Rechtsbegriff Jaeschke, Ge­ nealogie des Rechts, S. 300 f. 59  Hegel, GPR, § 4, Z, S. 46. 60  Christoph Menke unterstreicht diese Verbindung des „eigenen Gesetz[es]“, nach dem Antigone handelt, mit dem „eigenen Leben“, indem er auf Hölderlins Übersetzung der Tra­ gödie zurückgreift, in der Hölderlin gerade die Rückwendung auf das Individuelle, Eigene, die sich in Antigones Tat vollzieht, besonders hervorgehoben hat. So übersetzt Hölderlin den Ausruf des Chors mit: „Dein eigen Leben lebend, unter den Sterblichen einzig, gehst du hinab, in die Welt der Toten“; Schadewaldts Übersetzung dieses Passus lautet hingegen: „nach eigenem Gesetz gehst lebend du als einzige unter den Sterblichen“ (vgl. Christoph Menke, Innere Natur und soziale Normativität. Die Idee der Selbstverwirklichung, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt [Hrsg.], Die kulturellen Werte Europas, Bonn 2005, S. 304 – 352, hier: S. 305; vgl. auch ders., Tragödie im Sittlichen, Kapitel 3 und 4).

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Tragödie die Beschränktheit beider Standpunkte in ihrem jeweiligen „Pathos“ meisterhaft in Szene gesetzt. Aufgrund dieser Zurschaustellung der dialektischen Verstrickung beider vereinseitigten Positionen, die in ihrem unlösbaren Konflikt und in ihrem Scheitern dennoch aufeinander verwiesen bleiben, „erscheint“ He­ gel „die Antigone als das vortrefflichste, befriedigendste Kunstwerk“:61 „Antigone ehrt die Bande des Bluts, die unterirdischen Götter, Kreon allein den Zeus, die waltende Macht des öffentlichen Lebens und Gemeinwohls. […] So lebt z.B. Anti­ gone in der Staatsgewalt Kreons; sie selbst ist Königstochter und Braut des Hämon, so daß sie dem Gebot des Fürsten Gehorsam zollen sollte. Doch auch Kreon, der seinerseits Vater und Gatte ist, müßte die Heiligkeit des Bluts respektieren und nicht das befehlen, was dieser Pietät zuwiderläuft. So ist beiden an ihnen selbst das immanent, wogegen sie sich wechselweise erheben, und sie werden an dem selber ergriffen und gebrochen, was zum Kreise ihres eigenen Daseins gehört.“62 Die Deutung Hegels, dass Kreons Berufung auf das Staatswohl legitim sei, wird bis heute kontrovers diskutiert.63 Bereits Goethe hat sich Eckermanns Berichten zu­ folge von einer solchen Deutung distanziert: „Kreon handelt auch keineswegs aus Staatstugend, sondern aus Haß gegen den Toten. […] [S]o ist eine solche Menschen und Götter beleidigende Handlungsweise keineswegs eine Staats-Tugend, sondern vielmehr ein Staats-Verbrechen.“64 Im Vergleich zu Hegels Ästhetik-Vorlesungen fällt die Deutung der Figur der Antigone, die er in der Phänomenologie des Geistes angeboten hat, durchaus komplexer aus. Hier hat sich Hegel genau sie – Antigone – auserkoren, um die eigentümliche Struktur der handelnden Individualität in ihrer prototypischen Gestalt zu veranschaulichen. Dabei zeigt Hegel, wie eine Handlung dieser Art, in der ein Akt des eigenen Willens wirksam ist, unter den Bedingungen der antiken Sittlichkeit noch „ordnungszerstörend“65 wirkt. Er zeigt aber auch, wie Antigones Scheitern sich für die neue Ordnung in mehr als nur einer Hinsicht als prägend, wenn nicht gar als präformierend erweist.66 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III [1835/1842], in: ders., Werke, Bd. 15, S. 550. Ebd., S. 549. 63 Vgl. etwa Wolfgang Schadewaldt, Einleitung zur Antigone des Sophokles, in: So­ phokles, Antigone, übers. und hrsg. von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt am Main 1974, S. 81 – 122, hier: S. 118; Joachim Latacz, Einführung in die Tragödie, Göttingen 1993, der Antigone mit dem Widerstandsrecht gegen staatliche Willkür verbindet; Hellmut Flashar, Sophokles. Dichter im demokratischen Athen, München 2000, S. 64; vgl. auch Hans-Thies Lehmann, Erschütterte Ordnung. Das Modell Antigone, in: ders., Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002, S. 22 – 37. 64  Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens [1823 – 1832], in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaf­ fens, Münchner Ausgabe, hrsg. von Karl Richter, Bd. 19: J. P. Eckermanns Gespräche mit Goethe, hrsg. von Heinz Schlaffer, München/Wien 1986, S. 543 f. (28. März 1827). 65 Vgl. Jaeschke, Genealogie des Rechts, S. 296: „Bei seinem Debut in der – antiken – Rechtsgeschichte gilt der Wille weniger als ordnungsstiftend denn als ordnungszerstörend.“ 66  Vgl. hierzu Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 156 – 172. In der Antigone-Figur sehe Hegel „die nachsittliche Individualität selbst schon auf die Bühne gebracht: Die Tragödie 61 

62 

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Bezeichnend ist dabei der Ort, an dem Hegel Antigone als prototypisch handeln­ de Individualität inszeniert. In der Struktur der Phänomenologie des Geistes steht Antigone für die Auflösung der Homogenität eines sittlich integrierten Gemeinwe­ sens und für den Übergang zum „Rechtszustand“. In diesem Auflösungsprozess und diesem Übergang wird der Einzelne gewissermaßen überhaupt erst entdeckt.67 „Die Tragödie“, so erläutert Christoph Menke, „konfrontiert die Polis mit einer Erfahrung der einzelnen, die ihre sittliche Gerechtigkeit weder zu integrieren noch gänzlich zu unterdrücken vermag.“68 Diese Erfahrung hat aber wiederum „‚entsitt­ lichende‘ Folgen […] für den Begriff einer öffentlichen Gerechtigkeit […] (die sich dadurch in die des Rechtszustands transformiert).“69 Doch bevor dieser Übergang zum Rechtszustand zur Sprache kommt, soll zuerst der Frage, von welcher Art die „sittliche Handlung“ ist, die Hegel Antigone zuschreibt, nachgegangen werden, um im nächsten Schritt über die Spezifik des durch diese Handlung initiierten Bruchs mit der alten und des Übergangs in eine neue Ordnung nachzudenken. Worin besteht Antigones Handlung? Und inwiefern kann man überhaupt davon sprechen, dass darin die Freiheit eines neuen Typs gleichsam vorgezeichnet ist? Antigone widersetzt sich Kreons Verbot, ihren Bruder Polyneikes, der Staatsver­ rat begangen hat, zu bestatten. Darin folgt sie ihrem eigenen Zeus: „Mein Zeus berichtete mirs nicht“,70 lautet ihre Antwort in Hölderlins Übersetzung: „Daß es einen Gott gibt und seine Gebote gelten, heißt“, so kommentiert Christoph Menke diese trotzige Antwort, „daß es ihn für sie, ja, in ihr – vielleicht gar: durch sie? – gibt.“71 „Antigones Tat richtet sich nach Kreons Worten ‚gegen eine Welt‘,72 weil sie ihren Grund allein in dem hat, was sie selbst als das ihr eigne behauptet. In diesem Verhältnis zum Eigenen konstituiert Antigone sich als ein individuelles oder besonderes Selbst. Individualität ist nicht qualitative Besonderheit für andere, sondern gewinnt Wirklichkeit nur durch Selbstverwirklichung, im praktisch-her­ vorbringenden Bezug des Selbst zu sich.“73 Nach Hegel besteht diese Selbstbezüglichkeit darin, dass Antigone „wissentlich […] das Verbrechen begeht“: Sie leistet Widerstand, sie „[kennt] die Macht vorher“, bietet eine ‚Lösung‘ für die Frage nach der Individualität, […] die die theoretischen Mög­ lichkeiten ihrer Zeit zu übersteigen scheint“ (ebd., S. 159). 67 Vgl. Jaeschke, der von dem „Schritt von einem sittlichen Gemeinwesen in ein ‚allge­ meines Gemeinwesen‘“ und der damit verbundenen „Entdeckung ‚der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen, der subjektiven Freiheit‘“ spricht (ders., Genea­ logie des Rechts, S. 286 f.). 68  Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 157. 69  Ebd., S. 158. 70  Sophokles, Antigonä, übers. von Friedrich Hölderlin, in: Friedrich Hölderlin, Werke und Briefe, hrsg. von Friedrich Beißner/Jochen Schmidt, Bd. 2, Frankfurt am Main 1982, S. 737 – 782, hier: S. 752, vgl. Menke, Innere Natur und soziale Normativität, S. 304. 71  Menke, Innere Natur und soziale Normativität, S. 304. 72  Sophokles, Antigonä, S. 759. 73  Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 169.

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gegen die sie sich auflehnt, weil sie „sie für Gewalt und Unrecht, für eine sittliche Zufälligkeit nimmt“.74 Sie lädt Schuld auf sich, sonst wäre ihre Tat keine Handlung im emphatischen Sinn: „Solch einem Heros könnte man nichts Schlimmeres nach­ sagen, als daß er unschuldig gehandelt habe“, so Hegel in seinen Ästhetik-Vorlesun­ gen über die „dramatische Poesie“ der tragischen Konflikte.75 In der Phänomenologie heißt es: „[D]ie Vollbringung spricht es selbst aus, daß, was sittlich ist, wirklich sein müsse […].“76 Doch zur Einsicht in das Wirkliche kommt das Bewusstsein nach Hegel erst dann, wenn die Einseitigkeit seiner Tat durch Einsicht in die Schuld überwunden wird. Dies geschehe aber nur oder erst dann, wenn das Bewusstsein die „Macht“ als das „Entgegengesetzte“, gegen das Antigone „wissentlich“ aufbe­ gehrte, als die „seinige Wirklichkeit“, als die eigene Wirklichkeit des Bewusstseins „anerkennt“. Diese Erkenntnis wird aber erst als Resultat der tragischen Erfahrung möglich: „[W]eil wir leiden, anerkennen wir, daß wir gefehlt.“77 Diese Struktur, die Hegel hier beschreibt – handeln, Schuld auf sich laden, retrospektiv Einsicht erlangen, zu einem neuen Bewusstsein von sich vorstoßen – offenbart eine Asymmetrie, die sich auf andere Weise auch als eine Asymmet­ rie zwischen der Bewusstseinsgeschichte und der Genese des Rechts beschreiben lässt, auf die Walter Jaeschke hingewiesen hat.78 Antigones Akt der Individuali­ tätsbehauptung erweist sich zwar als eine Voraussetzung für die Genese bzw. die Transformation des Rechts, denn es muss überhaupt gehandelt werden, damit Frei­ heit wirklich wird: „[D]ie Vollbringung spricht es selbst aus, daß, was sittlich ist, wirklich sein müsse.“79 Doch was es überhaupt bedeutet, davon ein Bewusstsein zu erlangen, Person und Subjekt, ein willentlich Handelnder zu sein und auf die Entwicklung des Rechts Einfluss nehmen zu können, lässt sich wiederum „nicht ohne die Genese und Geschichte des Rechts begreifen“, unterstreicht Jaeschke:80 „Die Bewußtseinsgeschichte beginnt ja nicht mit dem Selbstbewußtsein von Per­ son und Subjekt; diese bilden zwar – nach der Seite eines sich selbst zunächst nicht durchsichtigen Ansichseins – die Voraussetzung der Genese des Rechts, aber ihr Selbstbewußtsein ist das Produkt der Rechtsgeschichte. Hierdurch aber wird das Verhältnis von Rechtsgeschichte und Bewußtseinsgeschichte asymmetrisch.“81 Ein entwickeltes Bewusstsein subjektiver Freiheit steht mit anderen Worten erst auf dem Boden einer Rechtsentwicklung, die sich mit Jaeschke wiederum als eine

74 

PhG, S. 348. Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 546. 76  PhG, S. 348. 77 Ebd. 78 Vgl. Jaeschke, Genealogie des Rechts, S. 300, allerdings ohne Bezugnahme auf Antigone. 79  Hegel, PhG, S. 348. 80  Jaeschke, Genealogie des Rechts, S. 300. 81  Ebd., S. 300 f. 75 

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„Geschichte der Freiheit“ begreifen lässt.82 Um ein Wissen von der eigenen Frei­ heit zu erlangen, ist man auf jene Rechtsentwicklung angewiesen. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Begriff der Handlung im Zuge dieser Entwick­ lung überhaupt erst Prägnanz gewinnt. Von Handlungen im eigentlichen Sinne zu sprechen, ist nämlich dort erst möglich, „wo ‚Handlung‘ nicht bloß auf objektiv gedachte Vorgänge wie Veräußerung, Leistung oder Unrecht bezogen, sondern als zurechenbare, rechtlich verschuldete Willenshandlung, als verantwortliche Tat und ‚als Äußerung der Subjektivität, als das Recht des subjektiven Willens begriffen wird.‘“83 Ein derart entwickelter Begriff der Handlung setzt jedoch „sowohl syste­ matisch als auch geschichtlich die Begriffe des ‚äußeren Rechts‘ und damit auch den Begriff der Person voraus“, so Jaeschke, wobei die „Ausbildung dieser Seite der Anerkennung des freien Willens [in die Neuzeit hineinreicht]“, und „[v]ielleicht […] auch heute noch nicht abgeschlossen [ist].“84 Wie könnte sie auch abgeschlos­ sen sein, möchte man ergänzen, wo doch auch andere – freiere – Formen von Sub­ jektivität gewiss möglich wären. Um diesen Prozess der rechtlichen Verwirklichung subjektiver Freiheit jedoch überhaupt in Gang zu bringen, musste eine Handlung neuen Typs exemplarisch ausgeführt werden und ins Bewusstsein treten. Das Neue an dieser Handlung lässt sich darin sehen, dass sie auf der Vorgängigkeit des eigenen Wollens (mit Kant: des eigenen Begehrens) vor allen Vorschriften und Regeln beruht und damit die Struktur der Autonomie nicht der Vernunft, deren Universalität menschlichen Handlungen vorgelagert sei, sondern des Willens realisiert. Trotz der innovativen Qualität dieser Handlung gilt es aber zu bedenken, dass man im Fall von Antigone von einem entwickelten Bewusstsein der subjektiven Freiheit selbstverständlich noch nicht sprechen kann. „Bei seinem Debut in der – antiken – Rechtsgeschichte gilt der Wille“, in Jaeschkes Erläuterung, „weniger als ordnungsstiftend denn als ordnungszerstörend. Er wird noch nicht als rechtserzeugend gedacht, weil er noch nicht als in sich berechtigt gedacht wird. Doch nur das, was als in sich berechtigt gilt, kann Recht erzeugen […].“85 Vor diesem Hintergrund stellt sich die entscheidende Frage, welche Anforderun­ gen erfüllt sein müssen, damit der Wille als „ordnungsstiftende“ Potenz zu seiner Wirksamkeit gelangen kann. Die Frage ist nicht beliebig. Mit ihrer Beantwortung steht nicht zuletzt ein entwickeltes Verständnis dessen auf dem Spiel, was es be­ deutet, ein Handelnder zu sein. Geht man von der oben beschriebenen Asymmetrie zwischen Rechtsgeschichte und der mit der Rechtsgenese verschränkten Bewusst­ seinsgeschichte aus, so hat man es einerseits mit der Frage nach der Berechtigung einer Handlung und andererseits nach der Erfüllung bzw. der Erfüllbarkeit von 82 

Ebd., S. 284 f. Ebd., S. 297 mit Bezug auf Gerhard Dulckeit, Philosophie der Rechtsgeschichte. Die Grundgestalten des Rechtsbegriffs in seiner historischen Entwicklung, Heidelberg 1959, S. 97, 108. 84  Jaeschke, Genealogie des Rechts, S. 297. 85  Ebd., S. 300 f. 83 

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

bestimmten Voraussetzungen, die ihre Anerkennung möglich machen, zu tun. Die eine Frage ist, wie eine Handlung, die auf der Autonomie des Willens basiert, als „in sich berechtigt“ anerkannt und geltend gemacht werden kann. Zugleich muss aber für die Anerkennung einer autonomen Handlung ein entwickeltes Verständnis etwa des Begriffs der Person bereits vorausgesetzt werden. Es scheint, als sei es nur unter der „Voraussetzung“ der Geltung des „äußeren Rechts“ möglich, zu dem Selbstbewusstsein vorzustoßen, ein autonom Handelnder zu sein, und ein Wissen von sich selbst als ‚rechtserzeugendem‘ Akteur auszubilden. Wie lässt sich dieser Spagat zwischen dem Vollzug einer Handlung, die den Anspruch erhebt, in sich berechtigt zu sein, auf der einen Seite und der geforderten Voraussetzung für ihre Anerkennung auf der anderen Seite erklären? Dieser Frage, wie die Kluft zwi­ schen den beiden, die sich kraft Asymmetrie zwischen der Rechtsgenese und der Rechtsgeschichte auftut, zu überbrücken ist, gelten weitere Ausführungen über die Genese des „nachsittlichen“86 Rechts. 2.  Das „Förmliche“ und „Gegenförmliche“: Die Genese des „nachsittlichen“ Rechts Es wurde die Frage aufgeworfen, wie der Übergang zwischen dem Vollzug der Handlung und der Anerkennung ihrer Berechtigung zu denken ist, zumal Letztere voraussetzt, dass man zu einem Verständnis des Personbegriffs bereits gelangt ist, um den besagten Anerkennungsakt vollziehen zu können, dann aber die Geltung des „äußeren Rechts“ bereits vorausgesetzt hätte. Lässt sich dieses Recht noch nicht voraussetzen, so bedarf es gleichsam eines Sprungs, um in die Lage versetzt zu werden, den autonomen Willen des Einzelnen als berechtigt anzuerkennen. Dass in dem, was wie ein Sprung erscheint, in Wahrheit ein komplexer Übergang zu denken ist – auch dafür ist Antigone eine exemplarische Tragödie. Hegel hat Antigone als einen Konflikt zwischen dem Privaten und dem Öffentli­ chen, zwischen dem Einzelnen und dem Staat gelesen und das wahrhaft Kunstvolle an dieser Tragödie darin gesehen, dass sie die wesentlichen Einsichten bereitge­ stellt hat, wie diese Konfrontation in einem höheren Dritten aufzulösen sei. Bereits Hölderlin hat das Faszinosum dieser Tragödie darin gesehen, dass hier ein „Gleich­ gewicht“ zwischen „förmlichem und gegenförmlichem“ zur Darstellung kommt: „Die Vernunftform, die hier tragisch sich bildet, ist politisch, und zwar republi­ kanisch“, so Hölderlin in seinen Anmerkungen zur Antigonä von 1804, „weil zwi­ schen Kreon und Antigonä, förmlichem und gegenförmlichem, das Gleichgewicht zu gleich gehalten ist.“87 Auf dieses Hölderlin-Zitat greift Hans-Thies Lehmann zurück, um zu illustrieren, wie die Tragödie die Unversöhnlichkeit zweier Logiken 86  Den Ausdruck „nachsittlich“ verwendet Menke in Bezug auf Antigone, die er als Ver­ körperung „nachsittlicher Individualität“ interpretiert (vgl. Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 159). 87  Friedrich Hölderlin, Anmerkungen zur Antigonä [1804], in: ders., Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Dietrich E. Sattler, Bd. 16: Sophokles, hrsg. von Michael

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auf die Bühne bringt – der Logik des Politischen, die durch Kreon verkörpert wird, und der Logik, die mit Antigone „ein Anderes der Politik […] eröffnet“.88 Folgt man Lehmanns Deutung, so kommt dieses „Gegenförmliche“ – im Ver­ hältnis zu dem, was unter Politik gemeinhin verstanden wird – in Antigones berühmtem Diktum „Zum Hasse nicht, zur Liebe bin ich“, wie es in Hölderlins Übersetzung heißt, besonders deutlich zur Sprache. Der Logik der Politik setzt Antigone die Familienliebe entgegen. Indem sie auf diese Weise „die Philia (Fami­ lienliebe) mit dem Begriff symphilein indirekt verabsolutier[t]“, gelingt es ihr aber, so Lehmann, „den politischen Diskurs als solchen aus den Angeln [zu heben], die Opposition von Feind und Freund, die das öffentliche Mit-Hassen des Feindes zur Staatsbürgerpflicht macht. Nicht Thesis einer ‚anderen‘ Politik, sondern ein Ande­ res der Politik ist eröffnet.“89 Antigones Haltung – dieses maßlose „Mit-lieben über die Zeit der Lebendigen hinaus“ – stellt aber Lehmanns Interpretation zufolge nicht nur „das Freund-Feind-Schema“, sondern auch „die Geltung rechtlich-politischer Verfahren als solcher in Frage, die ihre Legitimierung letztlich immer nur einer begrenzten und damit begrenzenden Auswahl der sozusagen ‚Stimmberechtigten‘ verdanken – einer Gemeinschaft, einem Wahlvolk, einer internationalen Verbin­ dung, im besten Fall der Mehrheit der Lebenden“.90 Dieses „Andere der Politik“, für das Antigones „Mit-lieben über die Zeit des Lebendigen hinaus“ steht, verbindet Lehmann mit einem „Bruch der Zeit“.91 Dabei könnte man die in der Zeit stehende Logik des politischen Handelns – in Ergän­ zung zu Lehmanns Deutung und vor der Folie der Ausführungen zu Kants „Fak­ tum der Vernunft“ – genauso gut mit der Logik der Rechtfertigung in Verbindung bringen, der die Kraft von Antigones gegen-politischer Handlung, die gerade kei­ ner Rechtfertigung bedarf, gänzlich unzugänglich bleiben muss. Beide widerstrei­ tenden Prinzipien bzw. ‚Logiken‘ des Handelns – Begehren versus Rechtfertigen – lassen sich nicht versöhnen, indem das eine sich dem anderen unterordnet und fügt. Vielmehr werden die Zuschauer der Tragödie zu Zeugen, wie sich, mit Hölderlin gesprochen, eine neue „Vernunftform […] [tragisch] bildet“, in der das „Förmliche“ und das „Gegenförmliche“, das gemeinhin ‚politisch‘ Genannte und das ‚Andere der Politik‘, durch die tragische Erfahrung veranlasst, ihre Gleichberechtigung für sich erkämpfen. In der Antigone-Tragödie wird die Kollision zwischen dem „Förmlichen“ und dem „Gegenförmlichen“ vorgeführt. Dergestalt scheint sie bereits auf den anderen Konflikt vorauszuweisen, den Hegel in der Phänomenologie im Abschnitt über den „Rechtszustand“ in veränderter Begrifflichkeit beschreibt – den Konflikt zwi­ Franz, Frankfurt am Main 1988, S. 411 – 421, hier: S. 421, vgl. hierzu: Lehmann, Erschütter­ te Ordnung. Das Modell Antigone, S. 29. 88  Lehmann, Erschütterte Ordnung. Das Modell Antigone, S. 32. 89 Ebd. 90  Ebd., S. 36. 91  Vgl. ebd., S. 32 ff.

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

schen der förmlichen Person, für die das Individuum eine bloße Besonderheit ist, die dem Interesse des Allgemeinen stets unterzuordnen sei, auf der einen Seite, und der gegenförmlichen Form eines Wollens, in welchem sich die Autonomie des Individuums behauptet, auf der anderen Seite. Entscheidend ist aber, dass durch Antigone eine eigentümliche Form des Wollens exemplifiziert wird, die nicht bloß punktuell auf ihrer eigenen Berechtigung besteht, sondern ihr Recht allgemein for­ dert. Die Unversöhnlichkeit des in Antigone inszenierten Konflikts besteht darin, dass das jeweils Andere „Unrecht“ ist: Das Andere ist für den jeweiligen Stand­ punkt bloße „Zufälligkeit“ und „Äußerlichkeit“, eine unberechtigte Setzung, eine Gewalt, die keine Berechtigung hat. Sieht man in diesem Konflikt die Unversöhnlichkeit von Rechtfertigen und Lie­ ben, Begehren oder Verlangen am Werk, so lassen sich darin genau diejenigen Elemente des Kantischen Autonomiebegriffs wiedererkennen, auf die zuvor hin­ gewiesen wurde: das rechtsförmige legislatorisch-repräsentative Verständnis von Autonomie auf der einen und die mit der Lehre vom „Faktum der Vernunft“ aus­ gesprochene Kraft des individuell-allgemeinen Begehrens auf der anderen Seite. Wie und wodurch wird man aber in den Stand versetzt, zu erkennen, dass beide Freiheitsformen – wenn man so will: ‚das Förmliche und das Gegenförmliche‘ – jede für sich Berechtigung reklamieren können? Es bedarf einer höheren Form des Rechts, die die jeweiligen Vereinseitigungen, die sich durch die Behauptung des Vorrangs92 der einen Freiheitsform gegenüber der anderen einstellen, zu un­ terlaufen vermag. Auf diese Weise bereitet die Tragödie, jedenfalls in der Form, wie Hegel auf sie in der Phänomenologie Bezug nimmt, schon die Einsicht vor, dass beide Dimensionen des tragischen Konflikts erst in einem höheren Recht ihre Gleichberechtigung zurückgewinnen und ihre Erfüllung finden werden.93 Erst in einer neuen Rechtsform werden die beiden konfligierenden Logiken ihr „Beste­ hen“ gegeneinander zu behaupten wissen, ohne einander zu zerstören. Damit er­ öffnet sich die Perspektive auf ein „nachsittliches“ Recht. 3.  Anforderungen an das „nachsittliche“ Recht Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass der neuen Qualität des Kon­ flikts, der mit der prototypisch autonomen, individualitätsbehauptenden Handlung Antigones aufkommt, nur mit einer neuen Auffassung von Recht beizukommen ist. Diese gleichsam höhere Gestalt des Rechts soll so verfasst sein, dass sie der 92 Zur Problematisierung des jeweiligen Verhältnisses zwischen „Authentizität“ und „Regierung“, das sich aus der Vorrangbehauptung des einen gegenüber dem anderen er­ gibt – einmal als „Vorrang des Individuums“ in der „Selbstverwirklichung“ und einmal als „Herrschaft des Rechts“ mit Zwangscharakter – siehe Menke, Tragödie im Sittlichen, II. 4 b) und c) sowie III. 6 a). 93  Zu der Hegelschen Figur, „daß die eine Form nur als die andere erfüllt wird“, vgl. Dieter Henrich, Die Formationsbedingungen der Dialektik. Über die Untrennbarkeit der Methode Hegels von Hegels System, in: Revue internationale de philosophie 36 (1982), S. 139 – 162, hier: S. 155.

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Komplexität der tragischen Erfahrung gerecht werden kann. Denn nur so kann sichergestellt werden, dass diese Form des Rechts in der Tat als eine Leistung, mit Hegel zu reden: als „ein Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben“,94 zu bewerten ist und nicht als bloße Ideologie des Rechts. Das Profil der an dieses Recht zu stellenden Anfor­ derungen ergibt sich aus der Einsicht, dass es zwei Alternativen, die sich beide dis­ kreditiert haben, unterlaufen muss: „Nachsittlich“ kann es kein traditionales Recht der Sittlichkeit mehr geben, in dem das Gemeinwohl den Vorrang vor dem Wohl des Einzelnen behält, aber auch das moderne naturrechtliche Rechtsverständnis, in dem Rechte des Einzelnen etwa dem Staat vorgelagert wären, erweist sich als ungenügend, die nach der Erfahrung der Tragödie an das Recht gestellten Anfor­ derungen zu erfüllen, die gerechten Verhältnisse, in Christoph Menkes Formulie­ rung, „nachsittlich“ zu realisieren. Wie diese doppelte Anforderung zu erfüllen ist, die durch die irreduzibel „tra­ gische Kollision“ zwischen dem Einzelnen und dem Gemeinwesen entstanden ist bzw. in dieser Kollision vorgezeichnet war, wird – in Menkes Interpretation – in derjenigen Formel zum Ausdruck gebracht, die Hegel zur Bestimmung des Rechts im Kapitel über den „Rechtszustand“ verwendet. Gemeint ist die Hegelsche Be­ stimmung des Rechts als eines Zustands der „Gleichheit, worin Alle als Jede, als Personen gelten“.95 Menke sieht in dieser Formel „eine Gestalt der Gerechtigkeit vor aller weiteren Unterscheidung von Juridischem und Moralischem“ zum Ausdruck gebracht.96 Diese Form der Gerechtigkeit beruht auf dem Prinzip der „gleiche[n] Berücksichtigung aller Personen“ und lässt sich wiederum auf zweierlei Weise verstehen – ideologiekritisch und in einer Lesart, die über Ideologiekritik hinaus­ geht.97 Ideologiekritisch gelesen, zielt diese Formel darauf ab, auf das Ungenügen von Rechtsbegründungen in der modernen natur- und vernunftrechtlichen Traditi­ on hinzuweisen. In dieser Lesart der Gleichheitsformel gilt der Person-Status des Subjekts als rechtsbegründend. Doch dieser Status wird hier bereits vorausgesetzt, während sein Ursprung in dieser Rechtsbegründung ausgeblendet wird und völ­ lig uneinsichtig bleiben muss. Diese Voraussetzung ist aber deshalb problematisch, weil sie, in Menkes Formulierung, der „Naturalisierung von Gewordenem“ gleich­ kommt.98 Darin sei das ideologische Moment dieses Rechts zu sehen,99 weil ein geis­ tiges Element dieses Rechts sich darin selbst als etwas Naturhaftes missversteht. Mit der Rede von Naturalisierung ist angezeigt, dass eine dafür anfällige Rechtskonzeption dem Charakter des Geistigen nicht gerecht wird. Ein Fall einer 94  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte [1837], in: ders., Werke, Bd. 12, S. 32. 95  PhG, S. 355. 96  Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 205. 97 Ebd. 98  Ebd., S. 207. 99  Vgl. ebd.

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

solchen unzulässigen, ja falschen Naturalisierung des Rechts ist zum Beispiel die Vorstellung von naturrechtlich vorgelagerten Rechten, denen Hegel, wie bereits erwähnt, unentwegt skeptisch gegenüberstand. Auf das Problem der Instrumenta­ lisierung dieser Rechte für Privatzwecke, die für Hegel Grund genug war, Indivi­ dualrechten gegenüber überhaupt Vorbehalte zu hegen, hat Gertrude Lübbe-Wolff hingewiesen: Deutet man Rechte so, als seien sie dem Staatsverband vorgelagert, und fasst man sie, in den Dienst des liberalen Anliegens gestellt, als Abwehrrech­ te des Individuums gegen den Staat auf,100 so ist in der Tat nicht zu sehen, wie eine Instrumentalisierung dieser Rechte verhindert werden kann. Vielmehr scheint dem instrumentellen Gebrauch dieser Rechte Tür und Tor geöffnet: Auf die natur­ rechtliche Begründung der Rechte sich zurückziehend, können die betreffenden Akteure, dem Anschein nach, stets beliebig über sie verfügen. Auf diese Weise erliegt man aber einem groben Missverständnis des Rechtsbegriffs. Aus Hegels Sicht „[ist] es einer der häufigsten Missgriffe der Abstraktion […], das Privatrecht wie das Privatwohl als an und für sich gegen das Allgemeine des Staats geltend zu machen“.101 Eine der problematischsten Seiten des naturalisierten Rechts ist Menke zufolge darin zu sehen, dass „[d]ie rechtliche Ideologie […] den gleichheitsfundierenden Status der Rechtsperson als unbefragte Tatsache voraus[setzt] (oder […] ihn aus einer tieferliegenden Tatsache wie dem ‚Selbstbewußtsein‘ ab[leitet])“.102 Deshalb seien auch diejenigen Rechtskonzeptionen nicht gegen den Ideologieverdacht ge­ feit, die im Gefolge der „idealistische[n] Rechtsbegründung bei Kant und Fichte“ formuliert werden.103 In der Tat hängt Hegels Kritik an modernen naturrechtlichen Entwürfen, auch in ihrer vernunftrechtlichen Gestalt, damit zusammen, dass sie die rechtliche Gleichheit der Personen zwar begründen, die Autonomie der Person als Individuum jedoch nicht im vollen Umfang ernst nehmen. Menke fasst dieses Desiderat unter dem Stichwort des ungelösten Problems von Authentizität und In­ dividualität zusammen, dem im modernen Natur- und Vernunftrecht (noch) nicht zufriedenstellend Rechnung getragen werden konnte.104 Dass dieser Vorwurf der unzureichenden Würdigung der Autonomie des Ein­ zelnen tatsächlich einen grundlegenden Horizont von Hegels Kant-Kritik bildet, wurde vermittels der Rekonstruktion der Motive seiner Kritik sichtbar gemacht. Auch Walter Jaeschke sieht die entscheidende Begrenzung des Naturrechts und Vernunftrechts, aus Hegels Sicht argumentierend, in dem heteronomen Moment, das diesen Rechtsentwürfen (noch) anhaftet und von dem sich dieses Recht nicht Lübbe-Wolff, Über das Fehlen von Grundrechten, S. 439 – 442. Hegel, GPR, § 126, S. 237. 102  Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 207. 103  Vgl. ebd. 104  Vgl. die Kant-Diskussion in Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 244 – 251; vgl. auch die Diskussion um die Unerklärbarkeit des Scheiterns, insbesondere die Einwände, die Pippin gegen Korsgaards Perfektionismus kantisch-platonischer Prägung vorgebracht hat (siehe oben Zweites Kapitel, Teil C, Abschnitt II, 3 c). 100 Vgl. 101 

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befreien kann: „Das Naturrecht hat sich bis in seine rationalistische Ausformung […] vom Prinzip der Heteronomie nicht völlig gelöst; es hat der rechtssetzenden und verpflichtenden Kraft des Willens weniger Vertrauen entgegengebracht, als der zum Inbegriff des Gerechten und Mächtigen stilisierten Entäußerungsgestalt eben dieses Willens.“105 Die „Entäußerungsgestalt“ manifestiert sich, so ließe sich die Überlegung ergänzen, zum Beispiel in der Sakralisierung des Rechts oder in Ge­ stalt des äußeren Zwangsrechts. „Und damit hat es den letzten Schritt zum Selbstbe­ wußtsein der Freiheit verweigert“, so Jaeschke in Aufnahme der kritischen Einwän­ de, die Hegel gegen das Natur- und Vernunftrecht gleichermaßen vorgebracht hat.106 Über die Äußerlichkeit und Heteronomie des Rechts hinauszugelangen, dem es aufgrund der „unbefragten Tatsache“ eines bereits gegebenen Personen- und Sub­ jektstatus an Freiheit noch mangelt, würde bedeuten, dieses Recht mit einer Frage zu konfrontieren, die „in der rechtlichen Ideologie unbeantwortet [bleibt]“, so Men­ ke: Es ist die Frage, „[w]as es […] heißt und wie es dazu kommt, daß die Subjekte als Personen betrachtet und berücksichtigt werden“.107 Für die Beantwortung dieser Frage ist allerdings erneut die Tragödie besonders aufschlussreich. Denn unter Be­ rücksichtigung der Tragödie lässt sich, wie bereits angedeutet, sowohl das Problem bestimmen, auf das die Abstraktheit des Rechts reagiert, als auch vor der Folie die­ ses Problems ermessen, worin die Leistung der Abstraktheit des Rechts gegenüber dem alten Modell der sittlichen Gerechtigkeit der Polis besteht. Und so lässt sich Hegels Formel von der „Gleichheit, worin Alle als Jede, als Personen gelten“108 mit einem Male auch anders – nicht mehr als Teil einer Ideologiekritik – deuten. Die Gestalt des Rechts, das „Gleichheit“ realisiert, „worin Alle als Jede, als Personen gelten“, zeichnet sich, wie Christoph Menke rekonstruiert hat, durch den Auftrag aus, eine doppelte Abstraktionsleistung zu vollziehen. Dieser Auftrag, dessen Elemente im Folgenden zu erörtern sein werden, ergibt sich aber aus dem durch die Tragödie vorgegebenen Problem. Dies führt der Gang der Argumentation in Hegels Phänomenologie vor Augen. Das „Problem“, das „durch die Abstraktheit des Rechts aufgelöst werden soll, ist die [tragische Kollision] zwischen sittlicher und singularer Gerechtigkeit“.109 Die spezifische Verfasstheit dieser „Kollision“ wirkt sich jedoch ganz entscheidend darauf aus, wie die Lösung dieses Problems überhaupt aussehen kann, d.h. die Auflösung des Problems, die in Gestalt der rechtlichen Gleichheit geboten wird, ist durch die Verfasstheit des tragischen Kon­ flikts gleichsam präformiert. Berücksichtigt man diesen Horizont, so gewinnt rechtliche Gleichheit ein Pro­ fil, das von den Entwürfen des rationalen Naturrechts abweicht. Beansprucht man, Gleichheit in diesem Sinne zu denken, so muss sie – wie Menke demonst­ 105 

Jaeschke, Genealogie des Rechts, S. 296.

106 Ebd.

Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 207. Hegel, PhG, S. 355. 109  Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 211. 107 

108 

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

riert hat – in der Lage sein, eine „doppelte Abstraktion“ zu vollziehen. Auch von einer doppelten „Entgrenzung“ und „Überschreitung“ ist die Rede:110 „Denn die Allgemeinheit des Rechts unterscheidet sich von der sittlich konkreten der Polis dadurch, daß sie sich auf die einzelnen unabhängig von ihrer Mitgliedschaft in einer sittlichen Gemeinschaft bezieht: Sie gilt den einzelnen nicht mehr als Mit­ gliedern einer sittlichen Gemeinschaft. […] Die kollisionslösende Abstraktion im Recht transformiert die öffentliche Gerechtigkeit von einer sittlichen Integration im Rahmen eines Volkes in eine Unparteilichkeitsreflexion im Blick auf alle. […] Die öffentliche Gerechtigkeit kann sich nur singularisieren und die einzelnen als Individuen berücksichtigen, wenn sie ihre Begründung und Begrenzung auf eine sittliche Gemeinschaft auflöst und universal wird.“111 Darin besteht die erste Abstraktionsleistung. Mit der Überschreitung der Logik der Gemeinschaft oder der Mitgliedschaft ist der neue Gesichtspunkt der Gleich­ heit jedoch nur zum Teil realisiert. Verlangt wird ebenso sehr noch eine zweite Ab­ straktion, die auf die „Überschreitung auch der singularen Gerechtigkeit“112 zielt, die „in (häuslicher) Sorge und (tragischem) Mitleid“ nicht mehr auf die „sittlich[e] Einbettung“ angewiesen ist.113 Eine so verstandene „entgrenzte“ Form von „sin­ gulare[r] Gerechtigkeit [ist] zwar nicht mehr sittlich konkret“, so Menke, „aber sie ist individuell konkret: Die singulare Gerechtigkeit gilt den einzelnen in ihrem individuell authentischen Guten.“114 Nimmt man den Faden der zuvor im Anschluss an Andreas Wildt entwickelten Überlegungen wieder auf, so könnte man auch sagen, dass die zweite Abstraktion insofern das sittlich Konkrete der „singularen Gerechtigkeit“ überschreitet, als sie sich auf den Einzelnen in einer spezifisch individualisierenden und spontanen Wei­ se bezieht, und zwar auch dann, wenn keine „persönliche Verbundenheit“ besteht: „‚Persönliche‘ Hilfe, Takt, Dankbarkeit, Versöhnung, usw. beziehen sich zwar in individueller Weise auf bestimmte Personen, aber sie bringen nicht notwendig per­ sönliche Verbundenheit zum Ausdruck oder hervor.“115 Auf diese persönliche Be­ zugnahme auf den Einzelnen bei gleichzeitiger Wahrung von Distanz wird noch zurückzukommen sein, wenn es darum gehen wird, die zweite ‚Abstraktions­ leistung‘, die durch das moderne Recht ermöglicht wurde, anhand der Frage nach Sozialität und der Gesellschaftsbildung zu diskutieren und in einem Begriff der Öffentlichkeit weiter zu konkretisieren. Diese Überlegungen sind nicht so leicht zu fassen, weshalb sie für einen Moment noch zurückzustellen sind. Demgegenüber ist die erste ‚Abstraktion‘ greifbarer, weshalb sie zuerst diskutiert werden soll. 110  Vgl. insb. Menke, Tragödie im Sittlichen: „Tragische Kollision und rechtliche Abs­ traktion“, S.  210 – 214. 111  Ebd., S. 212 f. (Herv. T. S.). 112  Ebd., S. 213. 113 Ebd. 114 Ebd. 115  Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 119.

A.  Die Quellen der Autonomie

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Die besagte erste Abstraktionsleistung des Rechts wurde als Überschreitung der „sittlichen Gerechtigkeit“ bezeichnet. Diese Überschreitung tritt derart sichtbar zutage, dass sie sich innerhalb der Rechtsentwicklung förmlich beobachten lässt. So spricht Walter Jaeschke in Bezug auf die Entwicklung des Rechts von den Ver­ änderungen, die insbesondere im „Geltungsmodus des Rechts“ auftreten und sich auf die Formel „von ‚Wirkformen‘ zum Willensakt“116 bringen lassen: Dabei tre­ ten im Zuge dieser Veränderungen in der Geltungsweise des Rechts gerade solche „Wirkformen“ – etwa „Wortformeln oder Handlungsriten“ – zunehmend zurück, „die die Geltung des Rechts durch seine Verankerung in äußeren Akten und For­ men sicherstellen sollen“.117 Folgt man dem Befreiungsgang von Hegels Geistbe­ griff, so lässt sich diese Bewegung weg von „äußeren Akten und Formen“ Jaeschke zufolge „als ein Weg von außen nach innen charakterisieren“.118 Mit zunehmender Einsicht in den willensbasierten Rechtsbegriff, in dem Subjektivität und Recht nicht im Widerspruch zueinander stehen, und mit zunehmendem Bewusstsein von der Urheberschaft des Rechts treten äußere Handlungsriten zurück und verlieren gegenüber Akten, in denen sich der Wille bekundet, an Bedeutung.119 Dabei liegt der Sinn von Hegels Formel vom „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ gerade nicht darin, so Jaeschke, „daß die Rechtsverhältnisse sich ständig ein Stückchen freiheitlicher gestalten – so wie im Frühling die Welt schöner wird mit jedem Tag. Er liegt vielmehr darin, daß der Wille fortschreitend als eine nicht allein wirklichkeitsgestaltende, sondern rechtsgestaltende Potenz erkannt und anerkannt wird – daß erkannt wird, daß er dem Gesetz nicht bloß unterworfen ist, sondern daß er es selber gibt und daß es sich auch gar nicht anders geben läßt als nur durch ihn selbst, weil alle Normativität allein in ihm ihren Ursprung hat.“120 Von diesen Erläuterungen ausgehend lässt sich der Bogen zurück zu Hegels Na­ turrechtsaufsatz schlagen, wobei sich die Schwerpunkte der bisherigen Analyse folgendermaßen markieren lassen: In Jaeschkes Bezugnahme auf den Willen als „rechtsgestaltende Potenz“ kommt diejenige Autonomiebestimmung Kants noch­ mals zur Sprache, die Hegel an einer Stelle im Naturrechtsaufsatz zwar lobend erwähnt, aber durch das Übermaß der Kritik an Kant zugleich bedauerlicherweise überblendet hat: Diese Kritik, so hat die Rekonstruktion gezeigt, gilt jedoch der an­ deren, am Kategorischen Imperativ orientierten Ausübungsweise der Autonomie. Die Autonomiefigur hingegen, in der sich die Selbstadressierung und der Allge­ meinheitsanspruch verbinden, wird von Hegel im Naturrechtsaufsatz – nimmt man den Gehalt seiner Kritik an Natur- und Vernunftrechtsentwürfen ernst – gerade propagiert. Diese Form der Autonomie wird von Hegel zwar nicht als eine solche wahrgenommen, die, wie am Faktum der Vernunft expliziert, bereits in Kant ihren maßgeblichen Vordenker und Theoretiker hat. Und dennoch haben die bisherigen 116 

Jaeschke, Genealogie des Rechts, S. 298.

117 Ebd. 118 Ebd. 119  120 

Vgl. ebd., S. 298 f. Ebd., S. 299.

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Rekonstruktionen der Hegelschen Kritik gezeigt, dass es ihm, wie schon mehrfach betont, darum geht, genau diese Form von Autonomie zu verteidigen und in ihrem normativen Gehalt auszuweisen. Der Unterschied zu Kant tritt allerdings in der Reflexion über die Praxis und Formen der Verwirklichung dieser Gestalt der Autonomie deutlich zutage: Genau genommen bestimmt Hegel den Ort der Verwirklichung dieser Figur der im freien Willen gründenden Autonomie anders als Kant. Hegel macht geltend, dass diese besondere, selbst für Kant „befremdlich neue“ Form der Autonomie sich nicht im Subjekt erfüllt, nicht in der Weise der spezifischen Bezüglichkeit der subjektiven Vermögen – des Denkens und Begehrens – aufeinander. Vielmehr ist es das Recht, in dem sich diese Form der Autonomie realisiert. Auf diese Weise verschiebt sich der Fokus vom Subjekt – und somit auch von der intersubjektiven Praxis der Recht­ fertigung – hin zur Reflexion über das komplexe Verhältnis von „Rechtsgeschichte und Rechtsgenese“, die von nun an als Medien der Verwirklichung von Freiheit in der Welt121 ins Zentrum der freiheitstheoretischen Reflexion rücken. Wie im ersten zeitdiagnostischen Kapitel bereits erörtert, besteht in dieser innovativen Einsicht nicht nur die Differenz zu Kant, sondern auch Hegels entscheidendes Novum im Verhältnis zu den Entwürfen des neuzeitlich-modernen Naturrechts: Naturrechts­ denken, das „die Formen des Rechtsbegriffs und seine Geltungsgrundlage in einer nicht-geschichtlich gedachten Vernunftnatur aufzuweisen [sucht]“,122 wird zu ei­ nem Denken, das Hegel fremd ist. Vor diesem Hintergrund kommt es darauf an, zu verstehen, wie diese rechtsge­ staltende Potenz zu denken ist, die mit der ‚anderen‘ Dimension der Autonomie, die nicht auf das Moment der Unterwerfung unter fremde Gesetze verengt werden kann, verbunden ist. Da die „rechtsgestaltende Potenz“ des Willens sowohl befrei­ end wirkt als auch, in Jaeschkes Formulierung, den „Ursprung“ „alle[r] Normati­ vität“ bildet, stellt sich die Frage, wodurch diese Form von Autonomie ermöglicht wird. Diese Frage nach den Ermöglichungsbedingungen von Autonomie führt zu der bereits erwähnten ‚zweiten Abstraktionsleistung‘ zurück, von der behauptet wurde, dass sie subtileren Mechanismen folgt als diejenige Gestalt der rechtlichen Gleichheit, die sich – in Überschreitung der Einbettungsformen des Einzelnen in sittliche Gemeinschaften – an der Universalität und Unparteilichkeit orientiert. Die Gleichheit der Personen vor dem Recht zu behaupten, bedeutet Christoph Menke zufolge, „die Erfahrung der Kollision“ immer wieder neu machen zu müs­ sen, „die zwischen den Ansprüchen auf Allgemeinheit und auf Einzelheit in ihrer sittlich und individuell konkreten Gestalt aufbricht“.123 Die Herausforderung für eine nachsittlich verfasste politische Kultur bestehe darin, dieser Erfahrung ge­ recht zu werden, denn wohlverstanden gehöre diese Erfahrung „nicht in die Vorge­

121 

Vgl. ebd., S. 284 – 291. Ebd., S. 285. 123  Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 226. 122 

A.  Die Quellen der Autonomie

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schichte, sondern zur Struktur des Rechtszustands“ selbst.124 Wird das Recht zum Ort dieser Erfahrung, so muss es sich durch eine bestimmte Weise des Bezugs auf den Einzelnen auszeichnen, die für nachsittliche Verhältnisse konstitutiv ist. Der Sinn dieses Bezugs wird in der „zweiten Abstraktionsleistung“ festgehalten, die die „singulare Gerechtigkeit“, wie es Menke formuliert, zu einer „individuell kon­ kreten“ zu transformieren vermag. Erst bei dieser Abstraktionsleistung handelt es sich um eine Bewegung, in der so etwas wie eine konstruktive Wendung der Ideo­ logiekritik des Rechts angelegt ist. Diese Wendung ist Hegel im Naturrechtsaufsatz schuldig geblieben. Es handelt sich aber, wie mit der Rede vom Ausgriff auf ein „neues“ Rechtsverhältnis zumindest angedeutet werden konnte, um ein Recht, das gegenüber dem traditionalen und vernunftrechtlich modernen Recht ein gleichsam noch moderneres Profil aufweist. Dieses Recht wird zum Ort der Ermöglichung einer individuierenden Bezugnahme auf den Einzelnen. Wie eine rechtliche Abstraktionsleistung mit der spezifischen Individuierung des Einzelnen zusammengedacht werden kann, erläutert Menke wie folgt: „Soll sich nun die tragische Kollision von singularer und sittlicher Gerechtigkeit dadurch auflösen lassen, daß der Bezug auf die einzelnen nicht mehr kollidierendes Ge­ genüber, sondern integraler Bestandteil einer öffentlichen Gerechtigkeit ist, dann bedarf es eines abstrahierenden Bruchs nicht nur mit der sittlich konkreten Allge­ meinheit, sondern auch mit der individuell konkreten Gestalt der singularen Ge­ rechtigkeit; auch ihr Bezug auf die einzelnen muß abstrakt werden. Die öffentliche Gerechtigkeit des Rechts kann alle einzelnen nur berücksichtigen, wenn sie sie jeweils nicht als diese, sondern als jeden einzelnen berücksichtigt“.125 Auch hier gilt es allerdings, die Leistung der ersten Abstraktion nicht aus dem Blick zu verlieren, will man das Spezifische an der zweiten ins Auge fassen: „Der Rechtszustand bezieht sich nicht auf die einzelnen in Verwirklichung ihres je besonderen Guten. Sondern auf die abstrakt gefaßten allgemeinen und gleichen Bedingungen für die Formulierung und Verwirklichung des individuell besonde­ ren und verschiedenen Guten.“126 Den Unterschied zwischen den zwei Gerechtig­ keitsdimensionen, die sich gemäß der jeweiligen Abstraktionsleistung abzeichnen, bringt Menke zum Ausdruck, indem er auf die in die Gerechtigkeitsprozesse Invol­ vierten verweist: „Die erste Dimension rechtlicher Abstraktion bezieht sich darauf, zwischen wem Gerechtigkeit herrscht: nicht mehr in der sittlichen Gemeinschaft eines Volks, sondern zwischen allen Personen. Die zweite Dimension rechtlicher Abstraktion bezieht sich darauf, als wen die Gerechtigkeit ihre Adressaten berück­ sichtigt – wie sie sie ‚adressiert‘: nicht mehr als besondere Individuen, sondern als gleiche Personen.“127 124  Vgl.

ebd. Ebd., S. 213. 126  Ebd., S. 214. 127  Ebd., S. 215, mit Bezug auf Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt am Main 1991, S. 31 f. 125 

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Die Frage der Adressierung der Gerechtigkeit betrifft ganz unmittelbar die Im­ plikationen von Hegels Auseinandersetzung mit Kant. Dass jeder als (potentieller) Adressat der Gerechtigkeit zu berücksichtigen sei, markiert eine Errungenschaft und zugleich eine immerwährende Aufgabe für eine politische Kultur, die über die problematische Gleichsetzung von moralischen Verpflichtungen mit Forderungen hinauszugehen vermag. Wenn die Adressierung der Gerechtigkeit sich mit einem Male auf jeden erstreckt, so gilt sie nicht nur denjenigen, deren Forderungen und Ansprüche – aus welchen Gründen auch immer – bereits als legitime Forderun­ gen und Ansprüche erkannt werden können. Nur wenn man in der Lage ist, diese Struktur zu überschreiten oder, mit Christoph Menke zu reden, eine „rechtliche Abstraktion“ hinsichtlich der Adressierung der Gerechtigkeit zu vollziehen, lässt sich überdies eine Befreiung von der (ontologisch vorgegebenen) Festlegung etwa auf eine bestimmte soziale Rolle denken, eine Befreiung, wie sie ohnehin für den Übergang der Polis-Sittlichkeit zur Gesellschaft als maßgeblich rekonstruiert wur­ de und auf die im Folgenden unter dem Aspekt der Gesellschaftsbildung noch zu­ rückzukommen sein wird. Für die extreme Form der Überschreitung des bereits als legitim Anerkann­ ten bei gleichzeitiger Übertretung der geltenden sozialontologischen Festlegungen steht, wie bereits diskutiert, die Figur der Antigone. Hegels Überlegungen führen vor Augen, dass mit Antigones Handlung nicht zuletzt deshalb etwas entschieden Neues in die Welt kommt, weil sie nicht nur das Gesetz zu ihrem eigenen macht und zugleich allgemein handelt, sondern auch weil sie ebenso sehr auch von sozial­ ontologischen Festlegungen unwiderruflich abrückt. Auch deshalb lässt sich ihre Handlung, ganz im Sinne von Menkes ‚anderer‘ Antigone-Lektüre, als ein Prozess, als eine Abfolge von Schritten der Individualisierung verstehen: Über den „Bezug auf die jeweils einzelnen in Bestattung und Totenkult“ hinausgehend, wird mit dem „zweite[n] Schritt der Individualisierung“ durch die exemplarische Handlung Anti­ gones auch die „Außenperspektive auf die einzelnen als ein ‚Sein‘“ durchbrochen, dies aber „[führt] zu ihrer Binnenperspektive als ein selbstbezogen tätiges Selbst, das sich als besonderes hervorbringt“.128 Mit der Rückwendung auf das handelnde Selbst wird die ontologische Bestimmung und Festlegung des Einzelnen auf ein „Sein“ innerhalb der Gemeinschaft überschritten. Dies lässt sich so verstehen, dass gutes, gelingendes Leben mit diesem Überschreiten der Sozialontologie im Recht nicht mehr aus dem sittlichen Erfahrungszusammenhang selbst begreifbar werden kann, ohne dass es zugleich als von Subjekten hervorgebracht und als durch sub­ jektive Willensakte veränderbar aufgefasst wird. Die Auseinandersetzung mit Hegels Antigone-Lektüre erlaubt es, darüber hin­ aus noch einen weiteren neuen Gesichtspunkt einzuführen: Es ist ein Zusammen­ hang, der bisher noch nicht zur Sprache kam, dass Selbstbezüglichkeit und freies Selbstverhältnis, die für die Werdung des Einzelnen zum Rechtssubjekt unver­ zichtbar sind, in ihrer Genese so gedacht werden müssen, dass sie aus dem ‚Geist‘ der Familie erwachsen. Dies besagt, dass die für die Rechtsordnung relevanten 128 

Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 160.

A.  Die Quellen der Autonomie

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Hinsichten auf den Einzelnen bereits in der Familie eingeübt werden: „Im intimen Anerkennen gewinnen die einzelnen ihre Besonderheit für andere und ein Verhält­ nis zu sich als besondere.“129 Es ist daher kein Zufall, dass ausgerechnet das „göttli­ che Gesetz“ der Familie und dessen Befolgung (die durch Antigones Tat, die gegen das „menschliche Gesetz“ aufbegehrt, verkörpert wird) eine Wirkung entfaltet, die die Kraft hat, das sittlich-homogene Gemeinwesen nicht nur aufzulösen und zu zerstören, sondern in etwas anderes zu transformieren. Mit Antigone wird nicht nur der Blick auf das ‚gegenförmige‘ Handeln gelenkt, das eine politische Kultur verändern kann. Hegels Antigone-Lektüre der Phänomenologie führt auch vor Augen, dass die Grenzen zwischen ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ in Wahrheit fließend sind. Hegel beschreibt einen Prozess, in dessen Zuge der Ein­ zelne als dieser Einzelne sich zunächst im Privaten – außerhalb seines Seins als Bürger der Polis – Geltung verschafft, ja, als Einzelner, in der Bedeutung der Kate­ gorie, im Privaten allererst entdeckt wird; in dem Maße jedoch, wie dem besonde­ ren Einzelnen über die Intimsphäre des Privaten hinaus Bedeutung zugesprochen wird, erlangt umgekehrt auch dieses Private die Qualität des Allgemeinen. Hegels Ausführungen machen deutlich, dass die Grenzen zwischen ‚privat‘ und ‚öffent­ lich‘ nicht trennscharf gezogen werden können. Für den Prozess der Herausbil­ dung der Gesellschaft im Unterschied zur traditional-integrativen Verfasstheit der traditionalen Sittlichkeit ist dies von entscheidender Bedeutung. Für Prozesse der Gesellschaftsbildung muss mithin so etwas wie ein Öffentlichwerden des Privaten als konstitutives Element erkannt werden. Diesem Komplex gelten die folgenden Überlegungen, in denen die Bewegung von der Singularität zur Individualität mit der Frage nach Sozialität und Öffentlichkeit verknüpft wird. 4. Gesellschaftsbildung a)  Zwischenstand der Überlegungen Die Rekonstruktion von Hegels zeitdiagnostischen Überlegungen hat gezeigt, dass er die moderne Welt von der römisch-bürgerlichen Nivellierung der Verhält­ nisse nachhaltig geprägt sieht. Zu registrieren war jedoch auch eine andere Stra­ tegie innerhalb des Aufsatzes, mit der Hegel auf die tiefere Schicht seiner eige­ nen Kritik an gleichförmig-nivellierten Verhältnissen aufmerksam gemacht hat. Nachdem er geltend gemacht hat, dass der Zustand der modernen Gesellschaft sich durch einen Verlust des Sinns für das Öffentliche und die Praxis politischer Frei­ heit auszeichnet, hat Hegel den Blick auf die ‚Urszene‘ der modernen ‚Krise‘ – auf die Verfasstheit der Sittlichkeit der Polis – gelenkt. Doch indem Hegel genötigt war, den Zustand der Öffentlichkeit dieser ‚freien‘ Welt der Antike mit der Formel „Stand gegen Stand“ zu beschreiben, hat er, wenngleich implizit und contre coeur, so dennoch deutlich genug eingestanden, dass es in der antiken Form der politi­ schen Organisation noch nicht möglich gewesen ist, dem anderen als Einzelnen, 129 

Ebd., S. 169.

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

als Individuum zu begegnen. Dieser Einzelne konnte nicht als konkreter Einzel­ ner, sondern nur als Repräsentant des jeweiligen Standes wahrgenommen werden. Der Prozess der Emanzipation des Einzelnen als Individuum konnte erst in Gang gesetzt werden, als es dem Einzelnen möglich geworden war, sich auch gegen die jeweilige ‚Realität‘ des Sittlichen, gegen den jeweiligen ‚Stand‘, zu positionieren. Mit dieser neuen Position ist aber der Weg dafür geebnet worden, dass eine neue Art von Beziehung aufkommen konnte, eine Beziehung, die auf persönlichen Ab­ hängigkeiten zwischen nur noch besonderen Einzelnen basiert. Diese Entwicklungsskizze ist in Umrissen bereits im Naturrechtsaufsatz er­ kennbar geworden. Hegels Lektüre der Antigone, die er in der Phänomenologie unternimmt, macht diesen Zusammenhang jedoch auf eine andere Weise plastisch. Hier wird zur Darstellung gebracht, wie Kreon und Antigone an der Kollision der einander (scheinbar) widerstreitenden Prinzipien des Staates und des Individuums, des Allgemeinen und des Besonderen scheitern. Die Zuschauer der Tragödie erlan­ gen jedoch Einsicht sowohl in die Beschränktheit beider Figuren, deren eine das Recht der anderen bestreitet, als auch in die fundamentale Abhängigkeit der beiden Figuren voneinander: Einsicht in den Zusammenhang, dass Kreon und Antigone einander zwar unversöhnlich gegenüberstehen, in ihrem Ausgriff auf das je eigene Gute jedoch zugleich voneinander abhängig sind. Diese komplexe Abhängigkeits­ figur wird zur Vorbedingung jenes Rechts, das die sittliche Organisation der Polis überschreitet. Die im Naturrechtsaufsatz nur in Umrissen angedeutete und in der Phänomenologie weiter vertiefte Rekonstruktion der Herkunft der modernen Welt, deren Ent­ stehung Hegel in die Antike zurückverlegt und aus dem Zusammenhang der Trans­ formation der Polis begründet, bietet eine alternative – über die (Ideologie)Kritik hinausgehende – Sicht auf die spezifische Verfasstheit der modernen Welt und die Normativität ihrer politischen Kultur. Entscheidend ist, dass in dieser ‚Welt‘ eine qualitativ neue Form von Beziehungen aufkommt, in denen das Recht des beson­ deren Einzelnen und das Recht des Allgemeinen so miteinander vermittelt werden, dass das je andere Recht innerhalb der Beziehung nicht als Unrecht abgelehnt oder gar zerstört wird. Mit der Freisetzung dieser Beziehungsform werden aber mit ei­ nem Male überhaupt persönliche Verhältnisse möglich. Diese Entwicklung lässt sich so verstehen, dass mit ihr ein gewaltiger Prozess der rechtlichen Vermittlung von Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den Personen in Gang kommt, wobei die Verrechtlichung Hegel zufolge bis zu einem solchen Grad fortschreitet, dass das Recht sogar zu einer gänzlichen Abstraktion von seinem eigenen Ursprung in persönlichen Verhältnissen gelangt. In Hegels Interpretation geschieht dies im römischen Recht. Mit dieser Loslösung des Rechts von seinem Ursprung ist die Entwicklung aller­ dings nicht an ihr Ende gekommen. Vielmehr kommt an dieser Stelle ein neuartiges Problem auf: „Die in der sittlichen Welt nicht vorhandene Wirklichkeit des Selbsts ist durch ihr Zurückgehen in die Person gewonnen worden; was in jener einig war, tritt nun entwickelt, aber sich entfremdet auf“, lautet Hegels Feststellung über den

A.  Die Quellen der Autonomie

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„Rechtszustand“ in der Phänomenologie.130 Damit ist erneut die Frage aufgewor­ fen, weshalb Hegel der Meinung ist, dass der Rechtszustand als ein „sich entfrem­ deter“ Zustand auftritt, oder – in Anlehnung an die Kritik des Naturrechtsaufsatzes – worin das Defiziente am „abstrakten Recht“ zu sehen ist. Diese Frage lässt sich so beantworten, dass genau das, was an diesem Recht „entwickelt“ genannt wird – der doppelte Zug der Wahrnehmung der Besonderheit bei gleichzeitiger Abstrak­ tion vom sittlichen Kontext –, in der statischen Gestalt des „abstrakten Rechts“ strukturell übersprungen wird. Hegels Phänomenologie des Rechts, wenn man sie so nennen will, zeigt, dass das Recht aus persönlichen Abhängigkeiten erwächst, die ihm seine spezifische Ausprägung diktieren. Diese spezifische Abhängigkeit von der eigenen Vorausset­ zung wird jedoch im formalen Recht mitlaufend verdeckt, denn das formal-bürger­ liche Recht kann gerade als das Mittel gedeutet werden, persönlichen – insbeson­ dere pathologisch-natürlichen – Abhängigkeiten, die zum Ursprung der modernen Gesellschaft gehören, zu entgehen, sich ihnen zu entziehen. Um die Stellung des Rechts zu sichern, um es zu legitimieren, bedienen sich Rousseau wie Hobbes nicht zufällig der Visionen eines vorgesellschaftlichen Naturzustandes. Hegel führt je­ doch vor Augen, dass sich gerade in diesem ‚natürlichen‘ Zustand diejenige „reale Beziehung“ ausbildet, ohne die es kein ‚abstraktes Recht‘ gäbe. Ein Recht, das seinen eigenen Ursprung nicht verleugnet, muss sich demnach die Frage stellen, wie es zur Freisetzung der konkreten Individualität kommen kann, oder, mit He­ gel formuliert, wie die „in der sittlichen Welt nicht vorhandene Wirklichkeit des Selbsts […] durch ihr Zurückgehen in die Person gewonnen“ werden konnte.131 In dieser Frage deutet sich bereits an, dass der Prozess der Individualisierung an den Prozess der Gesellschaftsbildung gekoppelt ist. Wie sich dieser Zusammenhang denken lässt, soll im Folgenden erwogen werden. b)  Das Öffentlichwerden des Privaten: Die Gesellschaft und ihr Unterschied zur Polis Für die Beantwortung der Frage nach der Gesellschaft im Unterschied zur Po­ lis hat Hegel eine Spur gelegt, als er im Naturrechtsaufsatz von „aufkeimenden Individualisierungen“132 sprach, die das Gemeinwesen unwiderruflich verändern. Die Transformation der Polis sei durch die Freisetzung eines neuen „Prinzips“ der Individualität initiiert worden. Dieses Motiv taucht auch in anderen Werken Hegels immer wieder auf. So ist etwa in der Vorrede zu den Grundlinien vom „Bewußt­ sein des in sie [in die Natur der griechischen Sittlichkeit; T. S.] einbrechenden tie­ feren Prinzips“ die Rede, „das an ihr unmittelbar nur als eine noch unbefriedigte Sehnsucht und damit nur als Verderben erscheinen konnte […]“.133 Damit verbindet 130 

PhG, S. 359.

131 Ebd. 132  133 

NR, S. 497. GPR, S. 24.

266

3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

sich Hegels Kritik an Platon: Da Platon den Charakter dieses „tieferen Prinzips“ insoweit verkannt habe, als er es lediglich zur „äußeren besonderen Form jener Sittlichkeit“ zählte, habe es notwendigerweise dahin kommen müssen, dass er „die freie unendliche Persönlichkeit, gerade am tiefsten verletzte“ (ebd.). Im Naturrechtsaufsatz spricht Hegel von der zunehmenden „Besonderung“ des Sokrates: Mit seinen Provokationen auf der agora hat Sokrates der Individualisie­ rungsbewegung Vorschub geleistet. Unter diesem Gesichtspunkt interessiert sich Hegel außer für Sokrates auch für Antigone und verortet die verstörende Wirkung ihrer Handlung auf das Gemeinwesen, wie bereits zur Sprache kam, am Übergang von der sittlichen zur modernen Welt, dem er sich in der Phänomenologie zuwen­ det. Im Kapitel über Antigone ist überhaupt von der „Weiblichkeit“ als der ewigen „Ironie des Gemeinwesens“ die Rede.134 Hält man an dieser Rede von „aufkei­ menden Individualisierungen“ fest, die am Beispiel von exemplarisch gewordenen Einzelnen wie Sokrates oder der Figur der Antigone verfolgt werden können, deren Praxis transformierende Wirkungen für das Gemeinwesen entfaltet, so ist es inte­ ressant, auf den Boden zu schauen (um in Hegels eigener Metaphorik zu bleiben), auf dem diese Individualisierungen „aufkeimen“. Dieser Boden sind zuallererst die hierarchischen Verhältnisse innerhalb der Po­ lis – die Verhältnisse der Ungleichheit. Wie an anderer Stelle bereits diskutiert, konnten die Hierarchien innerhalb dieser Gestalt des Gemeinwesens so lange nicht durchbrochen werden, wie keine andere Form der Beziehung bekannt ist als die­ jenige des Verhältnisses von Allgemeinem zum Allgemeinen, der Beziehung „als ganzer Stand zum ganzen Stand“: Die Einheit der Polis beschreibt Hegel als einen Zustand, in dem es weder eine „reale“ Beziehung des Besonderen zum Besonderen innerhalb des Allgemeinen noch eine Beziehung des Besonderen auf das Allge­ meine gab. Diese vormalige Form der Verhältnisse wird erst mit der Durchsetzung von „Gesellschaftlichkeit“ verdrängt. Die alten Beziehungen waren symmetrisch verfasst: Hegel spricht von „Stand gegen Stand“, jeweils Besonderes oder jeweils Allgemeines traten einander gegen­ über, ohne sich zu mischen. Zu einer Asymmetrisierung der Verhältnisse sei es erst dann gekommen, als sich „diese Einheit eines jeden Teils in der realen Beziehung“ aufgelöst habe.135 In dem Maße, wie sich eine „reale Beziehung“ ausbildet, verän­ dert sich der Zustand der beziehungslosen Verhältnisse der „Einheit“ hin zu ei­ nem Zustand, in dem sich Besonderes und Allgemeines zueinander ins Verhältnis setzen können. Zu den Implikationen dieser Entwicklung gehört, dass die daraus hervorgegangene neue Form der Beziehung von Einzelnen zu Einzelnen allerdings auch eine neue Form von Abhängigkeit der „Einzelnen von Einzelnen“136 mit sich bringt.

134 

Vgl. PhG, S. 352. NR, S. 491. 136 Ebd. 135 

A.  Die Quellen der Autonomie

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Die Pointe der Darstellung dieses Wandels in der Ordnung der Abhängigkeits­ verhältnisse besteht darin, dass dieser Wandel Hegel zufolge nur aus dem Geist der Familie entstehen konnte. Familie ist für Hegel derjenige Ort, an dem der Selbst­ bezug, der für die Gesellschaftsfähigkeit im weitesten Sinne erforderlich ist, be­ reits eingeübt wird, weil es die Familie ist, in der der Einzelne zum ersten Mal als Besonderer geschätzt wird. Die Implikationen dieses Anerkennungsakts als Besonderer sind aber weitreichend und gerade im Hinblick auf die Möglichkeit, in Opposition zur Gemeinschaft zu treten wie auch die Perspektive der Gleichheit untereinander einzunehmen, nicht zu unterschätzen. Mit Hegel ist die These des Bruchs zwischen der Sphäre des Privaten und des Öffentlichen nicht zu verteidi­ gen, vielmehr werden die Kontinuität und das wechselseitige Aufeinander-Verwie­ sensein der häuslich-intimen und der öffentlichen Sphäre unterstrichen. Christoph Menke erläutert diesen Zusammenhang in Bezug auf Hegel wie folgt: „‚Der Mann‘, das Subjekt der Regierung, ‚wird vom Familiengeiste in das Gemein­ wesen hinausgeschickt‘,137 nicht in ihm hervorgebracht. Nur als ‚anerkennendes und anerkanntes einzelnes Selbst‘, in der intimen Anerkennung im privaten Be­ reich, gewinnen die einzelnen die Handlungsfähigkeit, um im Gemeinwesen ‚Bür­ ger‘ sein zu können. Denn ‚Bürgersein‘ ist kein Zustand, sondern Ergebnis und Vollzug einer auf sich bezogenen Handlung: der Handlung eines Selbst, das das Bürgersein zu seiner ‚eignen Sitte‘ und sich zum Bürger macht. Diese Fähigkeit jedoch, sich selbst zu Bürgern zu machen, ist keine, die Bürger selbst machen. Sie ist vielmehr darin erworben, daß die Bürger zuvor im privaten Bereich ‚anerken­ nendes und anerkanntes einzelnes Selbst‘ gewesen sind.“138 Entscheidend ist dabei, wie Menke gezeigt hat, dass „das intime Anerkennen einen Handlungstyp [etabliert], der das Maß seiner Berechtigung allein aus der Besonderheit der Beteiligten gewinnt. […] Das intime Anerkennen ist […] ein Han­ deln, in dem das Nicht-Substantielle, Partikulare und Ephemere der Individualität Berechtigung gewinnt: (auch) dasjenige der Individuen, in dem sie sich außerhalb von und fremd gegenüber dem sittlichen Gemeinwesen und seiner gemeinsamen Bestimmung des Guten wissen“.139 Behält man Hegels Hinweis im Hinterkopf, dass das Selbst mangels einer „realen Beziehung“ innerhalb der Polis noch nicht „wirklich“ werden konnte, so sind seine Erläuterungen über die Beziehung zwischen den Einzelnen aus dem Geist-Kapitel der Phänomenologie gleich doppelt aufschlussreich: Hegel erläutert die besondere Qualität der Beziehung zwischen Einzelnen, die darin zugleich ihr Selbst erlangen – und dies mag auf den ersten Blick überraschen – am Beispiel der geschwisterlichen Beziehung. Dass Hegel genau diese Art von Beziehung wählt, ist bemerkens­ wert und keineswegs zufällig, denn die Beziehung zwischen den Geschwistern ist von einer doppelten Bewegung geprägt. Hier gelten die Einzelnen zwar als beson­ 137  PhG,

339. Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 171. 139  Ebd., S. 168. 138 

3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

268

dere füreinander, doch zugleich zeichnet sich die Beziehung zwischen Bruder und Schwester dadurch aus, dass die Abhängigkeit, die für andere Beziehungsformen zwischen Familienmitgliedern charakteristisch ist – namentlich für die Beziehung zwischen Mann und Frau und zwischen Eltern und Kindern – hier gerade nicht wirksam ist: „Diese beiden Verhältnisse“, schreibt Hegel, „bleiben innerhalb des Übergehens und der Ungleichheit der Seiten stehen, die an sie verteilt sind. – Das unvermischte Verhältnis aber findet zwischen Bruder und Schwester statt. […] Sie begehren daher einander nicht, noch haben sie dies Fürsichsein eines dem anderen gegeben noch empfangen, sondern sie sind freie Individualität gegeneinander.“140 Bruder und Schwester begegnen sich als freie Individuen, weil sie füreinander be­ sondere Einzelne sind und weil in ihrer Beziehung persönliche Abhängigkeit überwunden werden kann, sie einander daher als selbständige Einzelne – als Gleiche – begegnen können. Dergestalt enthält das von Hegel diskutierte Modell der geschwisterlichen Be­ ziehung überhaupt den Schlüssel zur Logik des Transformationsprozesses von der Polis zur Gesellschaft. Hegels Beschreibung unterstützt die These, dass diese Transformation hin zur Gesellschaft mit dem Faktum der persönlichen Abhängig­ keiten erst beginnt, Letztere aber im selben Zug überwinden muss, um zur konkreten Individualität zu gelangen. Hegels ‚genealogischer‘ Blick auf den Übergang zum römischen Rechtszustand legt es nahe, soziale Verpflichtungen als Überformungen von persönlichen Abhängigkeiten zu verstehen. Dabei geht dieser Über­ formungsprozess bis zu einem solchen Grad, dass sich Verpflichtungen etablieren, deren Bestehen nicht auf persönliche Bindungen angewiesen ist.141 Die von Pless­ ner verwendete Formel von einer „Verbindlichkeit, die nicht bindet“ bringt solche genuin gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Menschen besonders treffend zum Ausdruck. Erst in einer so konturierten Sphäre der Sozialität kommt Indivi­ dualität unverkürzt zu ihrem Recht. c)  Die Gefahr des Plastizitätsverlusts Die Ergebnisse der bisherigen Überlegungen lassen sich zu dem folgenden Bild zusammenfügen: Die Freisetzung der konkreten Individualität wird erst durch eine Schätzung des Einzelnen in seiner Besonderheit möglich, deren ursprüngli­ cher Ort die Familie ist. Im gleichen Zug erfordert die Freisetzung der konkreten Individualität jedoch auch die Abstandnahme von der sittlichen Eingebundenheit in Abhängigkeitsverhältnisse: Für diese Distanzierungsleistung steht die Beziehung zwischen den Geschwistern, die gleichsam als prototypische Einübung in diejeni­ gen Verhältnisse zwischen den Einzelnen in ihrer Selbständigkeit verstanden wer­ den kann, die gesellschaftlich relevant sind. Fügt man diese verschiedenen Anlauf­ punkte der Interpretation zusammen, so entsteht der Eindruck, dass man innerhalb dessen, was Gesellschaftsbildung genannt wurde, im Grunde mit einem Dreischritt 140 

PhG, S. 336. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 119.

141 Vgl.

A.  Die Quellen der Autonomie

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konfrontiert ist. Der erste Schritt ist der Prozess der Entsubstantiierung (der Bewe­ gung weg von der sozialontologischen Festlegung), der zweite ist der Prozess der Subjektivierung (durch Freisetzung von Individualität), die auf die Anerkennung der Besonderheit des Einzelnen – über die Familie hinaus – drängt. Um zu ver­ hindern, dass dieser Prozess der zunehmenden Subjektivierung so verläuft, dass Subjektivität sich selbst als eine bloß besondere missversteht, bedarf es drittens ebenso sehr der umkehrenden Bewegung der Vergeistigung, mit der zum Ausdruck gebracht wird, dass der Subjektivität nicht bloß eine Berechtigung zusteht, sondern dass das Recht der Subjektivität allgemein durchzusetzen sei. Die mit diesem dreifachen Vorgang zusammenhängende Doppelbewegung – etwas wird freisetzt, um im nächsten Zug in Distanz dazu zu treten, um es zu überformen – ist ein Paradoxon für das Nachdenken über moderne Verhältnisse. Denn der Ermöglichungsgrund einer öffentlichen Kultur, in der das Selbst wirklich sein kann – der gesellschaftlichen Kultur im Unterschied zur Polis – ist zu­ gleich etwas, das ein gleich doppeltes Gefährdungspotential für das ‚Öffentliche‘ in sich birgt. Mit dem ‚Ermöglichungsgrund‘ ist die einsetzende Subjektivierung gemeint, die mit der Freisetzung von Individualität einhergeht und den Weg ebnet für eine besondere Art der persönlichen Beziehung von Einzelnen zu Einzelnen. Es sind zunächst persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, mit denen die Gesellschaft gleichsam beginnt. In welchem Sinn ist aber dann davon die Rede, dass der Sub­ jektivierungsprozess – sofern er nicht zugleich die gegenwendige Bewegung der Vergeistigung vollzieht – das ‚Öffentliche‘ gefährdet? In seiner modernen Bedeutung konstituiert sich das Öffentliche im Unterschied zur heroisch-tugendhaften substantiellen Freiheit der Antike gerade durch die Not­ wendigkeit des Umgangs mit dem Phänomen der persönlichen Abhängigkeiten, die sich mit der „Besonderung“ des Einzelnen über die häuslich-private Sphäre hinaus und mit dem Aufkommen der „realen Beziehung“ etablieren. Denkt man an Gesellschaften mit einer langen liberalen Tradition, so haben sich die Beziehungen darin, im Unterschied zu paternalistisch verfassten Gesellschaften, von der „Logik der Familie“ und von persönlichen Bindungen erfolgreich emanzipieren können. Analog dazu wird häufig die Formel „from status to contract“ verwendet, um den Gang der Rechtsentwicklung zu beschreiben.142 Doch diese Beschreibung lässt sich mit Hegel problematisieren, nicht weil sie falsch ist, sondern weil die Bestimmung des Rechts hier kontraktualistisch verengt wird. Wurzelt die erste Gefährdung des Öffentlichen im Problem der persönlichen Abhängigkeiten selbst, so geht eine wei­ tere Gefährdung ausgerechnet von derjenigen Rechtsauffassung aus, die sich als eine konsequent moderne Antwort auf eben jene erste Gefahr des Ausgeliefertseins an (pathologische) Formen von zwischenmenschlichen Abhängigkeiten und Bin­ dungsverhältnissen etabliert hat.

142 Vgl. Jaeschke, Genealogie des Rechts, S. 291, mit Bezug auf Henry Maine, Ancient Law, London 1861 (Reprint 1977).

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Es ist die Positivität des juridischen Rechts, das ‚ohne Ansehen der Person‘ gilt und dabei seinen eigenen Ursprung in persönlichen Beziehungen verdrängt. Um Hegels Urteil über den Rechtszustand noch einmal aufzugreifen: Was „in der sittli­ chen Welt“ noch „einig“ war, tritt hier „nun entwickelt, aber sich entfremdet auf.“143 Diese Äußerung lässt sich nach dem bisher Gesagten als ein Hinweis darauf in­ terpretieren, dass die juridische ‚Lösung‘ des Abhängigkeitsproblems nur um den Preis der Nichtbeachtung der Besonderheit des Einzelnen erzielt werden konnte. Die Diagnose der paradoxen Beziehungslosigkeit auf der Ebene der entwickelten Beziehung, von der im ersten Kapitel144 die Rede war, konkretisiert sich hier noch einmal auf einer anderen Ebene. Aus der Gesellschaft von (pathologisch) abhängi­ gen, bloß besonderen Einzelnen wird das andere Extrem der ausschließlich formell bestimmten Verhältnisse zwischen Individuen, die sich in einem engen Rahmen von strikt wechselseitigen Verpflichtungen, Forderungen und Erwartungshaltun­ gen bewegen und es dabei riskieren, ihre Lebendigkeit zu verlieren. Damit eröffnet sich aber zugleich die Sicht auf das Problem des Plastizitätsverlusts, den die Bezie­ hungen zwischen den Menschen unter der Dominanz der positivrechtlich bestimm­ ten Verhältnisse erleiden können. Mit der Kritik am römisch-bürgerlichen Rechts­ zustand und seinen Auswirkungen auf die modernen Menschen erweist sich Hegel als Vorläufer der Kritik am Konformismus der bürgerlichen Verhältnisse, die nicht nur befreiend, sondern zugleich auch normierend und normalisierend wirken. Mit dieser vorweggenommenen These der Normierung wird eine Gesellschafts­ kritik angestoßen, die später in teils noch radikalerer Form zum Ausdruck gebracht wurde. Folgt man etwa Hannah Arendt, so sind die „nivellierenden Züge […], was wir heute Konformismus nennen, ein Merkmal aller Gesellschaft“:145 „In der mo­ dernen Welt […] [äußert sich] menschliche Beziehungslosigkeit […] in ihrer ex­ tremsten und unmenschlichsten Form“, so Arendt; die Existenz des Menschen in einer modernen Massengesellschaft sei deshalb depraviert, weil der Mensch dort noch nicht einmal als „Privatmensch“ eine Rolle spiele bzw. in Erscheinung treten könne: „Was er tut oder läßt, bleibt ohne Bedeutung, hat keine Folgen, und was ihn angeht, geht niemanden sonst an.“146 Diese düstere Diagnose einer totalen Privatheit, die der Bedeutungslosigkeit gleichkommt, muss man jedoch nicht teilen, wenn man das ‚Entstehen‘ der Gesell­ schaft mit Hegel anders bewertet. In Arendts Formulierung ist die Gesellschaft erst entstanden, „als das Innere des Haushalts mit den ihm zugehörigen Tätigkeiten, Sorgen und Organisationsformen aus dem Dunkel des Hauses in das volle Licht des öffentlich politischen Bereichs trat.“147 Damit fällt Arendt ein deutliches Verdikt über das Private im Verhältnis zum Öffentlichen. Im Anschluss an Hegel muss 143 

Vgl. PhG, S. 359. Vgl. dort Teil B, Abschnitt IV, 1 c). 145  Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 1981, S. 50. 146  Ebd., S. 73. 147  Ebd., S. 47 f. 144 

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die Entstehung der Gesellschaft im Unterschied zur Polis aber gerade nicht als ein Gang in die Versklavung an die allgemein verbreitete Privatheit interpretiert werden, vielmehr rückt mit der Perspektive der Gesellschaftsbildung ein für die Freisetzung der Subjektivität notwendiger Ausweg aus den Verhältnissen der Un­ gleichheit und Beziehungslosigkeit der Polis in den Blick, dessen Einübung gerade im Privaten – in der Familie – beginnt. Und dennoch suggeriert die Kritik des jungen Hegel an den nivellierten Ver­ hältnissen der Moderne nicht minder radikal, dass auf der Höhe des Individualisie­ rungsprozesses eine paradoxe Entindividuierung eintritt – eine Entindividuierung, die damit zusammenhängt, dass zwischenmenschliche Beziehungen ihre Plasti­ zität verlieren. Erst dann verkehrt sich die Errungenschaft des modernen Rechts, die in der Freisetzung der Individualität besteht, in ihr Gegenteil der entindividu­ ierenden Normalisierung. Dem stellt Hegel ein Rechtsverständnis entgegen, das, wohlverstanden, als Medium der Verwirklichung von Freiheit und als Ort von Plas­ tizität begriffen werden muss. Der Begriff ‚Plastizität‘ scheint geeignet zu sein, die Facetten dieses anderen Rechtsverständnisses, das sich mit Hegel andeutet, ins Auge zu fassen. Insbesondere Catherine Malabou hat diesen Begriff in letzter Zeit zum Dreh- und Angelpunkt einer Neulektüre Hegels gemacht,148 allerdings ohne ihn auf Hegels Rechtsbegriff zu beziehen. Dabei lenkt sie den Blick auf das extreme Bedeutungsspektrum dieses Begriffs:149 „Plastizität“ vereint so disparate Bedeutungsmomente wie die Rezeptivität – als die Fähigkeit, Form zu empfan­ gen, Form anzunehmen – und die Spontaneität als Moment der Formgebung; auch Transformation und Metamorphose bis hin zur radikalen Formauflösung, wie sie im Französischen „plastiquer“ zum Ausdruck kommt, gehören dazu.150

148 Siehe Catherine Malabou, L’avenir de Hegel. Plasticité, temporalité, dialectique, Pa­ ris 1996 [in engl. Übers.: dies., The Future of Hegel. Plasticity, Temporality and Dialectic, London/New York 2005]. Der Begriff ‚Plastizität‘ wird hier im Hinblick auf das Problem der Temporalität bei Hegel und Heidegger diskutiert; Malabou ist aber zugleich an der um­ fassenden Bedeutung dieses Begriffs in Verbindung mit Natur, Subjektivität und Indivi­ dualität bis hin zur „plastischen Lektüre“ als Alternative zu Hegels Dialektik, Heideggers Philosophie der Dekonstruktion und Derridas dekonstruktivem Verfahren interessiert (vgl. Catherine Malabou, Plasticity at the Dusk of Writing. Dialectic, Destruction, Deconstruc­ tion, New York 2010; zur Plastizität des Seins bei Heidegger dies., Le Change Heidegger. Du fantastique en philosophie, Paris 2004; zur Plastizität des Gehirns im Anschluss an die Erkenntnisse der Neurowissenschaften siehe dies., What Should We Do with Our Brain?, New York 2008). 149 Vgl. Malabou, The Future of Hegel, S. 9: „The plasticity of the word itself draws it to extremes, both to those concrete shapes in which form is crystallized (sculpture) and to the annihilation of all form (the bomb).“ 150  Nach Malabous Lektüre ist das Subjekt insofern plastisch zu nennen, als es „at once the giver and recepient of its own form“ ist (dies., The Future of Hegel, S. 118). Zur Explosi­ vität – „plastiquer“ bedeutet „mit Plastiksprengstoff in die Luft sprengen“ – vgl. ebd., S. 9; zur formauflösenden Qualität des Subjekts vgl. ebd., S. 187 ff.

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Hegel selbst verbindet den Begriff „plastisch“ in seinen Ästhetik-Vorlesungen mit dem substantiellen Charakter und dem Pathos der Charaktere der Tragödien: „[D]ie alten plastischen Figuren […] handeln aus diesem Charakter, diesem Pathos, weil sie gerade dieser Charakter, dieses Pathos sind; da ist keine Unentschlossen­ heit und keine Wahl.“151 In plastischen Individuen „[lebt] [der Zweck] als Pathos und Macht seines ganzen Wollens in der Seele“, so Hegel: „Dies Herüber und Hin­ über“ – der Wahl, lässt sich hier ergänzen, der Unentschlossenheit und der Willkür – „ist aus den plastischen Gestalten entfernt; das Band zwischen Subjektivität und Inhalt des Wollens bleibt für sie unauflöslich.“152 Die andere Bedeutung, in der „plastisch“ bei Hegel auftritt, hat mit dem Faszinosum der griechischen Plastik zu tun. Individualität tritt uns in der Skulptur „plastisch“ entgegen, ohne einfältig zu werden. Die griechischen Götter sind plastisch, nicht polymorph.153 Im Abschnitt über die Skulptur in den Ästhetik-Vorlesungen sagt Hegel im Hinblick auf die Dar­ stellung der einzelnen griechischen Götter, dass sie in ihrer Vielfalt als „einzeln[e] Individuen“ auftreten, und spricht von der „Erfindung […] dieser plastischen Indi­ vidualität, deren ganzer Ausdruck durch die Abstraktion der bloßen Form vollstän­ dig bewirkt wird“.154 An Hegels Beschreibungen lassen sich zwei Momente hervorheben, die für den bisher erörterten Zusammenhang wichtig scheinen: das Moment der Einheit des Subjekts und seines Wollens und das zweite Moment der Notwendigkeit der „bloßen Form“, durch die Individualität allererst an „Ausdruck“ gewinnt. Diese beiden Momente lassen sich durchaus auf den durch Antigone bewirkten Umbruch zurückbeziehen: Antigones Tat behauptet eine neue Wirklichkeit des autonomen Einzelnen, indem sie den göttlichen als ihren eigenen Zweck vollbringt. Ihr Schei­ tern führt jedoch vor Augen, dass es nur aus der Perspektive eines ‚höheren‘ Rechts denkbar ist, die ‚Rechtfertigung des Einzelnen als Bestehenden‘ zu realisieren. Und hier kommt bereits das zweite Moment indirekt zum Einsatz, denn in diesem höhe­ ren Recht ist, wie im Anschluss an die Interpretation von Christoph Menke gezeigt wurde, eine doppelte Entgrenzung zu vollziehen: Im Zuge dieser Entgrenzungsbe­ wegung wird sowohl von der Festlegung auf die sittlichen Kontexte abstrahiert als auch die „singulare Gerechtigkeit“ hin zur „individuell konkreten“ überschritten. Dabei hat der Versuch, nachzuzeichnen, wie und wodurch es möglich ist, diese „zweite Abstraktionsleistung“ der Überschreitung von singularer Gerechtigkeit zu vollziehen, den Blick darauf gelenkt, dass man erst im Zuge der Überformung von (persönlichen) Abhängigkeiten die Fähigkeit zur Gesellschaftlichkeit erlangt. Für eine öffentliche Sphäre, in der Individuen keinen Plastizitätsverlust erleiden müssen, ist mithin die Fähigkeit konstitutiv, Rückfälle in die beiden Extrempole des Zusammenhangs zu verhindern: den Rückfall in das bloß private Gute auf der Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 545 f. (Herv. T. S.). Ebd., S. 546. 153  Dass „plastisch“ nicht mit „polymorph“ zu verwechseln sei, unterstreicht Malabou, The Future of Hegel, S. 8, 10, 180. 154  Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 546. 151 

152 

A.  Die Quellen der Autonomie

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einen Seite und die Flucht in das bloß formell bestimmte Allgemeingute auf der anderen Seite, das den Einzelnen gleichsam als ein Ideal entgegentritt und seinen eigenen Ursprung im Privaten und Besonderen, in den Bindungsverhältnissen der Familie, verdrängt. Diejenigen Beziehungen, in denen ein solcher Balanceakt zwi­ schen dem Besonderen und Allgemeinen gelingt, in dem ein ‚nachsittliches‘ gesell­ schaftliches Ethos verwirklicht wird, können plastisch genannt werden. Die Verwendung des Ausdrucks ist auch deshalb treffend, weil die gesellschaftliche Fähigkeit zur „Verbindlichkeit, die nicht bindet“ eine Kunst ist. „[V]on die­ sem Standpunkt der Plastik aus“ betrachtet, erscheinen Hegel die exemplarischen Persönlichkeiten Griechenlands – „Perikles, Phidias, Platon und vornehmlich So­ phokles, so auch Thukydides, Xenophon, Sokrates“ – wie „Individuen aus einem Guß, Kunstwerke“, denn „alle schlechthin sind diese hohen Künstlernaturen ideale Künstler ihrer selbst“, so Hegel.155 Ungeachtet des Umstands, dass Hegel den Be­ griff „plastisch“ in seiner Ästhetik exklusiv mit antikem Griechenland und nicht mit den prosaischen Verhältnissen der modernen Gesellschaft verbindet – „[d]ieser Sinn für die vollendete Plastik des Göttlichen und Menschlichen war vornehmlich in Griechenland heimisch“156 – ist diesem Ausdruck, so wie ihn Hegel verwendet, gerade die Idee einer Balance eingeschrieben, die die Individuen vor jeder Form des einseitigen Festhaltens an abstrakten Idealen oder der Zufälligkeit des Privaten bewahrt. Die Skulptur hat „die an und für sich seiende Individualität, den ganz objektiven Charakter, die schöne freie Notwendigkeit zu ihrem Gegenstande“, schreibt Hegel,157 sie verdankt sich einer „Einbildungskraft“, die „von aller Zufäl­ ligkeit der geistigen Subjektivität und Körperform abstrahier[t]“.158 Das Plastische steht überdies für eine Verbindung von scheinbar Unvereinbarem – so ist etwa von der „Körperlichkeit des Geistigen“ die Rede, von der „allgemei­ ne[n] Übereinstimmung des Inneren und Äußeren“ und von der Verbindung des Göttlichen und des Menschlichen, der „ewigen Ideen“ und der „Selbstischkeit“:159 „Die Theologen“, so Hegel, „machen gleichfalls einen Unterschied zwischen dem, was Gott tue, und dem, was der Mensch in seinem Wahn und seiner Willkür voll­ bringt; das plastische Ideal jedoch ist erhaben über solche Fragen, indem es in der Mitte dieser Seligkeit und freien Notwendigkeit steht, für welche weder die Abstraktion des Allgemeinen noch die Willkür des Besonderen Gültigkeit und Be­ deutung behält.“160 „Weder die Abstraktion des Allgemeinen noch die Willkür des Besonderen“ – gibt es eine treffendere Beschreibung für den Balanceakt, dem sich gelingende gesellschaftliche Verhältnisse verdanken, als jenes „plastische Ideal“?

Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II [1835/1842], in: ders., Werke, Bd. 14, S. 374. Ebd., S. 373. 157 Ebd. 158 Ebd. 159 Ebd. 160 Ebd. 155 

156 

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

d)  „Verbindlichkeit, die nicht bindet“ und ihre Formen Für die Plastizität der öffentlichen Sphäre spielen Formen der Verbindlichkeit, die, in Plessners Formulierung, „nicht bindet“, eine Rolle, deren Geltungsanspruch aber dennoch nicht preisgegeben wird: Zu solchen Formen von Verbindlichkeit ge­ hören zum Beispiel nichtforderbare Verpflichtungen, deren spezifischer Charakter sich mit Andreas Wildt folgendermaßen umreißen lässt: „Wenn jemand nichtfor­ derbar dazu verpflichtet ist, etwas Bestimmtes zu tun, so ist in dem entsprechen­ den Werturteil nämlich die Aufforderung, dies zu tun, nicht nur nicht logisch im­ pliziert, sondern diese Aufforderung wäre sogar pragmatisch widersinnig (wenn etwa der Wohltäter zur Dankbarkeit auffordert) oder moralisch illegitim. Urteile über nichteinklagbare Verpflichtungen […] [haben] in praktischer Hinsicht […] vielmehr den Charakter von Empfehlungen oder Ratschlägen, höchstens von Ap­ pellen oder Bitten.“161 Alle diese Phänomene haben gemeinsam, dass sie sich durch einen Horizont der Offenheit auszeichnen, wie sie etwa auch für den Fall eines Versprechens kon­ stitutiv ist: Es ist „die je konkrete Offenheit, die sich im Versprechen selbst, aber auch in der Art und Weise seiner Einlösung bekundet, die durch das gegebene Wort keineswegs determiniert, geschweige denn garantiert ist“,162 so beschreibt Birgit Sandkaulen dieses Phänomen und erinnert damit an Jacobis kritische Auseinan­ dersetzung mit Kants Subjektphilosophie. Ein Versprechen bestimmt Jacobi als „die Form einer ‚eigentümlichen‘ Verbindlichkeit“,163 die eine konkret handelnde Person eingeht; deshalb handelt es sich um „ein Phänomen […], das […] im Hori­ zont einer ‚reinen Vernunft‘ [nicht] aufzuschließen ist, deren universaler Geltungs­ anspruch stets schon übersprungen hat, was im je konkreten Handeln den eigen­ tümlich unbedingten Charakter des Versprechens allererst empfindlich macht.“164 Sandkaulen unterstreicht an Jacobis Überlegungen, dass so etwas wie ein Verspre­ chen ohne personale Identität – in Jacobis Formulierung: „dieser und kein ande­ rer“, ein „Mann mit Namen“ zu sein165 – buchstäblich keinen Sinn hätte. Deshalb sei der Gedanke völlig widersinnig, dass ein „Mensch der reinen Vernunft“ jemals ein Versprechen geben könnte, denn es ist „eben so unmöglich, daß der Mensch der

Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 122. Sandkaulen, Grund und Ursache, S. 216. 163  Vgl. ebd. 164  Ebd., S. 219. 165  Zu dieser Verbindung der „Wer-Identität“ der Person mit ihrem „Namen“ im An­ schluss an Jacobi und in Auseinandersetzung mit dem Persönlichkeitsverständnis Schel­ lings siehe Birgit Sandkaulen, Daß, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen, in: Walter Jaeschke/Birgit Sandkaulen (Hrsg.), Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, Hamburg 2004, S. 217 – 237. 161 

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reinen Vernunft lüge oder betrüge“, so Jacobis spitze Bemerkung, „als daß die drey Winkel eines Dreyecks nicht zwey rechten gleich seyn“.166 Es ist unschwer zu sehen, dass diese Phänomene – Empfehlungen, Ratschläge, Appelle, Bitten und Versprechen – allesamt Formen von Sozialität angehören, die über den Typus von Konsens, der durch rationalen Diskurs erzeugt und gesichert wäre, und über rechtlich-moralische Ansprüche gleichermaßen hinausweisen. Wie ist aber die Eigenlogik einer solchen Sozialität zu fassen? Überlegungen über öf­ fentliches Verhalten, das in der Lage wäre, Verbindlichkeitsformen dieser Art zu stiften, nehmen ihren Anfang in der Idee der Freiwilligkeit und Spontaneität von Verpflichtungen; solche Verpflichtungen wurzeln letztlich in familiären (und alt­ ruistischen) Formen der Beziehung. Und dennoch ist es entscheidend, dass diese Praxis der Verbindlichkeit sowohl von familiär-intimen Verpflichtungen als auch von der Art persönlicher Abhängigkeit, die für sie konstitutiv ist, wegführt und darüber hinausgehende Formen von Verbindlichkeit stiftet. Letztere können je­ doch nicht qualitativ anders sein. Nimmt man Hegels Genese des Selbstbezugs und dessen Relevanz für die öffentliche Sphäre ernst, so muss man sagen, dass sie sich davon höchstens dem Grad nach unterscheiden. Hält man fest, dass es sich um Verpflichtungen handelt, die nicht (von außen) auferlegt werden können, ohne ihren spezifischen Charakter einzubüßen, dann kommen als Erstes Verpflichtungen der Nähe, wie sie in der Liebe und Freund­ schaft in Geltung sind, aber auch religiöse Überzeugungen in den Sinn. Es sind allesamt Verpflichtungen, die, wie Andreas Wildt gezeigt hat, weder zum Gegen­ stand juridischer Durchsetzung gemacht werden können noch zum moralisieren­ den Gestus der Forderung und Einklagbarkeit passen. Sie verweigern sich gerade­ zu der Logik der äußeren Notwendigkeit und können Subjekten nicht von außen auferlegt werden. Es sind überdies Verpflichtungszusammenhänge, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass eine Rechtfertigungssituation für sie nicht besteht. In diesem Sinne verweist Andreas Wildt darauf, dass die diesen Phänomenen „entsprechende Sprache nicht präskriptiv sein [kann].“167 Deshalb verlieren sie jedoch nicht den normativen Charakter einer Verbindlichkeit. „Das liegt einfach daran“, so Wildt, „daß es sich hier um Rechte und Pflichten handelt“, wiewohl um Rechte und Pflichten im weiten Sinn der Nichtforderbarkeit oder gar Einklag­ barkeit, deren „normative Geltung […] nicht schon durch das Faktum oder die Erfahrung einer Aufforderung zustande kommt, sondern dadurch, daß ihr Gel­ tungsanspruch […] anerkannt wird.“168 Der punktuell (als berechtigt) anerkannte Anspruch, der subjektiv gleichsam in die Welt ausgesendet wird, bleibt aber so lange zufällig, muss man an dieser Stelle ergänzend hinzufügen, wie er sich nicht in ein Recht transformiert. 166 So Jacobi im Sendschreiben an Fichte, zit. nach Sandkaulen, Grund und Ursache, S. 219. 167  Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 122. 168  Ebd., S. 123.

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, dass Hegel die moderne Form der Autonomie und Selbstbestimmung in seiner Berliner Rechtsphilosophie vor al­ lem deshalb würdigt, weil der Anspruch des Individuums auf die Berücksichtigung seiner Impulse, seiner Absichten und Motivationen in dieser Figur nicht nur als berechtigt, sondern als Recht der Subjektivität anerkannt wird. Den Prozess dieser Verwandlung von Ansprüchen und Berechtigungen in Rechte sieht Hegel jedoch mit gutem Grund in sittlichen Beziehungen zwischen Individuen und in ihren Handlungen verwurzelt. Darin liegt die affirmative Seite in Hegels Ausein­ andersetzung mit Moralität. Affirmiert wird ihr konkreterer Status gegenüber dem abstrakten Recht, dessen Defizit, wie bereits erwähnt, darin gesehen werden kann, dass es auf den besonderen Einzelnen keine Rücksicht nimmt. Die Betonung in der Sphäre der Moralität liegt demgegenüber auf dem „Für-sich-sein“ im Handeln, dem „Sichwissen“169 – alle Handlungen sollen die Signatur des Selbst tragen:170 „[D]er gebildete, innerlich werdende Mensch will, dass er selbst in allem sei, was er tut.“171 Die lebendige, plastisch genannte Form von Sozialität schließt mit anderen Wor­ ten den Gedanken der Besonderheit ein, der Schätzung des Menschen als dieses besonderen Einzelnen. Dies gilt allerdings nicht nur für Beziehungen, in denen die oben erwähnten Verpflichtungen der Nähe ausschlaggebend sind. Vielmehr müsste, wie bereits betont, davon ausgegangen werden, dass zwischen Verpflich­ tungen der Nähe und öffentlichen Interaktionen zwischen Menschen, die einander nur lose verbunden oder ganz unverbunden sind, eine Kontinuität besteht. Vor der Folie einer solchen Kontinuitätsbehauptung müsste aber für den öffentlichen Cha­ rakter von zwischenmenschlichen Interaktionen geltend gemacht werden, dass sie sich von streng reziproken Anerkennungsverhältnissen unterscheiden und über sie hinausgehen müssen. Strenge Reziprozität kann in Beziehungen, die im oben be­ schriebenen Sinne öffentlich genannt zu werden verdienen, nicht gelten, weil sie nicht vorausgesetzt werden kann. Deren Horizont ist vielmehr offen. Reziprozität kann aber auch deshalb nicht vorausgesetzt werden, weil die für sie konstitutive Erwartungshaltung nach außen durch die Rückwendung auf den eigenen Einsatz, auf das eigene Engagement, durch das sich die hier in Rede ste­ henden Verbindlichkeitsformen auszeichnen, revidiert wird. Anders ausgedrückt: Bei einer Beziehung, die auf der Logik einer „Verbindlichkeit, die nicht bindet“ beruht, handelt es sich um keine mit Reziprozität rechnende Beziehung. Deshalb kann sie nicht nach der Logik einer Tauschbeziehung modelliert sein. Hier findet kein Geben und Nehmen statt, kein Kalkül und keine Berechnung. Vielmehr wer­ den die Erwartungen solcher Art gerade ausgesetzt. Mit Zuneigung beispielsweise zu rechnen, würde eben dieses Phänomen der Zuneigung verfehlen oder gar zerstö­ ren. Genauso wenig sind Kalkül und Implikation von Wechselseitigkeit am Platz, wenn man im öffentlich relevanten Sinne des Verhaltens beispielsweise jemanden 169 

Vgl. GPR, § 105, Z, S. 203. Vgl. ebd., § 110, S. 208 f. 171  Ebd., § 107, Z, S. 206. 170 

A.  Die Quellen der Autonomie

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schätzt. Auch bestimmte Verhaltensmerkmale wie Großzügigkeit und Großmut oder die Fähigkeit zu verzeihen und von der eigenen Sichtweise oder Position ab­ zurücken, sind nicht an die Anforderung der Reziprozität gebunden. Kurzum: Der besondere Charakter von solchen Eigenschaften und Verhaltens­ merkmalen ist mit einem eng gefassten Begriff von Anerkennung nicht zu erschlie­ ßen. Genau in diesen Eigenschaften drückt sich aber überhaupt das „geistige“ Mo­ ment an einer Beziehung aus: Hegel hat dies anhand der Dialektik des Gewissens ingeniös dargestellt, die bezeichnenderweise überhaupt den Höhepunkt des Geist­ kapitels der Phänomenologie bildet: „In diesem Prozeß weiß der absolute Geist sich als Gegensatz und Wechsel mit sich selbst, d.h. sowohl als handelndes – einzelnes, für-sich-seiendes – Gewissen als auch als beurteilendes, somit abstraktes und un­ wirkliches Gewissen.“172 Darin scheinen sich die beiden Dimensionen von Autono­ mie zu verbinden, ein souverän Handelnder zu sein, eigene Zwecke verwirklichen zu können, ohne unter einem Rechtfertigungszwang zu stehen, bei gleichzeitiger Evaluierung und Beurteilung des eigenen Handelns, das sich auf seinen eigenen Einsatz zurückwendet, statt Erwartungshaltungen nach außen zu tragen oder etwa die Verantwortungslasten zu externalisieren. Nur eine Abstraktionsleistung dieser Art vermag den Freiraum des Individuums zu gewährleisten, denn sie verschafft ihm gleichsam den Eintritt in eine Sphäre, in der es sich nicht zur Rechtfertigung jeder einzelnen Handlung oder Entscheidung genötigt fühlen muss, sondern weitgehend souverän handeln kann, ohne implizitem oder explizitem Druck ausgesetzt zu sein, dies zu tun oder jenes zu unterlassen.173 Damit lässt sich die Leistung der Abstraktion, die zuvor als das ‚gegenwendige‘ Moment in der Beziehung und als Prozess der Vergeistigung der Subjektivierungs­ prozesse zur Sprache kam, auch als Minimalbedingung der Souveränität des Indi­ viduums verstehen. 5.  Recht als Befreiung: Wider das „Naturrecht ohne Natur“ Im Gefolge der Reflexionen über die Prozesse der Gesellschaftsbildung im wei­ testen Sinne drängt sich eine Zwischenbilanz auf, die das bisher Gesagte noch ein­ mal etwas variiert: Soll eine öffentliche Kultur vor dem Plastizitätsverlust bewahrt werden, so kommt es darauf an, die Möglichkeit der Abstraktion von natürlichen Bindungen so zu denken, dass die Natur – und damit auch die individuelle Natur der besonderen Einzelnen – nicht aus der Betrachtung herausfällt, sondern eine andere Qualität annimmt. Es kommt darauf an, ein Recht zu denken, das anders verfasst ist als das „Naturrecht ohne Natur“, als das Ernst Bloch Kants und Fichtes Rechtsentwürfe einst apostrophierte.174 Ein derart komplexeres Verständnis von Recht kommt ohne den Begriff des Willens nicht aus, und zwar nicht, jedenfalls Köhler, Hegels Gewissensdialektik, S. 213. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 109. 174  Vgl. das gleichnamige Kapitel „Kants und Fichtes Naturrecht ohne Natur: als Ver­ nunftrecht a priori“ in Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 81 – 92. 172 Vgl. 173 Vgl.

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

nicht nur, im Sinne der Einwilligung zur äußeren Einschränkung meiner Freiheit (wie Kant den Willen in rechtlichen Zusammenhängen bestimmt hat), sondern im Sinne der Erweiterung von Freiheit überhaupt, die sich in immer neuen Formen realisiert. Während diese Konsequenz vor der Folie des bisher Ausgeführten klar zutage getreten ist, lässt sich von expliziten Einsichten Hegels, die zum Verständ­ nis dieses ‚anderen‘ Rechts beitragen würden, nur mit Mühe sprechen. Bei Hegel selbst findet man zu diesem Komplex kaum Auskunft. Interessant sind in diesem Kontext Überlegungen, die Walter Jaeschke anstellt, wenn er danach fragt, wie eine veränderte Perspektive auf die Rechtsentwicklung mit Hegel möglich ist. Jaeschke unterstreicht dabei die Bedeutung der Befreiung des Geistes, die für Hegel im Überwinden der Natur besteht. In Abwandlung dieser grundlegenden Frage nach dem Verhältnis von Geist und Natur bei Hegel weist Christoph Menke darauf hin, dass eigentlich von einem Überwinden nicht der Natur, sondern der „naturhaften Verfassung“ des Geistes gesprochen werden müsse: „Hegel […] versteht die Befreiung des Geistes nicht als den Bruch mit der äußeren Determinationsmacht natürlicher Bestimmungen, sondern als Überwindung seiner eigenen naturhaften Verfassung.“175 Eine solche Selbstverfehlung des Geistes, in der er sich als etwas „Naturhaftes“ und seine Produkte, seine eigenen Werke, als etwas von Natur Gegebenes missversteht, tritt etwa dann ein, wenn der Geist, wie Jaeschke in Bezug auf Hegel erläutert, die ordnende Kraft der Verhältnisse nicht in sich selbst sieht, sondern in eine Instanz außerhalb seiner verlegt. Jaeschke exemplifiziert dies, indem er den rechtlichen Wandel von vorstaatli­ chen akephalen zu modernen Gesellschaften skizziert. Er verweist dabei auf die Ordnungsmacht der „natürlich vorgegebenen Verwandtschaftsstruktur“, doch auch diese Struktur ist, wohlverstanden, „keineswegs bloß natürlich“, sondern der Potentialität nach bereits frei gewesen, freilich ohne die eigene Freiheit adäquat verstehen zu können. Das „unfreie“ Moment an dieser Freiheit lag darin, dass die „normative Kraft“ dieser Ordnung noch „in den natürlichen Verhältnissen selbst“, so Jaeschke, gesucht wurde: Die „Ordnungsfunktion“ dieser Gesellschaft konnte nicht als ein Willensakt einsichtig gemacht werden, sondern lag in der „Bindung an das, was als Natürliches erscheint“.176 Erst die Entwicklung von „Protostaaten“, in denen „die Menschen ihrer Einbindung in Sippen- und Stammesverhältnisse entnommen sind und zu Individuen werden […]“, besiegelt die „Auflösung dieser, auf Verwandtschaftsstrukturen basierenden Gesellschaftsordnung“.177 Für diesen Prozess, in dem die Freiheit zu Bewusstsein kommt, ist der freie Wille entscheidend, der erst im Durchgang durch die befreiende Bewegung von sich, von seiner auktorialen Autonomie, zu wissen beginnt.178 Jaeschke bringt diesen geistig sich vollziehenden Prozess daher auf die Formel: „von der Natur über die Menke, Autonomie und Befreiung, S. 687. Jaeschke, Genealogie des Rechts, S. 292. 177  Ebd., S. 293. 178  Vgl. ebd., S. 294. 175 

176 

A.  Die Quellen der Autonomie

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Heteronomie zur Autonomie“.179 Im Zuge dieses Prozesses komme es darauf an, dass das Selbstbewusstsein zu „dem Bewußtsein, ja Wissen, gelang[t], daß sein Wille selber die rechtsetzende Instanz ist“, die es zuvor „in die Natur“ oder „in ein anderes, ein übermenschliches Selbstbewußtsein verlegt“ hat.180 Solange wir uns aber, mit Hegel gesprochen, in der „Periode des Übergangs“ befinden,181 ist aller­ dings eine Verdoppelung der Instanzen des Rechts unvermeidlich, die ihrerseits eine eigene produktive Kraft besitzt: „[D]ie Ablösung des ius vom fas, die Gegen­ überstellung von fas und nefas einerseits, ius und iniuria andererseits, wie auch die Unterscheidung göttlichen und menschlichen Rechts und die Möglichkeit eines Konflikts zwischen ihnen sind wichtige Schritte auf dem Wege zur Anerkennung des Willens als des rechtserzeugenden Prinzips […].“182 Jaeschke verwendet in diesem Zusammenhang zwar nicht den Ausdruck „Ent­ zweiung“, dessen Profil oben ausgehend vom Naturrechtsaufsatz ausführlich erör­ tert wurde. Jedoch trifft die Rede von der „Verdoppelung der Instanzen“ durchaus den Zusammenhang der Entzweiung, von der sich ebenfalls sagen lässt, dass sie sich „als ein sehr wirkungsmächtiges flexibles und deshalb dauerhaftes Institut erweist“.183 Im Sinne des bisher Gesagten lässt sich die für die bürgerlich-liberale Kultur charakteristische Gestalt der Entzweiung ebenfalls als eine Etappe bewer­ ten, mit der eine bestimmte Stufe in der Rechtsentwicklung erreicht werden konn­ te: Die moderne Form der Entzweiung lässt sich als eine der Gestalten in diesem Befreiungsprozess verstehen, in dem der freie Wille sich auf sich selbst als eine normative Kraft zurückzuwenden beginnt, um sich gleichsam von den Resten der Heteronomie sukzessive zu befreien. Das Nachdenken über die Verfasstheit die­ ser Kultur der Entzweiung hat jedoch gezeigt, dass ihr größtes Defizit darin zu sehen ist, dass sie genau diejenige Form von subjektiver Freiheit prekär werden lässt, die für die Rechtsentwicklung selbst die entscheidende Größe bildet. Hegels Kant-Kritik wurde so interpretiert, dass Hegel sich mit dieser Kritik gegen die ‚Un­ wirklichkeit‘ der Autonomie im ‚auktorialen‘ Sinne ausspricht, einer Gestalt der Autonomie, in der willentliche Kraft des Selbst und Allgemeinheit sich verbinden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheint es nur konsequent, dass Hegel den Begriff des freien Willens ins Zentrum seiner Berliner Rechtsphiloso­ phie stellt: Sowohl die Vorrede184 als auch die Einleitung185 in die Rechtsphiloso­ phie zeugen davon, dass es hier erneut um die Einlösung des Versprechens der subjektiven Freiheit geht. Schon aus diesem Grund darf Hegels Rechtsphilosophie im Rahmen dieser Untersuchung nicht unerwähnt bleiben. Daher soll in den fol­ 179 

Ebd., S. 295.

180 Ebd. 181 

NR, S. 529. Jaeschke, Genealogie des Rechts, S. 296. 183 Ebd. 184  GPR, S.  11 – 28. 185  Ebd., §§  1 – 33, S.  29 – 91. 182 

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

genden Schritten in kritischer Auseinandersetzung mit ihr erwogen werden, wie es um die Einlösung dieses Versprechens bestellt ist. Dabei wird deutlich werden, dass Hegels freiheitstheoretische Grundeinsicht, die er in der Exposition seines rechtsphilosophischen Projekts noch in Aussicht gestellt hat, in der Ausführung, in der es darum geht, ein eigenes politisches Modell der „modernen Sittlichkeit“ vorzustellen, gerade nicht eingelöst, sondern vielmehr preisgegeben wird.

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen I. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts 1.  Das Projekt: Subjektivität – Recht – freier Wille In den Grundlinien zur Philosophie des Rechts (1821) entwickelt Hegel eine moderne Rechtstheorie, deren zentraler Begriff des „freien Willens“ vom Geist her gedacht wird. Den modernen Rechtsstaat so zu denken, heißt, ihn holistisch in einem vom Begriff geforderten Entwicklungsgang zur Darstellung zu bringen. Der Leitgedanke dabei ist der Zuwachs an Realisierung der Freiheitsidee in dem Maße, wie der Gang der Rechtsphilosophie vom abstrakten Recht zur Moralität und ferner zur Sittlichkeit als Familie, Gesellschaft, Staat bis hin zur Weltgeschichte fortschreitet: In einer Rechtsphilosophie sei unter „Recht“ „nicht bloß das bür­ gerliche Recht“ zu verstehen, so Hegel in der Einleitung zu seinem Werk, „sondern Moralität, Sittlichkeit und Weltgeschichte“.186 Hegels ambitioniertes Projekt zielt darauf, objektive Strukturen der libera­ len Gesellschaftsordnung auszuweisen, die der Einzelne nicht als Entfremdung, sondern als Mittel und Zweck der Realisierung seiner eigenen Freiheit begreifen kann.187 Axel Honneth sieht die Spezifik von Hegels Projekt in der Einbeziehung von Bedingungen und Umständen, die dem Einzelnen Ziele der Verwirklichung seiner Freiheit vorgeben: Hegel beansprucht, „‚objektive‘ Gegebenheiten der äuße­ ren, sozialen Welt“ auszuweisen, so Honneth, „die Eigenschaften von der Art be­ sitzen, dass der Einzelne sie als Ausdruck seiner eigenen Persönlichkeit begreifen kann“.188 Solche objektiven Strukturen sind jedoch nicht bloßer Ausdruck der Per­ 186 

Ebd., § 33, Z, S. 90. Axel Honneth, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), in: Manfred Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch, Frankfurt am Main 2007, S. 403 – 418, hier: S. 405 ff. 188  Ebd., S. 409; für eine anspruchsvolle Wiederaufnahme und Umsetzung dieses Vor­ habens siehe Axel Honneth, Das Recht der Freiheit, insb. Teil C, Kapitel III, S. 232 – 624. Wie bereits diskutiert (siehe oben Einleitung, Teil C), verfolgt Honneths Grundlegung der „Gerechtigkeitstheorie als Gesellschaftsanalyse“ den Anspruch, konkrete gesellschaftliche Bereiche auszuweisen, die die jeweiligen Aspekte der individuellen Freiheit realisieren und „soziale Freiheit“ ermöglichen. Honneth erörtert dies an drei Bereichen: dem Bereich der 187 Vgl.

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

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sönlichkeit des Einzelnen; vielmehr bleibt umgekehrt die Rede von der Persönlich­ keit so lange leer und abstrakt, wie sie nicht in den Prozess der Freiheitsrealisierung eingebunden wird. Die Freiheit des Einzelnen realisiert sich zwar vermittels der objektiven Welt, sie erschöpft sich jedoch nicht in der Teilnahme an gesellschaft­ lichen Praktiken, mit denen man sich identifizieren kann. Vielmehr bringt sie sich auch dann zur Geltung, wenn die Individualität sich „innerlich“ gegen diese Welt der „zweiten Natur“ wendet. Diese Dimension der Freiheitsrealisierung gilt es nicht aus den Augen zu verlieren. Hegels rechtsphilosophisches Programm wird mit den oftmals zitierten Worten aus der Einleitung in die Grundlinien eröffnet: „Der Boden des Rechts ist über­ haupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist.“189 Die Rede von „zweiter Natur“ signalisiert, dass die rechtlich verfasste Welt kein äußerlicher Rahmen ist, in dem Individuen sich bewegen. Ebenso wenig ist sie „die auf Gesetz (nómos) und Ge­ wohnheit (êthos) beruhende naturwüchsige Sitte und Polissittlichkeit, sondern eine Natur, die vom Menschen hervorgebracht und ins Werk gesetzt ist“.190 Der Ausdruck, den Hegel für diese objektiven Ergebnisse menschlicher Tätig­ keit, die dem Menschen als institutionell verfasste Welt des „objektiven Geistes“ gegenständlich werden, reserviert, ist „Sittlichkeit“. Als „zweite Natur“ ist Sitt­ lichkeit kein Naturprodukt, denn sie ist allein aus dem Willen hervorgegangen. Zugleich ist in ihr die selbstbewusste Freiheit zur Natur geworden. Für das Indi­ viduum bedeutet dies, dass die Sittlichkeit dann zur „zweiten Natur“ wird, wenn deren „Normalität“191 ihm zur „Gewohnheit“ geworden ist, wenn die Sitte als „die allgemeine Handlungsweise der Individuen“, als deren „einfach[e] Identität mit der Wirklichkeit“ in Geltung ist192 und einen reibungslosen Handlungsablauf ermög­ licht. Es ist die „Normalität, […] aus der die Norm stammt“, kein „Ausnahmezu­ stand“,193 sondern die schon vorhandene Vernünftigkeit. Der Rechtszustand soll nicht an einer kontrafaktischen Sollensforderung orientiert,194 sondern vernünftig,

persönlichen Beziehungen, des ökonomischen Marktes und der politischen Öffentlichkeit, mit jeweils spezifischen Untergliederungen. 189  GPR, § 4, S. 46. 190 Vgl. Manfred Riedel, Natur und Freiheit in Hegels Rechtsphilosophie, in: ders. (Hrsg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 2, S. 109 – 127, hier: S. 110 f. 191 Vgl. Henning Ottmann, Die Genealogie der Moral und ihr Verhältnis zur Sittlichkeit, S. 270. 192  GPR, § 151, S. 301. 193 Vgl. Ottmann, Die Genealogie der Moral und ihr Verhältnis zur Sittlichkeit, S. 270. 194 Vgl. Riedel, Natur und Freiheit in Hegels Rechtsphilosophie, S. 118: „Das Recht ist nicht die Einschränkung, sondern das ‚Dasein‘ des freien Willens – die ‚Freiheit als Idee‘. Diese Wendung besagt für Hegel: die Freiheit ist nicht mehr Postulat (– Idee im Kantischen

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

normativ wie deskriptiv – „zusehen[d]“195 – „aus wirklichen Verhältnissen durch die Rechtsphilosophie rekonstruiert werden“.196 Hegel ist jedoch weit davon ent­ fernt, diese sittliche „Normalität“ zu verharmlosen. Die Sitte, „woran die ganze Weltgeschichte gearbeitet hat“,197 erweist sich vielmehr als eine mächtige Struk­ tur, die die Kraft hat, die Individuen gleichsam an sich zurückzubinden: Als „das dem Geist der Freiheit Angehörende“198 haben „die sittliche Substanz, ihre Gesetze und Gewalten [für das Subjekt] […] eine absolute, unendlich festere Autorität und Macht als das Sein der Natur“, denn „sie sind, im höchsten Sinne der Selbständig­ keit“.199 Mit dem als „zweite Natur“ verfassten Sittlichkeitsbegriff beansprucht Hegel, sich von mehreren prominenten Traditionssträngen gleichzeitig abzusetzen. Hegel wendet sich gegen das Modell antiker Polis-Sittlichkeit, gegen neuzeitliche Natur­ rechtslehren von Pufendorf bis Rousseau und gegen die biblische Ethik. So weist Gertrude Lübbe-Wolff etwa darauf hin, dass Hegel die trichotomische Struktur der Sittlichkeit in Entgegensetzung zu den drei consilia evangelica – den Gelübden Armut, Keuschheit und Gehorsam – entwickelt hat.200 Die einschlägige Stelle bei Hegel lautet: „[D]as, was in der Welt Heiligkeit sein soll, [wird] durch die Sittlichkeit verdrängt. Statt des Gelübdes der Keuschheit gilt nun erst die Ehe als das Sittliche, und damit als das Höchste in dieser Seite des Menschen die Familie; statt des Gelübdes der Armut (dem, sich in Widerspruch verwickelnd, das Verdienst des Wegschenkens der Habe an die Armen, d. i. die Bereicherung derselben entspricht) gilt die Tätigkeit des Selbsterwerbs durch Verstand und Fleiß und die Rechtschaffenheit in diesem Verkehr und Gebrauch des Vermögens, die Sittlichkeit in der bür­ gerlichen Gesellschaft; statt des Gelübdes des Gehorsams gilt der Gehorsam gegen das Gesetz und die gesetzlichen Staatseinrichtungen, welcher selbst die wahrhafte Freiheit ist, weil der Staat die eigene, die sich verwirklichende Vernunft ist; die Sittlichkeit im Staate. So kann dann erst Recht und Moralität vorhanden sein“.201 Sinne –), sondern Wirklichkeit, in der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt gegeben und nicht nur aufgegeben.“ 195  Vgl. GPR, § 32, Z, S. 86. 196 Vgl. Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 371; zur Aktualisierung des Hegelschen Verfah­ rens „normativer Rekonstruktion“ von Freiheitsvoraussetzungen siehe Honneth, Das Recht der Freiheit; zum Verfahren selbst zuvor bereits ders., Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), S. 410. 197  GPR, § 270, S. 419. 198  Ebd., § 151, Z, S. 302. 199  Ebd., § 146, S. 294 f. 200  Lübbe-Wolff, Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 331 ff. 201  Hegel, Enz. III, S. 358 f.; vgl. auch die aufschlussreichen Passagen aus den Vorle­ sungen über die Philosophie der Geschichte, S. 457 f.: „Eine Sittlichkeit ist nämlich die der Liebe, der Empfindung in dem ehelichen Verhältnisse. Man muß nicht sagen, das Zölibat sei gegen die Natur, sondern gegen die Sittlichkeit. Die Ehe wurde nun zwar von der Kir­ che zu den Sakramenten gerechnet, trotz diesem Standpunkte aber degradiert, indem die Ehelosigkeit als das Heiligere gilt. Eine andere Sittlichkeit liegt in der Tätigkeit, in der

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Hegel erweist sich außerdem nicht nur als scharfer Kritiker der auf dem Ver­ nunftprinzip beruhenden Moralitäts- und Rechtslehren Kants und Fichtes, sondern auch als Kritiker der romantischen Modelle „ästhetischer Freiheit“, die er als die Kehrseite des moralischen Universalismus Kantischer Prägung interpretiert.202 Alle diese Positionen vermögen die Hoffnung auf eine Rehabilitierung vernünfti­ ger Praxis und einen Rückgewinn von moderner politischer Existenz des Individu­ ums Hegel zufolge nicht einzulösen. Entweder scheitern sie daran, der individuellen Differenz Rechnung zu tragen, wie das antike Modell, oder sie missverstehen sie als Authentizität und natürliche Unmittelbarkeit, wie Rousseau, oder aber sie verabsolutieren die Differenz, wie es bei Kant und Fichte in Gestalt der allgemei­ nen Freiheit aus Vernunft geschieht und mit dem Verlust von subjektiven Bestim­ mungen zu bezahlen ist – oder aber im romantisch-subjektiven Höhenflug „im steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“203 mit ironischer Dis­ tanzierung von allen Verpflichtungen einhergeht. Hegels Ablehnung aller dieser Freiheitsmodelle erfolgt vor der Folie des Ent­ zweiungsbefundes, der, wie bereits gezeigt, Hegels politische Philosophie initiiert und in verschiedenen Variationen begleitet. Dieser Zustand der Entzweiung wurde ausgehend vom Naturrechtsaufsatz und im Rückgriff auf die Phänomenologie so beschrieben, dass Allgemeines und Besonderes hier nebeneinander stehen. Eine solche Konstellation lässt es nicht zu, die Kategorie des Einzelnen zu denken, auf die es aber gerade ankommt, wenn es um die Realisierung freier Verhältnisse geht. Stehen Besonderes und Allgemeines nebeneinander oder einander gegenüber, so erfährt sich das Individuum in seiner „Unwesentlichkeit“, während das Allgemeine entweder als ein unerreichbares Ideal erscheint oder den Menschen als ein äußeres Zwangssystem des Rechts buchstäblich entgegentritt. Verfestigen sich Allgemeines und Besonderes zu exklusiven Kategorien, so bleiben beide (und jede für sich) defizient. Arbeit des Menschen für seine Subsistenz. Darin liegt seine Ehre, daß er in Rücksicht auf seine Bedürfnisse nur von seinem Fleiße, seinem Betragen und seinem Verstande abhänge. Diesem gegenüber wurde nun die Armut, die Trägheit und Untätigkeit als höher gestellt und das Unsittliche so zum Heiligen geweiht. Ein drittes Moment der Sittlichkeit ist, daß der Gehorsam auf das Sittliche und Vernünftige gerichtet sei, als der Gehorsam gegen die Gesetze, die ich als die rechten weiß, nicht aber der blinde und unbedingte, der nicht weiß, was er tut, ohne Bewußtsein und Kenntnis in seinem Handel herumtappt. Dieser letztere Gehorsam aber gerade galt als der Gott wohlgefälligste, wodurch also die Obedienz der Unfreiheit, welche die Willkür der Kirche auferlegt, über den wahren Gehorsam der Freiheit gesetzt ist. Also sind die drei Gelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams gerade das Um­ gekehrte dessen, was sie sein sollten, und in ihnen ist alle Sittlichkeit degradiert worden. Die Kirche war keine geistige Gewalt mehr, sondern eine geistliche, und die Weltlichkeit hatte zu ihr ein geistloses, willenloses und einsichtsloses Verhältnis. Als Folge davon erblicken wir überall Lasterhaftigkeit, Gewissenlosigkeit, Schamlosigkeit, eine Zerrissenheit, deren weitläufiges Bild die ganze Geschichte der Zeit gibt.“ 202 Vgl. Siep, Was heißt: „Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit“ in Hegels Rechtsphi­ losophie?, S. 227. 203 Vgl. Schlegel, „Athenäums“-Fragmente, S. 82.

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Im Naturrechtsaufsatz brachte Hegel dies folgendermaßen auf den Punkt: „In­ dem hiermit diese Äußerlichkeit des Einsseins [von ‚Begriff‘ und ‚Subjekt der Sitt­ lichkeit‘; T. S.] schlechthin fixiert und als etwas absolutes Ansichseiendes gesetzt ist, so ist die Innerlichkeit, die Wiederaufbauung des verlorenen Treu und Glau­ bens, das Einssein der allgemeinen und der individuellen Freiheit und die Sittlichkeit unmöglich gemacht.“204 Unter den Bedingungen der Entzweiung wird die wohlverstandene „Innerlichkeit“, in der allgemeine und individuelle Freiheit sich verbinden, „abstrakt“. Denselben Gedanken äußert Hegel in einem der Schlusspa­ ragraphen des Moralitätskapitels der Rechtsphilosophie: „Die abstrakte Innerlich­ keit hat einen Gegenstand, Bestimmung doppelt: Allgemeinheit oder Besonder­ heit nebeneinander – Willkür – […].“205 In einer solchen Entzweiungssituation, die keine wahre Innerlichkeit auszubilden erlaubt, reduziert sich die Bedeutung der Willensfreiheit auf deren Verwechselung mit der Freiheit der Willkür. Damit geht die Befürchtung einher, dass das freie Subjekt zum Subjekt der Wahl depoten­ ziert wird. Auch in Hegels Rechtsphilosophie ist diese Befürchtung allenthalben wahrzunehmen. Wenn die „substantielle Bestimmung“ des Willens, sein „Anund­ fürsichsein“, dem Subjekt entgegentritt und es sich dazu in „Entgegensetzung“ be­ findet, wird es permanent vor die Wahl gestellt und vermag nicht sich selbst als eine rechtserzeugende Instanz aufzufassen. Der Wille projiziert die Quelle seiner Autonomie nach außen, weil er es nicht vermag, sich auf sich selbst zurückzuwenden, worin die Leistung des Geistigen bestünde. Auf diese Weise verfehlt er seine Autonomie. Da das Subjekt der Wahl sich nicht als ein Rechtssubjekt auffassen kann, wird es apolitisch. Oder, anders ausgedrückt: Dadurch, dass das Subjekt die Autonomie seines Wollens missversteht, verliert es auch seine politische Freiheit. Die Programmatik von Hegels Rechtsphilosophie hängt mit diesem Problem zusammen. Es gilt, das Subjekt aus einer derart unbefriedigenden Situation zu be­ freien. Die Befreiung kann unter solchen Vorzeichen allerdings nur gelingen, wenn man subjektive Freiheit in ihrer ganzen Tragweite ernst nimmt und sie als eine sowohl rechtserzeugende als auch rechtstransformierende und auflösende Kraft begreift. Dass Hegels Ausführungen zu diesem Zusammenhang meist nicht in den Haupttext der Rechtsphilosophie Eingang gefunden haben, sondern in den hand­ schriftlichen Zusätzen zu den einzelnen Paragraphen seiner Vorlesungen vorkom­ men, mag ein weiteres Indiz für die besondere Brisanz und innovative Kraft dieser Überlegungen sein. So stoßen wir beispielsweise auf die aufschlussreiche Anmer­ kung: „Das Gute ist leblos – ohne die Subjektivität, der es wesentl[ich] absoluter Zweck ist – Selbstbewußtsein geistig leblos, das nur natürlich ist, seine Triebe zu seiner Bestimmung hat, – oder nur seine Vortrefflichkeit – das abstrakte Gute – Wo Recht – d.i. Privatrecht – gehandhabt wird, [ist] ein solcher Zustand kein sittli­ cher noch. Es gehört dazu, daß Subjektivität, Besonderheit als allgemein bestimmt

204  205 

NR, S. 471 (Herv. T. S.). GPR, § 139, S. 262 f.

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ist, – dies Wirklichkeit – Alle Weisen der Wirklichkeit nur Folgen hiervon – denn Subjektivität das Verwirklichende.“206 Subjektivität als „das Verwirklichende“ aufzufassen, bedeutet unter den Bedin­ gungen der Entzweiung, eine doppelte Befreiung sowohl des Allgemeinen als auch des Besonderen zu vollziehen. Besonderes soll sich für das Allgemeine öffnen, das Allgemeine sich in dem Besonderen erkennen, denn solange „Denken und Wollen noch unterschieden sind“, schreibt Hegel, solange die Entzweiung von Subjekt und Begriff noch in Geltung bleibt, ist „die denkende Vernunft […] als Wille dies, sich zur Endlichkeit zu entschließen“.207 Um über die nur „endliche“ Perspektive hin­ auszugelangen, ist die doppelte Befreiung des Besonderen und des Allgemeinen notwendig. Diese Doppelbewegung, von der man sagen könnte, dass die philoso­ phische Aufgabe der „Rechtfertigung des Einzelnen als Bestehenden“ hier an ihr Ziel gelangt, sieht Hegel im und durch den „freien Willen“ realisiert: „Der Wille ist die Einheit dieser beiden Momente; – die in sich reflektierte und dadurch zur Allgemeinheit zurückgeführte Besonderheit; – Einzelheit […].“208 Wenn von „Einzelheit“ die Rede ist, so ist damit jene „handelnde“ – und daher: subjektive – Freiheit gemeint, die auch die Entwicklung des Rechts vorantreibt und die vorhandene Welt revolutioniert: Wie bereits erwähnt, spricht Hegel von dem ‚Einbruch‘ eines „tieferen Prinzip[s]“ der „freie[n] unendliche[n] Persönlichkeit“, eines „tieferen Triebs“, von dem die „Umwälzung der Welt“ ausgeht, eine Umwäl­ zung, von der Hegel behauptet, dass sie von Platon wiederum insofern verkannt wurde, als sie ihm „nur als Verderben [der griechischen Sittlichkeit] erscheinen konnte“.209 Mit dem Begriff des Willens soll eine Struktur gefunden und explizit gemacht werden, die dieser Dimension der Individualität, die in ihrem Handeln zugleich die öffentliche Ordnung transformiert, gerecht zu werden vermag: „Wil­ le ohne Freiheit ist ein leeres Wort, so wie die Freiheit nur als Wille, als Subjekt wirklich ist.“210 Wäre dem nicht so, so würde die Subjektivität sich selbst verfehlen und sich zum Beispiel ausschließlich auf die Durchsetzung von privaten Interessen und Zwecken verengen. Subjektivität kann es jedoch durch „Interessen“ allein und ohne „Leidenschaften“ nicht geben.211 Subjektivität kann es unverkürzt nur dann geben, wenn sie ihre Freiheit will: „Die absolute Bestimmung oder, wenn man will, der absolute Trieb des freien Geistes“ ist, so Hegel, „daß ihm seine Freiheit Gegen­ stand sei […], um für sich als Idee zu sein, was der Wille an sich ist: der abstrakte 206 

Ebd., § 141, N, Anm., S. 290. Ebd., § 13, S. 64. 208  Ebd., § 7, S. 54. 209  Ebd., S. 24. 210  Ebd., § 4, Z, S. 46. 211  In Anspielung auf Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg [1977], Frankfurt am Main 1980, in der nachgezeichnet wird, wie sich Leidenschaften im Zuge des neuzeitlich-modernen Prozesses ihrer Rationalisierung und Neutralisierung in Interessen verwandeln. 207 

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Begriff der Idee des Willens ist überhaupt der freie Wille, der den freien Willen will.“212 Es sei kurz in Erinnerung gerufen, dass Hegels Frontstellung gegen Kant insbe­ sondere der (Selbst)Einschränkung des freien Wollens auf rechtlich Erlaubtes galt. Unter diesen Vorzeichen ist Freiheit gefährdet, sich in ihr Gegenteil – in Unfreiheit und Zwang – zu verkehren, Selbstbestimmung wird ununterscheidbar von Fremd­ bestimmung und Manipulation. Auf meine Darstellung von Hegels Kritik dieser Form der Autonomie, in der sich der Rechtszwang reproduziert, folgte – gleichsam in konstruktiver Wendung der Kritik – der Versuch, Kant selbst zu Wort kommen zu lassen. Denn mit seinem Lehrstück vom „Faktum der Vernunft“ hat Kant, wie im Rückgriff auf die Interpretation von Michael Wolff erläutert wurde, einem anderen – moralisch wie juridisch neutralen – Begriff von Autonomie Kontur verlie­ hen: Eine so verstandene Autonomie richtet sich nicht an einer Vernunft aus, die dem individuellen Wollen vorgelagert wäre, sondern die Vernunft selbst verbindet sich ursprünglich mit einem Wollen, das umgekehrt der Vernunft und allen inhalt­ lich festgelegten Vorstellungen von Freiheit vorgängig ist. Damit wurde die selbst ungebundene – unbedingte und absolute – Verpflichtungskraft des Wollens zur Sprache gebracht, durch die sich wiederum die Perspektive auf das individuelle Handeln und die Freiheitsrealisierung in der Welt erst eröffnet hat. Dass Hegel seinen eigenen Rechtsbegriff im Willen fundiert, muss vor dem Hin­ tergrund dieses autonomietheoretischen Anliegens betrachtet werden. Es ist daher nur konsequent, dass Hegels eigener Willensbegriff dieser Bedeutung der Autono­ mie sehr nahe kommt, denn Hegel denkt den Willen tatsächlich – in offenkundi­ ger Entsprechung zu Kants Bestimmung des „Faktums der Vernunft“ – als „eine besondere Weise des Denkens“: „das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben“.213 „Indem ich praktisch, tätig bin, das heißt handele, bestimme ich mich, und mich bestimmen heißt, eben einen Unterschied setzen. Aber diese Unterschiede, die ich setze, sind dann wieder die meinigen, die Bestim­ mungen kommen mir zu, und die Zwecke, wozu ich getrieben bin, gehören mir an.“ Auch dann, wenn ich sie „in die sogenannte Außenwelt setze, so bleiben sie doch die meinigen: sie sind das, was ich getan, gemacht habe, sie tragen die Spur meines Geistes.“214 Das Eigene und das Allgemeine verbinden sich. Im offenkundigen Unterschied zu Kant verbindet Hegel dieses Wollen jedoch mit der Rechtsentwicklung und daher auch mit dem Prozess der Freiheitserweiterung und -transformation: „Seine Vernunft muß dem Menschen im Rechte ent­ gegenkommen“, so Hegel in seiner Vorlesung über Naturrecht und Staatswissen­ schaft aus dem Wintersemester 1822/23.215 Das freie Wollen wird erst im Recht konkret: „In der Natur ist die höchste Wahrheit, daß ein Gesetz überhaupt ist“, so 212 

GPR, § 27, S. 79. Ebd., § 4, Z, S. 47. 214  Ebd., § 4, S. 47. 215  Ebd., Z, S. 17. 213 

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Hegel, „in den Gesetzen des Rechts gilt die Sache nicht, weil sie ist, sondern jeder fordert, sie solle seinem eigenen Kriterium entsprechen.“216 Wenn der Mensch aber nicht in der Lage ist, dies einzusehen, so hindere ihn daran lediglich die „Fessel irgendeines Abstraktums, das nicht zum Begriffe befreit ist“.217 Das Movens der Rechtsphilosophie besteht mithin darin, zu zeigen, dass das Subjektive und das Objektive nicht im Widerspruch zueinander stehen: Ist man nur auf die eigenen, subjektiven Zwecke fixiert, so ist diese Haltung Hegel zu­ folge Ausdruck eines „Mangels“: „Der Zweck, insofern er nur erst unser ist, ist für uns ein Mangel, denn Freiheit und Wille sind uns Einheit des Subjektiven und Objektiven. Der Zweck ist also objektiv zu setzen und kommt dadurch nicht in eine neue einseitige Bestimmung, sondern nur zu seiner Realisation.“218 Es kommt also darauf an, die relational verfasste Beziehung von besonderem Einzelnen und Allgemeinheit aufzubrechen, um zu einer neuartigen Form der Bezüglichkeit vor­ zustoßen. Dies gelingt nach Hegel immer dann, wenn der Wille die „Freiheit des Verstandes“,219 die nur „negativ“ sei, produktiv – ins Positive – wendet. Unter der „negativen Freiheit“ versteht Hegel das „Vermögen“, die „absolute Möglichkeit, von jeder Bestimmung, in der Ich mich finde oder die Ich in mich gesetzt habe, abstrahieren zu können, die Flucht aus allem Inhalte als einer Schranke“.220 Da diese Fähigkeit zur „reinen Unbestimmtheit“, wenn sie sich verabsolutiert, selbstzerstörerische Kraft entfalten kann, kommt es darauf an, das Potential von „negativer Freiheit“ richtig zu deuten: Negative Freiheit des Verstandes soll nicht nur in der Operation der Herauslösung aus allen Bestimmungen bestehen. Vielmehr soll sie sich auf „etwas“ richten und es transformieren. An dieser Stelle kommt das zweite Moment des Willens ins Spiel: die Fähigkeit zur Selbstbeschränkung. Da der Wille ein „endlicher“ Wille ist, muss die Unbestimmtheit sich „besondern“. Hegel bringt diese Leistung der Besonderung mit Selbstbeschränkung in Verbin­ dung, indem er u.a. Goethe zitiert: „Wer Großes will, sagt Goethe, muß sich be­ schränken können.“221 Man „beschränkt“ sich aber, so Hegel, wenn man überhaupt „etwas [will]“:222 Der Begriff des „konkreten Allgemeinen“, in der Form, wie ihn Hegel in der Einleitung als Verwirklichung der „Einzelheit“ entwickelt,223 zielt auf eine derartige Verbindung der negativen Freiheit mit ihrer Beschränkung. Darin sollen sich die Hinsichten von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Endlichkeit und Unendlichkeit, Erfülltheit und Abstraktheit – so lauten die Gegensatzpaare, die Hegel abermals verwendet – verbinden. Worin die konkrete „Freiheit des Willens“ 216 

Ebd., Z, S. 16. Ebd., S. 26. 218  Ebd., § 8, Z, S. 59. 219  Ebd., § 5, S. 50. 220  Ebd., § 13, Z, S. 64. 221 Ebd. 222  Ebd., § 6, Z, S. 54. 223  Ebd., § 7, S. 55. 217 

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

besteht, muss demnach gemäß dem Begriff des „konkreten Allgemeinen“ verstan­ den werden: Sie besteht Hegel zufolge in der Fähigkeit des Subjekts, Festlegungen zu revidieren, zu überwinden und jede Art von Bestimmtheit ins Unbestimmte zu wenden, „als eine bloße Möglichkeit“, „durch die es nicht gebunden ist, sondern in der es nur ist, weil es sich in derselben setzt“.224 Es komme auf die so verstandene „Einzelheit“ an, die „eigentlich nichts anderes [ist] als der Begriff selbst“ und in der „das Besondere […] durch seine Reflexion in sich mit dem Allgemeinen aus­ geglichen [ist]“.225 Ein so verstandener Willensbegriff ist an die Struktur der „sich auf sich be­ ziehenden Negativität“ angelehnt, wie Hegel durch den Verweis auf seine Logik kenntlich macht: „Der Erweis und die nähere Erörterung dieses Innersten der Spe­ kulation, der Unendlichkeit als sich auf sich beziehender Negativität, dieses letzten Quellpunktes aller Tätigkeit, Lebens und Bewußtseins, gehört der Logik als der rein spekulativen Philosophie an.“226 Mit dem Verweis auf die selbstbezügliche Negativität, auf das Potential des Willens, sich gegen sich selbst zu wenden, be­ tont Hegel noch einmal die Umkehrbewegung, die diesen Willensbegriff etwa vom Subjektbegriff Fichtes unterscheidet, der sich aus der Figur des praktischen Stre­ bens nach der Identität mit dem „absoluten Ich“ erschließt. Hegels Willensbegriff überschreitet aber auch Kants Subjektverständnis, für das der Bruch zwischen dem empirischen und transzendentalen Ich konstitutiv ist: Der Wille „ist nicht ein Ferti­ ges und Allgemeines vor seinem Bestimmen und vor dem Aufheben und der Idea­ lität dieses Bestimmens, sondern er ist erst Wille als diese sich in sich vermittelnde Tätigkeit und Rückkehr in sich“.227 Genau hier, in der so verstandenen Bewegung des Wollens, ist Hegel zufolge „der konkrete Begriff der Freiheit zu sehen.228 Vor dem Hintergrund der bisherigen rekonstruktiven Bemühungen ist es nicht verwunderlich, dass Hegel diese Struktur des selbstbezüglichen und sich selbst transformierenden Willens, die am Begriff des Geistes orientiert ist, anhand von Beispielen expliziert, die erneut auf die besondere Sphäre der Sozialität verweisen, die zuvor mit dem Begriff ‚plastisch‘ bezeichnet wurde. So findet sich dieser „kon­ krete Begriff der Freiheit […] schon in der Form der Empfindung“, so Hegel, „z.B. in der Freundschaft und Liebe“.229 In diesen Beziehungen ist eine freiheitliche Be­ wegung wirksam, die Hegel als eine „sich in sich vermittelnde Tätigkeit und Rück­ kehr in sich“ beschrieben hat. Dabei stellt sich die befreiende Bewegung, durch die sich diese Beziehungen auszeichnen, so dar, „daß [das Allgemeine] in seiner Beschränkung, in diesem Anderen bei sich selbst sei, daß, indem es sich bestimmt,

224 

Ebd., § 7, S. 54. Ebd., § 7, S. 55. 226 Ebd. 227  Ebd., § 7, S. 55 – 56 (Herv. T. S.). 228  Ebd., § 7, Z, S. 57. 229 Ebd. 225 

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es dennoch bei sich bleibe und nicht aufhöre, das Allgemeine festzuhalten […]“.230 Diese Beschreibung lässt sich durchaus mit den Erläuterungen zur „zweiten Abs­ traktionsleistung“ verbinden, von der im Zusammenhang mit der Kritik des naturund vernunftrechtlichen Rechtsverständnisses die Rede war. Die Anforderungen an ein solches Recht wurden im Anschluss an den Versuch, Hegels „Genealogie des Rechts“ nachzuzeichnen, mit den Entwicklungsstufen der Entsubstantiierung, der Subjektivierung und der Vergeistigung in Verbindung gebracht. In der For­ mel der „sich in sich vermittelnden Tätigkeit und Rückkehr in sich“ erhalten diese Überlegungen ihre weitere Konkretisierung. Konkrete geistige Freiheit äußert sich in der Freilassung des Anderen bei gleich­ zeitiger Bestimmtheit in der Beziehung: „In der Bestimmtheit soll sich der Mensch nicht bestimmt fühlen, sondern indem man das Andere als Anderes betrachtet, hat man darin erst sein Selbstgefühl. Die Freiheit liegt also weder in der Unbe­ stimmtheit noch in der Bestimmtheit, sondern sie ist beides“, so Hegel.231 Hier wird gleichsam auf eine Strukturformel gebracht, was zuvor als eine besondere Form der „Verbindlichkeit, die nicht bindet“ (Plessner) diskutiert wurde: Die Freiheit äußert sich mithin in der Rückwendung von jeder „Einseitigkeit und Gebunden­ heit“ auf sich selbst und auf das Allgemeine: „[D]ie Freiheit ist, ein Bestimmtes zu wollen, aber in dieser Bestimmtheit bei sich zu sein und wieder in das Allgemeine zurückzukehren.“232 Diese Feststellung bringt zum Ausdruck, dass es nicht – oder jedenfalls nicht nur – darum gehen kann, dass man sich mit dem Anderen identifiziert. Zu dieser Lesart scheint aber Axel Honneth zu tendieren: „[Z]u vollständiger Freiheit“, so Honneth, „findet [das Subjekt] vielmehr erst, wenn es in diesem ‚Anderen‘ in der Weise bei sich selbst bleibt, daß es dessen Eigenarten oder Besonderheiten als et­ was erfährt, mit dem es sich zu ‚identifizieren‘ vermag.“233 Honneth zufolge gehe es Hegel darum, „die rechtlichen oder sozialen Bedingungen zu umreißen, welche es den Subjekten ermöglichen, ihren Willen auf Tätigkeiten oder Objekte zu be­ schränken, die sie als Ausdruck ihrer selbst begreifen können.“234 In gewisser Weise scheint diese Darstellung Hegels Anspruch jedoch zu verkür­ zen, denn es kann Hegel nicht um die Behauptung gehen – dies scheint Honneths Interpretation nahezulegen –, dass das Individuum seinen Ausdruck in der Welt, die ihn umgibt, einschließlich ihrer Institutionen, erst suchen muss und auf diese Weise immer nur vorfinden kann. Vielmehr schließt Hegel genau genommen ge­ rade aus, dass es ein solches ‚außerhalb‘ der Verhältnisse stehendes Individuum überhaupt geben kann. Die Konsequenz wäre eine Depotenzierung des Subjekts 230 Ebd. 231 

Ebd. (Herv. T. S.).

232 Ebd. 233  Honneth, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 407. 234  Ebd., S. 408.

290

3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

zum Subjekt der Wahl. Demgegenüber suggerieren Hegels Ausführungen, dass in der Seinsweise der Individuen gleichsam eine Doppelung angelegt ist: Einer­ seits existieren Individuen nur in bestimmten Verhältnissen und Praktiken, in einer ‚Normalität‘ des Alltäglichen, in der sie „bei sich“ sein können. Doch andererseits kann es lebendige Individualität nur geben, wenn Individuen die Erfahrung ma­ chen können, aus diesem Zustand des Bestimmtseins „in das Allgemeine zurück­ zukehren“. Individuelle Lebendigkeit lässt sich mithin nur als Vollzug dieser beiden Ausübungsweisen ihrer selbst denken: „bestimmt“ zu sein und das Potential zur „Unbestimmtheit“ zu bewahren. Sieht man in dieser Doppelbewegung den Ausdruck der geistigen Form des Wollens, so darf diese Form des Wollens weder preisgegeben noch auf eine andere Form, etwa die, die der Rationalität des Verstandes gemäß ist, reduziert werden. Treibt man diese Überlegung auf die Spitze, so müsste man sogar sagen, dass Indi­ viduen, wenn sie sich in ihrem Wollen einseitig auf etwas Bestimmtes versteifen, die Gefahr des Selbstverlusts erleiden: „Der Wille, der seiner sicher ist, verliert sich darum im Bestimmten noch nicht“,235 betont Hegel. Davon ausgehend lässt sich noch einmal das Spezifische der Kunst des Balanceakts in Erinnerung rufen, den der freie Wille vollzieht und der darin besteht, „bei sich selbst“ zu bleiben, ohne dabei den Charakter des Allgemeinen zu verspielen. Es gilt, die Fähigkeit, jederzeit „unbestimmt“ und „ungebunden“ zu sein, die als Garant der Lebendigkeit fungiert, nicht zu verspielen. Soll man aber in der Lage sein, sich aus jeder Form der einseitigen Fixierung zu lösen, so gehört dazu auch das Vermögen, sich einer unterschiedslosen Absorption durch Bindungen und natürliche Kontexte zu entzie­ hen – seien es auch solche, die der ‚zweiten Natur‘ zuzurechnen sind. Die Kunst der Freiheit bestünde darin, bestimmt zu sein, ohne dabei die Lebendigkeit zu ver­ lieren, kurzum, in der Lage zu sein, sämtliche Identifizierungen zu unterlaufen und die Freiheit nicht der Willkür auszuüben, sondern die fundamentalere Freiheit des Willens zu wollen. Beflügelt von dieser Exposition des Willensbegriffs als Lebenskunst, könnte man sich von Hegels weiteren rechtsphilosophischen Ausführungen Aufschluss über die Frage erhoffen, wie eine solche geistige Freiheit des subjektiven Willens zur Geltung kommt. Doch wie überall sonst in seinen ethisch-politischen Schriften bleibt Hegels Position ambivalent. Und so lassen sich auch in der Rechtsphiloso­ phie Hegels konfligierende Perspektiven innerhalb der Darstellung der Sittlichkeit ausmachen. Sie sind vor allem dort anzutreffen, wo die Vermittlung zwischen den beiden Dimensionen der Autonomie misslingt und es gleichsam zu einem Paral­ lellauf dieser Formen der Autonomie kommt: Die eine lässt sich mit Hegel „zweite Natur“ oder Welt der „Erscheinung“ und der „Notwendigkeit“ nennen, worin der Wille zur Bestimmtheit gelangt und sich „beschränkt“; die andere geht darüber hinaus und zeugt von einem offenen Subjektivitätsverständnis, das mit der subjek­ tiven Freiheit des Wollens und mit der Entwicklung der rechtlichen und politischen Kultur verbunden ist. 235 

GPR, § 13, Z, S. 65.

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Erst zu dieser zweiten Perspektive gehört die Fähigkeit, über die bloß „negative Freiheit des Verstandes“ hinauszugehen und Festlegungen zu überschreiten. Die­ se Überschreitung besteht jedoch nicht darin, dass Individuen aus den sittlichen Kontexten – kraft der Fähigkeit zur „Entgegensetzung“ – gleichsam heraustreten. Vielmehr kommt es auf Distanzierungsleistungen anderer Art an. Von solchen Mo­ menten, die den engen, moralisch-juridischen Rahmen der Entzweiung, für den die „negative“ Verstandesfreiheit typisch ist, überschreiten, ist in der Rechtsphiloso­ phie allenthalben die Rede. Dies lässt sich zum Beispiel anhand von Hegels Dar­ stellung der Problematiken von Natur und Freiheit oder von Staat und Individuum erläutern, oder daran, wie sich ihm zufolge subjektive Zwecke in der Welt verwirk­ lichen, wie aus bloßen Berechtigungen und Ansprüchen Rechte werden, usw. Dass die Freiheit sich im Recht realisiert, beschreibt Hegel als einen Prozess, in dem der Wille sich von seiner „unfreien“, noch natürlichen Kondition befreit. Dieser Befreiungsprozess nimmt den komplexen Weg der Entäußerung und der „Hineinbildung“ durch eine nochmalige Rückwendung auf sich. Dabei wird die noch unfreie Kondition des Menschen, der noch „natürlich“ ist, überformt und ver­ geistigt: „Der Mensch, der an sich vernünftig ist, muß sich durch die Produktion seiner selbst durcharbeiten durch das Hinausgehen aus sich, aber ebenso durch das Hineinbilden in sich, daß er es auch für sich werde“, so Hegel.236 Auch hier folgt die Entwicklung dem Strukturprogramm, dass der besondere Inhalt sich erst in einer höheren Form erfüllt. „Der nur erst an sich freie Wille ist der unmittelbare oder natürliche Wille.“237 Zwar ist der Wille auch hier bereits „selbst bestimmend“, diese Bestimmungen „erscheinen“ aber „als ein unmittelbar vorhandener Inhalt – es sind die Triebe, Begierden, Neigungen, durch die sich der Wille von Natur bestimmt findet.“238 Zu solchen natürlichen Bestimmungen zählt Hegel „physische Bedürfnisse, Essen und Trinken“, aber auch „sinnliche Triebe“ „geistiger Natur“ wie „Mitleid, – Ehre, Ruhm“.239 Wenn unterschiedliche natürliche Bestimmungen bloß vorhanden sind, sind sie aber, streng genommen, noch gar nicht von Bedeu­ tung. Ihren Inhalt erhalten Triebe und Neigungen Hegel zufolge bezeichnenderwei­ se überhaupt erst dann, wenn sich dieser Inhalt in Rechten und Pflichten geltend macht: „Inhalt der Triebe und Neigungen kommt nachher als Pflichten und Rechte vor – Pflichten für das Subjekt, Rechte an und für sich – Ihr Inhalt macht sich gel­ tend.“240 Außerhalb des Rechts bzw. der „Rechte“, im weitesten Sinne verstanden, sind diese natürlichen Bedürfnisse und Emotionen mithin gar nicht von Belang und werden als solche gar nicht wahrgenommen. Dieselbe Struktur lässt sich auch im Verhältnis des Individuums zum Staat ver­ folgen. Die „gedoppelte Seite“ des Staates und der Gesetze sieht Hegel darin, dass 236 

Ebd., § 10, Z, S. 62. Ebd., § 11, S. 62. 238 Ebd. 239  Ebd., § 11, N, S. 62. 240  Vgl. ebd., § 3, N, S. 43. 237 

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

die – gegebenenfalls widerstreitenden – Perspektiven des an sich Vernünftigen und dessen, was der „subjektive[n] Einsicht“ von jemandem entspricht, verbunden wer­ den müssen.241 Einerseits ist das Individuum berechtigt, zu verlangen, dass das in sich Vernünftige und Rechte für es zugleich einsichtig sein muss. Andererseits kommt es jedoch darauf an, dass das Rechte „gilt“ und nicht nach subjektivem Belieben der Einzelnen zur Disposition steht. Auch hier gilt es zu verhindern, dass Willensfreiheit sich auf die Freiheit der Willkür242 und der Wahl243 reduziert, da das „Gelten des Rechts“ – zum Nachteil von subjektiver Freiheit selbst – unter sol­ chen Bedingungen nicht gewährleistet werden kann: „[D]ie subjektive Einsicht ist zugleich etwas Zufälliges, und das Gelten des Rechts kann nicht davon abhängig gemacht werden, ob der eine so meinte und möchte, – oder so. Denn eben sie [die Gesetze; T. S.] [sind] den Nichtzufälligen das, worin vielmehr die Zufälligkeit auf­ gehoben ist.“244 Diese Äußerungen deuten allerdings keineswegs darauf hin, dass die „Zufälligkeit“ des Einzelnen inklusive seiner Willkür- und Wahlfreiheit unbe­ rechtigt ist. Vielmehr kann es die damit verbundenen individuellen Freiheitsräume erst geben, wenn sie rechtlich geschützt sind. Analog dazu beschreibt Hegel auch den Vorgang, wie sich subjektive Zwecke in der Welt verwirklichen, im Rückgriff auf dieses überschüssige Moment, das die Festlegung auf die Entzweiungsstruktur überschreitet: Nur „de[m] formale[n] Wille[n] als Selbstbewußtsein, welcher eine Außenwelt vorfindet“,245 so Hegel, er­ scheint es so, als würde der besondere Wille sich in die „Außenwelt“ entäußern, indem er „den subjektiven Zweck durch die Vermittlung der Tätigkeit und eines Mittels in die Objektivität […] übersetz[t]“.246 Doch unter der Entäußerung an die „Außenwelt“ ist stets mehr zu verstehen als „die Seite der Erscheinung des Wil­ lens“.247 Sie ist Teil der Verwirklichung der Freiheit selbst: „Was hier ausgeführt werden soll, ist der Begriff der Freiheit – er der Zweck; seine Vollführung, Objek­ tivierung ist seine Entwicklung.“248 Freiheit verwirklicht sich in einer Reihe von „Vollbringungen des Rechts“, die wiederum auf den „andere[n] Willen“ angewie­ sen bleiben, der die jeweiligen subjektiven „Vollbringungen“ als berechtigt aner­ kennt oder, wie Hegel schreibt: sie „gelten läßt“.249 Auch hier ist man mit einem Konzept von Recht konfrontiert, dessen Verwirkli­ chung von gelingenden Formen von Sozialität, die stets auch spezifisch individua­ lisierend wirken, nicht getrennt werden kann. Hegel spricht von den „[s]innliche[n] 241  Vgl.

ebd. Vgl. ebd., insb. § 15. 243  Ebd., § 16, § 17. 244  Ebd., § 3, N, S. 43. 245  Ebd., § 8, S. 58. 246 Ebd. 247 Ebd. 248  Ebd., § 8, N, S. 59. 249  Ebd., § 8, N, S. 58. 242 

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

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Weise[n] des Vollbringens“: „In allen und jedem Willens-Akten“, so Hegel, seien „Vollbringungen des Rechts dasselbe – Besitznahme – Verbrechen – Strafe – Ar­ beit, Staat“, man müsste eigentlich sagen, dass sie dieselbe Struktur und Dynamik aufweisen, dass „ohnehin Geist an Geist, – Wille an Wille sich wendet. Vollbringen – daß der andere Wille es gelten läßt.“250 Hegel hebt ausdrücklich hervor, es sei legitim, dass ein „wahrhafter Wille; freier Wille, […] sich [selbst; T. S.] zum Gegenstand hat – seine Freiheit – nur sie will“, denn die Freiheit des besonderen Einzelnen ist „sein Dasein – z.B. eben im Recht“.251 Sollen jedoch besondere An­ sprüche und Berechtigungen tatsächlich verwirklicht werden, so müssen sie als gültige Ansprüche anerkannt werden. Sie müssen sich, mit anderen Worten, in Rechte und Pflichten transformieren, und dies erfolgt durch geistige Operationen, durch Prozesse der Bildung im weitesten Sinne. Auch hier gilt allerdings, dass Subjektivität – um ihrer selbst und ihrer eigenen Freiheit willen – über den Standpunkt der Reflexion, der Willkür- und Wahlfreiheit hinausgelangen muss. Erst dann wäre sie in den Stand versetzt, sich „selbst zum Inhalte und Zwecke [zu haben]“:252 „Die Reflexion, die formelle Allgemeinheit und Einheit des Selbstbewußtseins, ist die abstrakte Gewißheit des Willens von seiner Freiheit, aber sie ist noch nicht die Wahrheit derselben, weil sie sich noch nicht selbst zum Inhalte und Zwecke hat, die subjektive Seite also noch ein anderes ist als die gegenständliche; der Inhalt dieser Selbstbestimmung bleibt deswegen auch schlechthin nur ein Endliches. Die Willkür ist, statt der Wille in seiner Wahrheit zu sein, vielmehr der Wille als der Widerspruch.“253 Ferner heißt es: „Die Freiheit in aller Reflexionsphilosophie, wie in der Kantischen […], ist nichts anderes als jene formale Selbsttätigkeit.“254 Die Freiheit der Wahl ist nach Hegel nur ein anderer Name für undurchschaute Verstrickung in Abhängigkeiten von „zufälligen“ Inhal­ ten, die man jeweils wählt.255 Das Subjekt bleibt so lange von wechselnden Inhalten abhängig, wie „der Inhalt nicht durch die Natur meines Willens bestimmt ist“.256 Individualität kommt nur dann zur Entfaltung, wenn der Einzelne seine Wil­ lensfreiheit richtig versteht und sie nicht mit der Willkürfreiheit verwechselt. Erst dann kommt die Individualität nicht bloß als eine „partikulare“ und als „Manier“ zur Geltung, wie sich Hegel ausdrückt, sondern „die Gestalt selbst lebt und tritt hervor“.257 Erst eine so verstandene Subjektivität wäre ‚plastisch‘ zu nennen: Freie Subjektivität zeichnet sich dadurch aus, dass „Unmittelbarkeit der Natürlichkeit und Partikularität aufgehoben“ sind, jedoch so, notiert Hegel an einer späteren 250 

Ebd. (Herv. T. S.). Ebd., § 10, N, S. 61. 252  Vgl. ebd., § 15, S. 66. 253 Ebd. 254  Ebd., § 15, S. 67. 255  Vgl. ebd. 256  Ebd., § 15, Z, S. 68. 257 Ebd. 251 

3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

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Stelle, „daß Bestimmtheit bleibt –“.258 Diesen Balanceakt zu realisieren, bedeutet für Hegel, gebildet zu sein. Ungebildete Menschen missverstehen ihre Willens­ freiheit als Freiheit der Willkür, sie sind immer nur in der Lage, Forderungen nach außen zu richten, Ansprüche an andere zu stellen und sie zu Gegenleistungen zu verpflichten. Dergestalt haben sie sich aber noch nicht auf den Stand der „Bildung“ gebracht, denn „Bildung“, notiert Hegel, „ist Erhebung zur Allgemeinheit“, oder, anders ausgedrückt, „den Willen selbst in seiner Allgemeinheit [zu wollen]“.259 2.  Die Ausführung: Moralität und Sittlichkeit, Gesellschaft und Staat a)  Warum Moralität ein höherer Standpunkt ist In der „Einleitung“ zu den Grundlinien hat Hegel eine Rechtsphilosophie in Aussicht gestellt, die aus der Widerspruchsstruktur von Subjektivität und Recht hinausführen wird. In diesem Unternehmen kommt der Sphäre der Moralität ein besonders hoher Stellenwert zu. Moralität kann sich deshalb rühmen, ein gegen­ über dem „abstrakten Recht“ höherer Standpunkt zu sein, weil die Besonderheit des Individuums hier mit einem Mal relevant wird. Selbstbestimmung, Triebfeder des Willens, Vorsatz – laut Hegel interessiere dies „[b]eim strengen Recht“ nicht und finde erst innerhalb der Moralität seine Berücksichtigung und Beachtung.260 Auch die Frage nach den jeweiligen Berechtigungen des besonderen Individuums kommt auf der Ebene der Moralität überhaupt erst auf: Mit einem Mal ist hier vom „Recht des Wissens“261 und vom „Recht der Handlung“262 die Rede, denn hier, in der Moralität, gehe es vor allem um „das Recht des Subjekts, in der Handlung seine Befriedigung zu finden“.263 In diesem Zusammenhang sind die Gründe dafür zu suchen, dass Hegel – trotz aller Kritik – letztlich doch eine affirmative Haltung zur modernen Entzweiungsform des Sittlichen einnimmt: Noch in der bekannten Formulierung der Differenzschrift (1801) ist von der „notwendigen Entzweiung“ die Rede, die Hegel hier sogar als „Faktor des Lebens“264 bezeichnet: Die Entzwei­ ungsstruktur wird ungeachtet aller Kritik gewürdigt, weil sie Bedingungen bereit­ stellt, unter denen subjektive Freiheit ihre Berechtigung erlangt. Wenn es einen Ort gibt, an dem Hegel in seiner Rechtsphilosophie das Problem der subjektiven Freiheit verhandelt, dann ist es das Kapitel über Moralität. Es ist die sich selbst zunehmend durchsichtig werdende Moralität, die sich in der Rechts­ philosophie zunächst – in ihrer affirmativen Bedeutung – mit dem Versprechen der Steigerung individueller Lebendigkeit verbindet. „Diese subjektive oder mora­ 258 

Ebd., § 21, N, S. 73.

259 Ebd. 260 

Vgl. ebd., § 106. Ebd., § 117, S. 217. 262  Ebd., § 114, S. 213. 263  Ebd., § 121, S. 229. 264  Differenzschrift, S. 21 (Herv. T. S.). 261 

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

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lische Freiheit ist es vornehmlich, welche im europäischen Sinne Freiheit heißt“, so bereits im Moralitätskapitel der Enzyklopädie.265 Ungeachtet seines stets kritischen Gestus, Verabsolutierungsformen von Subjektivität als Verfehlungen dessen, was lebendige Individualität bedeute, zu problematisieren und ihrer Selbstzerstörungs­ tendenz zu überführen, hält Hegel daran fest, dass Gewissen, Innerlichkeit und Subjektivität zu den großen, zentralen Errungenschaften der modernen Zeit ge­ hören. Sie sind es, die das Individuum allererst zu einem Handelnden machen, im Unterschied etwa zu demjenigen, der fremde Absichten ausführt. Überhaupt erlaubt es erst dieser „Standpunkt“, zwischen Vollzügen und Geschehnissen zu unterscheiden. Deshalb geht es in der Moralitätssphäre der Rechtsphilosophie kon­ sequenterweise nicht mehr um eine Tugendlehre im engeren Sinne, sondern um eine Theorie der Handlung, die an die Explikation der jeweiligen Bezüglichkeits­ modi der Subjektivität angelehnt ist: Dazu gehören der Selbst- und der Fremdbezug ebenso wie der Bezug auf ein Sollen und die Normativität des Guten.266 Hegel verbindet die Ansätze einer Handlungstheorie, die der modernen Form von Indi­ vidualität gerecht werden könnte, bezeichnenderweise überhaupt mit der höchsten Entwicklung der Widersprüche267 – genau darin ist das Telos des Moralitätskapitels letztlich zu sehen. Das Moralitätskapitel soll dem ‚gegenförmlichen‘ Moment der handelnden Individualität Rechnung tragen. Doch dieser Anspruch bleibt unein­ gelöst: Die Widerspruchssteigerung wird im Rahmen des Moralitätskapitels nicht durchsichtig gemacht, ihre Entwicklung und ihre Folgen für die Verfasstheit von politischer Kultur bleiben unexpliziert. Doch nicht nur das ist gemessen an Hegels Anspruch überraschend. Es springt sofort ins Auge, dass dasjenige, was als Prozess einer zunehmenden Objektivie­ rung der Subjektivität angekündigt wurde, im Laufe des Kapitels eine gänzlich konträre Durchführung erfährt – bis hin zu einer völligen Pervertierung dieses Gedankens in Gestalt der sich als absolut setzenden und sich darin missverste­ henden Subjektivität. Mithin führt der Gang des Moralitätskapitels erneut in die Sackgasse ihrer pathologischen Form. Dies ist umso überraschender, als Hegel sein Urteil über eine derartige Form von Moralität doch schon längst gefällt zu haben schien: Jedenfalls wurde bis dahin bereits wiederholt festgestellt, dass die Gründe für die Verkehrung der Moral in ihre pathologische Form in Wahrheit nicht im Subjekt selbst, sondern in bestimmten politisch-ökonomischen Bedingungen zu suchen seien, unter denen diese pathologische Form zur Dominanz gekommen ist. Nimmt man diese Einsicht in die Betrachtung des Verhältnisses von Moralität und Sittlichkeit auf, so muss konstatiert werden, dass auf diese Weise auch Hegels eigenes Sittlichkeitsmodell unbemerkt auf die Probe gestellt werden muss, wenn die Gestalt der „modernen Sittlichkeit“ sich damit nicht sogar gewissermaßen dis­ kreditiert, denn jede Pathologie verweist letztlich auf einen Fehler in derjenigen 265 

Enz. III, § 503, S. 312. Vgl. GPR, §§ 113 – 134, S. 211 ff. 267  Vgl. ebd., § 112, S. 210. 266 

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Struktur, die sie hervorgebracht hat. Schließlich ist bereits Hegels Naturrechts­ aufsatz die Einsicht zu verdanken, dass jede „positiv-rechtlich[e] Wirklichkeit“, in Andreas Wildts Formulierung, „in einem Bedingungsverhältnis zur Wirklichkeit von Moralität“ steht.268 Auf die Verfallsgeschichte der Moralität bezogen, wie sie Hegel im Moralitätskapitel der Grundlinien erzählt, muss die von Hegel kritisierte Gestalt der Moralität, die auf der Höhe ihrer Entwicklung ins „Böse“ kippt, in ei­ nem internen, kann sie schwerlich in einem bloß äußeren Zusammenhang mit der Verfasstheit der modernen Sittlichkeit stehen. Nun könnte man einwenden, dass die pathologische Seite der Moralität nicht Produkt der Sittlichkeit selbst ist, sondern dass es sich dabei um ein gleichsam nicht zu vermeidendes Epiphänomen der desintegrierten Sphäre der „bürgerlichen Gesellschaft“ handelt, von der gesagt wird, dass sie sich eben durch einen „Verlust der Sittlichkeit“269 auszeichnet. Doch die Sorge um die heraufbeschworenen „mo­ ralischen“ Pathologien bezieht sich nicht nur auf die „bürgerliche Gesellschaft“, sondern umfassender auf das Grundelement der modernen Sittlichkeit, wie Hegel sie beschreibt – auf ihre Entzweiung in Gesellschaft und Staat. Dies hängt damit zusammen, dass diejenigen Bestimmungen von Moralität, die für das öffentliche Handeln unumgänglich wären, in diesem Modell letztlich nicht fruchtbar gemacht werden. Am Ende muss man im Hinblick auf Hegels Modell der Sittlichkeit sogar von der Verdrängung ausgerechnet desjenigen Freiheitsimpulses sprechen, der von der Idee der handelnden Individualität ausging. Der Preis, der dafür zu zahlen ist, ist aber, dass in der Folge individuelle Freiheitsräume in Hegels Sittlichkeitsmodell sich auf nur noch einige wenige verengen. b)  „Moderne Sittlichkeit“ als Reaktion auf ein für überholt erklärtes Problem? Betrachtet man Hegels Theorie „moderner Sittlichkeit“, wie sie in der Rechts­ philosophie dargestellt wurde, so drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, dass sie als elaborierte Fassung genau derjenigen positivierten Form der Entzweiung gedeutet werden muss, die der frühe Hegel selbst noch als ideologische Verkehrung der sittlichen Praxis vehement kritisiert hat. Zugleich scheint es so, als hätte Hegel die „sozialen Pathologien“270 dieser Welt der positivierten Entzweiung aus dem sitt­ lichen Zusammenhang gleichsam ausgelagert und sie als einen Teil seiner Morali­ tätskritik erläutert. Bevor diese beiden Beobachtungen ausführlicher zur Sprache kommen, soll aber zuallererst das Problem identifiziert werden, auf das Hegel mit dem Sittlichkeitsmodell antwortet. Zu diesem Zweck lohnt es sich, erneut an das ‚alte‘ Problem des Naturrechtsaufsatzes zu erinnern. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 108. GPR, § 181, S. 338. 270 Vgl. Axel Honneth, Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozial­ philosophie, in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 2000, S. 11 – 69; vgl. auch ders., Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001, Kapitel 3. 268 Vgl. 269 

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

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Zur Bilanz des Aufsatzes gehörte eine Reihe von Behauptungen und Diagnosen: Erstens dürfe individuelle Freiheit nicht mit der „allgemeinen Freiheit aller“271 ver­ wechselt werden, denn sie lasse sich nicht unter die Behauptung gleicher individu­ eller Rechte subsumieren. Zweitens diagnostiziert Hegel den Verlust der Innerlich­ keit, die im „Systeme einer solchen Äußerlichkeit“272 nicht zur Geltung kommen kann. Drittens ist sein Befund derjenige eines Verlusts politischer Freiheit, die sich nach Hegel nicht in bürgerlicher Freiheit erschöpft. Zu den praktisch-politischen Konsequenzen der Entzweiung gehört für Hegel die vorherrschende apolitische Haltung des Privatmenschen, die für die einzelnen Individuen und für die politi­ sche Kultur problematisch ist. Vor dem Hintergrund dieser Diagnose lässt sich Hegels Rechtsphilosophie so lesen, als sollte in Gestalt der „modernen Sittlichkeit“ für das hier umrissene Ent­ zweiungsproblem eine politische Lösung angeboten werden. In der Tat wird das Sittlichkeitsmodell der Rechtsphilosophie so konzipiert, dass in der Sittlichkeit so­ wohl der Mangel an Konkretion, an dem das „abstrakte Recht“ leidet, als auch das Ungenügen der universalistischen Moral, die sich vom Bezug zum Guten ablöst, überwunden werden sollen. Im Namen der Rehabilitierung vernünftiger Praxis sucht Hegel diese Praxis aus der unbefriedigenden Kollision von äußerem Rechtszwang und einer „nicht zwangsbewehrten“273 innerlichen Moral (als einer Ordnung von Pflichten und Tugenden) zu befreien, indem er sie in das Modell „moderner Sittlichkeit“ überführt. In gewisser Weise antwortet aber das Sittlichkeitsmodell der Rechtsphilosophie damit auf eine Fragestellung, die im Grunde bereits mit der Kritik im Naturrechtsaufsatz für überholt erklärt wurde. Mit dem Sittlichkeitsmodell reagiert Hegel auf das Problem der wechselseitigen – symmetrischen – Defizienz von Recht (als äußerem Zwang) und Moral (deren Er­ füllung „zufällig“ bleibt), obwohl sich dieses Problem, wie es die Rekonstruktion seiner Kant-Kritik gezeigt hat, in Wahrheit anders stellen muss: als das Problem des asymmetrischen Zwangs aufgrund des Vorrangs der bloß formellen juridischen Kategorien, die auch die moralischen besetzen – mit der Folge einer Verkürzung der subjektiven Freiheit auf einen bloßen Anspruch. Eine ähnlich gelagerte Asym­ metrie schreibt sich jedoch, wiewohl in anderen Formen, letztlich auch auf der Ebene der rechtsphilosophisch präsentierten Sittlichkeitskonzeption fort. Hegels Bemühungen, über die Abstraktionen des Rechts und die Pathologien der Moral hinauszukommen, bleibt bei genauem Hinsehen durch und durch an die falsche Problemstellung gebunden und scheitert daran (oder nimmt es gar nicht erst in Angriff), das produktiv Neue, das der Kant-Kritik so mühsam abgerungen wurde, als ein Modell von Sittlichkeit – von moderner politischer Kultur – rechtsphiloso­ phisch zur Darstellung zu bringen.

271 

NR, S. 471.

272 Ebd. 273 Vgl.

Lübbe-Wolff, Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 330.

298

3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Zwar steht Hegels Deutung der Gesellschaft – äußerlich betrachtet – nach wie vor im Einklang mit der Diagnose des Naturrechtsaufsatzes: Die entzweite poli­ tische Kultur der liberal-bürgerlichen Welt wird als eine Sphäre des „Verlusts der Sittlichkeit“ bezeichnet. Doch die Überlegungen zu den öffentlich zu nennenden Verhältnissen und gelingenden sozialen Beziehungen, die für reelle Erfahrbarkeit der subjektiven Freiheit wichtig sind, spielen nur zu Beginn des Moralitätskapitels eine Rolle. Was dort in Aussicht gestellt wird, bleibt letztlich unausgeführt und wird im Sittlichkeitsmodell nicht weiterverfolgt. Damit dreht man sich aber im Kreis: Vor dem Hintergrund der Marginalisierung von subjektiver Freiheit findet sich diese Gestalt der politischen Kultur, die von Hegel als „moderne Sittlichkeit“ gleichsam ,zusehend‘ dargestellt wird, Hegels eigenem Vorwurf der Abstraktheit ausgesetzt. Ironischerweise erweist sie sich, mit anderen Worten, in Teilen sogar selbst als eine derjenigen Gestalten, in denen die Gründe für die beklagte morali­ sche Desintegration letztlich gesucht werden müssen. c)  Die Entzweiung in Gesellschaft und Staat und die Intellektualisierung der Freiheit Hegels Theorie der modernen Sittlichkeit ist so verfasst, dass die offene, vor­ ranglose Struktur der Entzweiung, auf die die im ersten Kapitel unternommenen Lektüren des Naturrechtsaufsatzes ex negativo hingewiesen haben und an die, wie eingangs diskutiert, auch noch die programmatische Eröffnung der Hegelschen Rechtsphilosophie anzuschließen scheint, gleichsam doppelt geschlossen wird, und zwar durch die Etablierung des Vorrangs des Staates vor der Gesellschaft und durch die Etablierung des Vorrangs der Weltgeschichte vor den einzelnen National­ staaten. Zu den Konsequenzen dieser doppelten Schließung gehört, dass im Laufe der Lektüre des Sittlichkeitskapitels sich immer stärker der Eindruck durchsetzt, dass die Perspektive der Genese und der Entwicklung des Rechts zugunsten derje­ nigen eines Geschehens preisgegeben wird, in dem es um personale Einflussnah­ me und Verantwortung letztlich schlecht bestellt ist. Wie es zu einer derart pessimistischen Wendung von Hegels Sittlichkeitskapitel kommt, ist nur schwer zu erklären, besteht Hegels rechtsphilosophischer Schach­ zug doch gerade darin, die Entzweiungskonstellation von Moral und Recht in ein begriffslogisch-spekulativ verbürgtes Verhältnis von Gesellschaft und Staat über­ führt zu haben. Damit scheint eine politische Lösung für das im Naturrechtsauf­ satz noch ungelöst gebliebene Problem der Entzweiung gefunden zu sein. Doch bei näherem Hinsehen tritt das Ergebnis dieser politischen Lösung deutlich zutage: Für die Gesellschaft, die als die Sphäre der Nichtintegrierbarkeit von Einzelnen in Erscheinung tritt und als eine „Stufe der Differenz“ den „Verlust der Sittlichkeit“ signalisiert,274 bedeutet diese Lösung, dass ihre substantielle Wirklichkeit letztlich staatlich verbürgt werden muss. Dies besagt, dass eine wohlverstandene politische Existenz des Menschen nach Hegel in der richtigen Art des Umgangs mit dieser in 274 

Vgl. GPR, § 181, S. 338.

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

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Erscheinung getretenen Sphäre der Nichtintegrierbarkeit der Elemente bestünde. Erst in dem Maße, wie diese Angewiesenheit der Gesellschaft auf die Sittlichkeit des Staates (und nicht etwa auf die Authentizität von Individuen in der Familie) durchschaut wird, verliert die Selbständigkeit von gesellschaftlich Einzelnen ihren Charakter als „Schein“. Die vernünftige Gestaltung der Wirklichkeit besteht in der Preisgabe der „äuße­ ren Harmonie“ von Gesellschaft und Staat275 zugunsten der rechtsphilosophischen Denkfigur ihrer „vollkommenen Durchdringung“276 in der konkreten Sittlichkeit als „zweite Natur“. Im Naturrechtsaufsatz bezieht sich die Wendung „zweite Natur“ noch auf die „unorganische“ Natur der Gesellschaft, und zwar in der Bedeutung der Freilassung dieser nicht sittlich integrierbaren Sphäre, wie sie in der Erörterung der Hegelschen Figur des „Opfers der Sittlichkeit an sich selbst“ bereits zur Spra­ che kam. Die Freilassung dieser künstlichen – aus natürlichen und sittlichen Bin­ dungen befreiten – gesellschaftlichen Sphäre deutet Hegel im Naturrechtsaufsatz noch als einen Prozess, der um der Autonomie und Individualitätsverwirklichung willen unvermeidlich geworden ist. Diesen Zusammenhang der Herauslösung der Individualität aus der sittlichen Substantialität des gemeinsam geteilten Wertekos­ mos bezeichnet Hegel als die „Aufführung der Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich selbst spielt“.277 In der Rechtsphilosophie ist es hingegen der Staat, in dem die „zweite Natur“ zur Vollendung kommt. „[A]ls Sittliches, als Durchdringung des Substantiellen und des Besonderen, enthält [der Begriff des Staates; T. S.], daß meine Verbind­ lichkeit gegen das Substantielle zugleich das Dasein meiner besonderen Freiheit, d. i. in ihm Pflicht und Recht in einer und derselben Beziehung vereinigt sind.“278 Es wird schnell deutlich, dass derartige Durchdringung jedoch letztlich nur gedanklich erfolgen kann. Politische Freiheit wird von Hegel in der Rechtsphiloso­ phie intellektualistisch verstanden.279 Am Ende zeichnen sich die Mitglieder des modernen Rechtsstaats, den die historische Formation moderner Sittlichkeit zum Telos hat, durch „das gedoppelte Moment“ aus, „Privatperson und als denkendes ebenso sehr Bewußtsein und Wollen des Allgemeinen zu sein“.280 Erst dieses ver­ nünftige, spekulative, vom Absoluten ausgehende Denken, das die Verhältnisse als vom Begriff gefordert zu erkennen erlaubt, vermag die Individuen zur wahrhaft öffentlichen Existenz zu befreien.

275 

Vgl. NR, S. 447. GPR, § 1, S. 30. 277 NR, S. 495. 278 GPR, § 261, S. 407. 279  Hier greife ich in Teilen auf Ergebnisse und Überlegungen zurück, die ich bereits an anderer Stelle diskutiert habe, vgl. Tatjana Sheplyakova, Was lässt sich mit Hegel über „politische Bildung“ sagen?, in: Hegel-Jahrbuch 1 (2010), S. 324 – 329, insb. S. 326 ff. 280  Ebd., § 308, S. 477. 276 

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Die gesellschaftliche Existenz des Menschen zeichnet sich demgegenüber im Wesentlichen durch ihre Entpolitisierung aus. Die Entäußerung im gesellschaftli­ chen Leben durch Bildung, Arbeit und die Einordnung in Institutionen befreit das moralische Subjekt zwar vom „Leiden an Unbestimmtheit“281 und macht es erst zum Menschen. Doch der mit dem moralischen Standpunkt für sich erkämpfte Freiheitsanspruch des Individuums als einem Differenten gegenüber anderen löst sich auf der gesellschaftlichen Stufe der Differenz ausschließlich in Privatexistenz auf, die sich letztlich in der Befriedigung der Bedürfnisse erschöpft – allerdings sind damit nicht mehr die Bedürfnisse natürlicher Art gemeint, wie noch in der Fa­ milie, sondern vor allem auch künstlicher Art, deren Vielfalt und „Verfeinerung“282 durch ausdifferenzierte arbeitsteilige Produktionsweisen gleichsam ins Unendli­ che potenziert wird. Bezeichnenderweise wird der Mensch – der in den Grundlinien vertretenen Position Hegels zufolge – genau hier konkret. Die Spur individueller Eingriffs­ möglichkeiten in die öffentlichen Angelegenheiten fällt dagegen denkbar schmal aus. Sie erscheint nun als Aufgabe eines bestimmten Standes der im „Dienst der Regierung“ stehenden Bürokraten, die „das Allgemeine zum Zwecke [ihrer] we­ sentlichen Tätigkeit [haben]“.283 Erst „in dem ständischen Elemente der gesetzge­ benden Gewalt, so Hegel, kommt der Privatstand zu einer politischen Bedeutung und Wirksamkeit“.284 Politische Freiheit kommt demzufolge nicht der „durch man­ nigfaltige Bedürfnisse und ihre Befriedigung ausgezeichnete[n] bürgerliche[n] Le­ bensform“285 zu, sondern ist Privileg des „allgemeine[n] Stand[es]“, der „die allgemeinen Interessen des gesellschaftlichen Zustandes zu seinem Geschäfte“ hat und der „der direkten Arbeit für die Bedürfnisse […] daher entweder durch Privatver­ mögen oder dadurch enthoben sein [muss], dass er vom Staat, der seine Tätigkeit in Anspruch nimmt, schadlos gehalten wird, so dass das Privatinteresse in seiner Arbeit für das Allgemeine seine Befriedigung findet.“286 Politisch-öffentliche Wirksamkeit kann für das Individuum mit anderen Wor­ ten nur substantiell zur „zweiten Natur“ werden. Wer jedoch nach der „politisch handelnden Freiheit“287 sucht, um die es Hegel gerade gegen Kants entpolitisie­ rende Verkürzung des Sinns von Autonomie noch zu tun war, wird von diesem Ergebnis enttäuscht sein, dass Freiheit sich ausschließlich in Institutionen oder als Prärogativ von Staatsbeamten oder bürgerlichen Intellektuellen realisiert. Ange­ sichts der Reduktion der Moralitätsdimension auf private Interessendurchsetzung und Bedürfnisbefriedigung steht man mit Hegels Rechtsphilosophie erneut vor der Honneth, Leiden an Unbestimmtheit. GPR, § 191, S. 349. 283  Ebd., § 303, S. 473. 284 Ebd. 285  Ebd., §§ 202 ff., S. 355 ff. 286  Ebd., § 205, S. 357. 287 Vgl. Arendt, Über die Revolution, S. 159. 281 Vgl. 282 

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

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bereits im Naturrechtsaufsatz ausgewiesenen Paradoxie: Die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Objektivierung der Individualität durch Bildung und Arbeit als „Glättung der Besonderheit“288 und die zunehmende Institutionalisierung mora­ lischer Verpflichtungen bei gleichzeitiger Entpolitisierung der gesellschaftlichen Sphäre erlaubt es, Hegels frühere Kritik an der „politischen Nullität“ des bürgerli­ chen Individuums erneut zu aktualisieren. Plakativ ließe sich festhalten: Aus Han­ deln wird Arbeit.289 Hegel bemerkt zu diesem Verlust wohl nicht ohne Nostalgie: „[M]oderne Zeiten – Amts- und Bürgerverhältnisse – Sitten – Gewohnheiten – ist allgemeiner Charakter – einer was der Andere; – rechtschaffen, nicht als sein indi­ vidueller Charakter. Im Amt muß ich eine Menge tun, was ich um des Amtes willen tue, um der Ordnung [willen].“290 Es scheint, als würden Hegels Beschreibungen auf die Konsequenz hinaus­ laufen, dass zu dieser Nivellierung des Besonderen durch Arbeitsprozesse „um der Ordnung willen“ die intellektuelle Freiheit unbedingt noch hinzutreten muss, damit diese Verhältnisse als befreiend und individualitätsermöglichend wahrge­ nommen werden können. Auf diese Weise erhält man jedoch eine Konstellation, die der von Hegel kritisierten Kantischen gar nicht unähnlich ist. In der Tat lässt sich von der Theorie der Entzweiung in gesellschaftliche und intellektuelle Freiheit ganz unmittelbar eine Brücke schlagen zur Unterscheidung zwischen ‚privat‘ und ‚öffentlich‘, wie sie bereits Kant konturiert hat. Stützt man sich etwa auf Kants Aufsatz „Was ist Aufklärung?“, so ist bezeichnend, dass das Prädikat ‚öffentlich‘ sich hier auf die durchaus einsame Tätigkeit eines „räsonnierenden“ Gelehrten bezieht, der seinen „öffentlichen Gebrauch [der Vernunft]“ an keine faktische, sondern vielmehr an eine potentielle Öffentlichkeit – an das „ganz[e] Publikum der Leserwelt“291 – richtet. Im Unterschied dazu nennt Kant aber all das „privat“, was sich auf die Subsistenzsicherung des Menschen, etwa durch die Ausübung der „ihm anvertrauten bürgerlichen Posten“ bezieht: „[R]äsonniert nicht!“, sagen die Bürger, der Offizier, der Finanzrat, der Geistliche.292 Dass der Kantische Begriff der Öffentlichkeit ganz exklusiv an die intellektuelle Freiheit eines jeden Menschen gebunden ist, kommt nirgendwo deutlicher zum Ausdruck als in der Haltung Kants zum Widerstandsrecht. Der „öffentlich“ genannte „Geist der Freiheit“293 ist Kant zufolge der einzig zulässige Modus des Widerstands gegen illegitimen Machtmiss­ brauch. „Der Widerstand, der gegen die Staatsgewalt berechtigt, gegen sie aber unter bestimmten Umständen auch notwendig und geboten ist“, bemerkt dazu ganz treffend Ernst Cassirer, „ist […] rein geistiger Art. […] Das Recht zum Widerstand, 288 

GPR, § 187, Z, S. 345. bereits Sheplyakova, Was lässt sich mit Hegel über „politische Bildung“ sa­ gen?, S. 327. 290  GPR, § 118, Z, S. 221. 291 Vgl. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [1784], in: ders., Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. 11, S. 53 – 61, hier: S. 55, A 485. 292 Ebd. 293  ÜG, S. 163, A 268. 289  Hierzu

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

das manche staatsrechtliche Theorien dem Bürger einräumen, löst sich […] für Kant in die bloße ‚Freiheit der Feder‘ auf.“294 Über Kants enormes Vertrauen in die öffentliche Wirksamkeit von intellektu­ eller Freiheit mag man staunen, doch es ist seine felsenfeste Überzeugung, dass der „Geist der Freiheit“ imstande ist, sich für seine Äußerungen bei den Regierun­ gen Gehör zu verschaffen.295 Deshalb hält Kant „die Freiheit der Feder – in den Schranken der Hochachtung und Liebe für die Verfassung worin man lebt“ – sogar für „das einzige Palladium der Volksrechte.“296 Darin bekundet sich Kants uner­ schütterliches Vertrauen in die Einsichtsfähigkeit des Menschen als Vernunftwesen. Diese Fähigkeit zur vernünftigen Einsicht ist nur dann gewährleistet, wenn der „Gehorsam“ gegenüber den „Zwangsgesetzen“ eines Gemeinwesens auf der einen und das Bewahren der „geistigen Freiheit“ auf der anderen Seite sich die Waage halten: „Es muß in jedem gemeinen Wesen ein Gehorsam, unter dem Mechanismus der Staatsverfassung nach Zwangsgesetzen (die aufs Ganze gehen), aber zugleich ein Geist der Freiheit sein, da jeder, in dem was allgemeine Menschenpflicht be­ trifft, durch Vernunft überzeugt zu sein verlangt, daß dieser Zwang rechtmäßig sei, damit er nicht mit sich selbst in Widerspruch gerate.“297 Angesichts dieser Äußerung drängt sich aber erneut die aus Hegels Naturrechts­ aufsatz bekannte Frage auf, ob und wie unterschieden werden kann zwischen Denkakten intellektueller Freiheit und der Weise ihres Gebrauchs, die lediglich zur Legitimierung des äußeren Zwangs dient. Diese Unentscheidbarkeit ist aber, so darf man vor dem Hintergrund der Hegel-Interpretation vermuten, ein Effekt davon, dass Moralität, die in den Grundlinien zunächst noch als eine gegenüber dem abstrakten Recht überlegene Sphäre profiliert wurde, innerhalb der Gestalt der Sittlichkeit letztlich – mit Ausnahme der intellektuellen Freiheit oder der Auf­ gaben der öffentlichen Verwaltung – ohne Einwirkung auf die Verfasstheit des Sitt­ lichen bleibt. Angesichts einer derartigen Spaltung in die geistige Freiheit auf der einen und Subsistenzsicherung auf der anderen Seite verwundert es wenig, dass die Autono­ mie des Einzelnen in der Sphäre der Sittlichkeit letztlich marginalisiert wird. Wenn Freiheit nicht mehr mit der Praxis des Handelns verbunden wird, sondern rein geis­ tiger Art ist, dann werden intersubjektive Verhältnisse allerdings auch nicht als eine konstitutive Größe für die Autonomie- und Freiheitsbehauptung des Einzelnen in Betracht gezogen. Das, was vor der Folie von Hegels Kritik als das Problem des Plastizitätsverlusts in öffentlichen Beziehungen diskutiert wurde, mit nachteiligen Folgen für individuelle Lebendigkeit, lässt sich mithin auch gegen Hegels eigenen Sittlichkeitsentwurf einwenden. 294  Ernst Cassirer, Kants Leben und Lehre [1918], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, hrsg. von Birgit Recki, Hamburg 2001, S. 360. 295  ÜG, S. 163. 296  Ebd., S. 161. 297  Ebd., S. 163.

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Besonders deutlich zeigt sich eine derartige Marginalisierung der individuellen Autonomie in der Einengung der subjektiven Freiheit auf die Existenzweise in der bürgerlichen Gesellschaft. Letztere zeichnet sich durch die Entäußerungsprozesse in der Arbeit und durch Verfeinerung der Bedürfnisse aus. Was allerdings unzu­ reichend zur Sprache kommt oder gar fehlt, ist die Dimension eines individuel­ len Handelns, das über die institutionalisierten Kontexte hinaus Relevanz hätte bzw. nicht lediglich auf diejenigen institutionellen Kontexte festgelegt wäre, die darauf abzielen, die entsittlichenden Folgen der bürgerlichen Gesellschaft lediglich zu kompensieren. Solche kompensatorischen Funktionen übernehmen in Hegels Entwurf etwa die Korporationen und die Polizei in ihrer weit gefassten Bedeutung auch der karitativen Wohlfahrtsfürsorge.298 Mit dem Kompensationsgedanken scheint sich aber auch die Bedeutung von politischer Freiheit gänzlich zu verändern: Sie ist in Hegels Sittlichkeitsentwurf entweder Privileg von Bürokraten, die sich für die Entwicklung des sittlichen Staates einsetzen, oder aber von Intellektuellen, deren Aufgabe darin gesehen wird, intellektuelle Freiheit auszuüben und zu bewahren. Eine in diesem Sinne verstan­ dene ‚denkende‘ Freiheit äußert sich jedoch in einer selbstreflexiven Operation, die zu ihrem Telos, wie bereits erwähnt, vor allem die Einsicht hat, dass der ge­ sellschaftliche Zustand als von den Subjekten selbst in Freiheit hervorgebracht erkannt werden müsse. Man kann sich aber fragen, was denkende Menschen daran hindern sollte, in dieser Erkenntnis nur einen euphemistischen Ausdruck dafür zu sehen, dass man sich auf diese Weise lediglich dazu verpflichtet hat, an der Illusion der Freiheit dieses Zustands auch dann noch festzuhalten, wenn er sich längst in Unfreiheit ver­ kehrt hat. Genau diese Haltung hat Hegel im Naturrechtsaufsatz noch mit (bürger­ lichen) Selbstlegitimierungsprozessen in Verbindung gebracht und aufs Schärfste kritisiert. Eine so verstandene „bürgerliche“ Haltung führt nach Hegel zur Verar­ mung der Welt und des Subjekts selbst, wobei ein solcher Verlust des Sinns für das Öffentliche und das Soziale, wie bislang gezeigt werden konnte, einer Rückkehr der Beziehungslosigkeit auf der Ebene der entwickelten Beziehung gleichkommt und in diesem Sinne mit der Gefahr einer Resubstantialisierung des Lebens in Ver­ bindung gebracht werden kann. Die vehement vorgetragene Kritik galt im Naturrechtsaufsatz und noch im Mo­ ralitätskapitel der Grundlinien insbesondere der Depotenzierung des Wirklichen zum „bloß Subjektiven“, das sich der Welt intellektuell entgegensetzt. Vor einem solchen Prozess der Auswanderung des „Göttlichen“ und „Schönen“ aus der Wirk­ lichkeit in die Innerlichkeit der Subjektivität hat Hegel stets ausdrücklich gewarnt. Vor der Folie der Transformation des Freiheitsverständnisses von der Idee der po­ litisch handelnden Freiheit zur nunmehr „gedachten“ und „bürokratisch gelebten“ Freiheit, wie sie in Hegels Modell der modernen Sittlichkeit gleichsam übrig ge­ blieben ist, lässt sich ein solcher Internalisierungsprozess aber gerade als Symptom 298 

Vgl. GPR, §§ 230 – 256.

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dafür begreifen, dass die Aufhebung des individuellen Standpunkts in Sittlichkeit letztlich misslungen ist. Im Ergebnis erweist sich die Aufgabe der Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit als das eigentliche, letztlich offengebliebene Problem der Rechtsphilosophie – und zwar nicht nur der des späten Hegel, sondern, wie der junge uns lehrte, der philosophisch sich verstehenden Rechtswissenschaft über­ haupt. Zu erinnern ist an Hegels Rede von der „Rechtfertigung des Einzelnen als Bestehenden“. Anders ausgedrückt: Solange die politische Dimension des morali­ schen Standpunkts nicht herausgearbeitet wird, bleibt „moderne Sittlichkeit“ als „politische Kultur“ trotz Hegels gegenteiligem Anspruch entweder abstrakt oder den Einzelnen radikal fremd. Bezeichnenderweise scheint dieses Desiderat auch den im 20. Jahrhundert un­ ternommenen Versuchen eingeschrieben zu sein, an Hegels Theorie der modernen Sittlichkeit produktiv anzuschließen. Einen solchen Versuch stellen die Bemühun­ gen Joachim Ritters dar, Hegels Entzweiungstheorem für die industrielle Gesell­ schaft zu aktualisieren. Ritters Theorie der „positivierten Entzweiung“ war darauf gerichtet, den Terminus „Entzweiung“ von dem „Klang des Negativen“ zu befreien und den Verdacht auszuräumen, dass „die Entzweiung mit dem Verfall und Ende des substantiellen Lebens identisch [sei]“.299 Dabei bringt Ritter die Entzweiung mit der „Versachlichung aller Verhältnisse auf dem Boden der industriellen Gesell­ schaft“ in Verbindung, die gerade deshalb problematisch ist, weil sie „den Men­ schen in die gesellschaftliche Existenz [bringt], für die alles, was er aus den Sub­ stanzen seiner geschichtlichen Herkunft in sich und für sich ist, keine Bedeutung hat.“300 Andererseits dürfe aber nicht vergessen werden, dass dieselbe Struktur der Entzweiung auch eine andere Entwicklung begünstigt habe – dass das „persönliche Sein des einzelnen von seinem gesellschaftlichen Sein abgetrennt [wird]“ und sich „aus diesem heraus[löst]“.301 Darin sieht Ritter das Potential der Kritik gegeben. Sein Vorschlag besteht deshalb darin, die bürgerliche Gesellschaft von der resi­ gnativen Form ihrer Kritik zu befreien, indem man zeigt, dass Subjektivität gerade infolge der Entzweiung in den Mittelpunkt gestellt werden konnte: Nur in dieser Verklammerung von Entzweiung mit dem besonderen Stellenwert von Subjekti­ vität kann die bürgerliche Gesellschaft die drohende Verfallsdiagnose abwehren. Der so verstandene Horizont der Kritik, der in Joachim Ritters Lesart durch „po­ sitivierte Entzweiung“ aufgespannt wird, äußert sich letztlich jedoch, wie bereits bei Hegel, in einer Spaltung in geistige und gesellschaftliche Freiheit. Die Spaltung in diese beiden Freiheitsformen hat sich in der Tat als eine wirkmächtige Denkfigur erwiesen, wie es die sogenannte Kompensationstheorie der Geisteswissenschaften vor Augen führt, die von Odo Marquard vertreten wurde. Trotz der auf den ersten Blick großen Plausibilität dieses Ansatzes ist er keineswegs unproblematisch. So 299  Joachim Ritter, Subjektivität und industrielle Gesellschaft. Zu Hegels Theorie der Subjektivität [1961], in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt am Main 2003, S. 357 – 376, hier: S. 371. 300  Ebd., S. 373. 301 Ebd.

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haben seine Kritiker mehrfach darauf hingewiesen, dass Geisteswissenschaften durch Kompensationstheorien in ihrem Stellenwert für die Gesellschaft nicht ge­ stärkt, sondern ganz im Gegenteil marginalisiert werden. Würde sich der Sinn und die Funktion von Geisteswissenschaften lediglich darin erschöpfen, die zu beob­ achtenden gesellschaftlichen Fehlentwicklungen durch intellektuelle Freiheit zu kompensieren, so wäre ihnen ihre öffentliche Bedeutung und Einflussnahme auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen ungewollt gerade abgesprochen worden.302 Für Ritters emphatische Verteidigung der modernen Entzweiungsstruktur wie die im Gefolge dieses Ansatzes vertretenen Kompensationstheorien der Geistes­ wissenschaften lässt sich gleichermaßen festhalten, dass der Zweck der Bildung in diesen Theorien auf die Dimension der ‚denkenden‘ Freiheit intellektualistisch verengt zu sein scheint. Diese Tendenz liegt jedoch auf der Hand, lässt sie sich doch auf Hegels Theorie der modernen Sittlichkeit selbst zurückführen. Als Kon­ sequenz der Theorie drohen nicht nur die Geisteswissenschaften als Disziplin ihre praktische Relevanz zu verlieren. Der Ort der Verwirklichung von subjektiver Frei­ heit selbst wird dergestalt gewissermaßen verschoben, um im Prozess der Weltge­ schichte letztlich ganz zu verschwinden, die sich kraft der „List der Vernunft“ nun hinter dem Rücken der Subjekte abspielt und teleologisch ohnehin auf die Vertei­ digung der Substantialität des Staates ausgerichtet bleibt. Andreas Wildt spricht angesichts des „Begriff[s] der substantiellen oder ansichseienden Vernunft“ sogar von der „Liquidierung jeder individuellen Freiheit zugunsten eines von jedem sub­ jektiven Recht abgelösten objektiven Rechts und einer vergöttlichten Gewalt der Geschichte. Damit wäre freilich der Boden der Philosophie der Autonomie endgül­ tig verlassen.“303 Die Marginalisierung der individuellen Freiheit in der Sphäre des Sittlichen, die mit der unausgeführt gebliebenen Aufgabe der Aufhebung des Moralität in Sitt­ lichkeit unmittelbar zusammenhängt, ist aber auch im Hinblick auf den Status des Öffentlichen in der modernen Gesellschaft problematisch. Dies führen die vielfach kritisch diskutierten Passagen aus Hegels Grundlinien über den Stellenwert der öffentlichen Meinung vor Augen, die Hegel zufolge „ebenso geachtet als verachtet zu werden [verdient]“.304 Schaut man prospektiv auf die späteren Visionen des 302  Zur Kritik an der Depotenzierung von Geisteswissenschaften durch die Reduktion ihrer Funktion auf Kompensation in den Entwürfen von Joachim Ritter, Odo Marquard und Hermann Lübbe siehe Henning Ottmann, Der Geist der Geisteswissenschaften, in: He­ gel-Jahrbuch 1 (2011), S. 22 – 26; vgl. auch Riedels Kritik, die allerdings nicht ausschließlich der Kompensationstheorie gilt, sondern allgemein den geringen Stellenwert der praktischen Philosophie beklagt: „Das Absinken der praktischen Philosophie ins Vergessen wird nicht zuletzt jener im Grunde psychologischen Theorie der Geisteswissenschaften verdankt, die sich an dieses Verschwinden des praktischen Geistes im subjektiven und an den Gegensatz von Natur- und Geistesphilosophie in Hegels System anschloß […]“ (Manfred Riedel, Ob­ jektiver Geist und praktische Philosophie, S. 13). 303 Vgl. Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 106. 304  GPR, § 318, S. 485.

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Öffentlichen, so bestätigt sich der Eindruck eines problematischen Verhältnisses zum Begriff des Öffentlichen: Im 19. Jahrhundert dominieren negative Bilder der Öffentlichkeit, wie sich an dem von Tönnies eingeführten Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) exemplarisch ablesen lässt. Die Gesellschaft tritt der Gemeinschaft, die als eine Sphäre der exklusiven Vertrautheit aufgefasst wird, als eine fremde öffentliche Welt gegenüber. Auch in Lukács’ Theorie des Romans (1916) erscheint die „zweite Natur“ als Entfremdungsfigur, als „Welt der Konventi­ on“, die Individuen an Sachzwänge ausliefert.305 Man könnte ebenso an Heideggers Ausführungen in Sein und Zeit (1927) denken, in denen die verrufene „Seinsweise des Man“ aufgrund ihres Mangels an „Echtheit“ und „Eigentlichkeit“ systematisch abgewertet wird. Die Entwürfe zum Problem der Öffentlichkeit, die angesichts dieser Stimmen gleichsam aus der Reihe fallen – Plessners Grenzen der Gemeinschaft (1924) und Deweys The Public and Its Problems (1927) – stehen Hegel näher, als die Auto­ ren selbst zuzugeben bereit wären, zumindest hinsichtlich des Versprechens des Rückgewinns lebendiger Individualität in Verbindung mit der Wiederbelebung des Sinns für politische Freiheit.306 Im Hinblick auf die Reflexionen darüber, worin sich die wohlverstandene politische Freiheit äußert, hilft jedoch ausgerechnet He­ gels politische Lösung wenig, die in Gestalt des Sittlichkeitsmodells präsentiert wird. Die an seiner kritischen Auseinandersetzung mit Kant geschärfte Frage nach der Verbindung der öffentlichen und politischen Freiheit mit der richtig verstan­ denen individuellen Freiheit bleibt auch in Hegels Rechtsphilosophie ungelöst. Im Folgenden soll erwogen werden, womit dies zusammenhängt und worin trotz oder gerade aufgrund dieser Defizite dennoch Hegels erstaunliche Aktualität zu sehen ist. 3.  Das ungelöste Problem: „Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit“ a)  Vom Freiheitsversprechen zum Verfallsprozess Am „Übergang vom Recht in Moralität“,307 so Hegel, wird die „Persönlichkeit, als welche der Wille im abstrakten Rechte nur ist, […] nunmehr zu seinem Gegenstande; die so für sich unendliche Subjektivität der Freiheit macht das Prinzip des moralischen Standpunkts aus.“308 In der Moralität wird die Subjektivität sich 305 Vgl. Norbert Rath, Art. „Natur, zweite“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel/Stuttgart 1980, Sp. 484 – 494, insb. Sp. 492. 306  Zu den philosophischen Entwürfen von Dewey und Plessner als dem „neuen philo­ sophischen Liberalismus“ der 1920er Jahre, der „den ökonomischen Besitzindividualismus und die negativen Freiheitsrechte des Bürgers im rechtsformalen Sinne [historisiert]“, siehe Hans-Peter Krüger, Nachwort, in: John Dewey, Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, hrsg. von Hans-Peter Krüger, Berlin 2001, S. 193 – 211, S. 197. 307  GPR, § 104. 308  Ebd., § 104, S. 198.

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selbst gegenständlich. Mit der Fortbestimmung der Person zum Subjekt309 wird auch der Wille konkret. Hier ist noch der Ort, an dem eine konstruktive Wendung von Hegels Kant-Kritik in Aussicht gestellt wird. Die Äußerlichkeit von Recht und Subjekt soll hier überwunden werden: Die „Kluft“ zwischen den beiden gilt es „nach diesem Unterschiede, in welchem [der subjektive Wille] sich in sich ver­ tieft, aufzuheben“.310 Es soll gezeigt werden, wie eine in Sollensforderungen und Ansprüchen311 verfangene Subjektivität diese defiziente312 Form ihrer selbst über­ schreitet. Zu den Momenten der Überwindung der Distanz von Subjekt und Recht gehört dabei bezeichnenderweise die „positive Beziehung [auf das Wohl auch an­ derer]“, die, so Hegel, „erst hier eintreten [kann]“.313 Im Moralitätskapitel geht es also zunächst genau darum, den Prozess zu beschreiben, in dem die Äußerlichkeit von „Subjekt und Begriff“ des Rechts aufgehoben werden kann, so zumindest die Ankündigung im § 106, die einer Absichtserklärung gleicht. Hegel spricht dort vom Prozess der Moralitätssphäre, in der der subjektive „für sich seiende“ Stand­ punkt sich zunehmend „mit dem an sich seienden Willen“ identifiziert314 und damit aus der Abstraktion – „vom Begriffe unterschieden“ zu sein – hinausgelangt und die Freiheit verwirklicht: „dass der subjektive Wille sich zum ebenso objektiven, hiermit wahrhaft konkreten bestimmt“.315 Ein Echo davon ist noch am Ende des Kapitels wahrzunehmen, wenn Hegel das „wahrhafte“ Gewissen bestimmt: „Gewissen ist das Gute, als bestimmend, wol­ lend, sich entschließend. Das Gute in Identität mit Gewissheit seiner selbst, – Ich, – Lebendigkeit. – Das Innerste, Substantielle. Gewissheit seiner selbst – als Ge­ w[ißheit] Wissen von dem Guten – Sein und Setzen – Mysterium der Freiheit – dass es seine Selbstbestimmung ist, – an sich – Begriff.“316 An dieser Stelle bezeichnet Hegel „Objektivität“ sogar als „die allgemeine Besonderheit (Subjektivität), das Bestimmen, Unterschiedsetzen“.317 Angesichts dieser Äußerungen Hegels erhofft man sich Aufschluss über das „Mysterium der Freiheit“ in einer genuinen Verbin­ dung der Freiheit mit dem neuen „tieferen“ Prinzip der Subjektivität. Dies wäre insbesondere wichtig vor dem Hintergrund der Reflexion über Kants „Faktum der Vernunft“ auf der einen Seite und die Struktur der individuellen Handlung, für die 309 

Vgl. ebd., § 105, S. 203. Vgl. ebd., § 106, 204 f. 311  Vgl. ebd., § 108, S. 206: „Weil es in diesem seinem ersten Hervortreten am einzelnen Willen noch nicht als identisch mit dem Begriffe des Willens gesetzt ist, so ist der morali­ sche Standpunkt der Standpunkt des Verhältnisses und des Sollens oder der Forderung.“ 312  In seiner Vereinseitigung bzw. Verabsolutierung, d.h. gleichsam losgelöst vom An­ sichseienden, ist der subjektive Wille „abstrakt, beschränkt und formell“ (vgl. ebd., § 108, S. 206). 313  Vgl. ebd., § 112, S. 211. 314  Vgl. ebd., § 106, S. 204 f. 315  Ebd., § 106, S. 205. 316  Ebd., § 137, Z, S. 256. 317 Ebd. 310 

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Antigone prototypisch war, auf der anderen Seite. Doch eine solche Freiheitsform, die Hegel aufzuschließen beabsichtigt, muss am Ende des Prozesses der Morali­ tätssphäre letztlich doch ein „Mysterium“ bleiben. Der Gang der Moralität gerät in der Rechtsphilosophie zu einer „Verfallsge­ schichte“.318 Die „moralischen“ Phänomene werden als eine Abfolge von Demo­ ralisierungsschritten hin „zum moralischen Bewusstsein“ präsentiert, wobei „die immer auch besondere Subjektivität“, wie es Michael Theunissen zusammenfasst, „[in dieser Bewegung] zu bloßer Besonderheit herab[sinkt]“.319 Die Dimension der Selbstgesetzgebung in Orientierung am Guten verkehrt sich in so etwas wie die letzte Orientierung am selbstsüchtigen Selbst. Dieses Selbst ist ein Subjekt, das der Einsicht in das Gute beraubt ist und im Unbestimmten der Denkoperation der Verallgemeinerung verbleibt. Dergestalt wird es zum ironischen Subjekt, das sich absolut setzt und sich in seiner Losgelöstheit von allen Bindungen selbst nicht mehr versteht.320 Die Orientierung am Guten verkehrt sich angesichts dieser fatalen Un­ gebundenheit ins Böse. Nach der gewohnten Strategie, die Absichten der von Hegel hierfür auserkorenen Kontrahenten – Kant, Fichte und Schlegel – ins Gegenteil zu verkehren, wird die Umkehrbewegung von der Selbstbestimmung aus Vernunft hin zu einer pathologischen Form von Freiheit vor Augen geführt. Dabei meint „pathologisch“ hier durchaus im Kantischen Sinn, den sinnlichen Antrieben des bloß natürlichen „empirischen Charakters“ zu folgen, womit das Phänomen des Umschlags des Gewissens ins Böse anschaulich wird. Aus Selbstbestimmung wird radikale Fremdbestimmung.321 b)  „Moralität als Krankheit am Sittlichen“: Hegels Aktualität Hegels Moralitätskapitel haftet unübersehbar eine Ambivalenz an. Die wi­ derstreitenden Perspektiven des Fortschritts und Verfalls verbinden sich in einer Denkbewegung. Dies wirft die Frage auf, wie sich diese merkwürdige Diskrepanz erklären lässt, die zwischen dem Freiheitsversprechen der Verwirklichung von sub­ jektiven Rechten in ihrer Verbindung mit politischer Freiheit des Individuums auf der einen und der Darstellung einer fehlgeleiteten Subjektivität auf der anderen Seite aufbricht. Die rückläufige Entwicklung des Moralitätskapitels hängt mit He­ gels Diagnose über die politische Entmächtigung des Bürgers zusammen, die er der modernen Gesellschaft seit dem Naturrechtsaufsatz vorhält. Der Befund der 318  Von der „Darstellung einer Verfallsgeschichte“ spricht Michael Theunissen, Die ver­ drängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts, in: Dieter Henrich/Rolf-Peter Horstmann (Hrsg.), Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik, Stuttgart 1982, S. 317 – 381, hier: S. 353. 319  Vgl. ebd., S. 355. 320 Vgl. Siep, Was heißt: „Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit“ in Hegels Rechtsphi­ losophie?, S. 227 ff. 321 Vgl. Halbig, Die Wahrheit des Gewissens, S. 391.

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Apolitizität wurde mit derjenigen Gestalt von positivierter Entzweiung in Verbin­ dung gebracht, in der es zu einem Auseinandertreten von geistiger und materieller Freiheit gekommen ist. Vor dem Hintergrund der Verbindung, die zwischen Entpolitisierung des Ein­ zelnen und der Trennung von geistiger und materieller Freiheit besteht, kann der übersteigerte Selbstermächtigungsanspruch an das Individuum und des Individu­ ums an sich selbst aber durchaus als die Kehrseite der politischen Entmächtigung des Subjekts verstanden werden. Diesen Ermächtigungsanspruch entlarvt Hegel als eine defiziente, wenn nicht gar pathologische Form von Moralität, weshalb er sie im Kapitel „Das Gute und das Gewissen“ zum Gegenstand vehementer Kritik macht. Genau dort, wo das Subjekt, dem logischen Entwicklungsgang entspre­ chend, eigentlich zum Rechtssubjekt avancieren sollte, bricht erneut die äußerste Entfremdung des Subjekts vom Recht – und damit der Selbstwiderspruch der Sub­ jektivität – auf. Vor diesem Hintergrund ist der Übergang zur Sittlichkeit geradezu vorprogrammiert: Moralität, die sich in die Handlungsunfähigkeit eines narzissti­ schen, ironischen Selbstgenusses322 verstrickt, muss in die „Sittlichkeit“ als eine vernünftige Ordnung von Institutionen überführt werden. Nach dem bisher Gesagten erhärtet sich der Verdacht, dass das Sittlichkeitsmo­ dell sich ironischerweise selbst als eine Form von politischer Kultur erweist, die den „krankhaften“ Typus der Moralität heraufbeschwört. In diesem Sinne spricht Hegel in der Berliner Enzyklopädie bezeichnenderweise selbst von Moralität als einer „Krankheit“, die sich am Sittlichen „hervortut“.323 Dieser von Hegel selbst hergestellte Zusammenhang zwischen Moralität und Sittlichkeit ist auch deshalb interessant, weil er in der Enzyklopädie innerhalb der Anthropologie im Abschnitt „Selbstgefühl“ behandelt wird und am Beginn der Ausführungen über die Krank­ heiten der Seele auftaucht. Hegels Befund, dass es sich bei der Verfallsform von Moralität um eine „Krankheit“ handelt, die sich an moderner Sittlichkeit „hervor­ tut“, weist eine erstaunliche Kongruenz zu den aktuellen Gesellschaftsdiagnosen auf, die für die postindustrielle Gesellschaft geltend gemacht werden. Der Verdacht eines schlechten Zirkels im Verhältnis von Diagnose (Moralität) und Heilmethode (Sittlichkeit) auf der einen Seite und des Rückfalls des Sittlichkeitsmodells auf die im Naturrechtsaufsatz bereits erörterten Probleme auf der anderen Seite tut den 322 

Vgl. GPR, § 140, S. 279. Hegel, Enz. III, § 408, Z, S. 171. Hegel nimmt hier zum Problem der Antizipa­ tion des logisch Höheren auf den niedrigen Stufen der Entwicklung des Geistigen Stellung. So sind die als Verrücktheiten beschriebenen Vorgänge der Seele im Entzweiungszustand zwar als vorbewusste dem Bewusstseinskapitel vorangestellt, müssen jedoch vom notwen­ dig eintretenden Bewusstseinseinbruch – als dem logisch Vorgängigen – her verstanden werden. Im ähnlichen Sinne spricht Hegel von der „philosophischen Entwicklung“ der Sitt­ lichkeit, die es verlangt, dass die Erläuterungen über die ausdifferenzierten Sphären des Rechts und der Moral als Erstes behandelt werden, obwohl Sittlichkeit die Grundlage für beide Sphären bildet: „Aus diesem Grunde muß auch das Moralische vor dem Sittlichen betrachtet werden, obgleich jenes gewissermaßen nur als eine Krankheit an diesem sich hervortut“ (ebd.; Herv. T. S.). 323 Vgl.

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Stärken des Hegelschen Ansatzes und der Aktualität seiner Sozialdiagnostik kei­ nen Abbruch – das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Man denke etwa an die zahlreichen Diagnosen über die Mobilisierung von narzisstischen Tendenzen in der heutigen Gesellschaft oder an das geglaubte oder behauptete Primat von persönlicher Autonomie und Selbstverwirklichung vor ge­ sellschaftlichen Verpflichtungen, mit dem eine Lockerung bzw. Auflösung von zwischenmenschlichen Bindungen einhergehe. Angesichts des Prozesses einer fortschreitenden Universalisierung moderner Subjektivität, der ökonomisch wie sozial bestärkt wird, werden außerdem Modelle „ästhetischer Freiheit“324 theore­ tisch immer interessanter, weil sich mit ihnen neue Lebensformen des Individuums und die damit einhergehenden sozialen Veränderungen beschreiben lassen. Unter dem Primat der gesellschaftlich erzeugten Vor- und Aufgabe der „Selbst-Verfü­ gung“ und Selbstermächtigung wird der Mensch zum Künstler325 und Unterneh­ mer seiner selbst erklärt, als Produzent seines eigenen Lebens angesehen.326 Das gelingende Leben wird als „Projekt“ aufgefasst, meist ohne auf die Begrenzungen dieses Modells zu reflektieren, die sich, mit Dieter Thomä zu reden, „daraus [er­ geben], dass man kein rein vergegenständlichendes Verhältnis zu seinem eigenen Leben hat, also nicht durchgängig über sich verfügt“.327 Ehemals elitäres Privileg des „Ausnahmemenschen“,328 werden ästhetische Frei­ heitskonzepte heute massenhaft geteilt. Und die „Massenkultur generiert“ dabei, 324  Zum Zusammenhang zwischen dem „Modell ästhetischer Freiheit“ und dem „Zwang zur kreativen Selbstverwirklichung“ als „Befund gegenwärtiger Gesellschaftskritik“ vgl. Christoph Menke/Juliane Rebentisch, Vorwort: Zum Stand ästhetischer Freiheit, in: dies. (Hrsg.), Kreation und Depression, Berlin 2010, S. 7 – 8 sowie insgesamt die Aufsätze in diesem Band. 325 Vgl. die Diskussion des am Künstlermodell orientierten kreativen, authentischen Subjekts, das sich in seiner Arbeit verwirklicht: Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus [1999], Konstanz 2006. 326  Im Anschluss an Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gou­ vernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978/1979, hrsg. von Michel Sennel­ art, Frankfurt am Main 2006, S. 314: „Der Homo oeconomicus ist ein Unternehmer, und zwar ein Unternehmer seiner selbst […], der für sich selbst sein eigenes Kapital ist, sein eigener Produzent, seine eigene Einkommensquelle“ (zit. nach Dieter Thomä, Die Theorie des Humankapitals zwischen Kultur und Ökonomie, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 7/3 [2006], S. 301 – 318, hier: S. 311). 327  Thomä, Die Theorie des Humankapitals zwischen Kultur und Ökonomie, S. 311 f. 328 Vgl. Alain Ehrenberg, Depression: Unbehagen in der Kultur oder neue Formen der Sozialität, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hrsg.), Kreation und Depression, Berlin 2010, S. 52 – 62. Ehrenberg deutet den Übergangsprozess von der Melancholie zur Depressi­ on als Vorgang der Demokratisierung des „Ausnahmemenschen“: „Im 16. Jahrhundert galt die Melancholie als die Wahlkrankheit der – genialen oder adligen – Ausnahmemenschen. ‚Meine Freude ist die Melancholie‘, sagte Leonardo da Vinci. Im 19. Jahrhundert, im Zeital­ ter der Romantik, fand sich die Melancholie am Schnittpunkt zwischen Schöpferkraft oder Genialität und Unvernunft. Und an dieser Stelle stehen wir heutzutage alle, denn die zeit­ genössische Form des Individualismus hat die Vorstellung des Ausnahmemenschen demo­

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folgt man Michael Makropolous’ Einschätzung, „vor allem eine Erfahrung, die Subjektivität an Selbstoptimierung koppelt“.329 Die Kehrseite dieser Entwicklung ist der Befund des überforderten Selbst,330 der sich in der Rede von der „Volks­ krankheit Depression“ und im vorherrschenden „Gefühl von Ungenügen“ und „Machtlosigkeit“331 niederschlägt. Alain Ehrenberg zeigt, dass Depression zum pathologischen Profil einer Gesellschaft gehört, die „persönliche Autonomie“ ver­ absolutiert; als „Pathologie der Größe“, als „Erkrankung der Verantwortlichkeit“ löse die Depression die Neurosen des Disziplinarmodells ab.332 Diese gegenwärtigen Tendenzen werden in einen Zusammenhang mit dem Pro­ zess der Ablösung der Disziplinargesellschaft durch die Leistungsgesellschaft ge­ stellt, der seit den 1970er Jahren eingetreten ist. Die ‚neue‘ Gesellschaft verlangt von den Einzelnen, dass sie permanent Initiative ergreifen und sich immer wieder neu erfinden – und das ganz „unabhängig von ihren jeweiligen sozialen Vorausset­ zungen“.333 Hegels Hinweis auf die Nivellierung der gesellschaftlichen Verhältnisse aufnehmend, die für die Moderne typisch sein soll, muss man allerdings bedenken, dass das Primat der autonomen Lebensführung und seine Umsetzungsformen, die öffentlich in Erscheinung treten, in die Gesellschaft eine erstaunliche Konformität eintragen, und sei es im Profil ihrer Pathologien. Deshalb deutet Alain Ehren­ berg die Depression vor dem Hintergrund des Prozesses der „Demokratisierung des Ausnahmemenschen“334 und betrachtet sie nicht als ein primär individuelles, sondern als soziales Phänomen. Dass die Autonomie des Individuums heute kein Privileg von Heroen, Auserwählten oder Künstlern mehr ist, sondern zum globalen Phänomen avanciert, kann nicht ohne Folgen dafür bleiben, was unter einem gelingenden Leben zu verstehen ist. Geht man zu Hegel zurück, so lassen sich die Folgen der Selbstermächtigung des Subjekts als geradezu fatal bewerten: Unter diesen Vorzeichen verfestigt sich die Sphäre der Moralität zur „reale[n] Handlungsmacht“ und manifestiert sich, in Verdrängung der Autorität der „sittlichen Mächte“ gleichsam als Ausnahmezustand, als „eine ganze Kultur der Gesinnung“,335 woran die ‚richtig‘ verstandene kratisiert: Jeder kann exzeptionell sein. Allerdings hat die Depression den positiven Aspekt, den sie noch in der romantischen Melancholie besaß, längst eingebüßt: Heute wird sie nur mehr als Krankheit, als ein Leiden des Gemüts betrachtet“ (ebd., S. 54). 329  Makropoulos, Theorie der Massenkultur, S. 132. 330 Vgl. Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Ge­ genwart, Frankfurt am Main 2004. 331 Vgl. Ehrenberg, Depression: Unbehagen in der Kultur oder neue Formen der Sozia­ lität, S. 54, 61, Anm. 7. 332  Vgl. ebd., S. 54. 333  Rebentisch/Menke, Vorwort: Zum Stand ästhetischer Freiheit, S. 7. 334 Vgl. Ehrenberg, Depression: Unbehagen in der Kultur oder neue Formen der Sozi­ alität, S. 54. 335 Vgl. Honneth, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 415.

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Öffentlichkeit notwendigerweise leiden muss.336 Die Überschreitung des Autono­ miemodells hin zur Sittlichkeit, die als die „Wahrheit der Moralität“337 gedacht wer­ den sollte, unternimmt Hegel nicht zuletzt aus diesem sozialdiagnostischen Impuls heraus. Eine Dimension der Lösung, die Hegel für das Problem der Überschätzung der Autonomie des Einzelnen innerhalb seines Sittlichkeitsmodells für das Problem der fehlgeleiteten „Moralität“ anbietet, ist die Theorie der Institutionen. c) Institutionen Als Objektivationen der Freiheit in der Welt, als deren Verkörperungen zur „zweiten Natur“ relativieren Institutionen die Idee personaler Verantwortung und tragen dem Umstand Rechnung, dass Handlungen von Personen sich nicht allein auf rationale Motivation und Willkürfreiheit zurückführen lassen. Die Stärke des Hegelschen Ansatzes und seine ungebrochene Aktualität liegen zweifellos in der Betonung von institutionellen Kontexten, die als Bedingungen von Moralität und individueller Selbstverwirklichung unerlässlich sind. Dies unterstreicht Axel Honneth.338 In der Notwendigkeit „institutioneller Intelligenz“ sieht auch Gertru­ de Lübbe-Wolff aus juristischer Perspektive die ungebrochene Aktualität der He­ gelschen Rechtsphilosophie bis heute.339 Dies erscheint, auch im Hinblick auf die Reflexion über den Zustand der politischen Kultur, als besonders wichtiger Punkt, gerade wenn man den Gesellschaftsdiagnosen zustimmt, die von der gegenwärti­ gen Überschätzung des Einzelnen ausgehen. In der Tat gehört die Befreiung aus der Enge der Innerlichkeit des moralischen Standpunkts, die Emanzipation von Sollensbekundungen und Handlungsabsich­ ten, die vor das Forum des Gewissens gebracht werden, jedoch nicht zur Ausfüh­ rung gelangen, zum wesentlichen Element der politischen Bildung. Hegel polemi­ siert gegen die ins Leere laufende moralisierende Attitüde, für die das äußere Recht und seine Institutionen als etwas „Imperfektes“340 erscheinen, so Lübbe-Wolff,

336 Vgl. Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Berlin 1987. 337 GPR, § 141, S. 285. 338 Vgl. Honneth, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 405 ff. 339 Vgl. Lübbe-Wolff, Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 328 – 349. Die Aktualität der Hegelschen Überwindung der abstrakten Gegenüberstellung von Moral und Recht zugunsten des institutionellen Gefüges führt Lübbe-Wolff auch am Beispiel der ge­ genwärtigen „Rückständigkeiten der Kultur des Institutionellen“ vor Augen, die sich etwa in der „unzureichende[n] Würdigung“ von Eigeninteressen äußern (so z.B. bei der Integra­ tions- und Einwanderungspolitik), im Misstrauen gegenüber der Stiftermentalität, dem Ver­ säumnis, bei staatlicher Regulierung die verhaltensdeterminierende Wirkung von äußeren Umständen und Anreizen in Rechnung zu stellen (vgl. ebd., S. 347 ff.), usw. 340  Ebd., S. 330.

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weshalb sie nach der Überzeugung „Dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben“341 stets in den „Haß gegen die Gesetze“342 oder gar in religiösen Fundamentalismus umzuschlagen droht. Die sittliche Existenz präsentiert sich hingegen als Überwin­ dung der Dominanz des Gefühls, des Gemüts und der Begeisterung, des Beharrens auf der besonderen Meinung oder privaten Überzeugung, als ein Heraustreten aus dem Kult der Innerlichkeit, der Tugend und des Herzens. Aus Tugend wird „Rechtschaffenheit“, die Hegel als die „einfache Angemessenheit des Individuums an die Pflichten der Verhältnisse, denen es angehört“, definiert.343 Die „Gedrücktheit, in der [das Individuum] als subjektive Besonderheit in den moralischen Reflexionen des Sollens und Mögens ist“, weicht der Erfüllung von konkreten Pflichten, die als ein Akt der „Befreiung“ erlebt wird „von der unbe­ stimmten Subjektivität, die nicht zum Dasein und der objektiven Bestimmtheit des Handelns kommt und in sich als eine Unwirklichkeit bleibt. In der Pflicht befreit das Individuum sich zur substantiellen Freiheit.“344 Das institutionelle Gefüge macht außerdem die Angewiesenheit auf „die eigentümliche Genialität der Individuen“ entbehrlich.345 Aus diesem Grund müssen auch die Sollensappelle an die „sittliche Virtuosität“ des Individuums samt Tugendforderungen aller Art gerade als Indiz für institutionelle Mängel bewertet werden, denn „[u]nter einem vorhandenen sitt­ lichen Zustande, dessen Verhältnisse vollständig entwickelt und verwirklicht sind, hat die eigentliche Tugend nur in außerordentlichen Umständen und Kollisionen jener Verhältnisse ihre Stelle und Wirklichkeit“, schreibt Hegel und fügt hinzu: „in wahrhaften Kollisionen, denn die moralische Reflexion kann sich allenthalben Kollisionen erschaffen und sich das Bewusstsein von etwas Besonderem und von gebrachten Opfern geben.“346 Doch bei aller Stärke und Explikationskraft von Hegels Theorie der Institutio­ nen vermag der Institutionalismus des späten Hegels letztlich keine befriedigende Antwort auf das Problem der Abstumpfung des Sinns für das Öffentliche zu geben, das in den vorangegangenen Kapiteln der vorliegenden Untersuchung rekonstruiert wurde. Dieses Problem wurde auf den Befund des Plastizitätsverlusts in zwischen­ menschlichen Beziehungen zugespitzt, der wiederum mit der Nichtwahrnehmung von Rechten zusammenhängt. Werden Rechte nicht wahrgenommen, so gefährdet dies nicht nur die geistige Beweglichkeit von Individuen, sondern auch die politi­ 341  Vgl. Hegels Polemik gegen die „Missverständnisse von seiten der Religion“ (GPR, § 137, Anm., S. 258). 342  Vgl. Hegels Polemik gegen Fries in der Vorrede (ebd., S. 20) sowie seine ausführli­ che Fußnote zu § 257 (ebd., S. 402 – 406, hier insb. S. 402), die sich gegen die Position des „Chefideologen der Restauration“ Carl Ludwig von Haller richtet (vgl. Lübbe-Wolff, Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 336). 343  Vgl. GPR, § 150, S. 298. Diesen Passus zitiert Lübbe-Wolff, Die Aktualität der Hegel­ schen Rechtsphilosophie, S. 341. 344  GPR, § 149, S. 298. 345  Ebd., § 150, S. 299. 346 Ebd.

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sche Entwicklung einer Gesellschaft. Mit dem Slogan „Institutionelle Intelligenz statt Moralismus“ lässt sich dieses Problem nicht lösen. Die Strategie der Institutio­ nalisierung allein kann nicht wirksam sein, um dem Problem der „pathologischen“ Form der Moralität zu begegnen, die sich in der Überhöhung der defizienten Form der Autonomie des Einzelnen äußert. Vielmehr gilt auch hier, dass die Idee der Ins­ titutionen sich mit dem Gedanken der wohlverstandenen Autonomie als subjektiver Freiheit verbinden muss. In der Sprache des jungen Hegel ausgedrückt, müssen die institutionellen Auf­ gaben daher stets an die Aufgabe der „Rechtfertigung des Einzelnen als Bestehen­ den“ zurückgebunden sein. Jene Würdigung des Einzelnen wird jedoch unmöglich, wenn der „moralische Standpunkt“ aus der Sittlichkeit verdrängt wird. Misslingt die Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit, so ist mit anderen Worten entweder ein Rückfall in die homogene Verfasstheit der Sittlichkeit, ähnlich der, wie sie für die Sittlichkeit der Polis galt, zu befürchten, und damit in einen Zustand, in dem Individualrechte gänzlich fehlten, oder aber es kommt zur Verfestigung derjenigen janusköpfigen Gestalt des Rechts, für die abstraktes Recht und universalistische Moral zwei Seiten derselben Medaille bilden und die Hegel seit seinen frühesten Schriften als ideologieanfällig kritisiert hat. Und so scheint auch das institutionelle Gefüge der Sittlichkeit zwischen substantialistischer Bestimmung und der positi­ vierten Entzweiungsform zu changieren. Bereits der kursorische Überblick über die einzelnen Sphären der Sittlichkeit lässt erkennen: Die für die Gesellschaft konstitutive Dimension nichtforderbarer Verpflichtungen wird nicht zurückgewonnen. Sittliche Beziehungen zwischen den Einzelnen, in denen auch besondere Ansprüche von Individuen als Rechte wahrge­ nommen werden können, haben nicht in der Gesellschaft, sondern nur in der Fami­ lie oder im Staat ihren Ort, wobei darunter vor allem patriotische Gefühle und Ge­ sinnungen zu verstehen sind, als Ausdruck entweder der kulturellen Verbundenheit oder aber als Ausdruck der Versöhnung von individueller Autonomie „mit sozialen und politischen Institutionen“ und Identifikationsangeboten.347 Die gesellschaftlichen Beziehungen erhalten ihr Spezifikum demgegenüber gerade im Verlust der Sittlichkeit – in einer Sphäre, in der allerdings nicht der Mensch selbst konkret ist, sondern in der er als das „Konkretum der Vorstellung“ erscheint, worin erneut die Orientierung an Kants juridisch-repräsentationalem Modell erkennbar wird. Hegels Rechtsphilosophie bestätigt somit wider Willen den Befund des Natur­ rechtsaufsatzes, dass die „bürgerliche Gesellschaft“, wie es Andreas Wildt rekons­ truiert hat, zur „systematischen Marginalisierung“ genau jener sozialen Bindungen und Verbindlichkeiten führt, die moralisch und juridisch neutral sind, die weder einklagbar noch im engeren Sinn institutionalisierbar sind, aber dennoch eine Nor­ mativität eigener Art freisetzen. Auf diese Weise werden die ursprünglichen kriti­ schen Intentionen Hegels, die Sensibilität für etwas zu schärfen, wofür in der am 347 Vgl. Michael Quante/Hans-Christoph Schmidt am Busch, Art. „Hegel, Georg Wil­ helm Friedrich“, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hrsg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd. 1, Berlin 2008, S. 481 – 485, hier: S. 486.

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modernen Rechtsverständnis orientierten Form von Sozialität kein Raum bleibt, preisgegeben. Die Frage nach einem derartigen Raum bzw. einer Sphäre, wo solche genuin sozialen Beziehungen ihren Ort haben, bleibt uns aber erhalten und stellt uns somit auch weiterhin vor ein ungelöstes Problem. Dazu passt, dass der späte Hegel auch sämtliche Erscheinungsformen der „Geistigkeit“, von denen er in der Enzyklopädie noch affirmativ spricht, abzulehnen scheint bzw. mit dem Vorwurf der Leerheit und subjektiven Beliebigkeit überzieht: Heißt es in der Heidelberger Enzyklopädie noch, Anerkennung sei „die Substanz jeder wesentlichen Geistigkeit der Familie, des Vaterlandes, des Staats; sowie al­ ler Tugenden, – der Liebe, Freundschaft, Tapferkeit, der Ehre, des Ruhms“,348 so spricht er in der Berliner Zeit schon davon, dass „dies Erscheinen des Substantiel­ len […] auch vom Substantiellen getrennt und für sich in gehaltleerer Ehre, eitlem Ruhm usf. festgehalten werden [kann]“.349 Dies weist auch auf die Grenzen der expressivistischen Lesart Hegels hin, wie sie paradigmatisch Charles Taylor ent­ wickelt hat, denn beim späten Hegel muss eine solche expressive Freiheit oftmals zugunsten des Substantiellen gerade zurücktreten. Hegels Theorie der Institutionen bietet keinen echten Ausweg aus dem Entzwei­ ungsdilemma des Verlusts von Plastizität in sozialen Beziehungen. Vielmehr ist man zu der resignierenden Feststellung verleitet, dass „moderne Sittlichkeit“ als „zweite Natur“, die sich in Institutionen, in Arbeits- und Bildungsprozessen ver­ wirklicht, das Potential des Willensbegriffs sogar verspielt. Infolgedessen muss jedoch eine Entwicklung eintreten, die Hegel noch nach Kräften zu vermeiden suchte: dass nicht nur auf individueller, sondern auch auf institutioneller Ebene Interessen statt Leidenschaften, im Sinne des am Geist orientierten Willensbegriffs verstanden, regieren. Zwar handelt es sich beim Staat nicht um einen interessen­ basierten, sondern willensbasierten Begriff. Doch auch der Sinn des Staates wird nicht auf die Aufgabe zurückbezogen, den Einzelnen Freiräume zu gewähren, in denen sie sich für ein höheres Allgemeines als die interessenbasierte Sphäre der Vertragsverhältnisse öffnen könnten. Diese Aufgabe scheint Hegel der Sphäre des „absoluten Geistes“ zuzuschrei­ ben, doch auch hier lässt sich der Befund einer Apolitizität von Kunst, Kultur und Geisteswissenschaften wiederholen, weshalb die Ausübung politischer Freiheit an dieser Stelle gemäß den Hegelschen Vorgaben gerade nicht ihren Ort haben kann. Außerdem ist angesichts der Tatsache, dass der moderne Wohlfahrtsstaat sich vom emphatischen Begriff des Staates, wie ihn Hegel konzipiert hat, verabschiedet hat, faktisch genau die Entwicklung eingetreten, der Hegel seinen Begriff des Staates überhaupt erst entgegensetzte: die Entwicklung, dass das Wollen eigener Freiheit als allgemeiner Freiheit sich auch auf der Ebene des Staates auf die Realisierung von privaten Interessen zu verengen scheint. Aus einem willentlich-vernünftigen 348  Heidelberger Enzyklopädie, § 358, Anm., zit. nach Andreas Wildt, Autonomie und Anerkennung, S. 19. 349  Enz. III, § 436, Anm., S. 226.

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Engagement für das Allgemeine, für die Freiheit, wird der Einsatz für private In­ teressen. Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass die Kritik von Marx genau dem Übergang von bürgerlicher Gesellschaft zum Staat galt: Hegel habe den Staat, indem er ihn aus den Defiziten der bürgerlichen Gesellschaft „abgeleitet“ habe, im Grunde auf alle Ewigkeit „abhängig gemacht vom Leben einer entfremdeten Ge­ sellschaft“.350 Der Staat fungiert in Hegels Entwurf als die logische Ermöglichungs­ bedingung der Gesellschaft, allerdings einer Gesellschaft, innerhalb derer die Di­ mension individueller Verwirklichung im öffentlichen Raum bereits unterdrückt worden ist. Und so muss diese Unterdrückung, Hegels logischen Abhängigkeitsver­ hältnissen zufolge, bereits im Staat selbst angelegt sein und auch stattfinden. Auf diese Weise erreicht die Marginalisierung individueller Möglichkeiten, öffentliche Wirksamkeit zu entfalten, auf der Ebene der Sittlichkeit ihren Höhepunkt. Zu dieser Verkürzung des Sinns des Begriffs des Staates passt auf der politischen Ebene der gegenwärtige Befund einer Politisierung von subjektiven Rech­ ten, die der Wohlfahrtsstaat als ein politisches Instrument zu benutzen tendiert.351 So werden, in Verkehrung der Aufgabe, private Willkür ernst zu nehmen und neue Formen von Subjektivität zu ermöglichen, nur private Interessen durchgesetzt. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn dem nicht die Verkürzung des willens­ basierten auf einen interessenbasierten Rechtsbegriff vorausgegangen wäre. Nach dem, was Hegel über den Zusammenhang der genuinen Verbundenheit des Wil­ lensbegriffs mit subjektiver Freiheit ausgeführt hat, muss eine derartige Verkür­ zung, falls diese Diagnose zutrifft, durchaus als eine besorgniserregende Entwick­ lung bewertet werden. Die Kritik an einem so verfassten Wohlfahrtsstaat hängt mit dem Prozess der eng verstandenen Individualisierung zusammen, auf die etwa Foucault, unter der Prämisse, dass die Freiheit des Subjekts von seiner Unterwerfung unter politische Machtinstrumente nicht zu trennen sei, kritisch hingewiesen hat. Judith Butler fasst diesen – ursprünglich Hegelschen – Kerngedanken mit Bezug auf Foucault folgendermaßen zusammen: „Dass wir eine metaphysische, epistemologische oder ontologische Konzeption des Subjekts nicht von den in und durch ein bestimm­ tes Regime staatlicher Macht eingesetzten Formen der Individualisierung trennen können, hat Foucault zufolge sowohl politische als auch ethische Konsequenzen.“352 350  Vgl. dazu Dieter Henrich, Karl Marx als Schüler Hegels [1967], in: ders., Hegel im Kontext, S. 187 – 207, insb. S. 203 ff., hier: S. 204. 351 Zum Problem der politischen Instrumentalisierung von subjektiven Rechten vgl. Menke, Subjektive Rechte: Zur Paradoxie der Form, S. 99 f.: „Das subjektive Recht ist jetzt Instrument des positiven Rechts selbst. Man denkt beim Einsatz dieses Instruments nicht mehr an Subjekte, sondern an Menschen, nicht mehr an Selbsttätigkeit, sondern an Interes­ sen‘“ (ebd., S. 100). 352  Judith Butler, Art. „Subjekt“, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hrsg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd. 2, S. 1301 – 1307, hier: S. 1302.

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Denn „das politische, ethische, soziale und philosophische Problem, das sich uns heute stellt“, so Foucault, „[liegt] nicht darin, das Individuum vom Staat und des­ sen Institutionen zu befreien, sondern uns sowohl vom Staat als auch vom Typ der Individualisierung, der mit ihm verbunden ist, zu befreien.“353 Damit „[scheint] Foucault“, wie Butler treffend bemerkt, „weniger an einer Kritik des Subjekts als an der Förderung neuer Formen der Subjektivität interessiert zu sein.“354 Neue Formen der Subjektivität zu fördern355 – diese Perspektive zeichnete sich sowohl hinter der Kritik ab, die Hegel im Naturrechtsaufsatz formuliert hat, als auch im Ausgang von der Überführung des Rechtszustands in die Perspektive der Rechtsgenese, die ausgehend von Hegels Phänomenologie angedeutet wurde. Doch hat Hegel für diese Überlegungen letztlich nur einige wichtige Anhalts­ punkte gegeben, ohne sie auszuführen. Eine Möglichkeit, diese Überlegungen weiterzuführen, wäre aber, das Modell der Entzweiung weiter zu explizieren. Dies hat Christoph Menke im Hinblick auf die Spannungsfigur von Autonomie und Authentizität unternommen, durch die sich die moderne Entzweiungsform auszeichnet. Doch diese Möglichkeit, Entzweiung auf eine andere Weise zur Ent­ faltung zu bringen, als sie in die Trennungsfigur von Gesellschaft und Staat zu überführen, scheint in Hegels Entwurf der homogenen Sittlichkeit des Staates vollends ausgeschlossen worden zu sein. Damit verschwindet aber auch die Di­ mension des öffentlichen Handelns aus der Perspektive der Sittlichkeit beinahe ganz. Vor der Folie des Naturrechtsaufsatzes ist diese Konsequenz allerdings we­ nig verwunderlich: Hegels Theorie der Institutionen lässt sich als eine politische Antwort auf die in ihrer spezifischen Verfasstheit bereits vorgegebene Matrix des Spannungsverhältnisses von abstraktem Recht und universalistischer Moral be­ greifen.356 Deshalb gehören neben Bildung und Arbeit auch die Institutionen, die Hegel beschreibt, wenn man so will, genau zu den Mechanismen der Konkretisie­ rung und Prozessualisierung dieser im Naturrechtsaufsatz noch kritisierten Ent­ zweiungsmatrix. Stellt man dies in Rechnung, so kann man von dem so konzipier­ ten Modell der Sittlichkeit selbstverständlich nicht erwarten, dass es für das zuvor 353  Michel Foucault, Das Subjekt und die Macht [1983], in: Hubert L. Dreyfus/Paul Ra­ binow (Hrsg.), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1987, S. 243 – 264, hier: S. 250, zit. nach Butler, Art. „Subjekt“, S. 1302. 354  Butler, Art. „Subjekt“, S. 1302. 355  Vgl. hierzu die Untersuchung von Martin Saar, Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt am Main 2007, insb. Ka­ pitel 6. 356  Worin deren beiderseitige Defizienz besteht, erläutert Lübbe-Wolff folgendermaßen: „Die Zweiteilung in erzwingbares Recht und nicht zwangsbewehrte Moral läßt nun aber die äußere Ordnung des Rechts als etwas vor den höheren Ansprüchen der Moral Imperfektes dastehen und die Moral als gegen diese äußere Ordnung Hilfloses. Hier die reale Ordnung des Rechts, die nichts wirklich Sittliches ist, und dort das machtlose leere Sollen, das in den wirklichen Verhältnissen keinen Rückhalt findet“ (dies., Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 330).

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identifizierte Problem des Plastizitätsverlusts in zwischenmenschlichen Beziehun­ gen eine befriedigende Lösung anbieten könnte. Schließlich wurde die Logik der so konturierten Entzweiung, an die auch das Sittlichkeitsmodell noch gebunden bleibt, im Naturrechtsaufsatz gerade als die Ursache des Problems ausgewiesen. Nimmt man jedoch nicht das Problem des Verhältnisses von erzwingbarem Recht und nicht zwangsbewehrter Moral, sondern den Impuls der Freiheitsverwirklichung zum Ausgangspunkt, wie er in Hegels Einleitung in die Rechtsphi­ losophie noch präsent ist, so kann man nur bedauern, dass Hegel seine zukunfts­ weisenden Überlegungen zur Verbindung von Subjektivität und Recht in seinen eigenen Entwurf von moderner Sittlichkeit letztlich nicht produktiv aufgenommen hat. Löst man jedoch die Erkenntnisse aus der Exposition von Hegels rechtsphilo­ sophischem Vorhaben von der Gestalt ab, die dessen Ausführung angenommen hat, so wird man andererseits keine Schwierigkeit haben, Hegels Einsicht in das Zu­ sammenwirken von Freiheit, Recht und Subjekt überall dort in ihrer Wirksamkeit zu sehen, wo sich soziale und institutionelle Praktiken entwickeln und sich selbst neu definieren. 4. Zwischenfazit Hält man die wesentlichen Gedankenstränge zusammen, so ergibt sich folgen­ des Bild: Freiheit wird überall dort ununterscheidbar von Zwang, wo „sozial- und wirtschaftsgeschichtlich[e] Entwicklungen“ den Anschein annehmen, als würden Menschen zu bloßen Produkten dieser Entwicklungen verkommen; was dabei ver­ drängt und vergessen zu werden droht, ist, dass „diese Entwicklungen selber“, wie Walter Jaeschke betont, „an einen Rahmen gebunden [sind], der durch subjektivi­ tätstheoretische Voraussetzungen abgesteckt ist. Sie beruhen selber auf Leistungen der Subjektivität, und deshalb werden Person und Subjekt durch sie nicht erst hervorgebracht, sondern sie werden zum Wissen von sich selbst, zu ihrem selbstbe­ wußten Fürsichsein gebracht – zum Wissen dessen, was sie an sich sind.“357 Diese Leistungen der Subjektivität, die sich im Recht verwirklichen, sind die treibende Kraft in der Entwicklung auch der politischen Kultur. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts gehen diesem komplexen Zu­ sammenhang nach. Die bereits im Naturrechtsaufsatz freigelegte Perspektive auf das „Einssein der allgemeinen und der individuellen Freiheit“ und in eins damit die Aufgabe, subjektive Freiheit und Individualität zu denken, nimmt Hegel dort wie­ der auf, wo es um die Exposition der rechtsphilosophischen Grundbegriffe geht. Dass er dabei den Begriff des freien Willens ins Zentrum rückt, um ein umfassen­ deres Rechtsverständnis zu profilieren, ist kein Zufall. Die Struktur dieses Begriffs erlaubt es, die „Einzelheit“ zu denken, d.h. aber sie sowohl aus der Struktur der defizienten Gegenüberstellung von Besonderem und Allgemeinem als auch aus der Struktur des Vorrangs des Allgemeinen vor und gegenüber dem bloß Besonderen herauszuführen. Konkrete Individualität zu denken, ist nach Hegel nur möglich, 357 

Jaeschke, Genealogie des Rechts, S. 300.

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wenn man sie in ihrer Einbindung in den geistigen Prozess versteht, in dem Subjek­ tivität und Recht sich wechselseitig bestimmen. Der Begriff der selbstbezüglichen „Negativität“ erlaubt es, so scheint es, eine solche offene Struktur der sich in im­ mer neuen Formen verwirklichenden Subjektivität in Verbindung mit der Rechts­ entwicklung zu denken. Vor diesem Hintergrund muss es auf den ersten Blick erstaunen, dass es aus­ gerechnet in dem Maße, wie dieser programmatische Anspruch, den Hegel in der Einleitung zu den Grundlinien noch klar benannt hat, ausgeführt wird und dieser Anspruch sich in Gestalt der „modernen Sittlichkeit“ konkretisiert, dazu kommt, dass die Individualität erneut – unter Einschränkung ihrer Autonomie – allein auf die „zweite Natur“ qua Sittlichkeit festgelegt zu werden scheint. Bei genauem Hin­ sehen vermag die Gestalt der dort explizierten Verfasstheit der modernen politi­ schen Kultur, wenn sie für Subjekte zur „zweiten Natur“ geworden ist, der Figur der selbstbezüglichen „Negativität“, die die Hinsichten von Bestimmtheit und Unbestimmtheit in einer Bewegung festhält, nicht mehr Rechnung zu tragen. Hegels Modell schreibt die Struktur der Entzweiung fort, diesmal in Gestalt der Differen­ zierung zwischen geistiger und materieller Freiheit. Vor dem Hintergrund dieses Auseinandertretens der Sphären des Materiellen und des Geistigen wird die Existenz des Einzelnen jedoch apolitisch. Seine Au­ tonomie kann unter diesen Voraussetzungen notwendigerweise nur verkürzt zum Tragen kommen. Auch der Eindruck des rechtlich-moralischen Zwangs stellt sich im Hinblick auf das Sittlichkeitsmodell der Rechtsphilosophie aufs Neue ein, diesmal allerdings gegenüber dem Naturrechtsaufsatz mit umgekehrten Vorzei­ chen: Der Zwangsbefund wird gleichsam affirmativ gewendet und konkretisiert sich nun in Arbeits- und Bildungsprozessen, in sozialen und institutionellen Praktiken, die Hegel ‚zusehend‘ beschreibt. Die Kritik dieser Verfasstheit des Sittlichen hat allerdings vor Augen geführt, dass auch das, was sich als „Reich der verwirklichten Freiheit“ zur „zweiten Natur“ verfestigt hat, die Verfasstheit des Geistigen verfehlen kann. Auch Moralität, die zu Beginn noch als das Ver­ sprechen der freien Subjektivität und des Rückgewinns politischer Freiheit ins Feld geführt wurde, kann sich unter bestimmten Bedingungen in ihre pathologi­ sche Form verkehren, die nunmehr nur noch als eine „Krankheit am Sittlichen“ in Erscheinung tritt. Nach dem bisher Gesagten und vor der Folie des Naturrechtsaufsatzes lässt sich der Gehalt der hier in aller Kürze dargestellten Kritik des Sittlichkeitsmodells da­ rin sehen, dass festgehalten werden muss, dass Freiheit nicht mit „zweiter Natur“ zusammenfällt. Ausgehend von der hier unternommenen Hegel-Lektüren muss vor der Tendenz gewarnt werden, den Sinn der Autonomie auf diejenige Form der Autonomie zu verkürzen, deren Verwirklichung ausschließlich auf soziale und in­ stitutionelle Praktiken, die uns, mit Theunissen zu reden, „angeboten und erlaubt“ werden, festgelegt ist. Von hier aus lohnt es sich, einen Blick auf die jüngsten He­ gel-Interpretationen zu werfen, die das Problem des Sozialen im Anschluss an He­ gel ins Zentrum stellen.

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Vor allem Terry Pinkard und Robert Pippin haben in letzter Zeit die zentrale Fragestellung von Hegels praktischer Philosophie so reformuliert, dass es Hegel um die Auflösung des durch Kant zwar aufgeworfenen, jedoch ungelöst geblie­ benen „Paradoxes der Autonomie“ gegangen sei.358 Die Art und Weise, wie die Auflösung des Paradoxes in diesen neueren Hegel-Deutungen dargestellt wird, führt allerdings, wie noch zu zeigen sein wird, vor Augen, dass der Gehalt der im eigentlichen Sinne politischen Aufgabe, die Hegel mit dem Sinn von Autonomie genuin verklammert hat, in diesen Deutungen entweder gar nicht oder nur un­ vollständig zur Sprache kommt. Dies hängt aber, wie am Beispiel der Positionen Terry Pinkards und Robert Brandoms noch zu diskutieren sein wird, mit der von den Autoren gemachten Voraussetzung zusammen, dass Freiheit sich in materielle und geistig-intellektuelle Freiheit entzweit, wobei geistige Freiheit nun als soziale Freiheit erläutert und überdies aus ihrer Opposition zur natürlichen Freiheit be­ griffen wird. Diese Voraussetzung wurde in aller Kürze bereits mit Bezug auf Joachim Rit­ ters Theorie der Entzweiung problematisiert. Mit den folgenden Erörterungen zum „Paradox der Autonomie“ und der kritischen Diskussion des Vorschlags, dieses Paradox in eine Theorie sozialer Freiheit aufzulösen, wird der Fokus der bisherigen Überlegungen noch einmal variiert. Zum einen soll im Folgenden auf einige pro­ blematische Konsequenzen der gegenwärtig diskutierten Entwürfe des Sozialen, die die Verbindung von Subjektivität und Recht nicht zum Thema machen, hinge­ wiesen werden. Zum anderen soll die Diskussion dieser Entwürfe – gerade weil in ihnen geistige Freiheit ausschließlich als soziale Freiheit gedeutet wird – eine Folie bilden, auf der die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Freiheit wiederaufge­ nommen und neu gestellt werden kann. Im Fluchtpunkt der weiteren Überlegungen steht mithin die Rückkehr zu jener Suchbewegung nach Anhaltspunkten, die für die entscheidende Frage fruchtbar gemacht werden können – für die Frage, wie sich ein Recht, das eine Alternative zum „Naturrecht ohne Natur“ (Ernst Bloch) zu sein beansprucht, in seiner Entwicklung als eine Bewegung der Befreiung denken lässt.

II.  Vom Optimismus des Sozialen 1.  Das „Paradox der Autonomie“ und seine Auflösung Der Ausgangspunkt für das „Paradox der Autonomie“ ist Kants Begriff der transzendentalen Freiheit als Fähigkeit, Ursache unserer eigenen Handlungen zu sein. Kant spricht deshalb auch von einer „Kausalität aus Freiheit“. Der Begriff der Autonomie des Einzelnen, so rekonstruiert es Terry Pinkard, verlangt, dass dieser Einzelne etwas zum Grund seiner Handlung macht und nicht von einem äußeren Grund getrieben oder kausal gesteuert wird. Die normative Bindungskraft 358  Zum „Paradox der Autonomie“ siehe Pinkard, German Philosophy, S. 59, 118, 226, Pinkard verweist jedoch (vgl. ebd., Anm. 16, S. 60) auf Robert Pippins Aufsatz als Inspira­ tionsquelle: Pippin, The Realization of Freedom.

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an einen Grund verdankt sich unserer Fähigkeit als freie Akteure, unseren Grün­ den einen Forderungscharakter zu geben, ihnen einen Gesetzesstatus zu verlei­ hen. Pinkard unterstreicht dies als eine originär Kantische Idee.359 Wir unterwerfen uns nur solchen Normen und fühlen uns ihnen verpflichtet, die wir als durch uns selbst autorisiert erkennen (als deren „Autoren“, wie es Pinkard formuliert, wir uns betrachten können).360 Trotz dieses Aspekts der Autorisierung kann ein solcher selbstgegebener Grund bzw. ein selbstinstituiertes Gesetz jedoch keine Erfindung sein, denn sonst wäre es willkürlich und gerade gesetzlos („lawless“) – es verlöre den Anspruch auf Allgemeingültigkeit.361 Vor diesem Hintergrund drängt sich unmittelbar die Frage auf, wie sich eine Freiheit denken lässt, deren Grund selbstgegeben sein soll, ohne jedoch dem Sub­ jekt qua Gesetzgeber bereits verfügbar zu sein. Wie ist eine derartige Bindung an ein selbstgegebenes Gesetz zu erklären? Mithin: Woher kommt der Verpflich­ tungscharakter des Gesetzes? Pinkard spricht in diesem Zusammenhang von der „quasi-paradoxalen“ Formulierung der Autorität des moralischen Gesetzes: Es muss durch einen Handelnden instituiert werden, von dem gilt, dass er keinen an­ deren Gesetzen unterworfen sein darf als solchen, die er sich selbst gegeben hat. Das Gesetz scheint dem Akt der Gesetzgebung einerseits vorgängig und anderer­ seits doch von ihm abgeleitet zu sein.362 Diese Beschreibung des Paradoxes betrifft nicht nur das handelnde Indivi­ duum, sondern ist überhaupt von der Frage nach der vernünftigen Begründung und Einsicht in die Geltung von Normen angeleitet, die hier mit der Freiheit des Einzelnen in Verbindung gebracht wird. Jede Norm, die den Anspruch auf Gül­ tigkeit und Verbindlichkeit erhebt, muss von einem Subjekt in einem Freiheitsakt eingesetzt und verbindlich gemacht werden. Eine solche Einsetzung in Freiheit impliziert die Unabgeleitetheit, mithin die Grundlosigkeit der Norm. Sich einem grundlosen Grund zu unterwerfen, enthielte jedoch ein Moment von Heteronomie. Die Idee der Autonomiebegründung beruht folglich auf einer Voraussetzung, die ihr selber widerspricht. Es wird ein Vernunftbegriff vorausgesetzt, der die Regeln der vernünftigen Begründung – etwa die Geltung des Prinzips des zureichenden Grundes – festlegt. An dieser Stelle entsteht eine Paradoxie: Geht man von der Prämisse aus, dass nichts ohne Grund geschieht, dann stellt ein selbstgegebener (und damit grundloser) Grund in der Tat ein Problem dar; wäre der Grund aber vorgängig, dann würde er den Anspruch der Autonomie wiederum nicht erfüllen: Es wäre ein heteronomer Grund.363 Wie lässt sich dieses Paradox auflösen? 359  Pinkard spricht von „the distinctively Kantian idea that reasons have a claim on us because we make them have a claim on us“ (ders., German Philosophy, S. 59). 360  Ebd., S. 118. 361  Vgl. ebd., S. 59. 362 Ebd. 363  Bei der Modellierung des „Paradoxes“ bezieht sich Pinkard auf den Passus über das „Faktum der Vernunft“; dies ist nach der Interpretation, die ich im Anschluss an Micha­ el Wolff vertreten habe, etwas irreführend, da es Kant mit der Lehre vom „Faktum der

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Das Kantische Paradox der Autonomie findet seine Auflösung, indem die Ana­ lyse vernünftiger Geltung (Kant) in einen Akt der freien Anerkennung (Hegel) überführt wird. Das Paradox der Autonomie, das Pinkard in der Weise, wie es ge­ rade skizziert wurde, rekonstruiert hat, stellt sich bei näherem Hinsehen sogar als eine Rückprojektion der Hegelschen Problemstellung aus dem Selbstbewusstseins­ kapitel der Phänomenologie dar.364 Dementsprechend ist es nicht überraschend, dass Pinkard die Ansätze für die Auflösung des Paradoxes nicht schon bei Kant sucht, sondern sie erst bei Hegel vorfindet. Wie lässt sich dieser Schritt von der vernünftigen Geltung zur freien Anerkennung denken? Die Formel der Autonomie verlangt einen Gesetzgeber, der sich einem selbstin­ stituierten Gesetz unterwirft, und vereint damit in sich paradoxerweise die Hin­ sichten sowohl der Gesetzlosigkeit als auch des Gehorsams, die beide gegen den Begriff der Freiheit verstoßen. In Pinkards Darstellung wird das „Paradox der Au­ tonomie“ nun so aufgelöst, dass diese beiden Handlungen – der Akt der Gesetzge­ bung und der Unterwerfung – auf zwei Akteure verteilt werden: auf den „Urheber“ des Gesetzes („the author of the law“)365 und auf das Handlungssubjekt, das dem Gesetz unterworfen ist („the agent subject to the law“)366. Pinkard findet diesen Sachverhalt in Hegels berühmtem Kapitel zu „Herrschaft und Knechtschaft“367 pa­ radigmatisch erläutert, in dem der Unterwerfende (Herr) und der Unterworfene (Knecht) nicht in einer Person vereint, sondern auf mehrere Akteure verteilt sind: Der eine stellt Ansprüche („claims“), der andere erteilt Anspruchsberechtigungen („entitlements“). Dabei wird die Paradoxie so lange nicht aufgelöst, wie man nicht erkennt, dass das „Wahre“ der Relation und damit auch die „wahre“ Autonomie in der Reziprozität des Anerkennungsverhältnisses liegt. Durch diese Einsicht wird jede Machtrelation überwunden.368 Vernunft“ gerade nicht um das Problem der Rechtfertigung von Gründen ging. Mit dem exklusiven Fokus auf die Normativität der Gründe und deren auktoriale Einsetzung scheint gerade diejenige Bedeutungsdimension der Autonomie ausgeblendet zu sein, die mit der Kraft des Willens (vor allen Gründen) zusammenhängt. Dabei lässt sich Kants Freilegung des „Grundgesetzes“ – mit dem die „synthetische Handlung“ der Vernunft, sich mit dem Willen zu verbinden, angezeigt wird – keineswegs als Restituierung des Paradoxes des normativen Urteilens verstehen. Vielmehr wird damit eine wichtige Erkenntnis über die Au­ tonomie des Individuums – seines „wirklichen Selbst“ – gewonnen, an der, wie mehrfach betont, auch Hegel festhält. Lässt man diesen Hintergrund unbeachtet, so führt dies dazu, dass auch die Auflösung des Paradoxes in sozialen Anerkennungsbeziehungen nur noch als ein Prozess des Gründegebens und -nehmens vorgestellt werden kann, während Hegels An­ erkennungstheorie (in der hier vertretenen autonomietheoretischen Deutung) noch ebenso sehr auf die radikalere Dimension der Individualität, für die „statt des Grundes der Wille gelte“, abzielte. 364  PhG, S. 137. 365  Pinkard, German Philosophy, S. 228. 366 Ebd. 367  PhG, S. 145 ff. 368 Vgl. Pinkard, German Philosophy, S. 229.

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

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Doch zuallererst ist die Beziehung von Herr und Knecht von beidseitiger Ab­ hängigkeit geprägt. Sie besteht darin, dass das Gesetz für den Unterworfenen nur dann bindend wird, wenn er die Autorität des Herrn anerkennt, oder, wie es Pinkard fasst, wenn er ihn als einen legitimen, rechtmäßigen „Autor“ anerkennt: „[H]is [the author’s; T. S.] law is binding on the vassal only to the extent that the vassal recognizes the master as authoritative (as the rightful author).“369 Zu beden­ ken ist nun, dass von einer ungleichen Relation ausgegangen wird: Der eine genießt und der andere arbeitet. Es ist erst dieser Arbeitszusammenhang, die Aneignung von Fähigkeiten, die den Knecht zunehmend in die Lage versetzt, die kontingente Verfasstheit der Autorität seines Herrn zu erkennen, weshalb der Knecht in der Figur des Herren, so Pinkards Erläuterung, bald keine legitime Quelle der Autorität mehr erkennt, sondern nur noch ein bloßes Individuum sieht – mit willkürlichen Interessen, Begierden und Neigungen. Durch die Arbeit erlangt der Unterworfene Einsicht in das Eigentümliche seiner eigenen Macht gegenüber dem Herrn, die in der Angewiesenheit des Unterwerfen­ den auf die Anerkennung seiner Autorität seitens des Unterworfenen besteht. Mit dieser Erkenntnis bzw. der Einsicht in den Status der Abhängigkeit des Herrn vom Knecht tritt nach Pinkard eine entscheidende Wandlung in deren Beziehung ein, die zunächst zur Folge hat, dass der Knecht kraft dieser Erkenntnis von der nor­ mativen Verpflichtung gegenüber dem Herrn gleichsam entbunden und freigesetzt wird. Infolgedessen wird jedoch die Beziehung selbst ihrer normativen Kraft be­ raubt und zu einer bloßen Machtrelation herabgesetzt.370 Im Unterschied zu einer bloßen Machtbeziehung verteilt sich die „wahre“ normative Autorität hingegen auf den Willen beider371 und wird so zu einer Frage des sozial generierten Status. Vor diesem Hintergrund kommt es Pinkards Interpretation zufolge darauf an, zu erkennen, dass die „Wahrheit“ der Autonomie, in der sich die Hinsichten der Auto­ rität und Unterwerfung verbinden, letztlich in der sozialen Verfasstheit des Geistes zu suchen sei, die in der Hegelschen Formel „Ich, das Wir und Wir, das Ich ist“372 zum Ausdruck kommt. Diese Formel besagt nach Pinkard zum einen, dass wir wechselseitig sowohl Unterwerfende als auch Unterworfene sind, und zum ande­ ren, dass dieser wechselnde Status eine bestimmte Form von Selbstregierung kei­ neswegs ausschließt.373 Die Auflösung des von Kant paradigmatisch formulierten „Paradoxes der Autonomie“ sei daher in der Geschichte des „sozialen Raums“ zu suchen („a history of ‚social space‘“), in einer Geschichte, so Pinkard, die erzählt, wie die Forderungen, die Menschen einander im Verlauf der Geschichte entge­

369 

Ebd., S. 228. Vgl. ebd., S. 228 f. 371 Vgl. ebd., S. 229. 372  PhG, S. 145; Pinkard, German Philosophy, S. 229. 373 Vgl. Pinkard, German Philosophy, S. 233. 370 

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

genbrachten, es unerlässlich machten, dass sich eine bestimmte Art des modernen sozialen Raums entwickelte, der den Anforderungen des Geistbegriffs standhält.374 Die Einlösung dieser vom ‚Geist‘ diktierten Anforderung, das aktive und das passive Moment der Autonomie mit der Errungenschaft der Selbstregierung zu verbinden, sieht Pinkard in der liberalen Gesellschaft gegeben, allerdings in ihrer vom klassischen Liberalismus losgelösten Gestalt.375 Denn der Hauptzug des klas­ sischen Liberalismus bestand Pinkard zufolge noch in der Überzeugung, dass jede Form von Abhängigkeit freiheitsgefährdende Wirkungen habe, sei es die Abhän­ gigkeit von der Natur, wie bei Kant, sei es die Abhängigkeit vom Sozialen, die etwa für Rousseau ein Problem darstellte.376 In dieser ablehnenden Haltung gegenüber jedem Abhängigkeitsverhältnis, die in der Betonung der Autonomie ihr Korrelat findet, gründet nach Pinkard auch der Erwachsenenkult des „klassischen Libera­ lismus“, der sich am Ideal des „erwachsenen Mannes“ und an dessen Überlegenheit – der Überlegenheit des Erwachsenen gegenüber dem Kind – orientiert.377 In diesem Erwachsenen-Kind-Paradigma erkennt Pinkard das bestimmende Muster eines Autonomiemodells, das die individuelle Autorität ins Zentrum stellt. Das entscheidende Defizit dieses Modells sei aber darin zu sehen, dass es für die wesentliche Einsicht des zuvor beschriebenen Kampfes um Anerkennung ‚blind‘ sei – für die Einsicht in Abhängigkeiten und Begrenzungen, die für jede Handlung konstitutiv sind.378 Deshalb plädiert Pinkard für eine Transformation der an (libera­ le) Individuen gebundenen Auffassung von Autorität zu einer ‚sozialen‘ Autoritäts­ auffassung,379 mit der zugleich auch der Übergang zu einer wesentlich egalitäreren und offeneren Konzeption von Gesellschaft markiert sein soll, deren Struktur sich aus der Gesamtheit der sozial gezogenen Begrenzungen ergibt.380 Sie verdankt sich der in Hegels Selbstbewusstseinskapitel prototypisch dargelegten Einsicht, dass die Autorität des Einzelnen wesentlich auf der Autorisierung durch andere beruht, die ihm den „normativen Status“ überhaupt erst verleihen bzw. erteilen.381 Um ein 374  Vgl.

ebd. Terry Pinkard, Liberal Rights and Liberal Individualism without Liberalism: Agen­ cy and Recognition, in: Espen Hammer (Hrsg.), German Idealism. Contemporary Perspec­ tives, Abingdon/New York 2007, S. 206 – 224. 376  Vgl. ebd., S. 207 f. 377  Pinkard spricht vom „[c]lassical liberalism with a picture of what it would mean to realize in practice the abstract idea of a ‚liberal individual‘, […] the picture of the ‚genuine adult‘ as distinguished from the ‚child‘“ (ebd., S. 215, mit Bezug auf Richard Sennett, Res­ pect in a World of Inequality, New York 2004). 378 Vgl. Pinkard, Liberal Rights, S. 208, insb. S. 215. 379  Vgl. Pinkards These: „[O]ne cannot be a liberal individual without the requisite so­ cial authority behind that conception“ (ebd., S. 215). 380  Vgl. ebd., S. 208 ff. 381  Vgl. ebd., S. 208: „To be an agent (or a subject) is to be recognized, that is, to be granted a normative status by others, for others to do that, they must have the authority to grant such a status […].“ In der Moderne, so Pinkard, habe man erkannt, „that only a full 375 

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

325

liberales Individuum zu sein, so Pinkard, müssen auch andere es sein – freie Indi­ viduen.382 Dieses Freiheitsverständnis ist von der Einsicht geleitet, dass Unabhän­ gigkeit nur durch bestimmte Formen von Abhängigkeit möglich ist. Als „selbstge­ nerierende Quelle von Ansprüchen“ („self-originating sources of claims“) ist das Ich nur auf der Grundlage von wechselseitiger Anerkennung möglich.383 Pinkard formuliert es so: Subjekte sind so lange noch keine Handelnden, wie sie nicht „da­ für gehalten“ werden, Handelnde zu sein („agents must be taken to be agents“), und spitzt es noch weiter zu: Nur wenn dem Einzelnen die Freiheit gleichsam „verlie­ hen“ werde, könne er sich selbst als einen verantwortlichen Akteur wahrnehmen.384 Dieses passive Moment, das Moment der Angewiesenheit auf das Urteil anderer, wird hier zu einem ganz zentralen Element der Autonomiefigur. Umgekehrt ist die Bestimmung darüber, wem dieser ‚normative Status‘ erteilt wird, den Anderen als autonom anzuerkennen, keine Sache von natürlicher Disposition. Die Entscheidung über die Akzeptanz des Anderen beruht auf dem Grad der von ihm exponierten Fähigkeit zum rationalen und intentionalen Handeln und der Fähigkeit dazu, Ver­ pflichtungen einzugehen („forming commitments“).385 Die Anerkennung bemisst sich also am Grad der Fähigkeit des Einzelnen, gesellschaftlich ‚dabei sein‘ zu kön­ nen, d.h. an kulturellen Praktiken nicht nur passiv teilnehmen zu können, sondern in ihnen aufzugehen. Erst dann kann dem Einzelnen Anerkennung widerfahren und mit ihr auch die Zuweisung bzw. das Erlangen eines ‚normativen Status‘. In dieser aufschlussreichen Beschreibung des Anerkennungsprozesses, der die Autonomie des Einzelnen konstituiert, scheint allerdings die recht problematische These mitzuschwingen, dass moralische Entscheidungen und individuelle Freiheit letztlich durch jeweilige soziale Rollen bedingt sind. Damit scheint sich die Auto­ nomie des Einzelnen, die Kant noch emphatisch verteidigt hatte, in dieser Version des ‚sozialen‘ Liberalismus in letzter Konsequenz – um es etwas drastisch aus­ zudrücken – zu einem Epiphänomen zu verflüchtigen, von dem nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden kann, ob sich darin nicht lediglich gesellschaftliche Hie­ rarchien386 und Ungleichheit reproduzieren. Zumindest bleibt dieser Eindruck so ‚mutuality‘ of recognition can be successful; and that there is a dialectical element to this, such that the kind of independence aimed at is possible only within certain forms of depen­ dency […]“ (ebd.). 382  „I (or each of us) can be such an agent only if others can be and are such agents. […] I can be free only if others are free“ (ebd.). 383  Ebd., S. 207 f. 384  Vgl. ebd., S. 209. 385  Ebd.; darin orientiert sich Pinkard explizit an Robert Brandom, Freedom and Con­ straint by Norms, in: American Philosophical Quarterly 16/3 (1977), S. 187 – 196 (vgl. Pinkard, Liberal Rights, Anm. 8, S. 220); zu Brandom siehe auch das Folgende (in diesem Kapitel, Teil B, Abschnitt II, 2 sowie 3). 386  Der folgende Passus kann in der Tat so interpretiert werden: „[T]he recognition I receive as being an individual can only come from those authorized to bestow such recogni­ tion, and they can only be so authorized if, as it were, the form of life has already authored

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

lange bestehen, bis geklärt ist, wie sich angesichts der Gesellschaftsmacht, der sich die Autonomie des Individuums bezeichnenderweise überhaupt verdankt, sicher­ stellen lässt, dass die Autonomie nicht zu einer bloßen Reproduktion von verding­ lichten Handlungsmustern verkommen oder längst in Konventionen erstarrt ist. Es stellt sich mithin die Frage, woher ein autonomes Individuum, das aus der Gesellschaft entsteht und sozial konstituiert ist, überhaupt die Kraft schöpfen kann, sich von dem genetischen Grund seiner Autonomie – der Gesellschaft – zu distan­ zieren. Wie kann das Individuum, dessen Autonomie derart gesellschaftlich präfor­ miert und ‚bestimmt‘ ist, im Sinne des von Hegel in der Einleitung zur Rechtsphilo­ sophie konturierten Begriffs des freien Wollens ‚Unbestimmtheit‘ wiedererlangen? Wüsste man auf diese Fragen keine Antwort zu geben, so wäre ein großer Teil des modernen Pathos seit Kant offensichtlich eingebüßt, welches darin bestand, indi­ viduelle Freiheit gerade auch als negative Freiheit zu behaupten – als die Freiheit, sich von der Gesellschaft zu lösen, ja sich der Gesellschaft sogar entgegenzusetzen. Möglicherweise um genau derlei Nachfragen vorzubeugen und um die Frage nach dem gesellschaftskritischen Potential der Autonomie zu beantworten, ergänzt Pinkard die sozial vermittelte Form der Autonomie um eine weitere Vision des Sozialen, die nun als „ideelle Gemeinschaft“387 handlungsleitend wird. Pinkard spricht in diesem Zusammenhang von der „necessity to incorporate into our cha­ racter an idealized picture of giving and asking for reasons from each other, a kind of idealized negotiation in the ‚kingdom of ends‘ that takes into account the newly established, very modern authority of individual end-setting and self-assertion in the kinds of modern forms of life that come with the institutions and practices celebrated by classical liberalism. It is the achievement of genuine, wahrhaftig, self-sufficiency in terms of what Hegel calls realized freedom.“388 Trotz der Berufung auf Hegel äußert sich darin eher eine Abwendung von He­ gel und eine erneute Rückwendung zu Kant, mit der, so scheint es, ein Versuch unternommen werden soll, die ‚auktoriale‘ Autonomie doch noch zu retten. Denn die einzige Möglichkeit, die völlige Absorption und Auflösung der Autonomie in soziale Praktiken zu verhindern, scheint im Durchspielen einer ideellen Verhand­ lungssituation zu liegen, die als ein wechselseitiger Austausch von Gründen (und Austausch über die legitimen Gründe) in einer Idealgemeinschaft389 konzipiert wird. In Pinkards Entwurf scheint dies die einzige Möglichkeit der Abstandnahme des Individuums vom faktisch gegebenen Sozialen zu sein bzw. die einzige Option, seine jeweilige Differenz zur Gemeinschaft zu bewahren. Damit gerät die Figur der Autonomie jedoch unversehens in einen Voraussetzungszirkel, der in diesem them to be the kind of individuals who have the authority to do that“ (Pinkard, Liberal Rights, S. 216). 387  Vgl. auch Pinkard, Tugend, Moralität und Sittlichkeit, S. 71, Anm. 13. 388  Pinkard, Liberal Rights, S. 218. 389  Pinkard spricht von der „Orientierung an einem idealen ‚Ganzen‘ […], von dem her wir unsere konkreten Moralurteile darüber formulieren, was jeder von uns zu tun aufgefor­ dert ist“ (ders., Tugend, Moralität und Sittlichkeit, S. 79 f.).

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

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Fall „das Paradox der sozial vermittelten Autonomie“ genannt werden darf: Einer­ seits ist der moralische Standpunkt mit Kant die Bedingung für Verhandlungen zwischen rationalen Individuen, andererseits basiert dieser Standpunkt mit Hegel seinerseits auf sozialen Voraussetzungen. Denn es sind nach Pinkards Rekonstruk­ tion des Hegelschen Anerkennungstheorems gerade die faktischen Beziehungen zu anderen, die der moralischen Handlungsfähigkeit des Einzelnen vorausgehen und sie bedingen.390 In dieser Reformulierung erlaubt es der Zirkel, an der Autonomiefigur zwei verschiedene nicht aufeinander reduzierbare Dimensionen zu unterscheiden. Wenn Autonomie als Fähigkeit definiert wird, sich an einen eigenen Grund zu binden, dann verlangt die Frage nach der Quelle des Grundes der Verpflichtung, nach der Quelle der Normativität, eine differenzierte Antwort, bei der zwei Ebenen unter­ schieden werden müssen: Die erste Ebene ist die Fähigkeit zum normengeleiteten verantwortungsvollen Handeln, zur Selbstbestimmung, indem Individuen soziale Praktiken zu ihren eigenen machen, indem sie sie aneignen und auf diese Weise auch „sittliche Virtuosität“ als eine „Tugend“, sich „im sozialen Raum zu orientie­ ren“,391 erlangen. Die zweite Ebene ist demgegenüber (oder darüber hinausgehend) die Fähigkeit zur Befragung, zur Prüfung und Rechtfertigung von Normen: Es ist die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung, die es dem Einzelnen erlaubt, sich zu – gesellschaftlich akzeptierten – Normen zu verhalten. Ähnlich erläutert es Rainer Forst, der eine Unterscheidung trifft zwischen „der Fähigkeit (erster Ordnung), Normen entsprechend verantwortlich zu handeln, und derjenigen (zweiter Ord­ nung), Normen selbst auf ihre Gültigkeit hin zu befragen und zu rechtfertigen“.392 Es ist offenkundig, dass damit Kants Autonomieverständnis durch die Hintertür wieder eingeführt wird, so dass man die ganze Bewegung vom ersten Schritt der Formulierung der Autonomie zum letzten ihrer Auflösung unter das Motto „von Kant zu Hegel und zurück“ stellen könnte.393 Hegels ‚Geist‘ wird nun nicht mehr (nur) als das an gesellschaftliche, ‚sittliche‘ Praktiken gebundene und sich darin verwirklichende Gute verstanden (wobei noch gar nicht ausgemacht ist, welcher Logik diese Verwirklichung folgt), sondern – ganz unhegelianisch – mit einer „ide­ alisierten Gemeinschaft“ der Potentialität nach gleichgesinnter Akteure in Verbin­

Ebd., S. 85; vgl. auch Pinkard, Liberal Rights, S. 218. Pinkard, Tugend, Moralität und Sittlichkeit, S. 80. 392 Vgl. Rainer Forst, Moralische Autonomie und Autonomie der Moral. Zu einer The­ orie der Normativität nach Kant, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52/2 (2004), S. 179 – 197, hier: S. 181. 393  Zu den Konsequenzen dieser Deutung – die Jürgen Habermas nicht von ungefähr als „intersubjektiven Kantianismus“ bezeichnet hat (vgl. Pinkard, Tugend, Moralität und Sitt­ lichkeit, Anm. 39, S. 81) – gehören die unhegelschen Engführungen von „Geist“ mit „ide­ eller Gemeinschaft“ (ebd., Anm. 13, S. 71), von „Staat“ mit „allgemeinem Gesichtspunkt“ (ebd., S. 84) und des „Absoluten“ mit Objektivierungsleistungen. 390  391 

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

dung gebracht.394 Damit wird nicht (mehr) die Praxis, sondern – ganz im Sinne Kants – die reflexive Prüfungsoperation des Individuums vor dem Forum des eige­ nen Gewissens erneut als letzte normative Instanz der Entscheidung über das Gute behauptet. Ganz in diesem Sinne hält Pinkard mit Kant daran fest, dass die Moral die „oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen“ darstellt.395 Fasst man zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Die reflexive Prüfungs­ prozedur des Subjekts wird auf ihre Voraussetzungsbasis hin geprüft, um nicht in einer Paradoxie zu enden. Die Kompetenz, Urteile über das Gute zu fällen, kann den Anforderungen der Normativität nur dann standhalten, wenn der Urteilende sozial autorisiert wird, solche Urteile zu fällen. Moralische Subjekte als solche, die über normative Urteilsfähigkeit verfügen, gibt es nur, wenn ihnen die Autori­ tät seitens der anderen verliehen wird. Das Gute bindet sich an soziale Praktiken. Doch um nicht von ihnen absorbiert zu werden, ist man dazu angehalten, sie nicht nur mit reellen Handlungspartnern kritisch zu diskutieren und gegebenenfalls zur Disposition zu stellen, sondern den normativen Status dieser Praktiken auch an den Anforderungen einer Idealgemeinschaft zu messen. Dabei ist keine faktische Gemeinschaft im Blick, sondern eine potentielle Verhandlungssituation, in der mit einer „Gleichgesonnenheit“ aller Teilnehmer des Diskurses, so Pinkards eigenes Wort, zu rechnen ist. Darin liegt nach Pinkard die Bedeutung von Hegels Geistbe­ griff, den er deshalb auch mit „mindedness“ übersetzt. Die bereits aufgeworfene Frage, woher das Individuum die Kraft nehmen soll, sich von der aktuellen Gesell­ schaft zu distanzieren, der er die Herausbildung seiner normativen Urteilsfähigkeit uneingeschränkt verdankt, stellt sich so aufs Neue. Das Paradox der Autonomie kehrt auf der Ebene des Sozialen wieder zurück, es sei denn, man setzt immer schon so etwas wie die Vernunft des Sozialen voraus. Zu den Befürwortern einer solchen Auffassung gehört Robert Brandom. 2.  Robert Brandom: Das Vertrauen in das Soziale Die Fundierung der Autonomie in Anerkennungsbeziehungen und das Vertrau­ en in die Vernünftigkeit des Sozialen – diese beiden Ideen übernimmt Terry Pin­ kard von Robert Brandom. Mit seiner 1994 erschienenen Untersuchung Making It Explicit verfolgte Brandom das Projekt, zu demonstrieren, wie die Semantik in der Pragmatik verwurzelt ist: „how semantics is rooted in pragmatics (meaning in use, content in social-functional role)“.396 Dabei war Hegel für die Pragmatik und Semantik des Buches sowohl bei der Formulierung des Anerkennungstheorems

394 Vgl. Pinkard, Tugend, Moralität und Sittlichkeit, S. 78 f.; dort wird Gewissen mit „Kants Begriff des ästhetischen Urteils“ in Verbindung gebracht (S. 79); eine für Kant un­ übliche Vermischung des Ethischen mit dem Ästhetischen wird in Kauf genommen. 395  Vgl. ebd., S. 75. 396  Robert B. Brandom, Making It Explicit, Cambridge, MA 2001, S. 649.

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

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als auch des Inferenzgedankens eine wichtige Inspirationsquelle.397 Das in Making It Explicit entworfene innovative Konzept einer Vernunft, die sich in diskursiven Praktiken artikuliert, wurde von Brandom im expliziten Anschluss an Kant und Hegel bereits 1977 in „Freedom and Constraint by Norms“ in Ansätzen entwickelt. In diesem Aufsatz findet sich jedoch keine Spur vom Befund der Paradoxie, und das ist bezogen auf die hier gewählte Fassung des Problems auch richtig, denn Frei­ heit muss als eine besondere Art von Bindung erkannt werden: Freiheit und Zwang bzw. Beschränkung („constraint“) schließen einander nicht aus, vielmehr handelt es sich bei Freiheit um eine bestimmte Art von Einschränkung – um Einschrän­ kung durch Normen: „Expressive freedom is made possible only by constraint by norms, and is not some way of evading or minimizing that constraint.“398 An diesen Bedingungs- und Bindungsverhältnissen von Freiheit und Norm, von Kreativität und Disziplinierung hält Brandom bis heute fest: „Freedom consists in a distinctive kind of constraint: constraint by norms. This sounds paradoxical, but it is not.“399 Demnach gibt es kein Paradox, es komme nur darauf an, Kants innovativen Ansatz richtig zu interpretieren. Es gelte mit Kant daran festzuhalten, dass Freiheit eben keine kausale Notwendigkeit, sondern die der Norm bedeutet, der man sich als Subjekt aus Einsicht unterwirft. Kants Verdienst bestehe vor allem darin, negative Freiheit des Subjekts – als Unabhängigkeit von der Determination durch die Kausalität der Naturgesetze verstanden – in positive Freiheit als Fähig­ keit, Verpflichtungen („commitments“) einzugehen, überführt zu haben. Denn das autonome Urteilen ist, so Brandom im Anschluss an Kant, ein Wollen, das eine spezifische Art von Verantwortungsübernahme impliziert. Indem man Urteile und Willensmaximen an Tätigkeiten und Aufgaben ausrichtet, verpflichtet man sich zu etwas, setzt sich für etwas ein. Die zentrale Vokabel hierfür ist „commitment“: Die Spontaneität des Handelnden wird als Autorität aufgefasst, sich konzeptuellen Nor­ men selbst zu unterwerfen bzw. sich an sie zu binden („the authority to bind oneself by conceptual norms“).400 Paradebeispiel für diese Art von Selbstverpflichtung ist für Brandom die legale Bindung an Verträge, deren Praxis zu einer enormen Er­ weiterung der positiven Freiheit geführt habe. Autonomie besteht mit anderen Worten darin, dass Subjekte nur das als bindend erkennen, was sie freiwillig anerkennen bzw. billigen können. Diese Fähigkeit, etwas als verbindend zu akzeptieren (oder aber abzulehnen) bezieht sich allerdings, wie Brandom scharfsinnig bemerkt, nur auf die Bindungskraft („force“) des Subjekts, also auf seine Motivation, und nicht auf die Inhalte von Normen: Wir erfinden die Normgehalte nicht, denn sonst würden wir den Unterschied zwischen dem Subjekt 397 Vgl. Wolfgang Welsch, Hegel und die analytische Philosophie. Über einige Kongru­ enzen in Grundfragen der Philosophie (Antrittsvorlesung an der Friedrich-Schiller-Uni­ versität Jena, 8. Juni 1999), in: Jenaer Universitätsreden 15, Friedrich-Schiller-Universität, Philosophische Fakultät. Antrittsvorlesungen VI, Jena 2005, S. 145 – 221. 398  Brandom, Freedom and Constraint by Norms, S. 194. 399  Brandom, Autonomy, Community, Freedom, S. 60. 400  Ebd., S. 59.

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

und dem Inhalt, zu dem es sich verpflichtet, negieren, der für eine sinnvolle Rede von Bindung gerade notwendig ist.401 „Autonomy thesis“, so fasst es Brandom zusam­ men, „is a thesis about pragmatic force, or what one is doing in judging“; dabei ist es wichtig, der ‚Forderung‘ nach ‚relativer Unabhängigkeit‘ von Verpflichtungskraft und Inhalt stattzugeben („to yield a demand for the relative independence of force and content: attitude-dependence of force turns out to require attitude-independence of content“).402 Es ist nur die normative Kraft der Bindung, die von uns und unseren Einstellungen abhängig ist, nicht aber sind es die Inhalte der Verpflichtungen. Beachtet man diese Unterscheidung, so lässt sich an Kants Autonomiefigur keine Paradoxie, sondern allenfalls eine Ambiguität feststellen. Diese Ambiguität ergibt sich aus der bei Kant ungeklärt gelassenen Frage, wie Inhalte von Normen generiert werden.403 Genau hier kommt aber nun Hegels Denkoperation zum Zug, die es erlaubt, Kants selbstreferentielle Autonomiefigur in Begriffe der Teilhabe zu übersetzen. Der Verantwortungszusammenhang wird dabei, wie bereits anhand von Pinkards Darstellung gezeigt, auf verschiedene Akteure verteilt. Eine wichtige Einsicht, die Hegels Anerkennungsmodell entnommen ist, lautet dabei wie folgt: „Someone becomes responsible only when other holds him responsible, and exer­ cises authority only when others acknowledge that authority.“404 Normative Gehalte werden mithin erst in der Praxis der Gemeinschaft und durch sie generiert. Ein Indiz dafür, wer nun als ein freies Subjekt gelten kann und wer nicht, ist dabei letztlich darin zu sehen, wie jemand behandelt wird: „[W]e treat someone as free insofar as we consider him subject to the norms inherent in the social practices conformity to which is the criterion of membership in our community. He is free insofar as he is one of us.“405 Der Handelnde wird erst in dem Maße frei, wie er sich als erfolgreicher Gesellschaftsteilnehmer, in dem man ‚einen von uns‘ erkennt, zu bewähren weiß. Er wird also dank der Gemeinschaft frei – und zwar durch sie allein. Sie gewährt ihm Freiheit dadurch, dass sie ihn als Gesellschaftsmitglied anerkennt. Erst durch diese gesellschaftlich zuteilgewordene Anerkennung wird man frei: „[M]an is not objectively free.“406 Damit macht Brandom einen radikalen Schritt hin zu der Behauptung, dass Freiheit selbst nur als soziale Kategorie denkbar ist, und zwar im ausschließenden Sinne des „nur“. Deshalb kann Brandom auch suggerieren, dass sich mit dieser Rückführung des Freiheitsbegriffs auf eine soziale Kategorie bzw. auf die sozial definierte Unterscheidung von „frei“ und „unfrei“ auch der Streit zwischen den 401  Vgl. ebd., S. 63. Bereits Hegel hat diesen Einwand gegen Kant formuliert, indem er vor einem unterschiedslosen Zusammenfallen von „Subjekt“ und „Prädikat“ gewarnt hat (vgl. NR, S. 464, 466). 402  Brandom, Autonomy, Community, Freedom, S. 63. 403  Vgl. ebd., S. 59 – 63. 404  Ebd., S. 70. 405  Brandom, Freedom and Constraints by Norms, S. 192. 406 Ebd.

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

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Naturalisten und Nichtnaturalisten schlichten lasse.407 Die Naturalisten behaupten, dass Sollenssätze aus Ist-Sätzen gewonnen werden können, während die nichtna­ turalistische Position Folgerungen vom Sein auf das Sollen aufgrund der ontolo­ gischen Differenz für unzulässig hält. Unter diesen Umständen bietet Brandoms Verschiebung der Norm zur Betrachtung sozialer Praxis eine neue Perspektive auf das Problem. Denn mit der von ihm vorgeschlagenen Behauptung, dass Freiheit als soziale Kategorie zu verstehen sei, wird auch der Unterschied zwischen Natur und Freiheit, zwischen Faktizität und Geltung zu einer sozial definierten Unterscheidung umgedeutet: „The criterial classification of things into objective and social is itself a social, rather than objective or ontological, categorization of things accor­ ding to whether we treat them as subject to the authority of a community or not.“408 Soziale Praxis ist dabei selbst ‚Ausdruck‘ („expression“) der normativen ‚Be­ grenzungen‘ und ‚Zwänge‘ („constraints“), die der ‚Performanz‘ auferlegt sind. Daher komme es darauf an, die Handlungsweisen zu ‚übersetzen‘, statt sie kausal zu erklären, wobei ‚übersetzen‘ hier bedeutet, sie an ‚unsere eigenen Praktiken zu assimilieren‘, sie ‚als ein Dialekt unseres eigenen praktischen Idioms zu be­ handeln‘: „Translating, rather than causally explaining a performance, consists in assimilating it to our own practices, treating it as a dialect of our own practical idi­ om.“409 Um Missverständnissen vorzubeugen, bemüht sich Brandom darum, unter Berufung auf Hegel klarzustellen, dass die ‚kommunale Autonomie‘ („communal autonomy“) zwar eine ‚notwendige Voraussetzung für die Entwicklung von indivi­ dueller Freiheit‘ sei („a necessary presupposition of the development of individual freedom“),410 Selbstverwirklichung und Bildung des Individuums, die durch diese kommunalen Normen ermöglicht werden, sich aber keineswegs darauf reduzieren lassen. Hier helfe die Analogie zu natürlichen Sprachen, deren Wesen Brandom im Anschluss an Noam Chomsky als eine emergente Fähigkeit zur Expressivität fasst. Der Bezug auf Chomskys empirische Beobachtung über die Innovationskraft der Sprache dient dazu, dem möglichen Einwand gegen die Starrheit eines sol­ chen Systems, das Norm und Freiheit gleichsetzt, zu begegnen. Die Einzigartigkeit und Andersartigkeit einer jeden sprachlichen Äußerung belegt, dass Individualität durch ein solches Verständnis von normativer Freiheit nicht unterdrückt, sondern im Gegenteil ermöglicht wird. Denn ohne die expressive Fähigkeit der Sprache sind unsere Intentionen, neue Zwecksetzungen und Handlungen Brandom zufolge nicht nur unmöglich, sondern auch schlichtweg undenkbar: „Without a suitable language there are some beliefs, desires, and intentions that one simply cannot have“, heißt es lapidar.411 Damit wird die normgeleitete linguistische Aktivität zum

407 

Ebd., S. 190 f. Ebd., S. 190 (Herv. T. S.). 409  Ebd., S. 191. 410  Ebd., S. 193. 411  Ebd., S. 194. 408 

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Paradigma für den Autonomiezusammenhang schlechthin. Denn die Regeln der Sprache sind in der Praxis des Sprechens selbst kodiert. Durch die Praxis der Kritik und des Reagierens der Gemeinschaft auf Äuße­ rungen ihrer Sprecher können jedoch zugleich neue Normen – teils unmerklich – generiert werden. Denn es sind die ‚kommunalen‘ Reaktionen, die die jeweilige einzelne soziale Praktik individuieren. Dergestalt koppeln sich soziale Praktiken von objektiven – vom Sozialen unabhängig gültigen – Fakten ab, etwa solchen Fakten wie der Entfernung der Galaxien von der Erde.412 Als einzelner Teilnehmer an sozialen Praktiken befindet man sich in einem Verweisungssystem, in dem die jeweiligen Reaktionen anderer Teilnehmer auf weitere Praktiken verweisen: Ähn­ lich wie Donald Davidson, der den holistischen Charakter des ‚Mentalen‘ betont hat,413 spricht Brandom hier von „nested social practices“,414 von ‚ineinander verwi­ ckelten‘ Sozialpraktiken, die in einem permanenten Veränderungsprozess begrif­ fen sind. Um die Dynamik dieser Veränderung anzuzeigen, gebraucht Brandom auch hier rechtliche Metaphern: „Social practices evolve the way case-law does“415 – indem Präzedenzfälle geschaffen werden. Ob diese Präzedenzfälle aber tatsächlich die Kraft haben, soziale Praxis zu verändern, und wie Veränderungen überhaupt vonstattengehen, wird nicht deut­ lich gemacht. Denn vor lauter Optimismus über die gemeinschaftliche Praxis wird die Frage nach den „Grenzen der Gemeinschaft“, um sich des Plessnerschen Aus­ drucks zu bedienen, gar nicht gestellt. Dies ist befremdlich, zumal das politisch brisante Problem der Ausschlusses von Fremden – folgt man Brandoms Beschrei­ bungen der Mechanismen gesellschaftlicher Anerkennungsverhältnisse – recht nahe liegt. Die Exklusion von Fremden kann der Gemeinschaft selbst sogar legitim erscheinen: Der Verweis auf die faktische Unmöglichkeit ihrer Anerkennung als Gemeinschaftsmitglieder scheint dafür jedenfalls hinreichend zu sein. Das Problem der Exklusion erzwingt aber zumindest eine Stellungnahme zu der Frage nach den Grenzen dieser Gemeinschaft. Denn eine Gemeinschaft, die als „unsere“ Praxis die Kriterien liefert, wie das Verhalten ihrer Teilnehmer zu beur­ teilen sei, kann wohl kaum eine Universalgemeinschaft sein. Zwar spricht Brandom von der Erweiterung der Gemeinschaft durch die Inklusion von Fremden, doch die Inklusion ist nur dann möglich, wenn fremde Leistungen („perfor­mances“) als ‚Va­ rianten von unseren eigenen‘ Leistungen oder Praktiken erkannt werden können – wenn sie ‚uns‘ nicht fremd sind: „By translating […] we extend our community (the one which engages in the social practices into which we translate the stranger’s behavior) so as to include the stranger, and treat his performances as variants of

412 

Ebd., S. 188. Donald Davidson, Mental Events [1970], in: John Heil (Hrsg.), Philosophy of Mind. A Guide and Anthology, Oxford 2004, S. 685 – 699. 414  Brandom, Freedom and Constraint by Norms, S. 189. 415 Ebd. 413 Vgl.

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

333

our own.“416 Am Ende ist es die Gemeinschaft, die das ‚letzte Wort‘ hat, wer ‚ihre eigenen Mitglieder‘ sind und wer nicht dazugehört: „The community has final say over who its own members are.“417 Dieser behauptete Vorrang des Sozialen vor dem Einzelnen und die Prämis­ se, dass die Gemeinschaft sich nicht als ganze irren kann – eine Prämisse, die in der Behauptung der ‚totalen Autorität‘ („total authority“)418 der Gemeinschaft gegenüber Einzelnen mitschwingt –, müssen skeptisch stimmen. Denn wenn tat­ sächlich gelten soll, dass die Inhalte von individuellen Einstellungen unabhängig sind, wie es Brandom fordert, dann besteht die Autonomie des Individuums – ganz formal bestimmt – allein in der Bindungsfähigkeit an bestimmte Gehalte, in der Entfaltung der willentlich-motivationalen Bindungskraft. Mehr lässt sich über Au­ tonomie nach Brandoms Interpretation, die Kant sehr nahe kommt, nicht sagen. Zu welchen konkreten Inhalten das Individuum dabei motiviert wird, ist Brandom zufolge eine Frage der jeweils geltenden Praxis. Wenn dem so ist, dann trägt freilich die jeweilige Gesellschaft die Last; sie kann aber ihrerseits keineswegs eine Universalgemeinschaft sein (wie sie noch Kant als „Ideal“ vorschwebte). Die jeweils geltende soziale Praxis ist vielmehr stets nur relativ anerkannt, also letztlich kontingent. Dann stellt sich aber erst recht die Frage, wie man unter solchen Umständen ernsthaft bereit sein kann, einer jeweiligen Gesellschaft die ‚totale Autorität‘ gegenüber den Individuen einzuräumen, ihr also bedingungslos die Bestimmung aller Gehalte der von den Individuen autonom getragenen Verpflichtungen zu überantworten. Offensichtlich wird davon ausge­ gangen, dass der Irrtum der Gemeinschaft als ganzer deshalb auszuschließen sei, weil dies – ganz kantisch gedacht – gegen die Vernunft verstoßen würde. Zugleich soll es jedoch nur eine Vernunft sein, die – wiederum unkantisch gedacht – in den ‚ineinander verschachtelten‘ Praktiken (Brandom) wurzelt oder besser: sich in diesen jeweiligen Praktiken ausdrückt. Wie kann beides konsistent zusammen gedacht werden? Offenbar kann die in sozialen Praktiken wurzelnde Rationalität kein hinreichendes Kriterium sein. Dies wird spätestens dann deutlich, wenn man nach Erklärungen sucht, warum es Gemeinschaften geben konnte, die in der Lage waren, ganze Gruppen von Menschen nicht als Vernunftwesen anzusehen.419 Erin­

416 

Ebd., S. 191 (Herv. T. S.).

417 Ebd. 418 

Ebd., S. 189. dem Begriff des „Gattungsversagens“ bzw. des „Gattungsbruchs“ im Nati­ onalsozialismus, durch den der Vernunftoptimismus der Aufklärung auf radikalste Wei­ se infrage gestellt und erschüttert wurde, diskutiert solche Phänomene Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, Reinbek 2005, insb. S. 43 ff.; vgl. auch Christoph Menke, Kontingenz und Solidarität. Eine Replik auf Anke Thyen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 56/1 (2008), S. 155 – 158, der die Brisanz des von Rolf Zimmermann aufgeworfenen ethischen Problems gegenüber Einwänden verteidigt. 419  Unter

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

nerungen an solche Gemeinschaften genügen, um gegen ein derart optimistisches Bild der Gemeinschaftspraxis bedenklich gestimmt zu sein. Doch selbst wenn dieser Optimismus der Vernunft durch die Orientierung am Paradigma der linguistischen Aktivität gemäßigt wird, weckt die bedingungslose Ausrichtung des Handelns an der Sprache ebenso eine gewisse Skepsis, denn, mit Henning Ottmann zu sprechen: „Nicht alles Handeln ist Miteinander-Reden. Der Zusammenhang von Reden und Tun lockert sich umso mehr, je weniger ritualisiert, je weniger verknöchert eine Lebensform ist.“420 An dieser Stelle darf außerdem an die zuvor erwähnte Sprachkritik erinnert werden, die Hegel am Beispiel von Ra­ meaus Neffen und seinem Zustand der Sprachverwirrung formuliert hat.421 Hegel hat uns vor Augen geführt, dass die Sprachverwirrung zum festen Bestandteil der ‚pluralen‘ Existenz und Handlungsweise dieser Figur geworden ist. Sie gehört aber auch zu den Ambivalenzen der fragmentarischen und flüchtigen modernen Le­ bensform als solcher, wo das Reden oftmals gerade nicht Ausdruck der souveränen Übernahme von Verpflichtungen ist, sondern ein selbstbewusster (gar trotziger) Ausdruck ausgerechnet der Verfehlung von derjenigen Form der Autonomie, die gesellschaftliche Vernunft repräsentiert. Es ist ein Ausdruck, der um die eigene Verfehlung sogar weiß und sich selbst – trotz aller Ambivalenz seiner Lage – als die „Rede dieser sich selbst klaren Verwirrung“422 feiert. 3.  Diskussion: Eine Verharmlosung von Hegels Ansatz? Trotz der Attraktivität der soeben diskutierten Gesellschaftstheorie, die sich der Wendung des Blicks von Kants philosophischer Behauptung der Autonomie des Einzelnen auf die Kontexte, in denen sich die Fähigkeit zur Autonomie ausbildet, verdankt und die von einem gewissen Optimismus des Sozialen zeugt, drängen sich angesichts der Berufung der Autoren auf Hegel doch einige kritische Fragen auf. Auffallend sind an den hier referierten Positionen drei Punkte: Es wird eine Kontinuität von Kant zu Hegel postuliert, die an sozialen Anerkennungsbeziehungen explizierte Form der Autonomie orientiert sich am Modell des Selbstbewusstseins, und es wird von einer spezifischen Relationsfigur des Verhältnisses von Natur und Freiheit ausgegangen, die in einem derartigen sozial explizierten Autonomiever­ ständnis unbefragt vorausgesetzt zu sein scheint. Zu allen diesen Punkten sollen im Henning Ottmann, Was ist politische Erfahrung?, in: Jan-Christoph Heilinger/Co­ lin G. King/Héctor Wittwer (Hrsg.), Individualität und Selbstbestimmung: Volker Gerhardt zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, S. 269 – 278, hier: S. 269 f. 421 Vgl. dazu Rüdiger Bubner, Rousseau, Hegel und die Dialektik der Aufklärung, S. 103 f.: „Anders als die auf Kommunikationslehre eingestimmte Gegenwart hält Hegel die durch Sprache konstituierte Gemeinschaft nicht für das letzte Wort der Vernunft, sondern vielmehr für deren Schein. Je mehr die Wirklichkeit nämlich durch Sprache ersetzt ist, um so mehr verliert sie an Substanz. In der Bildung hat eine ‚absolute und allgemeine Verkeh­ rung und Entfremdung‘ stattgefunden, während jene Sprache, die das zum Ausdruck bringt, am genauesten den Gehalt einer solchen Welt trifft.“ 422  PhG, S. 387. 420 

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

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Folgenden einige Anmerkungen gemacht werden, wobei die letzten beiden Kom­ plexe an dieser Stelle noch zurückgestellt werden sollen, um sie in den weiteren Schritten – in aller Kürze – noch eigens zu diskutieren. In den gegenwärtigen gesellschaftstheoretischen Überlegungen wird Hegels Philosophie als eine Weiterführung von Kants philosophischem Projekt verstan­ den: Terry Pinkard zufolge verfolgen beide, Kant und Hegel, ein gemeinsames Pro­ jekt der Verteidigung der Moderne. Auch Robert Pippin rückt Hegel und Kant in große Nähe zueinander und tendiert dazu, beide Positionen als solche darzustellen, die sich nur wechselseitig erhellen lassen.423 Vor der Folie der bereits erörterten mo­ dernitätskritischen Zeitdiagnose Hegels verrät diese Deutung jedoch eine gewisse Verharmlosung von Hegels Ansatz. So stellt Pinkard die Konflikte der Moderne zum Beispiel als solche zwischen „Glück“ und „Befriedigung“ dar und postuliert damit letztlich eine „sittliche Harmonie“,424 die sich dann einstellt, wenn man der gelungenen Lebensform entsprechend handelt und in dieser Konformität Befriedi­ gung erlangt. Ethische Harmonie entsteht nach Pinkard dann, wenn soziale Rollen, deren Träger man ist, ihren Beitrag dazu leisten, „eine Reihe erstrebenswerter Güter“ zu realisieren: „Folglich braucht kein Individuum seine Handlungen am sozialen ‚Ganzen‘ zu orientieren; es muss nur darüber nachdenken, was – gesehen vom Standpunkt der Art Person, die er ist – das letztlich Beste für ihn selbst wäre. Sittliche Harmonie erfordert eine Art soziale Reflexion des Ganzen, eine Rückver­ sicherung, dass unser Tun nicht auf eine gravierende und kontraproduktive Weise mit anderen Gütern konfligiert.“425 Dies klingt nach Adam Smiths Idee des „invi­ sible hand process“, die an dieser Stelle jedoch Hegel zugeschrieben wird: „Die moderne Sittlichkeit habe, so dachte Hegel, Platz für individuelle Lebensprojekte zu schaffen, die wiederum auf je eigenständigen Wegen verfolgt würden und den­ noch auf komplexe, wenn auch nicht einfach zu begreifende Weise mit dem Gan­ zen harmonieren.“426 Modern zu sein, bedeutet, so Pinkard, Ansprüche auf Glück zurückzustellen und stattdessen sein Leben wie ein Projekt zu planen, dessen Sinn Befriedigung ist: „[I]n dem Maße, in welchem ich die mir gesetzten wesentlichen Ziele erreiche, erlange ich Befriedigung.“427 Indessen scheint Hegel selbst die Dinge viel nüchterner gesehen zu haben und den Optimismus der liberalen Gesellschaft, hier in der post-klassischen ‚sozial‘ gewendeten Variante des Liberalismus, nicht umstandslos zu teilen: Die modernen Verhältnisse sind Gegenstand seiner Rechtskritik, denn es handelt sich um Verhält­ nisse der „Rechtschaffenheit“ – für die nicht mehr tugendhaften, antiheroischen 423  Zumindest ist diese Tendenz deutlich erkennbar in Robert Pippin, Hegel’s Practical Philosophy. Rational Agency as Ethical Life. 424  Pinkard, Tugend, Moralität und Sittlichkeit, S. 82 f. 425  Ebd., S. 83. 426  Ebd., S. 84. 427  Ebd., S. 74.

336

3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

und ‚prosaischen‘ Verhältnisse der Moderne bleibe sie die einzige Tugend.428 Aus demselben Grund ist Hegel auch gegenüber der „sittlichen Virtuosität“, der Pin­ kard einen hohen Stellenwert beimisst,429 letztlich misstrauisch: Auf die „sittliche Virtuosität“ ist in der modernen Gesellschaft – und umso mehr trifft dies auf die heutige Massengesellschaft zu – gerade kein Verlass. Deshalb ist, statt „sittliche Virtuosität“ zu kultivieren, gerade die gegenteilige Maßnahme geboten: die Ge­ sellschaft von dem „Bedarf“ nach „sittlich virtuosen“ Einzelnen auf dem Wege einer vernünftigen Institutionenbildung zu entlasten.430 Dass Hegels kritischer Impuls gegenüber der modernen liberalen Gesellschafts­ ordnung in den gegenwärtigen Hegel-Deutungen entschärft wird431 und die Brisanz seiner Rechtskritik tendenziell verlorengeht,432 verrät auch der Umstand, dass die Grenzfälle dieser Gesellschaft – der Rechtsbruch und der Altruismus – in Pinkards und Brandoms Auseinandersetzung mit Hegels Anerkennungstheorie vollkommen unerwähnt bleiben. Angesichts der Privilegierung von rechtsförmigen Beziehun­ gen, die sowohl altruistische Verhaltensweisen als auch von der Norm abweichen­ des Verhalten (bis hin zum Rechtsbruch als äußerster Form einer solchen Ab­ weichung) auszuschließen scheinen, ist dies kein Zufall. Hegels eigene Schriften zeugen jedoch von einer unübersehbaren Fixierung ausgerechnet auf solche Phäno­ mene, die der nüchternen Idee der Rechtschaffenheit ebenso sehr widerstreiten wie dem Ideal der „sittlichen Virtuosität“. So setzt sich Hegel, wie bereits erwähnt, wiederholt mit dem Fall des Rechts­ bruchs oder aber mit der Figur des Heiligen auseinander, mit „Modifikationen der Liebe“,433 die er in seinen frühen Schriften durch die Jesus-Figur verkörpert sieht und der Gesetzeshärte entgegenstellt. Beide Phänomene, der Verbrecher und der Heilige,434 finden sich am äußersten Rand des Spektrums einer politischen und ge­ 428 

GPR, § 150, S. 298. Pinkard, Tugend, Moralität und Sittlichkeit, S. 80. 430 Vgl. Lübbe-Wolff, Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie. 431  Anschauliches Material für die von Hegel aufgeworfene Frage nach dem Übergang zu den ‚prosaischen‘ modernen Verhältnissen der Rechtschaffenheit liefern die aufschluss­ reichen Western-Interpretationen von Robert Pippin, Hollywood Westerns and American Myth. 432  So behauptet etwa Pippin, dass in Hegels Philosophie und in seiner Logik für Re­ volutionen und radikale Umbrüche kein Platz sei. Die Verwirklichung von Freiheit sei hier vielmehr als ein stetiger Rationalisierungsprozess zu verstehen, in dessen Verlauf insbeson­ dere die Natur ‚entzaubert‘ („disenchanted“) werde (vgl. ders., Hegel’s Practical Philosophy. Rational Agency as Ethical Life, insb. S. 92 – 118, hier: S. 115). Die Natur werde zugunsten eines Rationalitätsmodells der „self-legislation“ eines Geistes preisgegeben, der sich als sozialer Geist im umfassenden Sinne aktualisiert und dessen Normativität zum Telos der Geschichte wird (vgl. ebd.). 433  Hegel, Der Geist des Christentums, S. 338. 434  Für diesen Zusammenhang findet sich in Dostojewskis Roman Der Idiot ein sym­ bolträchtiges Bild: Nach dem Mord an Nastasja Filippovna finden sich die beiden Protago­ nisten – der schuldlose Fürst Myshkin und der zum Mörder gewordene Rogoshin – am Tat­ 429 Vgl.

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

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sellschaftlichen Kultur, die, ihrer vernunftrechtlichen Ordnung entsprechend, die Disziplinierung der Sinnlichkeit zum ausgezeichneten Merkmal der Gesellschafts­ fähigkeit erhebt. Solche Grenzfälle, die im Rahmen einer optimistisch konzipier­ ten Gesellschaftstheorie nicht wahrgenommen werden können, führen aber auch die Grenzen der Theorie vor Augen. Es sind Phänomene, die die Logik von streng reziprok gedachten gesellschaftlichen Anerkennungsbeziehungen überschreiten, wenn sie diese Logik nicht sogar ganz und gar in Frage stellen.

III.  Die Dialektik des Selbstbewusstseins und ihre Schranken 1.  Der Standpunkt der Introspektion: „Anpassung in der Sache, Trotz fürs Selbstbewußtsein“ Die Bewegung von Kant zu Hegel wird von den Theoretikern des Sozialen oft­ mals so expliziert, dass die Struktur des Selbstbewusstseins für die Theorien der Anerkennung als der modellbildende Referenzpunkt schlechthin fungiert.435 So verfährt zum Beispiel Terry Pinkard, indem er sich, wie ausführlich diskutiert, an der Selbstbewusstseinsdialektik von Herrschaft und Knechtschaft in Hegels Phänomenologie des Geistes orientiert, um die Entstehung der Fähigkeit, Verpflich­ tungen („commitments“) einzugehen, zu erläutern. Dabei wird die Ausbildung dieser Fähigkeit an die Bedingung der Autorisierung durch soziale Anerkennungs­ normativität geknüpft. Zu bedenken ist allerdings, dass mit dem Kapitel über das Selbstbewusstsein in der Phänomenologie keineswegs das letzte Wort über Freiheit gesprochen ist. Vielmehr gilt, dass man mit dem Bewusstsein seines eigenen Selbst noch nicht zur „geistigen“ Freiheit vorgedrungen ist. Die Interpretation der Autonomie als vernünftige Aneignung von Praktiken, zu der es der „Autorisierung“ von außen bedarf, so wie sie Pinkard dargestellt hat, mag für Hegels Sittlichkeitsmodell der Rechtsphilosophie ihr Recht behalten. Doch hält man sich an die im Naturrechtsaufsatz geäußerte Kritik des moralisch-juridi­ schen Entzweiungszustands, so lässt sich demgegenüber eine ganz andere Über­ legung formulieren: Würde sich der Sinn von Autonomie in der vernünftigen ort des Verbrechens vereint und stehen gemeinsam die Nacht durch, die ihr Ende findet, als „Leute“ – Nachbarn und Ordnungsträger – sie schließlich in der verhängnisvollen Wohnung aufsuchen (vgl. Fjodor Dostojewski, Der Idiot. Roman in vier Teilen, übers. von Hartmut Herboth, Berlin/Weimar 1986, S. 840). Auf dem Wege einer solchen, mit Bachtin zu re­ den, chronotopischen Parallelisierung der „schönen Seele“ und des Verbrechers werden die Grenzfälle der modernen Gesellschaft zusammengeführt. So werden die Phänomene, für die in der normalisierten und normierenden gesellschaftlichen Ordnung kein Platz ist, in den Vordergrund gerückt. Zur Kategorie des „Chronotopos“, in dem „räumliche und zeitliche Merkmale in einem sinnvollen und konkreten Ganzen [verschmelzen]“, vgl. Michail Bachtin, Zeit und Raum im Roman, in: Kunst und Literatur 22 (1974), S. 1161 – 1191, hier: S. 1161. 435 Vgl. Axel Honneth, Von der Begierde zur Anerkennung. Hegels Begründung von Selbstbewußtsein [2008], in: ders., Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Frankfurt am Main 2010, S. 15 – 32.

338

3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Aneignung von Praktiken erschöpfen, so setzte man Autonomie immer schon mit der „bürgerlichen“ Haltung gleich – einer Haltung, die stets im Spagat zwischen „Wirklichkeit“ und „Möglichkeit“ verbleibt.436 Das Subjekt wird auf diese Weise zu einem Strebenden, der immer einer unendlichen Aufgabe verhaftet bleibt. Die Kehrseite dieses Strebens lässt sich allerdings darin sehen, dass Subjekte darauf konditioniert werden, auf eine bestimmte Art zu wollen, ein Wollen zu kultivieren, das mit dem Erlaubten zusammenfällt, während alles, was über das Erlaubte – und insofern auch über das ‚Autorisierte‘ – hinausgeht, zu einer rein intellektuellen Denkübung wird, ohne Einwirkung auf die Welt. Durch Hegels Naturrechtsaufsatz instruiert, lässt sich die These vertreten, dass die mit dem Selbstbewusstsein erreichte Form der Freiheit wesentlich apolitisch ist: Die für sie charakteristische Haltung ist das Festhalten an der Differenz zwischen sozialer Rolle, mit der man sich identifiziert, auf der einen Seite und selbstbewuss­ ten Legitimierungsprozessen auf der anderen Seite. Es ist genau diese Haltung, die den Zustand der „politischen Nullität“ des (bürgerlichen) Subjekts fortschreibt, statt ihn zu überwinden. Diese Haltung hat Hegel im Naturrechtsaufsatz mit introspektiv verlaufenden Prozessen im „empirischen Bewußtsein“ verknüpft,437 das im unbefriedigenden Spalt zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit gefangen bleibt. Bringt man diese in der Introspektion gegebene Situation der Zerrissenheit mit der für die Bildung des Selbstbewußtseins konstitutiven Autorisierung von außen in Verbindung, so kann dieser Zustand der Zerrissenheit den Charakter einer „echt bürgerlichen Haltung“ annehmen, die sich, in Ivan Nagels Formulierung, auf die trotzige Formel „Darf ich nicht, dann will ich auch nicht!“ bringen lässt: „mit Anpassung in der Sache, Trotz fürs Selbstbewußtsein“.438 Es wäre allerdings falsch, so Ivan Nagel weiter, in dieser Haltung nichts weiter als eine bloße Spiegelung des „nur obrigkeitlich Auferlegten“ zu sehen; vielmehr lasse sich darin „der jahrhundertezähe Drang des Handwerkers, Kaufmanns nach sozialer Homogenität“ erkennen, „nach der man strebt, im Leben wie auf der Bühne“.439 Es ist der Wunsch nach dem „Erfahrungs- und Utopieaustausch mit seinesgleichen“,440 der in dieser Haltung zum Ausdruck kommt. Interessanterweise verbindet Nagel diese Mentalität, wie es Hegel bereits getan hat, mit der Gattung der Komödie, al­ lerdings mit der einschränkenden Bemerkung, dass es verkehrt wäre, in dieser Hal­ tung schon den ‚Realismus‘ der Komödie zu sehen. In überraschender Analogie zu dem, was der Rekonstruktion der Hegelschen Kant-Kritik entnommen werden könnte, notiert Nagel überdies die folgende Beobachtung: „Die Tautologie solchen Unter-Sich-Bleibens, Schon-Bekanntes-Sagens wurde später denkfaul ‚Realismus‘ 436 

NR, S. 470. Vgl. NR, S. 458. 438  Ivan Nagel, Autonomie und Gnade. Über Mozarts Opern [1985], München 1988, S. 115 (Lesestück XXII: Bourgeois et gentilhomme, S. 114 ff.). 439  Ebd., S. 115 f. 440  Ebd., S. 116. 437 

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

339

der Komödie genannt – während doch Realismus erst beginnen wird, als zur Ver­ trautheit mit dem Wirklichen noch Ekel und Angst vor seiner unaufhaltsamen Ver­ dinglichung hinzukommen: nach dem Untergang der europäischen Komödie.“441 Zurück zur Dialektik des Selbstbewusstseins: Zu beachten ist, dass Hegel das Freiheitsverständnis, das mit dieser Dialektik genuin verklammert ist, im Natur­ rechtsaufsatz mit dem Standpunkt der Introspektion in Verbindung bringt. Dieser Standpunkt, so Hegel, sei nicht „zu leugnen“.442 Er entspricht „allgemeiner Erfah­ rung“, denn introspektiv befindet man sich wie jeder andere tatsächlich im „Zwie­ spalt“ und in der „Einheit“ der Vernunft, jeder kann „die Abstraktion des Ich in sich […] finden“.443 Hegel spricht deshalb vom „Sein des Unendlichen im Endli­ chen“.444 Dies sei die Kondition, nach der der Einzelne „Subjekt“ ist. Doch wie in der Erörterung von Hegels Kant-Kritik schon erwähnt, ordnet Hegel die Praxisfor­ men, denen dieses Modell zugrunde liegt, der Sphäre der „Erscheinung des Abso­ luten“ zu und schränkt sie damit in ihrer Geltung auf die Sphäre der „Endlichkeit“ und der „Notwendigkeit“ ein. Wenn Hegel die Sphäre der „Notwendigkeit“ im Naturrechtsaufsatz auf die In­ trospektion im empirischen Bewusstsein des einzelnen Subjekts zurückführt, so scheint dies in erster Linie kritisch gegen Kants Freiheitsbegriff gerichtet zu sein. Kants Freiheitsbegriff sei psychologistisch, weil er nach der Logik des Selbstverhältnisses modelliert wird. Damit gerät aber auch die Logik des Selbstbewusstseins, die es ermöglicht, ein „Ich im Wir“ zu denken, ins Visier der Kritik: Hegel mahnt insbe­ sondere an, dass der Begriff des Sozialen, der den Prozessen der Introspektion, der Logik des Selbstverhältnisses und des Selbstbewusstseins abgewonnen wird, auch dort noch, wo dieser Begriff in die Termini sozialer Teilhabe übersetzt wird, ganz subjektphilosophisch – vom Einzelnen ausgehend und die Subjektivität selbst aus Hegels Sicht daher verfälschend – konzipiert bleibt. Wird Sozialität von der Struktur des Selbstbewusstseins ausgehend gedacht oder von ihr abhängig gemacht, so erfasst man damit ein wichtiges, aber begrenztes Modell der subjektiven Freiheitsrealisie­ rung. Um diese Kritik besser zu verstehen, bleibt aber zu fragen, worin die proble­ matischen Implikationen bestehen, die die Orientierung am Selbstbewusstsein im Hinblick auf die Frage nach gelingenden Formen von Sozialität aufweist. 2.  Die Vernunft in der Differenz: Vom Primat der Einheit vor dem Vielen Für eine relational verfasste Logik – wie die des Selbstbewusstseins – wird Sozialität unvermeidlich zu einer fehlbaren Größe, wohingegen die Stabilität der Relation in das Subjekt hinein verlegt wird. Denn in ihrer reinsten Form besteht 441 

Ebd., Anm. NR, S. 458. 443 Ebd. 444  Ebd., S. 459. 442 

340

3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

die Freiheit eines so verstandenen Subjekts gerade im Rückzug aus dem Sozia­ len. Paradigmatisch formuliert diesen Zusammenhang Dieter Henrich,445 der das „Grundverhältnis“ des „bewußten Lebens“ als von einer fundamentalen Spannung zwischen Person und Subjekt durchzogen beschreibt. Dabei interpretiert Henrich den Begriff „Person“ als einen „sozialen“ Zustand oder Modus: Hier ist der Mensch „einer unter anderen“446 bzw. einer wie der andere. Mit dem Modus „Person“ ist ein Wissen von uns gemeint, das zwar „unabweisbar“, aber fehlbar ist.447 Subjekt zu sein, bezeichnet demgegenüber nach Henrich eine Weise der Selbstzentrierung, der Selbstevidenz, die einem jeden nicht nur „unmittelbar“ gegeben, sondern aufgrund ihrer Fundierung im Selbstbewusstsein auch „unfehlbar“ sei. Der Status des Men­ schen als Subjekt enthält die Möglichkeit der Differenz zur Welt und zu anderen, bis hin zur „Nicht-Notwendigkeit“ der Welt, wie es Henrich formuliert: „Sofern wir denkend leben, leben wir zwar auf ein Anderes hin, aber nicht aus der Welt heraus, deren Nicht-Notwendigkeit wir zugleich und jederzeit verstehen.“448 Abgesehen davon, dass es nicht selbstverständlich ist, dass man „jederzeit ver­ stehen“ könne, was eine „Nicht-Notwendigkeit“ der Welt besagt, scheint Henrichs Darstellung vor allem zu bestätigen, dass Sozialität für transzendentalphilosophi­ sche Ansätze, die sich an der Struktur des Selbstbewusstseins orientieren, wie selbstverständlich mit der Einstellung „einer unter anderen“ zusammenfällt. Als solche ist diese Einstellung jedoch stets mit Fehlbarkeit behaftet: Man kann sich falsch auf die anderen beziehen; die Relation steht immer unter dem Risiko der Verwechselung, der falschen Eigenschaftszuschreibung oder der Verfehlung. Folgt man Henrich, so findet man Rückhalt angesichts dieser Situation der potentiellen Verfehlung nur im Rückgang auf die Fundierung des Lebens, aus der heraus alles Weitere zu verstehen sei. Freiheit manifestiert sich nach diesem Modell zunächst als Bewegung der Selbstzentrierung und weiter als Transzendierung des Selbst, die durch eine Rückbesinnung auf den Grund der gegenläufigen Bewegung von Selbstund Fremdbezug erreicht werden kann und deren Ort die religiöse Praxis sei. Doch es kann nur eine solche Religion oder Philosophie der „distanzlosen An­ eignung“ fähig sein und ihre Kraft bewahren, die in einer im begreifenden Denken gestifteten Einheit gründet. Diese Einheit bildet nach Henrich dieselbe Fundie­ rung, in der auch der Grund der Authentizität und des gelingenden Lebens des Einzelnen zu suchen sei. Erst in dieser Einheit sei diejenige „Schicht“ zu sehen, die ein distanzloses Verhältnis zur Welt und zu anderen Menschen, unter denen man lebt, ermöglichen soll. Es ist faszinierend, wie sich unter diesen philosophischen Prämissen sowohl die Unterschiede zwischen den Religionen begründen als auch deren oftmals uneingestandene Interdependenzen sichtbar machen lassen. Dies 445  Dieter Henrich, Das Selbstbewußtsein und seine Selbstdeutungen. Über Wurzeln der Religionen im bewußten Leben, in: ders., Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frank­ furt am Main 1982, S. 99 – 124. 446  Ebd., S. 105. 447  Ebd., S. 107. 448  Ebd., S. 109.

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

341

hängt damit zusammen, dass Henrich religiöse Praktiken, trotz ihrer Vielfalt, in der einheitlichen Fundierung im spekulativen Denken notwendig aufgehoben sieht, worin sie zugleich ihre Rechtfertigung finden.449 Bejaht man diese Auffassung, so lassen sich, wenn man so will, drei Seinswei­ sen des Subjekts identifizieren: die Seinsweise der Isolierung, in der das Subjekt sich allen anderen und der Welt entgegensetzt, die der Gleichheit als einer Gleich­ stellung mit allen anderen, die im alltäglichen Selbstverhältnis zu sich und anderen umzusetzen ist, um unserer Personhaftigkeit gerecht zu werden, und die der Steigerung beider in der religiösen oder philosophischen Praxis. Henrichs philosophi­ sche Überlegungen vermitteln den Eindruck, dass die stets mit dem Verdacht der Äußerlichkeit und der Fehlbarkeit behaftete Sphäre der Sozialität zugunsten der Bewegung der Selbstzentrierung und der Steigerung durch den Rückgang auf den Einheitsgrund des „bewußten Lebens“ immer wieder verlassen werden muss. Nur so kann dem Subjekt Versöhnung widerfahren, kann es die Einheit mit sich selbst erlangen. Für Hegel verhält es sich hingegen genau umgekehrt. Das Verhältnis zu anderen wird nicht als ein im Gefälle der Selbstgenügsamkeit stehendes gedacht. Vielmehr gilt, dass Sozialität der Subjektivität des Menschen nicht äußerlich ist, weshalb sie sich, streng genommen, auch niemals dem Verdacht der Fehlbarkeit aussetzen kann. Auch die Idee der „Nicht-Notwendigkeit der Welt“ lässt sich mit Hegel als ein Standpunkt der Subjektivität deuten, der auf der transzendentalphilosophischen Fi­ gur der „Entgegensetzung“ beruht. Wird dieser Standpunkt verabsolutiert, so kann er zerstörerische Konsequenzen für die Subjektivität selbst entfalten. In der Enzy­ klopädie wird diese Haltung des „sich auf die Spitze seiner Einzelheit stellende[n] Geist[es]“,450 der auf andere Menschen und die Welt verzichten zu können meint, mit der Gefahr verbunden, ins „Böse“ umzukippen. Authentizität, gelingendes Le­ ben und konkrete Individualität sind ohne gelingende zwischenmenschliche Bezie­ hungen nicht denkbar. Dies kommt innerhalb der Bewegung der Phänomenologie des Geistes insbe­ sondere darin zum Tragen, dass die im Selbstbewusstsein-Kapitel nur defizient ver­ wirklichte Form der Anerkennung auf ihre Überschreitung hin angelegt ist: Indivi­ dualität kommt erst dort zur Geltung und zu ihrem Recht, wo das „spröde Selbst“ der Rechtsperson oder das „harte Herz“ des beurteilenden Gewissens hinter sich gelassen werden. Dabei ist es keineswegs ein Zufall, dass sich diese Überschreitung erst auf dem Höhepunkt des Geistkapitels der Phänomenologie realisiert. Dort er­ innert Hegel an die ursprüngliche Bedeutung des Gewissens als soziales Organ par excellence, die bei Kant kaum mehr wahrnehmbar gewesen ist: an die Bedeutung des Gewissens als „conscientia“, als „Mit-Wissen“, und damit an die Empathie und geistige Beweglichkeit des Menschen, der die Fähigkeit hat, Grundsätze und Ab­ sichten seiner Mitmenschen zu erkennen, ohne sein Urteil ausschließlich auf die 449  450 

Vgl. ebd., S. 102 ff. Enz. III, § 382, Z, S. 26.

342

3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Unterstellung eines entpersonifizierten, allgemeinen Anderen zu gründen, für die der konkrete Andere immer nur als „einer unter anderen“ erscheint. Interessanterweise scheint das Modell der „Selbstdeutung“ der Subjektivität, das Dieter Henrich anhand der Spannungsfigur von Person und Subjekt erläutert, genau der Anordnung zu korrespondieren, die Hegel im Naturrechtsaufsatz als das Modell des „negativen Absoluten“ diskutiert, für das das Prinzip der Entgegensetzung ebenso gilt wie die Behauptung des Vorrangs des Unendlichen vor dem End­ lichen, in Henrichs Erläuterung des „Subjekts“ vor der „Person“, der fundierenden „Einheit“ vor der „Vielheit“. Aufschlussreich im Hinblick auf eine mögliche Kritik dieser Figur der „Entgegensetzung“, die Henrich in seinen Überlegungen zur fun­ damentalen Spannung zwischen Person und Subjekt als zentral hervorhebt, sind Hegels Erläuterungen im Naturrechtsaufsatz. Das, was Hegel in den Grundlinien als „negative Freiheit des Verstandes“ be­ zeichnet hat, die von der Bestimmtheit abstrahiert, wurde im Naturrechtsaufsatz noch weiter gefasst und mit einer bestimmten Form der Vernunft in Verbindung gebracht. Diese Vernunft zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Primat der Einheit vor der Vielheit behauptet. Hegel hält eine solche Vorrangbehauptung für proble­ matisch: „[W]eil die relative Identität dadurch, daß die Einheit das Erste ist, nicht aufgehoben wird, so ist diese zweite Freiheit so bestimmt, daß das Notwendige für die sittliche Natur zwar ist, aber negativ gesetzt ist.“451 Das „Notwendige“ bleibt der „sittlichen Natur“ äußerlich. Eine solche Vernunftform, die das Primat der Einheit formuliert, vermag nur zur „zweiten Freiheit“ zu gelangen. Auf dem Weg dahin, zu erläutern, was die für Hegel unübliche Rede von „zweiter Freiheit“ beinhaltet, soll zunächst erwogen werden, worin aus Hegels Sicht die Defizite dieser Vernunft­ form liegen, von der in Bezug auf Kant unter dem Stichwort einer „Vernunft in der Differenz“ bereits die Rede war. Hegel bezeichnet ein solches Vernunftverständnis als „abstrakt“ und „formell“: Diese „praktische Vernunft“ habe nur eine „formelle Idee der Identität des Ideel­ len und Reellen“ – die Idee von dem, wie es sein soll und wie es ist – entwickelt. Das lässt sich so verstehen, dass die praktische Vernunft eine Vorentscheidung zugunsten der Einheit getroffen hat, das Versprechen, die Einheit zu realisieren, in der Praxis jedoch nicht halten kann. Da aber das ‚unvernünftige‘ Viele gemäß dem Modell der ‚Entgegensetzung‘ so aufgefasst wird, als bestünde es unabhängig von der Vernunft (als hätte es „schlechthin ein Bestehen“, wie sich Hegel ausdrückt), kann die Vernunft sich nur behaupten, in Hegels Formulierung: „mehr bestehend und reeller erschein[en], wenn das Viele als negiert oder vielmehr als zu negierend gesetzt ist.“452 Nach Hegel liegt der Fehler dieser Vernunft bereits darin, dass sie von dem Vielen abstrahiert, indem sie es als ‚unvernünftig‘ von sich weist – ihm eine andere Ordnung zuweist –, und dass sie unter diesen Vorzeichen selbst in eine ebenso 451  452 

NR, S. 458 (Herv. T. S.). Ebd., S. 455.

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

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abstrakte „wesenlose“ Einheit flüchtet. Eine Vernunft, die ihr Selbstverständnis aus der Entgegensetzung zum Vielen gewinnt, kann nach Hegel nicht praktisch werden. Ihre Zuständigkeit ist, „allein die formelle Idee der Identität des Ideellen und Reellen zu erkennen […]; aber jene Idee kommt nicht aus der Differenz und das Ideelle nicht zur Realität, denn ungeachtet in dieser praktischen Vernunft das Ide­ elle und Reelle identisch ist, bleibt doch das Reelle schlechthin entgegengesetzt“.453 So scheint sich eine unproduktive Aufteilung in zwei Ordnungen zu ergeben: in die Ordnungen des Freien und Unfreien, des Vernünftigen und Unvernünftigen, der Freiheit aus Gründen und der Natur aus Kausaldetermination, der Realität der Autonomie, die auf der rationalen Figur des Selbstverhältnisses beruht, und der Idealität der theoretischen Erkenntnis, die den Objektbezug auf das Subjekt zu­ rückwendet, usw. Aus Hegels Sicht sind derartige Dichotomien unbefriedigend. Denn unter diesen Bedingungen bleibt der Vernunft letztlich nichts anderes übrig, als zu resignieren. Sie hält sich von der Praxis fern, und das heißt, bezogen auf die bisherigen Erörterungen: Sie wird apolitisch. 3.  „Zweite Freiheit“: Freiheit nach der Natur Interessant ist an der Kritik der „Vernunft in der Differenz“, die in aller Kür­ ze rekapituliert wurde, dass Hegel nicht nur eine der beiden, sondern beide Ord­ nungen, zwischen denen eine Differenz- und Gegensatzbeziehung postuliert wird – sowohl die des Vernünftigen als auch die des Unvernünftigen – der Ebene der „Erscheinung“ und der „Notwendigkeit“ zuordnet. Dies besagt aber, dass beide sich als nicht vollständig frei erweisen, weil dasjenige, was als frei postuliert wird, an das nicht freie und unvernünftige Viele stets gebunden bleibt. Auf diese Weise kann die von der Vernunft postulierte Freiheit jedoch immer nur eine „zweite Frei­ heit“ sein, gleichsam eine Freiheit nach dem Vielen, nach der Natur, die als Defini­ ens dieser Freiheit – als ein bereits vorentschiedenes Differentes – in ihr wirksam bleibt, obwohl sie vorgibt, sich davon gänzlich zu distanzieren. In diesem Sinne schreibt Hegel, dass der „Gegensatz“ von Vernunft und Unver­ nunft „der Erscheinung angehört“, „an sich aber betrachtet, ist sowohl jenes Viele absolute Einheit des Einen und Vielen als diese Einheit […]“.454 Was aus der Pers­ pektive des „negativ Absoluten“ als getrennt erscheint, muss in Wahrheit, „an sich“, so begriffen werden, dass es verschiedenen Logiken der einen sittlichen Vernunft folgt, die schon praktisch ist und es nicht erst werden muss. Das, was zuvor Viel­ heit, ein äußeres „Nebeneinander“ war, kurzum: Natur – also die (vermeintliche) Unvernunft –, bestimmt Hegel jetzt als das Andere der Vernunft, als eine besondere „natürliche“ bzw. naturhafte Weise der Ausübung der Vernunft, die das Primat dem Vielen gibt, wohingegen die sittliche Vernunft die Einheit privilegiert.455

453 

Ebd., S. 456. Ebd., S. 455. 455  Ebd., S. 458. 454 

3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

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Auf diese Weise werden die Vorrangverhältnisse, die innerhalb der Relation sonst bestanden haben, von Hegel dadurch relativiert, dass er diese Denkweise der Logik des „negativ Absoluten“ zuordnet, das sich zwar als die „Einheit des Einen und Vielen“ begreift, sich in Wahrheit aber zugleich (und immer wieder neu) in die Hinsichten der Natur(notwendigkeit) und der Freiheit differenziert und in dieser Differenz verbleibt. Hegels Schachzug besteht nun darin, zu sagen, dass sowohl die Natur als auch die Freiheit, so wie Letztere in der Sphäre des „negativ Absoluten“ oder auch des „relativ Sittlichen“ bestimmt wird, dem Bereich der Notwendigkeit angehören, weshalb er sie als die Weise der Erscheinung des Absoluten deutet.456 Hegels Pointe ist dabei in der Behauptung zu sehen, dass auch die Freiheit derge­ stalt Notwendigkeit bedeutet. Wie man unschwer erkennt, trifft diese Beschreibung des Zusammenfallens von Freiheit und Notwendigkeit bei gleichzeitiger Differenz zur (unfreien) „ersten Natur“ insbesondere für dasjenige Verständnis von Freiheit zu, in dem diese – in Anlehnung an Kants Autonomieverständnis – als Normati­ vität der Gründe und als die Sphäre der selbstbewussten Rechtfertigungsprozesse aufgefasst wird. Im Gefolge des von Kant aufgeworfenen Paradoxes der Autonomie und seiner an Hegel angelehnten Auflösung wurde diese Freiheitsdimension, so etwa in Pin­ kards Darstellung, als soziale Normativität ausbuchstabiert. Bereits Brandom hat für diese Figur einer widerspruchsfreien Zusammenführung von Freiheit und Not­ wendigkeit die entscheidende Spur gelegt, indem er die Unterscheidung zwischen Freiheit und Notwendigkeit (der Natur) zu einer sozial konstituierten (und damit prozessualen) Unterscheidung erklärt hat. Dass darin ein (bedenklich stimmender) Optimismus des Sozialen zum Ausdruck kommt, hängt nicht zuletzt damit zu­ sammen, dass die Konsequenz dieser Figur möglicherweise verharmlost wird – es ist der keineswegs harmlose Umstand, dass dem Sozialen, in dem Maße wie es zur Instanz der Unterscheidung zwischen Freiheit und Unfreiheit wird, eine unge­ heure Macht zugewiesen wird – die Macht der Festlegung, was welcher Ordnung angehört und was aus ihr auszuschließen sei. Auf diese Weise konkretisiert sich, was Hegel mit dem Ausdruck „zweite Frei­ heit“ gemeint haben könnte: Darunter lässt sich eine Freiheitsform verstehen, die einen Umdeutungsprozess in Gang gesetzt hat und ihn permanent fortschreibt, in dem die Trennlinie zwischen Notwendigkeit (dem Vielen) und Freiheit (dem Einen) immer wieder neu gezogen wird.457 Um zu verstehen, was es mit der Bestimmung „zweite Freiheit“ genauer auf sich hat, gilt es aber auch, sich einem weiteren Prob­ lem zuzuwenden – dem bereits angekündigten Problem des Verhältnisses von Na­ tur und Freiheit, das sich für die Modellierung dieses Freiheitsverständnisses als zentral erweist. Um das bisher Gesagte nochmals zu rekapitulieren: Vom bloßen „introspek­ tiv“ gewonnenen Standpunkt des Subjekts aus erscheint Freiheit Hegel zufolge als 456  457 

Ebd., S. 457. Ebd., S. 458.

B.  Modelle sozial vermittelter Freiheit und ihre Grenzen

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„zweite Freiheit“ – sie eine „zweite“ zu nennen, besagt, dass in dieser Freiheits­ form die Äußerlichkeit der Natur und die Differenz zur triebhaften und unbere­ chenbaren Natur gerade nicht überwunden werden können. Vielmehr bleibt eine solche Freiheit stets an die ihr differente und daher als defizient bestimmte Natur gebunden. Dergestalt ist sie aber selbst noch natürlich, nicht geistig, sofern das Auszeichnungsmerkmal des Natürlichen für Hegel das Vorhandensein einer Dif­ ferenz ist, die nicht aufgehoben wird, sondern äußerlich bleibt, „weil die Momente des Absoluten in ihm zerstreut, nebeneinander, aufeinanderfolgend, zersplittert erscheinen“.458 Es ist gleichsam eine Freiheit nach der Natur (nach der Differenz zur Natur), und nicht eine solche, die es vermag, die Natur – sie transformierend – ins eigene Selbstverständnis aufzunehmen. Dergestalt erscheint Freiheit allerdings stets als nur bedingte Freiheit – als eine zweite, nachnatürliche, jedoch noch nicht geistige Freiheit: Innerhalb dieses Selbstmissverständnisses von Freiheit kann die „absolute Idealität“ der Natur weder eingestanden noch eingesehen werden. Diese „absolute Idealität“ der Natur ist aber – Geist. Wie ist das gemeint? Für den Standpunkt der „zweiten Freiheit“ ist die Unterscheidung zwischen zwei Ordnungen – der Ordnung der „ersten“ und der „zweiten Natur“ – entschei­ dend. Hegel zufolge ist diese Unterscheidung in der Introspektion des empirischen Bewusstseins vorhanden. Bliebe man bei dieser Freiheitsform stehen, die Hegel auch als „negatives Absolutes“ oder als „relative Sittlichkeit“ bezeichnet, so wäre das aus Hegels Sicht (zumindest kann dies dem Naturrechtsaufsatz entnommen werden) unnatürlich, ein „Naturunrecht“.459 Stattdessen komme es darauf an, das Recht wörtlich – als das „Recht der sittlichen Natur“460 – aufzufassen. Es komme darauf an, die formale Kultur der Autonomie, als „zweite Freiheit“ verstanden, zu „indifferenzieren“. Es sind nur wenige Stichworte, die Hegel zu dieser „indifferen­ zierten“ Form der Autonomie an die Hand gibt. Zum einen ist es Vertrauen, wie sich dem Depositum-Beispiel entnehmen ließ, das bereits ausführlich diskutiert wurde, zum anderen ist es die Anschauung: Hegels ‚Anleitung‘ zum autonomen Urteilen, wenn man so reden darf, lautet nicht: „Erkenne die Gründe und verknüp­ fe sie vernünftig“, wie man heute geneigt ist, den Prozess des selbstbestimmten Urteilens zu denken, sondern vielmehr: „Urteile so, dass Du das Ganze festhältst“. Die Tätigkeit des Geistes liegt hier im Zusammenfassen und Objektivieren von Bestimmtheiten gegen das abstrakte Neben- und Außereinander wie auch gegen die Entgegensetzung. Verabsolutiert man demgegenüber die „relative Identität“, so bleibt man „auf demselben Punkte stehen, auf welchem das Wesen der praktischen Vernunft als absolute Kausalität habend bestimmt wird“.461 Die Idee der Identität generiert sich dann nicht aus den Verhältnissen selbst, sondern wird nach der Logik der Kausa­ 458 

Vgl. ebd., S. 459. Ebd., S. 506. 460  Ebd., S. 505. 461  NR, S. 458. 459 

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lität, der äußeren Einwirkung auf das Viele, gedacht. Nach Hegel kann die „prak­ tische Vernunft“, „deren Wesen begriffen wird als ein Kausalitätsverhältnis zum Vielen“,462 jedoch nicht über die „Erscheinung“ hinausgelangen,463 ja sie produziert sogar selbst unentwegt Differenz, Erscheinung, Schein. So ist beispielsweise die Nichtübereinstimmung der Sinnlichkeit mit der Vernunft, der es gerade in der Mo­ ralität entgegenzuarbeiten gilt, gleichsam vorprogrammiert. Der Standpunkt der „relativen Identität“ entspricht nach Hegel der „populären“ Auffassung, „dass die Vernunft darin bestehe, aus eigener absoluter Selbsttätigkeit und Autonomie zu wollen und jene Sinnlichkeit einzuschränken und zu beherr­ schen“.464 Gemäß dieser Auffassung gewinnt das Verhältnis von Vielheit (Neigun­ gen, etc.) und Einheit (Vernunft) nur dann an Bestimmtheit, wenn die Entscheidung zugunsten der Einheit und mittels „Negation der Vielheit“ fällt. Diese Auffassung wird in der Evidenz des empirischen Bewusstseins zwar bestätigt, doch verkennt man, dass es sich hierbei um das „Sein[…] des Unendlichen im Endlichen“ han­ delt.465 Verbleibt man in diesem Zustand der „negativen Absolutheit“, die zwar nur ein Moment ist, jedoch unzulässigerweise als Relations- bzw. Verhältnisfigur iso­ liert und verabsolutiert wird, so hat dies aus Hegels Sicht entsittlichende Folgen für individuelle und allgemeine Freiheit.466 Daher deutet Hegel die Differenz- und Relationsbeziehung zwischen individueller und allgemeiner Freiheit zur Identitätsbeziehung um, innerhalb derer die Differenz jedoch nicht verschwindet, sondern überhaupt erst sinnvoll aufgehoben werden kann: Freiheit des Einzelnen ist in der allgemeinen Freiheit aller. Demgegenüber hält Hegel die Idee der Begrenzung der „natürliche[n] oder ursprüngliche[n] Freiheit durch den Begriff der allgemeinen Freiheit“,467 wie sie etwa auch in der Idee der Freiheitsrealisierung durch „cons­ traints“ (in der Bedeutung, wie sie Brandom vertreten hat) zum Ausdruck kommt, für eine beschränkte Form von Freiheit, die nach Hegel niemals „absolut“ und des­ halb nicht wahrhaft Freiheit sein kann. Wenn Hegel das Absolute als „Einheit der Indifferenz und des Verhältnisses“ bestimmt, dann soll diese Formel besagen, dass beide „Naturen“, die physische und die sittliche, in ihrem Verhältnis sowohl als sich voneinander unterscheidende bestehen bleiben sollen als auch beide zugleich „vernichtet“ bzw. indifferenziert werden. Das Verhältnis muss indifferenziert und in sich ununterscheidbar gemacht werden, denn in Wahrheit, „an sich“, ist beides, sowohl jenes Viele als diese Ein­ heit, wie bereits zitiert, „absolute Einheit des Einen und Vielen“.468 Damit bereitet Hegel allerdings ein Verständnis der Natur vor, in dem Natur nicht mehr – wie noch 462 

Ebd., S. 456.

463 Ebd. 464 

Ebd., S. 458. Ebd., S. 459. 466  Vgl. ebd. 467  Ebd., S. 476. 468  Ebd., S. 455. 465 

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für Kant469 – unfrei ist, sondern sich als das Andere der Freiheit bzw. des Geistes zu erkennen gibt, als das Andere jedoch deshalb, weil die Logik des Natürlichen nicht der geistigen Verfasstheit entspricht.470 4.  Natur und Freiheit Gemeinsames Merkmal eines Freiheitsbegriffs, in dem Freiheit als ‚Kausalität aus Gründen‘ bestimmt wird, ist, dass er mit der Bestimmtheit durch Natur ra­ dikal bricht. Für diese beiden Freiheitsformen, die Hegel der Sphäre des „relativ Sittlichen“ zurechnet – für die „zweite Freiheit“, sofern darunter Normativität aus Gründen verstanden wird, und für die „zweite Natur“, mit der die Gesamtheit von sozialen und institutionellen Praktiken, in die Individuen eingebunden sind, be­ zeichnet wird – gilt, dass sie immer schon in einer Differenzbeziehung zur „ersten Natur“ stehen. Die „erste Natur“ ist dabei der „zweiten“ untergeordnet, wird sie doch überhaupt erst von jenem Standpunkt aus beurteilt und für berechtigt be­ funden. Der Akt der Bestimmtheit, durch den diese „zweite“ Freiheitsform sich auszeichnet, liegt in der Aneignung der Gründe, die wiederum eine permanente Differenzsetzung zur „ersten“, impulsiven und triebhaften Natur impliziert. Mit der Figur der Autonomie, in ihrer Bedeutung als Gleichsetzung der Freiheit mit der Normativität der Gründe, verändert sich mit anderen Worten der Status des Natur­ begriffs selbst. Die Natur wird zu einer zu verarbeitenden, zu kultivierenden, in der bekannten Formulierung Fichtes aus den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten: „Die Sinnlichkeit soll cultivirt werden: das ist das höchste und letzte, was sich mit ihr vornehmen lässt.“471 Die Liste derer, die an diesem Freiheitsbegriff festhalten, der ein bestimmtes Verhältnis zur Natur impliziert, ist lang. Er ist noch für die Philosophie Nietzsches und Adornos der leitende Gesichtspunkt, die „Kants Erläuterung von Moralität durch Autonomie [akzeptieren]“ und den Zusammenhang anerkennen, so Chris­ toph Menke, „dass es keine Freiheit ohne Brechung des Naturzwangs gibt und dass diese Brechung selbst Zwang ist.“472 Sie durchschauen den Zwangscharak­ ter in seiner Ambivalenz – als Mechanismus einer Unterwerfung, die mit einem Emanzipationsversprechen einhergeht: „Es ist, oder genauer, es war der moralische Zwang gegen die eigene Natur, der sich in der menschlichen Geschichte als solcher 469  Anders verhält es sich in Kants dritter Kritik, die hier jedoch nicht zum Thema ge­ macht wird. 470  Das Konzept der „zweiten Freiheit“ ist schon deshalb vorgeistig, weil es dem „em­ pirischen Bewußtsein“ angehört, das aber „darum empirisch [ist]“, so Hegel, „weil die Mo­ mente des Absoluten in ihm zerstreut, nebeneinander, aufeinanderfolgend, zersplittert er­ scheinen; aber es wäre selbst kein gemeines Bewußtsein, wenn die Sittlichkeit nicht ebenso in ihm vorkäme“ (NR, S. 459). 471  Johann Gottlieb Fichte, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten [1794], in: ders., Fichtes Werke, hrsg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. 6: Zur Politik und Moral, Berlin 1971, S. 289 – 346, hier: S. 299. 472  Menke, Spiegelungen der Gleichheit, S. 85.

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freiheitseröffnender Zwang erwiesen hat.“473 Erst durch die Emanzipation von Na­ turbestimmtheit und den Übergang zur vernünftigen Selbstbestimmung aus Grün­ den betritt das Individuum die Sphäre des Sozialen. Deshalb verwundert es wenig, wenn die Autoren, die an diesen Freiheitsbegriff heute anknüpfen – und zwar so positiv anknüpfen, dass ihnen die Zwangskomponente ganz unverständlich wird – die individuelle Autonomie derart stark mit der sozialen Expressivität (Brandom) oder sozialer bzw. praktischer Identität (Korsgaard) verbinden. Wollte man darüber spekulieren, wie Hegels Position in diesem gegenwärtig geführten Diskurs zu verorten wäre, so müsste man erkennen, dass ihm darin inso­ fern eine Sonderrolle zukäme, als er sich (zumindest gilt dies für den Naturrechts­ aufsatz) mit der Rede von „zweiter Freiheit“ gegen den Primat des Einen vor dem Vielen und für eine Neubestimmung ihres Verhältnisses ausgesprochen hat. Damit scheint Hegel daran erinnert zu haben, dass die Natur in dieser Formel als eine passive verstanden wird und dergestalt gleichsam aus dem Blick gerät: Im Konzept der „zweiten Freiheit“ wird die Natur der eigenen Aktivität beraubt. Will man die Na­ tur jedoch nicht ihrer Aktivität berauben, so ist dies mit Hegel gesprochen wieder­ um nur durch eine Erweiterung des Freiheitsverständnisses vermittels des Begriffs des Absoluten und ferner des Begriffs des Geistes möglich. Angesichts der Verän­ derungen im Naturbegriff, die mit dieser Einsicht angesprochen werden, ist es für Hegel äußerst sinnvoll, einen Begriff zu wählen, den er von Schelling übernimmt: Indifferenz. Die Frage, wie diese „Potenz“, sich von der Natur unterscheiden zu können, ohne dabei die Freiheit in eine bloß „zweite Natur“ und die Natur in eine bloß passive und unfreie zu verkehren, zu denken ist, lässt Hegel jedoch unerörtert. Immerhin ließe sich vor dem Hintergrund von Hegels Kritik des „relationalen Modells“, etwas frei gedacht, aber dennoch mit einigem Recht und mit Rückhalt im Text, Folgendes behaupten: Hegel profiliert den Begriff des Absoluten (und später: des Geistes) so, dass seine Struktur es möglich macht, eine Freiheit von der „zwei­ ten Freiheit“ zu denken. Der Geist wird dabei als das Andere der Natur behauptet, als Überwindung ihrer äußerlichen Anordnung und damit auch als Ort der Befrei­ ung der Natur selbst. Freiheit oder Geist gehören damit keiner anderen Ordnung an als der Ordnung der Natur. Oder anders und präziser ausgedrückt: Freiheit und Na­ tur gehören nicht zwei verschiedenen Ordnungen an. Dies erscheint lediglich aus der Perspektive der „zweiten Freiheit“ so, für die ein derartiges Auseinandertreten von verschiedenen Ordnungen – von Sein und Sollen, von Natur und Freiheit, von Endlichem und Unendlichem, Unvernünftigem und Vernünftigem – maßgeblich ist. Hegel weist aber mit der Rede von „zweiter Freiheit“ und mit der damit verbun­ denen Relativierung und Problematisierung des Vorrangverhältnisses zwischen Freiheit und Natur in Richtung eines veränderten Freiheitsverständnisses. Bei näherem Hinsehen weist dieses Freiheitsverständnis in seinen Umris­ sen eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Freiheitsbegriff von Cornelius Cas­ toriadis auf, der Freiheit mit Akten des Unterscheidens von Natur und Geist in 473 

Ebd., S. 86.

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Verbindung gebracht hat.474 Diese Überlegung findet Rückhalt in Hegels Natur­ rechtsaufsatz. Hegel zufolge gehört das Verhältnis von Natur und Freiheit dann der Notwendigkeit an, wenn die Identität des Verhältnisses als ein Differentes des Absoluten475 aufgefasst wird. Die Entgegensetzung von Freiheit und Natur positi­ oniert sich als Differenz zum Absoluten, soll sich jedoch nicht als Differenz vom Absoluten absondern, sondern zum Prozess der Unterscheidbarkeit der sittlichen von der physischen Natur werden. Dies lässt sich so deuten, dass die Entgegen­ setzung prozessual, als Unterscheidungsakt beider Naturen, gefasst werden soll. Dieser Unterscheidungsakt wird vom Absoluten ausgeführt, ja er ist die Tätigkeit des Absoluten selbst. Das Unterscheidungskriterium ist dabei der Umstand, dass die sittliche Natur der Einheit den Vorzug gibt, während die physische Natur die Vielheit privilegiert. Der Ausgangspunkt dieser Unterscheidungstätigkeit soll nach Hegel jedoch nicht die bereits bestehende, gleichsam vorweggenommene Differenz sein (etwa eine sozial generierte normative Differenz zwischen Natur und Freiheit, wie sie Robert Brandom interpretiert hat), sondern die Hinsicht der Indifferenz zwischen den beiden. Im Hintergrund der Kritik an der Figur der Entgegensetzung von Natur und Freiheit scheint die Überlegung mitzuschwingen, dass, wenn man mit der Entgegensetzung beginnt, sich die Frage unmöglich beantworten lassen wird, wie das Naturwesen Mensch überhaupt in die Lage versetzt wird, die Fähig­ keit, sich als frei wahrzunehmen, zu entwickeln und sich in dieser neuen Qualität von der Natur zu unterscheiden. Diese Frage beantworten zu wollen, setzte ein ver­ ändertes Freiheitsverständnis voraus, in dem die Natur als das Andere des Geistes gedacht, aber nicht der Freiheit immer schon als unfrei entgegengesetzt wird. Beansprucht man mit einem so gefassten veränderten Freiheitsbegriff über die „relative“ Logik der „zweiten Freiheit“ hinauszugehen, so müsste auch in das Ver­ ständnis der „ersten Natur“ eine Veränderung eingetragen werden: Wenn es wahr ist, dass es keine freie Natur unabhängig vom Geist geben kann, und wenn die Gesellschaft als Ermöglichungsinstanz des autonomen Vollzugs anerkannt wird, so muss dieser autonome Vollzug wiederum so gedacht werden, dass die „erste Na­ tur“ durch diesen Vollzug zugleich wiederbelebt wird. Es käme folglich darauf an, eine Gestalt der Sozialität zu denken, aus der die „erste Natur“ nicht herausfällt, sondern in der sie vielmehr umgekehrt ihr Recht uneingeschränkt – und gerade deshalb in verwandelter Form – zurückgewinnt. Soll Autonomie auch anderes und mehr bezeichnen als das „Recht auf Rechtfertigung“476 und die Normativität der 474  Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, insb. das Kapitel „Autonomie und Entfremdung“, S. 172 – 195. 475  NR, S. 457. 476  Zum „Recht auf Rechtfertigung“ als Fundament einer „kritischen Theorie der Ge­ rechtigkeit“ siehe die grundlegenden Arbeiten von Rainer Forst, Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2007; zur Möglichkeit der Gesellschaftskritik als Kritik einer „Rechtfertigungsordnung“ vgl. ders., Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse. Perspektiven einer kritischen Theorie der Po­ litik, Berlin 2011.

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Gründe, soll autonomes Handeln, worin die individuelle Kraft des Willens sich äußert, in der Welt möglich sein, dann kommt es darauf an, die Idee einer solchen Wiederbelebung der „ersten Natur“ nicht zu verspielen.

C.  Ästhetisch zu vollziehende Befreiung: Die Gesellschaft, die im „Schein“ wirklich ist Im unmittelbar nachkantischen Kontext ist Friedrich Schiller die richtige, ja die beste Adresse, um die aufgeworfene Frage nach der Befreiung der Natur zu dis­ kutieren. Schillers Antwort auf die Frage ist eine Provokation: Die Befreiung der Natur gelingt nur durch eine höhere Kunst der Gesellschaft. Dem liegt Schillers Idee der „ästhetischen Kultur“ zugrunde, die ihrerseits in den größeren Kontext der politischen Frage nach der Realisierung des „Vernunftstaates“ eingebettet ist. Schillers Vision des „Vernunftstaates“ bildet die Zielperspektive der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Vor dem Hintergrund des bisher Disku­ tierten ist Schillers Beitrag nicht zuletzt deshalb außerordentlich interessant, weil er die Aufgabe des „Baus einer wahren politischen Freiheit“,477 anders als Kant und Fichte, nicht durch die Entkoppelung von Moral und Recht zu lösen beansprucht. Vielmehr nimmt „ästhetische Kultur“ eine Stellung zwischen Recht und Moral ein, sie steht, um Hegels Ausdruck zu verwenden, für eine Indifferenzierung der Ver­ hältnisse, um dergestalt allerdings überhaupt die politische Funktion der Begrün­ dung einer eigenen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu übernehmen. Der Dramatiker Schiller setzt weder auf sittliche Gemeinsamkeit noch auf starke Institutionen, in die sich Individuen im Zuge der Objektivierung ihres besonderen Lebens integrieren sollen, sondern auf die ästhetische Existenz des gesellschaft­ lichen Menschen. Die gesellschaftliche Gemeinsamkeit wird individuell verbürgt und vermittels des „ästhetischen Scheins“478 gestiftet. Dabei gilt es, auf diejenigen Vorüberlegungen Schillers zum Konzept des „ästhetischen Scheins“ zu achten, die er gleichsam auf dem Weg dahin anstellt: In seiner Schrift Über Anmut und Würde schlägt er vor, den Willen als neutrale Kraft aufzufassen, die sich einmal auf die sinnliche Seite, einmal auf die vernünftige schlagen kann.479 Zum anderen sind Schillers Impuls, der Sinnlichkeit und der Natur eine eigene Quelle von Autonomie zuzugestehen, und die damit verbundenen Bemühungen zu erwähnen, zwanglose Verhältnisse zu denken, indem er etwa den Begriff der Schönheit zu fassen sucht: „Selbstbestimmung des Sinnlichen ist reine Naturbestimmung, Schönheit“,480 so lautet Schillers berühmte Formulierung in den Kallias-Briefen. Mit Zwang behaf­ Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 2. Brief, S. 572. erörtert den Schein-Begriff in den letzten beiden Briefen, im 26. und 27. Brief (ebd., S. 655 ff.). 479  Vgl. den Abschnitt über die Würde in Schiller, Über Anmut und Würde, S. 470 ff. 480  Friedrich Schiller, Kallias oder Über die Schönheit. Briefe an Gottfried Körner [1793], in: ders., Werke, Bd. 5, S. 404, Brief vom 18. Februar 1793. 477 

478 Schiller

C.  Ästhetisch zu vollziehende Befreiung

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tet ist die Handlung hingegen nach Schiller immer dann, wenn sie lediglich „ein Produkt“, „eine Wirkung“ der Vernunft ist: „Wird die Form des Nichtvernünftigen durch Vernunft bestimmt […], so erleidet seine reine Naturbestimmung Zwang, also kann Schönheit nicht statthaben.“481 Damit widerspricht Schiller – wie nach ihm Hegel – derjenigen Dimension der Autonomie, die mit der „absoluten Kausalität der Vernunft“ zusammenfällt. Wird das „Nichtvernünftige“ auf diese Weise durch die Vernunft bestimmt, so „ist [es] alsdann ein Produkt, kein Analogon, eine Wirkung, keine Nachahmung der Ver­ nunft; denn zur Nachahmung eines Dinges gehört, daß das Nachahmende mit dem Nachgeahmten bloß die Form, und nicht den Inhalt, nicht den Stoff gemein ha­ be.“482 Schiller zufolge darf der Vernunftzwang sich nicht auf den „Stoff“, den „Inhalt“ erstrecken, damit jenem „Inhalt“ keine Gewalt, kein äußerer Zwang wi­ derfährt. Ganz analog dazu schreibt auch Hegel, dass die „Form“ nicht um den Preis der „Negation des Vielen“ durchgesetzt werden darf, denn dann gäbe es kei­ ne Pluralität, weder eine Pluralität von „Bestimmtheiten“ noch eine Pluralität von „denkenden und wollenden“ Individuen. In gewisser Weise ist die Behauptung legitim, dass Schiller mit seinem mi­ metischen Begriff von Schönheit und Freiheit der konstruktiven Wendung der Kant-Kritik weitaus näher kommt als Hegel: Schiller will die individuelle Viel­ falt durch Schönheit retten, indem die Vernunft keinen direkten Einfluss auf die Sinnlichkeit ausübt, sondern umgekehrt: indem das sinnliche Viele die vernünftige Form „nachahmt“, sich selbst Form gibt. Eine Vernunft ohne Zwang und Unterdrü­ ckung realisiert sich in Nachahmungsverhältnissen, denen die Vernunftform nicht äußerlich bleibt. Damit wendet sich nicht etwa erst Hegel, sondern bereits Schiller – und überdies viel deutlicher – gegen den von Kant so nachdrücklich behaupteten Vorrang der Vernunft: Es ist bereits Schiller, der den exklusiven Vorrang des Ver­ nunft-Rechts vor dem ‚Recht‘ des Sinnlichen umkehrt. Gerade vor der Folie der Hegelschen Kant-Kritik und des Versuchs ihrer kon­ struktiven Wendung durch eine Schärfung des Sinns für individuelle Autonomie verdienen Schillers ästhetische Figuren großes Interesse. Schenkt man diesen Schillerschen Bemühungen die ihnen gebührende Aufmerksamkeit, so wird man außerdem sehr zögern, dem weit verbreiteten und durch Schiller selbst leider na­ hegelegten Urteil zuzustimmen, bei der Idee der „ästhetischen Erziehung“ handele es sich um einen utopischen Gegenentwurf zur gesellschaftlichen Wirklichkeit.483 481 Ebd. 482 Ebd. 483  Für diese in der Schiller-Forschung verbreitete Interpretation ist Benno von Wie­ ses Rede von der „utopischen Versöhnung“ leitend geworden, in der die „Beziehung von geschichtlicher Realität und ästhetischer Sphäre […] im Sinne einer prästabilierten Har­ monie angesetzt“ wird (vgl. Annemarie Gethmann-Siefert, Vergessene Dimensionen des Utopiebegriffs. Der „Klassizismus“ der idealistischen Ästhetik und die gesellschaftskriti­ sche Funktion des „schönen Scheins“, in: Hegel-Studien 17 [1982], S. 119 – 167, hier: S. 123). Gethmann-Siefert deutet Schillers Ästhetik nicht im Hinblick auf ihre politische Tragweite,

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Zu diesem merkwürdigen Umstand, dass man „Schillers klassische Kunstphiloso­ phie […] immer wieder als Zeugnis eines weltfremden Idealismus verurteilt“ habe, äußert sich Peter-André Alt kritisch: „‚Kompensation gesellschaftlicher Mängel durch ästhetische Idealisierung‘, ‚Flucht vor den Forderungen des Tages‘, ‚elitäre Publikumsverachtung‘ – so lauten nur einige der Formeln, mit denen man Schiller zum wirklichkeitsfernen Dichter der Emigration ins Reich des schönen Scheins abstempelte.“484 Doch in Wahrheit verfolgte Schiller keineswegs ein utopisches, sondern ein ganz und gar pragmatisches Anliegen. Seine pragmatische Idee bestand darin, auf die ästhetische Erziehung der Sinnlichkeit zum Schein, zur Form, und auf die Kul­ tivierung des Geschmacks zu setzen, statt auf die moralische Vervollkommnung des Individuums zu hoffen oder die unfreien gesellschaftlichen Verhältnisse einer noch nicht etablierten Rechtsstaatlichkeit zu beklagen. Gerade weil es Schiller vor Augen stand, dass „[d]er physische Mensch [wirklich] ist und der sittliche nur problematisch“,485 muss sich die Gesellschaft auf andere, moralisch neutrale Mechanis­ men zur Legalitätssicherung stützen, zu denen solche Phänomene wie Geschmack und Takt gehören: „So lange wir keine Götter sind“, schreibt Schiller, ist es dem Geschmack aufgegeben, „die Gesetzmäßigkeit der Handlungen da zu sichern, wo die Pflichtmäßigkeit der Gesinnungen nicht zu hoffen ist.“486 Schillers Pointe ist, zu behaupten, dass die Realisierung „ästhetischer Kultur“ von faktischen politischen Verhältnissen weitgehend unabhängig ist. Seine unge­ brochene Aktualität liegt in der Einsicht, dass ästhetische Kultur nicht auf einen bereits funktionierenden „Vernunftstaat“ angewiesen ist, um ihre Wirkungen zu entfalten. Vielmehr erfüllt sie gerade kraft ihrer autonomen Gestalt eine ausge­ sprochen politische Funktion. Ihre politische Wirksamkeit besteht darin, dass jener Staat ohne sie abstrakt und den Bürgern äußerlich bliebe. Als öffentlicher Raum487 weshalb auch die Kategorie des „schönen Scheins“ lediglich als Instanz der Erfüllung der „kritische[n] Funktion der Idylle“ interpretiert wird – „als grundsätzlich realisierbare (wenn auch nicht de facto realisierte) Alternative zum Bestehenden“, die als solche „den Impuls zur Veränderung der Situation“ geben kann (vgl. ebd., S. 136). Vgl. auch Klaus L. Berghahn, Nachwort, in: Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen [1795]. Mit den Augustenburger Briefen hrsg. von Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2000, S. 253 – 286, S. 254: Schillers Ästhetik sei „eine politische Ästhetik“ in dem Sinne, als sie durch Negierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit „dem welthistorischen Geschehen durch utopisches Denken beizukommen“ suche (ebd.). 484  Peter-André Alt, „Arbeit für mehr als ein Jahrhundert“. Schillers Verständnis von Ästhetik und Politik in der Periode der Französischen Revolution (1790 – 1800), in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), S. 102 – 133, hier: S. 109. 485  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 3. Brief, S. 575. 486  Friedrich Schiller, Augustenburger Briefe [1793], in: ders., Über die ästhetische Er­ ziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen hrsg. von Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2000, S. 187, Brief vom 3. Dezember 1793. 487  Zur Verbindung von Schillers Begriff des „ästhetischen Scheins“ mit Überlegun­ gen zu einer Kultur des „öffentlichen Raums“ siehe die Beiträge von Birgit Sandkaulen,

C.  Ästhetisch zu vollziehende Befreiung

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wird die „ästhetische Kultur“ zur unverzichtbaren Stütze für den Vernunftstaat, weil gerade sie bzw. „der ästhetische Staat allein [im Kreise des schönen Um­ gangs]“, der den Gesetzen des Scheins folgt, „[die Gesellschaft] wirklich machen [kann]“.488 Der „ästhetische Schein“ avanciert zur gesellschaftspolitischen Kategorie ersten Ranges, gerade weil ihn Schiller aus moralischen Kontexten herauslöst und von Wahrheits- und Authentizitätsansprüchen im Sinne des Anspruchs auf Wesenhaf­ tigkeit, die der eine dem anderen gegenüber zu enthüllen verpflichtet wäre, befreit. Dies wird an Schillers Polemik gegen Rousseau, die in den Briefen allgegenwärtig ist, besonders sichtbar. Auch die wechselseitig koordinierten Erwartungshaltun­ gen, wie sie etwa im Befund der bloßen Reproduktion der gewohnten vertragsba­ sierten rechtlich-moralischen Kategorien im moralischen Urteil bereits zur Spra­ che kamen, werden storniert: „Schön, kann man also sagen“, schreibt Schiller an Körner, „ist eine Form, die keine Erklärung fodert, oder auch eine solche, die sich ohne Begriff erklärt.“489 Ansprüche und Forderungen, mit denen Menschen einander konfrontieren, wei­ chen, mit Helmuth Plessner zu reden, einer „Hygiene“ größtmöglicher „Schonung“. Plessner scheint Schillers ästhetisches Gesetz des „guten Tons“: „Schone fremde Freiheit. […] Zeige selbst Freiheit“490 zur „Weisheit des Taktes“ zu paraphrasieren: „Schonung des anderen um meiner selbst willen, Schonung meiner selbst um des anderen willen.“491 „Aus Gründen einer Hygiene der Seele“,492 so Plessner, erwei­ sen sich Spiel, Zeremoniell, Prestige, Diplomatie, Takt und Geselligkeit allesamt überhaupt als unerlässlich, um gerade in der Sphäre der „Alltäglichkeit“ zu über­ leben: Plessner bestimmt Letztere als den „Inbegriff lauter einzelner Fälle“,493 die „wir alle [kennen]: es ist die Gesellschaft im Sinne der Einheit des Verkehrs un­ bestimmt vieler einander unbekannter und durch Mangel an Gelegenheit, Zeit und gegenseitigem Interesse höchstens zur Bekanntschaft gelangender Menschen“.494 In dieser Sphäre „herrscht ein labiles Gleichgewicht, hier gilt tänzerischer Geist, das Ethos der Grazie“.495 Schönheit und Freiheit. Schillers politische Philosophie, in: Klaus Manger/Gottfried Wil­ lems (Hrsg.), Schiller im Gespräch der Wissenschaften, Heidelberg 2005, S. 37 – 55, hier: S. 55; dies., Die „schöne Seele“ und der „gute Ton“, S. 74 – 85 sowie dies., Allerlei Spiele. Anmerkungen zu Schillers ästhetischer Erziehung, in: Uni-Journal Jena (2005), Sonderaus­ gabe „Friedrich Schiller. Spuren in Jena“, S. 24 – 25. 488  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 27. Brief, S. 667. 489  Schiller, Kallias oder Über die Schönheit, S. 403, Brief vom 18. Februar 1793. 490  Ebd., S. 425, Brief vom 23. Februar 1793. 491  Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, S. 109. 492  Ebd., S. 87. 493  Vgl. ebd., S. 80. 494 Ebd. 495 Ebd.

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3. Kap.: Individuelle und öffentliche Freiheit

Die Nähe dieser Überlegungen zu Schiller ist verblüffend. Denn es ist für Schil­ ler selbst der „gesellschaftliche Tanz“,496 der als Metapher für die Vermittlung in­ dividueller Perspektiven in der Öffentlichkeit steht und im Zuge dessen Grenzen gewahrt und Freiräume immer wieder neu ausgehandelt werden. Insofern ist ein derart bestimmtes ästhetisches öffentliches Verhalten, mit Plessner gesprochen, „in prinzipieller Wertferne an die konkrete Situation und ihre Forderungen gebun­ den“497 – ohne die Forderung substantieller Sittlichkeit überhaupt erst aussprechen zu müssen. Die von moralischen Anforderungen und den Anforderungen der Au­ thentizität qua Wesenhaftigkeit entlastete Sphäre des gesellschaftlichen Verkehrs ist weder naturhaft gegeben noch Produkt eines äußerlich fixierten Regelwerks, sondern folgt der Eigengesetzlichkeit des „schönen Scheins“. Wollte man den Schein als Phänomen, zu dem Schiller zivilisierten Umgang und Höflichkeit zählt, als „unmoralisch“ disqualifizieren oder mit Bewertungen wie „wahr“ oder „falsch“ belegen, so wäre man einem Kategorienfehler zum Opfer gefallen. Größtmögliche „Schonung“, zwanglose Verhältnisse, Bestimmung durch sich selbst, ohne zum bloßen Produkt der Vernunft oder der äußerlich aufgegebenen Regeln zu werden, und die Idee von so etwas wie dem Recht des Sinnlichen – könn­ te es eine bessere Beschreibung geben für das, wonach Hegel mit der in Aussicht gestellten Aufgabe einer „philosophischen Rechtfertigung des Einzelnen als Beste­ henden“ gesucht hat? Als gesellschaftspolitisches Konzept gelesen, überschreitet der „ästhetische Schein“ die Grenze zwischen ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ und bildet, praktisch verstanden, einen wesentlichen Bestandteil nicht nur des zivilisierten Verhaltens, sondern auch der Verwirklichung von freien Verhältnissen. Dem ent­ spricht Schillers originäre Idee, Schönheit als eine unerlässliche Stütze für die freien Verhältnisse im politischen wie im ethischen Sinn zu profilieren. Wie ist aber nun mit dem Verdacht der Utopie umzugehen, der Schillers Kon­ zept des „ästhetischen Staates“ anhaftet? Die philosophische Begründung der „schönen Kultur“ gelingt Schiller selbst nicht. Und so muss man, am Ende der Briefe angelangt, mit Bedauern feststellen, dass sich sein Projekt der „ästhetischen Kultur“ zur utopischen Vision des „ästhetischen Staates“ für „auserlesene Zirkel“ „feingestimmter Seelen“ transformiert hat.498 Vor diesem Hintergrund erscheint die Idee einer pragmatischen Rehabilitierung des „ästhetischen Scheins“ zunächst kontraintuitiv. Doch muss man die Dinge so sehen? Vor der Folie der Hegelschen Kant-Kritik, die hier in Verbindung mit der Frage nach Sozialität diskutiert wurde, muss Schillers „Schein“ als eine für den öffentlichen Raum konstitutive individuelle Leistung unbedingt verteidigt werden, so wie Kant, als er mit dem „Faktum 496  Vgl. Schillers Darstellung des „englischen Tanzes“ (Kallias oder Über die Schönheit, S. 425, Brief vom 23. Februar 1793). 497  Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, S. 13. 498 Siehe Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 27. Brief, S. 668: „Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden? Dem Bedürfniß nach existiert er in jeder feingestimmten Seele, der That nach möchte man ihn wohl nur […] in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden.“

C.  Ästhetisch zu vollziehende Befreiung

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der Vernunft“ zu einer neuen Bedeutung von Autonomie vorgedrungen war, die Autonomie nicht mehr deduzieren sondern nunmehr verteidigen konnte.499 Es käme also darauf an, die Eigenlogik500 des Scheins von den ihr potentiell an­ haftenden Aporien und Problemen zu entlasten und sie zu rehabilitieren. Denn es lässt sich leicht zeigen, dass der Umstand, dass der ästhetische Staat in den Briefen zur ästhetischen Erziehung letztlich scheitern muss, mit der ‚Logik‘ des Scheins selbst, wenn man so reden will, nichts zu tun hat. Der ästhetische Staat verwandelt sich erst dann zur exklusiven Utopie für „einige wenige auserlesene Zirkel“ „fein­ gestimmter Seelen“, wenn er sich in eine „reine Kirche“ oder eine „reine Republik“ verwandelt,501 in der die Sittengesetze nun als Staatsgesetze verwirklicht werden. Dies verstößt aber gerade gegen die Logik des Scheins. Die Gründe für das Schei­ tern des ästhetischen Staates sind also gerade darin zu sehen, dass es für ästheti­ schen Schein in einer „reinen Republik“ gerade keinen Raum geben kann und die Möglichkeit seiner Realisierung darin buchstäblich verdrängt wird. Was dies bedeutet, soll nur durch einen kurzen Verweis auf Fichtes System der Sittenlehre angedeutet werden: Dort findet sich die berühmte Aussage: „Kein Mensch in der Welt kann anders handeln, als er handelt, ob er gleich vielleicht schlecht handelt, da er einmal dieser Mensch ist; […]. Aber er sollte eben nicht dieser Mensch seyn, und könnte auch ein ganz anderer seyn; und es sollte überhaupt kein solcher Mensch in der Welt seyn.“502 Die Unduldsamkeit, die diesen Satz auszeichnet, spricht für sich und führt den Unterschied sowohl zu der ästhetischen ‚Versöhnungslogik‘ Schillers als auch der ethisch-sozialen Logik des frühen Hegel geradezu performativ vor Augen:503 Es ist die Fähigkeit zur Unbestimmtheit, die Wolff, Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist, S. 546. Vgl. in Bezug auf Plessner: Sandkaulen, Helmuth Plessner: Über die „Logik der Öf­ fentlichkeit“, S. 262. 501  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 27. Brief, S. 669. 502  Johann Gottlieb Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wis­ senschaftslehre [1798], in: Fichtes Werke, hrsg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. 4: Zur Rechts- und Sittenlehre 2, Berlin 1971, S. 1 – 365, hier: S. 228. Vittorio Hösle erkennt in diesem Passus ein Indiz dafür, dass Fichte zur Idee der Prädeterminiertheit und zur Leib­ nizschen Konzeption der prästabilierten Harmonie zurückkehrt (vgl. Vittorio Hösle, Inter­ subjektivität und Willensfreiheit in Fichtes „Sittenlehre“, in: Michael Kahlo/Ernst A. Wolff/ Rainer Zaczyk [Hrsg.], Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis. Die Deduktion der §§ 1 – 4 der Grundlage des Naturrechts und ihre Stellung in der Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1992, S. 29 – 52, hier insb. S. 48 ff.). 503  Der späte Hegel ist viel kategorischer, man denke nur an die Forderung der „Glättung der Besonderheit“ (GPR, S. 345) als Definiens des Bildungsprozesses, der die ‚Investition‘ des Einzelnen in Arbeits- und Bildungsprozesse bezeichnet, ohne die Grenzen dieses Pro­ zesses zu markieren. Zugleich ist Hegels Haltung zu diesem Prozess ambivalent: „Was der Mensch soll, das kann er, Fichte – solche leere allgemeine Worte. Was jeder soll, ist an je­ dem verschieden – Moralische Würdigung der Menschen – Beurteilung seiner und Anderer, seiner in Vergleichung mit Anderen, und Anderer in Vergleichung mit sich“ (GPR, § 124, N, S. 235; Herv. T. S.). 499 Vgl. 500 

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Fichte an dieser Stelle nicht gelten lässt. Letztere wäre aber gleichsam als eine Minimalbedingung nötig für die Bereitschaft, individuelle Besonderheit anzuer­ kennen. Solche Bereitschaft kann sich im Extremfall bis hin zum Umgang mit den „nicht Einsichtsfähigen“504 erstrecken, und zwar auch dann, wenn dies nicht sinn­ voll gefordert werden kann. Gerade hier scheint der ethische Sinn der Fähigkeit zur Unbestimmtheit zu lie­ gen, von der im Zuge der Erläuterungen von Hegels Willensbegriff aus der Ein­ leitung zu den Grundlinien seiner Rechtsphilosophie die Rede war. Die Reflexion über diese Fähigkeit zur Unbestimmtheit berührt aber, wenngleich auf eine andere Weise, auch Schillers Bemühungen um eine ästhetisch verfasste Unbestimmtheit. In ihr geht es um ästhetische Responsivität gegenüber anderen, die überall dort ihren Ausdruck hat, wo der Charakter der Nichtforderbarkeit von Verpflichtungen in Erscheinung tritt, wo, mit Kant gesprochen, die Logik der Forderung dem Ansinnen einer Erwiderung weicht und wo Menschen sich außerhalb eines Rechtfer­ tigungszwangs bewegen können. Besonders spannend und erhellend ist vor diesem Hintergrund Schillers Zuord­ nung von Modalitäten je nach Verwirklichungsmodus der Gesellschaft: Der „ethi­ sche Staat der Pflichten“, in dem die Normativität der Gerechtigkeit waltet, mache die Gesellschaft „notwendig“. Der „dynamische Staat der Rechte“, worunter mü­ helos die auf Konkurrenz und Interessendurchsetzung basierte liberale Marktge­ sellschaft samt den Anforderungen einer Leistungsgesellschaft verstanden werden kann, mache die Gesellschaft „möglich“. Doch es ist bezeichnenderweise nur der „ästhetische Staat des schönen Scheins“, der die Gesellschaft „wirklich“ macht.505 Damit verbunden ist aber die Gesellschaftsvision der im „ästhetischen Schein“ des zivilisierten Umgangs Gleichen: Bei Schiller findet sich der Gedanke, dass die Gleichheit, von der „der Schwärmer träumt“, nur dem Schein nach und nicht dem Wesen nach realisierbar sei: „Hier also, in dem Reiche des ästhetischen Scheins wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte.“506 Eine Gesellschaft, die im Schein wirklich ist, vermag im Spannungsfeld zwischen dem liberalen Individualitätsprinzip und dem demokratischen Gleichheitsprinzip die Balance zu halten.

504 Vgl. 505 Vgl.

T. S.).

506 

Menke, Das Nichtanerkennbare, S. 105. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 27. Brief, S. 667 (Herv.

Ebd., 27. Brief, S. 669.

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Personen- und Sachregister Personen- und Sachregister

Absolute, das, Absolutheit  57 – 58, 61 (Fn. 49), 71, 72, 85, 87, 89, 98, 299, 346 – absolute Idee  18, 64, 71 siehe auch Sittlichkeit – als Geist  345, 348 – 349 – als negatives Absolutes  89, 101, 342, 343 – 344 siehe auch Freiheit: absolute – als Sittlichkeit  83, 85, 99, 109, 154, 230 – als Vereinigung, Versöhnung  57 – 58, 85 – 87 Absolutismus  125 – 127 Abstraktion  74, 75, 95, 101, 257, 287, 307 – als Kritik des Rechts siehe Recht: formelles/formales (abstraktes) – als Leistung/Funktion des Rechts  258 – 264 Abwägung  186, 188, 210 Achtung siehe Kant: Achtung Adorno, Theodor W.  128, 140, 149, 151, 347 Affektation, Affektiertheit  87 – 88, 89 Aischylos  79 – 80, 88, 139, 140 Allgemeines und Besonderes siehe Beson­ deres und Allgemeines Allison, Henry E.  193 Alt, Peter-André  352 Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus (Hegel u.a.)  17 Altruismus  96 – 97, 130, 227, 336 siehe auch Supererogation Anarchie  51, 196 Anerkennung  23 – 24 (Fn.  55), 24 – 27, 35, 79 – 80, 85, 102, 103, 135, 141, 202, 252, 267, 269, 274 – 277, 288 – 289, 315, 322 – 323, 325, 330, 341 – 342



und Autorisierung  33 – 37, 324 – 325, 328, 330, 337 – 338 – und Liberalität  21 – 22 – rechtliche  92, 130 – 131, 141 – 142, 148 – 149, 221, 292 – 293 siehe auch Person Angehrn, Emil  27, 30 Angst  56 (Fn. 30), 89, 200, 339 Anschauung  70, 75, 77, 98, 103, 209, 210, 228, 345 Anthropologie  94 – 95, 137, 196 (Fn. 214), 309 (Fn. 323) – als Argument  93, 95, 168 – 169 Antigone  47, 148, 247 – 251, 252 – 253, 254, 262, 264, 266, 272 siehe auch Antigone (Sophokles) Antigone (Sophokles)  47, 139, 247, 252, 254, 262 – 263 siehe auch Antigone; Kreon Apollo  140 Arbeit  36, 109 – 110, 300, 301, 323 Arendt, Hannah  128, 232, 270 – 271 Aristoteles  38, 62, 67, 71, 84, 94, 95, 109, 118 Armut  180 – 181, 282, 283 (Fn. 201) Athene  79, 140 Aufklärung  12, 57, 150 – 153, 301 – 302 Aufopferung siehe Opfer Äußerlichkeit, äußerlich  73, 132 – 133, 158, 169 – 170, 172, 200, 212 – 213, 238, 284, 307, 345 Autonomie siehe auch Freiheit – auktoriale  164, 228 – 229, 234, 238, 240, 246, 260, 276, 278 – 279, 286 – vs. Autognosie der Vernunft  21, 161 – 163

Personen- und Sachregister und Autorität  34 – 37, 322 – 324 siehe auch Autorisierung – Begründung der  46, 143, 167, 236 – 247, 350 – 351 – als Faktum der Vernunft siehe Kant: Faktum der Vernunft – als Handlungsfreiheit  54, 164, 165, 249, 303, 317 – als Herauslösung des Einzelnen aus der Sittlichkeit  61 – 62, 63 – 66, 148, 230 – als negative Freiheit  63, 91 – 92, 119, 198, 310 – 311 – Paradox der  32 – 33, 34, 198 – 199, 320 – 328 – und Recht  144 – 145, 228 – 229, 232 – 234, 260, 284, 286 – als Selbstregierung  183, 237 – 242, 346 – 348 – als sittliche Moralität  231 – 232 – und soziale Praktiken  32 – 36, 330 – 334, 337 – 338, 344 Autorisierung  32 – 33, 34 – 37, 204, 324, 328, 337 – 338 Autorität  12, 36 – 37, 77, 282, 322 – 323, 329, 333 –

Becker, Thomas  53 Bedrohung  56 (Fn. 30) Bedürfnis  21, 106, 110, 132, 133 – 134, 168, 182, 223, 291, 300 – 301, 303 Befehl  114 – 115, 170 Befreiung  27 – 28, 49, 52 – 53, 108, 135 – 136, 164, 196 (Fn. 214), 227, 228 – 229, 262, 278 – 279, 284 – 285, 291, 312 – 313, 350 Begehren  164, 239, 240, 243 – 245, 247, 251, 253 – 254, 263 Begierde  170 – 171, 237, 291, 323 siehe auch Trieb; Neigung Begriff, der  17, 280, 288, 299 Benhabib, Seyla  41, 95 – 96 Besitz  55 – 56, 82, 83, 105 – 106, 107, 110, 141, 223 – 224 siehe auch Eigentum

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Besonderes und Allgemeines  27, 39, 63, 100 – 101, 135, 144, 147, 150, 152 – 153, 158, 170, 172 – 173, 189 – 190, 230, 238, 266, 283, 285 Bewusstsein  93, 95, 96 – 99, 101, 250, 251, 279, 309 (Fn. 323) siehe auch Selbstbewusstsein – moralisches  171, 184, 242, 244 – 245, 308 Bildung  123, 140, 149, 151, 197, 228, 293 – 294, 301, 305, 312 – 313, 334 (Fn. 421), 347, 355 (Fn. 503) – ungebildet sein  197 – 198, 294, 312 – 313 bios politikos  109 Bloch, Ernst  187, 217, 277, 320 Blumenbach, Johann Friedrich  39 Böckenförde, Ernst-Wolfgang  31 Bodin, Jean  40, 41 Böse, das  125, 244, 296, 308, 341 Bourgeois  16, 84, 105, 106 – 107, 115, 118 – 119, 136, 208, 338 siehe auch Bürger Brandom, Robert  34, 48, 320, 328 – 333, 336, 344, 346, 348, 349 Brockard, Hans  40 Buchner, Hartmut  40 Bürger – bürgerliche Haltung  22, 303, 338, 343 siehe auch Moral: bürgerliche – bürgerlicher Radikalismus  43, 207, 210 siehe auch Republik, Republika­ nismus – moderner  105 – 107, 136 – 137, 141, 224, 263, 267, 270, 301 – 302 siehe auch Bourgeois – der Polis  109 – 111, 253, 267 bürgerliche Gesellschaft  15, 27, 29, 36, 80 – 82, 103, 106 – 107, 125 – 127, 134, 270, 296, 300 – 301, 303, 304, 314 – 316 – Abhängigkeit  63, 81 – 82, 94, 112, 115 – 116, 118, 134 – 136, 227, 264, 266 – 268, 269 – 270, 275, 324 – 325 siehe auch System: der Realität

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Personen- und Sachregister

– Verhältnis zum Staat  15 – 16, 18, 30, 39, 77, 82, 84, 103, 106 – 107, 126 – 127, 298 – 299, 316 – 317 Butler, Judith  316 – 317 Cassirer, Ernst  136, 301 – 302 Castoriadis, Cornelius  37, 348 – 349 Chaos  69, 74 – 75 Charakter  89, 124, 272, 301 Chomsky, Noam  331 Christentum  12, 53 – 54, 148, 157 – 158, 216, 282, 283 (Fn. 201), 336 siehe auch Jesus; Heiligkeit, das Heilige Citoyen  107, 108 Claesges, Ulrich  159, 229 – 230, 231, 233 Constant, Benjamin  107 – 108 Deliberation  194 – 195, 198 – 199, 201, 213 siehe auch Abwägung Demokratie, Demokratisierung  115, 141, 310 (Fn. 328) Denken  17, 47, 91 – 92, 98, 101, 164, 177, 197, 238 – 239, 243, 244, 260, 285, 286, 299, 301 – 303, 340 – 341 Depositum siehe Hegels Kritik an Kant: Depositum-Beispiel Depression  200, 310 (Fn. 328), 311 Der Prozeß (Kafka)  186 Despotismus  39, 110, 114, 152 Dewey, John  306 Dialektik  56 (Fn. 30), 86, 127, 141, 248, 277, 339 Diderot, Denis  123 – 124 Differenzschrift (Hegel)  12 – 13, 57 – 58, 294 Dilthey, Wilhelm  148 Du Contrat social (Rousseau)  43, 136, 223 – 224, 236 – 237 Ebbinghaus, Julius  187 Eckermann, Johann Peter  248 Egoismus  106 – 107, 210 Ehe  77, 282 Ehrenberg, Alain  311

Eigentum  29, 55 – 56, 83, 106 – 107, 110, 141, 205 – 206, 222, 223 – 224 siehe auch Besitz; Hegels Kritik an Kant: Depositum-Beispiel Einheit, das Eine  27, 66, 74, 95, 173, 192, 340, 342 – 343 siehe auch Totalität – und Vielheit, das Viele  73, 155, 168, 342, 343 – 344, 346, 349 Einklagbarkeit  22, 106 – 107, 218, 226 – 227, 232 Einzelheit  41, 60, 95, 110, 115, 149, 169, 173, 191, 285, 287 – 288, 318, 341 Einzelne, der  64, 66, 96, 129, 131, 139, 147, 169, 249, 258, 261, 262 – 263, 264, 280 – 281, 325, 340 siehe auch Individuum Eitelkeit  122 – 123, 181, 182, 184 Émile (Rousseau)  137, 181 – 182 Empirismus  41, 46, 72 – 73, 74 – 76, 77, 97, 207 siehe auch Naturrecht: empi­ risches – und Formalismus/Rationalismus  97 (Fn. 215) Endlichkeit, das Endliche  87, 168, 202 – 203, 285, 339 Entfremdung  27, 37, 94, 105, 123, 133 – 134, 264 – 265, 270, 306, 309, 334 (Fn. 421) Entpolitisierung  13 – 17, 44 – 45, 106 – 107, 108, 125, 146, 300 – 301, 309 siehe auch „politische Nullität“ (He­ gel); Privatheit, das Private: Privatisie­ rung der Freiheit Entzweiung  12 – 16, 27, 50 – 51, 84, 85 – 86, 103, 107, 113, 120, 147, 148 – 155, 279, 283 – 285, 294, 296, 297, 298, 304, 309, 317 – 318 Erfahrung  13, 72, 73, 75, 97, 164, 196, 234, 249, 250, 255, 260 – 261, 310 – 311 Erinyen  79 – 80, 140 siehe auch Orestie (Aischylos) Erkennen, Erkenntnis  22, 63, 71, 73, 75, 161 – 163, 167, 245, 250, 323, 343 Erlaubnis, das Erlaubte  49, 176 – 178, 179, 184, 185 – 186, 209, 229, 286, 338

Personen- und Sachregister Erscheinung  98, 154, 290, 292, 315, 343 – 346 siehe auch Schein Ethik – Arten/Verfahren der  33, 40 – 41, 62, 69, 119, 175, 187 – 188, 282 – Aufgaben der  34, 40 – 41, 156, 160, 212 (Fn. 284) – und Metaphysik  71 – 72 Eudämonismus  190 Eumeniden (Aischylos)  79 – 80 siehe auch Erinyen; Orestie (Aischylos) Exklusion  332 Familie  77, 118, 134 – 135, 231, 247 – 248, 253, 262 – 263, 267 – 268, 269, 271, 275, 280, 282 siehe auch Geschwister Fichte, Johann Gottlieb  40, 41, 43, 44, 54, 57, 58, 62, 63, 66, 68, 78, 81, 83, 91, 129, 131 – 133, 138, 143, 144, 160, 164, 171, 207, 223, 230, 256, 277, 283, 288, 308, 347, 350, 355 – 356 Ford, John  88 Form  75, 81, 100 – 101, 112, 152 – 153, 154 – 155, 172, 178, 194 – 195, 225, 241 – 242, 254 (Fn. 93), 271, 272, 352, 353 – und Inhalt  59, 132, 141, 150, 153, 161, 169 – 170, 172 – 173, 187, 189 – 190, 351 Formalismus  20, 63 – 64, 77 – 78, 81, 169, 174, 187, 190 – Kritik (Grenzen) des Rechtsforma­ lismus  77 – 81, 88 – 89, 128 – 129, 132, 141 – 142, 144 – 145, 149 – 150, 152 – 153, 158, 336 – 337 Forst, Rainer  327 Foucault, Michel  316 – 317 Französische Revolution  14, 50, 58 – 59, 108, 117 (Fn. 310), 126 – 127 Freiheit  17, 73, 79, 103, 199, 236, 245 – 247, 280 – 281, 283 siehe auch Autonomie – absolute  39, 89, 95 siehe auch Tod; Opfer – abstrakte  26 – 28, 95

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– antike  109 – 111 – antike und moderne (der Alten und der Modernen)  45, 107, 111 – 114 – ästhetische  122, 124 – 125, 283, 310 – 311, 353 – bürgerliche  91, 136, 223 – 225, 236 – 237, 300 – 302 – expressive  315, 329 – und Gesetz/Norm  32 – 33, 62 – 63, 121, 129, 156 – 158, 159, 237 – 238, 282, 321, 329, 331 – Handlungsfreiheit  161, 163 – 164, 249, 285 – 286 – individuelle  56, 57, 137, 164, 290 – intellektuelle  301 – 302, 303, 305 – kommunikative  36 – liberale (als vorpolitische)  16, 65 – moderne  104, 107 – 108, 113, 146 – 147 – moralische  156 – 157, 161, 164 – und Natur  116 – 117, 343 – 350 – natürliche  26 – 27, 223 – 224 – negative  26 – 27, 92, 198, 287, 326 – politische  18, 30, 31, 38, 43, 48, 51 – 52, 84 – 85, 134 – 135, 299 – 301, 303, 306, 350 – rechtliche  23, 25 – 26, 213, 278, 291 – 293 – soziale  12, 21, 24 – 25, 83, 288 – 289, 316, 320, 325 – 328, 330 – 334 – subjektive  233, 249 (Fn. 67), 250 – 251, 284, 294 – 295, 306, 307 – 308, 339, 340 – Wahlfreiheit  78, 183 (Fn. 154), 192, 193, 196, 284, 292, 293 – Willkürfreiheit  142, 150, 190, 192, 193 – 194, 197, 284, 294 – zweite  343, 344 – 346, 347 – 350 Freispruch  80, 140 Furcht  55 – 56, 89, 219 Garve, Christian  181 Gefühl  182, 243 (Fn. 46), 311, 313

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Personen- und Sachregister

– moralisches  157, 194 siehe auch Kant: Achtung – Selbstgefühl  289, 309 Gehorsam  183 (Fn. 154), 282, 283 (Fn. 201), 302, 322 – 323 siehe auch Autorität Geist  103, 110, 123, 130, 255, 259, 269, 273, 277, 278, 280, 281 – 282, 283 (Fn. 201), 284, 285 – 286, 289, 291, 293, 301 – 302, 319, 320, 323 – 324, 327 – 328, 345, 347, 348 – 349 Geisteswissenschaften  304 – 305, 315 Gelübde (consilia evangelica)  282, 283 (Fn. 201) Gemeinschaft  33, 94, 95, 96 – 97, 99, 136, 158, 159, 184, 215, 258, 306, 326, 330, 332 – 333 – Idealgemeinschaft  326 – 328, 333 Gerechtigkeit  79 – 80, 86, 115, 121 – 122, 134, 135 – 136, 140, 143, 158, 159, 249, 255, 257 – 259, 261 – 262, 272 Gericht, Gerichtsverfahren  140 – „innerer Gerichtshof“ (Kant)  212, 219 Geschichte  101, 323 – 324, 347 – 348 – Bewusstseins- und Rechtsgeschichte  250 – 251 – Bildungsgeschichte (Herder)  151 – und Normativität  60 – 61, 72, 102, 318, 336 (Fn. 432) – Weltgeschichte  140 – 141, 282, 305 Geschmack  218, 352 – 353 Geschwister  267 – 268 Gesellschaft siehe auch bürgerliche Ge­ sellschaft – anthropologische Begründung der  70, 74, 93 – 96 – Ausdifferenzierung der  83 – 84, 86, 87, 125 – 126, 134 – 135, 280 – vs. Gemeinschaft  94, 136, 330, 332 – 333 – Gesellschaftsbildung  47, 134 – 137, 263, 266 – 271, 273, 274 – 277, 350, 352 – 353, 356

– Massengesellschaft  33, 82, 138, 270 – und Ökonomie  118, 126 – 127, 174 – vs. Polis  67, 108 – 109, 134 – 135, 227, 263 – 264, 273 Gesellschaftskritik  19, 20, 27 – 28, 33, 104 – 105, 149, 270, 309 – 312, 336 – 337 – Diagnose der beziehungslosen Bezie­ hungen  45, 105, 111 – 113, 132 – 134, 146 – 147, 270 siehe auch Entfremdung – als Ideologiekritik  42, 67 – 69, 76, 149 – 151, 208 – 209, 255 – 257, 303 – Kritik des Nützlichkeitsprinzips  43, 76, 204, 206 – 208, 210 – Vorwurf der Tautologie  46, 204 – 206, 208, 212 – 213, 215 – Vorwurf der Unsittlichkeit  163, 210 – Vorwurf der Verkehrung  19, 69, 124 – 125, 167, 180, 184, 212, 296, 334 siehe auch Ironie Gesetz  36, 37, 43, 59, 64 – 65, 67, 169 – 170, 186, 187, 188 – 189, 192, 214, 237, 247, 262, 323 siehe auch Autorität; Herrschaft – ästhetisches  353, 354 – juridisches  129 – 130, 159, 160, 238, 286 – 287, 292 – moralisches  97, 120, 156 – 158, 164, 175 (Fn. 117), 176 (Fn. 119), 177, 179, 203, 205 – 206, 239 – 242, 245, 321 siehe auch Kategorischer Imperativ – Naturgesetz  175 (Fn. 117), 176 (Fn. 119), 286 – Positivität des Gesetzes  12, 101 – 102, 107, 115, 159 (Fn. 49), 186, 292 Gesinnung  21, 114 – 115, 175, 182 – 183, 186 (Fn. 161), 207, 311 – 312, 352 Gewalt  41, 80, 88 – 89, 132, 140 – 141, 158, 190, 219, 249 – 250, 254, 282, 305 siehe auch Recht: und Gewalt Gewissen  160, 164 (Fn. 77), 181 – 182, 211, 219, 277, 307, 308, 309, 312 – 313, 328, 341 Gewohnheit  137, 196 (Fn. 214), 281, 301

Personen- und Sachregister Gibbon, Edward  104, 114 Gleichheit  55, 69, 126, 139, 164, 226 (Fn. 329), 260, 268, 356 – antike Form von/Ungleichheit  109 – 111 – formelle  76, 112, 128 – 129, 130, 141 – 142, 149, 255, 256, 257 – moderne vs. antike  112 – 113, 266 – 267 Glück  164, 171, 182, 230, 231, 233, 234 – und Befriedigung  335 Glückseligkeit  72, 117, 133, 184, 190, 230 Goethe, Johann Wolfgang von  21, 248, 287 Gott, Götter, das Göttliche  87, 94, 124 (Fn. 340), 249, 272, 273, 283 (Fn. 201), 303 Grotius, Hugo  216 Grundlage des Naturrechts (Fichte)  58 – 59, 129, 131 – 132, 160 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Kant)  156, 176 (Fn. 119), 179, 188 – 189, 240 – 241, 245 Grundlinien der Philosophie des Rechts (Hegel)  280 – 318 Gute, das  86, 122, 161, 162 – 163, 195, 210 – 211, 244, 258, 261, 272 – 273, 284, 307 – 308, 328 Habermas, Jürgen  25, 50, 141 Halbig, Christoph  184 Handeln, Handlung  35, 47, 109 – 110, 139, 140, 161, 163 – 165, 179, 181 – 182, 184 – 185, 193, 198, 200 – 201, 210 – 211, 239, 241 – 242, 244, 248 – 250, 251 – 252, 253, 262, 272, 274, 276 – 277, 285, 295, 312 – 313, 325, 327, 334, 355 siehe auch Tat Harmonie  73, 335, 355 (Fn. 502) Hegels Kritik an Kant  20 – 22, 34, 42 – 43, 45 – 47, 69, 96 – 97, 153 – 155, 160 – 193, 203 – 214, 214 – 222, 228 – 234, 237 – 238 – Absolutismus-Einwand  20, 129 – 130, 174

381



Depositum-Beispiel  205 – 206, 209, 224 – Formalismus-Einwand  20, 63, 64, 78, 80 – 81, 128 – 129, 132, 169, 174, 175, 187 – 189, 190 – moralische Richtigkeit und rechtliche Erlaubtheit  176 – 178, 179 – 180, 182, 186 – 187 – Sein und Sollen  60 (Fn. 46), 168, 202 – 203, 233 – 234, 281 – 282, 312 – 313, 317 (Fn. 356), 331 – Vorwurf der Inhaltsleere  165 (Fn. 82), 187 – 188, 189, 191, 193, 317 (Fn. 356) Heidegger, Martin  189 (Fn. 182), 190, 306 Heiligkeit, das Heilige  130, 248, 282, 336 Henrich, Dieter  53, 67, 101, 161, 162 – 163, 181 – 183, 340 – 341, 342 Herder, Johann Gottfried  149, 150 – 152 Herrschaft  12, 40, 53, 60, 76, 78, 108, 109, 110, 112, 135 siehe auch Autorität – und Knechtschaft  110 (Fn. 277), 322 – 323, 337 – unpersönliche/anonyme/äußere Herr­ schaft des Gesetzes  36 – 37, 41, 76, 77, 132, 189 Heteronomie  32 – 33, 198 – 200, 256 – 257, 278 – 279, 321 Heuchelei  125, 211 Hobbes, Thomas  40, 41, 42, 57, 68, 69, 71, 75, 95, 128, 265 Hölderlin, Friedrich  17, 56, 247 (Fn. 60), 249, 252 – 253 Honneth, Axel  24 – 27, 28, 35 – 36, 92, 138, 280, 289, 312 Hösle, Vittorio  62 (Fn. 55) Ich 

97, 124 (Fn. 344), 196 – 198, 202, 286, 287, 288, 307, 323, 325, 339 – empirisches vs. transzendentales (kon­ tingentes vs. notwendiges)  196, 197, 200 – 201 – intelligibles  244 Ideal  55 (Fn. 21), 238, 273, 324, 389

382

Personen- und Sachregister

Idealität  171, 223, 224 – 225, 345 Illouz, Eva  35 – 36 Indifferenz  61 (Fn. 49), 96 – 97, 111, 130, 345, 346, 348, 349, 350 Individualisierung  37, 53, 101 – 102, 131, 138, 144 – 145, 148, 262, 265 – 266, 271, 316 – 317 – als Bezug auf den Anderen  225, 258, 292 – 293 Individualität  20, 54 – 56, 70, 86, 102, 124, 135, 138 – 139, 164, 184 – 185, 231, 248 – 250, 267 – 268, 269, 277, 290, 293, 295, 301, 318 – 319 – als individuelles Sosein  124, 267 – als transformative Kraft  47, 143, 148, 248 – 252, 265 – 266, 281, 285 siehe auch Antigone – als Verkörperung  86 – 87, 273 Individuum siehe auch Einzelne, der – und Person  26, 121, 130 – 131, 139, 140, 150, 184 – 185, 253 – 254, 257 – 258, 261, 274 – postmodernes  124, 133 – 134 – als Prinzip  18 (Fn. 39), 33, 60, 148 siehe auch Selbstverwirklichung – Psychogramm des Individuums  118 – 119, 120, 123, 124 Innerlichkeit, innerlich  18, 20, 132 – 133, 184, 276, 281, 284, 297, 312 – 313 Institution  34 (Fn. 106), 77, 96, 107, 120, 140, 169, 209 – 210, 224, 303, 309, 312 – 318, 336 Integration  39 – 40, 86, 103, 108, 258 Interesse  13 – 14, 15, 29, 30, 51, 57 (Fn. 31), 73, 76 – 77, 106 – 107, 116, 160, 182, 184 – 185, 193, 215, 285, 300, 312 (Fn. 339), 315, 356 Introspektion  97, 339, 345 Ironie, ironisch  122, 124 – 125, 152, 266, 283, 308, 309 Ironiker, der  122 Jacobi, Friedrich Heinrich  63 (Fn. 62), 183, 274 – 275 Jaeggi, Rahel  42, 105

Jaeschke, Walter  23, 86, 250 – 251, 256 – 257, 259, 260, 278 – 279, 318 Jesus  53, 336 Juvenal  242 – 243 Kafka, Franz  186 Kant, Immanuel siehe auch Hegels Kritik an Kant; Kategorischer Imperativ; Maxime – Achtung  157, 188 – 189, 201 – 202, 219, 243 (Fn. 46) – Apperzeption  244 – Autonomie  32 (Fn. 93, 94), 47, 62, 161, 162, 163, 164, 175 (Fn. 117), 176 (Fn.  119), 182 – 183, 198 – 199, 202, 236 – 237, 238 – 242, 243 (Fn. 46), 244, 245, 320 – 321, 324, 326 – 327 siehe auch Kant: Freiheit; Faktum der Ver­ nunft; Urheber-Prinzip – Bourgeois vs. Citoyen  107 – Erkennen vs. Urteilen vs. Handeln  161 – 163, 167, 249 – 251, 277, 328 – Faktum der Vernunft  47, 234, 238 – 247, 286 – Freiheit  21, 23, 32, 43, 47, 62, 121, 155 – 160, 161, 163 – 164, 188, 193 – 194, 199, 236 – 237, 238, 242, 245, 246, 260, 301 – 302, 320 – 321, 328 siehe auch Kant: Autonomie – Galgen-Beispiel  181 (Fn. 144) – Glück  182 – höchstes Gut  182 – Kausalität der Vernunft  156, 243 – 244, 320 – 321, 345 – 346, 351 – Menschheit  175 (Fn. 117), 176 (Fn. 119), 186 (Fn. 161), 201 – 202 – moralische Handlung  156 – 157, 162, 164, 175 – 177, 179, 181, 186 (Fn. 161), 193 – 194 – Öffentlichkeit, Begriff der  301 – 302 – Pflichten gegen sich selbst  219 – 220 – Rechtsbegriff  121, 159, 160 – Triebfeder  157, 193 – 194, 230 – 231, 243 (Fn. 46)

Personen- und Sachregister – Tugendpflichten vs. Rechtspflichten  159, 177, 214 – 215, 216, 219 siehe auch Moral: Legalismus des Moralbegriffs bei Kant – Urheber-Prinzip  32 (Fn. 93), 47, 156, 198 – 199, 239 – 241, 321 Kategorischer Imperativ  156, 158, 162, 163, 170, 175 – 177, 179, 185 – 186, 207, 208, 234, 239 – 240, 241, 245 – 246 – Formeln des Kategorischen Imperativs  175 (Fn. 117), 176 (Fn. 119, 120) – Inkorporationsprinzip  193 – 197, 199, 200 – Normenprüfung, Verfahren der  42 – 43, 45, 46, 156, 160 – 161, 173, 175 – 178, 180 – 181, 186 – 187, 191, 196 – 197, 204 – 206, 210 – 211 – „reflective endorsement“ (Korsgaard)  194, 204 – Selbstgesetzgebung  156, 194, 198, 240 – 241, 320 – 321 – Widerspruchsfreiheit  178, 187, 189, 205, 210, 240 Klage siehe Einklagbarkeit Komödie  87 – 90, 338 – 339 Kommunitarismus  33, 62 Kompensation, kompensatorisch  303, 304 – 305, 352 Konflikt, konfligieren  76, 80 – 81, 86, 89, 132, 148 – 149, 171, 201, 247 – 248, 250, 252, 253 – 254, 279, 290, 335 Kontraktualismus  30, 76, 77, 100, 137, 204, 215, 225, 236, 269 siehe auch Vertrag Korsgaard, Christine  192 – 193, 194 – 195, 196 – 197, 198, 200 – 201, 213, 348 Koselleck, Reinhart  125 – 127 Kosmopolitismus  103 Krankheit  40, 309, 310 – 311 (Fn. 328), 311 siehe auch Pathologie; Verrückt­ heit Kreon  47, 247 – 248, 249, 252 – 253, 264 siehe auch Antigone (Sophokles) Krieg  81, 128, 180, 216

383

Krise  13, 50, 69, 105, 107, 128, 133 – 134, 135, 143 Kritik – der funktionalistischen Argumente  77, 83, 106, 163 – immanente  41 – 42, 68 – 69, 203 – 204 – vs. Kritizismus  41, 78 siehe auch Formalismus – Vernunftkritik  63 (Fn. 62), 69, 189 – 190, 191, 342 – 343, 351 Kritik der praktischen Vernunft (Kant)  20, 121, 186, 239 – 240 siehe auch Kant: Faktum der Vernunft; Gal­ gen-Beispiel; Kategorischer Imperativ; Hegels Kritik an Kant: Depositum-Bei­ spiel Kritik der reinen Vernunft (Kant)  57 (Fn. 31), 73 siehe auch Kant: Kausalität der Vernunft; Vernunft: Interesse der La Mettrie, Julien Offray de  124 Landständeschrift (Hegel)  16, 116, 118 – 119 Leben  56, 158, 240, 247 (Fn. 60), 262, 288, 340 – 341 – gemeinschaftliches, allgemeines, poli­ tisches  38 – 40, 52, 59, 109, 253 – Lebendigkeit  53, 54 (Fn. 16), 55 (Fn. 18), 57, 64, 67, 98, 100 – 101, 270, 276, 290, 294 – 295, 307 siehe auch Plastizität – Lebensformen  103, 108, 128, 146, 169, 310 – 311, 334, 335, 350 – Lebensstandard  26, 84 (Fn. 162), 110 – Nichtlebendigkeit  88, 63 (Fn. 61) – als Praxis, sittliches  66 – 67, 72, 90, 102 – Recht auf  117, 222 – selbstregiertes  167, 194, 198 – 200, 240 Legalismus  22, 45 – 46, 141, 144, 214, 229, 233, 236, 237 – 238 Legalität  59, 78, 129, 132 – 133, 155, 156 – 157, 159, 160, 171, 178, 228, 229, 230, 232 – 233, 352

384

Personen- und Sachregister

Legitimierung  41, 46, 58 – 59, 70, 74, 95, 141, 159, 181, 186 – 187, 190, 204, 212, 224, 253, 265, 303, 338 Legitimität  35, 42, 52 – 53, 79, 80, 209, 216, 220, 226 – 227, 233, 251 – 252, 262, 301 – 302, 323 – des Zwangs, des Erzwingbaren  159, 214 – 215 Legitimitätskriterien – rationale Zustimmung  36, 42 – 43, 144, 159 – Reziprozität, Gegenseitigkeit, Wech­ selseitigkeit  34 – 35, 37, 43, 322 – 323, 325, 326 siehe auch Republik, Re­ publikanismus; Bürger: bürgerlicher Radikalismus Liberalismus  36, 226 (Fn. 329), 306 (Fn. 306), 324 – 325, 335 – Hegels Kritik des  36 – 38, 226 – 227 Liebe  35, 52, 54 – 56, 130, 215, 216, 218, 253, 275, 288, 336 – Selbstliebe  190 Locke, John  40, 75 Los  207 Lübbe, Hermann  138 Lübbe-Wolff, Gertrude  14 – 15, 30 – 31, 116 – 117, 127, 216, 256, 282, 312 – 313 Lukács, Georg  148, 306 Macht  12, 36, 116, 158, 248, 249 – 250, 272, 282, 344 – anonyme  36, 37 siehe auch Entfrem­ dung – Ermächtigung  16, 19, 28 – 29, 30 (Fn. 84), 34, 142, 150, 190, 222, 309, 310, 311, 323 siehe auch Ohnmacht, Entmächtigung; Subjekt: Macht und Ohnmacht des Subjekts – ökonomische  82 – des Staates  15, 57 – 58 – des Subjekts  219, 222, 323 – des Zufalls und der Willkür  142, 144, 150, 151 Makropolous, Michael  311

Malabou, Catherine  271 Markt  36, 37, 81, 356 Marquard, Odo  60 (Fn. 46), 304 – 305 Marshall, Thomas H.   26, 28 Marx, Karl  27, 36, 42, 68, 118, 135, 136 – 137, 149, 174, 316 Maxime  43, 156, 177, 178, 179 – 181, 186 (Fn.  161), 187 – 189, 191 – 195, 206 – 207, 208, 241, 329 Mechanismus, mechanisch  17 (Fn. 31), 76, 151, 186, 302 Menke, Christoph  23, 28 – 30, 61 – 62, 80 – 81, 86, 93, 98, 141, 164, 222, 226 (Fn.  329), 249, 255 – 256, 257 – 258, 260 – 262, 267, 272, 278, 317, 347 – 348 Mensch siehe auch Endlichkeit, das Endli­ che; Anthropologie – Bedürfnis-, Interessen-, Triebnatur des Menschen  108, 197 – 198, 300, 316 (Fn. 351) – Befreiung des Menschen  49, 54, 74 – 75, 84, 231, 237, 273, 279, 286 – 287, 289, 294, 347 – 348, 349, 352, 355 – und Bürger  136 – 137 – Gewalt, Zwang, Depravation  140, 270 – Gleichheit der Menschen  107 – als Legitimationsfigur in den Natur­ rechtslehren  41, 70 – Natur des Menschen, conditio humana  94 – 96, 177 (Fn. 125), 183 (Fn. 154), 196 (Fn. 214), 237, 274 – 275, 278, 291, 341 – Objektivationen des Menschen  281, 286 – Rationalität, Deliberation, Selbstver­ hältnis  201, 219, 302 – und Tier  197 (Fn. 215) – Würde des Menschen  186 (Fn. 161), 189, 244 Menschenrechte  14, 103, 117, 155 (Fn. 31), 232, 301 – 302 siehe auch Recht: Grundrechte

Personen- und Sachregister Metaphysik  71, 75, 237 Metaphysik der Sitten (Kant)  20, 43, 58, 59, 155 – 156, 159, 176 – 177, 188, 241 siehe auch Kant: Tugendpflichten vs. Rechtspflichten – Vorlesungen über  199 Möglichkeit  30, 73, 95, 159, 171, 176, 180, 198 – 199, 210, 225, 287, 338, 340 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de  60 Moral siehe auch Negativität – bürgerliche  20 – 21, 69, 119, 128, 230 – 231, 232 – Legalismus des Moralbegriffs bei Kant  22, 177 – 178, 206, 214 – moralischer Standpunkt  91, 97 – 98, 119, 120, 184 – Trennung von Recht und Moral/von Moralität und Legalität  58 – 59, 60, 64, 153 – 160, 297 – Verhältnis von Recht und Moral  21, 99, 120 – 121, 154 – 160, 168 – 169, 170 – 171, 226 – 227, 228 – 234 Moralität  53 – 54, 119, 164 – 165, 181 – 183, 212 – 213, 226 – 228, 294 – 296, 306 – 308, 309 – und Legalität siehe Moral: Verhältnis Recht und Moral – als Responsivität  226 – 227, 258 – sittliche vs. rechtsförmige/formelle  96 – 98 – und Sittlichkeit  34, 60, 92, 93, 154, 229, 230, 295 – 296 Motivation  53, 120, 156 – 157, 181 – 182, 182 (Fn. 145, 147), 184, 312, 329 – 330, 333 siehe auch Kant: Triebfeder Mut siehe Tapferkeit Nagel, Ivan  338 Narzissmus  184, 309, 310 Nationalrepräsentation (Volksvertretung)  116 Natur  55 (Fn. 21), 168, 171, 197, 217, 279, 343, 346 – 347, 350

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– erste  236, 347 – und Geist  278, 336 (Fn. 432), 345, 349 – zweite  137, 280 – 282, 299, 306, 315, 319, 345, 347, 349 – 350 Naturalisierung  255 – 256 Naturalismus  39 (Fn. 127), 94, 331 Naturrecht  65, 66, 67, 69, 71, 91, 117, 127, 256 – 257 siehe auch Naturzustand (status naturalis); Naturrechtsaufsatz (Hegel) – empirisches  72 – 73, 74 – 77 – rationales, rein-formelles  72 – 73, 257, 260, 277 Naturrechtsaufsatz (Hegel)  16 – 23, 38 – 44, 50 – 51, 58 – 142, 143 – 144, 152 – 153, 220 – 221, 229, 232, 259 – 261, 296 – 298, 299, 317 – 318, 337 – 338, 339 Naturzustand (status naturalis)  41, 69, 74, 265 Negativität  119, 288, 319 Neigung  35, 74, 96, 121, 130, 168, 170 – 171, 181, 182, 188 – 189, 193, 196, 213, 244, 291, 323 Nihilismus  63, 63 – 64 (Fn. 62) Nivellierung  19, 84, 108, 114 – 115, 126, 129, 265 – 266, 270 – 271, 301, 311 Normalisierung  149, 270, 271 Normalität  34, 281 – 282, 290 Normativität, normative Geltung  34 – 37, 42, 60 – 61, 69, 72, 80, 92, 133, 240, 245, 259, 327, 328, 329 – 330, 336 (Fn. 432), 356 – Antinormativität, antinormativ  62 (Fn. 55), 198 Nötigung  177 – 178, 185, 186, 199, 214 Notwendigkeit  22, 102, 110, 154, 156, 177 – 178, 187, 207, 210, 255, 273, 275, 294, 301, 339, 342, 343 – 344, 349, 356 siehe auch Normativität, normative Geltung – vs. Zufälligkeit  74 – 75, 121, 168 – 169, 170 – 171, 173, 192, 201, 203, 207

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Personen- und Sachregister

Öffentlichkeit, das Öffentliche  50, 53 – 54, 107, 109, 114 – 115, 116, 118, 125 – 126, 137 – 138, 229, 230, 231, 232 – 233, 263, 267, 269, 270 – 271, 272 – 273, 275, 276, 277, 299 – 300, 301 – 302, 316 siehe auch Privatheit, das Private – und Geheimnis  126 – öffentliche Gerechtigkeit  258, 261 – öffentliche Meinung  214, 305 – 306 – öffentlicher Raum  352 – 356 – Orte  125 – 126 Ohnmacht, Entmächtigung  13, 16 – 17, 19, 22, 105, 182, 189 – 190, 308 – 309 oíkos  110, 118, 134 – 135 Opfer  95, 109, 115, 197, 299, 313 Orakel  207 Ordnung  61, 64, 73, 122, 237 – 238, 301, 343, 344, 348 – Begründung vs. Transformation  70 – (post)moderne  133 – 134 – Transformation einer (normativen)  79 – 80, 88 – 89, 125, 139 – 140, 143, 248 – 249, 251, 257 – 259, 278 – 279, 285 Orest  79, 140 siehe auch Orestie (Ais­ chylos) Orestie (Aischylos)  79 – 80, 139, 140 Organische, das, Organizismus  39 – 40, 151 – Bildungstrieb (nisus formativus)  39 Ottmann, Henning  103, 334 Pathologie  27, 200, 295 – 296, 297, 311 Pathos  247 – 248, 272, 326 Perfektibilität, Perfektionismus  87 (Fn. 179), 121 – 122, 181, 196, 352 siehe auch Selbstoptimierung Perikles  273 Person  26, 175 (Fn. 117), 185, 202, 221, 251, 255 – 258, 261, 264 – 265 – vs. Individuum vs. Subjekt  121, 130 – 131, 142, 188 – 189, 198, 250, 274, 306 – 307, 318, 340 – Privatperson  69, 136, 140, 299



Rechtsperson  80 – 81, 130 – 131, 139, 140, 141 – 142, 149 – 150, 256, 341 Persönlichkeit  121, 140, 219, 249 (Fn. 67), 266, 273, 280 – 281, 285, 306 – 307 Pflicht  115, 157, 164, 168, 177, 187, 190, 192, 199, 302, 356 siehe auch Verpflichtung – Erfüllung der  168 – 169, 170 – 171, 180, 182, 211, 313 – moralische  168 – 169 – moralische vs. rechtliche (Tugend­ pflichten vs. Rechtspflichten)  206, 219 – 221 – und Neigung  96, 181, 188 – 189, 196 (Fn. 214), 210, 211 (Fn. 281), 291, 352 – Recht und  157, 204, 275, 299 – Rechtspflicht  159, 177 – vollkommene vs. unvollkommene (erzwingbare vs. nicht erzwingbare)  214, 216 – 218 Phänomenologie des Geistes (Hegel)  47, 52 (Fn. 6), 89 – 90, 123, 130, 139, 143, 144, 149 – 150, 171, 183 (Fn. 153), 184, 207, 210 (Fn. 276), 211, 246 – 265, 266, 267 – 268, 277, 283, 317, 322, 341 Phidias  273 Philosophie – Aufgabe der  12 – 13, 52, 60 – 61, 64, 71, 72, 109, 147, 246, 340 – „Bedürfnis der Philosophie“ (Hegel)  12, 50, 57 Pinkard, Terry  32, 48, 320 – 328, 330, 335, 336, 337 Pippin, Robert B.  32, 35, 88 – 89, 135 – 136, 198 – 202, 320, 335 Plastizität  124 (Fn. 344), 210, 271 – 273, 274, 276 – 277, 288 – 289, 293 – 294, 302 – 303, 313 – 314, 315 siehe auch Skulptur Platon  59, 84, 104, 109, 115, 121, 238, 266, 273, 285 Plessner, Helmuth  94, 218, 274, 289, 306, 332, 353, 354

Personen- und Sachregister Polis  38, 79 – 80, 84, 105, 108, 109 – 111, 133, 134 – 135, 139, 140 (Fn. 397), 227, 249, 258, 265 – 266, 281 politein  109 – 110, 111 Politik  28, 30, 39 (Fn. 123), 50, 72, 86, 102, 108, 226 (Fn. 329), 253, 312 (Fn. 339) politische Kultur  19, 45, 58, 121, 128, 138, 149, 164, 235, 260 – 261, 262, 304, 309 siehe auch Sittlichkeit; Freiheit: politische „politische Nullität“ (Hegel)  16, 49, 84, 86, 107, 116, 146, 301, 338 politische Ökonomie  81 – 82, 106, 118, 141 siehe auch Staat: und Ökonomie Polyneikes  249 siehe auch Antigone (Sophokles) Positivität  27, 55 (Fn. 21), 94, 100, 234, 270 Potenz, Potenzenlehre  61 (Fn. 49), 348 Praxis  60, 72, 109, 113, 205, 209, 297 – und poiesis  101 siehe auch Arbeit; Handeln, Handlung – Rechtspraxis  21, 22, 329 – soziale  26, 34 – 36, 130, 144, 331 – 334 Privatheit, das Private  15, 16, 26, 84, 107, 118, 126, 138, 263, 267, 270 – 271, 273, 299 – 300 – privat und öffentlich  13, 16, 53, 136 – 137, 149, 230, 263 – 265, 267, 270 – 271, 301, 354 – Privatisierung der Freiheit  13 – 16, 51, 104 – 107, 146, 256, 315 – 316 siehe auch Entpolitisierung – Privatleben  84, 106, 107 – 108, 114, 118 – 119, 146 Produkt, Produktion, Produzieren  13, 110, 118, 174, 278, 281, 291, 351, 354 Proletariat, der Proletarier  39, 136 Rache  80 Rameaus Neffe (Diderot)  123 – 124, 212, 334 Rancière, Jacques  39 (Fn. 123), 49

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Rationalismus  71 – 72, 73, 97, 144, 187, 189 Rationalität – instrumentelle  201 – Kritik der  149, 150 – 151, 192, 201 – rationale Wahl  193, 195 – rationale Zustimmung  42 – 43, 132, 159, 185 – 186, 246, 327 – rationales Versagen („rational failure“)  199 – 200, 333 – Rationalisierung  336 (Fn. 432) Recht siehe auch Rechte – bürgerliches  28 – 29, 30 (Fn. 84), 83, 99 – 100, 115 – 116, 212 siehe auch bür­ gerliche Gesellschaft; Recht: Privat­ recht – formelles/formales (abstraktes)  60, 82 – 83, 120, 128 – 132, 139, 140, 141 – 142, 144, 150, 224, 257, 265 – Genese/Genealogie des Rechts  23, 24, 47, 247, 264 – 265 – und Geschichte  101 – 102, 250 – 252 – und Gewalt  41, 88 – 89, 132, 158 – 159 – Grenzen des Rechts  59, 79 – 81, 88 – 89 siehe auch Verbrechen, Verbre­ cher; Strafe – Grundrechte  26, 30 – 31, 84, 116 – 117 siehe auch Menschenrechte – Idee des Rechts  17, 18 – 19 – nachsittliches  254 – 263 – Naturalisierung des Rechts  255 – 256 – öffentliches  107 – und Ökonomie  82 – 83, 103, 105 – 106, 118 – und Pflicht  21, 216 – 217, 220 – 221 – Positivität des Rechts  100 – 101, 149, 159, 160, 270 – Privatrecht  27, 30, 51, 106, 116, 284 – 285 siehe auch Recht: bürgerli­ ches – und rationaler Konsens  132, 159 – Rechtsgeschichte  101 – 102, 250 – 251, 278

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Personen- und Sachregister

– responsives/reflexives  29, 221, 224, 225, 226 – 227, 233 – 234, 261, 265, 313 – 314 – römisches  128, 145, 146 siehe auch Rom – und Staat  14 – 15, 28, 30 – 31, 39, 51, 77, 106 – 107, 117, 256, 280 – Strafrecht  75, 157 – 158 – Verlust von Treu und Glauben  129 – 132 – Vertragsrecht, vertragsrechtlich  76, 77, 206 – 207, 225 – Völkerrecht  100, 103, 216 – Zweck/Funktion des Rechts  25 – 30, 115 – 116, 171 Rechte – Anspruch  28, 293 – Berechtigung/Ermächtigung  28 – 29, 150, 222, 292 – 293 – natürliche  16, 27 (Fn. 68), 65 – subjektive  18, 22, 30, 34, 37, 101 – 102, 107 – 108, 116 – 117, 142, 144, 150, 222 – 223, 226, 231, 276, 316, 322 – wohlerworbene ( jura singulorum)  13 – 14, 127 Rechtfertigung  211, 246, 253, 275, 277, 327, 341, 349 – 350 Rechtsbruch siehe Verbrechen, Verbrecher Rechtschaffenheit  54, 188, 313, 335 – 336 Rechtszustand  69, 74 – 75, 120, 130, 255, 265 Reckwitz, Andreas  133 – 134 Reflexion  63, 78, 100, 125, 151, 189, 196 – 197, 210, 212, 288, 293, 313 Religion  52 – 55, 340 – 341 – Kritik der  53 (Fn. 9), 148 – positive  12, 53 Repräsentation  116, 126, 135 Republik, Republikanismus  43, 355 siehe auch Bürger: bürgerlicher Radi­ kalismus Responsivität  202, 204, 214, 225, 258, 261, 356

Revolution, revolutionieren  67 – 68, 75, 229, 237 siehe auch Französische Revolution – Revolutionierung des Empfindungs­ vermögens  54 (Fn. 16), 352 – 353 Ritter, Joachim  27, 84, 304, 305, 320 Rivarol, Antoine de  126 – 127 Rohs, Peter  200 Rom siehe auch Recht: römisches Recht – römische Kaiserzeit  114 – römische Kultur  151 – Römisches Reich  60, 69, 110 – 111, 112 – 113, 128, 140, 189 (Fn. 182) Rosenzweig, Franz  227 – 228 Rousseau, Jean-Jacques  40, 41, 43, 57, 65, 68, 75, 95, 124 (Fn. 339), 135 – 136, 137, 141, 169, 181 – 182, 207, 223 – 224, 236 – 237, 265, 282, 283, 324, 353 „Rousseau’s paradox“ (Pippin)  135 – 136, 136 (Fn. 386) Sade, Marquis de  181 Sandkaulen, Birgit  274 Sanktion  96, 131, 156 – 157, 159, 160, 238 Scham  55 Schein  63, 101, 299, 334 (Fn. 421), 346, 350 siehe auch Schiller: ästhetischer Schein Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  17 – 18, 50, 66, 348 – Construktion  17 – 18 – Potenzen  61 (Fn. 49) Schicksal  86, 103, 151, 158 Schiller, Friedrich  48 – 49, 54, 137, 168, 170, 172, 196, 219, 228, 350 – 356 – ästhetische Erziehung  54 (Fn. 16), 137, 198 (Fn. 26), 351 – 352 – ästhetischer Schein  48 – 49, 350 – 356 – ästhetischer Staat  49, 353, 354, 355, 356 – politische Ästhetik  48 – 49, 352 – 353 – Vernunftstaat  350, 352 – 353 Schlegel, Friedrich  124, 283, 308

Personen- und Sachregister Schmitz, Hermann  119 Schnädelbach, Herbert  41, 94, 107, 118, 206, 208 Schneewind, Jerome  62 (Fn. 56), 124, 236, 237 Schönheit, das Schöne  48 – 49, 103, 238, 273, 303, 350 – 351, 352, 353, 354, 356 Schuld  139, 140, 150, 250, 251, 336 (Fn. 434) Schulden, Verschuldung  126 – 127 Schulte, Michael  69, 79 Seele  93, 118, 196 (Fn. 214), 272, 309 (Fn. 323), 353 – „schöne Seele“  337 (Fn. 434), 354 – 355 Selbst  139, 196, 264 – 265, 267, 269, 276 Selbstbewusstsein  240, 250, 256, 279, 284, 292, 322, 337 – 338, 340, 341 siehe auch Herrschaft: und Knechtschaft Selbsterhaltung  77, 95 Selbstoptimierung  196 siehe auch Per­ fektibilität, Perfektionismus Selbstreflexion  29, 42, 53, 112, 164 Selbstverwirklichung  35, 49, 86, 120, 235, 249, 310, 331 Sicherheit, Sicherung  29, 30, 77, 107, 116 – 117, 159 (Fn. 49), 165, 170, 209, 224, 352 siehe auch Unsicherheit Siep, Ludwig  40, 122, 185 Sinclair, Isaac von  56 Sinnlichkeit  168, 170, 172, 350 – 351, 352, 211 (Fn. 281), 244, 291, 308, 337, 346, 347, 350 – 351, 352, 354 siehe auch Neigung Sittlichkeit – absolute  78 – 79, 83, 85 – 86, 90 – 91, 99, 103, 115, 153 – 154, 230 siehe auch Sittlichkeit: Vorrang der; Tragödie: im Sittlichen – antike/der Polis  38 – 39, 45, 109 – 110, 112, 118, 227, 263 – 264 – „Aufhebung der Moralität in Sittlich­ keit“ (Hegel)  304, 306 – 318 – Begriff der  59 – 66, 99, 281 – 282

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– Krise der modernen und antiken For­ men der  133, 134 – als methodologisches Konzept  64 – 66, 80, 91 – moderne (relative)  45, 83, 87, 88, 92, 93, 103, 106, 107, 146 – 147, 152, 153 – 155, 296 – 299, 303 – 306, 319, 335, 345 – vs. Moral/Moralität  59 – 60, 90 – 93, 119 – 120, 154, 196, 229, 295 – 296, 304, 309, 314, 315 – als Organisation (Selbstorganisation) des Ganzen  38 – 40, 72, 81, 109 siehe auch Organisches, Organizismus – Sphären der  81 – 83, 280 – als Vereinigung mit dem Volk  38, 86 – 87, 93, 109 – vorinstitutionelle (vordeontologische)  21, 96, 231 – 232 – Vorrang der  90, 93 – 99, 282 Sklaverei  110 – 111, 112, 114, 224, 237 Skulptur  272, 273 Smith, Adam  335 Sokrates  148, 266 Solidarität  21, 25, 56, 138 Sollen, das  60, 62 (Fn. 55, 56), 120, 121, 155, 157 – 158, 220, 226 – 227, 295, 307, 312 – 313, 317 (Fn. 356) siehe auch He­ gels Kritik an Kant: Sein und Sollen Sophokles  47, 247, 273 Sozialität  20, 23 – 24, 94, 129 – 130, 137 – 138, 340, 341 – gelingende Formen von  131 – 133, 209, 217 – 218, 272 – 273, 274 – 277, 288 – 289, 292 – 293, 340 – 341 – Krise des Sozialen  105, 133, 134, 315, 339 – soziale Rollen  83 – 84 – soziale Verpflichtung  130, 202, 215 Sozialontologie  262 Spiel  122, 353 Spielraum  198 – 199 Spinoza, Baruch de  78, 104

390

Personen- und Sachregister

Staat  13 – 14, 17 (Fn.  31), 26 – 27, 30 – 31, 51, 74, 77, 81, 116, 126 – 127, 248, 278, 280, 282, 298 – 302, 315 – 317, 352 – 353, 354 – 356 – Gedankenstaat  14 – 15 – und Individuum  39, 77, 237, 256, 264, 291 – 292, 316 – 317 siehe auch Schiller: ästhetischer Staat – Not- und Verstandesstaat  15, 315 – 316 – und Ökonomie  81 – 82, 106 – 107, 126 siehe auch bürgerliche Gesellschaft – Sozialstaat/Wohlfahrtsstaat  28, 316 – Zweck/politische Funktion des Staates  15 (Fn. 25), 18, 30 – 31, 82, 117, 316 Stand, Ständelehre  83, 109, 111 – 114, 135, 227 – 228, 263 – 264, 266 Strafe  79 – 80, 157 – 158, 293 Subjekt siehe auch Subjektivität – Fallibilität/„rational failure“ 199 – 200, 340, 341 – Genese  234, 247 – 252 – handelndes  150, 157, 184 – 185, 238, 285, 294 – 295, 325 – Identität  196, 198, 201 – Inkorporationsthese  193 – 195 – Lebensplan  200, 335 – Macht und Ohnmacht des Subjekts  16, 22, 28 – 29, 182 – 183, 190, 222, 229, 231, 303 – 304, 311 – 312, 313, 338 siehe auch Eitelkeit – und Objekt  13, 17, 287 – und Person  188 – 189, 202, 219 – 220, 250 – 251, 255, 257, 274 – 275, 306 – 307, 340 – und Recht  18, 46, 131, 144, 149 – 150, 213, 230 – 232, 276, 342 – und Religion/religiöse Praxis  52 – 55, 340 – Scheitern  199 – 200 – Selbstbestimmung  123, 289 – 290, 327 – Selbstgesetzgebung, Selbstverpflich­ tung  32, 157, 160, 164, 165, 194,

198 – 199, 219 – 220, 221, 240 – 241 (Fn.  25), 241 – 242, 327, 329 – 330 – und Sprache  123, 331, 334 – Subjektivierung  28, 269 – Subjektkonstitution  36, 193 – 195, 196 – 198, 213, 289, 330 – und Substanz siehe Substanz: vs. Sub­ jekt – tätiges  123, 288 siehe auch Subjekt: und Sprache – Verkehrung  180 – 181, 184, 212, 308, 309 – Wahl  192, 193, 195, 201, 284 – Willkür  29, 122 – 123, 142, 150, 190, 192, 198 – 199, 224, 284, 292, 293 – 294 – Urteilsfindung  45 – 46, 172, 179 – 181, 186 – 187, 209, 210 – 211, 212 – 213, 328 – Zufälligkeit, Belieben  168, 171, 191 – 192, 292 Subjektivität siehe auch Subjekt – moderne  87, 100, 122, 203, 310 – 311 – subjektive Freiheit  18, 47, 49, 125, 233 – 234, 238, 249 (Fn. 67), 250 – 251, 260, 279 – 280, 292 – 295, 305, 306 – 307, 316 – 317 – als transformative Kraft  70, 148, 213, 245, 284 – 285 Substanz  93, 282, 315 – vs. Subjekt  87 Subsumtion  128 – 129, 191 Supererogation  130, 204 siehe auch Altruismus System  73, 182, 197 siehe auch Totalität – der Legalität  78, 133, 171 siehe auch Grundlage des Naturrechts (Fichte) – der Realität  81 – 83, 106, 118, 141 siehe auch bürgerliche Gesellschaft System der Sittenlehre (Fichte)  355 – 356 System der Sittlichkeit (Hegel)  80 – 81, 143 Takt  218, 258, 353, 354 Tapferkeit  95, 114 – 115, 315

Personen- und Sachregister Tat  139, 148, 186 (Fn. 161), 239, 249 – 250, 251, 272 siehe auch Han­ deln, Handlung Tautologie  162, 204 – 206, 208, 211 – 213, 338 – 229 Teil und Ganzes (totum parte prius esse necesse est)  33, 38 – 40, 63, 65, 91, 94 The Man Who Shot Liberty Valance (Film, John Ford)  88 – 89 Theorie und Praxis  66 – 68, 69, 75 – 76, 80 – 81, 82 – 84, 90, 147, 168 siehe auch Gesellschaftskritik: als Ideologiekritik Theunissen, Michael  22, 49, 308, 319 Thomä, Dieter  310 Thukydides  273 Tier  94, 197 (Fn. 215) Tod, tot sein  40, 63, 95, 110 Tönnies, Ferdinand  306 Totalität  57, 73, 81, 95 – 96, 109, 153 – 154 siehe auch System Tragödie  79 – 80, 85 – 87, 247 – 248, 249, 250, 252 – 254, 257, 264, 272 – im Sittlichen  85 – 87, 90, 102 – 103, 126, 299 Transformation  42, 70, 79, 118, 124, 134, 135, 139, 142, 143, 250, 265, 268, 286, 303, 324 Transzendentalphilosophie, transzendental  71 – 72, 169, 170, 202, 288, 320 – 321, 340, 341 Trieb  197, 291, 345 – des freien Geistes, des Denkens  285, 286 Tugend  65, 87, 95, 109, 183 (Fn. 154), 186 (Fn. 161), 313, 315, 335 – 336 siehe auch Pflicht: moralische vs. rechtliche – sittliche Virtuosität  313, 327, 336 Tugendhat, Ernst  233 Über Anmut und Würde (Schiller)  172, 196, 197 (Fn. 215), 350 Über den Gemeinspruch (Kant)  107, 159 Über die ästhetische Erziehung des Menschen (Schiller)  48, 54 (Fn. 16),

391

137, 170, 350 – 356 siehe auch Schiller: ästhetische Erziehung Unabhängigkeitserklärung, amerikanische  117 Unbestimmtheit  287 – 288, 290, 355 – 356 Unendlichkeit, das Unendliche  66, 95, 172, 288, 339, 342 Unfreiheit, das Unfreie  278, 283 (Fn. 201), 291, 303, 330 – 331, 343, 344 siehe auch Gesellschaftskritik Unmittelbarkeit, das Unmittelbare  197, 283, 291, 293 – 294 Unsicherheit  84 (Fn. 162), 89, 115, 167 Unsittlichkeit, das Unsittliche  76, 78, 163, 173, 191, 210, 231, 283 (Fn. 201) Urteil  49, 172, 178, 186, 274, 325, 328, 329, 341 – 342, 345 Utilitarismus siehe Gesellschaftskritik: Kritik des Nützlichkeitsprinzips Verbindlichkeit  164, 226 – 227, 244, 268 – Weisen/Formen der  155 – 160, 217 – 218, 274 – 275, 276 Verbrechen, Verbrecher  78 – 80, 88 – 89, 139 – 140, 158, 336, 336 – 337 (Fn. 434) Verdienst, verdienstvoll  115, 181 – 184 Vereinigung  12, 57 – 58, 85, 341 Verfassung  116 – 117, 127, 302 Verfassungsschrift (Hegel)  13 – 16, 51, 116 Vergangenheit, vergangene Zeiten  67, 102, 109 Vernunft  36, 57 (Fn. 31), 58 – 59, 63, 101, 169, 199 – 200, 204 – 206, 252, 274 – 275, 286, 302, 321, 321 – 322 (Fn. 363), 329, 333 – 334, 342 – 346, 350 – Faktum der ~ siehe Kant: Faktum der Vernunft – Grundgesetz der ~ siehe Kategorischer Imperativ – instrumentelle  199 siehe auch Kritik: Vernunftkritik – Interesse der (spekulatives, prakti­ sches, populäres)  73

392

Personen- und Sachregister

– List der  305 – praktische (als Begehrungsvermögen)  43, 121, 157, 161, 163 – 164, 168, 186, 187, 188, 191, 239 – 247, 343 siehe auch Kant: Kausalität der Vernunft – und Sinnlichkeit  154, 170, 172, 196, 346 – 347, 351 – theoretische  161, 162, 167, 168 Vernunftrecht  63, 72, 91, 129, 212, 217, 238, 255, 256 – 257, 336 – 337 siehe auch Sittlichkeit: moderne (relative); Naturrecht Verpflichtung  35, 131, 160, 182 (Fn. 145), 198 – 199, 211 (Fn. 281), 214 – 217, 222 – 223, 241, 329 siehe auch Pflicht; Verbindlichkeit; Anerkennung; Recht: und Pflicht – moralische vs./und rechtliche  21, 156 – 157, 160, 218, 219, 220 – 221, 226 – 227, 232 – nichtforderbare  96, 130, 218, 274 – 277 siehe auch Supererogation Verrücktheit  309 (Fn. 323) siehe auch Pathologie; Krankheit Versöhnung  57, 85, 86, 258 siehe auch Vereinigung; Absolute, das Versprechen  274 – 275 Verstand  57, 163, 178, 197, 207, 287, 291, 342 – „gesunder Menschenverstand“ 75 Verstellung  182, 184 Vertrag  76, 77, 100, 204, 206 – 207, 209, 225 Vertrauen  129, 171 – 172, 204, 209 – 210, 215, 224, 229 Vertumnus  124 (Fn. 340) Verwirklichung – von Freiheit  12, 25, 134, 260, 280 – 281, 292, 336 (Fn. 432) – von Subjektivität  70, 276, 284 – 285 – des Willens  240, 251, 257, 260, 278 – 279, 280 – 294 Volk  60, 63, 94, 100, 101, 109, 115, 133, 258 siehe auch Sittlichkeit

Volksgeist  93 – 94, 99 Volksvertretung siehe Nationalrepräsen­ tation volonté générale  43, 136 Voltaire, François Marie Arouet de  151 Vorurteil  75 Wahl siehe Subjekt: Wahl; Freiheit: Wahl­ freiheit Wahlkapitulationen  13 – 14 (Fn. 13, 14) Wahlrecht  107 Wahrheit  52 (Fn. 6), 72, 162, 163, 218, 233, 322 Welt  67, 246 – 247, 249, 340 – 341 – intellektuelle und reelle  13 – 14 – moderne bürgerliche  107, 263 – 265, 270 – als objektiver Geist  281, 292, 312 siehe auch Natur: zweite Westfälischer Frieden  51 Widerspruch  42, 50, 170 – 172 Widerstand  249 – 250 siehe auch Antigone Widerstandsrecht  217 (Fn. 293), 301 – 302 Wildt, Andreas  20, 21, 43, 46, 93, 96, 97, 98, 130, 132, 159, 161, 174, 176, 177, 179, 184, 185, 187, 193, 204, 207, 209, 214 – 216, 217 – 218, 219 – 220, 226, 227, 228, 231 – 232, 258, 274, 275, 296, 305, 314 – 315 Wille – freier, freies Wollen  32, 196, 197 (Fn. 215), 213, 238, 242 – 243, 244, 251, 280, 285 – 294, 318 – Gemeinwille siehe volonté générale – Recht des subjektiven Willens  250 – 251, 279, 292 – 293, 294 – 295 – subjektiver  122 – 123, 196 – 197, 242 siehe auch Subjekt: Willkür – Willensbindung  76 siehe auch Ver­ trag – Willensschwäche  200 Wissen, (praktische) Gewissheit  70, 162 – 163, 164, 178, 184, 207, 211, 249 – 250, 251, 278 – 279, 307, 318

Personen- und Sachregister Wissenschaft der Logik (Hegel)  17, 223 Wittgenstein, Ludwig  69 Woldemar (Jacobi)  183 Wolff, Christian  71, 75, 162, 163 Wolff, Michael  239 – 242, 243 – 246, 286 Wollaston, William  162, 163 Wood, Allen W.  176, 184 – 185, 195 Wunsch, Wünschen  212, 242

Xenophon 

393

273

Zwang – moralischer (innerer)  121, 214, 347 – 348 – moralisch-juridischer  78 – 79, 159, 168 – 169, 171 – 172, 177, 297 – rechtlicher (äußerer)  157 – 159, 215 Zufall  142, 151 – 153, 207