Festschrift für Gerhard Fezer zum 70. Geburtstag am 29. Oktober 2008 [1 frontispiece ed.] 9783899495522, 9783899494396

This commemorative publication is dedicated to Gerhard Fezer, the distinguished criminal trial law professor, in honor o

253 110 2MB

German Pages 630 Year 2008

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Geleitwort
Fernwirkungen des § 148 StPO – Ein Plädoyer wider den „gläsernen Strafverteidiger“
Kritik der Vorratsdatenspeicherung
Zwischenhaft, Organisationshaft
Kernbereichsmystik im Strafverfahren
Verkehrsdaten in der Strafverfolgung
Die Form der Vernehmung des Angeklagten zur Sache
Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung – notwendige Reform oder Irrweg?
§ 257 Abs. 3 StPO – Eine überflüssige Norm
Zur erstinstanzlichen Zuständigkeit des Oberlandesgerichts bei Erweiterung des § 120 Abs. 2 GVG nach Eröffnung des Hauptverfahrens
Zeugenschutzprogramme und Wahrheitsermittlung im Strafprozess
Plädoyer für die Streichung der Vorschriften über die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme
Zur strafprozessualen Verwertbarkeit von im Ausland abgelegten Geständnissen
Strafprozessuale Beweisstrukturen
Strafprozessuale Verwertung selbstbelastender Angaben im Verwaltungsverfahren
Der blinde Fleck
Die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung – ein Instrument zur Relativierung unselbständiger Verwertungsverbote?
Die erweiterte Revision in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
Wandel der Revision als Ausdruck geistigen und gesellschaftlichen Wandels
Beweis als Rechtsbegriff und seine revisionsrechtliche Kontrolle
Der befangene Revisionsrichter
Wie absolut sind die absoluten Revisionsgründe?
Zum Verhältnis von Tatrichter und Revisionsrichter
Verteidigung am revisionsgerichtlichen Pranger?
Quo vadis, Strafverfahren?
„Regulierte Selbstregulierung“ in der Strafjustiz?
Absehen von der Strafe und Absehen von der Strafverfolgung
Zur Kritik des amerikanischen Strafprozessmodells
Neuere Fragen zur Privatklage und zum Adhäsionsverfahren
Strafrecht und Berufsrecht
Backmatter
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Festschrift für Gerhard Fezer zum 70. Geburtstag am 29. Oktober 2008 [1 frontispiece ed.]
 9783899495522, 9783899494396

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Festschrift für Gerhard Fezer zum 70. Geburtstag

Festschrift für

GERHARD FEZER zum 70. Geburtstag am 29. Oktober 2008 herausgegeben von

Edda Weßlau Wolfgang Wohlers

De Gruyter Recht · Berlin

∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-89949-439-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2008 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D - 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

Gerhard Fezer zum 29. Oktober 2008 LUTZ MEYER-GOSSNER STEPHAN BARTON WERNER BEULKE EGON MÜLLER FRIEDRICH DENCKER HANS-ULLRICH PAEFFGEN ULRICH EISENBERG RAINER PAULUS WOLFGANG FRISCH PETER RIESS HELMUT FRISTER KLAUS ROGALL KARL HEINZ GÖSSEL HINRICH RÜPING RAINER HAMM REINHOLD SCHLOTHAUER HANS HILGER FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER MATTHIAS JAHN BERND SCHÜNEMANN RAINER KELLER CHRISTOPH SOWADA DIETHELM KLESCZEWSKI PETRA VELTEN HANS KUDLICH KLAUS-ULRICH VENTZKE KLAUS LÜDERSSEN EDDA WESSLAU WOLFGANG WOHLERS

Inhalt Geleitwort ................................................................................................... XI I. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe WERNER BEULKE Fernwirkungen des § 148 StPO – Ein Plädoyer wider den „gläsernen Strafverteidiger“ ........................................................................................... 3 DIETHELM KLESCZEWSKI Kritik der Vorratsdatenspeicherung ............................................................ 19 HANS-ULLRICH PAEFFGEN Zwischenhaft, Organisationshaft ................................................................ 35 KLAUS ROGALL Kernbereichsmystik im Strafverfahren ....................................................... 61 PETRA VELTEN Verkehrsdaten in der Strafverfolgung......................................................... 87 II. Die tatrichterliche Hauptverhandlung FRIEDRICH DENCKER Die Form der Vernehmung des Angeklagten zur Sache ........................... 115 LUTZ MEYER-GOSSNER Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung – notwendige Reform oder Irrweg?...................................................................................................... 135 EGON MÜLLER § 257 Abs. 3 StPO – Eine überflüssige Norm........................................... 153 CHRISTOPH SOWADA Zur erstinstanzlichen Zuständigkeit des Oberlandesgerichts bei Erweiterung des § 120 Abs. 2 GVG nach Eröffnung des Hauptverfahrens........................................................................................ 163

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Inhalt

III. Beweisgewinnung und -verwertung ULRICH EISENBERG Zeugenschutzprogramme und Wahrheitsermittlung im Strafprozess ....... 193 HELMUT FRISTER Plädoyer für die Streichung der Vorschriften über die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme................................................................................. 211 RAINER KELLER Zur strafprozessualen Verwertbarkeit von im Ausland abgelegten Geständnissen ........................................................................................... 227 RAINER PAULUS Strafprozessuale Beweisstrukturen ........................................................... 243 REINHOLD SCHLOTHAUER Strafprozessuale Verwertung selbstbelastender Angaben im Verwaltungsverfahren............................................................................... 267 EDDA WESSLAU Der blinde Fleck ....................................................................................... 289 WOLFGANG WOHLERS Die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung – ein Instrument zur Relativierung unselbständiger Verwertungsverbote? ............................... 311 IV. Revisionsrecht STEPHAN BARTON Die erweiterte Revision in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ................................................................................. 333 WOLFGANG FRISCH Wandel der Revision als Ausdruck geistigen und gesellschaftlichen Wandels .................................................................................................... 353 RAINER HAMM Beweis als Rechtsbegriff und seine revisionsrechtliche Kontrolle ........... 393 MATTHIAS JAHN Der befangene Revisionsrichter................................................................ 413

Inhalt

IX

HANS KUDLICH Wie absolut sind die absoluten Revisionsgründe? .................................... 435 PETER RIESS Zum Verhältnis von Tatrichter und Revisionsrichter................................ 455 KLAUS-ULRICH VENTZKE Verteidigung am revisionsgerichtlichen Pranger? .................................... 477 V. Anderweitige strafprozessuale Fragen KARL HEINZ GÖSSEL Quo vadis, Strafverfahren? ....................................................................... 495 KLAUS LÜDERSSEN „Regulierte Selbstregulierung“ in der Strafjustiz? .................................... 531 FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER Absehen von der Strafe und Absehen von der Strafverfolgung................ 543 BERND SCHÜNEMANN Zur Kritik des amerikanischen Strafprozessmodells................................. 555 HANS HILGER Neuere Fragen zur Privatklage und zum Adhäsionsverfahren.................. 577 HINRICH RÜPING Strafrecht und Berufsrecht ........................................................................ 587 Verzeichnis der Schriften von Gerhard Fezer...................................... 605 Autorenverzeichnis ................................................................................. 615

Geleitwort Gerhard Fezer, dessen wissenschaftliches Lebenswerk mit der vorliegenden Festschrift gewürdigt wird, feiert am 29. Oktober 2008 seinen 70. Geburtstag. Geboren und aufgewachsen in Tuttlingen, begann er nach dem Abitur im Jahre 1958 zunächst in Tübingen mit dem Studium der klassischen und deutschen Philologie sowie Philosophie und setzte dieses Studium später in Berlin fort. 1961 nahm er – wieder in Tübingen – das Studium der Rechtswissenschaft auf, das er 1965 mit der Ersten Juristischen Staatsprüfung abschloss. Im Anschluss an die Zweite Juristische Staatsprüfung war Gerhard Fezer ab 1968 als Richter am Landgericht Tübingen tätig. Seine 1969 aufgenommene Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Jürgen Baumann führte im Jahre 1970 mit einer Abhandlung zum Thema „Funktion der mündlichen Verhandlung im Zivilprozeß und im Strafprozeß“ zur Promotion zum Dr. iur. 1971 wurde Gerhard Fezer als Staatsanwalt nach Bonn an das Bundesministerium der Justiz, Abteilung Rechtspflege, abgeordnet, bevor er sich dann in den Jahren 1972 und 1973 – finanziert durch ein Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft – seinem Habilitationsvorhaben widmen konnte. Die Abhandlung „Möglichkeiten einer Reform der Rechtsmittel in Strafsachen“ wurde von der Universität Tübingen im Jahre 1974 als Habilitationsschrift angenommen; Gerhard Fezer erhielt die venia legendi für die Fächer Strafrecht, Strafprozessrecht und Zivilprozessrecht. Nachdem er als Universitätsdozent in Tübingen tätig war, erhielt er 1976 einen Ruf auf eine Professur für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Münster. 1978 folgte dann der Ruf auf die Ordentliche Professur für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Hamburg, wo Gerhard Fezer seine endgültige Wirkungsstätte finden sollte. Den Ruf an die Universität Tübingen, den er 1983 erhielt, lehnte er ab. Gerhard Fezer hat sich wie wenige Kolleginnen und Kollegen nicht in erster Linie als Strafrechtler, sondern ganz dezidiert als Strafprozessualist verstanden. Nach einigen wenigen – von ihm selbst als „Jugendsünden“ eingestuften – publizistischen Ausflügen in das materielle Recht hat er sich in seinem wissenschaftlichen Werk ganz bewusst und konsequent auf das Strafprozessrecht konzentriert und dessen dogmatische Durchdringung über mehrere Jahrzehnte hinweg mit einer Vielzahl von Publikationen gefördert und bereichert. Ohne durch eine bestimmte theoretische oder rechtspoliti-

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Geleitwort

sche Ausrichtung eingeengt zu sein, kam es ihm stets darauf an, den Strafprozess in seiner Gesamtheit wie auch in seinen einzelnen Rechtsinstituten vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entstehung zu verstehen. Die Überzeugungen der liberalen Strafprozessrechtswissenschaft des 19. und des 20. Jahrhunderts bilden nach seinem Verständnis das Passepartout für die Bewertung der zahlreichen Veränderungen, die das Strafprozessrecht bis in die heutige Zeit hinein durchgemacht hat. Das Strafprozessrecht als Selbstbeschränkung staatlicher Machtausübung bei der Abklärung eines Straftatverdachts – dies ist das durchgehende Leitmotiv seiner Forschung. Ausdruck dieser prägenden Idee ist beispielsweise die von ihm entwickelte Lehre zu den Beweisverwertungsverboten, mit der er sich weder im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes befindet, noch auf einhellige Zustimmung aus der Rechtswissenschaft hoffen kann. Gegen funktionale Herleitungen wendet er sich ebenso wie gegen konkurrierende Ansätze, die ein rein individualistisches Rechtsschutzkonzept zugrunde legen und dabei in den Strudel der Abwägungsdogmatik geraten, welche wiederum – wie die Entwicklung der Rechtsprechung zeigt – das Verwertungsverbot in der Rechtspraxis zu einer Ausnahmeerscheinung werden lässt. Auf der anderen Seite hat Gerhard Fezer nie daran geglaubt, dass der Strafprozess irgendwann seine ideale Ausprägung gefunden haben wird und als statisches Gebilde existierten kann. Gerade die durch vielfache Novellengesetzgebung geprägte Geschichte des Strafprozessrechts beweist, dass dieses Rechtsgebiet einerseits ständig in Bewegung ist, andererseits als „System“ begriffen werden muss. In vielen seiner Publikationen war es Gerhard Fezer deshalb ein Anliegen, dass die systembedingten, oft gar nicht intendierten Wirkungen bedacht werden, die mit punktuellen gesetzgeberischen oder richterrechtlich entstandenen Eingriffen ausgelöst werden. Nur wenn es der Rechtswissenschaft gelingt, die Grundstrukturen des Strafprozesses, den Zusammenhang der verschiedenen prozessualen Rechtsinstitute und die Dynamik von Veränderungsprozessen angemessen zu analysieren, können die Auswirkungen eines Novellierungsvorhabens oder eines Wandels der Rechtsprechung eingeschätzt und kritisch beurteilt werden. Als ganz wesentliche Forschungsleistungen Gerhard Fezers gelten – das ist in der Fachwelt unbestritten – seine Arbeiten zum Revisionsrecht. Zeitgleich mit seiner Habilitationsschrift ist eine weitere Publikation mit dem Titel: „Die erweiterte Revision – Legitimierung der Rechtswirklichkeit?“ erschienen, die vom Institut für Rechtstatsachenforschung in seine Schriftenreihe „Reform der Justizreform“ aufgenommen worden war. Diese Arbeiten sind nicht nur Ergebnis einer gründlichen Rechtstatsachenforschung und scharfsinniger Systematisierungen, sondern enthalten eine über ihren konkreten Gegenstand hinausweisende Botschaft: Auf der Basis empirisch

Geleitwort

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gesicherter Forschungsergebnisse konnte Gerhard Fezer belegen, dass es sinnvoll ist, die „Leistungsfähigkeit“ eines prozessualen Rechtsinstituts als analytische Kategorie einzuführen. Anhand der Entwicklung der Revisionsrechtsprechung hat er nachgewiesen, dass die Rechtswirklichkeit längst nicht mehr der in den Normen der Strafprozessordnung verankerten Konzeption des Rechtsmittels „Revision“ entsprach. Die Revisionsgerichte waren angesichts gewandelter rechtspolitischer Überzeugungen daran gegangen, das Kontrollpotential des Revisionsrechts auszuschöpfen; die revisionsrechtlichen Institute hatten sich als „leistungsfähig“ genug erwiesen, um die Zuverlässigkeit tatgerichtlicher Feststellungen auf den Prüfstand zu stellen. Auch in seinen späteren Arbeiten hat Gerhard Fezer diese von der Revisionsrechtsprechung ausgehende Dynamik nie aus den Augen verloren. So interpretiert er in jüngerer Zeit etwa die in der tatgerichtlichen Praxis beobachtbaren Veränderungsprozesse als Gegenstrategien: Die Tatgerichte versuchen, durch konsensuale Erledigungen die Sorgfaltsanforderungen, die von der Revisionsrechtsprechung in die Höhe getrieben worden sind, zu unterlaufen. Welchen Problemstellungen Gerhard Fezer sich auch angenommen hat – seine Publikationstätigkeit war und bleibt geprägt vom Bezug zur Rechtspraxis. Besonders deutlich wird dies in den zahlreichen Urteilsanmerkungen, mit denen er insbesondere die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes über mehrere Jahrzehnte hinweg kritisch begleitet hat. Ziel dieser vom Umfang her in der Regel eher knappen, inhaltlich aber stets gehaltvollen Anmerkungen war es, etwaige Widersprüchlichkeiten oder Begründungsmängel der zu besprechenden Entscheidung offen zu legen und die aus ihnen folgenden Konsequenzen vor dem Hintergrund eines dezidiert rechtsstaatlich-liberalen Prozessrechtsverständnisses kritisch zu würdigen. Ziel des vorliegenden Bandes ist es, die vorstehend skizzierten Facetten einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Strafprozessrecht aufzugreifen. Bereits bei den ersten Vorüberlegungen zu diesem Buchprojekt war uns Herausgebern allerdings klar, dass wir nicht einfach einer Tradition folgend unserem akademischen Lehrer Gerhard Fezer aus Anlass seines 70. Geburtstages eine Festschrift aufdrängen konnten. Die erste und vordringliche Frage war vielmehr die, ob wir ein derartiges Projekt überhaupt in Angriff nehmen durften. Denn, wie wir Gerhard Fezer kannten, war ihm die Vorstellung, als „Jubilar“ mit einer Festschrift beehrt zu werden, nicht etwa selbstverständlich, sondern eher unangenehm. Und tatsächlich bedurfte es mehrerer Gespräche, bevor Einigkeit darüber erzielt wurde, ob und wie aus der Idee einer Festschrift ein Projekt werden konnte, das auch der zu Ehrende selbst als sinnvoll anerkennen konnte und musste – sinnvoll, weil mit dieser Schrift der Strafprozessrechtswissenschaft ein Forum und Podium für eine Standortbeschreibung zur Verfügung gestellt werden soll.

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Geleitwort

Notwendige Konsequenz dieser Zielsetzung war es dann, dass wir von vornherein allein solche Beiträge nachgefragt haben, die sich mit prozessualen Fragestellungen befassen. Notwendige Konsequenz war aber auch, dass als Mitwirkende nicht allein Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anzusprechen waren, sondern ebenso in der Strafrechtspraxis tätige Juristen, die dafür bekannt sind, dass sie sich mit Gerhard Fezers wissenschaftlichen Reflexionen und praxis-kritischen Kommentaren intensiv auseinandergesetzt haben. Wir waren uns sicher, dass es mit dieser Konzeption gelingen würde, eine Festschrift entstehen zu lassen, die das wissenschaftliche Werk Gerhard Fezers ehrt und gleichzeitig auch von ihm selbst als etwas akzeptiert wird, mit dem er leben kann. Wie ein Blick in das Inhaltsverzeichnis bestätigt, haben wir uns wohl nicht getäuscht: Die besonderen Schwerpunkte des wissenschaftlichen Lebenswerks Gerhard Fezers finden sich in den einzelnen Beiträgen der Festschrift wieder. Den Leserinnen und Lesern dieses Bandes steht damit eindrucksvoll vor Augen, in welch breitem Themenspektrum die Publikationen von Gerhard Fezer angesiedelt sind, zumal sich die meisten Verfasserinnen und Verfasser der hier versammelten Beiträge angeregt gefühlt haben, seine Publikationen zum Ausgangspunkt oder auch als Reibungsfläche für ihre eigene Abhandlung zu nehmen. Wir hoffen, dass dieser Band sein Ziel nicht verfehlen und von der Fachwelt als Präsentation der aktuellen Forschungsthemen der Strafprozessrechtswissenschaft aufgenommen wird. Wir wünschen uns, dass uns mit diesem Buch zugleich ein Dankeschön gelungen ist, das wir unserem akademischen Lehrer für all’ das schulden, was wir bei ihm lernen durften und was den Grundstein für unseren eigenen wissenschaftlichen Werdegang gelegt hat. Zu guter Letzt möchten wir uns bei den Verfasserinnen und Verfassern bedanken, die durch ihren Beitrag das Buchprojekt mit Leben erfüllt haben. Der De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, namentlich Ute von der Aa, sind wir ebenfalls zu Dank verpflichtet für die redaktionelle Betreuung und vor allem die großzügige Übernahme der Publikationskosten. Schließlich waren uns vom ersten bis zum letzten Akt der Realisierung dieses Projektes viele Hände behilflich – angefangen vom Schriftverkehr, den Ulrike Rosemeier von Bremen aus erledigt hat, bis zur Erstellung der Reprovorlagen, um die sich Sonja Pflaum und Stephan Schlegel in Zürich gekümmert haben; ihnen und allen anderen Beteiligten sei an dieser Stelle ganz herzlich für ihren Einsatz und ihr Engagement gedankt. Die Herausgeber

I. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe

Fernwirkungen des § 148 StPO – Ein Plädoyer wider den „gläsernen Strafverteidiger“ WERNER BEULKE

I. Niemand wird behaupten, die Kontroverse über den Strafverteidiger stecke noch in den Kinderschuhen. Dass sich gleichwohl noch immer offene Fragen auftun, zeigt folgender Fall, der mir vor kurzem aus der Praxis zugetragen wurde: Staatsanwalt S hegt den Verdacht, Strafverteidiger V habe im Laufe eines Strafverfahrens gegen den Beschuldigten B mit unlauteren Mitteln gekämpft. So habe V dem B zu bestimmten unwahren Einlassungen geraten und diese auch seinerseits (bestimmend) in das Prozessgeschehen eingeführt. Zwar habe das Gericht all dem nicht geglaubt und B vollumfänglich entsprechend dem Antrag des S verurteilt, S möchte aber nunmehr nach rechtskräftigem Abschluss des gegen B geführten Verfahrens gegen V wegen des Verdachts der versuchten Strafvereitelung (§§ 258 Abs. 1, Abs. 3 StGB) ermitteln. Um den strafrechtlich relevanten Sachverhalt aufzuklären, beantragt S eine ermittlungsrichterliche Vernehmung (§ 162 StPO) des B. Ist B verpflichtet darüber Auskunft zu geben, was seinerzeit zwischen ihm und V als Verteidigungsstrategie vereinbart wurde? Die Problematik, ob und in welchem Umfang der Mandant eines als Strafverteidiger tätigen Anwalts nach rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verpflichtet ist, gegenüber den Strafverfolgungsorganen, die nunmehr gegen den Anwalt ermitteln, über das Mandanten-Anwaltsverhältnis Auskunft zu geben, ist bisher in Rechtsprechung und Schrifttum noch nicht endgültig geklärt1. Die Rechtsfrage ist nicht nur für das Strafverfahren von

Gegen ein Befragungsrecht Bosbach, Ungeschriebene strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht im Bereich der Rechtsberatung, Diss. iur., Passau 2008 (erscheint demnächst), S. 250; Schäfer, FS Hanack (1991), S. 102; Welp, FS Gallas (1973), S. 416 (bereits de lege lata) und auch Hamm NJW 1993, 289 (295) (allerdings sei die Frage nur de lege ferenda zu 1

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Werner Beulke

Bedeutung, sondern z.B. auch für das Bußgeldverfahren (§ 46 Abs. 1 OWiG) sowie das Disziplinarverfahren gegen Rechtsanwälte (§ 116 BRAO). Die Problematik soll im Folgenden allerdings allein für die Konstellation des Strafverfahrens erörtert werden.

II. Während eines laufenden Verfahrens (also vor Ergehen einer rechtskräftigen Entscheidung) ergibt sich bereits aus dem nemo-tenetur-Prinzip, dass der Beschuldigte nicht verpflichtet ist, bei Befragungen durch die Strafverfolgungsorgane irgendeine Auskunft über den Inhalt dessen zu geben, was er mit seinem Anwalt im Rahmen der Strafverteidigung besprochen hat. Sollte er diesbezüglich um Auskunft gebeten werden, so kann er (muss es allerdings nicht tun) auf sein Aussageverweigerungsrecht aus § 136 StPO (u.U. i.V.m. §§ 161a Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 5 StPO) verweisen. Sollte er hingegen nicht als Beschuldigter in eigener Sache, sondern als Zeuge in einem parallelen Strafverfahren gegen den Anwalt, der für ihn als Strafverteidiger entweder immer noch, zumindest aber jedoch früher tätig war, vernommen werden – z.B. weil gegen den Verteidiger ein Strafverfahren wegen Strafvereitelung gemäß § 258 StGB durch die von ihm früher oder immer noch betriebene Art der Strafverteidigung eingeleitet worden ist – so ist § 136 StPO nicht mehr einschlägig, vielmehr müssen Auskunftsverweigerungsrechte nunmehr vorrangig aus der Zeugeneigenschaft abgeleitet werden. Auch das ist aber noch relativ unproblematisch, denn angesichts des noch schwebenden Verfahrens wird zumeist ein Hinweis auf § 55 StPO genügen, um ihn von seiner Auskunftspflicht zu befreien. Allerdings steht dieses Zeugnisverweigerungsrecht unter dem Vorbehalt, dass die Gefahr der Selbstbelastung zumindest plausibel gemacht werden muss, was u.U. bereits als nicht hinnehmbares Eindringen der Vernehmungsperson in das Verteidiger-Mandantenverhältnis des parallel laufenden Strafverfahrens, in der der Zeuge als Beschuldigter fungiert, verstanden werden könnte. Flankierend wird deshalb auf § 148 StPO zu verweisen sein, den Rechtsprechung und Literatur zutreffend als umfassendes Recht zum ungestörten Kontakt zwischen Verteidiger und Mandanten interpretieren. Das Verständ-

lösen); vgl. hierzu auch Baier, Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte außerhalb der Strafprozessordnung als Ergänzung der §§ 52 ff. StPO (1996); Vultejus, Das Urteil von Memmingen – Vom Elend der Indikation (1990), S. 7 ff.; Welp GA 2002, 535 (550). Generell zur Bedeutung des § 148 StPO Beulke, Strafprozessrecht, 10. Aufl. (2008), Rn. 153.

Fernwirkungen des § 148 StPO

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nis des § 148 StPO als eines der wichtigsten „Grundrechte des Beschuldigten“ hat vielerlei Auswirkungen auf Bereiche, die sich aus dem schlichten Gesetzeswortlaut selbst nicht erschließen lassen. Rechtsprechung und herrschende Lehre räumen dem Recht des Beschuldigten auf freien mündlichen Kontakt mit seinem Strafverteidiger eine so große Bedeutung bei, dass es sich auch gegen einzelne Zwangsbefugnisse durchzusetzen vermag, die den Strafverfolgungsorganen nach dem reinen Gesetzeswortlaut eigentlich schrankenlos zur Verfügung stünden. Im Interesse einer auch aus verfassungsrechtlichen Gründen gewünschten rechtsstaatlichen Strafverteidigung müssen die Strafverfolgungsorgane in bestimmten Konstellationen „immanente“ Schranken akzeptieren. Der Freiraum zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger bedarf – zumindest soweit es das gesprochene Wort betrifft – des uneingeschränkten Schutzes, der notfalls mittels einer „Sperrwirkung des § 148 StPO“ gegenüber einzelnen Eingriffsermächtigungen durchzusetzen ist. Inzwischen ist diese Rechtsmaterie durch das am 1.1.2008 in Kraft getretene „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG“ vom 21.12.20072 z. T. allerdings neu geregelt worden. Nach § 160a Abs. 1 S. 1–3 StPO ist eine Ermittlungsmaßnahme, die sich gegen eine in § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO (Verteidiger) genannte Person richtet und voraussichtlich Erkenntnisse erbringen würde, über die diese Person das Zeugnis verweigern dürfte, unzulässig. Dennoch erlangte Erkenntnisse dürfen nicht verwendet werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. Gemäß § 160a Abs. 4 S. 1 StPO entfällt dieser Schutz, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass die zeugnisverweigerungsberechtigte Person an der Tat oder an einer Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei beteiligt ist. Diese sozusagen vor die Klammer gezogene Regelung wird in naher Zukunft voraussichtlich große Schwierigkeiten bereiten, da sie sich nur mit Mühe in das bisherige Schutzsystem einpasst. Erinnern wir uns deshalb zunächst nochmals an die Rechtslage vor der Geltung des § 160a StPO – und zwar bezogen auf den speziellen Aspekt, dass der Strafverteidiger in den Verdacht gerät, durch die Art der Strafverteidigung eine (versuchte oder vollendete) Strafvereitelungshandlung begangen zu haben:

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BGBl. 2007 I S. 3198.

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Werner Beulke



Herrschender Ansicht nach entfällt der in § 97 Abs. 1 Nr. 2 StPO gewährte Schutz der Verteidigerunterlagen vor einer Beschlagnahme, wenn der Strafverteidiger in den (einfachen) Verdacht einer Strafvereitelung etc. gerät. Die herrschende Ansicht wendet dann die Ausnahmeklausel des § 97 Abs. 2 S. 3 StPO auch auf den Strafverteidiger an3.



Beim großen Lauschangriff wurden in § 100c Abs. 6 S. 1 StPO Maßnahmen in den Fällen des § 53 StPO für unzulässig erklärt. Gem. § 100c Abs. 6 S. 3 StPO entfiel dieses Verbot im Fall des (einfachen) Verdachts der Beteiligung, Strafvereitelung etc.



Als besonders schutzwürdig wurde der mündliche Kontakt zwischen Beschuldigtem und Verteidiger am Telefon eingestuft. Ein Eindringen in diese Sphäre über eine Abhörmaßnahme gem. § 100a StPO wurde erst für zulässig erachtet, wenn der Verteidiger in den Verdacht der Mittäterschaft an der Katalogtat geriet. Wenn es sich hingegen nur um einen Verdacht der Strafvereitelung handelte, durfte das Telefon nicht abgehört werden4. Diese Folge wurde aus § 148 Abs. 1 StPO abgeleitet, der als lex specialis zu § 100a StPO galt, in dem selbst keine Begrenzungsklausel enthalten war.



Weitere Sonderregelungen enthielten die §§ 31 ff. EGGVG (sog. Kontaktsperre) sowie § 100h Abs. 2 S. 2 StPO (Auskunft der Telekommunikationsdienste über Fernsprechverbindungen des Verteidigers bei Verdacht der Strafvereitelung etc.) und § 148 Abs. 2 StPO selbst (bei Katalogtaten gem. §§ 129a, 129b StGB).



Eine allgemeine Klausel, nach der ein Eingriff in das Kontaktrecht des § 148 Abs. 1 StPO zulässig war, wenn der Verteidiger in den Verdacht der Mittäterschaft oder Strafvereitelung etc. gerät, existierte nicht. Soweit es um den mündlichen Kontakt ging, wurde § 148 Abs. 1 StPO als die einschlägige Norm betrachtet.



Auch der Gesetzgeber hat im Zusammenhang mit der Neuregelung der verdeckten strafprozessualen Ermittlungsmethoden auf die überragend wichtige Funktion des Gesprächs zwischen Mandant und Verteidiger zur Wahrung der Menschenwürde hingewiesen.5

BGH NJW 1982, 2508; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 97 Rn. 38; hiergegen Beulke (Fn. 1), Rn. 154. 4 BGHSt 33, 347; hierzu Beulke Jura 1986, 642; ders. (Fn. 1), Rn. 155. 5 BT-Drs. 16/5846, S. 35 f.; 16/6979, S. 67. 3

Fernwirkungen des § 148 StPO

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Das BVerfG hat die Kommunikation zwischen dem Mandanten und dem Verteidiger zum unantastbaren Kernbereich der privaten Lebensgestaltung gezählt.6



Interessant ist in diesem Zusammenhang vielleicht noch eine jüngere Rechtsprechung zur besonderen Rechtsnatur des Kontaktrechts zwischen Beschuldigtem und Verteidiger. Es ging um einen Fall, in dem der Beschuldigte die zwischen ihm und seinem Verteidiger ausgetauschten Geheimnisse offenbaren, die Strafverfolgungsorgane sie aber gar nicht wissen wollten. In einer Entscheidung vom 12.9.2007 hat der BGH7 Mitteilungen des Beschuldigten gegenüber seinem Mandanten zum „Kernbereich der Verteidigung“ erklärt, die grundsätzlich nicht zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht werden dürfen. Dieser Bereich dürfte selbst bei einem entsprechenden Offenbarungswillen seitens des Angeklagten nicht angetastet werden. Eine Frage an den als Zeugen vernommenen Verteidiger, ob der Beschuldigte beim Erstkontakt in der Anwaltskanzlei zum Verteidiger zur Tatbegehung dasselbe gesagt habe wie später in der Hauptverhandlung, sei als ungeeignet i. S. von § 241 Abs. 2 StPO einzustufen. Diese Ansicht schießt allerdings über das Ziel hinaus, denn niemand kann den Beschuldigten daran hindern, seine Schutzsphäre preiszugeben, indem er seinem Verteidiger eine entsprechende Aussagegenehmigung erteilt. Die Überlegungen des BGH zeigen aber, welch große Bedeutung der Sphäre Verteidiger/Mandant für das rechtsstaatliche Verfahren zukommt. Wenn sie nach Ansicht des BGH schon mit Zustimmung des Mandanten der Kognitionspflicht des Gerichts entzogen ist, dann müsste das natürlich erst recht für den Fall eines entgegenstehenden Willen des Mandanten gelten.

Es bleibt somit festzuhalten: Solange den Strafverteidiger keinen Mittäterverdacht an der Straftat seines Mandanten traf und solange es allein um ein Eindringen in den mündlichen Kontakt zwischen dem Beschuldigten und ihm ging, scheiterten nach der bis Ende des Jahres 2007 geltenden Rechtslage alle Bemühungen der Strafverfolgungsorgane, etwas über die Interna der Strafverteidigung zu erfahren an der Sperrwirkung des § 148 Abs. 1 StPO. Die freie Aussprache zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger sollte nach unserem Rechtssystem einen uneingeschränk-

BVerfGE 109, 279 ff.; siehe auch BVerfG NJW 2007, 2749; NJW 2007, 2752. BGH Beschl. v. 12.9.2007 – 5 StR 257/07 (obiter dictum); dazu krit. Beulke/Ruhmannseder StV 2008 (erscheint demnächst). 6 7

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Werner Beulke

ten Schutz erfahren, der sich selbst dann nicht verflüchtigte, wenn der Strafverteidiger in den Verdacht geriet, durch seine Tätigkeit die Grenzen zur Strafvereitelung überschritten zu haben. Zweifelhaft erscheint, ob sich an dieser Rechtslage durch die Einführung der generellen Lösung des § 160a Abs. 4 StPO etwas geändert hat. Erste Stellungnahmen deuten darauf hin, dass der Schutz des Berufsgeheimnisträgers nunmehr als in § 160a StPO abschließend geregelt betrachtet wird. Das umfassende Erhebungs- und Verwertungsverbot des § 160a Abs. 1 S. 1 und 2 StPO werde gem. § 160a Abs. 4 S. 1 StPO aufgehoben, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht einer Tatbeteiligung oder Strafvereitelung etc. begründeten. Zwar wird beklagt, dass es sich gerade im Hinblick auf den Verteidiger um eine „deutlich zu weitgehende Regelung“ handele, die der „Rechtsgarantie des unüberwachten mündlichen Verkehrs zwischen Verteidiger und Beschuldigtem widerspricht“8, aber eine grundsätzliche Infragestellung nunmehr uneingeschränkter Überwachungsmöglichkeiten des Verteidigers im Falle eines Strafvereitelungsverdachts ist bisher nicht erkennbar. Im Interesse eines rechtsstaatlichen Strafprozesses sollten wir jedoch so schnell nicht alle Segel streichen. Gesetze müssen verfassungs- und, unter dem Blickwinkel der EMRK, konventionskonform ausgelegt werden. Zäh ist jeder Zentimeter des durch Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK geschützten Terrains des Rechts auf Verteidigerbeistand zu verteidigen. Glücklicherweise hat der Gesetzgeber vor einer direkten Einschränkung des § 148 Abs. 1 StPO doch zurückgeschreckt, wohl weil es ihm bewusst war, dass zumindest der mündliche Kontakt zwischen Verteidiger und Beschuldigtem von anderer Qualität ist, als viele weitere Beschuldigtenrechte. Auch wenn der Wortlaut der neuen gesetzlichen Fassung – inklusive der in § 160a Abs. 5 StPO ausdrücklichen Verweise auf Sonderregelungen– dafür spricht, dass dort die Schranken der Eingriffsbefugnisse mittels Zwangsmaßnahmen in die Schutzsphäre Verteidiger/Mandant umfassend geregelt sind, muss das für den speziellen Fall des mündlichen Kontakts doch noch nicht das letzte Wort sein. Zwar ist § 160a Abs. 4 StPO die lex posterior, dennoch lassen es die Regeln der Auslegung zu, wie bisher den § 148 Abs. 1 StPO als gleichrangige Sonderregelung einzustufen. Insbesondere gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber die bewährte Rechtsprechung des BGH zur Abhörfreiheit des Verteidigertelefons auch im Falle des Strafvereitelungsverdachts über Bord werfen wollte. Auch jetzt gibt es keine abschließende Regelung des Schutzes des Geheimnisbereichs

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Puschke/Singelnstein NJW 2008, 117.

Fernwirkungen des § 148 StPO

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der Berufsträger. Das zeigt z.B. die nach wie vor geltende Sonderregelung in §§ 31 ff. EGGVG. Dementsprechend kann auch heute noch § 148 StPO als eine Norm eingestuft werden, die das Kontaktrecht zum Strafverteidiger gleichrangig zu § 160a StPO regelt. Die Gesetzesmaterialien stehen dieser Lösung ebenfalls nicht entgegen. Zwar heißt es auch dort zunächst, die Neuregelung (damals noch die eines geplanten § 53b StPO) gelte „grundsätzlich bei allen Ermittlungsmaßnahmen“9, diese Feststellung bezog sich aber offensichtlich nur auf die Ablehnung einer Differenzierung zwischen verdeckten und offenen Ermittlungsmaßnahmen. Die zur Begründung der Neuregelung gewählten Formulierungen deuten eher darauf hin, dass man seinerzeit die im damals geltenden Recht allgemein anerkannten besonderen Erhebungsverbote gegenüber dem Strafverteidiger nicht allumfassend beseitigen wollte. Man setzt sich nur mit den speziellen Gesetzesklauseln (§§ 97, 100c Abs. 6 StPO) auseinander, während kein Wort zur völlig unangefochtenen Rechtsprechung des BGH verloren wird, wonach das Verteidigertelefon auch im Falle des Strafvereitelungsverdachts nicht abgehört werden darf. Offensichtlich geht man darauf nicht ein, weil sich dies aus der Norm des § 148 Abs. 1 StPO ergibt, die schließlich nicht geändert wurde. So betrachtet lassen die Materialien auch die Deutung zu, dass die Neuregelung des § 160a StPO neben die Regelung zum Kontaktrecht in § 148 StPO treten soll und damit auch die Beschränkungen des Geheimnisschutzes durch § 160a Abs. 4 S. 1 StPO neben die – immanenten – Schranken des § 148 StPO. Die durch die Neuregelung des § 160a StPO geschaffene Rechtslage im Falle eines Strafvereitelungsverdachts gegen den Strafverteidiger kann dann auf der Basis des geltenden Rechts ergänzt durch die bisherige Rechtsprechung wie folgt umschrieben werden: (1) Alle Zwangsmittel jenseits eines mündlichen Kontakts, die die Geheimnissphäre Verteidiger/Mandanten betreffen könnten (z.B. Durchsuchungen), dürfen gemäß § 160a Abs. 4 StPO nur durchgeführt werden, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass der Verteidiger an der Tat oder an einer Strafvereitelung beteiligt ist. (2) Ein Eingriff in den mündlichen Kontakt im Wege des großen Lauschangriffs darf sich auf der Basis des § 100c Abs. 6 S. 3 i.V.m. § 160a Abs. 4 StPO im Falle des Verdachts einer Katalogtat auch gegen den Verteidiger richten, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht der Mittäterschaft oder der Strafvereitelung etc. begründen.

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BR-Drs. 275/07, S. 51.

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(3) Im Übrigen darf ein gezielter Eingriff in den mündlichen Kontakt zwischen Beschuldigtem und seinem Verteidiger (jenseits des Spezialfalles der Wohnraumüberwachung im Fall bestimmter Katalogtaten) gem. § 148 Abs. 1 StPO generell nicht durchgeführt werden (insbes. nicht im Wege der Telefonüberwachung), es sei denn, es bestehe Mittäterverdacht. Dieses – zugegebenermaßen äußerst verwirrend geregelte und derzeit in Rechtsprechung und Schrifttum noch völlig ungeklärte – Schutzsystem zugunsten der Sphäre Verteidiger/Mandant macht jedenfalls eines deutlich: Sollte der Beschuldigte in einem Zeitraum, in dem sein eigener Strafprozess noch nicht abgeschlossen ist, in einem Strafverfahren gegen seinen Verteidiger als Zeuge gehört werden, so kann er jede Aussage über das, was zwischen ihm und seinem Verteidiger im Rahmen der Strafverteidigung besprochen wurde, ohne weitere Konkretisierung der Gefahr eigener Strafverfolgung – also ohne den § 55 StPO zu bemühen – allein schon unter Hinweis auf § 148 Abs. 1 StPO verweigern. Das werden voraussichtlich auch diejenigen nicht leugnen, die ansonsten bei Zwangsmaßnahmen gegen den Berufsgeheimnisträger jenseits der Sonderregelungen in den §§ 97 und 100c Abs. 6 StPO nur noch die Eingriffsschranke des § 160a StPO akzeptieren.

III. Zu den bisher nicht geklärten Rechtsfragen gehört es allerdings, ob dasselbe auch dann gilt, wenn das Verfahren gegen den Mandanten bereits rechtskräftig abgeschlossen ist, sei es, dass letzterer verurteilt, sei es, dass er rechtskräftig freigesprochen worden ist, die Staatsanwaltschaft aber nunmehr ein Strafverfahren gegen den Anwalt einleitet. Das wäre z.B. denkbar, weil die Staatsanwaltschaft – wie in dem einleitend dargestellten Fall – dem Verdacht nachgehen will, ob der Anwalt während der Wahrnehmung des früheren Verteidigungsmandats die Grenzen der Strafbarkeit gemäß § 258 StGB überschritten hat. Soweit ersichtlich, fehlen einschlägige Stellungnahmen in Rechtsprechung und Schrifttum. Das Dilemma, in dem sich Anwalt und Mandant jetzt befinden, ist offensichtlich: Der Mandant ist von der Beschuldigten- in die Zeugenrolle geschlüpft, die in der StPO keine entsprechende Sonderregelung erfahren hat. Es wird ihm jetzt also die allgemeine Zeugenrolle zugewiesen, und ein Zeuge muss bekanntlich im Prinzip im Rahmen einer Vernehmung durch die Strafverfolgungsorgane alles preisgeben, was er weiß. Zumindest ist er bei der richterlichen Vernehmung zur wahrheitsgemäßen Beantwortung

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aller Fragen verpflichtet, weil ihm sonst eine Strafbarkeit gemäß §§ 153 ff. StGB droht. Besser erginge es hingegen dem Strafverteidiger, wenn er selbst vernommen würde. Sofern er als Beschuldigter vernommen wird, könnte er von seinem Schweigerecht gemäß § 136 StPO Gebrauch machen. Wird er hingegen (z.B. im Wege von Vorermittlungen) erst als Zeuge gehört, so kann er sich auch nach Abschluss des Strafverfahrens auf § 53 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 StPO berufen. Das Schweigerecht gilt auch nach Abschluss des Mandats und auch nach Eintritt der Rechtskraft. Es sieht also auf den ersten Blick so aus, als seien die Rechte des Mandanten und späteren Zeugen hinsichtlich der Auskunftspflicht schon im Ansatz geringer als diejenigen des Anwalts. Zwar kann er sich natürlich immer auch freiwillig dazu bereit erklären, Auskunft zu erteilen, wenn er hingegen dies nicht möchte, so scheint er auf die Schutznorm des § 55 StPO angewiesen zu sein. Das hieße, dass er die Auskunft nur verweigern dürfte, wenn ihm weitere eigene Risiken drohten. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, könnte man erwägen, dem Beschuldigten ausnahmsweise den „Beschuldigtenstatus“ zu erhalten, und ihm in analoger Anwendung des § 136 StPO ein partielles, auf das Verteidigungsverhältnis bezogenes Auskunftsverweigerungsrecht zuzugestehen. Ansätze, auf diese Weise dem Beschuldigten zu helfen, wenn er im Laufe des Strafverfahrens von der Beschuldigten- in die Zeugenrolle gedrängt wird, hat es insbesondere im Falle mehrerer Mitbeschuldigter immer wieder gegeben. In Teilen des Schrifttums wird diesbezüglich ein materieller oder (eingeschränkt) ein formell-materiellrechtlicher Beschuldigtenbegriff vertreten10. Gerade unser Jubilar Gerhard Fezer gehört zu den treuesten Anhängern eines materiellen Verbrechensbegriffes11. In der Rechtsprechung haben sich diese Tendenzen aber nicht durchsetzen können. Zumindest nach rechtskräftiger Beendigung des Verfahrens gegen den früheren (Mit-)Beschuldigten kann der frühere Beschuldigte nach ganz herrschender und auch zutreffender Ansicht als Zeuge vernommen werden, weil er nunmehr seine besondere Schutzwürdigkeit verliert12. Mangels Beschuldigtenstellung entfällt also jede Möglichkeit des Verweises auf das Aussageverweigerungsrecht des § 136 StPO. Sofern nur die ausdrückliche Regelung der StPO für die Lösung des Problems herangezogen wird, ob den früheren Beschuldigten und jetzigen Zeu-

10 Beulke (Fn. 1), Rn. 185; Geppert, JK 5/06, StPO § 55/5; Lenckner, FS Peters (1974), S. 337; C. Prittwitz, Der Mitbeschuldigte im Strafprozess (1984), S. 139 ff.; siehe auch Montenbruck ZStW 89 (1977), 878 ff.; Lesch JA 1995, 157. 11 Fezer, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. (1995), 13/30 und 32. 12 BGH NJW 2005, 2166; Beulke (Fn. 1), Rn. 185.

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gen eine Auskunftspflicht trifft, bleibt also in der Tat nur der Ausweg des § 55 StPO. Sollte im Einzelfall die Gefahr bestehen, dass sich der Verurteilte durch Offenbarung früherer Verteidigungsinterna der Gefahr weiterer Verfolgung von Straftaten bzw. Ordnungswidrigkeiten aussetzt, so kann er unter Hinweis auf § 55 StPO schweigen. Dieser Weg weist jedoch vielerlei Tücken auf, die ihn als höchst problematisch erscheinen lassen. Erneut ist vor allem auf die Verpflichtung des Zeugen hinzuweisen, die Verhörsperson zunächst davon zu überzeugen, dass derartige Gefahren bestehen. Grundsätzlich gewährt § 55 StPO dem Zeugen auch in dem Fall, dass er in die Angelegenheit selbst involviert ist, kein Recht zur vollständigen Verweigerung der Aussage13. Zwar kann im Einzelfall eine Totalverweigerung gerechtfertigt sein, sofern die gesamte in Frage kommende Aussage eines Zeugen mit einem möglicherweise strafbaren oder ordnungswidrigen Verhalten in so engem Zusammenhang steht, dass nichts übrig bleibt, was er ohne Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit aussagen könnte14. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, muss jedoch erst im Wege des Freibeweises geklärt werden. Geht es um einen Vorwurf der Strafvereitelung durch den Verteidiger, so wird der zuvor bereits rechtskräftig verurteilte Beschuldigte und jetzige Zeuge weitere Gefahren der Strafverfolgung häufig nicht plausibel darstellen können. Dies gilt insbesondere, wenn der Verteidiger erfolglos „gewirkt“ haben sollte und der Beschuldigte entsprechend dem Antrag des Staatsanwaltes verurteilt worden oder wenn – beispielsweise im Ordnungswidrigkeitenverfahren – inzwischen Verjährung eingetreten ist. Selbst in dem Fall, dass der Beschuldigte vorher frei gesprochen worden ist bzw. eine im Verhältnis zu der von ihm verwirklichten Schuld zu geringe Strafe erhalten hat, wird eine Auskunft über eine möglicherweise strafbare Unterstützungsleistung seitens des Verteidigers nur selten unter Hinweis auf § 55 StPO verneint werden können. Das Verweigerungsrecht ist dann nämlich daran gekoppelt, dass für den Abgeurteilten eine Gefahr der Wiederaufnahme des Verfahrens besteht15. Eine Wiederaufnahme zu Ungunsten des Verurteilten ist jedoch, wie sich aus § 362 StPO ergibt, an sehr enge Bedingungen geknüpft, die vielfach nicht erfüllt sein dürften. Selbst die Offenbarung verbotener Verteidigungshandlungen und entsprechender Maßnahmen des Anwalts dürfte zumeist nicht mit einem „glaubwürdigem Geständnis“ i.S.v. § 362 Nr. 4 StPO gleichzusetzen sein und eine Wieder-

OLG Stuttgart NJW 1959, 760. BGHSt 10, 104 (105); LR/Dahs, 25. Aufl. (1998), § 55 Rn. 6. 15 BGH NStZ-RR 2005, 316; Beulke, Strafprozessrecht, 9. Aufl. (2006), Rn. 195, Fn. 46. 13 14

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aufnahme zur Herbeiführung einer höheren Strafe wegen derselben Rechtsnorm ist sowieso generell unzulässig; § 363 Abs. 1 StPO. Mangels Wiederaufnahmerisiko versagt also in sehr vielen Fällen auch § 55 StPO trotz der nicht zu übersehenden Bedrängnis, in die ein ehemaliger Beschuldigter geraten kann. Sowie irgendwelche Zweifel hinsichtlich der Aussagepflicht bleiben, muss er zumindestens Teilaussagen machen, was de facto darauf hinausläuft, dass er – am Maßstab des § 55 StPO gemessen – Teile der Verteidigungsstrategie offenbaren muss. Eine solche Offenbarungspflicht widerspricht aber dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Verteidiger und Mandant, so wie er zumindest bezüglich des mündlichen Kontakts in § 148 StPO geregelt ist. Das Vertrauensverhältnis zwischen den Angehörigen bestimmter Berufe und deren Kunden soll auch im Allgemeininteresse16 nicht durch die Besorgnis behindert werden, dass der Berufsträger später einmal als Zeuge darüber vernommen werden könnte, was ihm anvertraut oder bekannt geworden ist17. Auch eine Verwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts wegen Missbrauchs, z.B. wegen des Vorwurfs durch die Art der Strafverteidigung eine Strafvereitelung gemäß § 258 StGB begangen zu haben, kann, anders als bei der Verwirkung der Beschlagnahmefreiheit nach § 97 StPO, bei dem zeugnisverweigerungsberechtigten Anwalt nicht eintreten18. Speziell der Beschuldigte im Strafverfahren ist aber insoweit nicht minder schutzwürdig als der Berufsträger. Es muss also jenseits des § 55 StPO nach einer allgemeinen Regelung gesucht werden, die einen parallelen Schutz von Verteidiger und Mandant ermöglicht. Angeknüpft werden kann an die bereits erwähnten Gedanken zu § 148 StPO, der sich in seiner Auslegung durch Rechtsprechung und Literatur zu einer analogiefähigen generellen Schutznorm zu Gunsten des Verteidiger-Mandanten-Kontakts entwickelt hat. Es konkretisiert sich die Notwendigkeit, dass die Zeit nach Abschluss des Verfahrens bezüglich der Auskunftspflicht des Mandanten ebenso so zu behandeln ist wie die vorangehende Phase des Erkenntnisverfahrens. Allerdings scheitern derartige Analogieerwägungen dann, wenn eine Vergleichbarkeit der Interessenlage letztlich doch nicht erkennbar wäre. Das Schweigen von Rechtsprechung und Literatur hinsichtlich der Möglichkeit eines Auskunftsverweigerungsrechts des früheren Beschuldigten bezüglich der Interna der Verteidigung nach Abschluss des früheren Verfahrens scheint eher darauf hinzudeuten, dass man einer analogen Anwendung des

Geppert Jura 1991, 135. BVerfGE 38, 323; LR/Dahs (Fn. 14), § 53 Rn. 1. 18 LR/Dahs (Fn. 14), § 53 Rn. 29. 16 17

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§ 148 StPO in dieser Fallkonstellation nicht in Betracht zieht. Was sollte der ehemalige Mandant jetzt noch zu befürchten haben, wenn er seinen Verteidiger ans Messer liefert, sofern für ihn keine Wiederaufnahmerisiken bestehen? Spricht nicht der Eintritt der Rechtskraft für eine endgültige Zäsurwirkung, so wie das die neuere Rechtsprechung auch beim Zeugnisverwiegerungsrecht des Angehörigenzeugen vertritt19? Diese Erwägungen erscheinen aber nur auf den ersten Blick richtig. Eine genaue Analyse des Verteidiger-Mandantenverhältnisses offenbart, dass die Schutzwürdigkeit der Geheimnissphäre zwischen beiden durchaus nicht mit Eintritt des rechtskräftigen Verfahrensabschlusses erlischt. Zwar hängt der Verteidiger seinerseits stets am „Tropf“ des Mandanten, denn wenn letzterer sich zur Zeugenaussage entschließt, so ist er ebenso machtlos, als wenn der Mandant die schriftlichen Verteidigungsunterlagen nachträglich Polizei oder Staatsanwaltschaft zur Verfügung stellt. Wenn jedoch der Abgeurteilte die weitere Wahrung der Geheimnissphäre wünscht, so sollten wir seine Geheimhaltungsinteressen höher bewerten als das Interesse des Staates an einer nachträglichen Ahndung unrechtmäßigen Anwaltsvorgehens. Das Verteidiger-Mandantenverhältnis gleicht anderen engen Lebensbeziehungen, die auch nach ihrer Beendigung Fernwirkungen zeitigen. Verwiesen sei z.B. auf das Zeugnisverweigerungsrecht des Ehegatten bzw. Lebenspartners auch nach Ehescheidung bzw. Aufhebung (§ 52 Abs. 1 Nr. 2 und 2a StPO). Diese Nachwirkungen des Schutzbereichs haben auch mit Erlass der rechtskräftigen Entscheidung nicht an Bedeutung verloren. Die Beziehung Verteidiger-Mandant sollte niemals seitens des Staates ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Ein Anwalt, der fürchten müsste, dass Polizei und Staatsanwaltschaft unmittelbar nach Eintritt der Rechtskraft vom Verurteilten die Offenbarung aller Verteidigungsinterna verlangen und dies notfalls auch mittels Beugehaft (§ 70 StPO) durchsetzen dürften, wäre in seinem Kampf für den Beschuldigten von vornherein in höchstem Maße beeinträchtigt. Im Hinblick auf zukünftige Offenbarungspflichten des später zum Zeugen mutierten Mandanten müsste er praktisch von vornherein eine „gläserne“ Verteidigung praktizieren. Die Geheimnissphäre des § 148 StPO wäre nur wenig wert, wenn sie sich zugleich mit dem Verfahrensabschluss verflüchtigte. Um es nochmals klarzustellen: Die Ausdehnung des § 148 StPO auf den Zeitraum nach Eintritt der Rechtskraft betrifft nicht die immer bestehende Möglichkeit, dass der Mandant später freiwillig alle Details des früheren

BGHSt 38, 96 (101); BGH NJW 1993, 2326; anders noch BGHSt 34, 215 (216); ablehnend zur neueren Rechtsprechung Beulke (Fn. 1), Rn. 192. 19

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Prozessgeschehens Dritten offenbart. Insoweit weiß jeder erfahrene Anwalt, dass sein Mandant sehr schnell zu seinem größten Feind mutieren kann, wenn er mit den Diensten des Anwalts unzufrieden ist und er vermeidet es strikt, sich via strafbarer Machenschaften in die Hände seines Mandanten zu begeben20. Bei der hier diskutierten Fernwirkung des § 148 StPO geht es allein darum, dass eine zwangsweise durchsetzbare Auskunftspflicht abgelehnt wird, die es dem Staat ermöglichte, das ehemals geheime Verhältnis zwischen Anwalt und Mandant bis in die letzten Winkel hinaus auszuleuchten. Wo dürfen die Ermittlungen der Polizei, zu deren Aufgaben es gehört, Straftaten zu erforschen (§ 163 Abs. 1 S. 1 StPO) beginnen? Wo müssen sie aufhören? Wie weit darf der Staatsanwalt gehen? Unter dem Deckmantel, nur strafbare Sachverhalte aufklären zu wollen, könnten die Strafverfolgungsorgane ihre Recherchen umfassend betreiben. Wenn es keine nachträgliche Schutzsphäre zwischen Beschuldigtem und Verteidiger gäbe, müsste der frühere Beschuldigte nunmehr als Zeuge alles offenbaren, wonach die Verhörsperson fragt. Die Strafverfolgungsorgane werden den Verdacht, ob der Verteidiger stets im sachlich begründeten Schutzinteresse seines Auftraggebers gewirkt hat, nur klären können, wenn sie wirklich sämtliche Verteidigungsinterna kennen. Die Abgrenzung zwischen verbotenem und erlaubtem Verhalten ist so diffizil, die „Gratwanderung“ des rechtmäßig handelnden Strafverteidigers so schmal21, dass keine Frage ausgespart bliebe. Vielfach wird bei der Strafvereitelung und auch bei der Geldwäsche gem. § 261 StGB22 die Grenzziehung zwischen erlaubtem und verbotenem Verhalten von der Rechtsprechung nach subjektiven Kriterien vorgenommen, so dass über den Tatvorwurf erst bei voller Kenntnis des Informationsstandes des Strafverteidigers entschieden werden könnte. Wie soll herausgefunden werden, ob der Verteidiger dem von der h.A. anerkannten Verbot der Lüge und „bewusster“ Irreführung23 zuwidergehandelt hat, wenn nicht die jeweilige Vorstellungswelt des Verteidigers und die darauf aufbauende innere Struktur der Abwehr des staatlichen Angriffs bekannt wäre? Im Rahmen ihrer Ermittlungstätigkeit könnte also eine neugierige

Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl. (2005), Rn. 30 ff. Vertiefend Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren (1980), S. 218 ff.; ders., Die Strafbarkeit des Verteidigers (1989), passim; Müller/Gussmann, Berufsrisiken des Strafverteidigers (2007), Rn. 9 ff. mit vielen weiteren aktuellen Nachweisen. 22 BVerfGE 110, 226; zur subjektiven Abgrenzung statt aller Beulke, FS Rudolphi (2004), S. 391. 23 Vertiefend Gaede, Fairness als Teilhabe – Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gem. Art. 6 EMRK (2007), S. 546. 20 21

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Staatsanwaltschaft alles über den Verteidiger erfahren, was sie interessierte. Speziell bei Strafverteidigern, die schon häufiger „Schwierigkeiten bereitet haben“ wäre es den Strafverfolgungsorganen möglich, auch erlaubte Verteidigungsstrategien zu eruieren. Als „Nebeneffekt“ hätte dieses Vorgehen den Vorteil, dass man in künftigen Verfahren gegenüber diesem Anwalt schlagkräftiger reagieren könnte. Ein einfacher Tatverdacht gegen den Anwalt ist leicht zu bejahen. Auch der Verdacht des untauglichsten aller untauglichen Versuche seitens des Anwalts, dem Beschuldigten mit unrechtlichen Mitteln geholfen zu haben, könnte Anlass zu Recherchen sein und es hülfe einem Anwalt wenig, wenn zwar das Ermittlungsverfahren gegen ihn später eingestellt würde, seine (erlaubten) Schachzüge aber zum Standardwissen örtlicher Strafverfolger gehörten. Zutreffend wird von Anwaltsseite darauf hingewiesen24, dass gerade das Rätselraten bei Staatsanwaltschaft und Gericht darüber, ob das was, der Verteidiger als denkbaren Tatablauf vorträgt, aus der Ideenwelt des Verteidigers oder der seines (bzw. bei mehrfach ähnlichen Einlassungen seiner) Mandanten stammt, einen Teil der Verteidigungsstrategie ausmacht. All das soll bitte auch in Zukunft nicht – und zwar auch nicht nachträglich – ans Licht der (Verfahrens-)Öffentlichkeit gezerrt werden. Nirgendwo existiert eine Vorschrift, die ein weites Fragerecht der Strafverfolgungsorgane beschränken könnte, etwa nach dem Grundsatz, dass nur eindeutig strafbares Anwaltsvorgehen angesprochen werden dürfte. Themenbegrenzte Beweiserhebungsverbote wären bei Ablehnung der Fernwirkung des § 148 StPO eben gerade nicht denkbar. Die Strafverfolgungsorgane, die wegen der Sperrwirkung des § 53 StPO an den Anwalt auch nach Verfahrensabschluss nicht „herankommen“ könnten, brauchten also nur den Umweg über die Vernehmung des ehemaligen Beschuldigten zu wählen, um sich alle „Berufsgeheimnisse“ des Anwalts zueigen zu machen. Diese Vision entspricht nicht dem, was unter einem rechtsstaatlichen Verfahren und einer freien Advokatur zu verstehen ist. Das besondere Verhältnis von Strafverteidigung und Beschuldigten ist auch nicht vergleichbar mit demjenigen der anderen, in § 53 StPO aufgelisteten Berufsträgern zu ihren jeweiligen Mandanten. Bei letzteren werden ähnliche Fernwirkungen des persönlichen Kontakts nicht im gleichen Maße anzuerkennen sein. Die Sondersituation des Strafverteidigers zu seinem Mandanten ergibt sich daraus, dass der Staat mittels des Strafverfahrens den Bürger zwangsweise in die Beschuldigtenposition gebracht hat, in der letzterer nunmehr die Hilfe durch den Verteidiger benötigt – im Falle der notwendigen Verteidigung sogar alternativlos. Aus der dauerhaften Subjekt-

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Hamm NJW 2006, 2084 (2088); zustimmend Müller/Gussmann (Fn. 21), Rn. 8.

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stellung des Beschuldigten, die ihre Bedeutung auch im Vollstreckungsverfahren sowie in den sich anschließenden Phasen behält und aus dem Grundsatz der freien Advokatur ergibt sich, dass die Beziehung Mandant – Verteidiger mehr Schutz verdient als die anderer Berufsträger. Spätestens seit der Geldwäscheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts25 dürfte es sich herumgesprochen haben, dass wir die Berufsgruppen der Strafverteidiger mit ganz besonderer Elle zu messen haben. Das Grundrecht des Anwalts aus Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistet diesem auch im Allgemeininteresse eine von staatlicher Kontrolle und Bevormundung freie Berufsausübung und schützt dazu „insbesondere das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant“26. Bei Abwägung der für und gegen eine Ausweitung des § 148 StPO auf den Zeitraum nach Rechtskrafteintritt sprechenden Argumente, senkt sich die Waage zugunsten der Anerkennung weiterer Auskunftsverweigerungsrechte des Zeugen. Nur so wird das Recht des Beschuldigten umfassend gewährleistet, völlig frei und ohne jede staatliche Einflussnahme seinen Strafverteidiger mündlich zu kontaktieren. Zusammenfassend bleibt also festzuhalten: Wird ein frührer Beschuldigter nach rechtskräftigem Abschluss seines Strafverfahrens in einem neuen Strafverfahren, das gegen seinen früheren Strafverteidiger eröffnet worden ist, nunmehr als Zeuge gehört, weil die Strafverfolgungsorgane durch seine Vernehmung herausfinden möchten, ob sich der Anwalt durch die Art der früheren Strafverteidigung strafbar gemacht hat (z.B. gemäß § 258 StGB oder gem. § 261 StGB), so kann sich der jetzige Zeuge darauf berufen, dass er zu den Interna der früheren Verteidiger-Mandanten-Beziehung nichts aussagen möchte. Im obigen Beispiel steht also B ein Auskunftsverweigerungsrecht zur Seite. Ein solches Recht besteht nicht etwa nur im Falle der Gefahr eigener weiterer Strafverfolgung (dann ist ein Eingreifen § 55 StPO unproblematisch), sondern es gilt vielmehr umfassend. Es ergibt sich aus § 148 StPO, dessen Garantie eines uneingeschränkten freien mündlichen Kontakts zwischen Verteidiger und Beschuldigtem insoweit eine Fernwirkung entfaltet. Sowohl Verteidiger als auch Beschuldigter können auch nach Verfahrensabschluss die von ihnen gewünschte Geheimsphäre wahren.27

BVerfGE 110, 226. BVerfGE 110, 226 (251 ff.); BVerfG NJW 2006, 2974 (2975). 27 Ebenso Schäfer, FS Hanack (1999), S. 102; im Ergebnis auch Bosbach (Fn. 1), S. 250 (§ 68a StPO analog ) und Welp, FS Gallas (1973), S. 416. 25 26

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Ich hoffe, mit diesem Plädoyer zugunsten eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens, in dem gerade nicht der Zweck jedes Mittel heiligt und in dem trotz der modern gewordenen schrankenlosen Aufklärungswut hoch gerüsteter Strafverfolger die besondere Funktion des Strafverteidigers nach wie vor respektiert wird, ganz im Sinne unseres Jubilars Stellung bezogen zu haben. Ich wünsche Gerhard Fezer ein langes Leben in Gesundheit und ungebrochener Schaffenskraft.

Kritik der Vorratsdatenspeicherung DIETHELM KLESCZEWSKI

Am 1. Januar 2008 ist das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG1 in Kraft getreten. Gemäß ihrem Art. 1 Abs. 1 will diese Richtlinie2 die Vorschriften der EU-Mitgliedstaaten über die Pflichten von Anbietern öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder Betreibern eines öffentlichen Kommunikationsnetzes im Zusammenhang mit der Vorratsspeicherung bestimmter Daten, die von ihnen erzeugt oder verarbeitet werden, harmonisieren. Bei denjenigen Bestimmungen des Gesetzes, die der Umsetzung dieser Richtlinie dienen, handelt es sich um die umstrittensten Teile dieses Gesetzes, die auch in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt3 und Zehntausende dazu bewogen haben, Verfassungsbeschwerde einzulegen4. Neben einer grundlegenden Reform von § 100g StPO fügt dieser Teil des Gesetzes §§ 113a, 113b in das TKG ein.5 Die grundlegenden Regelungen lauten: „Wer öffentlich zugängliche Telekommunikationsdienste für Endnutzer erbringt, ist verpflichtet, von ihm bei der Nutzung seines Dienstes erzeugte oder verarbeitete Verkehrsdaten nach Maßgabe der Absätze 2 bis 5

1 Gesetzentwurf, BT-Drs. 16/5846, S. 9 ff.; Stellungnahme des Bundesrates, BR-Drs. 275/07 (B), S. 1 ff.; Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages, BT-Drs. 16/6979, S. 8 ff.; der Bundesrat hat keinen Einspruch eingelegt, Bundesrat, Stenografischer Bericht, Plenarprotokoll 839, S. 397 (399). 2 Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsdatenspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt und verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG, ABl. EU 2006, Nr. L 105, S. 54 ff. 3 Vgl. nur H. Prantl, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 294 v. 21.12.2007, S. 4 (6). 4 Näheres unter: www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/51/70/lang,de. Mittlerweile ist eine einstweilige Anordnung ergangen, vgl. BVerfG Beschl. v. 11.3.2008 – 1 BvR 256/08 (abrufbar unter www.bverfg.de). 5 BGBl. 2007 I S. 3198.

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sechs Monate im Inland oder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu speichern.“ (§ 113a Abs. 1 S. 1 TKG) „Der nach § 113a Verpflichtete darf die allein auf Grund der Speicherungsverpflichtung nach § 113a gespeicherten Daten 1. zur Verfolgung von Straftaten, 2. zur Abwehr von erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder 3. zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, des Bundesnachrichtendienstes und des Militärischen Abschirmdienstes an die zuständigen Stellen auf deren Verlangen übermitteln, soweit dies in den jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen unter Bezugnahme auf § 113a vorgesehen und die Übermittlung im Einzelfall angeordnet ist; für andere Zwecke mit Ausnahme einer Auskunftserteilung nach § 113 darf er die Daten nicht verwenden.“ (§ 113b S. 1 TKG) Verkehrsdaten geben darüber Aufschluss, wer wann mit wem zu welcher Zeit und von welchem Ort aus telefoniert oder elektronisch kommuniziert hat. Sie sind namentlich für Strafverfolgungsbehörden von besonderer Bedeutung, lassen sich mit ihnen doch Bewegungsbilder in der realen wie in der virtuellen Welt erstellen sowie geschäftliche und freundschaftliche Kontakte ermitteln. Ihre Aufzeichnung und Aufbewahrung berührt daher den Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 Abs. 1 GG) und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG). Gemäß § 97 Abs. 3 S. 1 f. TKG war ihre Speicherung nach Beendigung der Verbindung bisher nur zulässig, soweit dies zu Abrechnungszwecken erforderlich war. Dementsprechend konnten sich die Auskunftsersuchen nach § 100g Abs. 1 StPO a.F. nur auf diese Daten beziehen. Mit der Neuregelung werden nun bestimmte Diensteanbieter vom Staat in die Pflicht genommen, Verkehrsdaten auch dann vorzuhalten, wenn sie dieser selbst nicht, bzw. nicht mehr bedürfen. Hierin ist eine Vorratsdatenspeicherung zu sehen, deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieser Beitrag überprüfen möchte. Zunächst komme ich auf die europarechtlichen Vorgaben zu sprechen, die der Novelle des TKG zugrunde liegen (A. I.). Sodann wird die europarechtliche Rechtmäßigkeit der Richtlinie untersucht (A. II.), bevor ich mich der Umsetzung ins deutsche Recht und deren verfassungsrechtlicher Zulässigkeit zuwende (B.).

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A. Der europarechtliche Rahmen I. Die Vorgaben des europäischen Sekundärrechts Die Art. 16–21 der sog. Cybercrime-Convention6 des Europarates vom Jahre 2001 schreiben den Vertragsstaaten vor, sicherzustellen, dass bestimmte Inhalts-, Verkehrs- und Bestandsdaten von Telekommunikation zur Verfolgung der in der Konvention näher umschriebenen Computerstraftaten erhoben und verwendet werden können.7 Im Jahre 2004 bemühte sich der Europäische Rat darum, zu einheitlichen Regelungen für die Vorratsdatenspeicherung im Wege des Rechtsetzungsverfahrens in der „Dritten Säule“ zu kommen.8 Nachdem sich die Mitgliedsstaaten nicht auf diesen Rahmenbeschluss hatten einigen können9, wurde zu dieser Frage die Richtlinie 2006/24/EG erlassen.10 Diese Richtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten, Maßnahmen zu treffen, damit die Diensteanbieter Verkehrs– und Standortdaten für mindestens sechs Monate zum Zwecke der Verfolgung von schweren Straftaten sechs Monate auf Vorrat speichern, Art. 1 Abs. 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 6. Dabei stellt es Art. 12 Abs. 1 den Mitgliedsstaaten frei, längere Speicherungsfristen oder auch die Speicherung anderer Datenarten vorzusehen. In Art. 5 Abs. 1 findet sich ein Katalog der vorzuhaltenden Daten, zu denen vor allem die Rufnummer oder Benutzerkennung der beteiligten Anschlüsse, Name und Anschrift der beteiligten Nutzer, Datum, Uhrzeit von Anfang und Ende des Kommunikationsvorgangs, den in Anspruch genommenen Dienst, bei mobilen Anschlüssen auch die Geräte- und Kartennummer sowie die Standortkennung zählen. Diese Daten sind freilich nur insofern zu speichern, soweit sie anfallen, wenn die betreffenden Kommunikationsdienste bereitgestellt werden, Art. 3 Abs. 1.

Übereinkommen über Computerkriminalität vom 23. November 2001 (SEV-Nr. 185), abrufbar unter: www.conventions.coe.int/Treaty/GER/Treaties/Html/185.htm; dazu: Breyer DuD 2001, 592; Dix DuD 2001, 588; Gercke MMR 2004, 728 und 801. 7 Näher: Gercke MMR 2004, 801 (806). 8 Entwurf eines Rahmenbeschlusses über die Vorratsspeicherung von Daten, die in Verbindung mit der Bereitstellung öffentlicher elektronischer Kommunikationsdienste verarbeitet und aufbewahrt werden, oder von Daten, die in öffentlichen Kommunikationsnetzen vorhanden sind, für die Zwecke der Vorbeugung, Untersuchung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten, einschließlich Terrorismus, Rat der Europäischen Union, Drs. 8958/04. 9 Dazu Breyer StV 2007, 214 (215). 10 Näher: Breyer RDV 2003, 218; ders. StV 2007, 214 (215 f.); Gitter/Schnabel MMR 2007, 411; Hülsmann DuD 2004, 734; Kühling K & R 2004, 105; Zöller GA 2007, 393 (407 ff.). 6

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II. Die Nichtigkeit der Richtlinie nach Europarecht und ihre Geltendmachung Gegen die formelle (1.) und materielle Rechtmäßigkeit (2.) der Richtlinie bestehen durchgreifende Bedenken, die am besten in einem Vertragsverletzungsverfahren zu klären gewesen wären (3.). 1. Bekanntlich folgt die Rechtssetzungskompetenz der EG dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 249 Abs. 1 EGV, Art. 5 EUV. Insbesondere bedeutet dies, dass die Rechtssetzungsorgane der EG nur dort tätig werden dürfen, wo die EG-Verträge die Verbandskompetenzen der Gemeinschaften begründen.11 Keine der im EGV zu findenden Spezialermächtigungen räumen ihr jedoch eine Kompetenz zur Regelung strafprozessualer Fragen ein.12 Für die Zuständigkeit der EG wird zwar geltend gemacht, zur Herstellung eines einheitlichen Binnenmarktes (Art. 95 Abs. 1 EGV) seien die Standards der Speicherung von Telekommunikationsdaten zu vereinheitlichen.13 Dies ist jedoch nur dann zulässig, wenn bei den EG-Regelungen das Funktionieren des gemeinsamen Marktes im Vordergrund steht.14 Die Richtlinie 2006/24/EG macht jedoch lediglich Mindestvorgaben. Ein Harmonisierung kann von ihr daher weder erreicht werden, noch wird diese von ihr auch nur angestrebt.15 Im Vordergrund steht vielmehr, sicherzustellen, dass Verkehrsdaten zum Zwecke der Strafverfolgung zur Verfügung stehen, Art. 1 Abs. 1 letzter Hs. Richtlinie 2006/24/EG. Ferner lässt sich die Kompetenz nach Art. 95 Abs. 1 EGV auch nicht darauf stützen, es stehe eine Datenverarbeitung in Rede, die dazu diene, Dienstleistungen zu erbringen. Die Richtlinie erstrecke sich nur auf Daten, welche die Diensteanbieter erheben, wenn sie Telekommunikation bereitstellten. Doch geht es ihr darum, eine Pflicht zur Speicherung dieser Daten jenseits des Zeitraumes zu begründen, für den sie für betriebliche Erfordernisse benötigt werden. Die Dinge liegen

Streinz, Europarecht, 7. Aufl. (2005), Rn. 436. Instruktiver Überblick über die Kompetenznormen mit Affinität zum Strafrecht bei Hecker, Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. (2007), § 8 Rn. 45–62. 13 Vgl. die Juristische Analyse vom 23. 2. 2005, SEC (2005) 420, die für die Europäische Kommission erstattet wurde (abrufbar unter: www.statewatch.org/news/2005/apr/Commissionlegal-opinion-data-rentention.pdf), bzw. das Rechtsgutachten des Juristischen Dienstes des Europäischen Rates vom 5. 4. 2005 (abrufbar unter: www.statewatch.org/news/2005/apr/ Council-legal-opinion-data-rentention.pdf). Dazu auch BT-Drs. 16/5846, S. 29. 14 EuGHE I 2002, S. 11453 = EuGRZ 2003, 248; vgl. w. Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. (2005), § 18 Rn. 17. 15 Vgl. Breyer StV 2007, 214 (215); Zöller GA 2007, 393 (407 ff.); Gitter/Schnabel MMR 2007, 411 (412 f.); Brinkel/Lammers ZUM 2008, 11 f. 11 12

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hier wie bei der Fluggastdatenübermittlung an die USA. Den zur Regelung dieser Materie ergangenen Beschluss des Europäischen Rates hat der EuGH vor kurzem wegen fehlender Kompetenz für nichtig erklärt.16 Nicht zuletzt lässt sich die Zuständigkeit der EG auch nicht auf einer Annexkompetenz zu Art. 95 Abs. 1 EGV herleiten. Daran ließe sich nur denken, wenn die Speicherung von Telekommunikationsdaten bereits durch Richtlinien umfassend gemeinschaftsrechtlich geregelt wäre. Hier kommt allenfalls die Datenschutzrichtlinie17 in Betracht. Art. 15 dieser Richtlinie stellt es aber den Mitgliedsstaaten gerade frei, ob sie eine Vorratsdatenspeicherung einführen wollen oder nicht. Damit bezweckt die Datenschutzrichtlinie nicht, restriktive nationalstaatliche Regelungen unter Änderungsvorbehalt zu stellen. Eine derartige Auslegung dieser Regelung würde nicht zuletzt auf kompetenzrechtliche Probleme stoßen. Eine Ermächtigung zu einer solchen Vorratsdatenspeicherung zu den genannten Zwecken wäre nämlich der sog. „Dritten Säule”18 zuzurechnen. Wie sich aus Art. 47 EUV ergibt, haben die Mitgliedstaaten hier jedoch keine Kompetenzen übertragen.19 Dies berücksichtigt auch die Datenschutzrichtlinie selbst. Ihr Erwägungsgrund 11 stellt ausdrücklich fest, dass sie keine Auswirkungen hat auf das bestehende Gleichgewicht zwischen staatlichen Interessen und der Privatsphäre des Einzelnen. Art. 15 der Datenschutzrichtlinie will daher lediglich nicht verbieten, dass ein Mitgliedstaat unter Beachtung bestimmter Voraussetzungen eine Vorratsdatenspeicherung einführt.20 An dieser Kompetenzabgrenzung hat sich auch nichts durch das Urteil des EuGH21 geändert, mit dem er den Rahmenbeschluss über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht22 für nichtig erklärte.23 Zwar geht der

EuGHE I 2006, S. 4721 = NJW 2006, 2029 m. zust. Bespr. Simitis NJW 2006, 2011 (2012); ebenso: Alvaro RDV 2005, 47; Westphal EuZW 2006, 555 (557). 17 Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 7. 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie); ABl. EG 2002, Nr. 201, S. 37 ff. 18 Art. 29 ff. EUV; Der AEU-Vertrag fasst dies neu, vgl. BT-Drs. 16/8300, S. 31 ff. 19 Böse, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar (2002), Art. 29 EUV Rn. 8. 20 Wie hier: Hoeren, Recht der Access-Provider (2004), Rn. 122 f.; a.A. wohl Ohlenburg MMR 2003, 82 (86), die (sogar) einen Kompetenzverstoß annimmt. 21 EuGHE I 2005, 9315 = NVwZ 2005, 1289 m. krit. Anm. Heger JZ 2006, 310; Wegener/Greenawalt ZUR 2005, 585; krit. Bespr. Hefendehl ZIS 2006, 161; Pohl ZIS 2006, 213; kritisch ferner: Kaiafa-Gbandi ZIS 2006, 521; zust. dagegen: Böse GA 2006, 211; Diehm wistra 2006, 366. 22 Rahmenbeschluss über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht, ABl. EG 2003, L 29, S. 55 ff. 23 So aber die Bundesregierung, BT-Drs. 16/5846, S. 29. 16

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EuGH in seiner Entscheidung davon aus, dass in der in Art. 175 EGV enthaltenen Zuständigkeit für den Umweltschutz auch die Kompetenz enthalten sei, die Mitgliedsstaaten zum Erlass von Strafrechtsnormen auf diesem Rechtsgebiet anzuweisen. Doch setzt er damit lediglich – wenngleich auch in sehr pointierter Weise – seine Judikatur fort, mit denen er die Mitgliedsstaaten zur Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht auch dazu verpflichtet, wirksame, abschreckende und verhältnismäßige Sanktionen vorzusehen.24 Diese Rechtsprechung bezieht sich stets auf eine Rechtsmaterie, für welche die EG eine Einzelermächtigung besitzt, und folgert aus der Pflicht zu effektiver Umsetzung die Notwendigkeit zum Erlass von Strafnormen. Sie ist materiell rechtlich gedacht. Das Vorhalten von Verkehrsdaten zum Abruf für Strafverfolgungsbehörden ist dagegen eine strafverfahrensrechtliche Regelung. Strafprozesse werden aber wegen jedweder Tat durchgeführt, einerlei, ob deren Strafbarkeit (in legitimer Weise) auf der Umsetzung von Europarecht beruht oder nicht. Eine Anweisung zum Erlass bestimmter strafprozessualer Zwangsbefugnisse würde daher das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung sprengen. Zur Regelung einer Vorratsdatenspeicherung fehlt der EG daher die Kompetenz. 2. Die Richtlinie 2006/24/EG verletzt aber zudem den Schutzbereich von Art. 8 EMRK, der gemäß Art. 6 Abs. 2 EUV auch von der EU zu achten ist. Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person vor allem das Recht auf Achtung ihres Privatlebens. Dies beinhaltet sowohl den Datenschutz25 als auch das Fernmeldegeheimnis.26 Die Erhebung und Speicherung von Verbindungs- bzw. Verkehrsdaten ohne Einwilligung des Betroffenen berührt damit den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK.27 Zwar kann ein Eingriff gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sein. Dies setzt jedoch neben einer hinreichenden gesetzlichen Ermächtigung voraus, dass der Eingriff zum Schutz der einzelnen, in Art. 8 Abs. 2 EMRK aufgeführten Rechtsgüter erfolgt und in einer demokratischen Gesellschaft

24 EuGHE I 1989, 2965 = EuZW 1990, 99 m. Anm. Bleckmann WuR 1991, 285; Tiedemann EuZW 1990, 100. 25 EGMR, Leander vs. Sweden, 26. 3. 1987 Series A no. 116; eingehend: Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unter besonderer Berücksichtigung der schweizerischen Rechtslage, 2. Aufl. (1999), Rn. 555. 26 Zum Schutz der Vertraulichkeit der Telekommunikation: EGMR, Klass vs. Deutschland, v. 6.9.1978 Series A no. 28 = NJW 1979, 1755 (1756 ff.); Malone vs. United Kingdom, v. 2.8.1984 Series A no. 82 = EuGRZ 1985, 17; P: G. u. J. H. Nr. 44787/98 v. 25.9.2001, RJD 2001-IX, Ziff. 42. (st. Rspr.); näher: Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. (2005), § 22 Rn. 10, 24. 27 EGMR EuGRZ 1985, 17 (23).

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notwendig ist. Geht es um das Sammeln und Speichern von Informationen, stellt der EGMR besondere Anforderungen an die Gesetzesgrundlage. Insbesondere muss sie detailliert festlegen, welche Arten von Informationen gespeichert und unter welchen Umständen Informationen gesammelt werden dürfen, welches Verfahren dabei einzuhalten ist, die Dauer und die Art und Weise der Speicherung, ferner welche Personen auf die Daten zugreifen dürfen, das Verfahren der Abfrage sowie die zulässigen Verwendungszwecke für die abgerufenen Informationen.28 Erforderlich ist eine Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft nur, wenn in Anbetracht des Stellenwerts des garantierten Freiheitsrechts „a pressing social need“ nach ihr besteht, sie einen legitimen Zweck verfolgt und ihre Belastungsintensität nicht außer Verhältnis dazu steht.29 Zwar dienen strafprozessuale Zwangsmaßnahmen einem legitimen Ziel30, auch wenn die Verfolgung von Straftaten als solche nicht in Art. 8 Abs. 2 EMRK aufgeführt ist. Die besondere Problematik der Vorratsdatenspeicherung besteht jedoch darin, dass es an einem Bezug zu einem konkreten Strafverfahren fehlt. Bei den Beratungen der Datenschutzrichtlinie war das Europäische Parlament daher noch davon ausgegangen, dass der EGMR eine ausnahmslose elektronische Erfassung von Telekommunikationsdaten als unzulässig ansehen wird, wenn nicht wegen einer bestimmten Tat ermittelt wird.31 Nach Auffassung des Arbeitskreises Medien der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder verstößt die Richtlinie folglich gegen Art. 8 Abs. 2 EMRK.32 3. Die von Irland vor dem EuGH gegen die Richtlinie 2006/24/EG angestrengte Nichtigkeitsklage33 wird daher aller Voraussicht nach Erfolg haben. Bis zu dem entsprechenden Urteil des EuGH besteht freilich eine kaum

EGMR, Rotaru vs. Rumänien, Urt. v. 4.5.2000, RJD 2000-V, Ziff. 57; EGMR, Weber u. Saravia vs. Deutschland, Urt. v. 29.6.2006, NJW 2007, 1433; vgl. w. Grabenwarter (Fn. 26), § 22 Rn. 35. 29 Oppermann (Fn. 14), § 2 Rn. 39. 30 EGMR, Dudgeon vs. Vereinigtes Königreich, Urt. v. 22.10.1981, Serie A 45, Ziff. 49, 62; EGMR, Kruslin vs. Frankreich, Urt. v. 24.4.1990, Serie A 176-A, Ziff. 30 ff.; dazu: Grabenwarter (Fn. 26), § 22 Rn. 34. 31 Ausschuss des Europäischen Parlaments für die Freiheiten und Rechte der Bürger, Justiz und innere Angelegenheiten: Zweiter Bericht betreffend den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation, 24.10.2001, Dok.-Nr. A50374/2001, Abänderung 4; Artikel-29-Gruppe der EU, Überwachung, 5. 32 Arbeitskreis Medien der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder, Stellungnahme zur Anhörung der Europäischen Kommission Public Consultation on data retention, DuD 2004, 603; Zöller GA 2007, 393 (410 ff.). 33 EuGH, Az.: C-301/06; zitiert nach Breyer StV 2007, 214 (215). 28

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befriedigende Rechtslage: Einesteils hat diese Klage keine aufschiebende Wirkung, Art. 242 S. 1 EGV. Dementsprechend ist Gültigkeit der Richtlinie zu vermuten.34 Dem folgend geht die Bundesregierung davon aus, dass die Mitgliedsstaaten weiterhin zur Umsetzung verpflichtet seien.35 Dieser Sicht haben sich Bundestag und Bundesrat angeschlossen, indem sie das eingangs genannte Gesetz verabschiedeten. Anderenteils steht fest, dass sich die Bürger auf die Vertragswidrigkeit der Richtlinie vor den nationalen Gerichten berufen können.36 Aus europarechtlicher Sicht ist der Gesetzgeber zur Umsetzung einer nichtigen EG-Richtlinie gezwungen, obwohl sein Gesetz zu Fall gebracht werden kann, wenn die betroffenen Bürger sich in Verfahren vor nationalen Gerichten auf die Nichtigkeit der Richtlinie berufen.37 Um diesen Konflikt aufzulösen, ist zu bedenken, dass die Nichtigkeit sich hier vor allem schon aus einer Überschreitung der Befugnisse der EG ergibt. Für diesen Fall geht das BVerfG davon aus, dass derartige Rechtsakte vom Zustimmungsgesetz nicht gedeckt sind und daher für die Bundesrepublik keine Bindungswirkung entfalten.38 Der richtige Weg, diesen Rechtskonflikt zu lösen, wäre daher gewesen, die Frage nach Erhebung einer Vertragsverletzungsklage gemäß Art. 226 EGV klären zu lassen.39

B. Die Grundgesetzwidrigkeit des Umsetzungsgesetzes I. Grundrechte der Nutzer von Telekommunikationsanlagen 1. Das Auskunftsverfahren nach den §§ 113a, 113b TKG hat Verkehrsdaten zum Gegenstand. Bei ihnen handelt es sich um Umstände einer individuellen Telekommunikation. Deren Speicherung auf Vorrat und deren Mitteilung an Dritte berührt den Schutzbereich von Art. 10 Abs. 1 GG.40 Die öffentliche Gewalt soll grundsätzlich nicht nur nicht die Möglichkeit haben, sich Kenntnis vom Inhalt des über Fernmeldeanlagen geführten individuel-

EuGHE I 1994, S. 2555 = EuZW 1994, 436. BT-Drs. 16/5846, S. 29 f. 36 EuGHE I, 1997, S. 1847 = RIW 1997, S. 522. 37 Tuengerthal, Zur Umsetzung von EG-Richtlinien und staatengerichteten EGEntscheidungen in deutsches Recht (2003), S. 40 f. 38 BVerfGE 89, 155 (188/195/210); zurückhaltender: Oppermann (Fn. 14), § 8 Rn. 15; vgl. w. Streinz, Europarecht, 7. Aufl. (2007), Rn. 211a; eingehend zur Problematik: Rohe EuZW 1997, 491. 39 Ähnlich: Breyer StV 2007, 214 (216). 40 Vgl. BerlKommTKG/Klesczewski (2006), § 88 Rn. 14 ff. 34 35

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len Informations- und Gedankenaustauschs zu verschaffen.41 Das Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 Abs. 1 GG umfasst auch die Umstände der Kommunikation. Ob, wann und wie oft zwischen welchen Personen oder Fernmeldeanschlüssen Telekommunikation stattgefunden hat oder versucht worden ist, alles dies sind Tatsachen, die in das Fernmeldegeheimnis fallen.42 Geschützt sind also vor allem die Verkehrsdaten (vgl. § 3 Nr. 30 TKG).43 Indem das Grundrecht die einzelnen Kommunikationsvorgänge grundsätzlich dem staatlichen Zugriff entzieht, will es die Bedingungen einer freien Telekommunikation überhaupt aufrechterhalten. Ein Meinungsund Informationsaustausch mittels Fernmeldeanlagen soll nicht deswegen unterbleiben oder nach Form und Inhalt verändert verlaufen, weil die Beteiligten damit rechnen müssen, dass staatliche Stellen sich in die Kommunikation einschalten und Kenntnisse über die Kommunikationsbeziehungen oder -inhalte gewinnen.44 Der Schutz ist auch nicht auf den überkommenen Bestand an Technologien und Fernmeldediensten beschränkt. Vielmehr umfasst er sämtliche verfügbaren Telekommunikationstechniken, die Nachrichten übermitteln. Auf die konkrete Art der Übermittlung (etwa über Kabel oder Funk, durch analoge oder digitale Technik) und Ausdrucksform (etwa Sprache, Bilder, Töne, Zeichen oder sonstige Daten) kommt es nicht an.45 Zwar geht das BVerfG grundsätzlich davon aus, dass gespeicherte Verkehrsdaten nach Abschluss des Übertragungsvorgangs nicht mehr in das Fernmeldegeheimnis fallen.46 Doch gilt dies nur, wenn diese sich im Herrschaftsbereich des betroffenen Kommunikationsteilnehmers befinden.47 Da die Verkehrsdaten durch die Verpflichtungen aus § 113a TKG gerade im Herrschaftsbereich des Dienstanbieters verbleiben, sind sie auch nach Abschluss der Verbindung von Art. 10 Abs. 1 GG geschützt. 2. Die §§ 113a, 113b TKG verletzen Art. 10 GG. Zwar ist das Fernmeldegeheimnis mit einem Gesetzesvorbehalt versehen. Doch ist aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip abzuleiten, dass die Vertraulichkeit der Telekommunikation nur bei besonders wichtigen Gemeinschaftsinteressen, namentlich der Abwehr schwerer Gefahren für den Bestand der Bundesre-

BVerfGE 67, 157 (172); 100, 313 (358); m. Anm. Arndt NJW 2000, 47. BVerfGE 67, 157 (172); 85, 386 (396). 43 Wuermeling/Felixberger CR 1997, 230 (234); zust. BeckTKG-Komm/Bock, 3. Aufl. (2006), § 88 Rn. 14. 44 BVerfGE 100, 313 (314). 45 BVerfGE 106, 28 (29). 46 BVerfGE 115, 166; Zöller GA 2007, 393 (404). 47 Vgl. BerlKommTKG/Klesczewski (Fn. 40), § 88 Rn. 13. 41 42

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publik oder eines Landes, bzw. zur Verfolgung von Straftaten die unmittelbar die Existenz des Einzelnen oder unseres Gemeinwesens als Ganzes in Frage stellen.48 Schon gemessen hieran ist fraglich, ob die §§ 113a, 113b TKG verfassungsrechtlichen Anforderungen standhalten, lassen sie doch die Speicherung und Mitteilung zum Zwecke der Verfolgung jedweder Straftat zu, § 113b S. 1 Nr. 1 TKG. Zwar setzt § 100g Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO n. F. den Verdacht einer Straftat vor erheblicher Bedeutung voraus, namentlich einer Katalogtat i. S. v. § 100a Abs. 2 StPO n. F. Schon hier kann man fragen, ob es sich bei jedem der dort aufgezählten Vergehen oder Verbrechen um derart schwere Straftaten handelt und wodurch die unbenannten Straftaten von erheblicher Bedeutung eigens gekennzeichnet sind49. Ausschlaggebend ist aber, dass § 100g StPO Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO n. F. die Abfrage von Verkehrsdaten wegen jeder Straftat zulässt, soweit diese mittels Telekommunikation begangen worden ist. Zwar macht das BVerfG hiergegen keine verfassungsrechtlichen Bedenken geltend, freilich nur unter der besonderen Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall.50 Im Rahmen der Güterabwägung spielt es dabei für das BVerfG eine Rolle, ob die Tat durch Missbrauch einer Endeinrichtung begangen wurde.51 Von einer entsprechenden Einengung des § 100g StPO hat der Gesetzgeber jedoch abgesehen. Dem lässt sich nicht entgegen halten, es gehe nicht um die Inhalte, sondern nur um die Umstände einer Telekommunikation. Wie das Bundesverfassungsgericht immer wieder hervorgehoben hat, gibt es unter den Bedingungen elektronischer Datenverarbeitung kein belangloses Datum mehr.52 Vielmehr steigt die Schutzwürdigkeit einer personenbezogenen Information mit den Verwendungsmöglichkeiten, die sie anderen bietet. Dabei enthalten gerade die Verkehrsdaten teilweise ein Potenzial an Verarbeitungsweisen (automatische Analyse, Abgleich mit anderen Datenbeständen), die manch ein Inhaltsdatum gar nicht an sich hat.53 Verkehrsdaten lassen in zunehmendem Maße Rückschlüsse auf Art und Intensität von Beziehungen, auf Interessen, Gewohnheiten und Neigungen und nicht zuletzt anhand der Zielrufnummer auch auf den jeweiligen Kommunikationsinhalt zu und vermitteln

BVerfGE 67, 157; 107, 299; dazu: Klesczewski StV 1993, 382; vgl. w. Breyer StV 2007, 214 (217). 49 Kritisch hierzu: Breyer StV 2007, 214 (217); gewisse Skepsis klingt auch in der einstweiligen Anordnung (Fn. 4) an. 50 BVerfG NJW 2006, 3197 (3199). 51 Ibid. 52 BVerfGE 65, 1 (45). 53 Breyer StV 2007, 214 (217). 48

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– je nach Art und Umfang der angefallenen Daten – Erkenntnisse, die an die Qualität eines Persönlichkeitsprofils heranreichen können.54 Nimmt man noch hinzu, dass die seitens der Strafverfolgungsbehörden abgerufenen Verkehrsdaten gemäß §§ 12 ff. EGGVG Gegenstand von Mitteilungen an andere Behörden, ferner dass sie als Bestandteil von Strafakten gemäß § 406 StPO Gegenstand von Akteneinsichtsersuchen Privater werden können, die als Verletzte auftreten55, dann stehen die nach § 113a TKG gespeicherten Daten nahezu jedwedem Zweck zur Verwendung offen. Zwar schränkt § 477 Abs. 2 StPO n. F. die Auskunft aus Akten etc. grundsätzlich auf Strafverfahren wegen Taten ein, bei denen z.B. die Erhebung von Verkehrsdaten ebenfalls hätte angeordnet werden können. Wegen des Leerlaufens des Straftatenkataloges von § 100g Abs. 1 S. 1 StPO n. F. ist darin aber keine sinnvolle Begrenzung der Verwendungszwecke mehr zu sehen. § 113a Abs. 1 TKG führt daher zu einer Vorratsdatenspeicherung, die das Bundesverfassungsgericht bisher außerhalb statistischer Zwecke als verboten ansieht.56

II. Grundrechte der Diensteanbieter Die Verpflichtung, bestimmte Kundendaten selbst dann zu erheben und zu speichern, wenn dazu keine betriebliche Notwendigkeit besteht, stellt eine Indienstnahme Privater für hoheitliche Zwecke dar (1.).57 Diese ist nur dann zulässig, wenn ein besonderer Zurechnungsgrund gegeben ist (2.). 1. Die Verpflichtung zur Vorhaltung einer Verkehrsdatenbank für staatliche Abfragen auf eigene Kosten stellt eine Indienstnahme Privater für hoheitliche Zwecke dar.58 Darin liegt ein Eingriff in die nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit.59 Zwar verfolgt die gesetzliche Verpflichtung zur Speicherung der Verkehrsdaten vernünftige und sachge-

BVerfGE 115, 166. Vgl. z.B. HansOLG Hamburg ZUM 2005, 273. 56 BVerfGE 65, 1 (42); und dezidiert neuerdings: BVerfGE 115, 320; vgl. w. Zöller GA 2007, 393 (412). 57 Vgl. v. Hammerstein MMR 2004, 222 (223/227); Wuermeling/Felixberger CR 1997, 555 (561); Bedenken auch bei: BeckTKG-Komm/Bock (Fn. 43), § 111 Rn. 21. 58 v. Hammerstein MMR 2004, 222 (223); BeckTKGKomm/Bock (Fn. 43), § 110 Rn. 16; Koenig/Koch/Braun K & R 2002, 289 (294); Manssen/Haß, Telekommunikations- und Multimediarecht, 20. Lfg. (2006), § 88 Rn. 40. 59 BVerfGE 30, 292 (313); 68, 155 (170); zust. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 51. Lfg. (2007), Art. 12 Rn. 146; ebenso: BeckTKG-Komm/Bock (Fn. 43), § 110 Rn. 16; Koenig/Koch/Braun K & R 2002, 289 (294); Manssen/Haß (Fn. 58), § 88 Rn. 39. 54 55

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rechte Belange des Gemeinwohls60. Sie dient nämlich den Zwecken der Strafverfolgung und der Gewährleistung der Sicherheit des Staates, beides Gemeinwohlbelange mit Verfassungsrang.61 Nicht unbestritten ist aber schon, ob die Indienstnahme für den Staat das mildeste geeignete Mittel darstellt, diese öffentliche Aufgabe zu erfüllen. Letztlich nicht durchgreifend ist dabei das Bedenken, die Vorratsdatenspeicherung sei ineffektiv, da sie gesteigerten Anlass gebe, Fernmeldeverkehr unter möglichst anonymen Bedingungen zu betreiben.62 Dass potenzielle Straftäter sich zumeist auf Ermittlungstechniken einstellen, ist ein alter Befund und macht die Aufklärung von Straftaten nicht entbehrlich. Ferner wird eine Vorratsdatenspeicherung nicht schon dadurch überflüssig, dass im Jahr 2005 lediglich 381 Straftaten wegen fehlender Telekommunikationsdaten nicht aufgeklärt werden konnten.63 Soweit die Übermittlung von Verkehrsdaten geeignet ist, auch in derartigen Fällen zum Erfolg zu führen, wird man ihre Erforderlichkeit nicht verneinen können. Zu bedenken ist ferner, dass der Staat mit der Privatisierung des Fernmeldewesens keinen unmittelbaren Zugriff mehr auf Telekommunikationsnetze hat und daher auf die Mitwirkung der Netzbetreiber angewiesen ist.64 Zwar lässt sich auch daran denken, dass etwa die Strafverfolgungsbehörden die technischen Einrichtungen erwerben und unterhalten. In der Tat gestattet der neue § 100g StPO es den Ermittlungsbehörden nun ja auch, Verkehrsdaten in Echtzeit selbst zu erheben.65 Gleichwohl macht diese Möglichkeit nicht von sich aus eine Vorratsdatenspeicherung bei den Diensteanbietern zum mildesten Mittel. Würden staatliche Stellen die Verkehrsdaten sämtlicher Telekommunikationsverbindungen erheben und speichern, käme es nämlich jedenfalls zeitweise zu einer Verdoppelung ihrer Speicherung und damit zu einem gedoppelten Grundrechtseingriff. 2. Diese Indienstnahme Privater ist jedoch unzumutbar. Die Vorhaltung von Verkehrsdatenbanken belastet die betroffenen Anlagenbetreiber in

60 Zu dieser Voraussetzung: BVerfGE 7, 337; 30, 292 (351 f.); 33, 240 (244); 68, 155 (171); näher: Breuer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 2. Aufl. (2001), § 148 Rn. 20. 61 BVerfGE 49, 24 (56 f.); BVerfG NJW 2003, 1787 (1789); BeckTKG-Komm/Ehmer, 2. Aufl. (2000), § 88 Rn. 47. 62 Breyer StV 2007, 214 (218). 63 Breyer StV 2007, 214 (217). 64 Vgl. v. Hammerstein MMR 2004, 222 (224); Kube/Schütze CR 2003, 663 (666); Schenke AöR 125 (2000), 1 ff.; Scholz ArchivPT 1995, 169 (185); BeckTKG-Komm/Bock (Fn. 43), § 110 Rn. 15. 65 BT-Drs. 16/5846, S. 50.

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erheblichem Ausmaß. Sowohl die Ausweitung der Kundendateien66 als auch die Vorratsdatenspeicherung67 führt jeweils zu einem Mehraufwand in mehrstelliger Millionenhöhe. Zwar lässt sich einer Entscheidung des VG Köln das Recht der Diensteanbieter entnehmen, auch die dadurch entstehenden finanziellen Belastungen auf ihre Kunden abzuwälzen.68 Doch folgt daraus nicht ohne weiteres, dass es jedem Anlagenbetreiber auch gelingt, seine Preise am Markt durchzusetzen. Dies gilt umso mehr dort, wo ein Unternehmen mit einem Wettbewerber mit beträchtlicher Marktmacht (namentlich der Deutschen Telekom AG) zu konkurrieren hat. Die Kostenabwälzung ist nicht jedem Diensteanbieter in gleicher Weise möglich. Je nach Größe des Anbieters und der Art seines Angebots führen die Implementierungskosten daher zu unterschiedlich großen Preisaufschlägen.69 Dies führt zu Wettbewerbsverzerrungen, die dem Hauptzweck von § 1 TKG widersprechen.70 Schließlich darf es nach dem BVerfG bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Eingriffen nicht darauf ankommen, ob es dem Betroffenen gelingt, sich an anderer Stelle schadlos zu halten.71 Vielmehr dürfte der Staat die Abwälzung auf die Kunden nur zulassen, wenn ein besonderer Zurechnungsgrund für die Kostentragungspflicht besteht.72 Daran fehlt es aber letztlich. Einen solchen Grund sieht das BVerfG zum einen in einer besonderen Sach- und Verantwortungsnähe des Betroffenen73, zum anderen in der der Nähe der zu übernehmenden Aufgabe zur Tätigkeit des Unternehmens und der Geringfügigkeit der Belastung.74 Beides trifft auf die Vorhaltung einer Verkehrsdatenbank durch die betroffenen Netzbetreiber nicht zu:75

Vgl. BT-Drs. 15/2679, S. 6 f.; Ausschuss-Drs. 15(9)/949, S. 33. Breyer StV 2007, 214 (216). 68 VG Köln CR 2000, 747 (750); krit. BeckTKG-Komm/Bock (Fn. 43), § 110 Rn. 21 m.w.N. 69 Näher: Koenig/Koch/Braun K & R 2002, 289 (297); vgl. v. Hammerstein MMR 2004, 222 (226); Kube/Schütze CR 2000, 663 (669). 70 So auch: BeckTKG-Komm/Ehmer (Fn. 61), § 88 Rn. 79; vgl. w. BeckTKG-Komm/Bock (Fn. 43), § 110 Rn. 14. 71 BVerfGE 58, 137 (151); so auch Schmidt-Preuß, Kurzgutachten über „Die verfassungsrechtliche Anforderungen an die Entschädigung für Leistungen der TelekommunikationsÜberwachung und Auskunftserteilung (2005), S. 29 (abrufbar unter: www.bitkom.org). 72 BGH NJW 1997, 574 (578). 73 BVerfGE 75, 108 (159); 77, 308 (337); 81, 156 (197 f.); 85, 226 (237); Albrecht, Zumutbarkeit als Verfassungsmaßstab (1995), S. 176 f.; Breuer (Fn. 60), § 148 Rn. 28. 74 BVerfGE 22, 380; 30, 292; 44, 103; 57, 139; 95, 173. 75 So auch BeckTKG-Komm/Bock (Fn. 43), § 110 Rn. 18 f., der von fehlender Gruppenverantwortung und Gruppennützigkeit spricht. 66 67

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Zum einen sind alle Diensteanbieter nach § 88 Abs. 2 S. 1 TKG zur Wahrung des Fernmeldegeheimnisses verpflichtet. Hierzu gehört es auch, die Kenntnisnahme von Umständen einer individuellen Telekommunikation tunlichst vermeiden. Zu diesen Umständen zählen – wie dargelegt – auch die Verkehrsdaten. Anders als die Aufzeichnung der Inhalte eines Ferngesprächs stellt zwar die Erhebung und Verwendung von Verkehrsdaten keine schlechthin unternehmensfremde Tätigkeit dar. Denn es bedarf ja derselben, um überhaupt Fernmeldeverkehr vermitteln und abrechnen zu können. Doch ist hierbei der Grundsatz der Datensparsamkeit zu beachten.76 Aufgrund dessen lässt sich auch keine Parallele zur Pflicht zur Mineralölbevorratung ziehen, Gegenstand des „leading cases“ des BVerfG zu dieser Frage. Wenngleich es hier wie dort zur unternehmerischen Tätigkeit gehört, Dinge (hier Daten, dort Öl) aufzubewahren, so folgt daraus nicht, dass beides normativ gleichsteht. Während es für die Ölindustrie ökonomisch förderlich und rechtlich zulässig ist, Bevorratung zu betreiben, ist es den Anbietern von Telekommunikationsdienstleistungen strikt untersagt, beliebige Datensammlungen anzulegen. Das normative Bild ihrer unternehmerischen Tätigkeit wird durch § 97 Abs. 3 TKG vorgegeben. Danach sind nur die Verkehrsdaten zu speichern, die zur Abrechnungszwecken benötigt werden, und selbst diese sind so schnell wie möglich, spätestens aber sechs Monate nach Rechnungslegung zu löschen.77 Nicht zuletzt ist eine längere Speicherung dieser Daten, wie dargelegt, ja auch mit erheblichem finanziellen Aufwand verbunden.78 Zum anderen stellen Strafverfolgung und Gefahrenabwehr originär staatliche Aufgaben dar.79 Es besteht keine besondere Sach- und Verantwortungsnähe der betroffenen Netzbetreiber, den Behörden bei Erfüllung dieser Aufgaben behilflich zu sein. Dies ergibt sich nicht schon daraus, dass Telekommunikationsnetze zur Begehung von Straftaten genutzt werden können.80 Das trifft auf eine Vielzahl anderer Dienstleistungen auch zu. Sie folgt ferner nicht aus dem Umstand, dass die Netzbetreiber auch potenziellen Verbrechern ein Medium zur Verfügung stellen, jenseits sozialer Kon-

BerlKommTKG/Klesczewski (Fn. 40), § 91 Rn. 23. BerlKommTKG/Klesczewski (Fn. 40), § 97 Rn. 10 m.w.N. 78 v. Hammerstein MMR 2004, 222 (225); Holznagel/Bysikiewicz/Enaux/Nienhaus/Hermeter, Telekommunikationsrecht, 1. Aufl. (2003), S. 178 (197 f.). 79 Schenke AöR 125 (2000), 1 (39); Scholz ArchivPT 1995, 169 (170 f.); BeckTKGKomm/Bock (Fn. 43), § 110 Rn. 18; Götz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 3. Aufl. (2006), § 85 Rn. 1 ff. 80 So aber: Manssen/Haß (Fn. 59), § 88 Rn. 47. 76 77

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trolle vertraulich miteinander kommunizieren zu können.81 Der Betrieb eines Telekommunikationsnetzes ist neutral. Für die möglicherweise strafbaren Inhalte eines Ferngesprächs ist der Netzbetreiber nicht verantwortlich.82 Nicht zuletzt verbietet die Gewährleistung des Fernmeldegeheimnisses es den Diensteanbietern geradezu, von den Inhalten eines Ferngesprächs Kenntnis zu nehmen, § 88 Abs. 3 S. 1 TKG.83 Dann aber kann von einer besonderen Sach- und Verantwortungsnähe der Diensteanbieter für diese möglicherweise kriminellen Gegenstände einer solchen Kommunikation nicht die Rede sein. Die Sach- und Verantwortungsnähe folgt schließlich auch nicht daraus, dass der Staat durch die Privatisierung des Fernmeldewesens den Diensteanbietern die wirtschaftliche Betätigung erst ermöglicht hat.84 Zwar trifft es zu, dass nicht nur die Deutsche Bundespost, sondern auch ihre Nachfolgerin, die Deutsche Telekom AG, die Überwachungskosten zu tragen hatte. Doch stand die Monopolisierung des Fernmeldewesens beim Staat in keinem Zusammenhang mit der Gewährleistung der Telefonüberwachung.85 Folglich ist es auch nicht zwingend, durch die Privatisierung einer Aufgabe der Daseinsvorsorge, hier des Bereiches der Telekommunikation, die Unternehmen zugleich auch noch für die hoheitliche Aufgabe der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung in Dienst zu nehmen. Fehlt es für die Pflicht zur Vorhaltung einer Verkehrsdatenbank an dem erforderlichen besonderen Zurechnungsgrund, so stellt sie eine Indienstnahme Privater dar, welche nur dann verhältnismäßig ist, wenn der Staat eine Entschädigung leistet.86 Da § 113a TKG eine Entschädigung bewusst nicht vorsieht87, ist er als verfassungswidrig anzusehen. Das zieht die Verfassungswidrigkeit der darauf bezogenen Auskunftsverfahren nach § 113b TKG nach sich.

So aber: Waechter VerwArch 87 (1996), 68 (82). v. Hammerstein MMR 2004, 222 (225); Koenig/Koch/Braun K & R 2002, 289 (295); zust. BeckTKG-Komm/Bock (Fn. 43), § 110 Rn. 18; a.A. Manssen/Haß (Fn. 59), § 88 Rn. 46 f. 83 Vgl. BVerfGE 85, 386; 107, 299; 115, 166 (189). 84 So VG Köln CR 2000, 747; zuvor schon: Manssen ArchivPT 1998, 236 (242); Waechter VerwArch 87 (1996), 68 (94). 85 Jeserich/Pohl/v. Unruh/Schilly, Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. II (1983), S. 257 (277). 86 BVerfGE 33, 240 (244 f.); 85, 329 (334 f.); beide zur Sachverständigenentschädigung nach dem ZSEG. 87 BT-Drs. 16/5846, S. 30. 81 82

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C. Fazit Dem Gesetzgeber gefiel es, das Jahr, in dem unser Jubilar seinen 70. Geburtstags feiert, mit einem Gesetz zu beginnen, das gewiss manch eine Verbesserung der rechtsstaatlichen Standards im Strafverfahren mit sich gebracht hat, für die auch unser Jubilar stets eingetreten ist und eintritt. Die §§ 113a, 113b TKG gehören, wie ich darzulegen versucht habe, leider nicht dazu.

Zwischenhaft, Organisationshaft Verfassungswidriges mit (nicht nur) stillschweigender Billigung des Verfassungsgerichtes HANS-ULLRICH PAEFFGEN*

A. Problemaufriß1 Seit langem gibt es zwei Inhaftierungsgründe in der Rechtspraxis, die evident der Rechtsgrundlage entbehren, ohne daß dies die Obergerichte im geringsten störte. Trotz immer wieder aus der Literatur erhobener Vorwürfe, die die Verfassungswidrigkeit rügen2 – und sehr zu recht den Vorwurf der Vollstreckung gegen Unschuldige3 erheben, tut die Rechtsprechung so, als könne sie kein Wässerchen trüben – getreu der Maxime derer, die Macht der Entscheidung haben4: „Die Schakale heulen, aber die Karawane zieht weiter!“

Auch an dieser Stelle darf ich meinen wissenschaftlichen Mitarbeitern, Frau Galina Braynin und Herrn Thomas Grosse-Wilde, für ihre Diskussionsbereitschaft und Hilfe danken. 1 Paragraphen ohne Kennzeichnung sind solche der StPO. 2 Neumann, in: Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien, Bd. 100 (2007), S. 601 ff.; Ostermann StV 1993, 52 ff.; Paeffgen NStZ 1989, 514 (520); ders. NStZ 2006, 136 (137); Seebode, Der Vollzug der Untersuchungshaft (1985), S. 101; ders. StV 1988, 118 ff.; SK-StPO/Paeffgen, 8. Lfg. (1992), § 120 Rn. 19; SKStPO/Paeffgen, 54. Lfg. (2007), Vor § 112 Rn. 5 f., 30a; Trennhaus StV 1999, 511 (512); apologetisch allerdings jüngst: Linke JR 2001, 358 ff., der freilich meint – entgegen der ganz h.M. –, daß die U-Haft fortdauere. 3 Seebode StV 1988, 118 (122); Ostermann StV 1993, 52 (54); a.A. allerdings Rautenberg (zust. Anm. zu OLG Brandenburg NStZ 2000, 500) NStZ 2000, 502 (502), der meint, da wenigstens der Sicherungszweck der Maßregelverhängung erfüllt werde, liege kein „nachteiliger“ Freiheitsentzug vor. Dazu sogleich mehr; – pointiert läßt sich freilich schon vorab sagen: Ein Nachteil liegt immer vor, wenn für einen Eingriff keine Rechtsgrundlage besteht! 4 Zwar ist es nicht „souverän“, was dort geschieht, aber ganz von Ferne fühlt man sich bei dieser Vorgehensweise an das Diktum von C. Schmitt erinnert: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand befindet!“ (Carl Schmitt, Politische Theologie [1922], S. 9). *

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Worum geht es? Zu sprechen ist über: – Zwischenhaft – Organisationshaft5.

B. Zwischenhaft I. Das Sachproblem Bei dem Bemühen, eine sog. „Zwischenhaft“6, lapidar gesprochen: den Freiheitsentzug eines bereits in U-Haft oder der einstweiligen Unterbringung Befindlichen zwischen Rechtskraft des Urteils und der Einleitung der Straf- bzw. Maßregelvollstreckung7, zu legitimieren, kämpfen immerhin drei Auffassungen um die Palme des Siegers in einem Wettstreit der Defizitären: Teils wird diese Episode als „automatisch“ beginnende Strafhaft8, teils als fortdauernde Untersuchungshaft9 oder schließlich, als Lückenfüller, „Haftart sui generis“10 eingestuft. Der große argumentative „Holzhammer“, der jedes intensivere Nachdenken über die Rechtsnatur dieser Art von Freiheitsentzug alsbald beendet, ist der Verweis auf die Rechtskraft eines freiheitsentziehenden Urteils11. D.h. für den Verurteilten gilt: Nolenti (sed damnato) non fit iniuria! Oder: Freiheitsentzug ist Freiheitsentzug! Anders gewendet: Weil der Verurteilte einen Freiheitsentzug zu erdulden hat, erleidet er auch keinen Nachteil,

5 Bei ihr hatte eine Kammer des BVerfG immerhin festgestellt, daß diese Haft gesetzlich nicht vorgesehen sei (BVerfG NStZ 1998, 77 m. zust. Anm. Lemke). Was aber die Kammer dann dazu bewog, daraus nur die Schlußfolgerung zu ziehen, dieser ‚Regelverstoß’ gebiete: den Folgen dieser Regelwidrigkeit (sic!) im Rahmen der Strafzeitberechnung in geeigneter Weise entgegenzuwirken“ (BVerfG a.a.O.), bleibt eines der vielen Anschauungsbeispiele aus der Rätselecke des Gerichts. Eine beschönigende Formulierung wählen Rautenberg (zust. Anm. zu OLG Brandenburg NStZ 2000, 500), NStZ 2000, 502 (503): „erstaunliche Nachsicht“, bzw. Trennhaus StV 1999, 511 (512): Die Entscheidung gebe „Anlaß zur Verwunderung“. 6 Begriff von Seebode StV 1988, 118 ff. 7 Im Folgenden beschränke ich mich aus Gründen der Breviloquenz auf den Fall der freiheitsentziehenden Strafen. Das Sachproblem ist aber bei den Sicherungsmaßregel das nämliche. 8 BGHSt 38, 63; BGH NStZ 1993, 31; OLG Karlsruhe NJW 1964, 1085; LR/Hilger, 26. Aufl. (2007), Vor § 112 Rn. 60; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 120 Rn. 15. 9 OLG Frankfurt MDR 1979, 75. 10 OLG Celle NStZ 1985, 188. 11 Vgl. Verweise bei Ostermann StV 1993, 52 (53); schon früher Seebode StV 1988, 118 (119 ff.).

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wenn er einen Freiheitsentzug hinzunehmen hat – egal was für einen12. Die entsprechende Judikatur überhebt die Gerichte des Nachdenkens darüber, was sie tut, und – wie üblich bei dem Agieren der Hilfswilligen in den roten und schwarzen Roben – den Gesetzgeber, seines Amtes zu walten, und für Grundrechts-Eingriffe auch eine Legitimationsgrundlage zu schaffen13. Die fehlende gesetzliche Grundlage wird durch das Fehlen von Nachteilen für den Verurteilten aufgewogen. Dieses, allenfalls prozessualistisch angehauchte pseudo-materiell-teleologische Denken14 hat aber einen Haken: Unsere Rechtsordnung kennt keine rechtsgrundlosen, aber „verdienten“ Grundrechts-Eingriffe! Allein in Zeiten, in denen sich der Gesetzgeber um jede Kleinigkeit kümmert15, spielt eine solche „Bagatelle“ wie der Freiheitsentzug gegenüber einem Menschen (auch wenn es ein Straftäter ist) auf einmal keine Rolle!? Selbst wenn man mangelnde Festlegung durch das förmliche Gesetz und damit die Anforderungen des Art. 104 GG durch mangelnde Nachteile für den Verurteilten faktisch ausgeglichen ansehen möchte, so greift dieses Argument normativ nicht. Überdies: Obschon § 91 Abs. 1 S. 1 UVollzO16 anordnet, daß zwischen Rechtskraft des Urteils und förmlicher Einleitung der Strafvollstreckung der Verurteilte als Strafgefangener zu behandeln sei, so ist dies bereits unter dem Blickwinkel der tatsächlich herrschenden Bedingungen in der U-Haft nicht gewährleistet bzw. läßt sich in der U-Haft-Anstalt nicht realisieren17. So haben beispielsweise die Vollzugsanstalten Arbeit, Arbeitsentgeld, Vollzugslockerungsmaßnahmen (Außenbeschäftigung, Ausführung, Ausgang u.a.) für Strafhäftlinge im

12 Wenn man das Judikat des BVerfG NJW 2006, 427 ff. wohlwollend interpretiert, so verwirft es eine solche Argumentation implizit (von einer unter dem Gesichtspunkt des Freiheitsgrundrechts unmaßgeblichen Form des Vollzugs der Freiheitsstrafe oder der Maßregel könne wegen dessen unterschiedlichen Zwecken jedenfalls bei einer Umkehrung des Vollzugs nicht ausgegangen werden); so jedenfalls Neumann (Fn. 2), S. 601 (615); vgl. aber bei und in Fn. 92. 13 Zu einer vergleichbar nach richterlicher Servilität lechzenden Konstellation, dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, aber auch zu dem dort zu beobachtenden Zwischenhoch im Bewußtsein um das verfassungsrechtlich Gesollte vgl. Paeffgen StraFo 2007, 442. 14 Dem Verurteilten fehlt gleichsam das „Rechtsschutzinteresse“ – mangels Beschwer(!) – so der schlichte Gedanke, den man hinter dieser Position wähnen muß. 15 Journalistisch gern benutzt ist der (allerdings auf die Regelungswut der EU gemünzte) Vorwurf, man lege selbst den Krümmungswinkel der Banane fest. Zwar ist der Vorwurf in concreto unzutreffend; vgl. aber Ernst Röhl, Das eurogestützte Nachthemd, „… Der Krümmungsradius der Gurke ist ebenso festgeschrieben wie der Krümmungswinkel der Banane …“, in: Berliner Zeitung v. 12.12.1997, S. F1 (http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/ archiv/.bin/dump.fcgi/1997/1212/freizeit/0060/index.html). Der damit umschriebene Befund stimmt aber gleichwohl. 16 Vgl. SK-StPO/Paeffgen, 55. Lfg. (2007), Anh. § 119. 17 Seebode StV 1988, 118 (119 f.)

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Angebot, was alles in der U-Haft nicht prästiert werden kann/wird. – Besonders anschaulich wird der Unterschied in den Fällen jugendlicher Inhaftierter, die häufig in dem U-Haft-Vollzug für Erwachsene verweilen müssen. – Verfehlt ist schließlich die Mißachtung der Rahmenbedingungen des Freiheitsentzugs als Differenzierungskriterium unter dem Blickwinkel des Strafzwecks aber selbst dann, wenn man nicht die Resozialisierung, sondern die Sühne in den Vordergrund stellt. Denn U-Haft ist in ihrem – nun einmal nur „halb“ umgemodelten – Vollzug i.S.d. § 91 Abs. 1 S. 1 UVollzO eben keine Strafhaft. – Daß jene Regelung, als aus einer (bundeseinheitlichen) verwaltungsinternen Verwaltungsvorschrift18 stammend, keine verfassungsrechtlich belangreiche Ermächtigung für Grundrechts-Eingriffe sein kann, ist dabei noch gar nicht berücksichtigt19.

II. Die faktischen Ursachen und Techniken der faktischen Problembewältigung a) Die faktischen Ursachen Es ist das (verwaltungs-)organisatorische Problem zu bewältigen, bei einem Verfahren, bei dem man das Ende oft nicht absehen kann, für den Fall eines zu vollstreckenden freiheitsentziehenden Strafausspruchs, der durch Rechtsmittelverzicht auch gleich rechtskräftig wird, einen Platz in der zuständigen JVA bereitzuhalten. Dies muß vorsorglich geschehen, obwohl der Vollzugsfall möglicherweise gar nicht eintritt – eben weil es gar nicht zum Urteils-Ausspruch kommt20 – oder weil eine Seite ins Rechtsmittel geht. Dann aber verbleibt es – wenn die Haftvoraussetzungen immer noch erfüllt sind, bei der U-Haft-Vollstreckung. Dieser möglicherweise länger andauernde Zustand der Ungewißheit ist selbstverständlich von keiner Verwal-

Also keine „Allgemeinverfügung“ i.S.v. § 35 S.2 VwVfG. Wohl ist dies ein weiteres Gravamen in dem an Schwer-Erträglichem so reichen Feld der hoheitlichen Freiheitsentziehungs-Regularien: Die gut 90 Nummern umfassende UVollzO spricht der heute, überwiegend stillschweigend, hingenommenen Sicht, daß § 119 Abs. 3 keine zufriedenstellende, aber eine hinreichende verfassungsrechtliche Legitimation für die auf ihn gestützten Grundrechts-Eingriffe gegenüber den U-Häftlingen darstelle, evident Hohn. Scharf dagegen SK-StPO/Paeffgen (Fn. 2), § 119 Rn. 3 – wie auch gegen das bisherige permanente, zumeist von den Bundesländern zu verantwortende Scheitern zum Erlaß eines UVollzG. Nach der Föderalismusreform ist der U-Haft-Vollzug Länderkompetenz geworden. Daher wird in die Angelegenheit vielleicht Bewegung kommen – aber man muß kein Prophet sein, um vorherzusagen, daß dies auf dem für die Häftling ungünstigsten (weil kostensparendsten) Niveau geschehen wird. 20 Etwa wegen neuer Beweisanträge. 18 19

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tung sachgerecht zu leisten, selbst wenn sie nicht so kärglich ausgestattet wäre, wie es im deutschen Strafvollzug allgemein der Fall ist. Hier könnte fraglos eine ausdrückliche Regelung eines entsprechenden Übergangs-HaftRechts (inklusive der dort möglichen, aber auch notwendig zu regelnden weitergehenden Grundrechts-Eingriffe, nach Art eines Verschnitts aus UVollzO und StVollzG, abhelfen21 – wenn es schon, aus für Außenstehende schwer nachvollziehbar erscheinenden Gründen, nicht gelingt, die Vollstreckbarkeits-Bescheinigung nach § 451 Abs. 1 gleich im Anschluß an den Eintritt der Rechtskraft abzugeben und die Einleitung der Vollstreckung zu beschleunigen. b) Die derzeitigen Problembewältigungs-Muster Man läßt den Verurteilten i.d.R. in der U-Haft-Anstalt, in der er bisher einsaß, bis ein Platz für den Strafvollzug aufgetan ist. Ob die von Seebode geschätzte Zahl von ca. 15 000 Betroffenen/anno22 noch aktuell ist, kann ich nicht beurteilen. Aber die Zahl der abgeurteilten U-Häftlinge hat sich in dem größer gewordenen Deutschland in den letzten Jahren um ca. 30 000 bewegt. Wenn man, wie seinerzeit Seebode, davon eine knappe Hälfte als „Kandidaten“ für eine „Zwischenhaft“ zugrundelegt, landet man immer noch bei etwa 12–14 00023. c) Die (straf-)rechtlichen Folgen Allerdings sieht hier ein Gutteil der Literatur § 345 StGB nicht thematisch24 – wobei man zumeist gleichzeitig – verblüffenderweise – wieder lesen kann, es komme für die Rubrizierung unter § 345 StGB nicht auf die materielle Richtigkeit, sondern auf die förmliche Prozeßrechts-Konformität

Zahlreiche Regeln des StVollzG wären entsprechend anwendbar; andererseits wäre der bloß interimistischen Situation Rechnung zu tragen. 22 Seebode StV 1988, 119. 23 Im Jahr 2002: 34 390 abgeurteilt von insges. 34 510 U-Häftlingen; 2003: 34 297 von insges. 34 414; 2004: 31 760 von insges. 31 854; 2005: 27 145 von insges. 27 252; (2006 noch nicht erfasst). 24 Geppert Jura 1981, 78 (83) Fn. 38; Lackner/Kühl, 26. Aufl. (2007), § 345 Rn. 3; NK/Kuhlen, 2. Aufl. (2005), § 345 Rn. 9; Schönke-Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 27. Aufl. (2006), § 345 Rn. 3; SK-StGB/Horn/Wolters, 54. Lfg. (2002), § 345 Rn. 6b; mit Recht a.A.: Seebode StV 1988, 118 (122 ff.). 21

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an25. Was ist aber eine Freiheitsentziehung, die von namhaften Stimmen (u.a.: dem BVerfG) als Strafe eingebucht wird, aber keine Rechtsgrundlage hat, anderes als eine Vollstreckung gegen Unschuldige (nämlich: diese Form des Freiheitsentzuges so nicht zu erdulden habende Personen)?

III. Das Rechtsproblem Als Rechtsfrage, genauer gesagt: als Rechtsgebot, liegt hier Art. 104 GG irgendwie störend „im Wege herum“. Nun ist man zwar vom BVerfG durchaus einiges gewöhnt: Selbstverliebt und im Bewußtsein seiner beträchtlichen Macht zitiert es gern lang und breit aus eigenen Opera und nimmt, jedenfalls in seinen publizierten Verlautbarungen, literarische Problemanalysen und -bewältigungsvorschläge überwiegend nur selektiv wahr. Aber die Selbstreferentialität hat dann doch immer wieder auch staunenswerte Löcher. Man hätte, jedenfalls als beobachtender „Frosch“, der das Agieren der richterlichen „Störche“ beobachtet, eigentlich erwartet, daß in concreto sich die Kammer der schon wiederholt und prononciert getroffenen Aussage erinnert hätte, daß für Freiheitsbeschränkungen ein besonderes Analogieverbot gilt: „Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG bereits enthaltenen Gesetzesvorbehalt für eine Freiheitsbeschränkung wieder auf und verstärkt ihn durch das Erfordernis eines ‚förmlichen’ Gesetzes und durch die Forderung nach Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen. Jede Freiheitsbeschränkung bedarf also einer materiellgesetzlichen Grundlage.“26 Seinerzeit fuhr der Senat, sich gegen eine analoge Anwendung des § 10 DAG wendend, fort: „Aus der Verschärfung des schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalts durch Art. 104 Abs. 1 GG, der noch unterstützt wird durch die formalen Garantien in Art. 104 Abs. 2 GG, ist zu entnehmen, daß es dem GG im Bereich der Freiheitsentziehungen auf eine besonders rechtsstaatliche, förmliche Regelung ankommt. Der Gesetzgeber soll gezwungen werden, Freiheitsentziehungen in berechenbarer, meßbarer und kontrollierbarer Weise zu regeln. Ebenso wie aus diesem Grunde Gewohnheitsrecht als ‚gesetzliche Grundlage’ ausscheidet, gilt dies auch für die analoge Heranziehung von Normen. Denn diese sind nach der Intention des Gesetzgebers zur Zeit ihres Erlasses nicht

25 BVerfG NStZ 1998, 77; Lackner/Kühl (Fn. 24), § 345 Rn. 3; LK/Jescheck, 11. Aufl. (1999), § 345 Rn. 3; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT/2, 9. Aufl. (2005), § 77 Rn. 35; NK/Kuhlen (Fn. 24), § 345 Rn. 8; SK-StGB/Horn/Wolters (Fn. 24), § 345 Rn. 5. 26 BVerfGE 29, 183 (195 f.) = NJW 1970, 2205 unter Berufung auf BVerfGE 2, 118 (119) = NJW 1953, 577.

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auf die Fälle gerichtet gewesen, auf die sie durch Analogie angewendet werden sollen. Nur der Gesetzgeber aber soll nach Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG darüber entscheiden, in welchen Fällen Freiheitsentziehungen zulässig sein sollen.“27 Oder, wenn auch von einer Nachbarkammer: „Entscheidungen über die Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus sowie über die Fortdauer oder die Aussetzung der Unterbringung fallen in den Schutzbereich der durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Freiheit der Person, in die nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden darf (Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG). Aus der Verschärfung dieses Gesetzesvorbehalts durch Art. 104 Abs. 1 GG, der noch unterstützt wird durch die formalen Garantien in Art. 104 Abs. 2 GG, ist zu entnehmen, dass es dem GG im Bereich der Freiheitsentziehungen auf eine besonders rechtsstaatliche, förmliche Regelung ankommt. Der Gesetzgeber soll gezwungen werden, Freiheitsentziehungen in berechenbarer, meßbarer und kontrollierbarer Weise zu regeln. Ebenso wie aus diesem Grunde Gewohnheitsrecht als ‚gesetzliche Grundlage’ ausscheidet, gilt dies auch für die analoge Heranziehung von Normen. Nur der Gesetzgeber darf nach Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 2 GG darüber entscheiden, in welchen Fällen Freiheitsentziehungen zulässig sein sollen. Anders als bei der analogen Heranziehung materiell-rechtlicher Ermächtigungsgrundlagen für Freiheitsentziehungen steht Art. 104 GG der analogen Anwendung von Verfahrensvorschriften nicht von vornherein entgegen.“28 Ein Eingehen auf den flammenden Dissent der Richter Broß, Osterloh und Gerhardt in re „nachträgliche Sicherungsverwahrung“29 wagt man unter diesen Umständen kaum noch zu erhoffen; aber erinnern darf man schon noch an ihn: Mit Rücksicht auf die gehärtete Rechtsprechung des BVerfG in Sachen Art. 104 Abs. 2 GG wandte sich die Minderheit im Falle einer landesgesetzlichen Regelung für eine nachträgliche Sicherungsverwahrung, die der Senat einhellig mangels Gesetzgebungskompetenz für verfassungswidrig erklärt hat, gegen die Sicht der Mehrheit, jene landes-

Und ergänzt dann noch, l.c.: „Diese Auslegung des Art. 104 Abs. 1 GG rechtfertigt sich auch durch den Vergleich mit dem Analogieverbot im Strafrecht, das aus dem in Art. 103 Abs. 2 GG vorgeschriebenen, dem Art. 104 GG ähnlichen Gebot bestimmter gesetzlicher Regelung herzuleiten ist (BVerfGE 14, 174 [185 f.] = NJW 1962, 1339; BVerfGE 25, 269 (285) = NJW 1969, 1059).“ 28 BVerfG (2. Kammer des 2. Senats) NJ 1995, 583. 29 BVerfGE 109, 190 (244 ff.) [Bayerisches Straftäterunterbringungsgesetz] = NJW 2004, 750 (759 ff.). 27

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Hans-Ullrich Paeffgen

rechtliche Regelung trotzdem befristet weiter für anwendbar zu erklären30: „Nur der Gesetzgeber soll nach Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG darüber entscheiden, in welchen Fällen Freiheitsentziehungen zulässig sein sollen (vgl. BVerfGE 29, 183 [196] = NJW 1970, 2205). Mit dieser Zielsetzung des Art. 104 Abs. 1 GG ist eine auch nur befristete Weitergeltungsanordnung durch das BVerfG wohl prinzipiell unvereinbar.“ Es ist auch nicht so, daß das BVerfG mit der vorstehend nur knapp umrissenen Position alleine stünde und deshalb, wie in einer Wagenburg kämpfend, nur Hilfe bei sich selbst fände – oder eben auch darauf verzichtete. Vielmehr wird hier tatsächlich eine ganz h.M. auch in der Literatur wieder-

BVerfGE 109, 190 (244/252) [Bayerisches Straftäterunterbringungsgesetz] = NJW 2004, 750 (759/761): „Der Richter darf gem. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG die Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes beschränken, das die Voraussetzungen der Freiheitsentziehung im Gesetzestext hinreichend bestimmt regelt (vgl. BVerfGE 96, 68 (97) = NJW 1998, 50). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG bereits enthaltenen Gesetzesvorbehalt für eine Freiheitsbeschränkung wieder auf und verstärkt ihn durch das Erfordernis eines „förmlichen“ Gesetzes und durch die Forderung nach Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen (vgl. BVerfGE 10, 302 [323] = NJW 1960, 811; BVerfGE 14, 174 [186 f.] = NJW 1962, 1339; BVerfGE 29, 183 [195] = NJW 1970, 2205; BVerfGE 58, 208 [220] = NJW 1982, 691; BVerfGE 78, 374 [383] = NJW 1989, 1663; BVerfGE 105, 239 [247] = NJW 2002, 3161). Die formellen Gewährleistungen der Freiheit in Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 [322] = NJW 1960, 811; BVerfGE 58, 208 [220] = NJW 1982, 691). Jede Freiheitsbeschränkung bedarf daher einer (wirksamen) materiell-gesetzlichen Grundlage (vgl. BVerfGE 2, 118 [119] = NJW 1953, 577; BVerfGE 29, 183 [195] = NJW 1970, 2205). Sinn und Zweck dieser Regelung ist es, für den Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit eine demokratisch legitimierte, vom Parlamentswillen getragene Rechtsgrundlage zu schaffen und darüber hinaus vor dem Hintergrund der Staatspraxis der Weimarer Zeit und des schleichenden Übergangs in die Diktatur (vgl. hierzu: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/I, S. 78) sicherzustellen, dass sich das Parlament seiner ausschließlichen Verantwortung für die Normsetzung nicht begibt (vgl. Hantel JuS 1990, 865 [867]). Der Verschärfung des schon in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalts durch Art. 104 Abs. 1 GG, der noch unterstützt wird durch die Formalgarantien in Art. 104 Abs. 2 GG, ist ferner zu entnehmen, dass es dem Grundgesetz im Bereich der Freiheitsentziehungen auf eine besonders rechtsstaatliche, förmliche Regelung ankommt (vgl. BVerfGE 29, 183 [195 f.] = NJW 1970, 2205). Der Gesetzgeber soll gezwungen werden, Freiheitsentziehungen in berechenbarer, messbarer und kontrollierbarer Weise zu regeln. Aus diesem Grunde scheidet auch Gewohnheitsrecht als „gesetzliche Grundlage“ aus. Um nichts anderes handelt es sich jedoch bei der auf richterlicher Rechtsfortbildung (so mit Recht Zeidler EuGRZ 1988, 207 [216]) beruhenden Weitergeltungsanordnung. Gleiches gilt auch für die analoge Heranziehung von Normen. Nur der Gesetzgeber soll nach Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG darüber entscheiden, in welchen Fällen Freiheitsentziehungen zulässig sein sollen (vgl. BVerfGE 29, 183 [196] = NJW 1970, 2205). Mit dieser Zielsetzung des Art. 104 Abs. 1 GG ist eine auch nur befristete Weitergeltungsanordnung durch das BVerfG wohl prinzipiell unvereinbar.“ 30

Zwischenhaft, Organisationshaft

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gegeben: Dort spricht man sich gleichermaßen für ein Analogieverbot und die Vergleiche zu Art. 103 Abs. 2 GG aus31.

C. Organisationshaft Von „Organisationshaft“ spricht die Rechtspraxis, wenn ein rechtskräftig zu einer Maßregel Verurteilter, für den nicht sofort ein Unterbringungsplatz im Maßregelvollzug zur Verfügung steht, die Überbrückungszeit, bis er schließlich dort landet, wo er vom staatlichen Rechtstitel von vornherein hingehört, in regulärer Strafhaft verbringt32. Sieht man genauer hin, ist sie eigentlich nur ein Spezialfall der sog. „Zwischenhaft“, statistisch nicht annähernd so häufig, dafür aber zeitlich erschütternd raumgreifend.

I. Das Sachproblem Das Problem stellt sich in der Regel in denjenigen Fällen, in denen durch Urteil eines Strafgerichts neben einer Freiheitsstrafe eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung oder Sicherung gem. §§ 63 f. StGB angeordnet wurde. Denn für diese Kombinations-Fälle schreibt das Gesetz bekanntlich vor, daß die Maßregel gem. § 67 Abs. 1 StGB vor der Strafe zu

31 Etwa BK/Rüping, GG (1998), Art. 104 Rn. 30; Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. (2007), Art. 104 Rn. 9; Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. III, 5. Aufl. (2003), Art. 104 Rn. 10. Kritischer Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 5. Aufl. (2005), Art. 104 Rn. 24: „Bei der Auslegung dieser Voraussetzung (Anm. Art 104 Abs. 1 S. 1 GG) findet sich methodisch nicht selten ein systematischer Rückgriff auf Art. 103 Abs. 2. Diesem Argument kommt insoweit eine gewisse Berechtigung zu, als das allgemeine Strafrecht eine zentrale Ermächtigungsgrundlage für die Verhängung freiheitsentziehender Maßnahmen enthält. Umgekehrt ist nicht zu verkennen, dass Anwendungsbereich und Regelungsgehalt beider Verfassungsnormen partiell divergieren. In diesem Kontext dürfen die Besonderheiten des Art. 104 nicht aplaniert werden.“ 32 OLG Celle NStZ-RR 2006, 388 = StV 2007, 428; Frankfurt NStZ-RR 2006, 387; Thüringer OLG StV 2007, 427; OLG Zweibrücken NStZ 1996, 357 = StV 1997, 478: Anrechnung von O-Haft auf die Strafe; a.A.: OLG Düsseldorf NStZ-RR 2006, 251 = StV 2006, 423: Eine Anrechnung vollstreckter Untersuchungs-/Organisationshaft auf die Strafe vor Anrechnung der Dauer des Maßregelvollzugs nach § 67 Abs. 4 S. 1 StGB ist im Regelfall des § 67 Abs. 1 StGB mit dem Verbot des Übermaßes nicht vereinbar (Rn.14). – Das BVerfG (3. Kammer des 2. Senats) hat immerhin vor kurzem die ministeriell verordnete Saumseligkeit zwecks Mangelverwaltung für verfassungswidrig erklärt, BVerfG NJW 2006, 427 ff. = EuGRZ 2005, 622 ff. (m. krit. Anm. Paeffgen NStZ 2006, 137). – Vgl. i.ü. die teilverwandte Frage des Wiederauflebens eines Haftbefehls nach einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: BVerfG NStZ 2005, 3131 mit scharf abl. Bespr. von Mosbacher NJW 2005, 3110 ff.

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vollziehen ist. Dies beruht auf dem Gedanken des Prinzips „Therapie vor Strafe“33. Dieser Vorrang des Vollzuges der Maßregel, der eine vorübergehende oder ausweichende Unterbringung im Strafvollzug nur in engen gesetzlichen Grenzen im Rahmen des § 67 Abs. 2 und 3 StGB zuläßt, führt in der Praxis zu erheblichen Problemen. Denn mangels einer hinreichenden Zahl von Unterbringungsplätzen im Maßregelvollzug34 entstehen immer mehr derartige „Engpässe“, weil gleichzeitig die Zahl der Unterbringungsanordnungen nicht nur nicht abnimmt, sondern steigt. Das führt dazu, daß der in Untersuchungshaft einsitzende Verurteilte auch nach Rechtskraft seines Urteils in einer JVA in einer merkwürdigen Form von „Haft“ gehalten wird, der „Organisationshaft“35. Obwohl die Rechtsgrundlage, die UHaft, mit dem Eintritt der Rechtskraft wegfällt36 und Strafhaft gemäß dem jeweiligen Urteilsspruch – in Verbindung mit dem Gesetz – gerade nicht vollzogen werden dürfte37, bleibt er in Haft. – Nur ganz nebenbei bemerkt hatte doch irgendwer mal proklamiert, es sei das angestrebte Ziel von Maßregeln der Besserung, die Resozialisierungschancen38 zu verbessern39. Dies

33

Bartmeier NStZ 2006, 544 (545); Laubenthal, Strafvollzug, 4. Aufl. (2006), S. 477 Rn.

868. Ullenbruch NStZ 2000, 287 (289). Ostermann StV 1993, 52. 36 Grundsätzlich enden hier die Möglichkeiten der U-Haft; vgl. KK-StPO/Boujong, 5. Aufl. (2003), § 112 Rn. 55; LR/Hilger (Fn. 8), Rn. 10; LR/Wendisch, 24. Aufl. (1984), § 112 Rn. 13 ff. 37 Trennhaus StV 1999, 511 ff. 38 Wenn das mal bloß nicht der Gesetzgeber ursprünglich selbst war?! Vgl. StrafrechtSonderausschuß BT-Drs. IV/650, S. 24; BT-Drs. V/4095, S. 30 (31 f.) zum § 67 StGB n.F. (Vikariieren) im 1. und 2. StrRRefG v. 25.6.1969 und 4.7.1969 (BGBl.). Vgl. i.ü. u.a.: LK/Hanack, 11. Aufl. (1991), Vor §§ 61 ff. Rn. 20 ff. – Irgendwie mag diese Argumentationsweise auch nicht mit der freiheitsfreundlichen und die grundrechtlichen Bindungen betonenden Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 70, 297, [307] [Gesetzesvorbehalt]) zusammenstimmen. Vgl. i.ü. BVerfG StV 1994, 594 (596) [Verfassungsmäßigkeit der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt]; Frisch ZStW 102 (1990), 343 (347 f., 390); NK/Böllinger/Pollähne, 2. Aufl. (2005), § 61 Rn. 16; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2. Aufl. (2002), Rn. 40 u. 324 und NK/Streng, 2. Aufl. (2005), § 46 Rn. 33 ff. Vgl. auch Apel, in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a.M. (Hrsg.), Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts (2007), S. 355 ff., der sich zwar primär mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung auseinandersetzt, aber anschaulich den Unterschied in den verschiedenen Vollzugsziele darstellt. – In Wirklichkeit spukt immer noch das Denken vom „besonderen Gewaltverhältnis“, in dem namentlich Strafgefangene keinen spezifischen Grundrechts-Schutz genießen sollten, in den Hinterköpfen der Vertreter der h.M. herum – obwohl diese Konstruktionsfigur eigentlich mit BVerfGE 33, 1 (9 ff.) = NJW 1972, 811); 40, 276 (283), ihr verdientes Ende gefunden haben sollte!? Zu dem status quo ante exemplarisch: KG NJW 1969, 672; zur – vermeintlichen – „Beerdigung“ dieses Instituts zusammenfassend etwa: Müller-Dietz, Strafvollzugsrecht 34 35

Zwischenhaft, Organisationshaft

45

wird jedoch geradezu ad absurdum geführt, wenn der Verurteilte zunächst für Wochen, bisweilen aber auch für Monate ohne therapeutische Betreuung in Haft verbringt40, obwohl doch eigentlich § 67 Abs. 1 StGB gerade wegen dieser Hilfe- und Korrekturchancen den Vorwegvollzug der Maßregel anordnet (sog. Vikariieren)41.

II. Die faktischen Ursachen und Techniken der faktischen Problembewältigung a) Die faktischen Ursachen Rautenberg42 unterstellt, daß jener Mangel an Maßregelvollzugsplätzen darauf beruhe, daß die für diesen Bereich zuständigen (Länder-)Gesundheitsministerien der (Fehl-)Vorstellung anhingen, die Justiz würde bei einem tatsächlich ausreichenden Platzangebot mit einer vermehrten Anordnung von Unterbringungen reagieren. Dies hätte zur Folge, daß, trotz der (fiktiv gedachten) Bereitstellung der hierfür erforderlichen Zusatzmittel, immer noch keine Abhilfe geschaffen worden wäre, da sich die Gesamtsituation dadurch nicht änderte. Dann aber huldigt man in allen Finanzministerien der Maxime: Warum zu unbekannten Übeln fliehn,… – und läßt es lieber gleich ganz. b) Techniken der faktischen Problembewältigung Das Phänomen der Organisationshaft ist in mehreren Bundesländern bekannt, jedoch stammen die meisten veröffentlichten OLG-Entscheidungen, die sich mit der O-Haft auseinandersetzen, aus Nordrhein-Westfalen43. Wie die Zahlen in NRW bzgl. der Organisationshaft aussehen, mag eine Tabelle aufzeigen, die aus der Beantwortung einer Kleinen Anfrage im

(1978), S. 59 f.; Schöch, in: Kaiser u. a. (Hrsg.), Strafvollzug, 5. Aufl. (2002), § 5 Rn. 7 ff.; Callies/Müller-Dietz, StVollzG, 10. Aufl. (2005), Einl. Rn. 21 ff. 39 Gelegentlich spricht auch der BGH einmal an, worum es bei der Vollstreckung von zeitiger Freiheitsstrafe geht, nämlich, u.a., eben um „Resozialisierung“; vgl. etwa BGHSt 27, 302 (304): „daß der Gesetzgeber das Ziel verfolgt hat, die zeitige Freiheitsstrafe als Mittel der Resozialisierung zu begreifen, und daß er deshalb die Aufgabe der Strafgerichte nicht mit der Aburteilung als erledigt ansehen konnte“. 40 Neumann (Fn. 2), S. 601 (605). 41 Das Gericht darf nur dann eine andere zeitliche Reihenfolge der Vollstreckung anordnen, wenn dadurch der Zweck der Maßregel, besser erreicht werden kann (§ 67 Abs. 2 StGB). 42 Rautenberg NStZ 2000, 502. 43 Trennhaus StV 1999, 511.

46

Hans-Ullrich Paeffgen

Landtag resultiert, die zugleich belegt, daß es sich nicht um zeitliche Petitessen von Stunden oder allenfalls wenigen Tagen handelt44: Tabelle 1: Anzahl der in O-Haft befindlichen Verurteilten, von denen das Justizministerium seit 2000 im Berichtswege Kenntnis erhielt:

Anzahl der Inhaftierten

2000

2001

2002

2003

2004 (bis 30.9.04)

152

186

140

146

104

Tabelle 2: Entwicklung der durchschnittlichen Dauer der O-Haft:

Durchschnittliche Dauer in Tagen

2000

2001

2002

2003

2004

72, 7

95,4

79

62,7

56,7

Tabelle 3: Anzahl von Fällen bei denen O-Haft länger als 3 Monate andauerte: Jahr

Anzahl

2000

86

2001

118

2002

83

2003

86

2004

17 (bis 20.9.04)

Wie bewältigt die Praxis die auch von ihr gespürten Unzuträglichkeiten? Als Lösung wird von der h.M. (dem ersten der nachfolgend aufgeführten Ansätze, a) 1.) die vor Beginn des Maßregelvollzugs erlittene Organisationshaft auf die Dauer der Freiheitsstrafe angerechnet; es findet jedoch nur eine Anrechnung auf die Strafe, nicht aber auf die Maßregel statt45. Hierbei handelt es sich um das sog. Restdrittel, also um den Teil, der nicht durch

Antwort auf die Kleine Anfrage 1969 http://www.landtag.nrw.de/portal/ WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD13-6157.pdf. 45 OLG Celle NStZ-RR 2006, 388 (es wird an der bisherigen Rspr. festgehalten [StV 1997, 477]), ebenso BVerfG NStZ 1998, 77; OLG Stuttgart Justiz 2002, 63. 44

Zwischenhaft, Organisationshaft

47

Anrechnung der Unterbringung erledigt ist46. Überschreitet die Organisationshaft das Restdrittel der Strafe, so ist freilich der überschießende Betrag wegen des Übermaßverbotes von der Höchstfrist für die Unterbringung abzuziehen47. Diese Vorgehensweise wurde früher, zu allem Überfluß, aber nicht weniger zu Unrecht, als Rechtfertigung für die Organisationshaft angeführt: Man ging davon aus, daß durch die Anrechnung der Zeit der Inhaftierung vor dem Maßregel-Vollzug auf die Freiheitsstrafe dem Verurteilten zeitlich keine Nachteile entstünden, da es so nicht zu einer Verlängerung der Höchstfrist des § 67d Abs. 1 StGB führen würde48. Dabei wird freilich verkannt, daß diese vorherige Freiheitsentziehung auf keiner gesetzlichen Grundlage basiert und somit gleichwohl im Widerspruch zu § 67 Abs. 1 StGB steht49. Ob es der Selbst- oder der Fremdtäuschung dienen soll, wenn die Vollstreckungsbehörden die förmliche Einleitung der Vollstreckung gem. § 451 Abs. 1 StPO herausschieben, ist für den Außenstehenden schwer zu beurteilen. Trennhaus etwa berichtet, daß die oberste Justizverwaltung des Landes NRW es meist so hält, daß sie den Staatsanwaltschaften, sofern kein Unterbringungsplatz vorhanden sein sollte, erst nach Ablauf einer dreimonatigen „Organisationsfrist“ ihre gem. §§ 46a Abs. 1, 53 Abs. 2 Strafvollstre-

Ullenbruch NStZ 2000, 287 (289). Also von der normativ vorgeblich völlig differenten, ganz anderen Zielen dienenden Maßregel! 48 OLGe Hamm StV 1989, 539 (540); Karlsruhe Beschl. v. 9.4.1992 2 Ws 48/92 (abgedruckt in NStZ 1992, 456 jedoch ohne die hier relevanten Abschnitte); Stuttgart NStZ 1985, 332 (333); das hat das BVerfG aufgegriffen: BVerfG NStZ 1998, 77: In einem Akt freier Rechtsschöpfung kreiert es den Begriff der „Regelwidrigkeit“ für grundrechtsinvasives Staatsverhalten ohne Ermächtigungsgrundlage, was man in die Umgangssprache als „nicht schön, aber praktisch“ übersetzen darf: Rechtsgrundloser Grundrechts-Eingriff, der gleichwohl nicht verfassungswidrig ist – und für dessen Handhabung die Kammer genaue Vorschriften erteilt: „Ein Anrechnungsmodus, nach dem eine – regelwidrig verbrachte – Organisationshaftzeit im Ergebnis die in den Grenzen des § 67 Abs. 4 S. 1 StGB anrechenbare Maßregelvollzugszeit des Beschwerdeführens verkürzt, führt zu einer Verlängerung seines effektiven Freiheitsentzuges, für die es keine gesetzliche Grundlage gibt. Diese Strafzeitberechnung verletzt daher seine Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, 104 Abs. 1 GG.“, BVerfG NStZ 1998, 77 [Motto: Auch wenn der Ruf ruiniert ist, soll man nicht ungeniert – sondern nach, partiell, strengen Regeln leben!] – Lemke setzt auf diesen Schelmen noch anderthalben, in dem er die „Einladung“ der insoweit schweigenden Kammer gleich annimmt und dafür plädiert, daß man auch über die vom BVerfG schon mißbilligte Dauer von drei Monaten im Einzelfall hinausgehen können müsse. Wenigstens diesem, fraglos aus der (nicht nur) brandenburgischen Finanznot im Strafvollzug geborenen, Einfall hat das neuere Judikat (BVerfG NJW 2006, 427) die Zähne gezogen. 49 Ostermann StV 1993, 52 (53). 46 47

48

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ckungsordnung notwendige Zustimmung zum Aufschub des Maßregelvollzugs erteile, um das Defizit an Plätzen etwas zu kaschieren50. Den Rechtsverstoß damit verschleiern zu wollen, kann eigentlich allenfalls gegenüber dem unkundigen Außenstehenden gelingen: Zum einen wird gegen das Beschleunigungsgebot verstoßen, das eigentlich das gesamte Verfahren beherrschen sollte, und dem jedenfalls der EGMR51, aber auch immer wieder das BVerfG52 scharf akzentuierte Bedeutung beimessen. Leider hat sich, soweit ersichtlich, bisher noch niemand dieserhalben an den EGMR gewandt53 – nachdem man beim BVerfG allerdings (leider) schon gescheitert ist54. Daneben spielt auch hier – ähnlich wie bei der Zwischenhaft – die fehlende gesetzliche Grundlage für Eingriffe in das, nächst dem Leben, vorgeblich höchstrangige Rechtsgut „Fortbewegungsfreiheit“ eine vergleichbar marginale Bedeutung. Diese dreimonatige Organisationsfrist wurde mit der Entscheidung des OLG Hamm vom 24.4.1980 begründet, bei der das OLG eine Frist bis zu 3 Monate bis zur Überführung in die Unterbringung als rechtmäßig angesehen hatte55. Jedoch lag der Fall ein wenig anders, so daß sich viele zu Unrecht auf diese Entscheidung als solche berufen. Das Judikat anerkennt die nicht

Trennhaus StV 1999, 511 (512). EGMR B./AUT, Urt. v. 28.3.1990, 11968/86, A 175 Rn. 42, 49 ff. = NJW 1990, 3066 = ÖJZ 1990, 482 mit abl. Anm. Trechsel StV 1995, 326; Tomasi/F, Urt. v. 27.8.1992, 12850/87, A 241 Rn. 84 = EuGRZ 1994, 101 = ÖJZ 1993, 137; Brincat/I, Urt. v. 26.11.1992, 13867/88, A 249 Rn. 19 ff. = EuGRZ 1993, 389 = ÖJZ 1993, 318; W./CH, Urt. v. 26.1.1993, 14379/88, A 254 Rn. 30 = EuGRZ 1993, 384 = ÖJZ 1993, 562; Erdem/D, Urt. v. 5.7.2001, 38321/97, RJD 2001-VII Rn. 39 = EuGRZ 2001, 391 = NJW 2003, 1439; ýevizoviü/D, Urt. v. 29.7.2004, 49746/99 Rn. 37 f., 55 f. = EuGRZ 2004, 634 = NJW 2005, 3125 = StV 2005, 136 m. zust. Anm. Pauly StV 2005, 139; Dželili/D, Urt. v. 10.11.2005, 65745/01 Rn. 69 f., 81 = StraFo 2006, 147 = StV 2006, 474 m. zust. Anm. Pauly StV 2006, 480; EGMR (GK) Kudáa/PL, Urt. v. 26.10.2000, 30210/96, RJD 2000-XI Rn. 110 f., 130 = EuGRZ 2004, 484 = NJW 2001, 2694; und, zusammenfassend, Grabenwarter, EMRK, 3. Aufl. (2008), § 24 Rn. 68 ff., 168; SK-StPO/Paeffgen, 35. Lfg. (2004), Art. 6 Rn. 116 ff. und Art. 5 Rn. 52 ff. 52 BVerfG NJW 2005, 3485; NJW 2006, 672 = StV 2006, 73 (mit jeweils krit. Anm. Jahn NJW 2006, 652 und U. Schmidt NStZ 2006, 313); NJW 2006, 1336; aus der jüngeren, diese Rechtsmaxime besonders betonenden Rechtsprechung des BGH vgl. nur BGH NStZ 2006, 346 m. krit. Anm. Strate NJW 2006, 1480; BGH, Urt. v. 8.8.2006 – 5 StR 189/06 = HRRS 2006 Nr. 791 [http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/5/06/5-189-06.php] = StV 2007, 461 m. abl. Bespr. Paeffgen StV 2007, 487= wistra 2006, 428); vgl. auch SK-StPO/Paeffgen (Fn. 2), Vor § 112 Rn. 30. 53 Hier wird man – mit dem üblichen Vorbehalt gegenüber Prognosen zu gerichtlichen Entscheidungen („Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand!“) – mit gewisser Berechtigung auf Hilfe hoffen dürfen. 54 BVerfG NStZ 1998, 77. 55 OLG Hamm MDR 1980, 952. 50 51

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im Gesetz geregelte Organisationshaft mitnichten öffentlich und kann somit auch nicht dafür herhalten, als Argumentationsbasis herangezogen zu werden, eine generelle Organisationsfrist von bis zu 3 Monaten einzuräumen56. Der damals entschiedene Fall war nämlich insofern wenig präjudiziell57, als kein Vorwegvollzug der Maßregel angeordnet worden war. Trotzdem entschieden nachfolgend zahlreiche Gerichte, daß eine solche Organisationsfrist zulässig sei58. Das OLG Hamm hingegen distanzierte sich ausdrücklich in seiner Entscheidung vom 25.11.2003 von seiner damaligen Rechtssprechung bzgl. der Zulässigkeit der Organisationshaft und betonte in dieser neuen Entscheidung ebenfalls die Bedeutung des Beschleunigungsgrundsatzes auch in Organisationshaftsachen59. – Immerhin zeitigte dieser Beschluß insofern Wirkungen in der Praxis, als die Dauer der Organisationshaft in NRW seitdem deutlich zurückging60. – Aber auch hier wird neues Nachdenken einsetzen müssen. Denn das Judikat des BVerfG61 hat dieser saumseligen „Schonzeit“ von drei Monaten endgültig den Todesstoß versetzt – ohne freilich das Grunddilemma zu beheben62.

Trennhaus StV 1999, 511 (512). Der im Urteil angeordnete Vorwegvollzug von Freiheitsstrafe war nur nachträglich umgekehrt worden und die Überstellung in den Maßregelvollzug angeordnet worden. Da zu diesem Zeitpunkt nicht sofort ein Maßregelvollzugsplatz zur Verfügung stand und die StA deshalb eine Entlassung des Drogenabhängigen veranlasst hatte, räumte das OLG der Vollstreckungsbehörde eine Organisationsfrist, zur Besorgung des Platzes, ein und empfahl den anderen OLGs in gleichgelagerten Fällen ebenfalls eine solche Frist einzuräumen. Jedoch wurde hier nicht von Anfang an ein Vorwegvollzug der Maßregel angeordnet, sondern nur die Vollstreckung umgekehrt. Deshalb liegt der Fall ein wenig anders, und es ist nicht richtig, wenn einige sich darauf berufen, dass durch das OLG Hamm eine solche Organisationsfrist grds. gebilligt und öffentlich anerkannt wird. 58 Bsp. OLG Köln, Beschl. v. 18.5.2001 – 2 Ws 213/01; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.8.2000 – 1Ws 516/00. 59 OLG Hamm NStZ-RR 2004, 381 ff. 60 Siehe auch Tabelle 3. 61 BVerfG NJW 2006, 427 ff. 62 Aber auch Fachleute mit Innensicht halten dafür, daß der organisatorischen Aufwand angesichts der Überbelegung im Maßregelvollzug beträchtlich sein werde (vgl. dazu Pollähne SozPsychInfo 4/2003, 4 und NK/Böllinger/Pollähne (Fn. 38), § 67d Rn. 4 m.w.N.). Gleichwohl lehnen eine Reihe von ihnen es ab, diese Probleme mittels der „Organisationshaft“ lösen zu wollen (vgl. Volckart, Verteidigung in der Strafvollstreckung und im Vollzug, 3. Aufl. [2001], S. 125 f. Rn. 291 ff. und Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, 6. Aufl. [2003], S. 32 ff., sowie NK/Böllinger/Pollähne (Fn. 38), § 67 Rn. 7, 15 ff., 41; zur Aufnahmepflicht der Maßregelvollzugseinrichtungen: Volckart R&P 2004, 179 ff.). Immerhin verlangen NK/Böllinger/Pollähne (Fn. 38), § 67 Rn. 7 ausdrücklich, daß der Betroffene entweder sofort in den Maßregelvollzug zu verlegen oder auf freien Fuß zu setzen sei; der bis dahin gleichwohl verbüßte Freiheitsentzug sei gleichwohl vollständig anzurechnen (vgl. auch Tondorf, in: 56 57

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III. Die Techniken der rechtlichen Problembewältigung Die „Lösungs“-Angebote sind zwar diversifiziert, haben aber alle den Nachteil, daß sie die zentralen Probleme allenfalls touchieren63 – und ihnen zumeist noch nicht einmal Einäugigkeit in deren Wahrnehmung attestiert werden kann: a) Die Scheinlegitimierungen Im wesentlichen werden vier verschiedene Auffassungen vertreten, die i.E. jedenfalls alle vermeinen, die Inhaftierung legitimieren zu können: 1. Die erste Ansicht, zugleich die h.M., betrachtet die Organisationshaft als Strafhaft- (bzw. hilfsweise: Maßregel-)vollzug: Danach geht die Untersuchungshaft mit Rechtskraft eines Urteils, das auf eine vollstreckbare Freiheitsstrafe und/oder freiheitsentziehende Maßregel erkennt, automatisch in Strafhaft bzw. den Maßregelvollzug über64. 2. Eine andere Ansicht sieht in der Organisationshaft eine Fortdauer der Untersuchungshaft65. Danach dauert die Untersuchungshaft über den rechtskräftigen Abschluß des strafprozessualen Erkenntnisverfahrens hinaus an. 3. Die dritte Ansicht geht davon aus, daß es sich weder um eine Strafhaft noch um eine Untersuchungshaft handelt, sondern um eine Haftform sui generis, die Vollstreckungshaft66.

Hamm/Lohberger [Hrsg.], Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 4. Aufl. [2002], X. B. 21). 63 Immerhin glaubt Neumann diagnostizieren zu können, daß die Sensibilität für die rechtsstaatliche Problematik der Institution der Organisationshaft wachse (Fn. 2), S. 601 (602). 64 BGHSt 38, 63 = NJW 1991, 2779; OLGe Bremen MDR 1966, 349; Düsseldorf StV 1999, 585; Hamm NStZ 1998, 77; Karlsruhe NJW 1964, 1085; Köln NJW 1966, 1829; München Rpfleger 1964, 370; Nürnberg JZ 1950, 141 m. zust. Anm. Kleinknecht; Schleswig (Ernesti/Lorenzen) SchlHA 1986, 104; Stuttgart Justiz 1979, 144; AK-StPO/Krause, Bd. II, 1 (1992), § 120 Rn. 1; KK-StPO/Boujong (Fn. 36), § 120 Rn. 22; Kusch NStZ 1993, 27 (31); Meyer-Goßner (Fn. 8), § 120 Rn. 15; Pfeiffer, StPO, 5. Aufl. (2005), § 120 Rn. 6; Ullenbruch NStZ 2000, 287 (289). 65 OLGe Braunschweig MDR 1950, 755; Frankfurt MDR 1979, 75, aus der neueren Literatur: Linke JR 2001, 358 ff.; KK-StPO/Fischer, 5. Aufl. (2003), § 450 Rn. 10b u.10e (BVerfG NStZ 1998, 77 m. Anm. Lemke; OLG Zweibrücken StV 1997, 478; OLG Düsseldorf StV 1996, 47 (m. Anm. Volckart StV 1997, 479 u. Blechinger RPfleger 1996, 301); OLG Hamm StV 1997, 481; Schlothauer/Weider, 3. Aufl. (2001), Rn. 924 ff.; Wankel, Zuständigkeitsfragen im Haftrecht (2002), S. 96. 66 OLG Celle NStZ 1985, 188; OLG Düsseldorf StV 1988, 110.

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4. Einen noch recht jungen vierten Ansatz gebar das brandenburgische OLG: Es sieht die O-Haft als auf der Rechtsgrundlage des „übergesetzlichen Notstands“ vollzogen an67. b) Der Delegitimierungs-Ansatz Schließlich behaupten einige Rufer in der Wüste, daß – wie die Zwischenhaft – auch die Organisationshaft, als deren Sonderfall, generell mangels Rechtsgrundlage rechts- (verfassungs-)widrig sei68. c) Die Replik auf die h.M. Schon seit vielen Jahren haben Seebode und ich69, neben anderen70, dagegen anpolemisiert, sich mit diesen normativ rechtsgrundlosen GrundrechtsEingriffen zufriedenzugeben. Methodentheoretisch müßte eigentlich schon jeder ernstzunehmende Disputant einräumen, daß dann, wenn mit sich materiell ausdrücklich wider-

OLG Brandenburg NStZ 2000, 500 (insbes. S. 502) = R&P 2000, 150 m. zust. Anm. Volckart. Dort wird erstmals sehr deutlich eingeräumt, daß eine Gesetzeslücke in Hinblick auf eine gesetzliche Grundlage bestehe, die es der Vollstreckungsbehörde erlauben könnte, eine andere Freiheitsentziehung zu vollstrecken als die, die in der zu vollstreckenden Entscheidung bestimmt worden sei. Sogar die nachträgliche Umkehrung der regelmäßigen Vollstreckungsreihenfolge i.S.v. § 67 Abs. 1 StGB bedürfe einer vorherigen gerichtlichen Entscheidung. Zwar könne die O-Haft geduldet werden, solange es um tatsachliches Organisieren gehe, dazu gehöre aber nicht die Zeit, während derer die Vollstreckungsbehörde in erzwungener Untätigkeit auf das Freiwerden eines Vollzugsplatzes wartet. – Vgl. auch den im Anschluß daran veröffentlichten Beschluß NStZ 2000, 504, wo ein bloßes Warten auf Freiwerden des Vollzugsplatzes als Freiheitsentzug legitimierende „Organisationshaft“ abgelehnt wurde; es mangele an einer hinreichenden Beschleunigung. (Die Wartezeit sei Organisationshaft, jedoch sei diese von dem Zeitpunkt an unzulässig, bis zu dem Gericht und StA bei angemessener Organisation und Beeilung die Einleitung der Vollstreckung und die Überführung des Verurteilten in den Maßregelvollzug hätten erreicht oder geklärt haben können, dass für den Verurteilten ein Platz im Maßregelvollzug nicht zur Verfügung stehe.) In Übereinstimmung mit den vorstehenden Judikaten verweist nunmehr auch BVerfG (3. Kammer, 2. Senat, Beschl. v. 26.9.2005 – 2 BvR 1019/01) = NJW 2006, 427, auf das Beschleunigungsgebot und die Verfassungswidrigkeit einer O-Haft in den Fällen des bloßen Zuwartens. 68 Paeffgen NStZ 1989, 514 (520) und SK-StPO/Paeffgen (Fn. 2), Vor § 112 Rn. 5, 30a; SKStPO/Paeffgen (Fn. 2), § 120 Rn. 20 ff.; Seebode (Fn. 2), S. 101; ders. StV 1988, 119 ff.; so jetzt noch einmal, zutr., Neumann (Fn. 2), S. 601 (604 ff.); Ostermann StV 1993, 52 (54). 69 Seebode (Fn. 2), S. 101; Seebode StV 1988, 118 (122); Paeffgen NStZ 1989, 514 (520); SK-StPO/Paeffgen (Fn. 2), § 120 Rn. 19. 70 Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. (2007), § 25 Rn. 424.1 (der auf den EGMR hofft). – Jüngst: Neumann (Fn. 2), S. 601 ff. 67

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sprechenden Begründungswegen das nämliche Ergebnis erzielt wird, „etwas faul im Staate Dänemark“ ist, sprich: die Prämissen der Argumentation überdacht werden müssen. Im einzelnen seien die Einwände nur noch einmal kurz gebündelt aufgeführt: – Gegen Auffassung Nr. 1 spricht: Wie sich „automatisch“ aus Untersuchungshaft Strafhaft entwickeln können soll, bleibt in einem so strikt formalisierten Recht wie dem Strafprozeßrecht von den Anhänger der h.M. vorsichtshalber gleich unerläutert. Wenn es aber Strafhaft wäre, verstieße diese gegen das Gesetz, nämlich § 67 Abs. 1 StGB. Selbst wenn man der h.M. Glauben schenken müßte, bliebe es bei einer gesetzeswidrigen – und damit verfassungswidrigen Freiheitsentziehung. Daß Rautenberg den Tatbestand des § 345 StGB für nicht erfüllt hält, vermag er nur mit rabulistischen Thesen zu unterfüttern71. Dabei ist besonders apart, daß er immerhin einräumt, daß es sich beim Aufrechterhalten der Organisationshaft um „lediglich“ vollstreckungsrechtlich rechtswidriges Verhalten der verantwortlichen Amtsträger handele, weswegen er – immerhin – die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage fordert. Gleichwohl sei die Tathandlung das Vollstrecken einer der im Tatbestand genannten Rechtsfolgen zum Nachteil des Betroffenen. Obschon das Tatbestandsmerkmal der „behördlichen Verwahrung“ erfüllt sei, sei der Vollzug von Strafhaft oder Verwahrung anstelle von freiheitsentziehender Unterbringung nicht als nachteilig für den Verurteilten anzusehen. Da verwundert es freilich ein wenig, wenn der gleiche Autor für diesen „nicht nachteiligen“ Grundrechts-Eingriff ohne Rechtsgrundlage – eine Rechtsgrundlage verlangt und sich so, mehr im Sinne einer Schönheits-

Rautenberg NStZ 2000, 502 ff. (Anm. zum Beschl. des OLG Brandenburg v. 8.2.2000 – 2 Ws 337/99) = NStZ 2000, 500). – Immerhin ist es in der Lit. ganz h.M. daß eine nicht förmlich übergeleitete, gleichwohl aber verlängerte ehemalige Untersuchungshaft eine „Strafe“ bzw. ein „behördliche Verwahrung“ i.S.d. § 345 StGB ist, so etwa: Franzheim GA 1977, 69 ff.; Lackner/Kühl (Fn. 24), § 345 Rn. 2; LK/Jescheck (Fn. 25), § 345 Rn. 5; Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 25), § 77 Rn. 34 (unter Berufung auf den Willen des Gesetzgebers, alle Fälle behördlicher Freiheitsentziehung einzubeziehen); Rautenberg NStZ 2000, 502 (503); Seebode StV 1988, 118 (122); SK-StGB/Horn/Wolters (Fn. 24), § 345 Rn. 3a. – a.A.: BGHSt 20, 64; NK/Kuhlen (Fn. 24), § 345 Rn. 9; zweifelnd leider auch Fischer, StGB, 55. Aufl. (2008), § 345 Rn. 5. 71

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reparatur, der Rechte72 aus Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG besinnt73. – Gegen Auffassung Nr. 2 spricht: Untersuchungshaft kann schwerlich vorliegen, denn deren Voraussetzungen sind nicht gegeben: § 112 StPO setzt dringenden Tatverdacht voraus, dieser ist nach dem Abschluß des Strafverfahrens mit Rechtskraft nicht mehr konstruierbar, somit können dann auch keine Haftbefehle mehr erlassen werden74. Bieder wird einem entgegengehalten, daß die (rechtskräftig gewordene) Gewißheit von Tatbeteiligung und Schuld doch sogar noch ein Mehr sei gegenüber dem dringenden Tatverdacht75. Das mag als Punkt auf einer Steigungslinie von dem Anfangsverdacht zur Urteilsgewißheit psychologisierendmetaphorisch vertretbar veranschaulicht sein. Im Sinne der herrschenden Grundrechts-Eingriffs-Dogmatik ist so zu argumentieren bedenklich, m.E. sogar: schlicht unzulässig: Wegen ihres Eingebundenseins in verschiedene prozessuale Lagen/Konstellationen (hier: Strafverfahren/hier: [rechtskräftig gewordenes] Urteil) sind Tatverdacht und Urteilsgewißheit toto coelo etwas Unterschiedliches – und damit das letztere kein „Plus“ sondern ein „Aliud“ i.S.d. der Strafprozeßrechtsdogmatik. Vor allem aber fehlt es an einem Haftgrund, weswegen die gegenteilige Argumentation spätestens hier Dimensionen einer erschütternden Verfehltheit annimmt: Denn eine Verfahrenssabotage ist nach Rechtskraft des Urteils logisch nicht mehr denkbar76. Fälle von Vollstreckungssabotage haben aber im Gesetz mit den Normen der § 453c und § 457 eine ausdrückliche Regelung erfahren. Deswegen ist im Umkehrschluß, in anderen als diesen Fällen Vollstreckungssabotage anzunehmen, nichts ande-

…und der damit korrelierenden Pflichten des Staates… Außerdem schütze, so Rautenberg, der Normzweck des § 345 StGB die Rechtsgüter der Rechtspflege und persönlichen Freiheit des Betroffenen. Durch die Vorweg-Strafvollstreckung, mangels zur Verfügung stehenden Maßregelvollzugsplatzes, werde jedoch einer der beiden Zwecke, die mit der gerichtlich angeordneten Maßregel verfolgt werden, nämlich der der Sicherung der Allgemeinheit, erreicht; somit werde in beide Rechtsgüter nur z.T. oder gar nicht eingegriffen, da auch bei Bereitstehen eines Platzes die Freiheitsentziehung andauern würde. – Auch hier werden wieder „Äpfeln“ (Strafe) mit „Birnen“ (Maßregel) gleichbehandelt, weil sie sich unter einen Oberbegriff „Steinobst“ (Freiheitsentzug) fassen lassen, – obwohl sie „biologisch und geschmacklich“ (normativ und in der Zielsetzung) völlig unterschiedlich sind. 74 OLG Karlsruhe NJW 1964, 1085 (1086); KK-StPO/Boujong (Fn. 36), § 112 Rn. 55; LR/Wendisch (Fn. 36), § 112 Rn. 13 ff. 75 So jüngst wieder Linke JR 2001, 358 (360). 76 Vgl. u.a.: Paeffgen NStZ 1989, 514 (520) und SK-StPO/Paeffgen (Fn. 2), Vor § 112 Rn. 5, 30; SK-StPO/Paeffgen (Fn. 2), § 120 Rn. 20 ff.; Seebode (Fn. 2), S. 101; so jetzt noch einmal, zutr., Neumann (Fn. 2), S. 601 (604 ff.); für die Verdunklungsgefahr ausdrücklich ebenso Ostermann StV 1993, 52. 72 73

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res als – eine Analogie, hin zu einem schwerwiegend belastenden Grundrechts-Eingriff. Das aber wäre unter normalen Umständen, d.h. bei Beachtung der normativen Vorgaben, wegen des Verstoßes gegen den Vorbehalt des Gesetzes77 schlechterdings verfassungswidrig. Linke78 führt dagegen nun ins Feld, daß man für eine Fortwirkung des Haftbefehls nicht nur auf die Regelungen in den §§ 123 Abs. 1 Nr. 2, 124 Abs. 1 verweisen könne, sondern auch auf § 268b, der seinerseits nicht zwischen rechtskräftigen und nicht rechtskräftigen Urteilen unterscheidet. Jedoch betrifft § 123 Abs. 1 Nr. 2 einen ganz anderen Fall, nämlich die Vollziehung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel aus einem anderen Verfahren. § 268b gibt gleichfalls nichts für die von Linke verfochtene These her, weil zum Zeitpunkt dieses Beschlusses (selbst bei einer jener vitiösen Urteilsabsprachen79) nicht vorhersehbar ist, ob der Spruch in Rechtskraft erwachsen wird oder nicht80. Das einzig wirklich ernstzunehmende normative Argument bietet § 124 Abs. 1. Denn hier spricht ein Gesetz davon, daß „eine noch nicht freigewordene Sicherheit“ verfalle, „wenn sich der Beschuldigte der Untersuchung oder dem Antritt der erkannten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung“ entziehe. Nun wird man eine derart randständige Vorschrift schwerlich als Ersatz für eine rechtsstaatlich korrekte Ermächtigungsgrundlage heranziehen können81. Aber unbestreitbar wird hier das vorausgesetzt, was umstritten ist: Daß nämlich die U-Haft auch zur Voll-

77 BVerfGE 85, 386 (403) [Fangschaltungen]; 95, 267 (307 f.) [Altschulden]; 98, 218 (251) [Rechtschreibreform]; Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, (1980), Art. 20 VI Rn. 51, 72; Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1997), S. 319 ff.; ders., FS BVerfG II (2001), S. 436 f.; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. (2004), § 26 Rn. 63 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II (1998), Art. 20 Rn. 96. 78 Linke JR 2001, 358 (360). 79 Dazu noch einmal scharf ablehnend: Fischer NStZ 2007, 433 ff.; sowie: SKStPO/Paeffgen (Fn. 2), Vor § 112 Rn. 10 f. 80 Linke JR 2001, 358 (363), scheint seiner eigenen Argumentation nicht ganz zu vertrauen, wenn er anregt, § 268b StPO klarstellend dahingehend zu ergänzen, daß über die Fortdauer der Haft auch zu entscheiden sei, wenn das Urteil sofort rechtskräftig werde. Auch könne das Gericht ermächtigt werden, einen Haftbefehl zur Sicherung der Vollstreckung wegen Wiederholungs- oder Fluchtgefahr zu erlassen, wenn sich der rechtskräftig Verurteilte auf freiem Fuß befinde. In der Tat: Wenn es derartige Normen gäbe, eine derartige „Übergangs-Haft“ positiviert wäre – was ja unbestreitbar sachgerecht wäre – entfiele auch der Anlaß für die oben stehende Polemik. 81 … wenngleich die Gegner der hiesigen Position schon auf bläßlichere Argumente verfallen sind.

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streckungssicherung herangezogen werden dürfe und daß deren Dauer – wenn auch im Aussetzungs-Fall – bis zum Antritt der Strafe/Maßregel währe82. – Nun ist die Regelung (bis auf die Erstreckung auf die Maßregel83) schon traditioneller Bestand der StPO von 1877. Man hat sie also „mitgeschleift“, ohne sich über deren methodologische Fragwürdigkeit Rechenschaft abzugeben. Doch muß man auch hier – angesichts eines geänderten Verständnisses von Grundrechten und (eigentlich auch: von) staatlichen Befugnissen – der Norm des § 124 Abs. 1 jedwede – auch nur mittelbare – Legitimationskraft absprechen. Jener Lösung begegnet gleichwohl auch Rogall im Rahmen seiner Stellungnahme zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz84 mit Wohlwollen: Er bezweifelt, daß ein Untersuchungs-Haftbefehl mit Eintritt der Rechtskraft der verfahrensgegenständlichen Entscheidung seine Erledigung finde, und verweist dabei auf die Prozeßdogmatik und Gesetzeslage85. In concreto: Haftbefehl sei eine Prozeßhandlung, die eines actus contrarius in Form der Aufhebung des Haftbefehls bedürfe, um als beseitigt zu gelten. Doch dient das Desiderat, einen actus contrarius zu verlangen, der Offenkundigkeit der justiziellen Rechtsakte. Materiell ist der Haftbefehl mit Eintritt der Rechtskraft erledigt; er ist durch Voraussetzungsfortfall funktionslos geworden. Als derartige Haftbefehls-„Attrappe“ kann er jedenfalls einen so massiven Grundrechts-Eingriff wie einen länger dauernden Freiheits-Entzug nicht tragen86. – Saliger war in seiner Stellungnahme zum gleichen Entwurf87 in puncto der Zulässigkeit eines „Wiederauflebens“ von Haft- und Unterbringungsbefehlen anderer Auffassung; er stufte dies als verfassungsrecht-

Und zwar jenseits der unstreitigen – und ausdrücklich positivierten – §§ 453c und 457. Infolge des Art. 1 Nr. 1 StPÄG 1964 v. 19.12.1964, BGBl. I S. 1067. Ansonsten war die Norm weitgehend inhaltsgleich mit § 122 RStPO 1877. 84 (2. Justizmodernisierungsgesetz – 2. JuMOG) – BT-Drs. 16/3038, hier: Art. 14 des Gesetzentwurfs – Änderung der Strafprozeßordnung. 85 Nicht ohne Hintersinn beruft er sich dabei auf einen alten Einwand von mir gegen die damals (und wohl auch heute noch) h.M., SK-StPO/Paeffgen (Fn. 2), § 120 Rn. 14, daß nämlich ein Haftbefehl nicht eo ipso durch prozedurale Veränderung der Prozeßlage, namentlich mit Eintritt der Rechtskraft des verurteilenden Erkenntnisses, „erlischt“/„von selbst entfällt“, sondern förmlich aufgehoben werden muß. Zur gegenteiligen h.M.: vgl. etwa BVerfG NJW 2005, 3131. 86 Die in § 38 Nr. 3, StVollstrO und in § 91 Abs. 1 Nr. 1 UVollzO enthaltenen Regelungen will Rogall als Gegenargument ignorieren; mit methodischer Berechtigung verweist er diesbezüglich auf fehlende Gesetzeskraft. 87 In der nämlichen Sachverständigen-Anhörung im Rechtsausschuß, vgl. Fn. 55, aufrufbar unter http://www.bundestag.de/ ausschuesse /a06/anhoerungen/09_2_jumog/04_StN/Prof__Saliger.pdf. 82 83

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lich hochproblematisch ein. Ein Wiederaufleben des durch Rechtskraft „gegenstandslos“ gewordenen Haftbefehls hielt er für verfassungsrechtlich zweifelhaft und mit dem Judikat des BVerfG vom 18.8.200588 für unvereinbar, unabhängig von der Frage der derzeit mangelnden, aber im 2. JuMOG89 vorgesehenen Rechtsgrundlage für eine derartige Wiedergeburt, wenn eine Wiedereinsetzung erfolgreich ist. Nichts anderes könne auch für O-Haft gelten. – Gegen die Auffassungen Nr. 3 und Nr. 4 sprechen die schon oben bei der Zwischenhaft angeführten Einwände einer mangelnden verfassungsfesten Rechtsgrundlage. – Daß (strafrechtliche) Rechtfertigungskategorien für individuelle Handlungsgestattungen keine Ermächtigungen für hoheitliche Grundrechts-Eingriffe sein können, sollte eigentlich – auch angesichts des Alters des rechtlich zu bewältigenden Phänomens – ausgestanden sein90.

BVerfG NJW 2005, 3131, die die bisherige Praxis in Hinblick auf das Wiederaufleben von Haftbefehlen mangels gesetzlicher Grundlage, aber auch angesichts grundsätzlicher Bedenken verworfen hatte. 89 Vgl. Fn. 55. 90 Das letzte Mal, als man zu dieser Legitimations-Krücke, auch jenseits der Stammtische, gegriffen hatte, war im Fall des ermächtigungslosen Abhörens des Atomwissenschaftlers Traube auf dem Zenit der RAF-Bekämpfung, vgl. dazu abl. u.a. etwa J. Seiffert KJ 1977, 105 (120 ff.). Allerdings gab es auch in der Diskussion um das LuftsicherheitsG entsprechende Anklänge: § 34 StGB als Ermächtigungsgrundlage heranzuziehen verneinen (wegen der damit verbundenen Umgehung der verfahrens- und kompetenzrechtlich ausdifferenzierten Ordnung der ö.-r. Eingriffsermächtigungen) u.a.: E. W. Böckenförde NJW 1978, 1881 (1883); Denninger VVDStRL 37 (1979), S. 7 (44 f.); Dischke/Gloria NWVBl 1989, 37 (42); Drews/Wacke/Vogel/Martens, PolR I, 9. Aufl. (1988), S. 548 f.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1./2. Aufl. (1992/2000), § 111 Rn. 161; Bd. VII (1993), § 162 Rn. 97 (§ 34 sei „schlechthin untauglich, staatliche Handlungsbefugnisse zu begründen“); Kirchhof NJW 1978, 969 ff.; Lerche, FS v. d. Heydte (1977), Bd. II, S. 1033 ff.; Riegel NVwZ 1985, 639 (640); Weichert VBlBW 1991, 249 (251); v. Winterfeld NJW 1972, 1881; sowie aus dem strafrechtlichen Lager: Amelung NJW 1977, 833 (840); Krey/Meyer ZRP 1973, 1 (4); Schünemann GA 1985, 341 (365); Seebode, FS Klug II (1983), S. 372; SK-StPO/Paeffgen (Fn. 2), § 127 Rn. 33; – Nach wie vor befürwortend (bezeichnenderweise aber fast stets, ohne das Erfordernis des Güter-Übergewichts in die Analogie einzubeziehen [so nicht beim finalen Rettungsschuß; so nicht bei dem neuen Gesetz zur Luftsicherheit und der Ermächtigung, ein Flugzeug, das gekapert worden ist, abzuschießen]: Gramm NZWehrR 2003, 89 (98); Hochhuth NZWehrR 2002, 154 (165) (weil die Flugzeugpassagiere ohnehin dem Tod geweiht seien, existiere ein Interessenübergewicht zugunsten der Restbevölkerung); K. Stern, StaatsR II (1980), S. 1337 (aber nur, wenn es eine völlig neuartige, bisher nicht aufgetretene KrisenSituation sei); Wiefelspütz NZWehrR 2002, 45 (62); Wilkesmann NVwZ 2002, 1316 (1322); sowie allgemein E. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII (1993), § 169 Rn. 64 f. (aber nur für „Grenzsituationen“); Merten, Aktuelle Probleme des PolR (1977), S. 85 (99 ff.); Schwabe, Notrechtsvorbehalte (1979), S. 54 ff., und ders. NJW 1977, 88

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Leider hat ein recht frisches Judikat des BVerfG91, das nur die Saumseligkeit in der Anwendung der Organisationshaft als mit der Verfassung unvereinbar rügt, der gegenteilig lautenden h.M. (vorläufig) den Küraß bräsiger Undurchdringlichkeit umgeschnallt, ohne sich, wie leider nicht unüblich, auf sachliche Einwände im geringsten einzulassen. Wohlwollend interpretierend glaubt demgegenüber Neumann, dem Judikat keine inzidente Anerkennung der O-Haft entnehmen zu müssen92. Dem vermag ich nicht zu folgen93: Wie soll man ein Urteil, in dem – und zwar ohne nähere Begründung – festgestellt wird, in der StPO sei „aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen eine durch Anrechnung auszugleichende Verzögerung der Vollstreckung eines Strafurteils angelegt“94, gleichwohl, trotz festgestellter rechtsstaatlicher Defizite, die O-Haft nicht für verfassungswidrig erklärt wird, anders als inzidente Anerkennung eben jener Haftform verstehen? Nur allzu gerne teilte ich den Optimismus von Neumann, der darauf setzt, daß jenes Judikat nicht das letzte in puncto O-Haft gewesen sei95, und der auf ein Verdikt im nächsten Urteil hofft96. Vielleicht sollte man die Dignität des Organisationshaft-Beschlusses der 3. Kammer des 2. Senats auch an den Maßstäben eines Verdikts messen, das derselbe Senat (also unter Beteiligung der nämlichen Kammermitglieder) in gleichen Jahr 2006 über die Praxis des Jugendstrafvollzugs gefällt hat97: Diese war jahrzehntelang nur durch Verwaltungsvorschriften geregelt,

1902 ff. (als Replik auf Amelung, l.c., mit Duplik von Amelung NJW 1978, 623 f.). Differenziert, aber nur geringfügig besser: Lutze NZWehrR 2003, 101 ff. (der die Terrorabwehr im Inneren gleich auf den Verteidigungsauftrag des GG Art 87a Abs 2 GG stützt [jedenfalls für den Objektschutz] – und deshalb § 34 StGB analog nicht mehr nötig hat; allerdings: Die ausdrücklichen Verfassungsvorbehalte der Art. 35 Abs. 2, 3, 87a Abs. 3, Abs. 4 GG böten jedoch für eine präventive Verwendung keine Grundlage [106, 115]). Ausführl. zu dem oft dahinter auftauchenden (unzulässigen) Schluß von der Aufgabe auf die Befugnis: Schlink, Amtshilfe (1982), S. 92 ff., 105 ff. 91 BVerfG NJW 2006, 427 ff. = EuGRZ 2005, 622 ff. (m. krit. Anm. Paeffgen NStZ 2006, 137). 92 Neumann (Fn. 2), S. 615. 93 Ebenso, in der Sache, Bartmeier NStZ 2006, 544 (545): „Dabei haben die Karlsruher Richter – bei grundsätzlicher Anerkennung der Organisationshaft – ihrer Zulässigkeit enge Grenzen gezogen und kritische Worte zur bisherigen Unterbringungspraxis gefunden.“; dieser zieht daraus freilich Schlüsse mit entgegengesetzter Tendenz zum hier Vertretenen. 94 BVerfG NJW 2006, 427 (429). 95 Dem ist freilich uneingeschränkt zuzustimmen. 96 Möglicherweise gehen die Kamele doch durch ein Nadelöhr! Aber wahrscheinlicher, jedenfalls aussichtsreicher will mir, mit Kühne, doch ein Weckruf aus Straßburg erscheinen, vgl. Fn. 69. 97 NJW 2006, 2093 ff.

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– was der Senat für verfassungswidrig erklärt hat. Die Entscheidung strotzt geradezu vor Aussagen, die es eigentlich gegen die Rechtsfigur der „Organisationshaft“ fruchtbar zu machen gölte98; etwa: „Eingriffe in Grundrechte bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Seit 1972 ist geklärt, dass von diesem Erfordernis auch Eingriffe in die Grundrechte von Strafgefangenen nicht ausgenommen sind. Grundrechtseingriffe, die über den Freiheitsentzug als solchen hinausgehen, bedürfen danach unabhängig von den guten oder sogar zwingenden sachlichen Gründen, die für sie sprechen mögen, einer eigenen gesetzlichen Grundlage, die die Eingriffsvoraussetzungen in hinreichend bestimmter Weise normiert.99 (…) Zur Überbrückung der Übergangszeit bis zum In-Kraft-Treten einer außenwirksamen rechtlichen Regelung haben die Landesjustizverwaltungen 1976 bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug vereinbart, die in den Ländern übereinstimmend 1977 in Kraft gesetzt und später auch in den neuen Ländern übernommen wurden. (…) Es liegt in der Rechtsnatur dieser Bestimmungen, dass sie dem für Grundrechtseingriffe geltenden Vorbehalt des Gesetzes nicht genügen. (…) Nach dem Sinn und Zweck des Gesetzesvorbehalts scheidet eine Schließung von Regelungslücken im Wege der Analogie jedenfalls dann aus, wenn für eine ganze Rechtsmaterie mit vielfältigem Grundrechtsbezug der Gesetzgeber die Entscheidung über deren Ausgestaltung nicht getroffen und die dazu erforderlichen grundrechtsrelevanten Abwägungen nicht vorgenommen hat. So liegt es hier. Ausreichende gesetzliche Eingriffsgrundlagen fehlen für beinahe den gesamten Bereich des Jugendstrafvollzugs. Die Voraussetzungen für eine analoge Gesetzesanwendung liegen auch im Übrigen nicht vor. Die bestehende außerordentlich breite Regelungslücke ist nicht planwidrig100. Planwidrig ist allenfalls, dass sie trotz zahlreicher Anläufe bis heute nicht geschlossen wurde101.“

98 … obwohl sich die drei Richter der 3. Kammer dem Entscheid einwendungslos angeschlossen haben … 99 NJW 2006, 2093 (2094), unter Berufung auf BVerfGE 33, 1 (9 f.) = NJW 1972, 811; BVerfGE 58, 358 (367) = NJW 1982, 323, bzw. auf BVerfGE 40, 276 (283) = NJW 1976, 37. 100 Unter Verweis auf H.-J. Albrecht RdJ 2003, 352 (358); Rzepka, in: Pollähne/Bammann/Feest (Hrsg.), Wege aus der Gesetzlosigkeit. Rechtslage und Regelungsbedürftigkeit des Jugendstrafvollzugs (2004), S. 41. 101 Unter Verweis auf Bammann RdJ 2001, 24 (25 ff.); Albrecht RdJ 2003, 352 (355); Höflich, in: Pollähne/Bammann/Feest (Fn. 100), S. 91 ff.; zum Entwurf des BMJ v. April 2004: J.

Zwischenhaft, Organisationshaft

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D. Fazit Man mag zwar, mit Karl Valentin, zu dem Vorstehenden sagen, es sei doch (längst) schon alles gesagt, – obschon vielleicht immer noch nicht von allen. Aber was bleibt einem anderes übrig, als in einer Demokratie – kontrafaktisch – darauf zu hoffen, daß irgendwann die Rationalität von Argumenten auch beim Gesetzgeber ankommt. Leider ist das Selbstverständnis der Judikatur, namentlich des BVerfG und des BGH, sich als „Reparaturbetrieb“ angesichts eines immer kurzatmiger agierenden Gesetzgebers zu verstehen, eines der Haupthindernisse nicht nur auf dem Weg zur Lösung dieses Sachproblems, sondern auch sonst vielfältiger Rechtsfragen. Würde nicht immer wieder – vermeintlich verfassungskonform – (bloß ohne jede Rechtsgrundlage – schon für sich ein Oxymoron) zusammengeschustert, was nicht zusammengehört, so sähe sich der Gesetzgeber viel häufiger genötigt, selbst Farbe zu bekennen. Hätte auch nur ein OLG einen rechtskräftig Verurteilten – mangels Rechtsgrundlage – nach Eintritt der Rechtskraft frei gelassen und wäre dieser geflohen, so hätte ich keinen Zweifel, daß der Bundestag binnen kürzester Frist ein entsprechendes Gesetz geschaffen hätte102. – Als Folge der Föderalismusreform ist der U-Haft-Vollzug freilich in die ausschließliche Länderzuständigkeit gewandert. Doch auch für sie gölte – das gleiche. Man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, als spräche ein gewisser – uns aus unserer deutschen Rechtsgeschichte nicht unvertrauter – Hochmut, gepaart mit Verachtung für die Gewaltenteilung und begleitet von einem kaum noch als subtil zu nennenden, verfassungsinstitutionell ursprünglich unerbetenen, Paternalismus aus dieser Attitüde der obersten Gerichte: Wie bei einem vermeintlich ungebärdigen, schlecht auszurechnenden Kind erledigen die „braven“ Eltern (die obersten Gerichte) die eigentlich jenem (dem Parlament) angesonnene Aufgabe lieber gleich selbst,

Walter, Neue Kriminalpolitik 2005, S. 17 f.; Laubenthal, in: Dt. Vereinigung f. Jugendgerichte u. Jugendgerichtshilfen (DVJJ) Nordbayern (Hrsg.), Entwicklungen im JugendstrafR (2005), S. 76 ff. 102 Es hat in der Parlamentsgeschichte unrühmliche Gegenstände gegeben, an denen der Bundestag seine Fixigkeit unter Beweis gestellt hat (exemplarisch: das Kontaktsperre-Gesetz v. 30.9.1977, BGBl. I S. 1877). Vgl. i.ü. den Text bei und in Fn. 59. – Ein besonders beeindruckendes Beispiel für zügiges Legiferieren bot der Bundestag soeben mit dem Diätenerhöhungsgesetz BT-Drs. 16/6924 v. 6.11.2007, das am 16.11. bereits in dritter Lesung beschlossen ward, also 11 Tage, nachdem sich die Große Koalition intern auf eine neue Diätenerhöhung verständigt hatte, vgl. etwa Hamburger Abendblatt v. 17.11.2007, http://www.abendblatt.de/ daten/2007/11/17/817426.html, oder Petra Bornhöft, Blitzgesetz zur Erhöhung der Diäten, Spiegel online v. 16.11.2007, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,517818,00.html.

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als auf dessen Lernfähigkeit, einschließlich der das Lernen begleitenden Fehlversuche zu setzen. Und so wird das „Kind“ immer lernunwilliger – frei nach dem Motto: „Macht Euren Dreck alleene!“103 Doch bisweilen ist die „Lösung“ eines Problems – in der Sache – ein viel größeres Problem!? Doch glaube ich mit dem hochgeschätzten Jubilar einig zu wissen, daß man für derartige, wichtige Fragen immer wieder aufs Neue „die Lanze einlegen“ sollte, auch wenn schon manche im Kampf ums Recht wirkungslos gebrochen wurde.

Mit dieser Devise soll sich der letzte König von Sachsen, Friedrich August III, bei seiner Abdankung als sächsischer König anläßlich der Revolution 1918/19 verabschiedet haben (Hans von Reimann, Macht euern Dreck alleene!, Anekdoten von Sachsens letztem König, Friedrich August III [2003], S. 14). Die damit umrissene Haltung charakterisiert m.E. am ehesten das Verhältnis des Parlaments jedenfalls zum BVerfG, wenn man nur an die Steuergesetzgebung, oder in den Bundesländern an die Polizeirechtsgesetzgebung denkt. 103

Kernbereichsmystik im Strafverfahren KLAUS ROGALL

I. Der sog. Kernbereich privater Lebensgestaltung und mit ihm das Recht auf informationelle Selbstbestimmung haben in den letzten Jahren durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen Einfluss auf die Auslegung und Anwendung des Strafverfahrensrechts gewonnen, den man sich früher kaum hätte vorstellen können. Dieser nach wie vor anhaltende Trend ist aus meiner Sicht als Fehlentwicklung zu charakterisieren, die nach einer Umkehr verlangt. Insbesondere die mit verfassungsgerichtlicher Autorität beförderte Überhöhung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung begegnet erheblichen Bedenken. Denn diese Überhöhung geht mit Missverständnissen und Unklarheiten einher, die starke Zweifel daran begründen, ob es sich bei der Kernbereichsthese überhaupt um ein operables Konzept handelt. Amelung hat vor immerhin schon 18 Jahren den Finger in die Wunde gelegt und der Kernbereichsthese Tautologie und Konturenlosigkeit bescheinigt.1 Es besteht tatsächlich der begründete Verdacht, dass viele der gegenwärtig anzutreffenden Definitionen und Umschreibungen des Kernbereichs2 auf unzutreffenden Anschauungen beruhen. Die Folge dieser Unzuträglichkeiten besteht darin, dass strafprozessuale „no-go-areas“ auch dann zustande kommen, wenn hierfür jede sachliche Notwendigkeit fehlt. Mit der

NJW 1990, 1753 (1755): „Die Definition der zum Kernbereich der Person gehörenden Gegebenheiten als ‘höchstpersönlich’ ist tautologisch. Sie verliert vollends die Konturen durch den Zusatz, auch Sachverhalte mit ‘sozialer Bedeutung oder Beziehung’ könnten höchstpersönlichen Charakter tragen. Die ‘Art’ dieser Beziehung bleibt ebenso offen wie der Grad ihrer ‘Intensität’, und deshalb wird alles den ‘Besonderheiten des einzelnen Falles’ überlassen. Wenn diese Beschreibung des unantastbaren Bezirks einer Person irgend etwas erhellt, dann lediglich eines: die Kernbereichslehre des BVerfG bezieht sich nicht auf einen Sachverhalt, der auch nur annähernd in subsumtionsfähigen Begriffen erfassbar ist, sondern auf undeutliche Sozialnormen, deren Grenzen nicht das Grundgesetz bestimmt, sondern – wie sich zeigt – die soziale und politische Biographie des Richters, der mit dem Kernbereichsdogma argumentiert.“ 2 Vgl. dazu neuerdings Warntjen, Heimliche Zwangsmaßnahmen und der Kernbereich privater Lebensgestaltung (2007); Baldus JZ 2008, 218 ff. 1

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Rechtssicherheit schwindet die Vorhersehbarkeit des Rechts, und eine durch anerkennenswerte Rechtsschutzinteressen wahrlich nicht gebotene Übersteigerung von Persönlichkeitswerten gefährdet die unabweisbaren Bedürfnisse einer rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichteten wirksamen Strafrechtspflege. Reinhard Müller3 hat vor kurzem im Zusammenhang mit der Diskussion über die sog. Online-Durchsuchung mit Rücksicht auf den Kernbereich privater Lebensgestaltung von einem „perversen Grundrechtsschutz“ gesprochen. So weit braucht man nicht zu gehen. Aber es muss die Frage gestattet sein, wie weit wir eigentlich noch davon entfernt sind, die Effektivität unseres Strafprozessrechtssystems unnötigerweise aufs Spiel zu setzen. Das BVerfG selbst hat an der Entstehung dieser Gefahr einen nicht ganz unmaßgeblichen Anteil. Als Beispiele verfehlter Judikatur sind hier vor allem die Entscheidungen des Gerichts zur Rasterfahndung,4 zum Luftsicherheitsgesetz5 sowie zur akustischen Wohnraumüberwachung6 zu nennen. Seit dem Volkszählungsurteil7 argumentiert es mit der Angst der Bürger vor totaler Überwachung und den sog. „chilling effects“ staatlicher Informationsteilhabe, die angeblich von der Grundrechtsausübung abhalten, ohne zu versuchen, diese Erwägungen auf eine belastbare empirische Grundlage zu stellen. Im Windschatten dieser Rechtsprechung, die von einigen Richtern des Bundesverfassungsgerichts in der Öffentlichkeit recht energisch und ohne Rücksicht auf die Schaffung von Befangenheitsgründen verteidigt wird, ist eine ganze „Datenschutz- und Bürgerrechtsszene“ entstanden, die sich dem Schutz des Rechtsstaates verschrieben hat,8 wobei vor dem BVerfG offenbar immer dieselben besorgten Bürger als Beschwerdeführer auftreten, obwohl sie angesichts ihrer Biographie und ihres völlig untadeligen Lebenswandels von vornherein nicht als Zielpersonen von sicherheitsbehördlichen Maßnahmen in Betracht kommen.9 Die allseits beklagte Flut

FAZ Nr. 235 vom 10. Oktober 2007, S. 10. BVerfGE 115, 320 ff.; dem Urteil zustimmend Kett-Straub ZIS 2006, 447 ff. 5 BVerfGE 115, 118 ff.; krit. dazu Rogall NStZ 2008, 1 ff. 6 BVerfGE 109, 279 ff.; treffende Kritik dazu bei Krey, FS Schwind (2006), S. 725 ff. Dass das Urteil „einen Platz unter den ‘großen’ Entscheidungen des Gerichts einnehmen wird“ (so Denninger ZRP 2004, 101; Ruthig GA 2004, 587 [607]; Lepsius Jura 2005, 586 [590]; Roxin, FS Böttcher [2007], S. 160 f. mit Fn. 8, 9), ist zu bezweifeln und vor allen Dingen auch nicht zu hoffen. 7 BVerfGE 65, 1 8 Erfreuliches Augenmaß ist dagegen bei Bull NJW 2006, 1617 ff. zu konstatieren. 9 Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Beschwerdeführer nehmen natürlich nur eine ihnen zustehende Befugnis in Anspruch, und der Erfolg ihrer Beschwerden gibt ihnen sogar recht. 3 4

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von Verfassungsbeschwerden könnte wirkungsvoll bekämpft werden, wenn das BVerfG seine Rechtsprechung zur Beschwerdebefugnis (§§ 90 ff. BVerfGG) restriktiver handhaben würde. In diesem Beitrag, der dem verehrten Jubilar mit herzlichsten Glückwünschen gewidmet ist, geht es mir nicht um eine Beteiligung an der Grundsatzdebatte über das Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit, die in neueren Publikationen10 anschaulich zu Tage getreten ist und zu Rede und Gegenrede zwischen BVerfG und Bundesregierung geführt hat.11 Mein Beitrag verfolgt vielmehr eine bescheidenere Zielsetzung, nämlich die der – endgültigen12 – Entmystifizierung der Kernbereichsthese im Strafverfahrensrecht. Ich rechne bei alledem mit dem geneigten Interesse13 des Jubilars, der sich unlängst warnend zu einem anderen Teilproblem der aktuellen Sicherheitsdebatte, und zwar der sog. Online-Durchsuchung14 geäußert hat.15 Eine Verbindung zu dem Anliegen dieses Beitrages besteht ja insofern, als in der öffentlichen Diskussion – nachgerade von Rechtspolitikern – die Ansicht geäußert worden ist, dass es auf Computerfestplatten Kernbereiche gebe. Die Festplatte avanciert so zu einer Wohnung, in der sich auch Schlafzimmer befinden. Das braucht nicht falsch zu sein,16 doch wird man fragen dürfen, ob und in welchem Umfang dies tatsächlich zu einem strafprozessualen „noli me tangere“ führen muss. Das hier unternommene Vorhaben einer Entmystifizierung der Kernbereichsthese kann sich, soweit das Strafprozessrecht betroffen ist, inzwischen auf interessantes Anschauungsmaterial aus der Rechtsprechung stützen. Paradigmatisch soll hierfür ein Urteil des 1. Strafsenats des BGH vom 10.

10 Vgl. etwa Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates (2007); Sofsky, Verteidigung des Privaten (2007); Schaar, Das Ende der Privatsphäre (2007); Albrecht, Die vergessene Freiheit, 2. Aufl. (2006). 11 Vgl. dazu die in der ZEIT Nr. 47 vom 15.11.2007 mitgeteilten Redebeiträge von Udo di Fabio und Wolfgang Schäuble zur Frage, was dem Rechtsstaat im Anti-Terrorkampf erlaubt sein darf, nachzulesen unter der Internet-Adresse http://www.zeit.de/ueberwachung. 12 Zum Problem bereits Rogall ZG 2005, 164 ff. 13 Allerdings nicht unbedingt mit seiner ungeteilten Zustimmung! 14 Vgl. dazu BGH NStZ 2007, 279 = JZ 2007, 796 m. Anm. Cornelius = StraFo 2007, 149 m. Anm. Hamm; zur Problematik ferner Jahn/Kudlich JR 2007, 57; Kutscha NJW 2007, 1169; Kemper ZRP 2007, 105; Huber NVwZ 2007, 880. Zur Nichtigkeit der Vorschriften über die „Online-Durchsuchung“ im VerfschG NW s. jetzt BVerfG NJW 2008, 822 ff. 15 NStZ 2007, 535. Seine Bedenken in Bezug auf die Beachtung des Art. 13 GG bei einer gesetzlichen Regelung haben allerdings bisher keine ungeteilte Zustimmung gefunden, vgl. Schlegel GA 2007, 648 ff.; gegen eine Verletzung des Art. 13 GG nunmehr auch BVerfG NJW 2008, 822 (826). 16 Schlegel (Fn. 15) bestreitet dies freilich auf das Heftigste.

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August 200517 stehen, in der das Gericht erstmalig eine – prompt missglückte – Annäherung an den Kernbereich privater Lebensgestaltung, so wie er nach dem Urteil des BVerfG zur akustischen Wohnraumüberwachung18 zu verstehen sein soll, versucht hat. Eine kritische Würdigung der Entscheidung des 1. Strafsenats kann dabei die ständige Rechtsprechung des BVerfG zum Kernbereich nicht unberücksichtigt lassen.19 Es ist aber nicht beabsichtigt und an dieser Stelle letztlich auch gar nicht möglich, die Kernbereichsthese als solche und ihre Verankerung in der Menschenwürdegarantie des GG20 vom Grundsätzlichen her in Frage zu stellen21 oder methodischen Unzulänglichen22 nachzugehen, die sich mit ihrer Beschreibung verbinden. Auch bedarf es keiner positiven Umschreibung23 des Kernbereichs privater Lebensgestaltung,24 die übrigens auch in der neueren Literatur25 nicht in überzeugender Weise zustande gebracht worden ist. Für die Zwecke dieses Beitrags reicht es aus, von den Maßstäben auszugehen, die das BVerfG selbst bei der Bestimmung des Kernbereichs verwendet. Schon dann zeigt sich, dass die Kernbereichsrechtsprechung in ihrer Bedeutung und in ihren Auswirkungen – offenbar auch vom Gericht selbst – überschätzt wird.26 In diesem Zusammenhang bietet es sich an, die Aktivitäten des Gesetzgebers zum strafprozessualen Kernbereichsschutz, die unlängst

BGHSt 50, 206 ff. BVerfGE 109, 279 ff.; zu diesem Urteil – teils auch krit. – Denninger ZRP 2004, 101 ff.; Gusy JuS 2004, 457 ff.; Ruthig GA 2004, 587 ff.; Lepsius Jura 2005, 433 ff. und ibid. 586 ff.; Kutscha NJW 2005, 20 ff.; Geis CR 2004, 338 ff.; Haas NJW 2004, 3082 ff. 19 S. dazu unten III. 20 Vgl. hierzu Lindemann JR 2006, 196 ff.; Petersen KritJ 2004, 316 ff.; Gusy JuS 2004, 457 ff. 21 Dass man dies tun kann, steht fest. Für ein bloßes „Symbol“ hält den Kernbereich etwa Lorenz GA 1997, 51 (62, 64); von einer „romantisierenden Grundrechtsideologie“ spricht Lesch StV 1995, 612 (613). 22 Zur Zirkelschlüssigkeit der verfassungsgerichtlichen Argumentation statt aller Geis JZ 1991, 116. 23 Eine solche Umschreibung in einem Gesetz ist nach Ansicht des BVerfG verfassungsrechtlich nicht geboten, vgl. BVerfG NJW 2007, 2753 (2755). 24 Zu den Grundzügen der eigenen Vorstellungen vgl. SK-StPO/Rogall, 43. Lfg. (2005), § 68a Rn. 28 ff. 25 Vgl. Warntjen (Fn. 2), S. 73 ff., 82 ff., 116. 26 Vgl. dazu auch Weyand DRiZ 2004, 167; Krey (Fn. 6), S. 725 ff. Zu den Folgerungen, die aus diesem Urteil für andere Ermittlungsmaßnahmen zu ziehen sein sollen, vgl. Warntjen (Fn. 2), S. 132 ff.; Löffelmann ZStW 118 (2006), 358 (375 ff.); Weßlau, GS Lisken (2004), S. 47 ff. Vgl. im Übrigen auch Warntjen KritJ 2005, 276 ff.; Weißer GA 2006, 148, 158 ff.; Bergemann, GS Lisken (2004), S. 69 ff. 17 18

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Gesetz geworden sind,27 in die weiteren Überlegungen einzubeziehen. Diese gelten vornehmlich der Frage, welche Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung im Strafprozess entbehrlich sind und welche Grenzen strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen nach wie vor einhalten müssen.

II. 1. Das Urteil BGHSt 50, 206 ff., das hier exemplarisch zum Gegenstand der Erörterung gemacht wird, hatte eine akustische Wohnraumüberwachung im Zimmer einer Rehabilitationsklinik zum Gegenstand. Der dort aufhältliche, des Mordes verdächtige Angeklagte hatte aus einem Telefongespräch mit einer Arbeitskollegin erfahren, dass sich der Verdacht gegen ihn richtete. Unmittelbar danach führte der Angeklagte ein „erregtes Selbstgespräch“, bei dem er ausrief: „Sehr aggressiv, sehr aggressiv, sehr aggressiv! In Kopf hätt i eam schießen sollen, in Kopf hätt i eam schießen sollen, selber umgebracht … in Kopf hätt i eam schießen sollen.“ Das Landgericht hat diese Äußerung als belastendes Einzelindiz in die Beweiswürdigung eingestellt und auch bei der Gesamtwürdigung des Beweisergebnisses zur Überzeugungsbildung herangezogen. Die vom BGH nicht beanstandete Annahme des Tatrichters, der Angeklagte habe Bedauern darüber erkennen lassen, keine Tötungsart gewählt zu haben, die weniger in seine Richtung weise, ist gewiss möglich und nach den Gesamtumständen, soweit sie bekannt sind, sogar naheliegend. Von ihr ist für die nachfolgenden Überlegungen auszugehen. Gäbe es die akustische Wohnraumüberwachung als Ermittlungsinstrument nicht,28 so wäre eine solche gesetzgeberische Entscheidung natürlich anzuerkennen und die Äußerungen des Angeklagten wären niemals zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangt. Nicht anders verhielte es sich, wenn die Voraussetzungen für die Anordnung der akustischen Wohnraumüberwachung in concreto nicht vorgelegen hätten oder wenn die Maß-

27 Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG, BGBl. 2007 I S. 3198. Vgl. dazu den Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 16/5846), ferner die Beschlussempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 16/6979 sowie den Beschluss des Bundesrates, BR-Drs. 798/07 (Beschluss). 28 Dafür sind etwa Hassemer DRiZ 1992, 357; Wolter, FS Küper (2007), S. 719 (Abschaffung der §§ 100c ff. StPO) und viele andere eingetreten.

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nahme – was der BGH ja immerhin erwägt29 – zu unterbrechen gewesen wäre; auch in diesem Falle wäre das Selbstgespräch nicht aufgezeichnet worden. Das alles wäre zu respektieren, auch wenn eine Aufklärung des Mordes nicht hätte erfolgen können. Das Selbstgespräch wurde indessen aufgezeichnet, und zwar, wie zu unterstellen ist, in an sich rechtmäßiger Weise. Dass aber die Äußerung des Angeklagten, auch wenn sie per Selbstgespräch im Zimmer einer Rehabilitationsklinik30 gefallen ist und in sehr nachvollziehbarer tatrichterlicher Interpretation Bedauern darüber zum Ausdruck bringt, es im Sinne einer Minimierung des Entdeckungsrisikos nicht mit einer anderen Tötungsart versucht zu haben, zum Kernbereich privater Lebensgestaltung gehören und deshalb unverwertbar sein soll, wie der BGH annimmt,31 steht im Buch der Vernunft nicht geschrieben und ist juristischen Laien nicht zu vermitteln. Sollte das Gesetz tatsächlich zu dem Ergebnis zwingen, das der BGH für richtig gehalten hat, muss etwas an dem Gesetz falsch sein. Betrachtet man die zum Urteil des BGH ergangenen Stellungnahmen, so fällt auf, dass die Entscheidung in dem hier relevanten Punkt überwiegend gebilligt wird.32 Die Autoren bedauern nur die Ungleichbehandlung von mündlichen Äußerungen (Selbstgespräch) und schriftlichen Aufzeichnungen (Stichwort: Tagebuch)33 oder stellen die vom BGH für möglich gehaltene Präventivverwertung von Kernbereichsinformationen34 in Frage.35 Nur ganz selten schimmert die Erkenntnis durch, dass mit dem BGH-Urteil etwas nicht stimmen könnte.36 Ich muss gestehen, dass mir dieser Befund rätselhaft und fast schon unheimlich ist. Offenbar ist jedes Gespür für ein zutreffendes, der Gerechtig-

BGHSt 50, 209 (210). Nach SK-StPO/Wolter, 50. Lfg. (2006), § 100c Rn. 34, 62 handelt es sich bei dem Krankenzimmer um einen Betriebs- oder Geschäftsraum; vgl. dazu auch die Erwägungen von BGHSt 50, 210 ff. 31 BGHSt 50, 210 ff. 32 Vgl. etwa Warntjen (Fn. 2), S. 105, 117 f.; Ellbogen NStZ 2006, 179 ff.; Lindemann/Reichling StV 2005, 650 ff.; Lindemann JR 2006, 191 (195 f., 197 f.); Kolz NJW 2005, 3248 ff.; im Ergebnis auch Roxin, FS Böttcher (2007), S. 173; abw. wohl nur Löffelmann ZIS 2006, 87 (92); unklar Baldus JZ 2008, 218 (226). 33 Lindemann/Reichling StV 2006, 651 (652); Kolz NJW 2005, 3250; Ellbogen NStZ 2006, 180. 34 BGHSt 50, 214. 35 Ellbogen NStZ 2006, 180; dagegen aber Kolz NJW 2005, 3249. 36 Kolz NJW 2005, 3249 f.; ihm insoweit zustimmend Löffelmann ZIS 2006, 92. 29 30

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keit entsprechendes Fallmanagement verloren gegangen.37 Das Persönlichkeitsrecht überwölbt jeden Prozess der Rechtsfindung und blendet unsere Wahrnehmung, wobei alles im Namen der Menschenwürde geschieht. Das Gebiet der Menschenwürde ist aber, wie wir wissen, ein schwieriges, vielfach vermintes Terrain. 2. Was sagt das Gesetz wirklich über den „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ und wie ist der vom BGH zu beurteilende Fall strafprozessual zu bewerten? Worin liegt das Fehlerhafte der Entscheidung und was hat zu dem Fehlgriff geführt? Beginnen wir mit dem Gesetz. Bis zum Gesetz zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 (akustische Wohnraumüberwachung) vom 24. Juni 200538 enthielt die Strafprozessordnung an keiner Stelle den Begriff des Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Und das war auch gut so. Denn der Begriff ist, nimmt man ihn wörtlich, eher missverständlich. Die eigene Lebensgestaltung ist zweifellos eine Privatangelegenheit, aber das Private hört auf, privat zu sein, wenn es nicht mehr um das Eigene geht. „Kernbereich“ der Lebensgestaltung kann also nur etwas sein, bei dem andere, auch „der Staat“, nicht mitzureden haben, ein Bereich absoluter Selbstbestimmung, mithin das Eigene schlechthin. Dass hierzu („Lebensgestaltung“) auch Reflexionen über zur Tatverdeckung geeignete Tötungsmethoden gehören sollen, versteht sich nicht von selbst, denn diese Reflexionen müssen die Rechtsgemeinschaft interessieren; sie gehen nicht nur den Täter etwas an. Auch das Strafrecht hat die Verwendung des Begriffs „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ bislang vermieden. Der 15. Abschnitt des StGB ist der „Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs“ gewidmet. § 201a StGB schützt neuerdings einen „höchstpersönlichen Lebensbereich“,

37 Das Selbstgespräch wurde allerdings schon früher gelegentlich als Beispiel für einen Kernbereichssachverhalt genannt, vgl. z.B. Küpper JZ 1990, 416 (418); Lorenz JR 1994, 430 (431) sowie die w.N. bei Warntjen (Fn. 2), S. 54, Fn. 232. Es ist aber insoweit nicht ganz klar, ob das auch bei Selbstgesprächen mit Straftatbezug gelten soll. BGH NJW 1994, 1970 f. formuliert in Bezug auf eine Tagebucheintragung: „Seine Tagebücher enthalten eine Reflexion aller dem Angeschuldigten persönlich in der Einsamkeit des schriftlich fixierten Selbstgesprächs, also geschützt vor fremden Augen und Ohren, verarbeitenswert erscheinenden Erlebnisse, seine Empfindungen, Einschätzungen und Ansichten, seine Gefühle zu anderen Menschen, u.a. auch die Entwicklung der Beziehung zu seiner späteren Ehefrau, Aufarbeitung familiärer und beruflicher Probleme und von Erkrankungen.“ Ein Straftatbezug wird aus diesen Formulierungen nicht erkennbar, und dann mag man der Kernbereichsfrage weitere Erwägungen widmen. So lag es im vorliegenden Fall nicht. 38 BGBl. I S. 1841. Zu diesem Gesetz Löffelmann NJW 2005, 2033 ff.; ders. ZIS 2006, 87 ff.

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während sich § 203 StGB mit dem Schutz eines „persönlichen Lebensbereichs“ begnügt und diesen von wirtschaftlichen bzw. sachlichen Verhältnissen abgrenzt. „Lebensbereich“ erscheint immerhin besser als „Lebensgestaltung“. Dieser Begriff wird jetzt in dem neuen NachstellungsParagrafen in § 238 StGB verwendet und dürfte nicht unerhebliche Auslegungsschwierigkeiten bereiten.39 Doch mag das alles dahinstehen. Jedenfalls hat der Gesetzgeber den Begriff des Kernbereichs privater Lebensgestaltung in die Strafprozessordnung aufgenommen, und zwar in § 100c Abs. 4 und 5 StPO,40 wobei er sich um Bestimmtheitsfragen nicht gekümmert hat.41 § 100c Abs. 4 S. 1 StPO statuiert als Anordnungsvoraussetzung (negative Kernbereichsprognose), dass durch die Überwachung Äußerungen, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind, nicht erfasst werden. Werden derartige Äußerungen beim Vollzug der Maßnahme dennoch erfasst, dürfen Erkenntnisse über solche (d.h. dem Kernbereich zuzurechenden) Äußerungen nicht verwertet werden (§ 100c Abs. 5 S. 3 StPO). Diese Bestimmungen sind im vorliegenden Fall unmittelbar einschlägig. Sie definieren aber den Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht. Äußerungen sind, wie aus der entsprechenden Begriffsverwendung in §§ 100c Abs. 1 Nr. 3, 100c Abs. 4 S. 1 StPO hervorgeht,42 nicht nur Gespräche mit anderen, sondern auch Selbstgespräche,43 wobei die Regelungen im Gesetz offenbar in Rechnung stellen, dass es Äußerungen gibt, die dem Kernbereich zuzurechnen sind oder auch nicht.44 Das entspricht ganz der Formulierung in BVerfGE 109, 319, wo es heißt, dass ein hinreichender Sozialbezug bei „Äußerungen besteht, die sich unmittelbar auf eine konkre-

S. dazu etwa Lackner/Kühl, StGB, 12. Aufl. (2007), § 238 Rn. 2; Fischer, StGB, 55. Aufl. (2008), § 238 Rn. 2. 40 Hinzugekommen ist § 100a Abs. 4 StPO, der durch das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung (Fn. 27) Eingang in das Gesetz gefunden hat. 41 Und zwar in der Erwartung, dass spezialisierte Strafkammern das Erforderliche, nämlich die Herausbildung einer stringenten Kasuistik, schon werden leisten können, vgl. dazu den RegE eines Gesetzes zur Umsetzung des Urteils des BVerfG vom 3. März 2004 , BT-Drs. 15/4533, S. 14; vgl. ferner Löffelmann ZIS 2006, 92; krit. Ruthig GA 2004, 587 (601). Das BVerfG hat die Neuregelung inzwischen für verfassungsmäßig gehalten und ausgeführt, dass eine weitere Normkonkretisierung nicht erforderlich sei (BVerfG NJW 2007, 2753 ff.). 42 RegE (Fn. 41), S. 12; Löffelmann ZIS 2006, 88. 43 Insoweit übereinstimmend SK-StPO/Wolter (Fn. 30), § 100c Rn. 37, 45. 44 Das wird auch durch § 100c Abs. 5 S. 1–3 StPO belegt, wo unisono auf „Äußerungen“ und nicht auf „Gespräche“ abgestellt wird. 39

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te Straftat beziehen.“ Auch bei Selbstgesprächen kann die Kernbereichsprognose somit positiv oder negativ ausfallen.45 Wann aber gehören „Selbst-Gespräche“ zum Kernbereich? Das Problem folgt daraus, dass sich die negativen Kernbereichsvermutungen in § 100c Abs. 4 S. 2 und 3 StPO nach dem Gesetzeswortlaut nur auf Gespräche zu beziehen scheinen. Doch schauen wir genauer hin: nach dem Gesetz sind Gespräche in Betriebs- und Geschäftsräumen (S. 2), Gespräche über begangene Straftaten sowie Äußerungen, mittels derer Straftaten begangen werden (S. 3), in der Regel nicht dem Kernbereich zuzuordnen. Äußerungen, mittels derer Straftaten begangen werden, setzen keineswegs voraus, dass sich eine weitere Person beim Täter befindet. Die gesetzliche Regelung beschränkt sich also nicht auf Gespräche.46 Aber selbst wenn das zuträfe, müsste ein zu prognostizierendes Selbstgespräch doch nach der Grundnorm des § 100c Abs. 4 S. 1 StPO auf seine Kernbereichsrelevanz untersucht werden; überhaupt bildet § 100c Abs. 4 StPO ja keine abschließende Regelung, wie die Worte „insbesondere“ und „in der Regel“ erkennen lassen. Es ist auch nicht richtig, dass die Negativvermutungen in § 100c Abs. 4 S. 2 und 3 StPO ihre Existenz der Tatsache verdanken, dass es sich um „Gespräche“ handelt. Der Gesetzgeber knüpft offenbar an den Ort des Gesprächs (S. 2) und in S. 3 an den Inhalt des Gesprächs sowie den Gegenstand der Äußerung an. Wenn diese Kriterien kernbereichsfeindlich sein sollen, muss das ebenfalls bei sonstigen Äußerungen gelten – was das Gesetz ja auch selbst zu erkennen gibt, indem es in S. 3 auch Äußerungen nennt. Es wäre jedenfalls gänzlich verfehlt, die negative Regelvermutung nur bei „Gesprächen“ über begangene Straftaten, bei Selbstgesprächen aber nur bei strafbaren Äußerungen („Äußerungen, mittels derer …“) eingreifen zu lassen. Im Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages47 wird in diesem Zusammenhang betont, dass die Strafbarkeit einer Handlung schon als solche schwer wiege und durch die Verletzung der Rechtsordnung bereits einen Sozialbezug aufweise; insoweit komme es auf die Schwere der

Sedes materiae der Beantwortung dieser Frage ist daher § 100c Abs. 4 StPO; zutr. Löffelmann ZIS 2006, 88; anders SK-StPO/Wolter (Fn. 30), § 100c Rn. 58 f., 63, der bei Selbstgesprächen davon ausgeht, dass sie dem Kernbereich angehören. Für ihn sind die S. 2 und 3 des § 100c Abs. 4 StPO insoweit „außer Kraft gesetzt.“ Der Straftatvorbehalt soll also bei Selbstgesprächen generell nicht gültig sein. 46 Zutr. Nack, FS Nehm (2006), S. 314 f., der allerdings (S. 314, Fn. 26) meint, bei BGHSt 50, 206 ff. handele es sich um einen „Sonderfall“. Aber was soll das „Besondere“ des Falles sein? 47 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BT-Drs. 15/5486, S. 25. 45

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Straftat nicht an.48 Ausnahmen kämen bei fehlender Strafwürdigkeit – etwa im Streitgespräch unter Ehegatten – in Betracht; dem solle durch die Gesetzesformulierung („in der Regel“) Rechnung getragen werden.49 Die Analyse des Gesetzes führt somit zu dem Ergebnis, dass der „Strafrechtsvorbehalt“ in § 100c Abs. 4 S. 3 StPO sowohl für Gespräche als auch für Äußerungen mit Einschluss von Selbstgesprächen gilt. Die Strafrechtsrelevanz bildet den Grund des (das Eigene aufhebenden) Sozialbezuges, nicht die Art der Äußerung. Auch Selbstgespräche werden daher von der (negativen) Regelvermutung des § 100c Abs. 4 S. 3 StPO erfasst.50 Dies entspricht auch den Vorstellungen des BVerfG.51 Nun beruft sich der BGH auf die Begründung des Regierungsentwurfs, in der zur Konkretisierung des Sozialbezugs in der Tat auf Selbstgespräche rekurriert wird. Es heißt dort aber gerade nicht, dass Selbstgespräche niemals einen Sozialbezug aufweisen können, sondern nur, dass sie „in der Regel dem absolut geschützten Kernbereich unterfallen.“52 Hiermit sind jedoch ganz offensichtlich Äußerungen gemeint, die strafrechtlich völlig irrelevant sind,53 so dass die Überlegungen des BGH ins Leere gehen. 3. Der 1. Strafsenat hatte sich daher allein die Frage vorzulegen, ob die im Zusammenhang mit der Begehung eines Mordes stehenden Äußerungen des Angeklagten dergestalt waren, dass sie die Regelvermutung zu entkräften geeignet sind.54 Diese Frage hätte bejaht werden müssen, denn die Ausnahmekonstellation einer mangelnden Strafwürdigkeit,55 wie sie im Bericht des Rechtsausschusses beschrieben wird,56 liegt hier ersichtlich nicht vor. Das alles ergibt sich aus Folgendem:

48 Grundsätzlich steht daher auch eine einfache beleidigende Äußerung außerhalb des Kernbereichs. 49 Vgl. den Nachweis in Fn. 47. 50 Ebenso Kolz NJW 2005, 3249 (3250); Löffelmann ZIS 2006, 92; a.A. SK-StPO/Wolter (Fn. 30), § 100c Rn. 63. Lindemann JR 2006, 198 hält § 100c Abs. 4 S. 3 1. Alt. StPO für verfassungswidrig. Diese abwegige Vorstellung ist durch BVerfG NJW 2007, 2753 (2755) entkräftet worden. 51 Zutr. Kolz NJW 2005, 3249; Löffelmann ZIS 2006, 92; Roxin, FS Böttcher (2007), S. 167. 52 RegE (Fn. 41), S. 14; zustimmend Löffelmann ZIS 2006, 92. 53 Die Darlegungen (sub 4) haben mit der Schwierigkeit einer Definition des Kernbereichs zu tun, während die Ausführungen zur Strafrechtsrelevanz einer Äußerung dem definitorischen Teil vorangestellt sind (sub 3). 54 Wenn überhaupt, so kollidieren hier also zwei Regelvermutungen miteinander, vgl. Kolz NJW 2005, 3249. 55 Sie ist allerdings im Bericht auf den Fall der Äußerungen, mittels derer Straftaten begangen werden, bezogen. 56 Vgl. dazu Fn. 47.

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Die Anordnung der akustischen Wohnraumüberwachung setzt voraus,57 dass eine auch im Einzelfall besonders schwer wiegende Straftat begangen worden ist, zu deren Aufklärung die Maßnahme als letztes Mittel erforderlich erscheint (§ 100c Abs. 1 Nrn. 1, 2, 4 StPO). Mit der Überwachung sollen Äußerungen des Beschuldigten erfasst werden, die für die Sachverhaltsaufklärung bedeutsam sind (§ 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO). Nur in diesem Rahmen und zu diesem Zweck ist die Maßnahme überhaupt zulässig. Die von dem Angeklagten getätigte Äußerung ist unzweifelhaft eine solche im Sinne des § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO; sie ist zur Aufklärung eines Kapitalverbrechens (§ 100c Abs. 2 Nr. 1f StPO) sachdienlich. Die Äußerung ist daher auch nicht einfach eine solche über eine begangene Straftat, sondern über eine auch im Einzelfall besonders schwer wiegende Straftat, nämlich über ein Tötungsverbrechen. Eine solche Äußerung – wenn nicht diese, welche dann sonst? – muss Ausschlusswirkung für den Kernbereich entfalten.58 Anstatt sich hierzu zu verhalten, verliert sich der BGH in Erwägungen zur Psychologie des Selbstgesprächs und weist darauf hin, dass das Gespräch mit sich selbst „durch unwillkürlich auftretende Bewusstseinsinhalte“ gekennzeichnet sei und darüber hinaus „persönliche Erwartungen, Befürchtungen, Bewertungen, Selbstanweisungen sowie seelisch-körperliche Gefühle und Befindlichkeiten“ zum Inhalt habe.59 Ich muss mangels eigener Fachkenntnis offen lassen, ob diese schwülstige Beschreibung das Richtige trifft. Auf die Äußerung des Angeklagten trifft sie auf gar keinen Fall zu. Es ist ja geradezu grotesk, dem Angeklagten ein Problem mit sich selbst anzudichten, das er ausweislich des Inhalts seiner Äußerung (andere kennen wir ja nicht und dürfen sie auch nicht kennen) nicht gehabt hat. Auf diese Weise kann man den Sozialbezug seiner Äußerung nicht negieren. Der BGH bemüht zur Stützung des von ihm gefundenen Ergebnisses aber auch die Kernbereichs-Rechtsprechung des BVerfG, wobei dessen Tagebuchentscheidung60 im Zentrum seiner Erwägungen steht.61 Er verfehlt jedoch den entscheidenden Gesichtspunkt, indem er die fehlende Verdinglichung des Selbstgesprächs (im Unterschied zum Tagebuch) zum wesentlichen Kriterium einer Kernbereichsberührung macht.62 Darin liegt einerseits

Ausgegangen wird hier von dem ab 1. Juli 2005 geltenden Rechtszustand. In diesem Sinne auch schon Gössel JZ 1984, 361 (362). 59 BGHSt 50, 213. 60 BVerfGE 80, 367 ff. 61 BGHSt 50, 212 ff. 62 Das entspricht auch nicht der Rechtsprechung des BVerfG in BVerfGE 109, 319, wo Aufzeichnungen und Äußerungen gerade im Gegenteil einander gleichgestellt werden. 57 58

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eine Überschätzung der Reichweite dieses Kriteriums und andererseits die vollständige Ausblendung der straftatbestandlichen Äußerung als Element des Sozialbezuges.63 Richtig ist nur, dass das BVerfG64 zwischen Äußerungen, die sich unmittelbar auf eine konkrete Straftat beziehen, und der Wiedergabe innerer Eindrücke und Gefühle unterscheidet, die keine Hinweise auf konkrete Straftaten enthalten. Aufzeichnungen oder Äußerungen gewinnen, so das BVerfG,65 „nicht schon dadurch einen Gemeinschaftsbezug, dass sie Ursachen oder Beweggründe eines strafbaren Verhaltens freizulegen vermögen.“ Ob in dieser Aussage eine Abkehr von BVerfGE 80, 372 liegt,66 kann dahinstehen, denn die Äußerungen des Angeklagten können auch bei wohlwollender Betrachtung keinesfalls als Bekenntnis eines Seelenzustandes verstanden werden, das „Ursachen und Beweggründe eines strafbaren Verhaltens“ freilegt. Die getätigten Äußerungen haben demnach Sozialbezug; sie beweisen, dass die Anordnung der Maßnahme Erfolg gehabt hat und insgesamt gerechtfertigt war. Der 1. Strafsenat hat demnach falsch entschieden. 4. Was aber sind die Ursachen des Missgriffs? Ich sehe sie in der Unklarheit der gegenwärtigen Vorstellungen über den Kernbereich und in der dadurch vermittelten Unklarheit des Gesetzes selbst. Sie liegen aber auch in der üblich gewordenen Überhöhung von Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht, die jedes Maß vermissen lässt. Tagebücher werden – allerdings nicht erst heute67 – zu Heiligtümern erklärt, und Selbstgespräche erfahren eine psychologische Aufladung, über die sich sogar derjenige wundern würde, der zu sich selbst spricht. Das Ergebnis besteht in einer der Einzelfallgerechtigkeit deutlich widersprechenden Gerichtsentscheidung, bei der die Gefahr nicht von der Hand zu weisen ist, dass sie über die Literatur und

Für eine solche Ausblendung etwa Warntjen (Fn. 2), S. 92; Puschke, Die kumulative Anordnung von Informationsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung (2006), S. 80; Lindemann JR 2006, 197 f.; SK-StPO/Wolter (Fn. 30), § 100c Rn. 63; ders. StV 1990, 175 (179); R. Schmidt Jura 1993, 594; im Grundsatz übereinstimmend Roxin, FS Böttcher (2007), S. 164 ff. 64 BVerfGE 109, 319. 65 Ibid. 66 So etwa LR/Schäfer, 25. Aufl. (2004), § 100c Rn. 22*; Lindemann JR 2006, 194; Roxin, FS Böttcher (2007), S. 163. 67 Zur „Überhöhung“ des Tagebucheintrags als Ausdruck der Gewissensfreiheit vgl. etwa Amelung NJW 1988, 1002 ff.; ders. NJW 1990, 1758 ff.; Lorenz GA 1992, 254 ff. u. JR 1994, 431; dagegen Störmer Jura 1991, 23. 63

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weitere Präjudizien proliferiert und perpetuiert wird.68 Der Befund ist unerfreulich, weil er ins Grundsätzliche weist. Mit der Korrektur verfehlter Gerichtsentscheidungen ist es nämlich nicht getan; vielmehr muss die gesamte Kernbereichskonzeption überdacht und neu justiert werden. Was Not tut, ist eine Entzauberung des Mythos „Kernbereich.“

III. 1. Die Kernbereichsthese entstammt der Rechtsprechung des BVerfG,69 das seit der Elfes-Entscheidung70 in ständiger Rechtsprechung die Ansicht vertritt, dass eine „Sphäre privater Lebensgestaltung“, ein „letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit“ besteht, der jeder Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist.71 Diese Rechtsprechung beruht auf der Absage des Gerichts an die alte Persönlichkeitskerntheorie72 und der weiten Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG im Sinne einer allgemeinen Verhaltensfreiheit, die es erforderlich machte, wenigstens einen Bereich bürgerlicher Freiheit aufzuweisen, vor dem selbst der Gesetzgeber Halt zu machen hatte.73 Daher ging es zunächst nur um die Frage, inwieweit Beschränkungen der Verhaltensfreiheit vor der Verfassung Bestand haben konnten. Ein örtliches Verbot, Tauben zu füttern, musste somit daraufhin überprüft werden, ob es den Kernbereich der Verhaltensfreiheit tangiert und aus diesem Grunde der Regelungskompetenz des Gesetzgebers entzogen ist. Bekanntlich hat das BVerfG74 kurz und knapp entschieden, dass das Füttern von Tauben als Ausdrucksform der Tierliebe nicht zum absolut geschützten Kern privater Lebensgestaltung zu rechnen ist. Ich fürchte, dass man sich heute mit dieser (natürlich richtigen) Entscheidung wesentlich schwerer täte.

Vgl. etwa die unkritische Aufnahme der Entscheidung bei Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 100c Rn. 15, 16; Beulke, Strafprozessrecht, 9. Aufl. (2006), Rn. 266; Wolter (Fn. 28), S. 714; ders. GA 2007, 196. 69 Zur Entwicklung der Kernbereichslehre Rogall ZG 2005, 167 ff.; Warntjen (Fn. 2), S. 51 ff., 53 ff., der freilich Persönlichkeitsrecht, Privatsphäre und Kernbereich nicht immer in der gebotenen Weise auseinanderhält. 70 BVerfGE 6, 32 (41). 71 Das Gericht erkennt auch auf wirtschaftlichem Gebiet einen unantastbaren Bereich kommerzieller Entfaltungsfreiheit an, vgl. BVerfGE 50, 290 (366); 65, 196 (210). 72 S. dazu etwa H. Peters, Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in der höchstrichterlichen Rechtsprechung (1963). 73 Vgl. dazu Dürig AöR 81 (1956), 117 (129 f.); Habscheid, GS H. Peters (1967), S. 840, 845. 74 BVerfGE 54, 143 (146). 68

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Die Kernbereichsthese ist vom BVerfG später unter Verwertung der auf Hubmann75 zurückgehenden Sphärentheorie auf Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG ausgedehnt worden.76 Dies erklärt, warum das BVerfG den Kernbereich gelegentlich auch als „engsten Intimbereich“77 oder „Intimsphäre“78 bezeichnet hat. Damit ist aber nicht der Bereich des Geschlechtlichen, sondern ein Bereich des Privaten gemeint, der durch die Höchstpersönlichkeit des Lebensvorganges79 gekennzeichnet ist, der von Natur aus Geheimnischarakter hat80 und der grundsätzlich einen fehlenden „Sozialbezug“ aufweist.81 Der vom BVerfG herangezogene Topos „Sozialbezug“ hat sich in der weiteren Entwicklung seiner Rechtsprechung als entscheidend herauskristallisiert. Der unantastbare Bereich werde – so das BVerfG82 schon in seiner Entscheidung zur Strafbarkeit homosexueller Betätigung – verlassen, wenn Handlungen des Menschen in den Bereich eines anderen Menschen einwirken, ohne dass besondere Umstände, wie etwa familienrechtliche Beziehungen, diese Gemeinschaftlichkeit des Handelns als noch in den engsten Intimbereich fallend erscheinen lassen. Grundsätzlich gebe schon die Berührung mit der Persönlichkeitssphäre eines anderen einer Handlung den Bezug auf das Soziale, der sie dem Recht zugänglich mache. Doch könnten auch Vorgänge, die sich in „Kommunikation“ mit anderen vollzögen, dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen sein; die Zulässigkeit eines Eingriffs hänge dann von der Intensität des Sozialbezuges ab, den die Handlung aufweise.83 In diesem Sinne gehört etwa der Schwangerschaftsabbruch nicht zum unantastbaren Kernbereich, weil das sich entwickelnde menschliche Leben nicht lediglich Teil des mütterlichen Organismus ist.84 Ebensowenig fallen der Inhalt von Ehescheidungsakten,85 ärztlichen Aufzeichnungen86 und Klientenakten einer Drogenberatungsstelle87 oder von Gesprächen mit

Das Persönlichkeitsrecht, 1. Aufl. (1953); 2. Aufl. (1967). Näher dazu Rogall ZG 2005, 167 ff. 77 BVerfGE 6, 389 (433). 78 BVerfGE 27, 344 (350 f.); 34, 238 (245); 44, 353 (373). 79 BVerfGE 34, 248. 80 BVerfGE 27, 1 (7). 81 BVerfGE 6, 433; 33, 367 (377), 35, 202 (220 f.); 39, 1 (42). 82 BVerfGE 6, 389. 83 BVerfGE 6, 433. 84 BVerfGE 39, 42. 85 BVerfGE 27, 344 (351); 34, 205 (208 f.). 86 BVerfGE 32, 373 (379 f.). 87 BVerfGE 44, 372 f. 75 76

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einem Sozialarbeiter88 in den unantastbaren Kernbereich. Man darf sich den Sozialbezug bei alledem nicht als Form eines faktisch-kommunikativen Beziehungsverhältnisses vorstellen. Das „Höchstprivate“ kann also nicht allein faktisch entwertet werden; es verliert seinen Charakter auch durch das öffentliche Interesse, das an seiner Kenntnisnahme besteht. Deshalb hat das BVerfG auch betont, dass der Schutz des privaten Lebensbereichs mit dem Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen Strafrechtspflege, für die es – zur Überführung von Straftätern ebenso wie zur Entlastung Unschuldiger – auf eine möglichst umfassende Wahrheitsermittlung ankommt, in Konflikt geraten kann.89 Das deckt sich mit Äußerungen aus dem Bereich des Zivilrechts,90 des öffentlichen Rechts91 und natürlich auch des Strafrechts92, mit denen das öffentliche Interesse – also ein normatives Kriterium – als Grenze der Privatheit ausgegeben worden ist.93 2. Eine erste Konkretisierung hat dieses Räsonnement sodann in der Tagebuchentscheidung94 gefunden. Das BVerfG stellt klar, dass das Vorliegen eines Kernbereichssachverhalts u.a. davon abhängt, „ob er nach seinem Inhalt höchstpersönlichen Charakters ist und in welcher Art und Intensität er aus sich heraus die Sphäre anderer oder die Belange der Gemeinschaft berührt.“95 Eine Abgrenzung des Kernbereichs in Abhängigkeit von Gemeinschaftsbelangen kann aber nur normativer Natur sein, was auch daran deutlich wird, dass das BVerfG die Verwertbarkeit der Tagebuchaufzeichnungen anhand des Charakters und der Bedeutung des Inhalts dieser Aufzeichnungen beurteilt.96 Eine solche normative Festlegung ist der Satz, dass „Angaben über die Planung bevorstehender oder Berichte über begangene Straftaten“ – Angaben also, die „in einem unmittelbaren Bezug zu

BVerfGE 33, 376 ff. Vgl. dazu BVerfGE 33, 378. 90 Huber, Studium Generale 23 (1970), 769 ff.; Marcic, FS Arndt (1969), S. 267 ff. 91 Rehbinder, Die öffentliche Aufgabe und rechtliche Verantwortlichkeit der Presse (1962), S. 85 ff. 92 Krauß, FS Gallas (1973), S. 382. 93 Res publica constituit rem privatam, vgl. Marcic, FS Arndt (1969), S. 286; im Ergebnis übereinstimmend – aber leider ohne dogmengeschichtliche Referenz – Baldus JZ 2008, 218 (224). 94 BVerfGE 80, 367 f.; vgl. dazu statt aller Amelung NJW 1990, 1753 ff.; Wolter StV 1990, 175 ff.; Lorenz GA 1992, 254 ff.; Geis JZ 1991, 112 ff.; Störmer Jura 1991, 17 ff.; R. Schmidt Jura 1993, 591; zum Ganzen ferner BGHSt 34, 397 (401) sowie Laber, Die Verwertbarkeit von Tagebuchaufzeichnungen im Strafverfahren (1995). 95 BVerfGE 80, 367 (374). 96 BVerfGE 80, 367 (375). 88 89

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konkreten strafbaren Handlungen stehen“ – dem unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung nicht angehören.97 3. Bei dieser Rechtsprechung ist es auch im Urteil des BVerfG zur akustischen Wohnraumüberwachung (BVerfGE 109, 279 ff.) geblieben. Bei strafprozessualen Maßnahmen der Informationsbeschaffung ist ein unantastbarer Kernbereich privater Lebensgestaltung zu wahren.98 Daher dürfen solche Maßnahmen nicht darauf angelegt werden, „innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art“99 in Erfahrung zu bringen oder „Gefühlsäußerungen, Äußerungen des unbewussten Erlebens sowie Ausdrucksformen der Sexualität“100 zur Kenntnis zu nehmen. Indessen setzt auch hier der Sozialbezug des Verhaltens, bestimmt nach seiner Art und seiner Intensität, dem Kernbereich eine eindeutige Grenze.101 Aus diesem Grunde gehören Äußerungen, die Angaben über begangene Straftaten enthalten, jedenfalls dann nicht dem unantastbaren Kernbereich an, wenn sie sich unmittelbar auf eine konkrete Straftat beziehen.102 Man wird das BVerfG an dieser Stelle sicher wörtlich nehmen dürfen (die Frage, wann sich eine Äußerung wirklich „unmittelbar“ auf eine Straftat bezieht, sei hier vernachlässigt).103 Wäre es anders, müsste die akustische Wohnraumüberwachung nämlich eingestellt werden, ist sie doch nach ihrem Zweck darauf gerichtet, Äußerungen des Beschuldigten zu erfassen, die für die Erforschung des Sachverhalts … von Bedeutung sind (§ 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO). Gehörten Äußerungen über Straftaten dem Kernbereich privater Lebensgestaltung an, wäre die Ausforschung ipso iure unzulässig. Soweit Roxin104 die akustische Wohnraumüberwachung in Privaträumen auf mutmaßliche konspirative Zusammenkünfte beschränken will, ist diese Ansicht mit dem Gesetz eindeutig nicht zu vereinbaren105 und stellt daher nichts anderes als ein rechtspolitisches Desiderat dar.106Mir scheint, dass der

Ibid. BVerfGE 109, 279 (313). 99 Ibid. 100 BVerfGE 109, 279 (314, 315). 101 BVerfGE 109, 279 (319). 102 Ibid. 103 S. dazu schon die Bemerkungen zu Fn. 66. 104 FS Böttcher (2007), S. 169 ff. 105 § 100c Abs. 6 S. 3 StPO stützt diese Auffassung gerade nicht, sondern beweist das Gegenteil der von Roxin (FS Böttcher [2007], S. 170) vertretenen These. 106 Ob das geltende Recht (§ 100c StPO), dessen Einschränkung Roxin vorschlägt, verfassungskonform ist, wird als Frage immerhin zu formulieren sein. 97 98

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Ausschluss von Äußerungen mit Straftatbezug aus dem Kernbereich eindeutig und nach Lage der Dinge kaum zu bestreiten ist. Damit sind wir freilich an einem Punkt angelangt, bei der die ganze strafprozessuale Kernbereichsmystik in sich zusammenbricht.

IV. 1. Die Masche ist im Grunde schon in BVerfGE 113, 29107 – eine Entscheidung des 2. Senats, in der es um die Beschlagnahme von Datenträgern in einer Anwaltskanzlei ging – gefallen. Das BVerfG hat hier unter Hinweis auf die §§ 155 Abs. 1, 161 Abs. 1 S. 1, 163 Abs. 2 S. 1, 244 Abs. 3 S. 2 StPO völlig zutreffend festgestellt, dass die Ermittlungsmaßnahmen der StPO auf den Ermittlungszweck begrenzt sind, was zur Folge hat, dass Ermittlungen außerhalb dieses Zwecks keine gesetzliche Grundlage haben. Es heißt dann wörtlich:108 „Gelegentlich einer strafrechtlichen Ermittlung dürfen daher keine Sachverhalte und persönlichen Verhältnisse ausgeforscht werden, die für die Beurteilung der Täterschaft und für die Bemessung der Rechtsfolgen der Tat nicht von Bedeutung sind…“ Dass bei einer Beobachtung oder Überwachung der unantastbare Kernbereich privater Lebensgestaltung zu wahren109 und zu vermeiden ist, dass Äußerungen erfasst werden, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind (§ 100c Abs. 4 S. 1 StPO), ist daher nichts Besonderes, sondern in der StPO geradezu Programm. Der Erwerb strafrechtlich relevanter Inhalte oder Informationen ist dagegen das Ziel aller Aufklärungsmaßnahmen, die das Gesetz den Strafverfolgungsorganen zur Verfügung stellt. Diese Informationen können nicht per Kernbereich gesperrt werden, weil eine Aufklärung von Straftaten sonst nicht möglich wäre. Das entspricht auch der vom Gesetz in § 68a Abs. 1 StPO getroffenen Regelung, in der dem Aufklärungsinteresse der Vorrang eingeräumt wird. Die dort genannten Tatsachen betreffen allerdings nicht den Kernbereich,110 weil in Bezug auf ihn eine „Unerlässlichkeit“ für die Straftataufklärung nicht vorstellbar ist. Die Bestimmung bedeutet daher einen weitergehenden Schutz

= NJW 2005, 1917; zur Entscheidung Kutzner NJW 2005, 2652 ff. BVerfGE 113, 52. 109 BVerfGE 109, 313. 110 Tatsachen, die zur Unehre gereichen, können auch begangene Straftaten sein, vgl. SKStPO/Rogall (Fn. 24), § 68a Rn. 25. Der „persönliche Lebensbereich“ ist nicht mit dem Kernbereich identisch (Umkehrschluss zu § 100c Abs. 4 StPO). 107 108

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für den Zeugen, der auf dem Gedanken des Persönlichkeitsschutzes beruht.111 Die danach bestehende Rechtslage sei an einem Beispiel112 erläutert: Der Geschlechtsverkehr zwischen Eheleuten ist als „Ausdrucksform der Sexualität“113 zweifellos ein Vorgang, der dem Kernbereich privater Lebensgestaltung angehört. Er verliert diese Eigenschaft jedoch dann, wenn er beispielsweise von dem Ehemann mit Gewalt und damit in strafbarer Weise erzwungen wird. Es ist in diesem Fall ganz unvermeidlich, zur Aufklärung der Tat Feststellungen darüber zu treffen, ob der von der Ehefrau behauptete gewaltsame Geschlechtsverkehr tatsächlich stattgefunden hat. Ob das per akustischer Wohnraumüberwachung zu geschehen hätte – es kann ja hier ein Fall von Aussage gegen Aussage vorliegen – hängt davon ab, ob die Rechtsordnung eine solche Überwachung grundsätzlich vorsieht und ob der Verdacht einer Vergewaltigung in der Ehe einen zureichenden Anlass für die Maßnahme darstellt. Liegen diese Voraussetzungen aber vor, kann es nicht angehen, mit Kernbereichserwägungen zu einem Ausschluss der Maßnahme zu gelangen. Der Kernbereich privater Lebensgestaltung ist also nur dann richtig definiert, wenn man ihn auf Sachverhalte beschränkt, die in keiner Beziehung zu einer Straftat stehen und daher für die Aufklärung der Tat nicht benötigt werden. Die in BVerfGE 109, 313 beschriebenen inneren Empfindungen und Gefühle etc. entsprechen solchen Sachverhalten. Dasselbe gilt für die in BGHSt 50, 209 mitgeteilten kreatürlichen Vorgänge („pinkeln, pupsen, husten, schnarchen“). Das alles ist „Kernbereich“. Zugleich erhellt aber auch: Die Zielperson bedarf insoweit keines Schutzes vor einer strafprozessualen Verwertung, denn es gibt hier nichts zu verwerten. Sie bedarf aber tatsächlich eines zweifachen Schutzes: Ermittlungen haben den Kernbereich nach Möglichkeit zu meiden. Ist der Kernbereich aber tangiert worden, muss die Zielperson vor der Offenbarung und Weitergabe der Kernbereichsinformationen geschützt werden.114 Dies wird bereits de lege lata durch das Dienstgeheimnis und die insoweit bestehenden strafrechtlichen Sanktionen (u.a. § 203 Abs. 2 StGB) gewährleistet. Gespeicherte Kernbereichsdaten

SK-StPO/Rogall (Fn. 24), § 68a Rn. 1. Ein anderes Beispiel, das weitere Fragen aufwirft, wäre das des „Kannibalen von Rotenburg“, vgl. dazu Kutscha NJW 2005, 22; Wolter (Fn. 28), S. 716; Löffelmann NJW 2005, 2034, Fn. 17. 113 BVerfGE 109, 313 (315). 114 Von daher ist die Wiedergabe der geschilderten kreatürlichen Vorgänge in BGHSt 50, 209 mehr als bedenklich. 111 112

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sind zu löschen. Die entsprechenden Informationen müssen ferner aus den Akten, so sie in diese gelangt sind, entfernt werden. 2. Diesen Überlegungen müsste entgegengetreten werden, wenn es Kernbereichsinformationen gäbe, an deren Kenntnis ein öffentliches Interesse besteht. In diese Richtung könnten die – freilich alles andere als klaren115 – Überlegungen von BVerfGE 109, 319 weisen, wo es heißt, dass „innere Eindrücke und Gefühle nicht schon dadurch einen Gemeinschaftsbezug gewinnen, dass sie Ursachen oder Beweggründe eines strafbaren Verhaltens freizulegen vermögen.“ Es muss jedoch auch hier bei der durch das öffentliche Interesse gezogenen Grenze bleiben: Soweit Indiztatsachen für Feststellungen über die Schuld- und Straffrage benötigt werden, können sie nicht als Kernbereichsinformationen behandelt werden. Wie sonst sollten auch die persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten und die für die Bestimmung der Rechtsfolgen bedeutsamen Umstände aufgeklärt werden? Daher müsste eigentlich auch das BVerfG annehmen, dass der von ihm verlangte unmittelbare Bezug zu einer Straftat vorhanden ist. 3. Ein weiterer Einwand gegen die radikale Reduzierung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung könnte darin bestehen, dass auf diese Weise den Strafverfolgungsbehörden grünes Licht für alle Ermittlungen gegeben würde, die auf die Gewinnung von Straftatinformationen gerichtet sind. Grenzen der Ermittlungstätigkeit könnten nicht mehr aufgezeigt werden. Das trifft aber selbstverständlich nicht zu. Denn es bleibt bei dem abgestuften System von Eingriffsgrundlagen, die auf einem ausformulierten Straftatenkatalog, einer bestimmten Verdachtslage und weiteren verfahrensrechtlichen Sicherungen (z.B. dem Richtervorbehalt) beruhen. Insbesondere bedarf der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz strikter Beachtung. Auch sind weitere Anforderungen zu beachten, die sich aus bestimmten Rechtsverhältnissen ergeben können, wie am Beispiel der Kommunikation eines Beschuldigten mit seinem Strafverteidiger gezeigt werden kann. Bei einer solchen Kommunikation ist mehr oder weniger zwangsläufig mit der Generierung von Straftatinformationen zu rechnen, was eine Ausforschung durch die Strafverfolgungsbehörden sicher besonders attraktiv macht. Das hier zu postulierende Ausforschungsverbot ist aber nicht damit zu begründen, dass zwischen Verteidiger und Mandant kernbereichsrelevante Informationen ausgetauscht werden,116 sondern damit, dass Verteidigung zwingend den

S. dazu schon den Text zu Fn. 66. Das Gegenteil ist der Fall. Vor der Mitteilung von Kernbereichstatsachen sollte man sich als Mandant im Übrigen hüten, denn der Verteidiger soll sicher nicht in erster Linie Beichtva115 116

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Austausch strafrechtsrelevanter Informationen voraussetzt. Diesem Gedanken trägt § 148 StPO zutreffend Rechnung,117 was im neuen Recht durch § 160a Abs. 1 StPO auch bestätigt wird. In ähnlicher Weise sind Ermittlungsmaßnahmen zu beurteilen, die Ausforschungen anderer Kommunikationsbeziehungen zum Ziel haben. Entscheidend dafür, ob die jeweilige Kommunikationsbeziehung ausforschungsresistent ausgestaltet sein muss, ist weniger die Gefahr des (zufälligen) Anfalls von Kernbereichsinformationen118 als vielmehr die Frage, ob die institutionellen Zwecke der Beziehung einen exekutiven Zugriff von außen zwingend ausschließen (oder wenigstens beschränken), was in der rechtspolitischen Debatte von Interessenten und „pressure groups“ natürlich gern behauptet wird.119 Auch das hat aber mit einem Kernbereichsschutz recht wenig zu tun, denn als Empfänger kernbereichsrelevanter Informationen sind – um ein Beispiel zu nennen – Presseangehörige und Parlamentarier wohl nur in den seltensten Fällen geeignet. Das gespaltene Ausforschungsprivileg des § 160a Abs. 1, 2 StPO, das sachlich auch dem zuvor geltenden Recht entsprach, lässt sich daher gut begründen.120

V. Wir sind damit bei der Frage angelangt, welche Konsequenzen sich aus dem hier erhobenen Befund für das jetzt geltende Recht ergeben und welche Korrekturen de lege ferenda angezeigt sind. 1. Zunächst ist jedoch daran zu erinnern, dass die StPO einen genügenden Kernbereichsschutz de lege lata schon dadurch vorsieht, dass sie die zulässigen Ermittlungen auf die Aufklärung des Sachverhalts beschränkt. Die Beweisaufnahme hat sich auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstre-

ter oder Psychologe sein. Dass Verteidiger sich dennoch in dieser Rolle wiederfinden können, steht auf einem anderen Blatt. 117 BVerfG StV 2007, 399 (400); zum Schutz des vertraulichen Gesprächs mit dem Verteidiger durch die Garantie des Rechts auf Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK vgl. EGMR NJW 2007, 3409 118 Diese Gefahr ist natürlich bei der Kommunikation mit einem Geistlichen und innerhalb einer Familie besonders groß. 119 Zum Verhältnis Rechtsanwalt/Mandant vgl. etwa Ignor NJW 2007, 3403 ff.; zum Verhältnis des Steuerberaters zu seinem Klienten Rüping DStR 2007, 1182 ff. 120 Freilich geht die Privilegierung der Parlamentarier in § 160a Abs. 1 StPO weiter als erforderlich.

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cken, aber auch zu begrenzen, die für die Entscheidung von Bedeutung sind (§ 244 Abs. 2 StPO). Und die Behörden und Beamten des Polizeidienstes haben Straftaten zu erforschen (§ 163 Abs. 1 S. 1 StPO) und sich nicht etwa mit strafrechtlich irrelevanten „Ausdrucksformen der Sexualität“ zu beschäftigen. Die Staatsanwaltschaft hat alle be- und entlastenden Umstände sowie die für die Rechtsfolgen der Tat bedeutsamen Gegebenheiten zu ermitteln (§ 160 Abs. 2, 3 StPO). Alles, was außerhalb dieses Bereichs liegt, ist kein prozessual zulässiger Ermittlungsgegenstand.121 Die vom Gesetzgeber beispielsweise in § 100a Abs. 4 S. 1 StPO getroffene Regelung, die bestimmt, dass eine Telefonüberwachung unzulässig ist, wenn durch diese „allein Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erlangt würden“,122 erweist sich in diesem Sinne als eine an sich überflüssige Verlautbarung von Selbstverständlichkeiten. Die Anordnung der Telefonüberwachung hat ja nach § 100a Abs. 1 Nr. 3 StPO zur Voraussetzung, dass der Sachverhalt einer schweren Straftat nach § 100a Abs. 2 StPO, die den Anordnungsgrund bildet, mittels der Überwachungsmaßnahme aufgeklärt werden kann. Diese Annahme trifft nicht zu, wenn anzunehmen ist, dass „allein“ Erkenntnisse aus dem Kernbereich erlangt werden. Die in § 100c Abs. 4 S. 1 StPO enthaltene negative Kernbereichsprognose, von der bereits die Rede war, hat trotz ihres anderen Wortlauts sachlich dieselbe Bedeutung wie § 100a Abs. 4 S. 1 StPO. Denn die Anordnung einer akustischen Wohnraumüberwachung ist danach stets zulässig, „soweit“ Äußerungen mit Sozialbezug zu erwarten sind. Das bezieht gemischte Äußerungen ein.123 Ob das den Vorgaben des BVerfG entspricht, mag zweifelhaft sein.124 Freilich sind die Äußerungen des BVerfG selbst nicht eindeutig.125 Immerhin sagt das Gericht, dass ein – grundsätzlich zulässiges –

Vgl. dazu die Bemerkungen zu Fn. 104 (BVerfGE 113, 29 ff.; Rechtsgrundlagenmangel). Ob eine solche Annahme überhaupt einmal gerechtfertigt erscheinen kann, ist eher unwahrscheinlich, vgl. Wolter GA 2007, 196; Glaser/Gedeon GA 2007, 415 (430). 123 Wolter (SK-StPO/Wolter [Fn. 30], § 100c Rn. 5, 54 ff.) plädiert deshalb für eine verfassungskonforme Reduktion der Bestimmung, was aber angesichts ihres Wortlauts („soweit“ statt „wenn“) nicht möglich erscheint. Zu der dem geltenden Recht nicht entsprechenden Auffassung Roxins (FS Böttcher [2007], S. 169 f.) vgl. die Bemerkungen zu Fn. 104, 105. 124 Solche Zweifel äußern Leutheusser-Schnarrenberger ZRP 2005, 1 (2); SK-StPO/Wolter (Fn. 30), § 100c Rn. 57, 60. 125 Vgl. dazu die unterschiedlichen Angaben in BVerfGE 109, 319 ff., aus denen sich nicht ergibt, dass ein Beweiserhebungsverbot auch dann besteht, wenn die zu erwartenden Gespräche nur teilweise den Kernbereich berühren; vgl. dazu auch Nack, FS Nehm (2006), S. 321; anders Leutheusser-Schnarrenberger ZRP 2005, 1 (2); Wolter, FS Kürper (2007), S. 718 f.; für die Verwertungsebene ebenso Weißer GA 2006, 151. 121 122

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Abhören von Privatwohnungen „auf Gesprächssituationen zu beschränken ist, die mit Wahrscheinlichkeit strafverfahrensrelevante Inhalte umfassen.“126 Daraus darf gefolgert werden, dass § 100c Abs. 4 S. 1 und S. 3 StPO zusammengelesen werden müssen: Bei Mischsituationen darf die Anordnung also ergehen und ist im Interesse einer größtmöglichen Grundrechtsschonung ggf. zu beschränken.127 Die Anordnung darf dagegen nicht ergehen, wenn einzig und allein Kernbereichsäußerungen zu erwarten sind. In diesem Falle liegt aber auch die Anordnungsvoraussetzung nach § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO nicht vor. Deshalb ist § 100c Abs. 4 S. 1 StPO im Hinblick auf BVerfGE 109, 279 ff. als insgesamt durchaus bedeutsame Klarstellung zu verstehen, dass Mischäußerungen erfasst werden dürfen. Das ist allerdings auch schon aus § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO herzuleiten, was Löffelmann128 unter Hinweis auf die parlamentarischen Beratungen129 – freilich zu Unrecht – bestreitet.130 Der Gesetzgeber ist natürlich nicht gehindert, besondere Bestimmungen zu erlassen, die das in Bezug auf verfahrensrechtlich irrelevante Tatsachen allgemein bestehende Ausforschungsverbot aus gegebenem Anlass bereichsspezifisch konkretisieren. Das ist etwa in § 81e Abs. 1 S. 3 StPO131 geschehen.132 2. Eine andere Frage ist es, ob der Gesetzgeber von Verfassungs wegen verpflichtet ist, bei anderen Ermittlungsmaßnahmen außerhalb des Bereichs von § 100c StPO kernbereichsschützende Regelungen vorzusehen. Dieses Problem ist ja bereits Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen133 gewesen und hat auch den Gesetzgeber beschäftigt, der sich – wie soeben darge-

BVerfGE 109, 323. Vgl. Löffelmann ZIS 2006, 91; ebenso jetzt BVerfG NJW 2008, 822 (834) – „zweistufiges Schutzkonzept“. 128 Löffelmann ZIS 2006, 91. 129 Prot. RA-BT Nr. 75, S. 41. 130 Gegen ihn auch SK-StPO/Wolter (Fn. 30), § 100c Rn. 55. Äußerungen, die ein Alibi belegen, haben entgegen Löffelmann ganz selbstverständlich Straftatrelevanz. Diese Relevanz besteht ja nicht nur bei belastenden Tatsachen. Auch sind unterschiedliche Maßstäbe bei der Anordnung einerseits und der negativen Kernbereichsprognose andererseits nicht ersichtlich. 131 Vgl. dazu SK-StPO/Wolter (Fn. 30), § 81e Rn. 13; Warntjen (Fn. 2), S. 181 f. 132 Zur Frage, ob diese Einzelregelungen zu einer allgemeinen Vorschrift zusammengefasst werden sollten, vgl. unten 3. 133 Vgl. dazu etwa Warntjen (Fn. 2), S. 132 ff.; Weßlau, GS Lisken (2004), S. 47 ff.; vgl. auch SK-StPO/Wolter (Fn. 30), § 100c Rn. 7 m.w.N.; Baldus JZ 2008, 218 (225 f.). 126 127

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legt – nur bei der Telefonüberwachung zu einer klarstellenden gesetzlichen Regelung bereit gefunden hat.134 Der Bedarf nach kernbereichsschützenden Vorschriften ist natürlich anders als in der Literatur vertreten135 zu beurteilen, wenn man den Kernbereich privater Lebensgestaltung wie geboten restriktiv interpretiert und in Rechnung stellt, dass die StPO gar nicht dazu ermächtigt, Kernbereichsinformationen zu erheben. Regelungsbedürftig könnte allenfalls die Behandlung von Mischinformationen sein, deren Anfall situativ nicht ausgeschlossen werden kann.136 Zur Beurteilung sei das Beispiel gebildet, dass ein Beschuldigter auf seiner Festplatte kinderpornografische Bilder gespeichert hat. Diese Bilder hat er in einem Ordner abgelegt, den er sinnigerweise „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ genannt hat. Es sei unterstellt, dass die Strafverfolgungsbehörden in herkömmlicher Weise (§§ 102 ff., 94 ff. StPO) Zugriff auf die Festplatte nehmen wollen. Es sollte nicht zweifelhaft sein, dass allein die Benennung des Ordners als „Kernbereich“ es nicht verhindern kann, dass der Ordner geöffnet und sein Inhalt sichtbar gemacht wird.137 Dasselbe muss gelten, wenn sich die Bilder im Ordner „Eigene Bilder“ befinden. Wenn Ermittlungen überhaupt durchführbar sein sollen, muss es den Strafverfolgungsbehörden gestattet sein, die Festplatte nach Bilddateien etwa anhand von typischen Dateinamensendungen (etwa *.jpg) zu durchsuchen. Das gilt auch bei einer OnlineDurchsuchung, bei der fraglich ist, ob eine Trennung von Kernbereichsbzw. Mischinformationen technisch überhaupt erfolgen kann. Kernbereichsargumente stehen daher einer Online-Durchsuchung nicht entgegen. Tatsächlich verhält es sich bei allen Maßnahmen der Informationserhebung so, dass ihre Durchführung zur Sachverhaltserforschung auch in Fällen zugelassen werden muss, in denen der Anfall von Mischinformationen nicht auszuschließen ist und in denen eine isolierte Erfassung von Informationen mit Sozialbezug nicht möglich erscheint. Das hängt auch damit zusammen, dass eine Kernbereichsprognose mit erheblichen Unwägbarkeiten belastet und vor Ort kaum einmal mit letzter Sicherheit zu führen ist.138 Das

134 Er hat hierbei die Ausführungen in BVerfGE 113, 348 ff., 390 ff., 391 besonders berücksichtigt und sich für ein gegenüber der akustischen Wohnraumüberwachung abgesenktes Schutzniveau entschieden. 135 Vgl. namentlich Warntjen (Fn. 2), S. 132 ff. 136 Der Sache nach handelt es sich um „Zufallsfunde“. 137 BVerfGE 80, 374 f.; BGH NStZ 1991, 91; Küpper JZ 1990, 420. 138 Soweit Warntjen (Fn. 2), S. 73 ff., 82 ff. mit Hilfe einer typologischen Begriffsbildung (zu dem von ihm entworfenen Merkmalsprofil vgl. S. 116) zu einer genauen Erfassung des Kernbereichs vordringen will, ist ihm entschieden zu widersprechen. Die von ihm genannten

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scheint jetzt auch das BVerfG erkannt zu haben.139 Es muss auch vermieden werden, dass Verdächtige Überwachungsmaßnahmen durch gezielte Herstellung von „Mischsituationen“ entwerten können.140 Man wird im Übrigen aber auch automatische Aufzeichnungen zulassen müssen, soweit es sich nicht um „Rundumüberwachungen“ handelt.141 M.E. ist das Live-Mithören eines Vorgangs viel eingriffsintensiver als die spätere Auswertung der Tonaufzeichnung. Das hat das BVerfG in seiner Entscheidung zur akustischen Wohnraumüberwachung ersichtlich verkannt.142 Insgesamt scheint mir das Problem, ob und in welchem Umfang „Kollateralschäden“ im Kernbereich aus Anlass von Ermittlungen hinzunehmen sind, von der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs abhängig zu sein.143 Fallen bei unvermeidlichen Informationseingriffen Kernbereichsinformationen an, so genügen gesetzliche Vorkehrungen, die eine Entfernung und Beseitigung dieser Informationen aus dem Verfahren vorsehen. In diesem Sinne weist die vom Gesetzgeber in § 100a Abs. 4 StPO neuerdings getroffene Regelung in die richtige Richtung. Regelungen über die Verwertung von Kernbereichsinformationen sind demgegenüber entbehrlich. Eine Verwertung zu Beweiszwecken oder als Spurenansatz scheidet bei diesen Informationen, wie bereits ausgeführt, per definitionem aus. Es genügen demnach die gesetzlich weiterhin vorzusehenden Löschungspflichten und die beamtenrechtlichen Schweigepflichten.

Kriterien sind nicht gleichwertig. Maßgeblich ist allein das inhaltliche Kriterium der Höchstpersönlichkeit, bei dessen Feststellung die anderen Kriterien im Einzelfall vielleicht hilfreich sein können. Nur bei dieser Betrachtungsweise hat die Einschränkung per Sozialbezug (Straftatrelevanz) einen Sinn. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Warntjen dieser Ausnahme die Anerkennung verweigert, vgl. S. 92. 139 BVerfGE 113, 391 (392); BVerfG NJW 2007, 2755; BVerfG NJW 2008, 822 (834).Wäre das nicht der Fall, müsste das BVerfG seine Rechtsprechung ändern. 140 Schäuble ZRP 2007, 210 (211); zust. Bielefeld ZRP 2007, 273; übereinstimmend BVerfG NJW 2008, 822 (834). 141 Vgl. BVerfG NJW 2007, 2757. 142 BVerfGE 109, 324; aber auch hier scheint bereits ein Umdenken eingesetzt zu haben, vgl. nur BVerfG NJW 2007, 2757. 143 Vgl. dazu (zur präventiven TKÜ) BVerfGE 113, 392 (vgl. dazu Puschke/Singelnstein NJW 2005, 3534, [3536 f.]): „Verfassungsrechtlich hinzunehmen ist dieses Risiko allenfalls bei einem besonders hohen Rang des gefährdeten Rechtsguts und einer durch konkrete Anhaltspunkte gekennzeichneten Lage, die auf einen unmittelbaren Bezug zur zukünftigen Begehung der Straftat schließen lässt“ (für die Notwendigkeit einer Abwägung auch Baldus JZ 2008, 218 [224, 225]). Im Bereich des Strafverfahrensrechts wäre das sicher zu eng. Oder soll etwa eine Durchsuchung nur noch bei schweren Straftaten zulässig sein?

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3. Man könnte letztlich erwägen, eine allgemeine Bestimmung über den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung in die StPO aufzunehmen. Das müsste im Kontext von § 160 StPO144 oder von § 160a StPO145 geschehen. Die Regelung würde den Inhalt von § 100a Abs. 4 StPO in sich aufnehmen und könnte durch eine Vorschrift ergänzt werden, die das Verfahren in Fällen regelt, in denen die Ermittlungen zum Anfall von Mischinformationen führen können. Hier sollte der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum146 nutzen. Die negative Kernbereichsklausel in § 100c Abs. 4 S. 1 StPO kann dann entfallen.147 Ob die Kernbereichsvermutungen des § 100c Abs. 4 S. 2 und 3 StPO beibehalten werden sollen, ist zweifelhaft und kann am Ende dieses Beitrags nicht weiter untersucht werden. Wahrscheinlich wird das aber erforderlich sein, um der Praxis die Richtung zu weisen. Dass dies nicht immer gelingt, zeigt allerdings BGHSt 50, 206 ff. mit großer Anschaulichkeit.

VI. Am 5. Dezember 2007 verurteilte der 6. Strafsenat des OLG Düsseldorf drei Anhänger des Terrornetzwerks Al Qáida u.a. wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu langjährigen Freiheitsstrafen. In seiner Urteilsbegründung teilte der Vorsitzende Richter Ottmar Breidling nach Presseberichten mit, dass in dem Verfahren wichtige Erkenntnisse nur mit einer akustischen Wohnraumüberwachung gewonnen werden konnten. Die gesetzliche Regelung bezeichnete er – wiederum nach Presseberichten – als „stumpfes Schwert“ und fügte hinzu: „Es wäre zu begrüßen, wenn Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht nochmals Gelegenheit erhielten, auf der Grundlage der Erkenntnisse dieses Strafverfahrens ihre Entschließungen neu zu überdenken und weiterzuentwickeln.“ Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen. Doch wären meine Ausführungen missverstanden, wenn man aus ihnen die Billigung aller nur denkbaren – geforderten oder noch nicht geforderten – Gesetzesänderungen ableitete, mit denen der Sicherheit blindlings ein schrankenloser Vorrang gegenüber der Freiheit eingeräumt würde. Man muss da gewiss sehr genau hinschauen. Die genaue Betrachtung zeigt aber auch, dass Schluss sein

Vgl. den dortigen Absatz 4, der bereits ein Maßnahmeverbot enthält. Dort als Eingangsbestimmung. 146 Vgl. BVerfGE 113, 392. 147 Vgl. dazu schon Rogall ZG 2005, 174 (179). 144 145

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muss mit übertriebener rechtsstaatlicher Rhetorik, für die nun wirklich kein Anlass besteht. Der „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ ist jedenfalls vom Sockel zu stoßen und auf Normalmaß zurückzuschrauben.

Verkehrsdaten in der Strafverfolgung: Beispiel für einen schleichenden Strukturwandel des Strafverfahrens. PETRA VELTEN

A. Einleitung Seit 1.1.2008 müssen die Telekommunikationsunternehmen die Verkehrsdaten der gesamten Bevölkerung für die Dauer von sechs Monaten speichern. Nie war der Staat so neugierig und zumindest potenziell allwissend, nie die Bürgerinnen und Bürger so gläsern. Bei diesem Massengrundrechtseingriff werden Daten auf Vorrat gespeichert, die das Gros der Bevölkerung betreffen, und die Rekonstruktion der Telekommunikationsbeziehungen einer ganzen Gesellschaft ermöglichen1. Gespeichert werden überaus sensitive Daten, die das gesamte soziale Umfeld einer Person zugänglich machen. Bewegungsprofile können nachgezeichnet werden: Hat jemand von zuhause aus telefoniert oder im Internet „gesurft“, ist auch seine Anwesenheit festgestellt. Beim Gespräch mit dem Mobiltelefon ist bis auf zwei Kilometer feststellbar, wo der Sprecher sich aufgehalten hat. Die Bürger werden für die Sicherheit in Dienst genommen. Man schöpft nicht mehr – wie früher – schon existierende Erkenntnisquellen aus, Bürger müssen sich überwachbar halten – lückenlos. Wie weit ist es von dort noch bis zur Pflicht, den Einbau von Videokameras und Wanzen zu dulden, deren Aktivierung rechtsstaatlich nach gerichtlicher Genehmigung möglich ist2? Selten war umgekehrt der Staat so undurchschaubar wie heute. Die Abfrage und Auswertung der Daten erfolgt verdeckt, sie unterliegt keiner effektiven Kontrolle3. Polizeiliche Erkenntnisse basieren auf der Analyse

Welp, Überwachung und Kontrolle (2000), S. 307. Welp (Fn. 1), S. 307. 3 Vgl. dazu Backes, in: Strafverteidigervereinigungen/Organisationsbüro (Hrsg.), Opferschutz, Richterrecht, Strafprozessreform, Schriftenreihe der Strafverteidigervereinigungen (2005), S. 119 ff.: Nur ein Drittel aller richterlichen Beschlüsse wies überhaupt eine Stellungnahme zu allen drei gesetzlich geforderten Tatbestandsvoraussetzungen auf, fast 10% der 1 2

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massenhafter Daten und Informationen, zu denen in ihrer Gesamtheit nur die Sicherheitsbehörden Zugang haben. Die Analyseergebnisse entziehen sich öffentlicher Kontrolle. Die Verwendung der Daten wandelt das Gesicht des Strafverfahrens: Wer wodurch in den Fokus der Strafverfolger geraten kann, ändert sich ebenso wie das Fehlurteilsrisiko steigt, da Fehler der Ermittlungsbehörden schwer korrigiert werden können. Der Strafprozess wird zur Angelegenheit der Ermittlungsbehörden und entgleitet öffentlicher Kontrolle.

B. Bedeutung der Verkehrsdaten für die Strafverfolgung Dem folgenden Beitrag geht – einer Mahnung des Jubilars eingedenk – unabhängig von der grundrechtlichen Frage, ob dem Datenhunger der Ermittlungsbehörden Grenzen gesetzt werden müssen, vorrangig darum, welche strukturellen Auswirkungen das Datenregime auf den Strafprozess hat4. Durch das Monopol über das Datenmaterial geraten die Machtpositionen im Strafprozess in eine Schieflage. Die Ermittlungsbehörden erhalten mehr Selektionsmacht, einerseits weil Initiativermittlungen möglich werden: Das Datenmaterial erlaubt es, von einem Punkt eines verdächtigen Umfelds aus zahllose weitere Täter aufzuspüren oder von einer Tat her weiteren Delikten

Beschlüsse wies überhaupt keines der geforderten Merkmale auf. Eine materielle Bewertung der Beschlüsse ergab, dass das Ermittlungsinstrumentarium in den meisten Fällen entgegen der gesetzlichen Wertung nicht zur Verdachtsklärung, sondern zur Verdachtsgenerierung eingesetzt wurde. Überhaupt nur in einem von 307 Fällen wurde ein staatsanwaltschaftlicher Antrag abgelehnt. In einem Drittel aller Fälle übernahmen die Richter die von der Staatsanwaltschaft im Antrag gewählten Formulierungen wortwörtlich. Wenn der staatsanwaltschaftliche Antrag unvollständig war, korrigierten dies die Richter nur in 13% der Fälle, legten die Staatsanwälte einen vorformulierten Beschlussentwurf vor, dann wurde dieser in 92% aller Fälle übernommen. Die gesetzlich vorgesehene Benachrichtigung des Betroffenen erfolgte nur in 2% aller Fälle explizit, berücksichtigt man den Umstand, dass die Beschuldigten durch Akteneinsicht Kenntnis hiervon erlangen können, dann blieben 50% fehlender Benachrichtigung übrig, d.h. es handelte sich praktisch um alle Fälle, in denen die Telefonüberwachung gegen Unbeteiligte Dritte angeordnet worden war. Zur Behebung solcher Defizite sollen nun die verbesserten Regelungen der Voraussetzungen für die Anordnung und von Berichtspflichten dienen (vgl. § 100g Abs. 2 i.V.m. §§ 100a Abs. 3, 100b Abs. 1 – Abs. 4 Satz 1, 101 StPO, vgl. dazu im Einzelnen Puschke/Singelnstein NJW 2008, 113). Da aber niemand die Einhaltung solcher Pflichten kontrollieren kann, wenn nicht freiwillig informiert wird, handelt es sich hierbei um leges imperfectae, vgl. dazu eingehend Velten, Befugnisse der Ermittlungsbehörden zu Information und Geheimhaltung (1994), S. 205 ff. 4 Grundlegend zu dieser Differenz Fezer, Grundfragen der Beweisverwertungsverbote (1995), S. 25 ff.

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auf die Spur zu kommen; Ermittlungsgegenstand und -richtung werden von der „Fremdbestimmung“5 durch Anzeigetätigkeit der Bürger befreit. Andererseits präsentieren sie nur einen kleinen Ausschnitt des ausgewerteten Datenmaterials. Verteidigung und Gerichte können die beiden Selektionsprozesse weder beeinflussen noch kontrollieren. Beide Tendenzen sind nicht neu. Doch die Quantität schlägt mittlerweile um in eine neue Qualität und der Datenhunger der Ermittler wächst proportional zum Datenmaterial.

I. Das gesetzliche Konzept: Datenzugriff Für den Zugriff auf die Daten gilt: Bestandsdaten, die die Identifikation des Anschlusses und des Anschlussinhabers zulassen, dürfen automatisiert abgerufen werden. Für eine manuelle Auskunft genügt die Angabe der näheren Umstände eines Kommunikationsvorgangs. Etwas anderes gilt für die in §§ 96 Abs. 1, 113a TKG definierten Verkehrsdaten, das sind im Falle von Telefonverbindungen die Nummern von Anrufer und Angerufenem, die Anrufszeit, bei Mobiltelefonen die Funkzelle, bei Internetanschlüssen Beginn und Ende der Internetnutzung. Nicht erfasst sind Inhaltsdaten im engeren Sinne, der Inhalt eines Gesprächs oder die beim Surfen aufgerufenen Adressen von Internetseiten. Aber wenn beim Streifengang im Internet ein inkriminierter Inhalt gefunden wurde, lässt sich über die Abfrage der Bestandsdaten rekonstruieren, von welchem Nutzer sie stammten. Verkehrsdaten dürfen zur Aufklärung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung erhoben werden, also aller Taten zumindest der mittleren Kriminalität, die ein hohes Störpotential haben und beträchtliche Verunsicherung hervorrufen6, außerdem zur Aufklärung von Straftaten, die per Internet, E-Mail oder Telefon begangen wurden, also Beleidigungen, Stalking per Telefon oder Mail, Volksverhetzung, Betrug im bzw. mit Hilfe von Internet, Kinderpornographie, Hacking usw. Hier muss die anderweitige Ermittlung aussichtslos sein. Ausgenommen sind Verkehrsdaten von Geistlichen, Strafverteidigern und Parlamentsabgeordneten, über die diese vor Gericht das Zeugnis verweigern dürften. Rechts- und wirtschaftsberatende Berufe, Ärzte, Mitarbeiter von Beratungsstellen, Presse, Rundfunk, Fernsehen und nicht zuletzt Angehörige haben zwar ein Zeugnisverweigerungsrecht, ihre Materialien unterliegen nicht der Beschlagnahme, aber ihre Kommunikationsbeziehungen sind gegen Abhören, gegen Protokollieren der Verbindungen nicht

Weigand/Büchler/Wenke Kriminalistik 2008, 14. Taten, die „geeignet sind, den Rechtsfrieden empfindlich zu stören und das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen“, BVerfGE 103, 21 (34). 5 6

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geschützt, es sei denn, die Ermittlungsbehörden veranschlagen das Interesse an der Strafverfolgung als weniger gewichtig als ihr Interesse an der Geheimhaltung. Zurückgegriffen werden darf nicht nur auf die Daten der Verdächtigen selbst, sondern auf die aller Personen, deren Anschluss der Verdächtige möglicherweise benutzt oder die Nachrichtenmittler für ihn sind. Das verleiht dem Eingriff eine ganz erhebliche Streubreite: Auf sein eigentliches Ziel, die Informationen über den Beschuldigten und die Tat, lässt er sich nicht beschränken7. Es darf jedoch keine Recherche ins Blaue hinein geben, vorausgesetzt ist ein konkreter Anfangsverdacht. Aber diese Grenze ist nach der Verdachtsdefinition der herrschenden Auffassung nicht sehr stabil. Polizeiwissenschaftler formulieren, das Wissen um das Dunkelfeld verpflichte die Polizei gem. § 163 StPO zum proaktiven Tätigwerden8, ähnlich lautet Ziff. 6.1. Anlage E zu RiStBV. Nach der noch herrschenden Auffassung hingegen setzt das Tätigwerden der Polizei als Strafverfolgungsbehörde stets voraus, dass ein solcher Verdacht einer Straftat bereits existiert. Vorfeldermittlungen mit dem Ziel, den Verdacht erst zu begründen, lasse die Strafprozessordnung zwar nicht zu9. Der Verdacht ist danach aber schon dann gegeben, wenn Tatsachen existieren, die es nach kriminalistischer Erfahrung als möglich erscheinen lassen, dass eine Straftat vorliegt10. Vielerorts pflegen Polizisten aus der Tatsache, dass sie am Bahnhofsvorplatz stehen, zu schließen, dass, weil hier stets Drogen verkauft werden und wurden, an einem solchen

7 Die Streubreite solcher Eingriffe resultiert daraus, dass das Kriterium der „Beweisverstrickung“, die konkrete Aussicht, speziell durch die betreffende Information einen Ermittlungsfortschritt zu erzielen, als Eingriffsrechtfertigung entweder fehlt oder – wie hier – sehr ausgedünnt ist; vgl. dazu Weßlau, Vorfeldermittlungen (1989), S. 263 ff. 8 Weigand/Büchler/Wenke Kriminalistik 2008, 15. 9 Weßlau (Fn. 7), passim; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 152 Rn. 4a; SKStPO/Weßlau, 22. Lfg. (2000), § 152 Rn. 21; LR/Beulke, 25. Aufl. (2002), § 152 Rn. 22; Schulz, Normiertes Misstrauen, Der Verdacht im Strafverfahren (2001), S. 531 ff.; Frister, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. (2007), G Rn. 1. 10 Vgl. nur Meyer-Goßner (Fn. 9), § 152 Rn. 4 m.w.N.; BGH NJW 1989, 96 (97); dazu SKStPO/Weßlau (Fn. 9), § 152 Rn. 7 ff.; für Steuer(straf)verfahren vgl. BFHE 148, 108 = BStBl II 1988, 359 = NJW 1987, 1040 L – Chiffreanzeigen betr. den Verkauf von ausländischem Grundbesitz durch Inländer; BFHE 149, 404 = BStBl II 1987, 484 = NJW 1988, 2502 – Vermittlungsprovisionen an Kreditvermittler; BFH, NJW 2002, 2340; BFH, BFH/NV 1992, 791 – Verkaufsanzeigen für Yachten im Anzeigenheft eines Yachtmaklers; siehe auch Senat, BFH/NV 1998, 424 = DStRE 1998, 241. Zur Kritik der Formel als Grundlage für die Ausgrenzung von Vorfeldermittlungen, siehe Haas, Vorermittlungen und Anfangsverdacht (2003), S. 24 ff., 93 ff.; zur strukturellen Ähnlichkeit von Vermutung und Verdacht vgl. Schulz (Fn. 9), S. 530. Zu der Definition und möglichen Einschränkungen siehe unten, C.

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Ort stets der Anfangsverdacht einer Straftat nach dem BtMG gegeben sei11. Die oben genannte Definition schließt einen solchen Einsatz in der Tat nicht aus12.

II. Datenverwendung – Zufallsfunde In der Polizei-Literatur wird die verdeckte Informationsgewinnung als geeignetes Mittel zur proaktiven Verbrechensbekämpfung, zur „täterorientierten Verrechensaufklärung“ und als ein „hochsensibler Verdachtschöpfungsmechanismus“13 gepriesen – trotz der Bindung ihres Einsatzes an einen Anfangsverdacht. Am Anfang eines Informationskreislaufs stünden Informationen aus polizeilicher Tätigkeit mit anderer Stoßrichtung (Gefahrenabwehr14 oder Strafverfahren gegen Dritte) und Hypothesen über kriminelle Strukturen, sie erlaubten dann, in anderer Sache einen Anfangsverdacht zu begründen, der zu einem Strafverfahren und anschließend wieder zu weiteren Informationen über andere Fälle führt: „Verfahren ziehen Verfahren nach sich“. Diese Behauptungen werden durch empirische Untersuchungen belegt: Ermittlungserfolge bei der TKÜ resultierten zu 62% aus mittelbaren Erkenntnissen, die nicht das Verfahren betrafen, dessentwegen die Telefonüberwachung angeordnet worden war15. Praktiker charakterisierten die Telefonüberwachung als ein typisches Instrument, um kriminellen Zusammenhängen von dem einen Zipfel des Verdachts aus, den man das Glück hatte, zu fassen zu bekommen, auf die Spur zu kommen: „Bei Mord haben Sie die Leiche und suchen den Täter mittels TKÜ, bei BtM kennen sie den Täter und wollen das Umfeld erforschen“ oder: „…bei OK…hat

Zustimmend Haas (Fn. 10), S. 21 f. Haas (Fn. 10), S. 21 f. 13 Vgl. nur Weigand/Büchler/Wenke Kriminalistik 2008, 13 ff. 14 Vgl. aber die Einordnung als repressive, dem Prozessrecht zugeordnete Aufgabe in BVerfGE 113, 348 ff.; Lisken/Denninger, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. (2007), C Rn. 122. 15 Hinweise auf Straftaten Dritter (41%), Hinweise auf neue Straftaten eines Beschuldigten (17 %), mittelbare Ermittlungsansätze wegen einer Katalogtat oder einer sonstigen Straftat (39 % bzw 1 %): Albrecht/Dorsch/Krüpe, Rechtswirklichkeit und Effizienz der Überwachung der Telekommunikation nach den §§ 100a, 100b StPO und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen. Eine rechtstatsächliche Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz (2003). Ähnlich verhält es sich im Falle der Geldwäschegesetzgebung (Albrecht, Rechtstatsachenforschung zum Strafverfahren [2003], S. 84 m.w.N.; ebenso Teichmann/Achsnich, in: Herzog/Mülhausen (Hrsg.), Geldwäschebekämpfung und Gewinnabschöpfung [2006], § 31 Rn. 46; kritisch jedoch Nestler, in: Herzog/Mülhausen (Hrsg.), Geldwäschebekämpfung und Gewinnabschöpfung [2006], § 16 Rn. 1). 11 12

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man zwar einen konkreten Verdacht, aber die kriminalistische Erfahrung ist wichtig, denn man muss sich die Straftaten erst holen, das ist bei Mord anders“16. Der Schlüssel dafür sind die Regelungen über Zufallsfunde. Zum einen wird der Eingriff nicht nachträglich „minimalisiert“17, auch die Verfahrensstrukturen, die durch die engen Eingriffsvoraussetzungen gesichert werden, werden durch diese Befugnisse wiederum konterkariert. Ergibt sich z.B. bei der Suche nach Terroristen zufällig der Verdacht einer anderen Straftat gegen Dritte, können die Verkehrsdaten nach dem Prinzip des „hypothetischen Ersatzeingriffs18“ als Beweismittel gegen diese Personen verwendet werden, wenn wegen dieser Taten der Zugriff hätte angeordnet werden dürfen (§ 477 StPO). Auch solche Menschen, gegen die ursprünglich keinerlei Verdacht bestand, können mit Ermittlungen überzogen werden. Aber selbst die Begrenzung durch den „hypothetischen Ersatzeingriff“ ist nur eine scheinbare. Selbst in Bagatellfällen können die Daten nach h.M. völlig legal zu Strafverfahren eingesetzt werden, denn wenn „die Verwendung zu Beweiszwecken“ nicht zulässig ist, können die Ermittlungsbehörden die gefundenen Daten ohne weiteres als Ermittlungsansatz verwenden19. § 477 Abs. 2 StPO verbietet nämlich in Bagatellfällen lediglich den Einsatz zu Beweiszwecken. Sachbeweise, die aufgrund eines Zufallsfundes entdeckt werden, sollen völlig legal gesucht und verwendet werden dürfen20. Der Nachweis, dass die Nummer des Telefonbankings einer Schweizer Bank angewählt wurde, kann im Hauptverfahren wegen Steuerhinterziehung als Beweismittel u.U. nicht verwendet werden, wohl aber dürfen aufgrund dieser Erkenntnisse Ermittlungen aufgenommen, Durchsuchungen vorgenommen21 und die dabei gefundenen Kontoauszüge verwertet22 werden.

16 Krüpe-Gescher Die Überwachung der Telekommunikation nach den §§ 100a, 100b StPO in der Rechtspraxis (2004), S. 45. 17 Welp (Fn. 1), S. 261. 18 Wobei abstrakt auf die rechtliche Möglichkeit der Beweisgewinnung abgestellt wird, ohne Rücksicht darauf, ob diese unter den konkreten Umständen hätte realisiert werden können, kritisch dazu Fezer NStZ 2003, 625; dazu auch Schröder, Beweisverbote und die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung im Strafprozess (1992), S. 113; Wohlers NStZ 1990, 245 (246). 19 Dazu Fezer, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. (1995), 16/51. 20 Zu § 100b Abs. 5 StPO vgl. BVerfG NJW 2005, 2766; zu der Problematik Allgayer NStZ 2006, 603; a.A. SK-StPO/Wolter, 15. Lfg. (1996), Vor § 151 Rn. 190. 21 Str., teilweise wird es für zulässig gehalten, ausschließlich und unmittelbar gestützt auf die Zufallserkenntnisse Zwangsmaßnahmen anzuordnen und durchzuführen (LR/Schäfer, 25. Auflage (2004), § 100a Rn. 93; BGH NJW 1996, 200 (201) (Vorlagebeschluss des 5. Strafsenats zur sog. „Hörfalle“ unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rspr. zu § 100a StPO): „Die so gewonnenen Erkenntnisse können dagegen, wie bei anderen Verwertungsverboten auch

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Nach dem Legalitätsprinzip sind die Ermittler dazu sogar verpflichtet, auch wenn die Polizei durch die Datenerhebung erst auf den Verdacht gestoßen ist. Dennoch ist die Befugnis zur Verwertung von Zufallsfunden (die aus sonstiger staatlicher Erkenntnistätigkeit hervorgehen) nicht automatisch eine Vorfeldbefugnis, sie nimmt (formal betrachtet) eine Zwitterstellung ein. Es besteht bereits ein Verdacht in anderer Sache. Von da aus führt ein Zufall, nämlich der Fund eines neuen Verdachts, die Ermittlungsbehörden auf die Spur – der Zufallsfund scheint als Instrument der systematischen Verdachtsschöpfung ungeeignet. Eine genauere Analyse zeigt, warum und in welchen Fällen die Befugnis von Behörden zur Weiterleitung „zufällig“ erlangter Informationen über weitere Straftaten diesen Charakter annimmt: Das Baurecht z.B. dient überwiegend der Realisierung öffentlicher Belange der Landschafts- und Siedlungsgestaltung. Wenn im Rahmen dieser Tätigkeit bekannt wird, dass Betrügereien vorgefallen sind, dann unterscheidet sich eine solche Kenntnisnahme der Baubehörden strukturell kaum von derjenigen des Opfers oder anderer Bürger, die Zeugen einer Straftat werden. Eine systematische Verdächtigung bestimmter Personen oder Personengruppen ist nicht zu befürchten. Anders, wo die Erkenntnistätigkeit der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit dient, es sich also um klassisches Polizei- und Ordnungsrecht handelt, aber auch im Steuer- oder Wettbewerbsrecht: Hier werden die Behörden in einem von ihnen zuvor als kriminogen definierten Umfeld tätig, regelmäßig wird reichlich Material für die Verfolgung bereits begangener Straftaten anfallen. Von „Zufall“ kann kaum noch die Rede sein. Wenn also das Sicherheitsrecht i.e.S., das Polizeirecht, eine präventiven Zwecken dienende Ausforschung zulässt, dann unterscheiden sich Zufallsfund-Regelungen in einem solchen Sachbereich von denen in anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, etwa dem

(vgl. BGHSt 27, 355, 358; 32, 68, 71) Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen bieten. Sie können auch Anlass für Zwangsmaßnahmen sein“, KK-StPO/Nack, 5. Aufl. (2003), § 100a Rn. 53 stellt darauf ab, ob „die Ermittlungen, die wegen der bei der Telefonüberwachung gewonnenen Erkenntnisse eingeleitet worden sind, sich schon früher auf Grund verwertbarer Beweise so zum Verdacht verdichtet hatten, dass eine Durchsuchungsanordnung gerechtfertigt gewesen wäre. Bei der dann später angeordneten Durchsuchung dürfen auch solche Beweismittel beschlagnahmt werden, deren Vorhandensein durch Maßnahmen bekannt geworden ist, die unverwertbar sind“, andere lassen Zwangsmaßnahmen auf Grund von Zufallsfunden nur bei „erheblichen“ Straftaten zu (LG Landshut NStZ 1999, 635; Kaiser NJW 1974, 350) oder lassen nur „schlichte Ermittlungshandlungen“ bzw. „Bagatellgrundrechtseingriffe“ (z.B. Einholung von amtlichen Auskünften, Beiziehung von Akten, kurzfristige Observation) zu (KMR/Paulus, 30. Lfg. [2001], § 244 Rn. 582). 22 Vgl. dazu BGHR StPO § 110a Fernwirkung 1; BGH NStZ 1996, 48.

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Baurecht, dadurch, dass hier Beamte nicht zufällig und nur in Einzelfällen Erkenntnisse über Straftaten erhalten, sondern, dass sie sie – unter Aussparung von gesellschaftlichen Kreisen, die nach ihrer Definition nicht kriminogen sind – gezielt suchen und in großem Umfang finden werden23. Gleiches gilt naturgemäß für alle im Bereich der Strafverfolgung erlangten Informationen. Die Ermittlungsmaßnahmen erzeugen unterschiedlich viel Zufallsfunde: Am effizientesten ist die Rasterfahndung gem. § 98a StPO, gesucht wird ja nach allen Personen, die bestimmte tätertypische Merkmale erfüllen, etwa der Inhaber von Tafelpapieren als Indiz für Steuerhinterziehung – ohne Beweisverstrickung des Ergebnisses im Einzelfall24. Teils bestätigt das Raster selbst nicht nur den alten, sondern begründet automatisch den neuen Tatverdacht, teils ergibt sich dieser bei der Abklärung der Treffer. Anders im Fall der Erhebung von Verkehrsdaten: Die Streubreite des ursprünglichen Eingriffs, nämlich die Speicherung der Kommunikationsbeziehungen aller Bürger spielt hier insofern eine Rolle, als Informationen, die im klassischen Verfahren nur per Zufall noch vorhanden wären, nun systematisch vorgehalten werden. Hinzukommt, dass die verdächtige Person zum Ausgangspunkt eines Datennetzes wird, in dem sich alle ihre Kommunikationsteilnehmer und alle Nachrichtenmittler verfangen. Wenn zur Ermittlung der Straftaten eines Drogendealers seine Telefon, E-Mail- und SMS-Kontakte ermittelt werden, stößt man automatisch auf Menschen, die dem kriminellen Netz angehören. Ganz anders die klassische Konstellation des Zufallsfundes, etwa bei der Durchsuchung: hier geraten meist nur ausnahmsweise einzelne Nichtverdächtige in den Fokus der Ermittlungen. Erschwerend wirkt der „Schulterschluss“ von Prävention und Repression25 unter Einschluss von Verfassungsschutz, Nachrichtendiensten26. Hier sind die Übermittlungsbefugnisse zwar etwas enger, Bagatellen sind ausgenommen, doch sind diese Begrenzungen leges imperfectae. Alle diese Behörden dürfen die gesammelten Daten zum Zweck der Verfolgung gravierender Straftaten weiterleiten (vgl. § 161 StPO). Nach dem geplanten BKAG27 kann das BKA z.B. gem. § 20m Verkehrsdaten erheben zum Zweck der Abwehr von Gefahren für die Sicherheit des Staates oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person. Zugriff hat es auch auf die Daten

So auch Weßlau (Fn. 7), S. 277. Im Sinne einer Erfolgserwartung im Einzelfall, vgl. dazu Weßlau (Fn. 7), S. 267. 25 Schünemann ZStW 119 (2007), 945 ff. 26 Vgl. dazu Lisken/Denninger (Fn.14), C Rn. 109 ff. 27 Der Entwurf ist nur inoffiziell in die Öffentlichkeit gelangt, er ist im Internet abrufbar unter http://www.ccc.de/lobbying/papers/terrorlaws/20070711-BKATERROR.pdf. 23 24

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von Störern oder Personen, die im Verdacht stehen, in Zukunft Straftaten wie Tötungsdelikte, aber auch Computersabotage oder Zerstörung von Bauwerken zu begehen, falls dadurch die Bevölkerung erheblich beeinträchtigt wird. Soweit das BKA oder Verfassungsschutz dabei zufällig Informationen über ganz andere Straftaten erlangen, dürfen sie den Ermittlungsbehörden nach den Prinzipien des hypothetischen Ersatzeingriffs (aus eigener Initiative) übermittelt werden (§ 20w Abs. 5 Z. 2 des Entwurfs) – in allen anderen Fällen ist die Übermittlung auch als Ermittlungsansatz unzulässig. Informationen, die den Ermittlungsbehörden unzulässigerweise (z.B. in Bagatellfällen) übermittelt wurden, können jedoch in der Praxis legal „gewaschen“ werden. Sachbeweise, die aufgrund unzulässiger Information erlangt wurden, unterliegen nach h.M. keinem Verwertungsverbot, daher muss die Staatsanwaltschaft sie gem. § 161 StPO (insbesondere Abs. 2 und 3) als Ermittlungsansatz28, das Gericht sie zum Nachweis der angeklagten Tat einsetzen. Im oben genannten Fall dürfen zwar die Verkehrsdaten selbst, die zahlreiche Telefonkontakte mit einem Schwarzarbeiter oder der Putzfrau aus Marokko ausweisen, nicht verwertet werden (§ 477 Abs. 2 StPO) wenn diese Hinweise aber zu dem zu ihrer Haustür passenden Schlüssel des Arbeiters oder zu seinen Fingerabdrücken in ihrer Wohnung oder zu belastenden Zeugenaussagen geführt haben, sind diese sekundären Beweise, diese „fruits of the poisonous tree“ gerichtsverwertbar29. Im Ergebnis lässt sich festhalten: Unzulässig ist es, Verkehrsdaten ohne jeglichen Anlass und Aussicht auf Ertrag zu sichten. Wenn jedoch die Ermittlungsbehörden einmal aus beliebigen Gründen auf die Daten zugreifen dürfen, steht ihnen eine ergiebige Quelle zur Verfügung. Wir haben es daher mit Vorfeldbefugnissen zu tun und die Daten dürfen (nach h.M.) sogar in Bagatellfällen eingesetzt werden – dies muss (selbst nach rechtswidriger Übermittlung an die Strafverfolgungsbehörden) mangels Verwertungsverbot geschehen. Die Diagnose der Kriminalistik-Autoren, die verdeckte Datenerhebung sei ein Instrument zur Verdachtsgewinnung, trifft daher zu. Mittlerweile hat die „gezielte Suche nach Zufallsfunden“ auch schon die Rechtsprechung beschäftigt30.

Der neue § 161 StPO enthält die obskure Formulierung „die Daten dürften zu Beweiszwecken im Strafverfahren nur zur Aufklärung“ von Katalogtaten verwendet werden. 29 BGHSt 32, 68; 35, 32; 51, 1; BGHR § 100a StPO – Verwertbarkeit 1 bei TÜ-Kette; anders BGHSt 29, 244 für § 7 Abs. 3 G 10, der explizit die Verwendung der Daten zur Erforschung und Verfolgung anderer als der Katalogtaten untersagt, kritisch zur Rechtsprechungstendenz Fezer (Fn. 19), 16/50. 30 LG Bonn, NJW 1981, 292; LG Bad Kreuznach StV 1993, 629 (631); dazu Fezer (Fn. 19), 7/83; BFH DStR 2000, 1511, dort heißt es: „Auffällig ist zunächst die sehr hohe Anzahl von 28

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C. Vorratsdatenspeicherung als Vorfeldmaßnahme I. Der Verdacht als Strukturelement des Strafverfahrens Wenn der Satz zuträfe, „wer nichts verbrochen hat, hat auch nichts zu befürchten“, dann wäre freilich gegen den Rückgriff auf Verkehrsdaten zum Zwecke von Initiativermittlungen wenig zu sagen. Aber nicht nur der wird in Ermittlungsverfahren verwickelt und im Anschluss auch verurteilt, der wirklich „etwas verbrochen hat“. Die Belastungen des Ermittlungsverfahrens bleiben dabei genauso außer Betracht wie das Fehlurteilsrisiko31. Dennoch erscheint es auf den ersten Blick gleichgültig, ob wir mit diesem Risiko diejenigen belasten, gegen die bereits ein Anfangsverdacht besteht, oder statt dessen jene, die die Polizei ins Visier genommen hat. Welche gravierenden Folgen diese Verlagerung gleichwohl für das System der Strafverfolgung haben kann, darum geht es im Folgenden. Die Anknüpfung der Strafverfolgungstätigkeit an das Vorliegen eines Tatverdachts hat drei Funktionen: Erstens kommt dem Verdacht eine strafrechtstheoretische Bedeutung zu: Er stellt weithin sicher, dass das Strafrecht nur dann eingreift, wenn die Tat auch wirklich eine Störung des gesellschaftlichen Zusammenlebens darstellt32. Zweitens handelt es sich – in Abgrenzung zu polizeistaatlichen Modellen – um eine Freiheitsverbürgung, weil unverdächtigen Bürgern ein Freiraum vor staatlichen Ermittlungen eingeräumt wird33. Nicht schon kriminogene Eigenschaften, sondern erst Anhaltspunkte dafür, dass eine Straftat begangen wurde, sollen das Eindringen in die Privatsphäre gestatten. Der Verdacht gewährleistet einen staats-

Fällen, in denen die Steufa Kunden der S als Inhaber oder ehemalige Inhaber von Tafelpapieren ermittelt und um steuerliche Auskünfte angeschrieben hat. Das FG selbst geht von 1600 Fällen aus, die Ast. zuletzt von mindestens 2647 Kunden, bei denen die Fahnder gezielt nach „Zufallsfunden“ gesucht hätten. Das FA bestreitet diese Anzahl, hat jedoch selbst keine Zahlen offen gelegt. Die hohe Anzahl der betroffenen Kunden belegt die Absicht des FA, möglichst alle ins Auge gefassten Fälle zu erfassen (Prinzip der vollständigen Erfassung). Angesichts dessen fällt es bereits schwer, von Zufallsfunden bei sog. Vorfeldermittlungen zu sprechen, bei denen regelmäßig die bloße Möglichkeit einer steuerlichen Verkürzung für ein Tätigwerden der Steufa im Rahmen ihrer Aufgabenzuweisung ausreicht.“ Kritisch dazu auch Schulz (Fn. 9), S. 534, 691 f. 31 Vgl. dazu Nelles/Velten NStZ 1994, 366. 32 Vgl. zu dieser Funktion des Verdachts Deiters, Legalitätsprinzip und Normgeltung (2006), S. 113 ff. 33 Vgl. dazu eingehend Weßlau (Fn. 7), S. 239 ff.; soweit formuliert wird, der Bürger müsse die Möglichkeit haben, den Staat durch gesetzestreues Verhalten auf Distanz zu halten, sichert naturgemäß der bloße Verdacht gesetzwidrigen Verhaltens diese Möglichkeit nur höchst unvollkommen ab; vgl. Grimm KritV 1986, 39; ders. NJW 1989, 1311; SK-StPO/Wolter (Fn. 20), Vor § 151 Rn. 56; ders. StV 1989, 371; Siebrecht, Rasterfahndung (1997), S. 76.

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freien Raum34. Damit hängt die dritte Funktion des Verdachts zusammen, nämlich sein Beitrag zur Gewährleistung des Tatstrafrechts (im Gegensatz zum Täterstrafrecht) und seine Funktion als Garantie einer gewissen Gleichmäßigkeit der Strafverfolgung. Initiativermittlungen werden als Mittel zur Aufhellung des Dunkelfeldes und der Konzentration der Strafverfolgung auf besonders gravierende Fälle gepriesen. Dabei wird nicht nur die Leistungsfähigkeit des Strafrechts überschätzt, es werden auch alle Nachteile solcher Kompetenzen ausgeblendet. Die Aufhellung des Dunkelfeldes durch die Polizei bedeutet nicht effizientere Strafverfolgung, da Erledigungskapazitäten, Aburteilungs- bzw. Sanktionierungsquote35 im Verhältnis zur Zahl der tatsächlich verübten Straftaten gleich bleiben. Zudem würde die Aufdeckung und Bestrafung aller Normbrüche die Normgeltung eher destabilisieren als Rechtsgehorsam zur Folge haben36. Ändern kann sich also nur die Auswahl der sanktionierten Fälle, sie muss aber nicht nur Effizienzansprüchen genügen, sondern auch Gleichbehandlung gewährleisten. Insofern ist das durch den Anfangsverdacht gesteuerte dem proaktiven polizeilichen Verfahren überlegen. 1. Vorfeldbefugnisse und Effizienz der Strafverfolgung Effizienzsteigerung ist also nicht durch Bestrafung von mehr, sondern allenfalls von anderen Taten denkbar. Dazu ist – das ist als Zwischenergebnis festzuhalten – eine Zufallsfund- und Verwertungsregelung, (via Ermittlungsansatz) die Bagatellen miteinbezieht, weder geeignet noch erforderlich. Eher ist zu befürchten, dass sie das Ziel einer Konzentration der Strafverfolgung konterkariert, indem sie der Polizei ein erhebliches Maß an Mehrarbeit aufbürdet, die darauf gerichtet sein muss, unwichtige Ermittlungsverfahren zu identifizieren, Akten anzulegen und sie förmlich einzustellen. 2. Vorfeldbefugnisse und Gerechtigkeit der Strafverfolgung Die Selektionsleistungen des Anfangsverdachts Zu fragen ist, welches System zugleich besser geeignet ist, sich auf die Fälle schwerwiegender Kriminalität zu konzentrieren und die Bindung von Strafverfolgungskapazitäten durch Bagatellen zu verhindern und dabei

Weßlau (Fn. 7), S. 239 f. Dabei beziehe ich Erledigungen nach § 153a StPO mit ein. 36 Popitz, Zur Präventivwirkung des Nichtwissens (1968), passim. 34 35

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systematische Ungleichbehandlungen zu vermeiden. Beim Anzeigesystem37 sind die Ermittlungsbehörden im Grundsatz darauf beschränkt, Verdachtsmitteilungen durch Dritte entgegenzunehmen, beim Überwachungssystem würden die Strafverfolgungsbehörden typischerweise proaktiv tätig, „Ausforschungsermittlungen“ wären zulässig. Das Überwachungssystem räumt der Polizei eine größere Handlungs- und Entscheidungsfreiheit ein. Dies ist aber nicht nur mehr Freiheit im Positiven, sondern auch im Negativen. Der Vergleich hat sich also nicht an etwaigen Normprogrammen, sondern an der den Ermittlungsbehörden durch entsprechende Gesetze eingeräumten Macht zu orientieren, ebenso wie an der zu erwartenden Praxis. Im reinen Anzeigesystem38 leitet vor allem die Opferperspektive die Aufnahme der Strafverfolgung: Entscheidend sind der durch die Tat verursachte Schaden, die erfolgreiche Konfliktbereinigung und schließlich die mit der Strafverfolgung verbundenen Erwartungen (Kosten-Nutzen-Relation). Daneben spielen bei Vermögensdelikten bekanntermaßen Vorgaben der Sachversicherungen eine große Rolle. Im Vordergrund stehen das gesellschaftliche Störpotential des Delikts und die Erforderlichkeit und Eignung des Strafrechts als Konfliktlösungspotenzial aus der Sicht der Betroffen39. Im Fall der Verdachtsgewinnung „aus der Mitte der Gesellschaft“ ist erkenntnisleitendes Interesse die individuelle Betroffenheit bzw. der individuelle Nutzen, nicht aber sind es primäre Kontrollinteressen. Ihr haftet ein demokratisches Moment an, im Prinzip kann jeder durch Straftaten Betroffene Strafanzeige erstatten und in den Fällen, in denen er Verletzter ist, auch den Gang des Verfahrens in bestimmten Grenzen kontrollieren (§§ 172, 395 ff StPO). Das Bekanntwerden von Straftaten hängt von diversen in der Gesellschaft repräsentierten Interessen ab. Das Vier-Augen-Prinzip verhindert im Allgemeinen eine Instrumentalisierung der Strafverfolgung: Zwei Instanzen, nämlich die Bürger und die Ermittlungsbehörden, entscheiden darüber, ob Strafverfolgung einsetzt40, der dem Anzeigenden aus bestimm-

37 Hier werden die verschiedenen Verdachtsschöpfungssysteme idealtypisch dargestellt, die Praxis und Theorie entsprechen dem nicht, vgl. dazu Fezer (Fn. 19), 2/38 ff. 38 Das trifft zumindest für die Massendelikte zu. Bei Diebstahl, Unterschlagung, Raub und Vergewaltigung wurden der Polizei zwischen 94 und 97% dieser Delikte durch private Anzeige bekannt (Blankenburg/Sessar/Steffen, Die Staatsanwaltschaft im Prozeß strafrechtlicher Sozialkontrolle [1978]), insgesamt ist es noch immer bei 80% der Ermittlungsverfahren der Fall. 39 Vgl dazu Kürzinger, Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion (1978), S. 76 ff. 40 Dass sich bestimmte Personengruppen aus Misstrauen de facto nicht an die Polizei wenden, obwohl sie das Recht dazu hätten, beruht wahrscheinlich auf einer Antizipation der mangelnden Bereitschaft der Polizei, sich ihrer Anliegen anzunehmen. Dieser Nachteil besteht in

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ten Gründen lästige Nachbar wird nur ausnahmsweise gerade auch den Strafverfolgern lästig sein41. Die negative Konsequenz eines solchen Systems (in Reinform) sind strukturelle Defizite des Strafrechtsschutzes in Fällen, in denen kollektive Rechtsgüter verletzt wurden oder in denen zwischen Täter und Opfer eine Abhängigkeitsbeziehung besteht. Ganz anders würde das Strafverfolgungssystem als ein Überwachungssystem funktionieren. Wie im Anzeigesystem würde relevant sein, wie aussichtsreich die Ermittlungen sind. Daneben kämen voraussichtlich Selektionsmechanismen bereits bei der Verdachtsfindung zum Tragen, von denen jetzt bekannt ist, dass sie erst nach der Anzeigenaufnahme, beim polizeilichen Tätigwerden, wirken42. Anstelle der Betroffenheit je einzelner Opfer würden Kontrollinteressen und Problemdefinitionen der Polizei im Vordergrund stehen. Die „kriminalistische Erfahrung“ der an der Basis arbeitenden Polizeibeamten und ihre politische Einstellung werden maßgeblich dafür, in welchen gesellschaftlichen Schichten und Situationen Straftaten zu suchen wären. Das Interesse allein ist freilich ein gefährlicher Selektionsfaktor. Als Selektionskriterium dient am ehesten die gesellschaftliche Stigmatisierung und Ausgrenzung. Die größte Gefahr besteht für jene, die unbequem sind oder gegen die man Vorurteile hegt. Die sozialen Implikationen dieser Selektionsmacht wurden in den 70er Jahren genau untersucht: Polizeibeamte hätten Selektionsmechanismen entwickelt, mit denen eine Situation vordefiniert würde43. Ob eine Handlung als Straftat verfolgt oder in den Bereich der Privatsphäre „abgeschoben“ würde, sei ebenso von dieser Vordefinition abhängig wie das gesamte Verhalten gegenüber dem Bürger, sei er nun Beschwerdeführer, Zeuge, Opfer oder Verdächtiger. Der Ausgang des Definitionsprozesses sei nachhaltig beeinflusst durch die dem „polizeilichen Gegenüber“ zugesprochene „Beschwerdemacht“: Bestehe die Vermutung, dass ein Bürger sich erfolgreich gegen eine vorgenommene Definition zur Wehr zu setzen in der Lage sei, würde der einschreitende Beamte von vorneherein eine für diesen Bürger

einem ausschließlich proaktiven System noch in stärkerem Ausmaß und ist in dem „Anzeigesystem“ noch eher zu kompensieren. 41 Prekär sind natürlich auch hier wieder die Fälle, in denen der Anzeigende durch seine Vorurteile geleitet wird, hier besteht die Gefahr, dass dieselbe Vorurteilsstruktur auch die Strafverfolger leitet. Aber das Anzeigemodell modifiziert die Effekte im Vergleich zum Überwachungsmodell eher, jedenfalls verstärkt es sie nicht. 42 Vgl. dazu Blankenburg/Feest, Die Definitionsmacht der Polizei (1972), S. 27 ff. (verdächtige Gegenden, verdächtiges Aussehen, merkwürdiges Verhalten, mangelnde Subordination). 43 Blankenburg/Feest (Fn. 42), S. 19 f.

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günstige(re) Definition vornehmen44. Brusten kam 1971 zu dem Ergebnis, Unterschichtangehörige würden durch die polizeilichen Selektionsmechanismen systematisch benachteiligt. Die entstandenen schichtspezifischen Ungleichheiten würden verfestigt und Vorurteile gegen Unterschichtangehörige scheinbar bestätigt45. Neuere Untersuchungen fanden im Falle von Opportunitätseinstellungen eine deutliche soziale Selektivität zu Lasten ausländischer und arbeitsloser Beschuldigter46. Untersuchungen zu Haltungen der Polizisten bestätigen diese Tendenz47. Da Kriminalität ubiquitär ist, man also dort, wo man sucht48, in der Regel auch fündig wird, würden kriminalistische Erfahrungen dieser Art tendenziell den Status einer self-

Blankenburg/Feest (Fn. 42), S. 117. Brusten, in: Feest/Lautmann (Hrsg.), Die Polizei. Soziologische Studien und Forschungsberichte (1971); S. 37–71; ders. KrimJ. 3 (1985), S. 203–219. 46 Vgl. dazu Albrecht (Fn. 15), S. 46 m.w.N. 47 Franzke Kriminalistik 1993, 615 ff. Danach sahen sich von 116 befragten Polizeibeamten 74 % veranlasst, ausländische Arbeitnehmer anders behandeln zu müssen als den „Normalbürger“, 35 % waren der Auffassung, dass sie sich auf eine Diskussion mit „Gastarbeitern“ gar nicht erst einlassen würden, 44% wünschen sich eine ausländerfreie Gesellschaft , 83 % haben keinerlei ausländische Freunde oder Bekannte, vergleichbare Ergebnisse bei Jaschke, Öffentliche Sicherheit im Konflikt (1997), S. 118 ff. Allerdings ist bekannt, dass das Anklage- und Verurteilungsrisiko der Nichtdeutschen gleichwohl geringer ist als das der Deutschen, das wird im allgemeinen darauf zurückgeführt, dass deren Aussageverhalten weniger kooperativ ist, als das der Deutschen, vgl. Donk/Schroer Kriminalistik 1995, 401 ff.; Albrecht (Fn. 15), S. 88. Vgl. auch Backes/Dollase/Heitmeyer, Risikokonstellationen im Polizeialltag (1997), S. 85 ff.; sowie die Nachweise bei Albrecht (Fn. 15), S. 54 stellen eine signifikante Ablehnung von Ausländern fest, führen diese aber eher auf den „Stress im Umgang mit Ausländern zurück“, wobei sie allerdings betonen, dass es wenig wahrscheinlich sei „dieses hohe Stresserleben wegen der Ausländer […] entstanden ist, sondern dass Ausländer aufgrund des höheren allgemeinen Stresses in stärkerem Maße abgewiesen werden (S. 166); Feuerhelm MSchKS 1988, 299 ff.; Bornewasser, in: Polizei-Führungsakademie (Hrsg.), Fremdenfeindlichkeit in der Polizei? Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie (Schriftenreihe der PolizeiFührungsakademie 1/2, 1996), S. 16–55. Dort wird festgestellt, dass „es sich bei den in der Öffentlichkeit diskutierten Übergriffen von Polizeibeamten gegenüber Ausländern weder um ‘bloße Einzelfälle“ noch um ein ‘durchgehendes Muster’ handele, sondern um die Konsequenz von spezifischen Belastungsbedingungen und -situationen, die in Problemgebieten und bei Problemeinsätzen anfallen.“ (Eckert/Jungbauer/Willems, in: Polizei-Führungsakademie [Hrsg.] a.a.O., S. 88). Bornewasser sieht „Fremde mit (ihrer) geringen Beschwerdemacht bedroht, stellvertretend zum Opfer von Aggressionen zu werden“ (a.a.O., S. 54). Eckert/Jungbauer/Willems sprechen von einer „Stereotypenbildung als Generalisierung negativer Erfahrungen“ (Eckert/Jungbauer/Willems, in: Eckert [Hrsg.], Wiederkehr des „Volksgeistes“? Ethnizität, Konflikt und Bewältigung [1998], S. 218) als möglicher Voraussetzung von Übergriffen, die„subjektiv legitim erscheinen“ (S. 224). 48 Vgl. dazu die Beschreibung von Observationsobjekten durch Bauer, Moderne Verbrechensbekämpfung, Bd. 2 (1972), S. 304 ff. 44 45

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fullfilling prophecy erhalten. Analysiert man die den Ermittlungsbehörden eingeräumte Macht, würde das Strafrecht zum möglichen Mittel der Eliminierung unbeliebter oder (im weiteren Sinne) verdächtiger, obskurer Personen, das Al-Capone-Modell49 wäre praktizierbar. Da es angesichts der Ubiquität von Kriminalität fast niemanden gibt, der nicht verfolgt werden könnte, drohen die genannten Selektionskriterien konstitutiv für Strafverfolgung zu werden. Wir brechen immer mehr mit einem grundlegenden Prinzip des rechtsstaatlichen Strafrechts: dem nämlich, dass erst die Schädigung und nicht schon eine bestimmte Gesinnung verboten ist. Die Gesinnung wird mehr und mehr zu einem Weg, Straftaten auf die Spur zu kommen und vor allem auch, sie nachzuweisen50. Angesichts der Ubiquität von Straftaten droht die Gesinnung zu einem echten Selektionskriterium dafür zu werden, wer für seine Taten bestraft wird. Nun könnte die Definitionsmacht der Strafverfolgungsbehörden anstelle der Bindung an den Tatverdacht durch explizite inhaltliche Vorgaben (Schwere von Handlungs- und Erfolgsunrecht, Nachtatverhalten) gelenkt werden. Wirksam wären sie aber nur, wenn Rechtsmittel existierten, mit denen Beschuldigte rügen könnten, dass sie gleichheitswidrig verfolgt wurden. Auch Verletzte können nur die Einstellung aus rechtlichen Gründen oder mangels Tatverdachts rügen, Opportunitätsentscheidungen sind hingegen unangreifbar. Das Klageerzwingungsverfahren ist weitgehend eine stumpfe Waffe. Festzuhalten ist: Analysiert man die Verwendungsregelungen als System, so erweist sich die Diagnose als zutreffend, dass die Verkehrsdatenregelungen die Kommunikation der Bürger unter das Damoklesschwert strafrechtlicher Verfolgung stellt. Sie erzeugen für diejenigen, die sich außerhalb gesellschaftlicher (nicht strafrechtlicher) Normen bewegen wahlweise ein erhöhtes Verfolgungsrisiko oder einen erhöhten Anpassungsdruck.

II. Lösungsmöglichkeiten: Um zu verhindern, dass das Strafrecht zu einem Mittel des Täterstrafrechts wird, genügt es daher nicht, die Strafverfolgungsbehörden inhaltlich

49 Zwar sind gravierende Delikte, wie Mord, Raub u.Ä. nicht nachweisbar, aber letztlich wird der Täter wegen einer Steuerhinterziehung „aus dem Verkehr“ gezogen. Der Sache nach erfolgt also die Bestrafung (der Steuerhinterziehung) nicht wegen der Steuerhinterziehung, sondern wegen der anderen Delikte. Dabei muss natürlich beachtet werden, dass die polizeiliche Hypothese (zumal sie ja nicht nachweisbar war) genauso gut falsch sein kann. Aus diesem Grunde gibt man damit ein bedeutendes Stück Rechtsstaat preis. 50 Weßlau (Fn. 7), S. 263 ff.

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auf Objektivität zu verpflichten (vgl. etwa § 161 Abs. 2 StPO für die Staatsanwaltschaft). Vielmehr müssen Verfahrensregeln geschaffen werden, die einen solchen Selektionsprozess effektiv steuern und/oder kontrollieren. Hier sind verschiedene Reaktionen sinnvoll: 1. Die Rücknahme von Vorfeldbefugnissen: Man kann die Erfüllung von Strafverfolgungsaufgaben strikt an den Tatverdacht binden und (jedenfalls im Grundsatz) das Anzeigesystem vorschreiben. Das setzt erstens voraus, dass der Anfangsverdacht polizeiliche Tätigkeit überhaupt eingrenzt, was umstritten ist51. Zweitens müsste der Vorgang der Verdachtsschöpfung eigens geregelt werden, da er dem Regime des Anfangsverdachts begrifflich nicht unterstellt werden kann. Die unstreitig zulässige Entgegennahme von Anzeigen und Informationen ist verdachtslose Strafverfolgungstätigkeit52. Daher muss dieser Vorgang als Ausnahme geregelt werden. Drittens bedarf es einer restriktiven Regelung der Verwertbarkeit von Zufallsfunden und „fruits of the poisonous tree“. a) Zunächst einmal müsste das Erfordernis des Tatverdachts in § 160 Abs. 1 StPO legal definiert werden: Drei Elemente charakterisieren den Verdacht, der einen ermittlungsfreien Raum gewährleisten soll: Es müssen tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die erstens spezifisch auf die Begehung einer bestimmten Tat (nicht von Straftaten allgemein) hinweisen53, die zweitens – als Indizien – nur54 das Resultat einer konkret begangenen Straftat sein können55 und die drittens mit einem bestimmten (von der Tatschwere abhängigen56) Wahrscheinlichkeitsgrad auf diese konkrete Tat verweisen. Das erste Element fehlt, wenn ein Indiz mit der gleichen Wahrscheinlichkeit für die Begehung irgendeiner Straftat oder auch einer zukünftigen Straftat spricht wie für die vergangene Begehung einer (der Art nach) bestimmten, einzelnen Tat. Das zweite fehlt, wenn nur eine Korrelation der Tatsache mit der Tatbegehung feststellbar ist, aber kein Kausalverhältnis. Verletzungen,

Haas (Fn. 10), S. 24 ff., 93 ff. Vgl. dazu m.w.N. Deiters (Fn. 32), S. 135 ff. 53 So auch Weßlau (Fn. 7), S. 37 ff. 54 Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass diese (durch die begangene Tat erst geschaffenen) Tatsachen ihren spezifischen Bedeutungsgehalt in Verbindung mit anderen, etwa täterspezifischen Tatsachen erhalten. 55 Ähnlich wie hier „tatbezogener Verdacht“: Weßlau (Fn. 7), S. 37 ff.; dies. SK-StPO (Fn. 9), § 152 Rn. 16. Dabei versteht sie allerdings unter „tatbezogen“ anders als hier nicht durch die Tat verursachte Indizien, sondern speziell auf die Tat hinweisende Indizien (Rn. 37). 56 Vgl. dazu eingehend Deiters (Fn. 32), S. 115 ff. 51 52

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Schäden u.Ä. sind Folgen einer möglichen Straftat und als solche Tatsachen, die auf die Begehung einer Straftat hinweisen. Keinen Verdacht begründet deshalb die notorische kriminalistische Erfahrung57. Die Aufnahme von Ermittlungen in einem Asylbewerberheim aufgrund der Aussage, eine Person habe einem das Portemonnaie gestohlen und sei dann in der Tür dieses Hauses verschwunden, wäre dann ohne weiteres zulässig. Diese Tatsachen lassen nicht nur mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit den Schluss auf eine bestimmte begangene Straftat zu, sondern wenn diese begangen wurde, dann ist diese Aussage durch den Diebstahl verursacht worden. Illegal wäre hingegen die Razzia zur Auffindung von Diebesgut im Asylbewerberheim mit der Begründung „man kenne ja seine Klientel“. Sie wäre nicht nur wegen des niedrigen Verdachtsgrades unzulässig, sondern auch, weil dieser Verdacht nicht auf Tatsachen basiert, die durch einen Diebstahl hervorgerufen wurden. Gleiches würde für die Aufnahme weiterer Ermittlungen und die Vornahme einer Hausdurchsuchung gelten, wenn man einen Dieb unmittelbar nach der Tat (mit der Diebesbeute) gefasst hat. Das dritte Erfordernis fehlt etwa in der Konstellation, dass den Ermittlungsbehörden der plötzliche Reichtum eines Beamten der Bauabteilung bekannt wird. Hier wäre der Tatverdacht nicht schon deshalb zu verneinen, weil es sich nicht um das Resultat einer Straftat handelte, auch wäre die Tatspezifik zu bejahen, da der Reichtum im konkreten Kontext auf eine in der jüngeren Vergangenheit aus einem spezifischen Delikt (Korruption, Bestechung) herrührenden Bereicherung hinweist. Fraglich ist hier in erster Linie, ob allein der Reichtum – wegen seiner wahrscheinlichen anderen Herkunft – als Indiz stark genug ist, um einen Anfangsverdacht zu begründen58. Einer Klarstellung bedürfte zudem auch die Formulierung in § 163 StPO, die der Polizei die Aufgabe zuweist, „Straftaten zu erforschen“59. Auch hier müsste – angesichts der Definition, die diese Vorschrift in Polizeikreisen

So aber bislang die h.M. vgl. nur RGSt 70, 251 (252): Gerüchte; allgemein LR/Beulke (Fn. 9), § 152 Rn. 40; Meyer-Goßner (Fn. 9), § 152 Rn. 4; HK-StPO/Krehl, 3. Aufl. (2001), § 152 Rn. 4; differenzierend SK-StPO/Weßlau (Fn. 9), § 152 Rn. 15. Die kriminalistische Erfahrung spielt natürlich weiterhin eine wesentliche Rolle dafür, welche Schlüsse aus Indizien gezogen werden können. 58 Dabei handelt es sich notwendigerweise um kein im strikten Sinne operationalisierbares, sondern um ein heuritisches Kriterium, da wir keinerlei empirische Erkenntnisse über die Beweiskraft von Indizien haben; vgl. dazu Grünwald, Das Beweisrecht der Strafprozeßordnung (1993), S. 89 ff.; Frister, FS Grünwald (1999), S. 169. 59 Im Sinne der von SK-StPO/Weßlau (Fn. 9), § 152 Rn. 15 zu Recht vorgetragenen Interpretation des § 163 StPO in dem Sinne, dass der Strafverfolgungsauftrag der Polizei akzessorisch zu dem der eigentlichen Inhaberin der Kompetenz, nämlich der Staatsanwaltschaft, ist. 57

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erhält60 – die Beschränkung auf den Verdacht, der durch Tatsachen begründet ist, die durch eine Straftat hervorgerufen wurden, explizit erwähnt werden. b) Der Vorgang der Verdachtsschöpfung bedarf expliziter Regelung. Grundsätzlich sollte die Polizei nur aufgrund von Anzeigen Dritter tätig werden können61. Aber auch der Kreis derjenigen, deren Informationen verdachtslos entgegengenommen werden dürfen, ist zu beschränken. Wegen der besonderen Gefahren eines Informationsverbundes gerade im sicherheitsbehördlichen Bereich sollte eine Anzeige der Sicherheitsbehörden grundsätzlich nur im Bereich klassischer Polizeitätigkeit, also wenn die Informationen durch Streifegehen erlangt worden sind, entgegengenommen werden dürfen. Eine aufgrund besonderer Informationsbefugnisse erlangte Information ist davon auszunehmen. c) Wirksam und abgesichert wird eine solche Bindung der Tätigkeit an den Anfangsverdacht, eine Entkoppelung der Tätigkeiten der Sicherheitsbehörden nur, wenn im repressiven wie auch im sicherheitspolizeilichen Bereich strikte Regelungen für Verwertungsverbote geschaffen werden. Zufallsfunde sollten prinzipiell unverwertbar sein. Die auf diese Weise erlangten Informationen sollten auch als Ermittlungsansatz und nicht lediglich als Beweismittel gesperrt werden. Dazu müsste die auch die Verwertung der mittelbar erlangten Beweismittel als „fruits of the poisonous tree“ verboten sein. Der Preis, den man hier zahlt, ist nicht zu hoch: Man verzichtet lediglich auf eine Strafverfolgung, die ohne den Rückgriff auf Verkehrsdaten ohnehin nie stattgefunden hätte und vor der Bürger in ihrer Rolle als Kommunikationsteilnehmer ex ante auch sicher sein sollen, damit die Kommunikation nicht stets unter dem Damoklesschwert der Strafverfolgung steht. 2. Kontrolle der Gleichbehandlung Eine denkbare Ergänzung, mindestens aber Alternative zu der Rückkehr zum verdachtsbasierten Ermittlungsverfahren besteht darin, die Möglichkei-

Weigand/Büchler/Wenke Kriminalistik 2008, 13. Darüber, inwiefern de lege lata eine solche Begrenzung dem § 152 StPO zu entnehmen ist, herrscht Streit, für die Zulässigkeit Nr. 61 der gemeinsamen Richtlinien der Justiz- und Innenminister der Länder über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität, Anlage E RiStBV; vgl. zum Ganzen eingehend SKStPO/Wolter (Fn. 20), Vor § 151 Rn. 156 ff., der ähnlich wie Deiters (Fn. 32), S. 137 allein schlicht hoheitliches Handeln für zulässig hält; enger SK-StPO/Weßlau (Fn. 9), § 152 Rn. 21. 60 61

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ten einer Kontrolle von Ungleichbehandlungen zu begründen. Die Einführung einer Individualrüge der krassen Ungleichbehandlung begegnet jedoch erheblichen Bedenken, nicht nur, weil sie zur Folge hätte, dass schon einzelne Fehlgriffe der Ermittlungsbehörden zur vollständigen Blockade einer ansonsten nicht zu beanstandenden Tätigkeit führen könnten. Sinnvoll wäre die Kontrolle durch ein mit Unabhängigkeit ausgestattetes Organ, ähnlich den Datenschutzbeauftragten. Das Organ müsste paritätisch zusammengesetzt sein, also durch Juristen und Juristinnen, die in der Anwaltschaft und der Justiz tätig waren. Es müsste Opportunitätseinstellungen im Ermittlungsverfahren beanstanden können, nach einem internen Prüfungsverfahren auch öffentlich. Wenn etwa jemand wegen einer Bagatelle verfolgt wurde, obwohl dieselbe Staatsanwaltschaft vergleichbare Verfahren sonst nicht aufgreift, so muss diesem Ombudsmann ein Rügerecht zustehen. Voraussetzung einer wirksamen Kontrolltätigkeit eines solchen Ombudsmannes wäre allerdings, dass auch die Art und Weise der Verdachtsgewinnung vollständig protokolliert wird.

D. Vorratsdatenauswertung als Beweismittel Die Verwendung von Vorratsdaten zur Strafverfolgung hat nicht nur Einfluss darauf, welche Personen mit Ermittlungsverfahren überzogen werden können, sie verändert auch das Fehlurteilsrisiko – nachteilig. Das beruht auf zwei neueren Entwicklungen des Beweisrechts, für die das traditionelle Prozessrecht bislang keine befriedigende Lösung bereithält. Der Sachbeweis erhält mit dem Fortschritt naturwissenschaftlicher Erkenntnisse immer stärkeres Gewicht. In vielen Fällen sind Sachkunde ebenso wie auszuwertendes Material bei den Ermittlern monopolisiert. Auch Verkehrsdaten unterliegen in einem doppelten Sinne einem staatlichen Monopol. Ihre Erhebung, Auswertung und Selektion sind allein in die Verantwortung der Ermittlungsbehörden oder ihrer Hilfseinrichtungen gestellt. Es gibt für die Verteidigung keine Waffengleichheit.

I. Die Bedeutung des Beweismonopols Will man Datenspuren im Verfahren richtig würdigen, muss man genau wissen: Wonach wurde gesucht, wurde vollständig gesucht und ausgewertet? Wurden möglicherweise relevante Spuren vernachlässigt, wurde allen Spuren nachgegangen? In der Hauptverhandlung wird nur das Ergebnis einer Suche präsentiert und kontrolliert, nicht aber der Vorgang selbst. Wird z.B. im Fall einer Erpressung nachgewiesen, dass der Angeklagte die Homepage des Opfers mehrfach besucht oder sich in einer Funkzelle in dessen

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Nähe aufgehalten oder es angerufen hat, dann setzt eine zuverlässige Bewertung dieser Fakten die Kenntnis der übrigen Verkehrsdaten des Opfers voraus. Wie viele Menschen (mit welchen Interessen) haben sonst den Kontakt gesucht, welche Ergebnisse wären mit alternativen Suchstrategien zu erzielen gewesen? Solche Probleme stellen sich bei traditioneller Beweisführung höchstens punktuell: Prinzipiell kann man selbst ermitteln62. Wenn man den Aufenthalt einer bestimmten Person am Tatort oder deren Beziehung zum Opfer durch Zeugenaussagen nachweisen muss, kann die Verteidigung diese Zeugen auch darüber befragen, welche anderen Personen möglicherweise am Tatort waren oder nach weiteren Entlastungszeugen suchen. Diese Suche ist im Falle eines staatlichen Beweisführungsmonopols nicht möglich. Weder das Gericht noch die Verteidigung kann das Bewegungsbild des Angeklagten mit Bewegungsbildern Dritter, Kontaktpersonen des Opfers oder am Tatort Anwesender abgleichen. Verkehrsdaten sind nur für die Ermittlungsbehörden zugänglich. Anderen Verfahrensbeteiligten hilft auch das Beweisantragsrecht nicht weiter. Ein auf bestimmte Verbindungen des Opfers gerichteter Beweisantrag ist unmöglich, weil die Namen der Kommunikationspartner ja gerade noch erforscht werden sollen. Ein Antrag auf Feststellung aller Verkehrsdaten des Opfers ist mangels beweiserheblicher Tatsachen ein Beweisermittlungsantrag. Damit existiert in den Fällen einer solchen Beweisführung nicht nur keine Waffengleichheit, der Beschuldigte ist darauf angewiesen, dass die Ermittlungsbehörden ihre Arbeit gründlich leisten und sich nicht vorschnell auf eine bestimmte Hypothese festlegen. Aber gerade dass sich eine solche Vorabfestlegung gar nicht vermeiden lässt, macht die Kontradiktorietät des Verfahrens so unentbehrlich. Im Gegenteil, es besteht die Gefahr, dass selektiv erhobene und präsentierte Sachbeweise Vorurteilen den Status von (die Beweislast umkehrenden) Fakten verleihen: Ich kenne eine Anklageschrift, die sich im Falle einer Schlägerei in einer von zahllosen Leuten besuchten Diskothek darauf stützte, dass sich dort unter vielen anderen die DNA-Spuren eines Jugendlichen fanden, der bereits wegen einer Körperverletzung vorbestraft war. Weitere Beweismittel für seine Tatbeteiligung (insbesondere belastende Zeugenaussagen) gab es nicht. Dem Beweisantrag auf Vorlage des gesamten Abfrageergebnisses wurde nicht stattgegeben. Erst der Alibibeweis führte im Hauptverfahren zum Freispruch. Da der Gegenbeweis in vielen Fällen nicht führbar ist, muss es wenigstens möglich sein, durch Abgleich

Zur Problematik der fehlenden Zwangsbefugnisse der Verteidigung vgl. aber zuletzt Schünemann ZStW 119 (2007), 945 ff. 62

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mit den (von den Ermittlern etwa verworfenen) Treffern die unsichere Basis dieser Erkenntnis nicht nur zu benennen, sondern auch zu veranschaulichen.

II. Korrektive – Nachholung der Ermittlungen oder Beweiswürdigung Eine Kompensation solcher Ermittlungslücken durch das Gericht ist selbst bei größter Sorgfalt und Zurückhaltung nicht angemessen möglich. Traditionelle Mittel, wie Sachaufklärung (§§ 202, 204, 244 Abs. 2 StPO) oder Beweiswürdigung versagen. Ob die Ermittlungsbehörden andere Spuren vernachlässigt haben, lässt sich nämlich nicht diagnostizieren, ohne dass den Kontrolleuren, d.h. Verteidigung und Gericht, das Material vorliegt, das von den Ermittlungsbehörden vorschnell als irrelevant abgetan wurde. Mit den Kontrollinteressen, die überhaupt erst im Hauptverfahren zur Geltung kommen können, kollidieren Löschungspflichten und Speicherfristen. Die Folgen falscher Suchstrategien oder falscher Auswertungen sind irreversibel. Die Strafprozessordnung enthält keine Regelungen darüber, was aktenkundig zu machen ist. Im Gegenteil: in der geltenden Fassung enthält § 101 Abs. 10 StPO die Pflicht zur „unverzüglichen“ Vernichtung, wenn „die Daten zur Strafverfolgung …nicht mehr erforderlich sind63“. Die Vorläufervorschriften (§§ 100b Abs. 6, 100h Abs. 1 S. 3, 100i Abs. 3, 4 StPO) wurden von der h.M. so interpretiert, dass alles nicht beweiserhebliche Material vernichtet werden muss, ja dass sogar beweiserhebliches Material, das durch andere Beweismittel bestätigt wurde, zu vernichten sei64. Damit ist die Verwendung als Beweismittel in der Hauptverhandlung gemeint: Material, dessen Beweiserheblichkeit nicht sogleich endgültig beurteilt werden könne, sei zunächst aufzubewahren, dann aber sogleich zu vernichten, wenn erkennbar werde, dass es nicht gebraucht wird65. Die Regelung setzt begrifflich voraus, dass es schon im Ermittlungsverfahren vernichtbares Material66 gibt, dass also nicht alle Ermittlungsvorgänge dokumentationspflichtig sind67.

Im Hinblick auf die Entscheidung BVerfGE 100, 313 (364 f.) wurde allerdings ein Löschungsmoratorium auch für den Fall angeordnet, dass ein von der TKÜ Betroffener die Überwachungsmaßnahme rechtlich kontrollieren lassen will. 64 Meyer-Goßner (Fn. 9), § 100b Rn. 8. 65 LR/Schäfer (Fn. 21), § 100b Rn. 9. 66 Zu dem auch die Niederschriften gerechnet werden, OLG Koblenz StV 1994, 284. 67 Auf die unzureichende Umsetzung des Vernichtungsgebots (dazu Albrecht/Dorsch/Krüpe [Fn. 15] S. 184) kommt es hier nicht an, weil diesen Regelungen jedenfalls die gesetzgeberi63

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III. Teilinformation als generelles Problem Das Bundesverfassungsgericht hat diese Aufspaltung des Ermittlungsmaterials im vergleichbaren Fall der Spurenakten68 mit der – unzutreffenden – Begründung auch unter dem Aspekt des Art. 103 Abs. 1 GG für zulässig gehalten, dass sich nur das in der Verhandlung tatsächlich präsentierte Beweismaterial auf die Entscheidung auswirke69. Die nicht in Beweisführung mündende Ermittlungstätigkeit beeinflusse das Urteil nicht, weil gesichert sei, dass die richterliche Überzeugung gem. § 261 StPO aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft werde. Diese Prämisse ist ebenso grundlegend für das Informationsregime, wie sie falsch ist. Der Wert des präsentierten Beweismaterials kann nicht isoliert gewürdigt werden, er hängt immer auch davon ab, wie gründlich in andere Richtungen ermittelt wurde70. Dieselben Beweismittel, dasselbe Motiv eines Mordverdächtigen, seine Anwesenheit am Tatort belastet ihn stärker, wenn feststeht, dass außer ihm kein anderer ein Motiv hatte, als es ihn belasten würde, wenn bekannt wäre, dass zehn Menschen ein gleich starkes Motiv haben, von denen drei ebenfalls am Tatort waren. Der Beweiswert identischer Beweismittel variiert mit dem Vorhandensein oder Fehlen anderer Spuren71. Man muss also solche alternativen Spuren kennen, um die Indizien, die das Motiv und die Anwesenheit nahe legen, angemessen würdigen zu können. Dennoch beschränkt sich die Beweisführung in der Hauptverhandlung meistens auf Letztere. Es wäre unter Beibehaltung der Regeln des Strengbeweises und des Unmittelbarkeitsgrundsatzes das Fehlen anderweitiger Spuren in der Hauptverhandlung auch kaum „darstellbar“. In einem funktionierenden, kontradiktorischen Verfahren ist das auch nicht erforderlich. Wenn die Vorgänge und Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens umfassend dokumen-

sche Konzeption entnommen werden kann, dass diese ausgesonderten Informationen den Prozessbeteiligten nicht zur Verfügung stehen brauchen. 68 BVerfGE 63, 45 ff. Auch ansonsten nimmt die Praxis längst nicht alle Ermittlungen und deren Ergebnisse in die Akten auf. Die im Ergebnis für irrelevant gehaltenen Vorgänge werden – abgesehen von deren Vernichtung im Falle von § 101 Abs. 10 StPO – in Spurenakten abgelegt, auf die sich weder die Vorlagepflicht gem. § 199 Abs. 2 Satz 2 StPO noch das Akteneinsichtsrecht gem. § 147 StPO erstreckt. Vgl. dazu aber SK-StPO/Wohlers, 38. Lfg. (2004), § 147 Rn. 35 ff.; SK-StPO/Weßlau, 42. Lfg. (2005), § 483 Rn. 9. 69 BVerfGE 63, 45; BGHSt 30, 131; Fezer JZ 1996, 614; ders. DRiZ 90, 489; ders. StV 91, 142; a.A. Bender/Nack ZRP 1983, 1; Kleinknecht, FS Dreher (1977), S. 722; Wasserburg NJW 1980, 2440; ders. NStZ 1981, 211; Welp, FS Peters (1984), S. 310; Beulke, FS Dünnebier (1982), S. 285. 70 Vgl. dazu eingehend Velten (Fn. 3); Bender/Nack ZRP 1983, 1 ff.; Bender/Nack Tatsachenfeststellungen vor Gericht (2007), Rn. 442 ff.; Weßlau, FS Hilger (2003), S. 57 ff. 71 Einzelheiten bei Velten (Fn. 3), S. 206 ff.

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tiert sind, wenn die Lücken erkannt und gegebenenfalls bereinigt werden können, dann sind diese Fehler im Regelfall nicht irreversibel72. Aber ohne umfassende Dokumentation und Kontrolle ist das nicht der Fall. Das Nichtwissen über die Vollständigkeit der Ermittlungen kann auch durch besonders zurückhaltende Beweiswürdigung nicht kompensiert werden, will man überhaupt Strafrechtspflege betreiben. Selbst wenn ein Augenzeuge vor Gericht aussagt, er habe genau gesehen, dass der (von seinem Schweigerecht Gebrauch machende) Beschuldigte das Opfer erstochen habe, setzt eine Verurteilung voraus, dass man einigermaßen sicher ist (und ermittelt hat), dass zwischen Zeugen und Beschuldigtem keine Feindschaft besteht, dass der Zeuge bekannt ist für mangelnde Wahrheitsliebe, dass ihn keine krankhafte Geltungssucht umtreibt usw. Ohne Kenntnis der negativen Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens könnte man bei vorsichtiger Würdigung nur selten eine Verurteilung riskieren. Aus diesem Grunde muss das gesamte Vorgehen der Ermittlungsbehörden transparent sein, um auszuschließen, dass eine „Prozesssteuerung“ durch die Exekutive möglich ist oder dass Ermittlungslücken in Fehlverurteilungen münden. Eine wirksame Kontrolle der Ermittlungen würde nun voraussetzen, dass die Ermittlungsbehörden alle Informationen über Verkehrsdaten, die ihnen im Laufe des Ermittlungsverfahrens zur Verfügung standen, auch den Prozessparteien mitteilen und nicht nur die aus ihrer Sicht relevanten Informationen aufnehmen. Die der Aktendokumentation entgegenstehenden Löschungspflichten und Speicherfristen verstoßen daher ebenso gegen Art. 103 Abs. 1 GG, den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, wie die Praxis, nur „relevantes“ Material zu den Akten zu nehmen und nicht alles ausgewertete. Zu fordern ist eine Änderung der Vernichtungsregelung des § 101 Abs. 10 StPO und eine Klarstellung des Aktenbegriffs der §§ 147, 199 StPO, die die Ermittlungsbehörden im Ergebnis verpflichtet, auch alle für unerheblich gehaltenen Verkehrsdaten aufzubewahren und zu den Verfahrensakten zu nehmen.

IV. Bewertungsmonopol Der wachsenden Bedeutung sachlicher Beweismittel korrespondiert keine gesellschaftliche Kompetenz zur Beurteilung und Kontrolle solcher Beweisführung. Das Beweisführungsmonopol geht zunehmend einher damit, dass bei den Ermittlungsbehörden die Kompetenz zur Bewertung der Beweismit-

Daraus rechtfertigen sich solche „Normalfallannahmen“, vgl. dazu auch Dencker ZStW 102 (1990), 51 (71). 72

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tel akkumuliert. Der Sachverstand rekrutiert sich immer stärker aus der staatlichen, nicht-gesellschaftlichen Sphäre. Die Interpretation von Datenspuren setzt technische Kenntnisse voraus (was bedeutet eine IP-Nummer, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit von falschen Protokollierungen, wie kann ein Nutzerverhalten interpretiert werden?) Das betrifft nicht nur den Bereich der Informationstechnologie, sondern Bereiche wie Kriminaltechnik oder Kriminalbiologie, die an Bedeutung gewinnen. Wenn z.B. Sachverstand darüber erforderlich ist, welche Schlüsse aus dem Umstand gezogen werden können, dass ein PC mit einer bestimmten IP-Nummer eine Homepage „besucht“ hat, dass von dort eine bestimmte E-Mail geschrieben wurde, wie (räumlich oder zeitlich) exakt und fehleranfällig Standortkennungen sind, dann liegt es nahe, auf den bei den Kriminalämtern versammelten Sachverstand zurückzugreifen. Oft verlassen sich die Ermittlungsbehörden und das Gericht auf Informationen durch die Kriminalämter oder bestellen deren Mitarbeiter zu Sachverständigen. Ein Fall aus Österreich zeigt den Mechanismus: Eine prominente Politikerin wurde per E-Mail bedroht. Aufgrund der IP-Nummer seines Computers geriet dessen Inhaber unter Verdacht. Die Ermittlungsbehörden vertrauten der polizeilichen Information, ein Missbrauch sei „praktisch ausgeschlossen“. Ein Gutachten der Verteidigung, das die Möglichkeit aufzeigte, der Anschluss könne gehackt worden sein, blieb unbeachtet, führte auch nicht zu weiteren Ermittlungen in diese Richtung. Glücklicherweise dauerte das Strafverfahren einige Zeit und ein Zufall kam zur Hilfe. Erst als die Familie Rechnungen über Internetnutzung für einen Zeitraum erhielt und vorweisen konnte, in dem sie nachweislich in Urlaub gefahren war, nahmen die Ermittler die Anklage zurück. Gründliche Ermittlungen in diese Richtung wurden gar nicht erst unternommen und konnten von der Verteidigung mangels Unterlagen und mangels vorheriger Kenntnis genauerer Daten – zudem im Ermittlungsverfahren – auch nicht beantragt werden. Diese Akkumulation von Sachverstand bei den Ermittlungsbehörden wird dem Instrument des Sachverständigen, wie es von der Strafprozessordnung konzipiert wurde, nicht mehr gerecht: Der Sachverständige genießt als richterähnliche, neutrale Instanz besonderes Vertrauen, wie die Anwendbarkeit der §§ 22, 23, 24 StPO auf Sachverständige zeigt. Das rechtfertigt gewisse Abstriche von der Kontradiktorietät, etwa, dass im Prozess keine Instanz vorhanden ist, die die Aussagen des Sachverständigen kompetent hinterfragen und beurteilen kann. Das Prozessrecht kennt zwar den behördlichen Sachverständigen, wie sich aus §§ 83 Abs. 3, 91 Abs. 1, 92 Abs. 1 S. 2, 256 Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 2 StPO, § 2 Abs. 7 BKAG ergibt, aber doch nur in besonders gelagerten Einzelfällen. Unproblematisch sind Gutachten von Behörden, die keine besondere Nähe zu den Ermittlungsbehörden aufweisen.

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Problematisch ist aber die Begutachtung durch Kriminalämter. Diese Instanzen sind nicht extern und neutral, sie begleiten das Strafverfahren und nehmen die Aufgabe der Strafverfolgung an der Seite der Ermittlungsbehörden wahr – sie tragen daher auch meist die Anklage mit. Sie verdienen nicht das gesteigerte Vertrauen von Sachverständigen. Zudem besteht in Bereichen, in denen innerhalb der Ermittlungsbehörden ein spezifischer Sachverstand entwickelt wird, die Gefahr, dass die allgemeinen Qualitätskriterien hierfür nicht in gleichem Umfang wie in anderen Wissensgebieten einer gesellschaftlichen Diskussion und Kontrolle unterliegen. Eine staatliche Monopolisierung von Sachverstand hat es zwar immer schon gegeben. Sie steht auch nicht mit den §§ 72 ff StPO in Widerspruch. Allerdings erhalten Sachbeweise (wie DNA-Gutachten – die immer seltener von den gerichtsmedizinischen Instituten vorgenommen werden –, kriminaltechnische Gutachten über Spuren, Stimmvergleiche, Datei- und Datenanalysen;) für die Beweisführung ständig wachsende Bedeutung, zum einen weil wir unserer Umwelt immer mehr Informationen entlocken können, zum anderen weil Kommunikationsmittel wie Computer oder Telefon inzwischen großes Gewicht als Tat- oder Beweismittel haben, und das Verständnis ihrer Interpretation Sachkenntnis voraussetzt, die bei den Ermittlern logischerweise entwickelt wird. Die Regelungen über den Sachverständigenbeweis sind noch an dem alten Bild des in der Gesellschaft verankerten, neutralen Sachverständigen orientiert und werden dieser Entwicklung nicht mehr gerecht: Sie setzen nämlich Sachverstand als gesellschaftlich allgemein verfügbares Gut ebenso voraus, wie den Sachverständigen als neutralen Wissenschaftler, der an dem Verfahrensausgang keinerlei Interesse hat. Der veränderten gesellschaftlichen Realität kann man begegnen, indem man entweder die institutionelle Verknüpfung von Sachverstand und Ermittlungstätigkeit aufhebt und die Institutionen, die sich mit entsprechenden Forschungen, wie auch mit Gutachten befassen, an den Universitäten ansiedelt und nicht bei den Kriminalämtern. Eine andere Lösung wäre es, den Gedanken der Waffengleichheit aufzugreifen und Institutionen zu schaffen und staatlich zu finanzieren, die der Verteidigung informations- und kriminaltechnischen, u.U. auch sonst naturwissenschaftlichen Sachverstand „leihen“ könnten. Es müssten dann regelmäßig beide Sachverständige gehört werden.

E. Ergebnis Die Strafverfahrensgrundsätze, die der Sicherung der Gleichbehandlung und dem Schutz vor Fehlurteilen dienen, versagen zunehmend angesichts der Umstrukturierung des Strafverfahrens durch den Zugriff auf Verkehrs-

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Petra Velten

daten und zusätzlich durch Rasterfahndung, Telefonüberwachung oder den Einsatz verdeckter Ermittler. Ob man ins Visier der Ermittlungsbehörden gerät, wird immer mehr deren Belieben anheim gestellt, und ob man (falls unschuldig) ungeschoren davonkommt, davon abhängig, ob sie ihrer Arbeit aus eigenem Antrieb verantwortungsvoll und sachgerecht nachgehen. Wie im alten Inquisitionsprozess ist die Beweisführung im Ermittlungsverfahren abgeschlossen, dieses wird in für die Verteidigung immer mehr zum hermetischen Prozess, eine Fehlerkorrektur im Hauptverfahren zunehmend zur Illusion. Fatal wird diese Entwicklung in der Kombination mit der weiteren Tendenz zum Parteiprozess: Objektivität wird immer weniger als Aufgabe der Strafverfolger, und immer mehr als Part der Verteidigung angesehen. Privatheit als Sektor, in dem man ungeschützt Persönlichkeit, Subjektivität erst entwickeln und erproben kann, in dem man die Freiheit hat, auch über Unerlaubtes oder Gefährliches laut nachzudenken, wird aufgrund dieser Gesamtentwicklung der Vergangenheit angehören. Jenseits der und ein stückweit auch unabhängig von den handfesten Gefahren der Verwendung der Daten für Strafverfolgung, ist Autonomie im Vorfeld bedroht73. Maskenhaftes Verhalten ist gefragt. Der Schutz vor Zumutungen durch heterogene Rollen einmal als Berufstätiger, einmal als Familien- und Privatmensch verflüchtigt sich: Alle unsere Facetten können ohne weiteres zu einem Gesamtbild zusammengeführt werden. Das Bundesverfassungsgericht, das sich dies im Volkszählungsurteil privacy als Kontrolle über das Selbstbild noch zum Anliegen gemacht hatte, kehrt nunmehr zunehmend zu einem verkürzten Verständnis des Schutzes einer Intimsphäre zurück. Und wofür das alles? Um Organisierte Kriminalität und Terrorismus endlich an der Wurzel zu packen und endgültig zu verhindern? Dazu wäre die Gestattung Zufallsfunde als Ermittlungsansatz bei Bagatellen zu verwenden, nicht notwendig. Außerdem unterbindet Bestrafung Kriminalität nicht. Die Bestrafung von Mördern, auch nicht die Bestrafung weitgehend der meisten Mörder verhindert Tötungsdelikte. Sonst dürften wir bei einer Aufklärungsquote von 95,8% bei Morden nicht alle Jahre wieder mit ca. 3 000 Tötungsdelikten konfrontiert sein. Trotz ständiger Aufrüstung der Ermittlungsbehörden ist diese Aufklärungsquote übrigens seit langer Zeit konstant. Selbst wenn sie sich noch steigern ließe: Auch wenn in Einzelfällen noch mehr Delikte aufgeklärt werden könnten, ist doch der Ertrag für die Sicherheitslage insgesamt mehr als zweifelhaft.

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Vgl. dazu Rössler, Der Wert des Privaten (2002), passim.

II. Die tatrichterliche Hauptverhandlung

Die Form der Vernehmung des Angeklagten zur Sache FRIEDRICH DENCKER

I. Einleitung Es gibt einen Streit mit langer Tradition darüber, welchen Zwecken die Vernehmung des Angeklagten diene – ausschließlich dem in § 136 Abs. 2 StPO genannten Verteidigungszweck oder auch dem der Wahrheitserforschung.1 Diese Kontroverse hängt ihrerseits damit zusammen, dass weder bei der Schaffung der StPO noch im Rahmen der gewaltigen Menge sie ändernder Gesetze die Kompromisslinie zwischen inquisitorischen und akkusatorischen Elementen je klar gezogen worden ist.2 Einem eher nebensächlichen, praktisch aber durchaus erheblichen Punkt in diesem Diskussionsfeld sollen die folgenden Überlegungen gewidmet sein: Welche Form gilt für die Vernehmung des Angeklagten zur Sache gem. § 243 Abs. 4 S. 2 StPO? Ist das zwingend „die mündliche Befragung mit mündlicher Antwort“3, oder kann der Angeklagte sich auch anderer Formen bedienen? Als solche werden im Wesentlichen die Verlesung einer vorbereiteten Schrift oder die Vertretung in der Aussage durch den Verteidiger diskutiert. Dass diese Frage in neuerer Zeit lebhaft diskutiert worden ist,4 legt ein wenig die Vermutung nahe, hinter ihr Zusammenhänge mit der Thematik der sog. Absprachen zu sehen. So könnte man etwa annehmen, das Behar-

1 Vgl. dazu einerseits Degener GA 1992, 455 ff.; andererseits Lesch ZStW 111 (1999), 624 ff.; jeweils m.w.N. 2 Ein interessanter Versuch, diese Linie neu nachzuzeichnen, findet sich bei Kruse, Parteierklärungen und Sachverhaltsfeststellung in der Hauptverhandlung (2001); zu ihm jedoch zutr. Wohlers GA 2002, 618 (619). 3 So die Formulierung von KK-StPO/Tolksdorf, 5. Aufl. (2003), § 243 Rn. 44; in der Sache ebenso BGH NStZ 2007, 349; 2004, 392; 2004, 163 f., 164. 4 Umfängliche Nachweise zum Streitstand bietet die neue Entscheidung des BGH 2 StR 84/07 zu einem entsprechenden prozessualen Vorgang. Die Entscheidung ist während der Drucklegung veröffentlicht worden in StV 2007, 622 f. mit einer Anm. von Schlothauer, auf die hier nur noch hingewiesen werden kann.

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ren auf der „klassischen“ Form „mündlicher Befragung mit mündlicher Antwort“ entspreche der Ablehnung solcher Praktiken, und umgekehrt, die Stellungnahme für alternative Formen bahne ihnen den Weg. Indes dürfte es nicht richtig sein, die Dinge so zu sehen: Wo die Praxis sich in der Absprachewirklichkeit in Gänze vom geltenden Recht freimacht5, lässt sie sich sicherlich nicht an eine bestimmte Auslegung einer einzelnen Norm binden.6 Demgemäß gelten die folgenden Zeilen dem Bemühen, die Rechtsfrage im Rahmen des geltenden Rechts zu betrachten, für einen nach den Regeln der StPO geführten Strafprozess also, den es ja wohl auch noch geben mag. Die prägnante Formulierung von der „mündlichen Befragung mit mündlicher Antwort“ verdient dabei vorab eine etwas nähere Betrachtung. Dass es in der Hauptverhandlung nicht um den Austausch von Schriftstücken mit Fragen und Antworten geht, ist derart selbstverständlich, dass mit dieser Formel etwas anderes als nur die Geltung des Mündlichkeitsgrundsatzes für die Vernehmung des Angeklagten eingefordert wird, nämlich zumindest das Prinzip freier Rede: Der Angeklagte7 soll sich bei seinen „Antworten“ nicht auf ablesbare oder in anderer Weise detailliert vorbereitete Texte zurückziehen dürfen. Darüber hinaus könnte man aus dem Wortpaar „Frage/Antwort“ in der Formel auch entnehmen, dass mit ihr (negativ) zu der Streitfrage etwas gesagt werde, ob der Angeklagte ein Recht darauf hat, entsprechend § 69 StPO „im Zusammenhang“ zur Anklage Stellung zu nehmen, bevor er etwaigen „Fragen“ ausgesetzt wird, auf die er „Antworten“ geben kann8. Da diese Frage nicht Gegenstand der folgenden Überle-

Dass das bei diesen Verfahren der Fall ist, habe ich in Dencker/Hamm, Der Vergleich im Strafprozeß (1988) darzulegen versucht; Literatur und Rechtsprechung seither haben mir kein überzeugendes Argument dagegen vermittelt. 6 Die empirische Untersuchung von Altenhain, Die Praxis der Absprachen im Wirtschaftsstrafverfahren (2007), zeigt z.B., dass als (sog. „schlankes“) „Geständnis“ in 50% der Fälle ein pauschales Anerkenntnis akzeptiert wird (S. 243 ff.). Das erscheint im Rahmen eines guiltyplea-Verfahrens konsequent, zeigt aber zugleich deutlich, dass diese Praxis, die dem Verfahren bei Anerkenntnisurteilen gem. § 307 ZPO entspricht, mit der StPO nichts zu tun hat, der gerade das fremd ist. 7 Nur um ihn und seine Antworten dürfte es gehen; dass ein Vorsitzender etwa seine Fragen abliest, ist bisher soweit ersichtlich noch nicht als praktisches Problem aufgetaucht. 8 Vgl. einerseits BGHSt 13, 358 (361), wo dem „Angeklagten das für ihn so wichtige Recht“ bescheinigt wird, „im Zusammenhange zu dem Schuldvorwurf Stellung zu nehmen“; ferner Salditt StV 1993, 442 (444); Wegemer NStZ 1981, 247 (248); AnwK/Sommer (2007), § 243 Rn. 26; KMR/Paulus, 5. Lfg. (1989), § 243 Rn. 34; Pfeiffer, StPO, 5. Aufl. (2005), § 243 Rn. 10; Beulke, Strafprozessrecht, 9. Aufl. (2006), Rn. 371; Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. (1998), S. 198. Andererseits (Ermessen des Vorsitzenden gem. § 238 Abs. 1) OGHSt 3, 141 (147); LR/Gollwitzer, StPO, 25. Aufl. (2001), § 242 Rn. 80 m.w.N. zum Streitstand; Meyer5

Die Form der Vernehmung des Angeklagten zur Sache

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gungen sein soll, sei gestattet, dazu nur gleichsam bekenntnishaft festzustellen, dass ein solches Recht selbstverständlich im Grundsatz9 anerkannt werden muss. Denn sowohl der Verteidigungszweck der Vernehmung wie auch der eventuell weitere Zweck der Wahrheitserforschung fordern es – für letzteren lässt sich das aus § 69 StPO ableiten. Demgemäß ist mit der griffigen Formel im weiteren Text diejenige Position gemeint, die folgende Form für die Vernehmung des Angeklagten zur Sache vorsieht: Der Angeklagte hat sich, will er denn aussagen, in freier Rede zu äußern, gestützt allenfalls auf Notizen10; im Anschluss daran hat er auf Fragen ebenfalls in freier Rede zu antworten, andernfalls er mit den Konsequenzen für sog. „Teilschweigen“11 zu rechnen hätte. Hinter dem Bemühen von Verteidigern, eine Sachaussage des Angeklagten unter anderen Bedingungen in den „Inbegriff der Verhandlung“ (§ 261 StPO) einzuspeisen, sind mehrere, z. T. miteinander zusammenhängende, gleichwohl trennbare Antriebe zu vermuten. Das Bestreben, die Inhalte der Äußerungen unter Kontrolle zu halten, sei es durch Reden des Verteidigers im Namen des Angeklagten, sei es durch Verlesen eines vorformulierten Textes, entspringt dem Willen, dem Angeklagten (im Sinne von § 137 StPO) auch in der „Lage“ der Vernehmung „Beistand“ zu sichern. Das gilt vor allem der immer noch aktuellen12 Sorge vor demjenigen inquisitorischen Vorsitzendentypus, der seine fachliche und intellektuelle Überlegenheit dazu benutzt, mit perfider Fragetechnik aus dem Angeklagten etwas „herauszufragen“, was dieser nicht sagen will. Die schönen Beispiele Salditts13 für solche Fragen seien um ein weiteres ergänzt, welches man sich in den Niederungen des amtsgerichtlichen Alltags vorstellen mag; oft tobt dort der Kampf um den Vorsatz bei Trunkenheitsfahrten mit erheblichen Promillewerten.14 Die Frage des Vorsitzenden, ob der Angeklagte „sich denn gar nichts dabei gedacht“ habe, nach so erheblichem Trinken noch zu fahren, mag der Angeklagte als Aufforderung ver-

Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 243 Rn. 31; AK-StPO/Schöch, Bd. II, 2 (1993), § 243 Rn. 47; KK-StPO/Tolksdorf (Fn. 3), § 243 Rn. 43. 9 Vorbehaltlich selbstverständlich einer dem Vorsitzenden im Rahmen von § 238 Abs. 1 StPO zukommenden Missbrauchskontrolle. 10 Die Zulässigkeit der Verwendung von solchen ist spätestens seit BGHSt 1, 322 (323) nicht mehr umstritten. 11 Vgl. dazu LR/Gollwitzer, 25. Aufl. (2000), § 261 Rn. 78 f. m.w.N. Zu der dort nachgewiesenen Kontroverse kann hier nicht Stellung bezogen werden. 12 Vgl. Salditt StV 1993, 442 (444); zu Beginn des 20. Jahrhunderts Henschel, Die Vernehmung des Beschuldigten (Beilage zu GS Bd. 74) (1909), S. 50 ff. 13 Salditt StV 1993, 442 (443). 14 Vgl. die reichhaltigen Rechtsprechungsnachweise bei Rötgering ZfS 2000, 134 ff.

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stehen, sich als einen nicht gänzlich skrupellosen Verkehrsteilnehmer darzustellen. Eine Antwort, die demgemäß mit den Wörtern „Doch, aber…“ beginnt, könnte als Vorsatzgeständnis gewertet15, zumindest aber als Ansatz für weitere Vorhalte genützt werden, vor denen der nicht versierte Angeklagte schließlich kapituliert und – Wahres oder Unwahres – „gesteht“. Daneben dürfte als weiteres Motiv vor allem für Versuche, eine schriftliche Einlassung in die Hauptverhandlung einzubringen, das Bestreben von Verteidigern zu vermuten sein, die Inhalte der Einlassung zu „fixieren“. Dieses Bestreben kann wiederum auf zwei verschiedene Ziele gerichtet sein, nämlich zum einen darauf, dem Gericht für die Urteilsfindung alle oder bestimmte Einzelheiten der Einlassung reproduzierbar zu halten16, zum anderen darauf, für eine eventuelle Revision sicherzustellen, was der Angeklagte tatsächlich gesagt hat, über dessen Verhalten im Protokoll lediglich festgehalten wird, er habe zur Sache ausgesagt. Nun ist es zwar tatsächlich so, dass der Angeklagte bei einem solchen Protokollvermerk dem guten Gedächtnis und der Fairness des erkennenden Gerichts ausgeliefert ist – aber so ist das nun einmal nach der StPO. Soweit es um das Verankern des Gesagten im Gedächtnis der Richter geht, mag der Angeklagte ihm Wichtiges rhetorisch unterstreichen und der Verteidiger mag es nach § 257 Abs. 2 StPO tun, und schließlich können beide das im Rahmen von § 258 StPO wiederholen. Was neben dem guten Gedächtnis die Fairness der Richter angeht: Im Hinblick auf Einzelheiten des Ablaufs und Inhalts der Hauptverhandlung ist der Angeklagte beidem schlicht ausgeliefert, solange es kein verbindliches Inhaltsprotokoll für die Hauptverhandlung gibt und solange sich die Revisionsgerichte im Ergebnis17 richtigerweise dem Ansinnen verweigern, den Inhalt von Äußerungen in der Hauptverhandlung zu überprüfen, welche Beweismittelcharakter haben.18

Jedenfalls von Richtern, die derart unfaire, suggestive Fragen (im Zweifelsfalle gerade mit einer solchen Zielsetzung) stellen; auch ein guter Verteidiger wird sie oft nicht schnell genug (vor einer „Antwort“) gem. § 242 StPO beanstanden können. 16 Oft übersehen (vgl. aber Salditt StV 1993, 442 [445 f.]): Richter befinden sich bezüglich der Vorgänge in der Hauptverhandlung prinzipiell in keiner anderen Situation als Zeugen bezüglich ihrer Wahrnehmungen. 17 Das kann hier nicht begründet werden; zu Recht kritisch allerdings zu den Formeln vom „Rekonstruktions“-Verbot und der „Ordnung des Revisionsverfahrens“ Fezer, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. (1995), 20/19 ff. m.w.N.; vgl. auch Pfitzner, Bindung der Revisionsgerichte an vorinstanzliche Feststellungen im Strafverfahren (1988), S. 100 ff. 18 Falsch hingegen BGHSt 31, 139 ff. (mit Kritik Fezers NStZ 1983, 278 f.); diese Rechtsprechung zwingt Verteidiger dazu, wesentliche Verteidigungsbehauptungen, soweit das Gericht nicht bereit ist, entsprechende Äußerungen des Angeklagten oder des Verteidigers wörtlich zu Protokoll zu nehmen, in als solche nicht ernst gemeinte Anträge zu „verpacken“, 15

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Was an Möglichkeit verbleibt, ist lediglich das Angebot der Verteidigung19, eine urkundliche Erklärung des Angeklagten über bestimmte Umstände dem Gericht als Beweismittel anzubieten. Soweit diese Urkunde im Rahmen von § 244 Abs. 2 StPO bedeutsame Informationen enthält, wird das Gericht sie gem. § 244 Abs. 2 StPO als Beweismittel im Wege des § 249 StPO einzuführen haben20. (Auf diese Weise mag ein Verteidiger auch durchaus einmal die „Kuh vom Eis schieben“ – nämlich vom Eis der Gefahr des Teilschweigens und der begrenzten Aussage des Protokolls –, wenn der Angeklagte etwa zum Tatvorwurf schweigen soll und will, wohl aber bereit ist, Informationen in die Hauptverhandlung einzuspeisen, welche zwar seine persönliche Situation betreffen, aber schon „zur Sache“ zu protokollieren sind. Ist z.B. der Angeklagte mit 1,5‰ BAK aus dem Verkehr gezogen worden, mag der Verteidiger es im Hinblick auf die Problematik des Vorsatzes21 oder auch aus anderen Gründen22 für geboten halten, dass er zur Sache schweigt, gleichwohl aber mitteilt, wie seine Einkommensverhältnisse sind. Die vom Angeklagten geschriebene Darlegung dieser Verhältnisse ist für die Bemessung der Geldstrafe wichtig, also eine § 244 Abs. 2 StPO unterfallende Information zur Sache, so dass das Gericht an einer Verlesung dieser Urkunde gem. § 249 Abs. 1 StPO nicht vorbeikommen dürfte. Entsprechende Beispiele lassen sich beispielsweise denken für die Darstellung komplizierter geschäftlicher Beziehungen als konzediertem Hintergrund in einem Wirtschaftsstrafverfahren bei Totalschweigen zum eigentlichen Tatvorwurf usw. Nur am Rande: Unter vernünftigen Verfahrensbeteiligten ließe sich das alles auch mit Hilfe von – notfalls: zu protokollierenden – richterlichen Zusagen regeln23.) Freilich: Wo das Gericht den Inhalt der Urkunde zu Recht nicht für beweiserheblich hält, wird es die Verlesung als Urkunde und auch die sonstige (eigene) Verlesung als „Schriftstück“ gem. § 273 StPO ablehnen dürfen24.

wollen sie das Gericht zu einer Bescheidung gem. § 267 Abs. 2 StPO zwingen. Auch hier dürfte der Mangel an Trennung zwischen Parteivortrags- und Beweismittelelementen in der Einlassung eine Rolle spielen (vgl. dazu unten, II, 2). 19 Damit sind Angeklagter und Verteidiger angesprochen. 20 Insoweit zutreffend BGH NStZ 2000, 439; StV 2007, 622. 21 S. bei Fn. 14. 22 Verteidiger halten auch vielfach für ratsam, dass der Angeklagte dem Gericht keinen genaueren Eindruck von seiner Persönlichkeit vermittelt; er ist nicht stets der beste Fürsprecher seiner selbst. 23 Vgl. zu solchen Verfahrensmöglichkeiten Verf. StV 1994, 503 ff. 24 So schon RG in RG-Rspr. 4, 563; vgl. auch BGH (Fn. 20).

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Richtigerweise sollte man also bei dem Streit um die Frage der Form der Angeklagtenvernehmung die Revisionsaspekte vergessen. Im Hinblick auf die Revision kann eine Verteidigung in einem Kampf um die Form der Sachaussage nichts gewinnen.25 Worum es primär geht ist in der Sache die Frage, ob die Verteidigung das Ziel einer Kontrolle von Äußerungen des Angeklagten zur Sache in der Hauptverhandlung erreichen kann: Kann der Angeklagte prozesstaktisch als nützlich erachtete Informationen in die Hauptverhandlung einbringen, ohne sich der „mündlichen Befragung mit mündlicher Antwort“ aussetzen zu müssen? Wohl nur nachrangig sind dann die weiteren Formfragen: Unterstellt er könnte es, ginge es durch Verlesen einer Schrift (durch wen auch immer) oder auch durch Äußerungen zur Sache des Verteidigers, sei es als „Vertreter“ des Angeklagten, sei es gleichsam als dessen Sprachrohr in der Form, dass der Verteidiger Äußerungen zur Sache abgibt und der Angeklagte diese Äußerungen durch eine eigene Erklärung zur Sache sich zu eigen macht?

II. Detailfragen Gleichwohl sollen zunächst diese Fragen zu den möglichen Formen kontrollierter Äußerung kurz angesprochen werden, wobei zunächst unterstellt werden soll, eine dieser Formen sei jedenfalls möglich.

1. Verlesung einer Erklärung zur Sache a. Der gesetzliche Rahmen Das Verlesen eines eigenen Textes oder desjenigen des Mandanten durch den Verteidiger ist jedenfalls keine von der StPO ausdrücklich ausgeschlossene Form. Eine Vorschrift wie diejenige des § 137 Abs. 2 ZPO enthält die StPO nicht. Dieser Beobachtung sollte man nicht mit dem schlichten Hinweis darauf begegnen, § 137 ZPO schreibe „freie Rede“ für den Parteivortrag vor, bei der Vernehmung des Angeklagten aber handle es sich um ein (wenn auch – nur – „materielles“) „Beweismittel“26. Die StPO trennt die Vernehmung in den §§ 244 Abs. 1, 238 Abs. 1 und 257 terminologisch von der Beweisaufnahme eindeutig ab. Das heißt zwar

Damit soll nichts zu der ganz anderen Frage gesagt werden, ob mit der Revision erfolgreich ein Verstoß gegen die zu ermittelnde Form – welche auch immer – der Vernehmung gerügt werden kann. 26 Vgl. dazu unten, III. 1. 25

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nicht, dass Äußerungen von Angeklagten nicht der (Beweis-)Würdigung unterfielen; dass sie zu würdigen sind, ergibt sich schon aus dem offenen Begriff des (zu würdigenden) „Inbegriffs der Verhandlung“. Dieser erlaubt ja sogar die Würdigung von Prozessverhalten, welches keine Sachaussage enthält, wie etwa das Geltendmachen eines Schweigerechts.27 Den Inbegriff der Verhandlung, der frei zu würdigen ist, bezeichnet demgemäß § 286 ZPO, die Parallelvorschrift zu § 261 StPO, auch ausdrücklich als „Inhalt der Verhandlungen und… Beweisaufnahme“. Dass die Sacherklärungen des Angeklagten auch „Beweismittel“charakter haben können, ergibt sich aus § 254 StPO und letztlich hinreichend deutlich auch aus den Motiven zur StPO. Diese sprechen die Sachäußerungen des Beschuldigten zwar nicht als Beweismittel, wohl aber als „Untersuchungsmittel“ an.28 Dass sie nur Beweismittel wären, wie in der Diskussion vielfach impliziert wird29, kann jedoch daraus nicht geschlossen werden. Vielmehr lässt sich auch im Strafprozess so etwas wie der Parteivortrag im Zivilprozess identifizieren30, und zwar nicht nur auf Seiten der Anklage (s. § 243 Abs. 3 S. 1 StPO), sondern auch auf derjenigen des Angeklagten. Insofern ist das Fehlen einer § 137 Abs. 2 ZPO entsprechenden ausdrücklichen Regelung auch als nicht unwesentlich festzuhalten, bedenkt man den historisch parallelen Entstehungsvorgang beider Gesetze. b. Die Argumente für und wider Gegen die Zulässigkeit einer Sachaussage des Angeklagten in Form des Verlesens eines vorgefertigten Textes wird vielfach nur die Rechtsprechungstradition angeführt31, die sich ihrerseits auf RG-Rspr. 4, S. 563 beruft32 – zu Unrecht, denn in dieser Entscheidung lehnt das Reichsgericht

27 Vgl. z.B. BGHSt 38, 302 (304) und BGH StV 1984, 233 zum Geltendmachen des Rechts gem. § 55; BGHSt 20, 298 ff. zur Weigerung, einen Zeugen von seiner Schweigepflicht zu entbinden. 28 Hahn, Die gesammten Materialien zur StPO, 2. Aufl. (1885/86), Bd. I, S. 138 (S. 220 wird allerdings über das „Geständnis“ gesagt, es sei – „nur ein“ – „Beweismittel“). 29 S. dazu unten, III, 1. 30 Vgl. dazu Verf. bereits ZStW 102 (1990), 51 (54, 72); dort habe ich diesen Aspekt der (geständigen) Einlassung als „Verfahrenshandlung“ bezeichnet: Der Angeklagte bestimmt durch seine Einlassung – wie die Partei des Zivilprozesses mit ihrem Vortrag – den Fortgang des Verfahrens mit. 31 Vgl. die Nachweise bei BGH StV 2007, 622. 32 Vgl. BGHSt 3, 368 (369) – darauf berufen sich direkt oder mittelbar alle einschlägigen Folgeentscheidungen des BGH.

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lediglich ein Recht des Angeklagten ab, seine schriftliche Einlassung durch den Vorsitzenden verlesen zu lassen.33 Als stärkstes Sachargument gegen das Verlesen wird auf den Wortlaut Bezug genommen34. Das Wort „aussagen“ in § 243 Abs. 4 legt ebenso wie das traditionelle Hauptverständnis des Begriffs „Vernehmung“ nahe, dass mit letzterer eine „mündliche Befragung…“ gemeint sei. Zwingend aber ist das nicht. Das Wort „aussagen“ steht alternativ zur Möglichkeit, „sich zu der Anklage zu äußern“, darf also auch nach dem Textzusammenhang bereits als bloßes Synonym für ein „Sich-äußern“ verstanden werden. Dass man sachlich sowohl eine Vernehmung wie auch das „Aussagen“ dem Wortgebrauch der StPO entsprechend jedenfalls prinzipiell auch als schriftliche Vorgänge verstehen kann, ergibt sich aus § 136 Abs. 1 StPO. In dessen Satz 2 ist dieselbe Alternativformulierung enthalten wie in § 243 Abs. 4 S. 1 StPO – „sich äußern“ oder „aussagen“ –, in seinem Satz 4 ist aber die Möglichkeit der Schriftform für den Fall vorgesehen, der in Satz 1 mit dem Wort „aussagen“ beschrieben wird, wobei Satz 4 dafür (gleichbedeutend) die Formulierung „sich äußern“ verwendet. Im Übrigen ist der Wortlaut auch vom allgemeinen Sprachverständnis her offen. Irgendeinem Schriftstück „Aussagen“ zu entnehmen, ist ebenso sprachkonform möglich wie eine „schriftliche Vernehmung“. Schließlich hängt der Begriff der Vernehmung sprachlich auch damit zusammen, dass sich jemand oder etwas „vernehmen lässt“. Die Form einer solchen Wahr-„nehmung“ ist sprachlich ebenfalls offen. Dem Sprachargument ist also zu konzedieren, dass mit den Wörtern „Vernehmung“ in § 244 Abs. 1 StPO und „vernommen“ in § 243 Abs. 4 StPO traditionell Vorgänge der Art verbunden werden, wie sie durch die Formel von der „mündlichen Befragung mit mündlicher Antwort“ gekennzeichnet werden, mehr aber nicht. Ein zwingendes Argument ergibt der Wortlaut der StPO nicht. Ganz und gar unhaltbar ist dagegen ein weiteres Standardargument gegen eine Zulässigkeit des Verlesens, nämlich der Schluss daraus, dass § 243 Abs. 4 S. 2 StPO mit den Worten „so wird er nach Maßgabe des § 136 Abs. 2 StPO zur Sache vernommen“ die Möglichkeit der schriftlichen Äußerung ausspare. Da diese im § 136 nur in dessen Absatz 1, im Satz 4, nicht

33 Das zu Recht, denn dann würde es sich um ein „verlesenes Schriftstück“ i. S. von § 273 Abs. 1 StPO handeln und so eine revisionsrechtliche Kontrolle der Richtigkeit der Wiedergabe im Urteil eröffnet (vgl. BGH NStZ 2004, 163 f.; Park StV 2001, 589 [592]); ein Recht darauf hat der Angeklagte nicht. 34 BGH StV 2007, 622; KK-StPO/Tolksdorf (Fn. 3), § 243 Rn. 44.

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aber im Absatz 2 enthalten sei, auf den allein § 243 StPO verweise, folge daraus, dass in der Hauptverhandlung das Verlesen einer schriftlichen Erklärung unzulässig sei.35 Dagegen ist formal einzuwenden, dass der Gegenschluss nur das Ergebnis trägt, dass der Vorsitzende keinen entsprechenden Hinweis zu geben habe.36 (Ein solcher Hinweis wäre in der Tat skurril, denn in der konzentrierten und mündlichen Hauptverhandlung könnte er nur dahin gehen, dass der Angeklagte sich auch in einem – dann zu verlesenden – Schriftstück äußern könne, zu dessen Herstellung der Vorsitzende sogleich eine Unterbrechung anzubieten hätte.) Die Unhaltbarkeit des Arguments wird erst recht deutlich, wenn man es ausformuliert. Dann müsste es wie folgt gefasst werden: Weil nach dem Hinweis gem. § 243 Abs. 4 S. 1 StPO in § 243, Abs. 4 S. 2 StPO nur auf den Absatz 2 des § 136 StPO verwiesen wird, entfällt nicht nur die Pflicht zu den Hinweisen, welche in § 136 Abs. 1 StPO neben dem Hinweis vorgeschrieben sind, der dem nach § 243 Abs. 4 S. 2 StPO entspricht. Es entfallen im Gegenschluss darüber hinaus auch inhaltlich diejenigen Rechte, auf die nach § 136 Abs. 1 StPO, nicht aber nach § 243 Abs. 4 StPO hinzuweisen ist, für die Hauptverhandlung. Der Angeklagte dürfte sich nach dieser Logik in der Hauptverhandlung weder mit einem gewählten Verteidiger beraten noch dürfte er Entlastungsbeweise beantragen. Ernster zu nehmen könnte schon die Argumentation mit dem Unmittelbarkeitsprinzip sein, wie man es in § 250 StPO verankert sieht.37 Da diese Argumentation sich jedoch gleichermaßen gegen die Möglichkeit der Sacheinlassung über den Verteidiger wendet38 wie gegen die Verlesung, soll sie erst dort behandelt werden, wo es um die Argumente zu dem Grundproblem geht – ob nämlich nur „mündliche Befragung mit mündlicher Antwort“ bei der Sachvernehmung zulässig ist oder auch irgendeine Form von kontrollierter Äußerung. Dasselbe gilt für die Argumente derjenigen, die das Verlesen zulassen wollen – etwa das Argument, aus der Freiheit der Wahl zwischen Äußerung und Schweigen folge auch die Freiheit der Formenwahl.39 Argumente, die

KK-StPO/Tolksdorf, ibid. In der Sache – keine Aussage über die Form der Vernehmung in § 243 – ebenso Park StV 2001, 589 (592); Geppert, FS Rudolphi (2004), S. 648. 37 Ausführlich Geppert, FS Rudolphi (2004), S. 650 ff.; ders., Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren (1979), S. 196. 38 Geppert (FS Rudolphi [2004], S. 643) widmet ungeachtet der nur auf „Erklärungen des Verteidigers“ zielenden Überschrift seines Beitrags auch der Verlesung durch den Angeklagten breiten Raum (S. 647 ff.). 39 Vgl. Park StV 2001, 589; AnwK/Sommer (Fn. 8), § 243 Rn. 28. 35 36

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spezifisch für die Möglichkeit gerade des Verlesens sprechen, sind nicht ersichtlich.

2. Erklärung über den Verteidiger Der Stand der Meinungen zu Sachäußerungen des Angeklagten über den Verteidiger ist etwas unübersichtlich. Gestritten wird einerseits darüber, ob der Verteidiger den Mandanten überhaupt bei Sacheinlassungen vertreten darf. Hierzu bemerkt Beulke zutreffend, das sei für den Verteidiger als Vertreter des abwesenden „weniger strittig als beim anwesenden Angeklagten“.40 Es gibt also die Auffassungen, eine Vertretung in der Erklärung zur Sache sei gänzlich ausgeschlossen41, sie sei es in Hauptverhandlungen in Anwesenheit des Angeklagten42, es wird aber auch die generelle Möglichkeit der Vertretung angenommen43. Kompliziert wird die Lage dadurch, dass teilweise eine Vertretung insoweit beim anwesenden Angeklagten zwar für ausgeschlossen erklärt wird, nicht aber die Möglichkeit einer Sachaussage seitens des Verteidigers, welche der Angeklagte sich pauschal zueigen mache; dann handle es sich nicht um einen Fall von (unzulässiger) Vertretung, sondern um eine eigene Erklärung des Angeklagten.44 Mustert man zunächst einmal das gesetzliche Material, ist die u. a.45 in §§ 234, 411 Abs. 2 StPO vorgesehene Möglichkeit dessen sachlich nicht begrenzt, dass der Verteidiger (auch) als Vertreter des Angeklagten auftreten kann. Sie ist weder inhaltlich vom Gesetz eingegrenzt, noch auf die Fälle der Abwesenheit beschränkt. Eine inhaltliche Grenze findet sich in den Paragraphen der StPO nicht, die von einer Vertretung sprechen. Auch ein Ausschluss der Vertretungsmöglichkeit in Fällen der Anwesenheit des Angeklagten ist aus ihnen nicht – e contrario46 – herzuleiten. Die genannten Vorschriften ergeben lediglich, dass die Vertretung des abwesenden Angeklagten das Vorliegen einer schriftlichen Vollmacht zur

40 In Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer (2006), S. 87, 88. 41 So Geppert, FS Rudophi (2004), S. 656 f. m.w.N. 42 Fezer JR 1980, 83 f.; KMR/Paulus (Fn. 8), § 243 Rn. 36; Meyer-Goßner (Fn. 8), § 243 Rn. 27 m.w.N. 43 Park StV 2001, 589, 594; wohl auch Salditt StV 1993, 442 (444); Schäfer, FS Hans Dahs (2005), S. 455. 44 Fezer, Paulus, Meyer-Goßner (Fn. 42); Geppert, FS Rudolphi (2004), S. 658. 45 Die weiteren Regeln über Vertretung des Angeklagten (§§ 329, 350 Abs. 2, 387 Abs. 1 StPO) sind für die hier interessierende Frage unergiebig. 46 So Olk JZ 2006, 204 (205); wohl auch Meyer-Mews JR 2003, 361 (362).

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Vertretung voraussetzt. Aus dem Erfordernis einer ausdrücklichen Vertretungsvollmacht ergibt sich nicht mehr oder weniger als die Vorstellung des Gesetzgebers, aus der Rechtstellung auch des gewählten Verteidigers folge eine solche Rechtsmacht nicht ohne weiteres. Da in allen Fällen das Gesetz von einer Situation der Abwesenheit ausgeht, ließe sich vom Erfordernis der schriftlichen Vertretungsvollmacht in den Fällen absehen, in denen es um die Frage der Vertretung des anwesenden Mandanten geht. Bei Anwesenheit des Mandanten ist also nicht etwa nur deshalb die Möglichkeit von Vertretung schlechthin ausgeschlossen, weil das Gesetz für solche Fälle ein Erfordernis einer schriftlichen Vollmacht nicht aufstellt. Ein solches wäre für diese Fälle leere Förmelei; denn würde man es ins Gesetz hineininterpretieren, zwänge das lediglich zu einer kurzen Unterbrechung für die Herstellung einer solchen Urkunde. Im Übrigen ist es wohl auch unumstritten, dass der Verteidiger für den anwesenden Angeklagten in dessen Vertretung handeln kann, etwa einen Befangenheitsantrag stellen.47 Vertretung ist also auch dann jedenfalls grundsätzlich möglich, wenn der Angeklagte anwesend ist. Fraglich kann demgemäß nur sein, ob diese auch Erklärungen zur Sache ermöglicht, welche per Vertretung dem Angeklagten zugerechnet werden. Für die Abwesenheitsfälle wird dies selten bestritten. Als einzige Begründung für seine Meinung auch bei diesen Fällen sei Vertretung in Sacherklärungen ausgeschlossen, nennt Weber in seiner Dissertation den „Gesichtspunkt der Verteidigerstellung“, mit dessen Wahrheitspflicht die Möglichkeit der Erklärung zur Sache in Kollision geraten könne.48 Nun sollte methodisch klar sein, dass sich aus – welchen auch immer – Aussagen über die Rechtsstellung des Verteidigers nichts an konkreten Einzelaussagen ableiten lässt.49 Vor allem aber lässt sich diese – immerhin klare – Position kaum mit dem unumschränkten Wortlaut der Vertretungsnormen der StPO und schon gar nicht mit den Motiven zur StPO vereinbaren, in denen es zum heutigen § 234 heißt, dass „es im Wesen der hier zugelassenen Vertretung liegt, dass die Erklärungen des Vertreters als Erklärungen des Angeklagten selbst behandelt werden müssen, und zwar auch insoweit als sie Zugeständnisse enthalten.“50

Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 8), § 24 Rn. 20. Weber, Der Verteidiger als Vertreter in der Hauptverhandlung (1982), S. 59, 64; die Argumentation mit der „Wahrheitspflicht“ geht an allen Fällen vorbei, in denen der Verteidiger im Rahmen der ihm vom Angeklagten übertragenen Macht nichts anderes behauptet als dass er eine Erklärung für diesen in eben diesem Rahmen abgebe. 49 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren (1980), S. 34. 50 Hahn (Fn. 28), S. 188. 47 48

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Zu letzterem ist terminologisch zu bemerken, dass das Wort „Zugeständnis“ keinen sachlichen Unterschied zu dem im Gesetz im heutigen § 254 StPO verwandten Terminus „Geständnis“ enthält.51 Angesichts dessen kann an der Möglichkeit der Vertretung jedenfalls des abwesenden Angeklagten auch in Sacherklärungen durch den Verteidiger mit Vertretungsvollmacht nicht ernstlich gezweifelt werden, wie es auch die ganz herrschende Auffassung sieht.52 Schwer nachvollziehbar ist angesichts dessen, dass die Sachlage beim anwesenden Angeklagten vielfach anders beurteilt wird. Wenn es möglich ist, dass der – vertretungsberechtigte – Verteidiger den Angeklagten in der Sacherklärung vertritt, müsste ein Grund dafür vorhanden sein, warum er dies nicht können soll, soweit der Angeklagte anwesend ist. Sucht man nach solchen Argumenten, finden sich lediglich solche, die genauso gegen die Sacherklärung durch Verlesung vorgebracht (und daher später behandelt) werden. Gegen eine solche Differenzierung sprechen i. ü. wiederum die Motive zur StPO und zwar zum heutigen § 243, in denen es wörtlich heißt: „Dem Vertheidiger ist es gestattet, hiernächst die thatsächlichen Angaben des Angeklagten zu vervollständigen; er wird dieselben nicht ändern, sondern nur erläutern dürfen, da die eigenen Angaben des Angeklagten entscheiden.“53 Die Gestattung des „Vervollständigens“ beinhaltet unmissverständlich diejenige zum Ausfüllen von Lücken in den Erklärungen zur Sache, also zum Einbringen fehlender „thatsächlicher“ Angaben für den anwesenden Angeklagten. (Dass nach dem zweiten Halbsatz letztlich die „Angaben des Angeklagten entscheiden“, ist eine im Rahmen von Vertretungsmacht als abgeleiteter Macht selbstverständliche Einschränkung.)

Entgegen Weber (Fn. 48), S. 74, 99, der sich zwar zu Recht auf Beling berufen kann, nicht aber auf die Entstehungsgeschichte der StPO, ausweislich deren „Zugeständnis“ und „Geständnis“ Synonyme sind: Die Wendung zu § 234 in den Motiven (vgl. Fn. 50) spricht ebenso vom „Zugeständnis“ wie es auch noch in dem ursprünglich von der Bundesratskommission beschlossenen Vorläufer des heutigen § 254 der Fall war: „Gerichtlich zu Protokoll genommene Erklärungen… über… ein Zugeständnis“ (vgl. Schubert/Regge, Entstehung und Quellen der Strafprozessordnung von 1877 (1989), S. 212). Auf Vorschlag Schwarzes wurde anstelle des Wortes „Zugeständnis“ in der Sitzung vom 17.6.1873 ohne Diskussion „Geständnis“ gesetzt (vgl. Schubert/Regge a.a.O., S. 259). Es ging demnach offenbar nur um eine sprachliche, nicht aber sachliche Änderung. 52 Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 8), § 234 Rn. 10 m.w.N. 53 Hahn (Fn. 28), S. 191, zu § 205 des Entwurfs (entspricht § 243 StPO). 51

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Solange sich also der Verteidiger im Rahmen dessen hält, was dem (Sach-)Darstellungswillen des Angeklagten entspricht, kann er für diesen zur Sache sprechen. Ob man das nun begrifflich als einen Fall des „Verteidigers als Vertreter“ einordnet oder ob man, bestätigt der Angeklagte die Äußerungen des Verteidigers pauschal, in letzterem eine die Verteidigeräußerungen zu solchen des Angeklagten umformende eigene Sacherklärung des Angeklagten sieht,54 ist letztlich in der Sache gleichgültig, soweit es um die Zurechnung der Äußerungen des Verteidigers geht. Um nichts anderes geht es schließlich auch bei der „Vertretung“ generell und bei derjenigen gem. § 234 StPO nach den bereits zitierten Worten der Motive, nämlich darum, dass die „Erklärungen des Vertreters als Erklärungen des Angeklagten selbst“ behandelt werden müssen.55 Die Grundlage dafür mag in einer im Vorhinein schriftlich bekräftigten Vertretungsmacht liegen oder in einer im nachhinein mündlich bestätigten. Geschieht letztere Bestätigung im Angesicht des Gerichts, ist allen Erfordernissen der Rechtssicherheit ebenso Genüge getan wie durch die schriftliche Vollmacht. Zusammenfassend: Es gibt keinen guten Grund für die Annahme, die Vertretungsmacht des Verteidigers könne mandante präsente nicht so weit reichen wie im Verfahren ohne Anwesenheit des Angeklagten. Unter Vertretungsaspekten ist das nicht begründbar. (Begründbar ist allerdings im Hinblick auf die eigenständige Stellung des Verteidigers das Erfordernis einer unmissdeutbaren Form für die Unterscheidung von Sachäußerungen des Verteidigers als Verteidiger und solchen im Namen des Angeklagten und für ihn.56 Unter diesem Aspekt lässt sich diskutieren, ob der anwesende Angeklagte die Äußerungen des Verteidigers ausdrücklich genehmigen muss. Jedenfalls wird man eine entsprechende Frage des Vorsitzenden im Zweifelsfall für legitim erachten müssen mit der Konsequenz, dass bei Verweigerung einer ausdrücklichen Antwort durch den Angeklagten die Äußerungen des Verteidigers als nicht vom Willen des Angeklagten gedeckt gelten;57 auf diese Konsequenz sollte dann freilich hingewiesen werden. Ferner gibt es Gründe dafür, eine solche Vertretung in der Erklärung zur Sache als etwas „Wesentliches“ i. S. v. § 273

Vgl. Fn. 44. Hahn (Fn. 28), S. 188. 56 Vgl. BGHR zu § 243 StPO, Äußerung 2; Park StV 2001, 589 (594); AnwK/Sommer (Fn. 8), § 243 Rn. 30; a.A. Schäfer, FS Hans Dahs (2005), S. 455. 57 Entsprechend den Grundsätzen von BGHSt 19, 377 ff. zu Zweifeln über die Erklärung des besonderen öffentlichen Interesses. 54 55

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Abs. 1 für protokollierungspflichtig zu halten.58 Das soll aber hier nicht weiter verfolgt werden, weil es im Wesentlichen wohl für die hier ausgeblendete Revisionsperspektive bedeutsam ist.)

III. Freie Wahl der Form der Einlassung? Die eigentliche Zentralfrage59 im Streit um die Form der Sachvernehmung lässt sich wie folgt formulieren: Hat der Angeklagte ein Recht darauf, sich in einer selbstbestimmten, kontrollierten Redeform zur Sache zu äußern, sei es durch Verlesen eines vorgefertigten Textes, sei es durch Sprechen des Verteidigers in seinem Namen, gleichgültig ob er das noch ausdrücklich übernehmen muss? Oder hat er nur das Recht der Wahl zwischen Schweigen zur Sache und einer eigenen Äußerung in freier Rede – „mündliche Befragung mit mündlicher Antwort“? Der Vorrat konkreter, eindeutiger Vorgaben für die Argumentation zu dieser Frage ist gering. Neben dem gesetzlichen Verweis auf § 136 Abs. 2 StPO kann man noch an das Mündlichkeitsprinzip denken, welches indes nur die Bezugnahme auf Schriftsätze verbietet, nicht aber deren Verlesen. Dementsprechend rekurrieren die Verfechter beider Ansichten auf recht grundsätzliche Argumentationsansätze.

1. Die wesentlichen Argumente Befreit man die Argumentation beider Seiten von schmückendem Beiwerk, lässt sie sich auf zwei Argumente der Befürworter einer freien Formwahl und eines der Gegner reduzieren. Zum einen wird für die Freiheit in der Wahl der Form einer Äußerung die Freiheit der Entscheidung des Angeklagten darüber ins Feld geführt, ob er etwas zur Sache sagen wolle.60 Zwingend ist das jedoch nicht.61 Wäre es tatsächlich so, dass aus der freien Entscheidung über das „Ob“ einer Sachaussage auch die Hoheit über die Form einer eventuell abzugebenden Aus-

Vgl. OLG Hamm JR 1980, 82 mit abl. Anm. Fezer; Eisenberg/Pincus JZ 2003, 397 (403). Die neueren Abhandlungen zum Thema behandeln demgemäß sowohl das Verlesen wie auch Äußerungen über den Verteidiger (z.B. Olk und Meyer-Mews (Fn. 46); Geppert FS Rudophi [2004], S. 648; Park StV 2001, 589 [594]; Salditt StV 1993, 442 [444]). 60 Vgl. Fn. 39; Park beruft sich zwar korrekt auf BGHSt 5, 334, misst aber dabei einer beiläufigen Formulierung in dieser (ersten „Lügendetektor“ -)Entscheidung wohl zu viel Gewicht bei. 61 Geppert, FS Rudolphi (2004), S. 655; Olk JZ 2006, 204 (206). 58 59

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sage abzuleiten wäre, könnte der Angeklagte die Form des Verfahrens insoweit schlechthin bestimmen, etwa den Ausschluss der Öffentlichkeit oder des Nebenklägers erzwingen oder z.B. die einzige Form, welche seit eh und je (und zu Recht) von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abgelehnt worden ist, nämlich die Verlesung einer schriftlichen Einlassung durch das Gericht. So eindeutig das nicht geht, so eindeutig muss nach diesem Argument also die Zulässigkeit der angeblich frei zu wählenden Form schon vorausgesetzt werden. So wenig aus der Freiheit der Entscheidung über das „Ob“ einer Antragstellung auf diejenige über die Antragsform folgt (vgl. § 257a StPO), so wenig ist das bei der Erklärung zur Sache der Fall. Nicht anders sieht es mit dem weiteren Argument der Befürworter freier Formwahl aus, der Berufung auf das rechtliche Gehör.62 So wenig dieses Grundrecht in anderen Verfahrensordnungen bindende Formen für das Gehör ausschließt, so wenig kann es das auch im Strafprozess. Freilich wird nicht ernsthaft bestreitbar sein, dass dort, wo nur bestimmte Ausdrucksformen die Wahrnehmung des Grundrechts ermöglichen, diese Formen zuzulassen sind. Das sollte auch über den Wortlaut des § 186 Abs. 1 GVG hinaus nicht in Frage stehen. Der „erfahrene Tatrichter“ wird im Rahmen seiner „rechtsstaatlichen Fürsorgepflicht“63 den Verteidiger nicht hindern, für den Angeklagten den Satz zu formulieren, den dieser etwa aus Scham nicht über die Lippen bringt, sich dann aber durch Nicken zu eigen machen kann. Er wird den Angeklagten mit einem zu begrenzten Sprachschatz64 nicht daran hindern, die von ihm einzubringenden Nuancen durch den Verteidiger formulieren zu lassen. Der Richter wird das auch dann nicht tun, wenn er im Prinzip an der Form „mündlicher Befragung mit mündlicher Antwort“ festhält. Eine generelle Freiheit der Form lässt sich aber daraus nicht ableiten. Nicht besser sieht es auf der anderen Seite mit dem zentralen Argument für freie Rede als einzig zulässige Form aus. Dieses Argument taucht zwar in verschiedenen Einkleidungen auf; sie laufen aber alle auf dasjenige hinaus, was am bündigsten in der Formulierung Michels erkennbar wird: „Die Einlassung gilt als Beweismittel und unterscheidet sich nicht von der Zeugenaussage, die unstreitig nur der Zeuge selbst abgeben kann.“65 Variationen bieten etwa die Formulierung von der „Höchstpersönlichkeit“ der Ein-

OLG Hamm JR 1980, 82; AnwK/Sommer (Fn. 8), § 243 Rn. 25, 28. So die Wendungen Gepperts zur – ausnahmsweisen – Zulässigkeit des Verlesens (FS Rudolphi [2004], S. 650); eine „Zulässigkeitsgrenze“, welche „im Einzelfall tatrichterliches Fingerspitzengefühl“ bestimmen soll (ibid.), ist in einer Formfrage wenig befriedigend. 64 Vgl. dazu Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. (2006), S. 413 ff. 65 Michel MDR 1994, 658. 62 63

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lassung66 oder Beulkes im Hinblick auf § 137 StPO erstaunliche Formulierung, man dürfe „nicht einfach eine gewandtere Person für sich sprechen lassen, vielmehr soll mehr das Gericht einen unmittelbaren Eindruck gerade durch die Vernehmung des Angeklagten gewinnen“67. Soweit sich eine über die Berufung auf Tradition68 hinausgehende Berufung für die Position findet, die Beulke69 in die Forderung fasst: „Wer zur Aussage bereit ist, muss auch selbst sprechen“, läuft sie auf das hinaus, was Geppert als „Prinzip materieller Unmittelbarkeit (§ 250 StPO)“ bezeichnet70. Dagegen lässt sich zunächst einmal formal argumentieren. § 250 StPO ist sicherlich nicht unmittelbar einschlägig. Selbstverständlich dürfte z.B. eine etwa vorhandene schriftliche Einlassung des Angeklagten, die dieser gem. § 136 Abs. 1, 4 StPO abgegeben hat, als Urkunde verlesen werden – zwar nicht nach den Ausnahmevorschriften der § 251, 254 StPO,71 wohl aber nach § 249 StPO72. Denn die Sperre des § 250 greift gar nicht erst. Soweit mit Unmittelbarkeitsaspekten argumentiert wird, lässt sich das immer auf die Idee zurückführen, die Einlassung des Angeklagten zur Sache sei ein Beweismittel. Diese Argumentation lässt sich unbefangen freilich nur vertreten, wenn man nicht zur Kenntnis nimmt, dass die StPO die Vernehmung des Angeklagten ausdrücklich aus der Beweisaufnahme ausgrenzt, in deren Rahmen die Regeln über die Unmittelbarkeit stehen. (Das ist i. ü. historisch auch nicht etwa ein Versehen, es dürfte vielmehr mit den im 19. Jahrhundert verbreiteten Unklarheiten über „Beweismittel“, „Auskunftspersonen“73 oder „Untersuchungsmittel“ zusammenhängen.74)

Olk JZ 2006, 204 (207). Beulke (Fn. 40), S. 92. 68 S. dazu bei und in Fn. 31, 32. 69 Beulke (Fn. 40), S. 92. 70 FS Rudophi (2004), S. 648/649; dagegen grundsätzlich Eisenberg/Pincus JZ 2003, 397 (399 f.). 71 Insoweit zutr. Geppert, FS Rudolphi (2004), S. 648. 72 Vgl. BGHSt 39, 305, 306 m.w.N.; insoweit irreführend Geppert, FS Rudophi (2004), S. 648, wo er (in Fn. 25) auf Kommentare verweist, welche ihrerseits wie der BGH (und die ganz h.A.) von der Verlesbarkeit schriftlicher Einlassungen als Urkunden gem. § 249 StPO ausgehen (vgl. in SK-StPO/Schlüchter, 6. Lfg. (1992), § 249 Rn. 29; LR/Gollwitzer (Fn. 8), § 249 Rn. 13; nicht anders auch in der bei Geppert zitierten 24. Aufl. – jeweils m.w.N.). 73 Nach den Resten der gesetzlichen Beweistheorie sollte z.B. in der Mitte des 19. Jahrhunderts nur die beeidete Zeugenaussage „Beweismittel“ sein, der nicht zu vereidigende Zeuge aber nicht etwa ausgeschlossen sein, sondern (sonstige) „Auskunftsperson“; kritisch dazu bereits Planck, Systematische Darstellung des deutschen Strafverfahrens auf der Grundlage der neueren Strafprozessordnungen seit 1848 (1857), S. 363 ff. (366); Glaser, Handbuch des 66 67

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Inhaltlich steht und fällt die Argumentation mit der Frage, ob die Einlassung des Angeklagten denn nun entgegen der gesetzlichen Terminologie doch „Beweismittel“ und deshalb „höchstpersönlich“ (usw.) ist. Die Antwort darauf lässt sich unschwer dem Gesetz entnehmen, da § 243 Abs. 4 S. 2 StPO ausdrücklich auf § 136 Abs. 2 StPO verweist. „Die Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen“ ist dem Angeklagten zwar auch, aber ganz sicherlich nicht nur durch solche Äußerungen möglich, welche „Beweismittel“-qualität haben. Die Einlassung des Angeklagten zur Sache kann diesen Charakter haben, sie muss es aber nicht. Der Angeklagte kann sich wie ein Zeuge zur Sache einlassen, sei es durch ein Geständnis, sei es auch durch eine vom Anklagevorwurf abweichende Sachdarstellung, welche er als Ergebnis eigener Wahrnehmung vorbringt. Die Einlassung kann aber zugleich oder unabhängig davon auch einen ganz anderen Charakter haben: Der Angeklagte kann substantiiert bestreiten, nicht nur in Form des Vorbringens eigener Wahrnehmung, sondern auch in der Form, dass er auf fremdes Wissen oder Allgemeinkundiges verweist. Er kann eine abweichende Deutung derjenigen Indizien vortragen, die dem Anklagevorwurf zugrunde liegen. In all solchen Fällen handelt es sich um Verteidigungsäußerungen, welche in der Sache dem Parteivortrag des Zivilprozesses entsprechen.75 Aus der angeblichen Beweismittelqualität und dem Unmittelbarkeitsprinzip lässt sich also keineswegs zwingend ableiten, der Angeklagte müsse, wolle er sich zur Sache einlassen, dies in einer Art und Weise tun wie der Zeuge. Als Zwischenfazit ist festzuhalten: Eine eindeutige Aussage der StPO darüber, in welcher Form die Vernehmung des einlassungswilligen Angeklagten zur Sache zu geschehen habe, lässt sich nicht belegen.

Strafprozesses, Bd. 1 (1883), bescheinigte der gemeinrechtlichen Praxis vor der StPO eine „Vermischung von Information und Beweisaufnahme“ (S. 557). 74 Zum Versuch, die Beweiswürdigungsregeln der gesetzlichen Beweistheorie in Beweiserhebungsregeln der StPO gleichsam hinüberzuretten, vgl. Kunert GA 1979, 401 ff. 75 Den Verweis des § 243 Abs. 4 auf § 136 Abs. 2 StPO nennt Salditt (StV 1993, 442 [443]) einen „ungehobenen Schatz“, der es zulasse, der Anklagebehauptung „mehr als nur einen Bericht über eigenes Wissen“ entgegenzusetzen; in der Sache ebenso AnwK/Sommer (Fn. 8), § 243 Rn. 25; Eisenberg/Pincus JZ 2003, 397 (399 f.). Was Salditt „Gegenrede“ nennt, entspricht weitgehend dem Parteivortrag im Zivilprozess.

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2. Folgerungen Der Befund, dass die Einlassung des Angeklagten nicht auf „Aussagen“ nach Art eines Zeugen beschränkbar ist, sollte nicht bestritten werden können. Damit ist eine Vorentscheidung in der Frage der Form der Einlassung gefallen: Diese kann jedenfalls nicht ausschließlich und ausnahmslos auf „freie Rede“ des Angeklagten beschränkt sein. Wo der Angeklagte – etwa – in seinem „ersten Wort“76 darlegen will, dass und warum der Anklagevorwurf die vorhandenen Indizien falsch ordne77, liefe Beulkes griffige Formulierung ins Leere, mit der er fordert: „Wer zur Aussage bereit ist, muss auch selbst sprechen.“78 Es gibt eben nicht nur „Aussagen“ als Inhalt der Äußerung des Angeklagten zur Sache. Auf der anderen Seite spricht ja viel für diese Forderung. Wo der Angeklagte – etwa gegen die Aussage eines Belastungszeugen – die eigene Darstellung mit dem Gewicht der eigenen Person in die Verhandlung einbringen will, muss er sich auch derselben Belastung stellen wie der Zeuge – dann eben nur „mündliche Befragung mit mündlicher Antwort“. Stellt er sich dem nicht – am deutlichsten bei gänzlichem Schweigen –, so darf daraus zwar nicht der Schluss gezogen werden, er hätte etwas zu verbergen. Aber der Angeklagte verzichtet dann auf sein Recht, als unschuldiger und (z.B. dem Zeugen) gleichberechtigter Bürger seine Integrität und Glaubwürdigkeit gegen die des Zeugen ins Feld zu führen. Es verbliebe dann im Falle des gänzlichen Schweigens nur der Vortrag des Verteidigers, der gem. §§ 257, 258 StPO Zweifel an der Richtigkeit der Aussage eines Zeugen geltend machen mag – das aber ist nicht dasselbe wie „Aussage gegen Aussage“.79 Genauso wie beim gänzlichen Schweigen verzichtet auch in den Fällen des Verlesens eines vorgefertigten Textes oder des Sprechens durch den Mund des Verteidigers der Angeklagte darauf, die volle Beweiskraft einer eigenen Aussage gegen das Belastungsmaterial zu stellen. Der Angeklagte also, der zwar bereit ist, sich zur Sache zu äußern, dies aber nur durch Verlesen eines Textes oder über seinen Verteidiger, muss wissen80, dass er damit in der Sache auf etwas für seine Verteidigung unter

76 So könnte man das Recht des Angeklagten (vgl. BGHSt 19, 93 [97]) nennen, das sich aus §§ 243 Abs. 4, 244 Abs. 1 StPO ergibt. 77 Vgl. AnwK/Sommer (Fn. 8), § 243 Rn. 25: „andere Perspektive“; dort auch weitere (abstrakte) Verteidigungsmöglichkeiten. 78 Beulke (Fn. 40), S. 92. 79 Vgl. dazu Maier NStZ 2005, 246 (und ff. m.w.N.). 80 Und sollte ggf. auch darüber belehrt werden.

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Umständen Wichtiges verzichtet: auf sein Recht nämlich, den Belastungszeugen81 gleichberechtigt gegenüberzutreten.82 Auf der anderen Seite gibt es keine triftigen Gründe dafür, ihm diesen Verzicht zu verwehren. Wo es um sein Recht gem. §§ 243 Abs. 4 S. 2; 136 Abs. 2 StPO geht, die gegen ihn sprechenden Verdachtsgründe in anderer Form zu entkräften als durch eigene „Aussage“ nach Art eines Zeugen, sollte er selbstverständlich (vgl. § 137 StPO) „eine gewandtere Person für sich sprechen lassen“83 können oder aber – etwa auch als Unverteidigter – im Stress der Hauptverhandlung darauf bestehen dürfen, seine vorher zurecht gelegten und schriftlich fixierten Gedanken zur Sache durch Verlesen vorzutragen. Er sollte nur wissen: „Kostenfrei“ ist das nicht. Das Recht darauf jedoch sollte man nur bestreiten können, wenn schon vor der Äußerung zur Sache feststünde (und rechtlich bindend wäre), wozu der Angeklagte sich entschieden hat, ob zu einer „Aussage“ oder nur zu „Parteivortrag“; das aber ist nicht der Fall.

3. Zusammenfassung Das Recht des Angeklagten, sich im Rahmen des § 243 Abs. 4 S. 2 StPO zur Sache zu äußern, ist im Gesetz bezüglich seiner Form nicht geregelt. Soweit er eine „Aussage“ über eigene Wahrnehmungen und Erinnerungen tätigen will, gleich ob geständig84 oder bestreitend, kann er dies mit gleicher „Beweiskraft“85 wie der einer Zeugenaussage nur in einer der Zeugenaussage entsprechenden Form tun. Sein Äußerungsrecht ist aber darauf nicht beschränkt, so dass mit „Beweismittel“-Argumenten nicht belegt werden kann, dass diese Form zwingend sei. Die Möglichkeit ganz anderer Inhalte von Äußerungen zur Sache spricht dafür, dem Angeklagten auch andere,

Als pars pro toto der belastenden Indizien. Der Angeklagte verliert durch die Versetzung in den Anklagezustand zwar die Möglichkeit, eine Aussage als Zeuge zu tätigen und evtl. zu beeidigen – zugleich mit den strafbewehrten Pflichten des Zeugen; er verliert aber deswegen nicht das Recht, dass seine Aussagen grundsätzlich als gleichwertig betrachtet werden (vgl. OLG Bremen NZV 1991, 41). Sein (Bürger-)Status bleibt insoweit unangetastet. 83 Vgl. bei und in Fn. 67. 84 Vgl. dazu Verf. ZStW 102 (1990), 51 (54, 72); vgl. auch Martin Amelung, FG Ludwig Koch (1989), S. 145 ff., mit Beispielen für die praktische Notwendigkeit persönlicher Einlassung S. 148. 85 Der unbefangen verwendete „Begriff“ (vgl. z.B. BGH NStZ 1998, 312, [313]) ist im System der freien Beweiswürdigung schief; er steht richtigerweise nur als Kürzel für (u.U. ganz verschiedenartige) Argumente bei einer gedachten Beweiswürdigung. 81 82

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diesen Inhalten angemessene Formen von Äußerungen zuzugestehen. Da der Inhalt einer Äußerung des Angeklagten zur Sache vor der Äußerung nicht feststeht, kann er auch nicht vorab auf eine bestimmte Form als dem Inhalt der Äußerung entsprechend festgelegt werden. Das spricht dafür, im Ergebnis dem Angeklagten die Entscheidung über die Form seiner Äußerung freizustellen. Lässt er sich jedoch nicht auf die „mündliche Befragung mit mündlicher Antwort“ ein, so hat seine Äußerung, ob Verlesen oder durch den Verteidiger vorgetragen, prinzipiell nicht mehr Beweiskraft als ein Sachvortrag durch den Verteidiger in dessen eigener Funktion und in seinem eigenen Namen. (Das dürfte auch so – etwa bei der bekanntlich mit besonderer Vorsicht zu würdigenden Beweissituation „Aussage gegen Aussage“86 – in der Würdigung Berücksichtigung finden.) Bei diesen Überlegungen ist die Perspektive des Revisionsrechts ausgeblendet geblieben. Das entspricht der wissenschaftlichen Überzeugung, dass das Prozessrecht nicht erstrangig aus der Perspektive des Revisionsgerichts zu bestimmen ist. Ob und wann eine Beschneidung des hier angenommenen Rechts des Angeklagten auf freie Wahl der Form seiner Äußerung die Revision gegen ein Urteil begründen kann, ist daher eine andere Frage.

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S. Fn. 79.

Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung – notwendige Reform oder Irrweg? LUTZ MEYER-GOSSNER

I. Bei einer Tagung von Strafverteidigern wurde – allerdings noch vor der Entscheidung des 3. Strafsenats des BGH vom 11. August 20061 – über das Thema diskutiert, ob ein Verteidiger unter Ausnutzung der absoluten Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls nach § 274 StPO auch eine Verfahrensrüge erheben dürfe, von der er wisse, dass sich der zugrunde liegende Vorgang anders als im Protokoll wiedergegeben – nämlich prozessordnungsgemäß – ereignet habe. Nach eingehendem, lebhaften Gedankenaustausch und Abwägen des Für und Wider erklärte ein Diskussionsteilnehmer, die ganze Debatte wäre überflüssig und das Problem würde sich erledigen, wenn die Hauptverhandlung endlich auf Video aufgezeichnet würde. Große Zustimmung im Auditorium. Bei einer anderen Anwaltstagung wurde heftig beklagt, dass die Gerichte das Beweisergebnis einer Hauptverhandlung oftmals – entgegen der Wahrheit – so hindrehten, dass das Urteil „revisionssicher“ abgefasst sei. Es wurde dabei auch auf eine Erhebung aus dem Jahr 1989 verwiesen, wonach 72,1 Prozent der befragten Verteidiger meinten, dass Strafgerichte Zeugenaussagen „in vielen Fällen“ falsch aufnehmen, missverstehen oder sonst unrichtig verarbeiten2. Auch hier wurde allseits als Lösung empfohlen, den Gang der Hauptverhandlung aufzuzeichnen; dann hätte man ein Mittel ge-

1 3 StR 284/05 = NJW 2006, 3579 = JR 2007, 31 mit Anm. Fahl = StraFo 2006, 627 = StV 2007, 49, dessen Leitsatz 1 lautet: „Ein Beschwerdeführer, der bewusst wahrheitswidrig einen Verfahrensverstoß behauptet und sich zum Beweis auf ein als unrichtig erkanntes Protokoll beruft, handelt rechtsmissbräuchlich; seine Rüge ist unzulässig“. Vgl. dazu auch die Anm. von Gaede StraFo 2007, 29 (31), der meint, der BGH hätte hier besser „die Forderung nach einem durch Tonbandaufnahmen unterstützten Protokoll aufgreifen können. Hiermit ließen sich unwahre Verfahrensrügen und gleichermaßen objektiv unwahre Verwehrungen von Verfahrensrügen regelmäßig ausschließen“. 2 Salditt StraFo 1990, 54 (59); ders., FS Meyer-Goßner (2001), S. 475, Fn. 14.

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gen solche absichtlichen Verdrehungen oder Irrtümer in der Hand. So hat auch vor kurzem ein Verteidiger wieder geäußert, es sei „nicht zu begreifen“, dass die Hauptverhandlung immer noch nicht auf Video aufgenommen werde3. Salditt4 hat pointiert darauf hingewiesen, dass Guilleaume Manchon, erzbischöflicher Notar in Rouen, 1431 „mit unerbittlicher Genauigkeit die Verhandlung gegen Jeanne d’Arc beurkundet“ hat und dass man heute nichts mehr von ihrer Verteidigung wüsste, wenn nur ein „Gang- und Ergebnisprotokoll“ nach § 273 Abs. 1 StPO geführt worden wäre. Auch er spricht sich zur Verhinderung von Fehlurteilen für die Aufzeichnung und Speicherung der Beweisaufnahme aus, zumal es eben kein Wortprotokoll gebe5. Dass bisher keine technische Aufzeichnung der Hauptverhandlung vorgeschrieben ist, obwohl sie doch angeblich so viele Vorteile bietet, kann wohl nicht nur an den dadurch entstehenden Kosten liegen. Nachdem die Videotechnik heutzutage so fortgeschritten ist, dass sich der entstehende Kostenaufwand in Grenzen halten würde, soll hier das Kostenargument außer Betracht bleiben und statt dessen untersucht werden, wie sich die technische Aufzeichnung der Hauptverhandlung auf unser Strafverfahren im Übrigen auswirken würde, ob also die Vor- oder die Nachteile überwiegen würden.

II. 1. Könnten durch die Videoaufzeichnung andere Verfahrensweisen überflüssig werden? Zunächst ist zu fragen, ob sich durch die Einführung der Videoaufzeichnung bisherige Verfahrensweisen erübrigen würden, nämlich das schriftliche Protokoll der Hauptverhandlung, die schriftliche Urteilsbegründung oder gar die Rechtsmittel der Berufung oder der Revision. Beim Hauptverhandlungsprotokoll ist gemäß § 273 StPO zwischen den Protokollen der Land- und Oberlandesgerichte und denjenigen der Amtsgerichte zu unterscheiden: Bei ersteren wird der Inhalt der Angaben der Angeklagten sowie der Aussagen der Zeugen und Sachverständigen nicht festgehalten, bei letzteren wird insoweit immerhin vom Protokollführer eine – der vernommenen Person allerdings nicht bekannte und von ihr nicht ge-

Maeffert, FS Richter II (2006), S. 386. FS Meyer-Goßner (2001), S. 469, 470. 5 Ibid., S. 480. 3 4

Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung

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nehmigte – Zusammenfassung der „wesentlichen Ergebnisse der Vernehmung“ erstellt. Diese Arbeit des Protokollführers beim Amtsgericht würde durch die Videoaufzeichnung natürlich überflüssig, wodurch schon eine nicht unerhebliche Entlastung des Protokollführers beim Amtsgericht eintreten würde. Allerdings ist das Ergebnis der Entlastung des Protokollführers in dieser Hinsicht auch schon erreicht, wenn von § 273 Abs. 2 Satz 2 StPO Gebrauch gemacht wird. Noch besser wäre es allerdings, auch beim Amtsgericht auf dieses „Inhaltsprotokoll“ zu verzichten und § 273 Abs. 2 StPO ganz zu streichen; denn da das Protokoll von der vernommenen Person nicht autorisiert ist, ist es ohne jeden Beweiswert. Auch auf § 325 StPO könnte getrost verzichtet werden, da Zeugen, auf deren Aussage es entscheidend ankommt, in der Berufungsverhandlung ohnehin gehört werden und sonst regelmäßig eine Verlesung früherer Aussagen nach §§ 251, 256 StPO genügt. So sieht denn auch das geplante Gesetz zur Effektivierung des Strafverfahrens6 zutreffend die Streichung des § 273 Abs. 2 StPO vor. Die Bundesregierung hat sich allerdings dagegen ausgesprochen7. Ihr Argument, das Inhaltsprotokoll erleichtere dem Richter die Entscheidung über die Annahme der Berufung im Fall des § 313 und vereinfache die Vorbereitung des Berufungstermins, ist allerdings nicht überzeugend: Der Berufungsrichter nimmt in der Praxis beides an Hand des amtsgerichtlichen Urteils, aber wohl kaum jemals an Hand des Protokolls vor. Es ist aber ganz allgemein zu fragen, ob durch die Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung das schriftliche Protokoll insgesamt überflüssig werden würde. Das dürfte zu verneinen sein: Der Gesetzgeber hat auch bisher schon, etwa in § 168a Abs. 2 und § 323 Abs. 2 Satz 2 StPO, neben einer Tonaufnahme deren „Verschriftung“, d.h. die Herstellung einer Abschrift der Aufnahme, verlangt. Es müsste aber ohnehin ein (elektronisches oder schriftliches) Verzeichnis angefertigt werden, an welcher Stelle (d.h. unter welcher der bei einer Videoaufzeichnung mitlaufenden Nummer) ein gesuchter Vorgang auf dem „Film“ zu suchen ist, um zu vermeiden, dass jeweils die gesamte Aufzeichnung angeschaut werden muss, um einen bestimmten Vorgang zu finden. Damit entsteht aber gleichsam automatisch ein Protokoll, in dem der Gang der Hauptverhandlung nach § 243 StPO sowie die weiteren Ereignisse (Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen, rechtliche Hinweise, Vorhalte usw.) mit der Fundstellennummer der Videoaufzeichnung festgehalten werden. Ein

6 7

BR-Drs. 660/06. BT-Drs. 16/3659, S. 30.

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Einsparungseffekt gegenüber der bisherigen Protokollierung nach § 273 Abs. 1 StPO ergibt sich durch die Videoaufzeichnung somit nicht. Zunächst ist aber zu erörtern, ob auch ein bei anderen Gerichten als beim Amtsgericht geführtes Inhaltsprotokoll ausreichen würde, ferner, ob nicht auch ein diktiertes und genehmigtes Wortprotokoll genügt, zumal die Videoaufzeichnung nur eine verbesserte Form eines solchen Wortprotokolls darstellt. Hierzu ist ein kurzer geschichtlicher Exkurs angebracht: 1964 wurde § 273 StPO dahin geändert, dass Absatz 2 für alle als Tatsacheninstanz urteilenden Gerichte (also auch die Landgerichte und Oberlandesgerichte 1. Instanz) Anwendung fand8. Diese Regelung hat man ziemlich rasch – nämlich bereits ab 1975 – wieder rückgängig gemacht9. Mit Recht, denn die erweiterte Protokollierungspflicht war eine überflüssige, dafür umso aufwändigere Schreibarbeit. Da auch hier nur der Protokollführer das mitschrieb, was ihm wichtig schien und so, wie er es verstanden hatte, die Niederschrift aber der vernommenen Person weder vorgelesen noch von ihr genehmigt wurde, war dieses Inhaltsprotokoll ohne Beweiswert, zumal nach der Rechtsprechung bei einem Widerspruch zwischen Urteilsgründen und Protokoll die Urteilsgründe vorgingen10. Auch dies zeigt wieder sehr deutlich, dass ein „Inhaltsprotokoll“, wie es § 273 Abs. 2 StPO vorsieht, wertlos ist und ohne weiteres gestrichen werden könnte. Es ist jedenfalls nicht bekannt geworden, dass irgendjemand die Abschaffung dieses „Inhaltsprotokolls“ vor dem Land- oder Oberlandesgericht bedauert hätte. Rieß11 hat dazu erklärt, das Inhaltsprotokoll habe zu einem erheblichen Mehrbedarf an Protokollführern geführt, der in keinem Verhältnis zum Nutzen dieser Vorschrift stand. Zu einem Wortprotokoll, d.h. einer wörtlichen Protokollierung wie in § 273 Abs. 3 StPO oder einer Zusammenfassung der Aussage, die – wie im Zivilprozess – vom Richter dem Protokollführer oder in ein Tonband diktiert und der vernommenen Person vorgelesen und von ihr genehmigt wird, hat sich der Gesetzgeber im Strafverfahren zu Recht bisher nicht entschließen können: Ein solches Verfahren wäre viel zu zeitaufwändig und würde

Art. 7 Nr. 15 StPÄG 1964. Art. 1 Nr. 79 des 1. StVRG. 10 Vgl. LR/Gollwitzer, 22. Aufl. (1971), § 273 Anm. 7c und 25. Aufl. (2001), § 273 Rn. 60 m.w.N. in Fn. 184. 11 NJW 1975, 88. Vgl. dazu auch die amtl. Begründung (BT-Drs. 7/551, S. 84), wonach dem Inhaltsprotokoll „kaum eine praktische Bedeutung zukomme“, es „in der Revisionsinstanz wertlos“ und im Wiederaufnahmeverfahren „nur von geringem Wert“ sei; in anderen Verfahren sei es wegen seiner geringen Beweiskraft nur „von untergeordneter Bedeutung“. 8 9

Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung

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den Ablauf einer Strafverhandlung zu sehr aufhalten und stören. Man muss sich dazu nur einmal vor Augen führen, wie lange es schon in einer zivilrechtlichen Beweisaufnahme dauert, bis der Zeuge ausgesagt, der Richter die Aussage zusammengefasst diktiert hat und diese dem Zeugen dann wieder vorgelesen oder vorgespielt worden ist. Dass sich hierzu in einer Strafverhandlung sehr häufig Wortgefechte zwischen den Verfahrensbeteiligten selbst und ihnen und dem Gericht über die korrekte Zusammenfassung der Aussage ergeben würden, liegt auf der Hand. Eine einigermaßen zügige Durchführung der Hauptverhandlung wäre dann nicht mehr gewährleistet. Nunmehr steht das Wortprotokoll aber auch kaum noch zur Debatte; denn wenn man schon die Aussagen der vernommenen Personen im Wortlaut festhalten will, scheint dies besser durch eine Tonbandaufnahme oder noch wirkungsvoller mittels einer Videoaufzeichnung gewährleistet12.

2. Könnte wegen der Videoaufzeichnung auf die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe (§ 267 StPO) verzichtet werden? Das wäre ein schlechter, ja geradezu fataler Tausch! Es ist eine Errungenschaft des deutschen Strafprozesses, dass – im Gegensatz zu vielen anderen Rechtsordnungen – das Gericht sein mündlich verkündetes Urteil anschließend ausführlich schriftlich begründet. Damit gibt das Gericht eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Hauptverhandlung und rechtfertigt zugleich seine getroffene Entscheidung. Es besteht für denjenigen, der wissen möchte, wieso der Angeklagte – wie geschehen – verurteilt wurde, also nicht die Schwierigkeit zu versuchen, dies aus der wörtlichen Protokollierung der Aussagen der in der Hauptverhandlung vernommenen Personen zu erkunden, sondern das Ergebnis der Hauptverhandlung wird ihm zusammengefasst in den schriftlichen Urteilsgründen präsentiert. Es wird daher wohl auch niemand mit Rücksicht auf das Vorlie-

12 Anders aber Schünemann, Warnungen vor Holzwegen der Strafprozessreform in Sicherheit durch Strafe?, 28. Strafverteidigertag Mainz 2002, Schriftenreihe der Strafverteidigervereinigungen (2003), S. 273, da „ein vom Vernehmenden diktiertes und vom Zeugen zu billigendes konzentriertes Inhaltsprotokoll weitaus mehr (erg. als eine Videoaufzeichnung) leistet, nämlich zugleich eine von allen Beteiligten akzeptierte Interpretation des wesentlichen Inhalts einer in concreto ja häufig diffusen und konfusen Zeugenaussage“. Gerade eine solche „von allen Beteiligten akzeptierte“ Zusammenfassung herbeizuführen, dürfte in der Praxis aber auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen, wenn man bedenkt, wie dort oft bereits erbittert um eine wörtliche Protokollierung nach § 273 Abs. 3 StPO gerungen wird; zutreffend auch Fezer JZ 1992, 107: „Das kann zu leidigen verfahrensverzögernden Auseinandersetzungen und Entscheidungsprozeduren führen“.

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gen einer Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung auf die Erstellung eines schriftlichen Urteils verzichten wollen. Salditt13 hat zutreffend darauf hingewiesen, dass der bei den englischen und amerikanischen Gerichten getriebene erhebliche Aufwand bei der Erstellung des Wortprotokolls die fehlende Urteilsbegründung ersetzt. Von einem Laiengericht kann eine schriftliche Urteilsbegründung nicht verlangt werden; der „Wahrspruch“ der Geschworenen verlangt nur Entscheidungen, aber keine Begründungen der Entscheidungen: So war es auch bis zur Abschaffung des Schwurgerichts durch die Emmingerschen Reformen 192414 in der RStPO nicht vorgesehen, dass die Urteile der Schwurgerichte zu begründen seien; vielmehr vertrat der „Wahrspruch“ der Geschworenen die sonst in den Entscheidungsgründen zu treffenden Feststellungen15. Man erkennt daraus, dass Wortprotokoll und Laiengerichtsbarkeit eng zusammenhängen und schriftliche Urteilsbegründungen Wortprotokolle entbehrlich machen – es sei denn, man setzt sie nicht an die Stelle einer Urteilsbegründung, sondern sieht in ihnen eine Möglichkeit zur Kontrolle der Urteilsbegründung. Hierfür – sowie zur eindeutigen Dokumentation der Geschehnisse in der Hauptverhandlung – wird denn auch bei uns ersichtlich die Videoaufzeichnung gefordert.

3. Könnte die Videoaufzeichnung die Berufung überflüssig machen? Das scheint nicht so fern zu liegen. Salditt16 sah in der Videoaufzeichnung allerdings nur eine Entlastung für die Berufungsgerichte, weil die Aufzeichnungen die „noch frischere Erinnerung von Zeugen speichern“. Aber es ist nicht einzusehen, warum das Berufungsgericht sich mit dem Anschauen von Videoaufzeichnungen begnügen sollte, wenn es doch die Möglichkeit hat, die Zeugen in persona vorzuladen und zu befragen. Nur um hier Vorhalte an die Zeugen machen zu können („Sie haben doch beim Amtsgericht folgendes ausgesagt, wie sich aus der Aufzeichnung Ihrer Aussage ergibt…“), scheint denn doch ein allzu aufwändiges Verfahren zu sein. Schließlich wird sich ja aus den schriftlichen Gründen des amtsgerichtlichen Urteils im Wesentlichen ergeben, was der Zeuge im dortigen Verfahren ausgesagt hat. Ihn nun erneut zu vernehmen und seine jetzige Aussage ständig mit der

FS Meyer-Goßner, S. 479. Vgl. dazu LR/Kühne, 26. Aufl. (2006), Einl. Abschnitt F Rn. 36 ff. 15 Vgl. Löwe, StPO, 12. Aufl. (1907), Anm. 1 zu § 316. 16 FS Meyer-Goßner (2001), S. 480. 13 14

Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung

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Videoaufzeichnung zu vergleichen, würde das Berufungsverfahren sehr umständlich machen und zeitlich erheblich verzögern. Da der Zeuge aber beim Berufungsgericht genauso der Wahrheitspflicht unterliegt wie beim Amtsgericht, würde der ganze Aufwand der Videoaufzeichnung übertrieben erscheinen und könnte insgesamt kontraproduktiv wirken. Die Chance, dem Angeklagten oder einem Zeugen eine Abweichung zu seiner früheren Aussage nachweisen oder deren etwaige Erinnerungslücken damit auffüllen zu können, würde vermutlich mit einem Hin- und Her von Vorhalten17 aus und Betrachtungen der Videoaufzeichnung des amtsgerichtlichen Verfahrens führen, die Berufungsverhandlung schwerfällig machen und zu einem groben Missverhältnis zwischen Aufwand und Erfolg führen. Interessanterweise hat insoweit auch Salditt18 schon darauf hingewiesen, dass in England der seltene Erfolg des Rechtsmittels und die ständige Last der Protokollierung nicht zueinander passen. Wenn somit eine Aufzeichnung der amtsgerichtlichen Verhandlung nur dann notwendig wäre, wenn man hier auf eine schriftliche Urteilsbegründung verzichten würde – was aber, wie dargelegt, sicherlich kein Vor-, sondern ein gravierender Nachteil wäre –, so stellt sich die Frage, ob die Videoaufzeichnung nicht die Berufungsverhandlung überflüssig machen könnte, weil der Gang und die Ereignisse der amtsgerichtlichen Verhandlung dadurch exakt dokumentiert sind und damit eine erneute Vernehmung von Angeklagten und Zeugen sowie eine erneute Beweisaufnahme im Übrigen entbehrlich erscheint. Aber die Berufungsverhandlung erschöpft sich ja gerade nicht in einer reinen Wiederholung der amtsgerichtlichen Beweisaufnahme; vielmehr werden hier oftmals neue Beweismittel benannt, es wird regelmäßig erheblich intensiver als am Amtsgericht verhandelt, bei dem ja alles auf eine rasche Erledigung mit einer hohen Rechtskraftquote von annähernd 90 % angelegt ist. Das führt zu der Frage, ob mit Rücksicht auf eine Videodokumentation der amtsgerichtlichen Hauptverhandlung das Berufungsverfahren überhaupt abgeschafft werden könnte. Auch hier wäre es aber sicherlich keine Verbesserung, wenn man die Berufung streichen und nur noch die Revision zulassen würde. Dies würde nämlich mit Sicherheit zu vermehrten Zurückverweisungen der Sachen an die Amtsgerichte führen; denn das Revisionsgericht könnte, wenn sich aus der Videoaufzeichnung Verfahrens-

17 Wobei sogar vertreten wird, dass es unzulässig sei, lediglich Vorhalte aus einer Videoaufzeichnung zu machen; vielmehr müsse die dann stets vollständig angeschaut werden; so Pott, Rechtsprobleme bei der Anwendung von Videotechnologie im Strafprozess [zugleich Dissertation Marburg 2003] (2004), S. 127. 18 FS Meyer-Goßner (2001), S. 479.

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fehler oder insbesondere eine fehlerhafte Beweiswürdigung ergeben würde, diese Fehler ja nicht selbst korrigieren, sondern müsste die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückverweisen. Auch die neuen Vorschriften in Abs. 1a und 1b des § 354 StPO würden daran nichts ändern, da sie nur Fehler bei der Zumessung der Rechtsfolgen und bei der Gesamtstrafenbildung betreffen19. Auch hier treten daneben aber die sogleich zu erörternden Schwierigkeiten für die Revision bei Einführung der Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung auf (dazu unter III). Die Überlegung, die Berufung wegen einer Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung abzuschaffen, erscheint daher verfehlt. Die Videoaufzeichnung als Unterstützung der Berufungshauptverhandlung zu benutzen, klingt zwar zunächst verlockend, würde sich in der Praxis allerdings vermutlich als erheblicher Störfaktor erweisen. Freilich wäre zu überlegen, ob insoweit nicht einmal ein größerer Versuch bei verschiedenen Amtsgerichten durchgeführt werden sollte, um festzustellen, wie sich die Schaffung dieser Möglichkeit in der Praxis auswirken würde. Es ist allerdings mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, dass ein solcher Versuch die Forderung nach sich ziehen würde, dann auch die Berufungsverhandlung aufzuzeichnen, um auch deren Ergebnisse eindeutig für die Revision zu dokumentieren. Das führt sogleich zu der Frage, ob die Aufzeichnung der erstinstanzlichen land- und oberlandesgerichtlichen oder auch der Berufungsverhandlung die Revision entbehrlich machen könnte.

4. Könnte die Videoaufzeichnung die Revision überflüssig machen? Die Frage ist ohne weiteres zu verneinen. Die Revision dient dazu, tatrichterliche Urteile zu überprüfen. Eine solche Rechtskontrolle ist unentbehrlich (und deswegen ist auch allen „Reformbestrebungen“ eine scharfe Absage zu erteilen, den Instanzenzug mit dem Berufungsverfahren beim

Eine gefährliche Tendenz, den Anwendungsbereich des § 354 Abs. 1a StPO auszuweiten, zeigt allerdings die Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH vom 22.8.2006 – 1 StR 293/06 = NJW 2006, 3362 = JZ 2007, 23 mit Anm. Streng, in der die – unzulässige (BGHSt GrS 50, 40, 51; BGHSt 43, 195 [206 f.]) – Vereinbarung einer „Punktstrafe“ gerügt, dann aber nach § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO verfahren wurde. Dabei lag hier doch nicht ein Fehler bei der Strafzumessung, sondern eine mit § 261 StPO nicht vereinbare Verfahrensweise vor; zutreffend die Kritik von Leipold StV 2007, 287. – Die Ansicht des BGH (NJW 2005, 912 und 913), § 354 Abs. 1a StPO sei auch bei einer Schuldspruchänderung durch das Revisionsgericht anwendbar, hat das BVerfG (NJW 2007, 2977) allerdings missbilligt und auch im Übrigen den Anwendungsbereich der Vorschrift in dieser Entscheidung stark eingeschränkt. 19

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Landgericht zu beenden oder ein Wahlrechtsmittel wie derzeit im jugendgerichtlichen Verfahren einzuführen)20. Es kann also nicht darum gehen, die Revision abzuschaffen, sondern nur darum, was dem Revisionsgericht für seine Rechtskontrolle an Unterlagen zur Verfügung zu stellen ist. Gerade hierfür wird aber die Videoaufzeichnung der landgerichtlichen Hauptverhandlung (und zwar erster und zweiter Instanz) sowie der oberlandesgerichtlichen Hauptverhandlung erster Instanz propagiert. Und damit sind wir bei der entscheidenden Frage angelangt: Empfiehlt sich die Videoaufzeichnung im Hinblick auf die Revision? Wie würde sie sich dort auswirken?

III. 1. Erweiterung der Möglichkeiten der Revision Wenn also die Einführung der Videoaufzeichnung auch keine grundsätzlichen Änderungen unseres Strafverfahrensrechts mit sich bringen würde, so könnte es doch die beiden anfangs erwähnten Folgen haben: Zum einen die Streichung des § 274 StPO, zum anderen die Schaffung der Möglichkeit, die Tatsachenfeststellung und die Beweiswürdigung des Gerichts im Urteil einer auf eine sichere Basis gestützten Kontrolle zu unterziehen21. a) Der verehrte Jubilar hat erst kürzlich mit Recht die „fortschreitende Relativierung der Verfahrensvorschriften durch den Bundesgerichtshof“ am Beispiel des § 274 StPO beklagt22. Er hat eindrucksvoll den Zusammenhang zwischen der Aufwertung der Sachbeschwerde durch Anerkennung der „Darstellungsrüge“ und die damit einhergehende Vernachlässigung und Verharmlosung von Verfahrensvorschriften herausgearbeitet. Und § 274 StPO ist hierfür in der Tat ein besonders eindrucksvolles Beispiel: Wenn eine direkte Kontrolle des Gangs der Verhandlung nicht gegeben ist, weil diese nicht lückenlos dokumentiert wird, wenn auch der Inhalt der in der Hauptverhandlung durchgeführten Vernehmungen im Protokoll nicht festgehalten wird, sondern sich nur aus den schriftlichen Urteilsgründen ergibt, so muss im Übrigen umso sorgfältiger den Verfahrensvorschriften Rechnung getragen werden, d.h., das Protokoll muss einwandfrei und bindend

Dazu Meyer-Goßner ZRP 2004, 128 (129). Vgl. dazu Schünemann (Fn. 12), S. 273: „ … womit die bisher mehr einem Lotteriespiel gleichende Darstellungsrüge wirkungsvoll gemacht und dem Revisionsgericht auch das zur Überprüfung der Plausibilität des Urteils notwendige Faktenmaterial an die Hand gegeben würde“. 22 FS Otto (2007), S. 901. 20 21

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sein. § 274 StPO zieht hieraus die Konsequenz, indem er den Beweis der Beachtung der Förmlichkeiten nur durch das Protokoll zulässt. Dies ist – wie Jahn/Widmaier treffend sagen23 – „ein bewusst sperrig konstruiertes Stück unserer Rechtskultur“. Durch die nun vom Großen Senat des BGH24 – unter gewissen Voraussetzungen – gestattete Berichtigung des Protokolls auch für den Fall, dass dies zu einer „Rügeverkümmerung“, nämlich dazu führt, einer erhobenen Verfahrensrüge nachträglich den Boden zu entziehen25, wird dieses Stück Rechtskultur verkleinert. Bei der strengen Beachtung des § 274 StPO geht es nicht um eine „Disziplinierung“ der Tatrichter26, sondern um die Durchsetzung der strikten, dem System der Strafprozessordnung entsprechenden Vorschrift des § 274 StPO, wobei den Gerichten wahrlich keine übermäßig schwierige Aufgabe abverlangt wird27. Da nun allerdings die Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls auch dann noch erlaubt wird, wenn auf einen dort bezeichneten Vorgang bereits eine Revisionsrüge gestützt wurde, wäre es aber konsequent, dann erst recht eine Dokumentation der Hauptverhandlung durch eine Videoaufzeichnung zu verlangen; denn mit der Möglichkeit nachträglicher Berichtigungen geht jegliche Sicherheit darüber verloren, was sich in der Hauptverhandlung wirklich ereignet hat bzw. was – wie nach § 274 StPO – als tatsächlich geschehen unterstellt wird. Mit der Entscheidung des Großen Senats des BGH28 ist jedenfalls ein Stück Rechtssicherheit dahin und der von Verteidigerseite erhobene Vorwurf erscheint nicht gänzlich unberechtigt, der Revisionsführer sei dem Gericht dadurch nicht nur hinsichtlich der Feststellungen in den Urteilsgründen, sondern auch hinsichtlich der Darlegung des Verlaufs der Hauptverhandlung im Protokoll hilflos ausgeliefert.

JR 2006, 170. Beschluss vom 23.4.2007 – GSSt 1/06 = NJW 2007, 2419 = JR 2007, 340 mit Anm. Fahl. 25 Dazu Tepperwien, FS Meyer-Goßner (2001), S. 596 ff. 26 Wenn mir vom 1. Strafsenat des BGH in seinem Anfragebeschluss vom 12.1.2006 (NStZRR 2006, 112 [114 f.]) unter Hinweis auf meine Ausführungen in DRiZ 1997, 471 (474) (vgl. auch Tepperwien, FS Meyer-Goßner [2001], S. 608, 609) und auch im Beschluss des Großen Senats (Fn. 24) vorgehalten wird, einer Urteilsaufhebung bedürfe es nicht, um die Tatrichter zum Einhalten der Vorschriften zu veranlassen, so wird dabei verkannt, dass es nicht um eine „Disziplinierung“ der Tatrichter, sondern um eine Bewusstmachung wesentlicher Vorschriften der StPO geht, oder wie Fezer gegen den 1. Strafsenat zutreffend bemerkt (FS Otto [2007], S. 912): „Diese Äußerung geht am Kern des Problems vorbei… Entscheidend ist, dass sich in einer solchen Aufhebung die Gestaltungskraft des Verfahrensrechts zeigt, die sonst verlorenginge“. 27 Zutreffend Tepperwien, FS Meyer-Goßner (2001), S. 609: Kein unabwendbares Schicksal für die Justiz, sondern durch sorgfältige Protokollführung vermeidbar. 28 Fn. 24. 23 24

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b) Würde eine Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung eingeführt, so wären in der Tat immerhin die Vorschriften des § 273 Abs. 2 und 3 und des § 274 StPO hinfällig und ersatzlos zu streichen. Damit wäre auch die Möglichkeit eröffnet, die im schriftlichen Urteil enthaltenen Feststellungen zur Person des Angeklagten und zu seiner Tat sowie die dort vorgenommene Beweiswürdigung kritisch zu würdigen und in der Revision zu beanstanden. Es wäre dabei natürlich nicht so, wie es früher beim Inhaltsprotokoll nach § 273 Abs. 2 StPO war, dass bei einem Widerspruch zwischen den schriftlichen Urteilsgründen und dem Protokoll ersteres vorgeht29; das würde die Videoaufzeichnung weithin entwerten und diese wäre dann ebenso sinnlos, wie es das Inhaltsprotokoll beim Landgericht (und Oberlandesgericht) 1. Instanz zwischen 1964 und 1974 war. Ergäbe sich durch eine Überprüfung der Videoaufzeichnung, dass das Gericht etwa einen Vorgang in der Hauptverhandlung falsch in Erinnerung hatte oder eine Aussage unzutreffend erfasst hat, müsste es auf den Inhalt der Videoaufzeichnung ankommen; die schriftlichen Urteilsgründe wären damit widerlegt. Genau dies ist es ja auch, was die Befürworter der Videoaufzeichnung erreichen wollen.

2. Wie würde sich die eben beschriebene Erweiterung der Möglichkeiten der Revision nun auswirken? Ausgangspunkt müsste auch hier § 344 Abs. 2 S. 2 StPO sein; es müsste also eine Verfahrensrüge erhoben werden, in der der Revisionsführer die den Mangel enthaltenden Tatsachen anzugeben hat. Wenn es um einen Vorgang in der Hauptverhandlung geht (z.B. die Abwesenheit des Verteidigers, die Vereidigung eines Zeugen usw.), wird zwar eine Verfahrensrüge zu erheben sein. Wenn aber die Beweiswürdigung beanstandet, etwa eine im Urteil enthaltene Bewertung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen angegriffen wird, so genügt hierfür bisher die Sachbeschwerde30. Sollte das auch hier gelten? Das hätte zur Folge, dass das Revisionsgericht auf die Sachbeschwerde jeweils die gesamte Videoaufzeichnung daraufhin durchsehen und prüfen müsste, ob die Urteilsfeststellungen sich mit den Aussagen der vernommenen Personen decken! Das kann nicht Sinn der Sache sein; denn dann würde sich die Revision kaum noch von einer Berufung unterscheiden und das Revisionsgericht würde ständig zu einer höchst umfangreichen, aufwändigen Arbeit gezwungen werden, die seine gesamte Tätigkeit lahm-

29 30

Vgl. Fn. 10. Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 337 Rn. 20, 26.

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legen könnte. Man denke nur an monatelange Hauptverhandlungen beim Tatgericht mit der Aufzeichnung dutzender oder hunderter Hauptverhandlungstage! Daher würde man hier doch eine Art Verfahrensrüge verlangen müssen: Dass die Feststellungen im Urteil unzutreffend sind, dass die Beweiswürdigung mangelhaft ist, kann und soll ja durch die Videoaufzeichnung nachgewiesen werden. Dann muss verlangt werden, dass der Revisionsführer in seiner Revisionsbegründung genau die Stellen bezeichnet, in denen sich der beanstandete Vorgang oder die in Bezug genommene Zeugenaussage befindet. Er muss also die laufende Nummer in dem Videoband (vgl. oben unter II 1) und damit die Fundstelle angeben, aus der sich seine Beanstandung ergibt. Nur so scheint zunächst ein Riegel dahin vorgeschoben, dass das Revisionsgericht stets die gesamte Aufzeichnung anschauen müsste. Aber damit wären die Schwierigkeiten noch nicht beseitigt. Es ergeben sich nämlich insbesondere noch zwei Probleme: Erstens ist mit der Angabe der betreffenden Fundstelle noch nicht gesagt, dass der Revisionsführer damit vollständig vorgetragen hat. Es ist eine von jedem Revisionsrichter gemachte Erfahrung, dass in einer Revision zunächst ein Verfahrensfehler anscheinend zutreffend beanstandet wird, dass von der Revision aber verschwiegen wird (absichtlich oder versehentlich sei dahingestellt), dass der Verfahrensfehler im weiteren Verlauf der Verfahrens geheilt wurde, wie sich bei Durchsicht des gesamten Hauptverhandlungsprotokolls ergibt. Es kann auch der Fall gegeben sein, dass sich erst bei Durchsicht der gesamten Verfahrensakten zeigt, dass der gerügte Verfahrensfehler gar nicht besteht; so hat erst kürzlich der BGH eine unter Hinweis auf das Hauptverhandlungsprotokoll erhobene Revisionsrüge des Inhalts, über einen Befangenheitsantrag sei rechtsfehlerhaft nicht entschieden und zudem gegen § 29 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz StPO verstoßen worden, mit der Begründung zurückgewiesen, der Revisionsführer habe verschwiegen, dass die Entscheidung über den Befangenheitsantrag rechtzeitig außerhalb der Hauptverhandlung ergangen war und zugestellt wurde31. Das Revisionsgericht wird also auch dann, wenn der Revisionsführer seine Rüge unter Hinweis auf den Abschnitt in der Videoaufzeichnung, in der sich der beanstandete Vorgang befindet, erhebt, nicht umhin können, die gesamte Aufzeichnung zu überprüfen. Dass dies einen erheblich größeren Zeitaufwand erfordert als die Durchsicht eines schriftlichen Protokolls, in der der Leser relativ schnell erkennt, worum es auf der bestimmten und den folgenden Seiten geht, liegt auf der Hand – ein „Überfliegen“ ist bei schriftlichen

31

Beschl. v. 9.12.2005 – 2 StR 435/05.

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Seiten möglich, nicht aber bei Videoaufzeichnungen, bei denen der Betrachter nicht sogleich feststellen kann, was auf den folgenden Teilen abgehandelt wird. Das zweite – noch viel größere – Problem ist aber, dass der Revisionsführer hier die gesamte Beweiswürdigung des Gerichts an Hand der Videoaufzeichnung rügen kann, indem er darauf hinweist, dass dieser Zeuge dieses und jener Zeuge jenes ausgesagt hat und dass unter richtiger Berücksichtigung und Würdigung dieser Aussagen sowie weiterer Umstände das Gericht zu einer anderen Bewertung hätte gelangen müssen. Man könnte natürlich die Rüge der unrichtigen Beweiswürdigung weiterhin so einschränken, wie es die Rechtsprechung bisher tut, nämlich an den in den Entscheidungen des BGH immer wieder zu findenden Ausführungen festhalten, dass die Beweiswürdigung Sache des Tatrichters ist und diese nur auf rechtliche Fehler überprüft werden sowie insbesondere die Beweiswürdigung des Tatrichters nicht durch die des Revisionsgerichts ersetzt werden darf32. Aber das wird sich nicht durchhalten lassen. Es ist hier auf die Regelung des § 273 Abs. 3 StPO zu verweisen: Nach anfänglichem Schwanken hat der BGH entschieden, dass bei einem Widerspruch zwischen den schriftlichen Urteilsgründen und der wörtlichen Niederschrift im Hauptverhandlungsprotokoll nicht wie sonst bei Widerspruch zwischen Protokoll und Urteilsgründen das Urteil vorgeht, sondern mit dem – hier im Gegensatz zu § 273 Abs. 2 StPO – vorgelesenen und genehmigten Protokoll die Urteilsfeststellungen entkräftet werden können33. So wird es sich mit Sicherheit nicht durchführen lassen, den Inhalt einer Videoaufzeichnung zu negieren, wenn dadurch gerade Unrichtigkeiten der Urteilsfeststellungen oder der Beweiswürdigung nachgewiesen werden sollen. Wenn man diese Möglichkeit hat, eine fehlerhafte Feststellung oder Beweiswürdigung zu entkräften, kann man davor ebenso wenig die Augen verschließen wie vor einem schriftlich vorliegenden Wortprotokoll, das zum Gegenstand der Urteilsbegründung gemacht wurde34. Im Übrigen würde hier aber wie bei einem Wortprotokoll das Revisionsgericht nun gezwungen, sich mit allen Aussagen auseinanderzusetzen, die in der Hauptverhandlung gemacht wurden. Das Prinzip, die Verantwortung auf zwei Schultern zu verteilen, nämlich dem Tatrichter die Tatsachenfeststellung und die Beweiswürdigung, dem Revisionsgericht hingegen die Rechts-

Vgl. nur BGHSt 10, 208 (210); 29, 18 (20); st. Rechtsprechung. BGHSt 38, 14 = JZ 1992, 106 mit Anm. Fezer. 34 Vgl. dazu Meyer-Goßner (Fn. 30), § 337 Rn. 14 mit Nachw. aus der Rechtsprechung des BGH. 32 33

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kontrolle zuzuweisen, würde damit aufgegeben. Dem Revisionsgericht würden damit Aufgaben übertragen, die es bisher nicht hatte. Eine geradezu geniale Errungenschaft unserer Strafprozessordnung – nämlich § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO35 – würde damit beseitigt: Der Revisionsrichter soll vom Studium der Akten des vorangegangenen Vor- und Hauptverfahrens entbunden sein, soweit nicht bestimmte Mängel des Verfahrens bestimmt gerügt werden36. Das ist notwendig, weil der Revisionsrichter sonst gezwungen wäre, das gesamte Verfahren zu rekonstruieren. Dazu bemerkt Volk kurz und treffend37: „Das ist weder möglich noch zumutbar“. Nunmehr müsste der Revisionsrichter aber nicht nur die Akten lesen, sondern im Zweifel die gesamte Hauptverhandlung an Hand der Videoaufzeichnung anschauen und nachvollziehen. Aber glaubt man wirklich, der Revisionsrichter würde beim Betrachten der Aufzeichnung zu besseren Ergebnissen kommen als der Tatrichter, der dies alles live miterlebt hat? Dazu meint Schünemann38 richtig: „Natürlich könnte dem Revisionsgericht nicht zugemutet werden, von Amts wegen die Hauptverhandlungsdokumentation durchzuarbeiten, und erst recht wäre es verfehlt, darauf aus zweiter Hand nach dem Muster des früheren Inquisitionsprozesses ein Urteil gründen zu wollen“. Man bedenke: Bei den gerade bei den Landgerichten und noch mehr bei den Oberlandesgerichten regelmäßig umfangreichen Verfahren würde es doch für jemand, der alles nur auf einer Aufzeichnung anschaut, eine ungeheure Konzentrationsleistung verlangen, wenn er dies alles nachvollziehen und zu einem besseren Urteil gelangen sollte als der Tatrichter, der dies nicht „am Stück“, sondern in vielen Verhandlungstagen gesehen, gehört, gewertet und verarbeitet hat39. Es erscheint nahezu als eine abwegige Vorstellung, dass der Revisionsrichter, also ein – jedenfalls der Idee nach – stets hochqualifizierter Jurist, seine Zeit damit verbringt, stundenlang Filme anzuschauen und seine Eindrücke mit den schriftlichen Urteilsgründen zu vergleichen. Dafür würde

35 Dass die Revisionsgerichte die Anforderungen an den Tatsachenvortrag gelegentlich überspannen, ändert an der Richtigkeit der Vorschrift nichts. Zu einer anderen Auslegung der Vorschrift als sie derzeit von der Rechtsprechung vorgenommen wird, nämlich auf eine „beschränkte und zielgerichtete Prüfung des Verfahrensfehlers“, vgl. Ritter, Die Begründungsanforderungen bei der Erhebung der Verfahrensrüge gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO (2007). 36 LR/Hanack, 25. Aufl. (1999), § 344 Rn. 75; KK-StPO/Kuckein, 5. Aufl. (2003), § 344 Rn. 33. 37 Grundkurs StPO, 4. Aufl. (2005), § 36 Rn. 23. 38 (Fn. 12), S. 277. 39 Dazu sei noch einmal Schünemann (Fn. 12) zitiert, der mit Recht auf die oftmals „diffusen und konfusen“ Zeugenaussagen verweist.

Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung

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man nicht rechtlich besonders befähigte Richter benötigen, sondern besser wäre es, dafür erfahrene Tatrichter einzusetzen, die andere Tatrichter überprüfen. Eine weitere Konsequenz würde sich ergeben: Nach § 354 Abs. 2 StPO verweist das Revisionsgericht im Regelfalle – wenn nicht nach § 354 Abs. 1, 1a und 1b StPO verfahren werden kann – die Sache an die Vorinstanz zurück (weswegen gesetzessystematisch eigentlich Absatz 2 an der Spitze der Vorschrift stehen müsste40). Wenn das Revisionsgericht die gesamte erstinstanzliche Hauptverhandlung aber an Hand der Videoaufzeichnung nachvollzogen hat, spricht kaum etwas dagegen, von ihm nun auch regelmäßig die weitere Entscheidung zu verlangen, so etwa auch noch ausstehende Beweiserhebungen nachzuholen, und dann das Verfahren abzuschließen. Andererseits müsste nach Zurückverweisung und erneuter Revision möglicherweise die ganze Prozedur wiederholt werden; zumindest aber müsste das Gericht, an das die Sache zurückverwiesen wurde, erneut ein Urteil verfassen, obwohl das Revisionsgericht doch dies unschwer selbst tun könnte. Der Tatrichter, an den das Verfahren zurückverwiesen wird, wäre dann auch gezwungen, sich selbst mit der Videoaufzeichnung zu befassen, um in der neuen Verhandlung den Zeugen und Sachverständigen gegebenenfalls Vorhalte daraus machen zu können bzw. sie diesen vollständig vorzuspielen41. Betrachtet man dies ganze Szenario, so zeigt sich, dass die Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung dazu führen würde, die Revision durch eine Art „minderer Berufung“ zu ersetzen: Während in der Berufungsinstanz der Richter die neue Beweisaufnahme direkt mitgestaltet, würde der Revisionsrichter hier „aus zweiter Hand“ leben und wäre doch gefordert, genauso gut wie ein Berufungsgericht zu entscheiden. Dann erscheint es schon besser, gleich die Möglichkeit der Berufung zu schaffen und erst dagegen die Revision zu geben. Geradezu absurd würde es, wenn auch bei der jetzigen Berufungsverhandlung eine Videoaufzeichnung hergestellt und damit die Revision im beschriebenen Sinne umgestaltet werden würde: Dann gäbe es hier tatsächlich praktisch drei Tatsacheninstanzen! Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich die Situation im Wiederaufnahmeverfahren genauso darstellen würde: Nicht von ungefähr ist das Wiederaufnahmeverfahren weithin dem Rechtsmittelverfahren angeglichen (vgl. § 365 StPO). Auch hier würde bei Vorliegen einer Videoaufzeichnung das

40 41

Meyer-Goßner, GS Schlüchter (2002), S. 515. Dazu Fn. 17.

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Wiederaufnahmegericht gezwungen sein, die gesamte frühere Hauptverhandlung nachzuvollziehen. Dass dabei ein besseres Urteil als in dem vorhergehenden Verfahren herauskommen würde, darf füglich bezweifelt werden.

IV. Als Ergebnis unserer Überlegungen kann festgehalten werden: §§ 273 Abs. 2 und 274 StPO im Hinblick auf eine Videoaufzeichnung zu streichen, ist nicht zu empfehlen. Lieber sollte § 274 StPO streng angewendet werden als unser Verfahrenssystem durch Videoaufzeichnung umzukrempeln und die Revisionsgerichte in ihrer eigentlichen Tätigkeit – der Rechtskontrolle – nachhaltig zu entwerten und möglicherweise weithin lahmzulegen. Allerdings muss man sich nicht zwangsläufig darauf beschränken, nun alles beim Alten zu belassen. Zunächst ist zu bemerken, dass die Bedenken der Richterschaft, die Verteidiger könnten mit Hinblick auf § 274 StPO die Revision auch auf solche Vorgänge stützen, die sich in Wahrheit anders als im Protokoll festgehalten ereignet hätten, durch die Entscheidung des Großen Senats und des 3. Senats des BGH42 weithin entkräftet sein dürften (womit nicht gesagt sein soll, dass es gut war, dass der Große Senat des BGH sich auf diese „abschüssige Bahn“43 begeben hat). Der Vorwurf der Verteidiger, die Gerichte würden in den schriftlichen Urteilsgründen oftmals das Ergebnis der Hauptverhandlung verfälschen, könnte dadurch gemildert, wenn nicht gar ganz entkräftet werden, dass zwar vorsichtig, aber weitergehend als bisher von der Rechtsprechung gestattet, eine „Rekonstruktion der Hauptverhandlung“ erlaubt wird. Hierzu liegen Untersuchungen vor44. Es soll hier nur beispielsweise auf die Arbeit von Geissler45 hingewiesen werden: Sie ist der Ansicht46, dass „es keinen rechtlich zwingenden Grund gibt, weshalb das Revisionsgericht gehalten sein soll, den Inhalt einer Aussage zur Prüfung des verfahrensrechtlichen Verstoßes gegen § 261 StPO nicht selbst festzustellen“. Das entspricht auch der Ansicht des verehrten Jubilars, der darauf hingewiesen hat, dass sich der

Vgl. Fn. 24 und Fn. 1. So Jahn/Widmaier JR 2006, 170. 44 Vgl. die Nachw. bei Meyer-Goßner (Fn. 30), § 337 Rn. 15a. 45 Untersuchungen zur Revisibilität von Widersprüchen zwischen Urteil und Wortprotokoll (2000). 46 Ibid., S. 99. Ähnlich auch KK-StPO/Kuckein (Fn. 36), § 337 Rn. 26a. 42 43

Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung

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BGH mit dem (auch seiner Ansicht nach nicht zwingend dogmatisch begründeten) „Festhalten am sog. Rekonstruktionsverbot selbst im Wege steht“47, und dass „der Revisionsrichter, der Hauptverhandlungsvorgänge aufklärt, um nachzuprüfen, ob der Tatrichter bei der Erstellung der Tatsachengrundlage einen Verfahrensfehler begangen hat, von seiner eigenen Prüfungskompetenz Gebrauch macht (und sich nicht etwa tatrichterliche Entscheidungskompetenz anmaßt)“48. So darf die Hoffnung gehegt werden, dass auch der verehrte Jubilar einer Weiterentwicklung der Rechtsprechung auf diesem Gebiet den Vorzug vor einer gesetzlich vorgeschriebenen Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung geben würde.

47 48

JZ 1996, 665. JZ 1992, 108.

§ 257 Abs. 3 StPO – Eine überflüssige Norm EGON MÜLLER

I. In der Realität des Strafverfahrens begegnet uns Missbrauch in jeder Verfahrensrolle. Daher ist das Thema nicht begrenzt auf Beschuldigte und Verteidiger. Die prägnante Mahnung von Herdegen „Peccatur extra et intra“1 lässt keinen Verfahrensbeteiligten aus. Es kann daher nicht verwundern, dass seit Jahrzehnten rechtspolitisch die Schaffung einer allgemeinen Missbrauchsklausel kontrovers diskutiert wird.2 Die Ausdauer, mit der sie gefordert wird, kontrastiert allerdings mit dem Defizit an dogmatischer Stringenz, das sich im legislatorischen Bereich besonders auswirkt – wie Hassemer unlängst unter Hinweis auf die „argumentative Not …, in der sich die Missbrauchsdogmatik noch immer befindet“3, aufgedeckt hat –. Gerade weil es an einer geschlossenen Lehre vom strafprozessualen Rechtsmissbrauch mangelt4, verdienen jene wenigen strafverfahrensrechtlichen Normen, die den Missbrauch beim Namen nennen oder jedenfalls erkennbar meinen, unsere besondere Aufmerksamkeit, weil sie selber in hohem Maße missbrauchsanfällig sind. Daher gilt: Jede einzelne Missbrauchsregel muss „ihre Anwendungsbedingungen genau und kontrollierbar benennen, sie nach Möglichkeit aus Fallkonstellationen entwickeln und sie an ihnen konkretisieren“5, darf daher nicht in einer „generalisierten Unbestimmtheit“6 als Generalklausel daherkommen, muss vielmehr anknüpfend an eindeutig umschriebene äußere Sachverhalte die

KK-StPO/Herdegen, 5. Aufl. (2003), § 244 Rn. 62 a.E.; ders. NStZ 1995, 202 f.; auch Hamm NJW 1993, 289 (296) und NJW 1996, 2981 f. 2 Vgl. Kröpil/Egon Müller DRiZ 2004, 6 (7); schon Rebmann DRiZ 1975, 369. 3 Hassemer, FS Meyer-Goßner (2001), S. 130, 131; vgl. auch Kudlich und Stankewitz, in: Duttge (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung in schwieriger Zeit (2004), S. 13 ff. und S. 25 ff. 4 Niemöller StV 1996, 501. 5 Hassemer, FS Meyer-Goßner (2001), S. 138, 139. 6 Ibid., S. 127, 139. 1

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jeweilige Verfahrenskonstellation in den Blick nehmen, will sie nicht „zur Gefühlsjurisprudenz und zur Verwischung der Grenze von Recht und moralisierenden Erwägungen verleiten…“7.

II. Der Missbrauch wird in drei strafprozessualen Normen ausdrücklich geregelt: –

Nach § 138a Abs. 1 Nr. 2 StPO ist ein Verteidiger von der Mitwirkung in einem Verfahren auszuschließen, wenn er den Verkehr mit dem inhaftierten Beschuldigten zur Begehung von Straftaten oder zur Gefährdung der Sicherheit einer Vollzugsanstalt missbraucht.



Nach § 241 Abs. 1 StPO – schon immer in der StPO enthalten und bis in die Mitte der 70er Jahre die einzige Bestimmung, in der vom Missbrauch expressis verbis die Rede war – kann der Vorsitzende, nachdem er die Vernehmung einer Beweisperson dem Staatsanwalt und dem Verteidiger überlassen hatte, die Vernehmungsbefugnis demjenigen, der sie missbraucht, entziehen.



Nach § 67 Abs. 4 Satz 2 JGG kann der Richter im Jugendstrafverfahren dem tatbeteiligungsverdächtigen Erziehungsberechtigten Mitwirkungsrechte entziehen, „wenn ein Missbrauch der Rechte zu befürchten ist“. Weitere Vorschriften haben andere Teilbereiche des Missbrauchs von Rechten im Blick, ohne die Terminologie ausdrücklich zu verwenden: –

§ 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO berechtigt, ein Richter-Ablehnungsgesuch zu verwerfen, wenn mit ihm nur verfahrensfremde Zwecke – insbesondere Verschleppung – verfolgt werden sollen.



§ 231a Abs. 1 Satz 1 StPO regelt die vorsätzliche und schuldhafte Herbeiführung der Verhandlungsunfähigkeit. In diesem Fall kann das Verfahren u.U. in Abwesenheit des Angeklagten fortgesetzt werden.



§ 241 Abs. 2 StPO gestattet dem Vorsitzenden, „nicht zur Sache gehörende Fragen“ an Zeugen und Sachverständige zurück zu weisen.

7

Vgl. insoweit Herdegen, GS Meyer (1990), S. 187, 199.

§ 257 Abs. 3 StPO – Eine überflüssige Norm

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§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO und § 245 Abs. 2 Satz 3 StPO normieren, dass bei einer erkennbaren Prozessverschleppungsabsicht Beweisanträge abgelehnt werden können.



§ 245 Abs. 2 Satz 2 a.E. StPO statuiert ein Ablehnungsrecht, „wenn der Antrag zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellt ist.“



Nach § 266 Abs. 3 Satz 1 StPO kann im Fall der Nachtragsanklage ein Unterbrechungsantrag zurückgewiesen werden, wenn er „offenbar mutwillig oder nur zur Verzögerung des Verfahrens gestellt ist.“ Diese Regelungen sollen hier nicht auf ihre Bestimmtheit und Aussagekraft hin untersucht werden – so sehr diese Analyse auch reizte. Mir liegt daran, auf eine Norm aufmerksam zu machen, die überhaupt erst auf den zweiten Blick hin als Missbrauchsklausel erkannt wird. Es handelt sich um § 257 Abs. 3 StPO, in dem es heißt: „Die Erklärungen dürfen den Schlussvortrag nicht vorwegnehmen.“ Er grenzt die Vorwegnahme des Schlussvortrags negativ aus dem Kreis der zulässigen Erklärungen aus – und zwar für den Geltungsbereich der Absätze 1 und 2, also für die Schlussvorträge auch und gerade des Angeklagten und des Verteidigers, die nicht – weder sprachlich noch inhaltlich – identisch sein sollen. Mit der Einführung dieser Vorschrift reagierte der Gesetzgeber auf „Missbrauchsfälle“ – Verzögerung der Hauptverhandlung –, weil das Erklärungsrecht zu längeren, oft ideologischen Ausführungen genutzt worden war.8 Ihre Fassung suggeriert eine Grenze, die bei näherer Analyse verschwimmt und sich als untaugliche Markierung herausstellt. Zu Recht bemängelt Hammerstein ihre Unschärfe und kritisiert die ihr immanente These, Inhalt, Umfang und Form des Schlussvortrages seien ex ante bestimmbar.9 Die Forderung, diese Norm – revisionsrechtlich soweit ersichtlich bis heute ohne jede praktische Bedeutung10 – als überflüssig zu streichen, soll näher begründet werden.

Vogel NJW 1978, 1219; BT-Drs. 7/2985, S. 8. Hammerstein, FS Rebmann (1989), S. 233. 10 Vgl. hierzu auch Widmaier/Widmaier, MAH Strafverteidigung (2006), § 9 Rn. 120. 8 9

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III. § 257 a.F. StPO gewährte dem Angeklagten – nicht auch dem Verteidiger – eine höchstpersönliche Chance der Erklärung.11, die das RG, ihm folgend der OGH und zunächst auch der BGH unter Hinweis auf die Motive als bloß „instruktionelle“ Vorschrift eingestuft haben12. Auch wenn die situative Positionierung noch immer textlich vorgegeben ist, stützt dieses Recht heute nach Abs. 1 den Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör – nach Abs. 2 den Anspruch des Angeklagten auf Verteidigung – und hat daher verfassungsrechtliche Fundamente dergestalt, dass Angeklagte und Verteidiger „bereits während der Beweisaufnahme Einfluss darauf … nehmen (können), wie das Gericht einzelne erhobene Beweise würdigt“13. Dem Erklärungsrecht kann in bestimmten Konstellationen eine Hinweispflicht des Gerichts als Ausfluss des rechtlichen Gehörs folgen, erst recht unter kommunikativen Aspekten richterlicher Überzeugungsbildung, die nicht erst im Beratungszimmer beginnt14, auch wenn der BGH ein „Zwischenverfahren“, in dem sich das Gericht zu Inhalt und Ergebnis einzelner Beweiserhebungen erklären müsse, ablehnt.15 Stichworte aus der Informationspsychologie wie „Selektion“, „Dissonanzeffekt“, „Inertia“ und „Redundanzprinzip“ müssen Verteidigung beleben. Mnemotechnisch kann ihnen durch Abgabe von Erklärungen nach § 257 StPO begegnet werden.16 Der Bedeutung, die dem § 257 Abs. 2 StPO insoweit in der Hauptverhandlung zukommt, wird die Praxis der Verteidigung nicht gerecht. Das Erklärungsrecht des Verteidigers fristet im Justizalltag noch immer – wie empirische Erhebungen zeigen – ein Schattendasein.17

Vgl. z.B. Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz Teil II (1957), § 257 Rn. 1. 12 Vgl. auch KK-StPO/Diemer, 5. Aufl. (2003), § 257 Rn. 5. 13 So BGHSt 43, 212 (215). 14 Vgl. hierzu auch König StV 1998, 113 (114); ders., FG Friebertshäuser (1997), S. 211 ff. 15 Vgl. König, FG Friebertshäuser (1997), S. 211 ff. 16 Vgl. auch Salditt StV 1993, 442 (446); vgl. auch Weißmann, Die Stellung des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung (1982), S. 54 ff. 17 Vgl. Barton StV 1984, 394 (396) und Einführung in die Strafverteidigung (2007), S. 262; daran ändert der Hinweis von Römer nichts, der auf eine „Methode der Verteidigung“ aufmerksam macht, „um zu jedem Beweiserhebungsakt langatmige offensichtlich neben der Sache liegende Erklärungen nach § 257 Abs. 2 StPO“ abzugeben, FS Schmidt-Leichner (1977), S. 143; vgl. auch Vogtherr, Rechtswirklichkeit und Effizienz der Strafverteidigung (1991), S. 343, der als „Aktivitäten der Verteidiger“ das Erklärungsrecht nicht einmal erwähnt. 11

§ 257 Abs. 3 StPO – Eine überflüssige Norm

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IV. Die Reichweite des § 257 StPO ist textlich nicht gerade eingeengt. Für eine zeitliche Begrenzung – im Sinne einer Redezeit, bei deren Überschreitung Entzug droht – bietet diese Norm keine Basis.18 Auch reformpolitisch ist von Redezeiten wie z.B. 5 min oder 30 min pro Prozesssubjekt „im Sinne einer Missbrauchs- und Ausnahmeregel“19 ebenso abzuraten wie vom Vorschlag des Bundesrats aus dem Jahr 1977, den Satz sinngemäß anzufügen: Der Vorsitzende kann bei der Begründung von Anträgen nach Abmahnung das Wort entziehen, wenn das Begründungsrecht zu sachfremden Zwecken und zu einer durch die Sache nicht gebotenen Verzögerung der Hauptverhandlung missbraucht wird.20 Im Zentrum der Norm stehen die thematischen Grenzen des Erklärungsrechts. Für eine Beschränkung insoweit weist der Gesetzeswortlaut auf zwei Gründe hin: Zum einen auf die Wendung „dazu“ im § 257 Abs. 1 und Abs. 2 StPO – hier kein Thema –, zum anderen auf das Verbot des § 257 Abs. 3 StPO. Hohmann hält beide Limitierungen für ungeeignet.21 § 257 Abs. 3 StPO – auf den ich mich beschränke – sei schon deshalb „wenig tauglich“, etwas über die Grenzen des Erklärungsrechts auszusagen, weil es verbindliche inhaltliche Maßstäbe für das Plädoyer nicht gebe22. Der Verteidiger sei zudem überhaupt nicht verpflichtet zu plädieren, womit das Verbot des § 257 Abs. 3 StPO insoweit „leer“ liefe. Demgegenüber sieht Weber in § 257 Abs. 3 StPO eine Missbrauchsvorschrift, wie sie sein soll. Ob ein Prozessverhalten dem Gesetzeszweck zuwiderlaufe, könne hier schon anhand des objektiven Erscheinungsbildes festgestellt werden.23 Die Vor-

So auch Hohmann StraFo 1999, 153 (154) und HK-StPO/Julius, 3. Aufl. (2001), § 257 Rn. 5, vgl. auch Fahl, Rechtsmissbrauch im Strafprozess (2004), S. 389, 392. 19 Vgl. insoweit Schlüchter GA 1994, 397 (428). 20 Vgl. Arbeitstagung der Generalstaatsanwälte und des Generalbundesanwalts StV 1991, 284 (286); vgl. auch die Stellungnahme der Strafrechtskommission des Deutschen Richterbunds-Informationen 9/1982 – I 54, die die Verzögerungsklausel für zu unbestimmt hält, vgl. auch Senge NStZ 2002, 225; „Der eine Richter sieht in einem nach dem Schlusswort des Angeklagten noch gestellten Beweisantrag bereits einen Rechtsmissbrauch und spricht von Konfliktverteidigung, während sein Kollege selbst den 25. Befangenheitsantrag noch immer nicht für rechtsmissbräuchlich hält“. 21 Hohmann StraFo 1999, 153 (155). 22 Ibid.; vgl. auch Barton Einführung (Fn. 17), S. 387. 23 Weber GA 1975, 289 (297); ebenso Rudolphi JA 1979, 1 (6); vgl. auch Fahl (Fn. 18), S. 391. 18

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schrift solle verhindern, dass das Erklärungsrecht „objektiv strafverfahrensfremd“24 eingesetzt werde und diene damit schon der „Missbrauchsprävention“.25 Weber rekurriert auf die gesetzgeberischen Motive wie sie im Bericht und Antrag des Rechtssausschusses des Deutschen Bundestages zum 2. StVRG (BT-Drucks 7/2526, S. 6 zu § 137 StPO) referiert werden. Der Gesetzgeber will damit verhindern, dass das Erklärungsrecht dazu missbraucht wird, die Beweiswürdigung vorweg zu nehmen, also aufgrund der bereits vorgenommenen Beweisaufnahme das Beweisergebnis abschließend zu würdigen, obwohl weitere Beweiserhebungen bevorstehen.26 Deutlich stellt Weber heraus, dass die Rechtsanwendung erleichtert und damit der Rechtssicherheit gedient wird, wenn es der Richter mit Normen zu tun hat, deren Anwendung lediglich eine Ermittlung objektiver Gegebenheiten voraussetzt. Er empfiehlt dem Gesetzgeber, nach Möglichkeit dem prozessualen Rechtsmissbrauch mit Vorschriften gegenzusteuern, die an ein objektiv erkennbares missbräuchliches Verhalten anknüpfen.27

V. Die heute noch – fast – unveränderte Fassung des § 257 StPO entstammt dem 1. StVErgG vom 20.12.1994 (BGBl. I S. 3686), das im Eiltempo die parlamentarischen Beratungen durchlaufen hat28 – zugleich mit dem 1. StVRG am 1.1.1975 in Kraft getreten –. Es führt die bisherigen §§ 257, 257a StPO zu einem neuen § 257 StPO zusammen, der insbesondere deutlicher macht, zu welchen Verfahrensabschnitten das Erklärungsrecht besteht. Vor allem wird im neuen Absatz 2 klargestellt, dass sich die Erklärungen des Verteidigers und der Staatsanwaltschaft wie die des Angeklagten selbst auf den vorhergegangenen Beweisaufnahmeakt beziehen müssen. Der neue Absatz 3 – von früheren Vorschlägen abweichend – ist erst in den Beratungen des Rechtsausschusses beschlossen und vom Bundestag

Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten (1993), S. 47. Vgl. Leipold StraFo 2001, 300 (301): „Um der Gefahr vorzubeugen, dass das Erklärungsrecht missbraucht würde“ und Ranft, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. (1995), Rn. 1463: „Um Missbräuchen … vorzubeugen“. 26 Weber GA 1975, 289 (297). 27 Ibid. 28 So Rieß NJW 1975, 81 (93). 24 25

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unverändert übernommen worden.29 Im Bericht des Rechtsausschusses vom 16.12.1974 – BT-Drucks 7/2989 – heißt es: „Der neue A b s a t z 3 dient der Sicherung des Verbots der Vorwegnahme der Beweiswürdigung auch gegenüber den nach § 257 StPO erklärungsberechtigten Prozessbeteiligten und verhindert zugleich einen Missbrauch des Erklärungsrechts. Die nach § 257 Abs. 1 und 2 zulässigen Erklärungen zu den bereits abgeschlossenen Beweishandlungen dürfen daher noch nicht das Beweisergebnis abschließend würdigen, wenn eine weitere Beweisaufnahme bevorsteht. Eine missbräuchliche Benutzung des Erklärungsrechts zu solchen umfassenden Vorträgen kann der Vorsitzende kraft seiner Sachleitungsbefugnis unterbinden, indem er derartige Ausführungen in die Schlussvorträge verweist.“

VI. Um den § 257 Abs. 3 StPO solche Kraft zu verleihen, muss daher geklärt werden, welche Elemente dem Plädoyer z.B. eines Strafverteidigers innewohnen müssen, um den strafprozessualen Anforderungen an einen Schlussvortrag gerecht zu werden.30 § 258 Abs. 1 StPO bestimmt: „Nach dem Schluss der Beweisaufnahme erhalten der Staatsanwalt und sodann der Angeklagte zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort.“ Erst aus dem systematischen Zusammenspiel mit § 258 Abs. 3 StPO („…Auch wenn ein Verteidiger für ihn gesprochen hat, ….“) folgt, dass auch dem Verteidiger Gelegenheit zum Plädoyer gewährt werden muss.31 Über Inhalt und Form eines Plädoyers verhält sich § 258 Abs. 1 StPO wenig. Er formuliert nur Rahmenbedingungen, indem er herausstellt, dass ein Schlusswort sowohl „Anträge“ als auch „Ausführungen“ enthalten kann. Insbesondere sagt § 258 Abs. 1 StPO weder etwas darüber aus, wie intensiv sich Staatsanwaltschaft, Verteidiger und Angeklagter mit der Sach- und Rechtslage, mit Vorgeschichte und den Folgen des Urteilspruchs auseinandersetzen können, noch lässt er erkennen, welchen inhaltlichen Vorausset-

Vgl. Rieß NJW 1975, 81 (94); vgl. auch Hammerstein, FS Rebmann (1989), S. 234; Schmidt-Leichner NJW 1975, 417 (420). 30 Vgl. Nehm, FS Geiß (2000), S. 112. 31 BGHSt 20, 273 f. 29

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zungen die Anträge genügen müssen. Nach dem Regelungsgehalt des § 258 Abs. 1 StPO bleibt die Ausgestaltung des Plädoyers den Verfahrensbeteiligten selbst überlassen. Ihnen allein obliegt es zu beurteilen, was sie zur Durchsetzung ihrer Positionen vorbringen und in welcher Form sie dies vortragen wollen. Das Gesetz gewährt daher sowohl der Staatsanwaltschaft als auch dem Angeklagten und dem Verteidiger größtmögliche Gestaltungsfreiheit.32 Rechtliche Grenzen der Plädierfreiheit ergeben sich erst dann, wenn die Ausführungen den Verfahrensgegenstand verlassen und nicht mehr zur Sache gehören oder wenn sie Ehrverletzungen oder sonstige Äußerungsdelikte beinhalten.33 Dieser legislatorische Verzicht auf inhaltliche und förmliche Vorgaben hat gute Gründe. Hauptverhandlungen sind in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht derart vielgestaltig, dass generelle Direktiven zur Ausgestaltung der Schlussvorträge nicht formuliert werden können. Inhalt und Form der Schlussvorträge entziehen sich einer ins Detail gehenden Normierung. Sie bleiben stets Sache des Einzelfalles.34 Schmidt-Leichner fragte mehr rhetorisch in einer Fußnote: Welcher Verteidiger und Vorsitzende weiß im ersten Drittel oder Achtel der Hauptverhandlung, was im „Schlussvortrag“ ausgeführt werden soll?35 Steht es aber in der Verantwortung z.B. des Verteidigers, welche Ausführungen er zum Schluss der Hauptverhandlung präsentieren will, ist der Inhalt des Schlussvortrages nur insoweit begrenzt als er sich mit dem Verfahrensgegenstand befassen muss und auf die freie, aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfende Überzeugung des Gerichts Einfluss nehmen will.36 Hiernach lässt sich der StPO allenfalls in Umrissen eine Grundaussage entnehmen, derzufolge der Schlussvortrag dazu dienen soll, den gesamten Prozessstoff ergebnisorientiert zu verarbeiten und zu bewerten. Sie umschließt als zentrale Funktion die Aufgabe, auf die abschließende Gesamtwürdigung der Beweisaufnahme durch das Gericht einzuwirken.

Nehm, FS Geiss (2000), S. 112. Barton Einführung (Fn. 17), S. 388 und Pohl, Praxis des Strafrichters (1987), S. 130, wonach der Verteidiger berechtigt sei, zu polemisieren, zu dramatisieren, zu übertreiben, auf die Pauke zu hauen usw. – jenseits aller Zweckmäßigkeitsüberlegungen. 34 So wörtlich Nehm, FS Geiss (2000), S. 112. 35 Schmidt-Leichner NJW 1975, 417 (420). 36 So auch Hammerstein, FS Rebmann (1989), S. 237. 32 33

§ 257 Abs. 3 StPO – Eine überflüssige Norm

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VII. Über die Einhaltung d i e s e r Grenzen des Erklärungsrechts wacht ohnehin kraft Sachleitung der Vorsitzende. Das Gesetz weist ihm in § 257 Abs. 3 StPO aber die nicht zu bewältigende Aufgabe zu, den Inhalt der Schlussvorträge des Staatsanwalts und des Verteidigers zu „prognostizieren“ und ihn als Grenze für die Ausübung dieses wichtigen prozessualen Rechts zu markieren.37 Tatsächlich wird es nämlich nur wenige Ausführungen geben, die in den Schlussvortrag und daher nicht in die Erklärungen nach § 257 Abs. 2 StPO gehören.38 Daher ist ihr Anwendungsbereich quantitativ äußerst begrenzt. Die Regelung sollte noch aus einem anderen Grunde gestrichen werden. Die Gefahr ist mit Händen zu greifen, dass der Richter § 257 Abs. 3 StPO so handhabt, dass er dem Verteidiger oder Staatsanwalt das Wort nahezu beliebig unter Hinweis darauf abschneiden kann, dass er „das“ noch im Schlussvortrag ausführen könne. Das Gesetz ermöglicht diese „krumme“ Argumentation – gerade aufgrund fehlender verbindlicher Maßstäbe für das Plädoyer –. Die forensische Erfahrung lehrt, dass diese „schiefe“ Begründung in der Praxis gar nicht selten vorkommt – „schief“ und „krumm“ schon deshalb, weil im Falle eines wirklichen Missbrauchs – wie bei Diffamierungen von Zeugen und politischer Propaganda – die Rede auch im Schlussvortrag genauso wenig gehalten werden dürfte. Die Vorschrift entpuppt sich damit als ein Damoklesschwert, das über den Ausführungen vor allem der Verteidigung schwebt, selbst wenn der Richter es nicht zur Anwendung bringt, als „Droh-Potential“, das der Richter nach subjektivem Belieben ins Feld führen kann, das aber zur Missbrauchsabwehr untauglich ist.39 Wie jeder pauschale Problemlösungsversuch läuft auch diese Norm unmittelbar Gefahr, die Rechtsstellung des Angeklagten im Prozess grundsätzlich, – also auch Grundrechte des Angeklagten – zu beeinträchtigen.40 Es gilt noch immer das alte Sprichwort: „Die Faust des Gesetzes schmerzt weniger, als der kleine Finger der Willkür.“41

37 Vgl. hierzu Fahl (Fn. 18), S. 390, auch schon Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl. (1998), S. 463 Rn. 996. 38 Hammerstein, FS Rebmann (1989), S. 239, Hohmann StraFo 1999, 153 (155) und Fahl (Fn. 18), S. 391. 39 So fast wörtlich Fahl (Fn. 18), S. 391. 40 So wörtlich Stankewitz (Fn. 3), S. 13 ff. und S. 25 ff. 41 Rudolf Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. (1928), S. 80.

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VIII. In Missbrauchsfällen, die § 257 Abs. 3 StPO im Auge hat, – jedweder Art – reicht die Sachleitungsbefugnis des Vorsitzenden nach § 238 StPO aus. Die Kontrolle durch das Gericht nach § 238 Abs. 2 StPO gewährt zudem über das Revisionsrecht zusätzliche Sicherheit42

42

Vgl. auch KK-StPO/Diemer (Fn. 12), § 257 Rn. 4 a.E.

Zur erstinstanzlichen Zuständigkeit des Oberlandesgerichts bei Erweiterung des § 120 Abs. 2 GVG nach Eröffnung des Hauptverfahrens CHRISTOPH SOWADA

Das Zweite Gesetz zur Modernisierung der Justiz (2. JuModG) vom 22. Dezember 20061 erweiterte die erstinstanzliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts durch die Einfügung des § 120 Abs. 2 Nr. 4 GVG auf Straftaten nach dem Außenwirtschaftsgesetz (AWG) sowie auf Taten nach § 19 Abs. 2 Nr. 2 und § 20 des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen (KWKG), wenn die Tat zur erheblichen Gefährdung der äußeren Beziehungen geeignet oder zur Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker bestimmt und geeignet ist „und der Generalbundesanwalt wegen der besonderen Bedeutung des Falles die Verfolgung übernimmt“. Thematisch geht es hierbei um Fälle der sog. Proliferation, also um das Bemühen einiger Staaten, in den Besitz atomarer, biologischer oder chemischer Waffen sowie der dazu erforderlichen Trägersysteme zu gelangen und die zu deren Herstellung notwendigen Güter und das erforderliche Know-how zu erwerben.2 Vor diesem Hintergrund verfolgen § 34 AWG und die §§ 19 ff. KWKG das Ziel, im Interesse der äußeren Sicherheit, des Völkerfriedens und der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland den Verkehr und den Handel mit gefährlichen Gütern und Waffen einer umfassenden staatlichen Kontrolle zu unterwerfen.3 Der illegale Technologietransfer geht häufig mit einer geheimdienstlichen Agententätigkeit Hand in Hand, doch bereitet die „gerichtsfeste“ Feststellung der Voraussetzungen des § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB offenbar vielfach erhebliche Schwierigkeiten.4 Vor diesem

BGBl. I S. 3416, in Kraft getreten am 31. Dezember 2006. Vgl. auch die vom Bundesamt für Verfassungsschutz im Juni 2004 herausgegebene Broschüre „Proliferation – das geht uns an!“ (abrufbar unter www.verfassungsschutz.de). 3 Hannich, FS Nehm (2006), S. 140 ff. 4 Vgl. Schmidt/Wolff NStZ 2006, 161 ff. (zu BGH NStZ-RR 2005, 305); vgl. auch LK/Schmidt, 12. Aufl. (2006), § 99 Rn. 5 ff. 1 2

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Hintergrund ist (auch mit Blick auf Beschränkungen des Rechtshilfeverkehrs) von Strafverfolgerseite die „äußerst missliche Zuständigkeitsaufspaltung“ in Staatsschutz- bzw. Wirtschaftsstrafverfahren beklagt und darauf hingewiesen worden, dass die Strafvorschriften des AWG und des KWKG ihrem Wesen nach ebenfalls Staatsschutzdelikte seien.5 Diesem aus der Praxis geäußerten Bedürfnis hat der Gesetzgeber im 2. JuMoG Rechnung getragen.6 Im Folgenden sollen weder die nebenstrafrechtlichen Bestimmungen7 noch die Berechtigung der vom Gesetzgeber vorgenommenen gerichtsverfassungsrechtlichen Zuordnung näher beleuchtet werden. Gegenstand der Betrachtung ist vielmehr die allgemeine strafprozessuale Fragestellung, ob sich die Gesetzesänderung auch auf rechtshängige Strafverfahren auswirken kann, sodass es durch Verweisung analog § 270 StPO8 oder bei ausgesetzter Hauptverhandlung auf Vorlage analog § 225a StPO – gegebenenfalls durch jetzt erfolgende Ausübung des Evokationsrechts – zur Zuständigkeitsverlagerung von der (Wirtschafts-)Strafkammer des Landgerichts auf den Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts kommt.9

I. 1. Nach Ansicht des Generalbundesanwalts ist eine während der (ausgesetzten) Hauptverhandlung erfolgende Ausübung des Evokationsrechts zur Begründung der erstinstanzlichen Zuständigkeit des Oberlandesgerichts sowohl erforderlich als auch geeignet. Das hierfür angeführte Argument,

Hannich, FS Nehm (2006), S. 145 ff.; MüKo-StGB/Lampe/Hegmann, Bd. 2/2 (2005), Vor §§ 93 ff. Rn. 22; Schmidt/Wolff NStZ 2006, 161 (164). 6 Vgl. BT-Drs. 16/3038, S. 31. 7 Kritisch zu § 34 AWG n.F. (von 2006) L. Schulz, in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a.M. (Hrsg.), Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts (2007), S. 619 ff. 8 Die Analogie beruht darauf, dass das Oberlandesgericht im Rahmen der Organleihe (vgl. Art. 96 GG) Bundeskompetenz ausübt und daher kein Gericht „höherer“, sondern „anderer“ Ordnung ist (vgl. BGHSt 46, 238 [245 f.]; Welp NStZ 2002, 1 [3]). 9 Diese Rechtsfrage (Vorlage an das OLG Stuttgart gemäß § 225a StPO) war Gegenstand eines am LG Mannheim geführten Strafverfahrens. Die nachfolgenden Überlegungen entstammen einem Rechtsgutachten, das der Verf. im Auftrag der Verteidigung (ausschließlich zu der genannten abstrakten Rechtsfrage) erstattet hat. Die im Folgenden ohne ausdrücklichen Nachweis angegebenen Rechtsansichten des Generalbundesanwalts sind den Stellungnahmen der Behörde in diesem Verfahren entnommen, für deren Mitteilung ich Herrn Rechtsanwalt Püschel (Köln) danke. S.a. unten zu III.2. 5

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dass der Gesetzgeber eine Übergangsregelung nicht vorgesehen hat und dass das Rückwirkungsverbot im Verfahrensrecht nicht gilt, trägt diese Rechtsauffassung allerdings nicht. Denn hieraus erhellt allenfalls, dass der Gesetzgeber gegebenenfalls ohne Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG eine Übergangsregelung hätte schaffen können;10 dies hat er aber gerade nicht getan. Auch im Übrigen ist zu bestreiten, dass die gegenwärtige Rechtslage eine Ausübung des Evokationsrechts auch noch nach Eröffnung des Hauptverfahrens zulässt. Das Gesetz stellt in § 120 Abs. 2 GVG darauf ab, dass der Generalbundesanwalt wegen der besonderen Bedeutung des Falles „die Verfolgung übernimmt“. Das zielt eindeutig auf die Phase des Ermittlungsverfahrens, in dem der Staatsanwaltschaft die Verfahrensherrschaft zufällt. Im Rahmen des (komplementär zu § 120 Abs. 2 GVG gestalteten) § 74a Abs. 2 GVG entfällt die Zuständigkeit des Landgerichts, wenn der Generalbundesanwalt wegen der besonderen Bedeutung des Falles „vor der Eröffnung des Hauptverfahrens die Verfolgung übernimmt“. Dieser Zusatz macht deutlich, dass nicht die Anklageerhebung, sondern (erst, aber immerhin) die Eröffnung des Hauptverfahrens die maßgebliche zeitliche Zäsur darstellt. Mit dem Verlust der staatsanwaltschaftlichen Verfahrensherrschaft11 kann nach Wortlaut und Systematik des GVG „die Verfolgung“ schlechterdings nicht mehr „übernommen“ werden. Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck des Evokationsrechts, das (zumindest auch) der Konzentration des Spezialwissens bei der Ermittlungstätigkeit dient.12 Dieser Zweck ist nach der Eröffnung des Hauptverfahrens schlechterdings nicht mehr erreichbar. Fraglich ist, welche Konsequenz aus diesem Befund zu ziehen ist. Im Schrifttum wird teilweise darauf abgestellt, dass die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts nicht allein vom Gesetz (scil. § 120 Abs. 2 GVG), sondern zusätzlich von einem vor Eröffnung des Hauptverfahrens zu erbringenden Akt der Exekutive abhänge, dessen Fehlen auch nicht durch einen

Vgl. hierzu Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren (2002), S. 141 ff. Die Dispositionsbefugnis der Anklagebehörde endet spätestens mit der Eröffnung des Hauptverfahrens; vgl. SK-StPO/Frister, 50. Lfg. (2006), § 120 GVG Rn. 9; KKStPO/Hannich, 5. Aufl. (2003), § 120 GVG Rn. 4a; LR/Siolek, 25. Aufl. (2003), § 74a GVG Rn. 11 ff. Vgl. auch zur Ausübung des Rückgaberechts gemäß § 142a Abs. 4 GVG KKStPO/Hannich a.a.O. § 142a GVG Rn. 9; SK-StPO/Wohlers, 46. Lfg. (2006), § 142a GVG Rn. 20; nach a.A. gilt auch für die Rückgabebefugnis der (frühere) Zeitpunkt des § 142a Abs. 2 GVG; so LR/Boll, 25. Aufl. (2001), § 142a GVG Rn. 18; Kissel/Mayer/Mayer, GVG, 4. Aufl. (2003), § 142a Rn. 10; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 142a GVG Rn. 5. 12 Vgl. Rebmann NStZ 1986, 289 und 291; vgl. auch Kühl NJW 1987, 437 (446 f.); Nehm NStZ 1996, 513 (516); Schroeder JR 2001, 391 (392) (zu 6.). 10 11

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Beschluss des Gerichts „überspielt“ werden könne.13 Aus dieser Perspektive wird eine Verweisung an das Oberlandesgericht gemäß § 270 StPO selbst mit Zustimmung des Generalbundesanwalts für ausgeschlossen erachtet.14 Der Generalbundesanwalt ist zwar im Ausgangspunkt ebenfalls der Ansicht, die Ausübung des Evokationsrechts sei für die Zuständigkeitsbegründung vor dem Oberlandesgericht konstitutiv und somit unentbehrlich; er gelangt hieraus aber zu einer anderen Schlussfolgerung: Weil die Fortführung des Verfahrens vor dem Landgericht nicht mehr zulässig sei, müsse der Generalbundesanwalt – obwohl er das Verfahren nicht wie vor Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluss „übernehmen“ könne – sich zu den Evokationsvoraussetzungen äußern, da anders eine gesetzmäßige Prüfung des gesetzlichen Richters in diesen Fällen nicht möglich sei. Für diese Sichtweise scheint zu sprechen, dass die sachliche Zuständigkeit gemäß § 6 StPO eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Prozessvoraussetzung darstellt. Freilich steht und fällt die Konstruktion mit der These, dass die landgerichtliche Zuständigkeit mit dem Vorliegen der Voraussetzungen des neuen § 120 Abs. 2 GVG wirklich entfällt. Hierauf wird zurückzukommen sein (vgl. unten zu II.). Immerhin kommt als Alternative in Betracht, mit der zuvor angeführten Literaturmeinung die fortbestehende Zuständigkeit des Landgerichts anzunehmen, weil die für einen Zuständigkeitswechsel konstitutive Exekutiventscheidung nicht mehr möglich ist. 2. Allerdings ist noch tiefer anzusetzen und zu fragen, ob die These von der konstitutiven Bedeutung der Evokation für die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zu überzeugen vermag. In der Tat scheint der Gesetzestext des § 120 Abs. 2 GVG eine solche Lesart nahe zu legen. Hiernach ist das Oberlandesgericht erstinstanzlich zuständig, „wenn der Generalbundesanwalt … die Verfolgung übernimmt“. Ohne Evokation – so könnte man meinen und so wird es vielfach auch gesehen –15 gibt es keine Zuständigkeit des Oberlandesgerichts. Dass das Oberlandesgericht bei Eröffnung des Hauptverfahrens die Sache an das Land- bzw. Amtsgericht verweist, wenn es die „besondere Bedeutung des Falles“ im Gegensatz zum Generalbundesanwalt verneint, scheint hieran nichts zu ändern, sondern auf ein Zusammenspiel dergestalt hinzudeuten, dass das Gericht die Entschließung der

Dencker StV 1987, 117 (118 f.). SK-StPO/Frister (Fn. 11), § 120 GVG Rn. 12; LR/Gollwitzer, 25. Aufl. (2001), § 270 Rn. 8, 22; Rieß GA 1976, 1 (11 f.). 15 LR/Boll (Fn. 11), § 142a GVG Rn. 19; Dencker StV 1987, 117 (118 f.); ders. KJ 1987, 36 (52 f.); Kissel/Mayer/Mayer (Fn. 11), § 120 Rn. 5; LR/Rieß, 25. Aufl. (2001), § 209 Rn. 46; ders. GA 1976, 1 (9). 13 14

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Staatsanwaltschaft zwar kontrollieren, ihr Fehlen aber nicht selbst ersetzen darf. Dieses Modell des Zusammenwirkens zweier gleichberechtigter Justizorgane dürfte auch dem Selbstverständnis des Generalbundesanwalts als oberster und von den Gerichten unabhängiger Strafverfolgungsbehörde (vgl. § 150 GVG) entsprechen. Gleichwohl begegnet die dargestellte Konzeption durchgreifenden Bedenken. Auf gerichtsverfassungsrechtlicher Ebene ist daran zu erinnern, dass die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft jener des zuständigen Gerichts nachfolgt (sog. Sequenzzuständigkeit).16 Dies gilt gleichermaßen für den Generalbundesanwalt.17 Deshalb bedeutet die Evokation lediglich einen zeitlichen, aber keinen normativen Vorrang.18 Um das bei dieser Behörde konzentrierte Spezialwissen auch für die Ermittlungstätigkeit nutzen zu können, sieht das Gesetz die Möglichkeit einer Verfahrensübernahme vor; zugleich stattet es in § 142a Abs. 1 S. 2 GVG den Generalbundesanwalt gegenüber den Beamten der Staatsanwaltschaft eines Landes mit dem Recht zur Kompetenzbestimmung aus.19 Ein Recht zur Festlegung der gerichtlichen Zuständigkeit ist hiermit nicht verbunden, wenngleich das hohe Ansehen des Generalbundesanwalts einen faktischen Einfluss auch auf die gerichtliche Eröffnungsentscheidung ausüben mag. Allerdings könnte man argumentieren, die gerichtliche Kontrollpflicht des § 120 Abs. 2 S. 2 GVG garantiere, dass es keine verbindliche Festlegung der gerichtlichen Zuständigkeit durch die Staatsanwaltschaft gebe. Überdies harmoniert die Vorstellung vom gleichberechtigten Miteinander mit der Tatsache, dass erst die übereinstimmende und jeweils eigenständige Beurteilung von Staatsanwaltschaft und Gericht in unserem Strafrechtssystem jemanden zum Angeklagten macht. Doch abgesehen vom Streit um die Bindung der Staatsanwaltschaft an eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung20 trägt die

Meyer-Goßner (Fn. 11), § 142 GVG Rn. 1; Kissel/Mayer/Mayer (Fn. 11), § 142 Rn. 2. Zur von § 120 Abs. 2 GVG abgeleiteten Zuständigkeit nach § 142a GVG vgl. Nehm, Die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts für die Verfolgung extremistischer Einzeltäter (2002), S. 10; vgl. auch Sowada (Fn. 10), S. 671 (mit Fn. 120). 18 Das Evokationsrecht bedeutet – neben dem Aspekt der Effektivität der Ermittlungstätigkeit – eine Zweckmäßigkeitsregelung insofern, als dem Generalbundesanwalt die Aufgabe des Sichtens und der Vorauswahl der den Spezialgerichten zufallenden Verfahren übertragen wird; vgl. Jakfeld, Die besondere Behandlung der Staatsschutzstrafverfahren im deutschen Strafprozeß- und Gerichtsverfassungsrecht (1966), S. 84; Woesner NJW 1961, 533 (534). Auch diese Funktion ist freilich nach Eröffnung des Hauptverfahrens nicht mehr zu verwirklichen. 19 KK-StPO/Schoreit, 5. Aufl. (2003), § 142a Rn. 3; SK-StPO/Wohlers (Fn. 11), § 142a Rn. 10 f. 20 Vgl. dazu nur BGHSt 15, 155 ff.; Fezer, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. (1995), 2/32 ff.; Meyer-Goßner (Fn. 11), Vor § 141 GVG Rn. 11. 16 17

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Parallele nicht. Im Anklagekontext dient die Kumulation von staatsanwaltlicher und gerichtlicher Beurteilung dem rechtsstaatlichen Schutz des Beschuldigten. Hinsichtlich der erstinstanzlichen Zuständigkeit des Oberlandesgerichts lässt sich nicht sagen, dass die Rechtsstellung des Angeschuldigten durch das zusätzliche Erfordernis einer als konstitutiv begriffenen Evokationsentscheidung verstärkt werden würde, zumal das Gesetz von der in § 269 StPO zum Ausdruck gebrachten (freilich durchaus fragwürdigen)21 Vorstellung geleitet ist, dass die Verhandlung vor einem in der Stufenfolge des Gerichtsaufbaus zu hoch angesiedelten Spruchkörper für den Angeklagten grundsätzlich keinen Nachteil bedeute. Der entscheidende Einwand gegen die Annahme einer konstitutiven Wirkung der Evokationsentscheidung für die gerichtliche Zuständigkeit resultiert jedoch aus dem Verfassungsprinzip des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG). Dieses grundrechtsgleiche Recht verlangt, dass sich der zur Entscheidung eines Falles berufene Richter möglichst eindeutig und gleichsam „blindlings“ aus im Voraus geschaffenen allgemeinen und abstrakten Regelungen ergeben muss, um einer Manipulation der rechtsprechenden Organe entgegenzuwirken, hierdurch die Unabhängigkeit des Richters zu sichern und das Vertrauen der Rechtsuchenden zu stärken.22 Gemessen an den hiermit aufgestellten Bestimmtheitsanforderungen sind Regelungen mit einer auf das Merkmal der „besonderen Bedeutung des Falles“ abstellenden sog. „beweglichen“ Zuständigkeit – hierzu gehört neben § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG auch § 120 Abs. 2 GVG – problematisch und allenfalls23 mit der Maßgabe verfassungskonform, dass es sich bei der „besonderen Bedeutung des Falles“ um einen der umfassenden gerichtlichen Kontrolle unterliegenden unbestimmten Rechtsbegriff handelt. Dies impliziert die Vorstellung von der einzigen richtigen (rechtmäßigen) Entscheidung, bezüglich derer die Letztverantwortung beim Gericht liegt, weil insoweit weder ein Ermessen noch ein Beurteilungsspielraum der Staatsanwaltschaft anzuerkennen ist.24 Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben sind bezüglich der Allgemeinkriminalität (ungeachtet einer unzulänglichen Umsetzung in der Rechtspra-

Vgl. Sowada JR 1995, 257 (259); zustimmend Dietmeier JR 1998, 470 (Fn. 2). BVerfG NJW 1995, 2703 f; vgl. auch Sowada (Fn. 10), S. 168 ff., 198 ff. 23 Ganz überwiegend wird die „bewegliche“ Zuständigkeit in § 120 Abs. 2 GVG für verfassungsgemäß gehalten; vgl. nur KK-StPO/Hannich (Fn. 11), § 120 GVG Rn. 3; Sowada (Fn. 10), S. 660 ff. (m.w.N.). Wegen mangelnder Bestimmtheit einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG annehmend (wohl) Herzog StV 1993, 609 (612). 24 Näher hierzu Sowada (Fn. 10), S. 527 ff. 21 22

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xis)25 nahezu einhellig anerkannt. Verneint das Landgericht entgegen der Anklageschrift die „besondere Bedeutung des Falles“, so eröffnet es das Hauptverfahren gemäß § 209 Abs. 1 StPO vor dem Gericht niedrigerer Ordnung. Umgekehrt legt das Amtsgericht die Akten gemäß § 209 Abs. 2 StPO dem Landgericht vor, wenn es im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft einen Fall mit „besonderer Bedeutung“ für gegeben hält.26 Dies gilt ungeachtet der in § 74 Abs. 1 S. 2 GVG gewählten Formulierung, dass die Landgerichte (auch) für alle Straftaten zuständig sind, „bei denen die Staatsanwaltschaft in den Fällen des § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG [also u.a. wegen der besonderen Bedeutung des Falles, C.S.] Anklage beim Landgericht erhebt“.27 Die Anklageerhebung beim Landgericht als Akt der Staatsanwaltschaft ist entgegen dem Wortlaut des § 74 Abs. 1 S. 2 GVG für die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts ebenso wenig konstitutiv, wie es die Übernahme der Verfolgung als Akt des Generalbundesanwalts entgegen der Formulierung in § 120 Abs. 2 GVG für die erstinstanzliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts ist. Die gerichtliche Zuständigkeit ist in beiden Konstellationen nicht von einem prozessualen Verhalten der Staatsanwaltschaft abhängig, sondern sie richtet sich ausschließlich nach der gerichtlichen Beurteilung der gesetzlichen Voraussetzungen. Im staatsschutzstrafrechtlichen Kontext ist die Lage insofern etwas komplizierter, als hier die einfachgesetzliche Norm die Letztentscheidungsbefugnis des Gerichts nur in einer Richtung verbürgt: § 120 Abs. 2 S. 2 GVG betrifft – dem § 209 Abs. 1 StPO entsprechend – den Fall, dass das Eröffnungsgericht im Gegensatz zur Anklagebehörde die „besondere Bedeutung des Falles“ verneint. Für die Gegenrichtung, also für den Fall, dass die mit der Eröffnung des Hauptverfahrens befasste Strafkammer des Landgerichts (vor allem die Staatsschutz-, möglicherweise aber auch die Wirtschaftsstrafkammer) eine „besondere Bedeutung“ im staatsschutzrechtlichen Sinne für gegeben erachtet, fehlt eine dem § 209 Abs. 2 StPO entsprechende Regelung, die eine Vorlage an das Oberlandesgericht vorsieht. Welche Konsequenz sich aus dieser Fehlstelle ergibt, ist umstritten. Nach einer Ansicht ist die Bindung des Gerichts hinnehmbar, weil die Verfolgung durch die Landesstaatsanwaltschaft die (insbesondere in § 74a Abs. 1 GVG normierte)

Sowada (Fn. 10), S. 531 ff. BVerfGE 9, 223 ff.; Fezer (Fn. 20), 9/46, 76 ff.; Meyer-Goßner (Fn. 11), § 24 GVG Rn. 9. 27 Die Änderung des § 209 StPO durch das StPÄG 1964 sollte zum Ausdruck bringen, dass das Gericht an die staatsanwaltschaftliche Beurteilung nicht gebunden ist; vgl. Kleinknecht JZ 1965, 153 (159); Moller MDR 1966, 100 ff. Kritisch dazu, dass eine sprachliche Klarstellung des § 24 GVG trotz mehrfacher Änderungen weiterhin fehlt, Achenbach, FS Wassermann (1985), S. 850. 25 26

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Regel darstelle und es ausreiche, wenn die hiervon abweichende Ausnahme (vgl. § 74a Abs. 2 GVG) der gerichtlichen Überprüfung unterliege.28 Andere Autoren halten § 120 Abs. 2 GVG wegen dieser Lücke im Kontrollsystem für verfassungswidrig.29 Vorzugswürdig erscheint es hingegen (auch gegenüber dem unökonomischen und den Angeklagten unzumutbar belastenden Vorschlag einer nachträglichen Kontrolle erst durch das Revisionsgericht)30, mit der im Vordringen befindlichen Auffassung die Regelung des § 209 Abs. 2 StPO analog anzuwenden31 und hierdurch dem Oberlandesgericht nach Vorlage die Möglichkeit zu geben, gegebenenfalls auch unabhängig von der Beurteilung durch den Generalbundesanwalt das Verfahren vor dem Staatsschutzsenat zu eröffnen. Denn es ist nicht einzusehen, warum trotz vergleichbarer dogmatischer Ausgangslage eine gegenüber § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG „halbierte“ Kontrolle als ausreichend angesehen werden sollte. Auch der für den Staatsschutzbereich hinzutretende Aspekt des Föderalismus gebietet es nicht, zur Vermeidung eines Eingriffs in die Justizhoheit des Bundes eine Vorlagesperre anzunehmen. Wenn es unter föderalen Gesichtspunkten zulässig ist, dass in den Fällen des § 120 Abs. 2 S. 2 GVG ein Verfahren vor den Gerichten des Landes ohne Anklage einer Landesstaatsanwaltschaft stattfinden darf, gilt Gleiches vice versa, wenn das (Bundesgerichtsbarkeit ausübende) Oberlandesgericht mittels einer Vorlage analog § 209 Abs. 2 StPO mit der von einer Landesstaatsanwaltschaft erhobenen Anklage befasst wird und eine „besondere Bedeutung des Falles“ bejaht. Auch der weitere Umstand, dass der Generalbundesanwalt vorliegend angesichts der „zu spät“ erfolgten Gesetzesänderung nie die Gelegenheit zur „rechtzeitigen“ Ausübung des Evokationsrechts hatte, ist insoweit ohne Bedeutung; denn die Evokation ist kein subjektives Recht des Generalbundesanwalts, das ihm in jedem Fall – notfalls auch nachträglich – gewährt werden müsste. Die analoge Anwendung des § 209 Abs. 2 StPO verhindert, dass die Staatsanwaltschaft die sachliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts ausschließt; sie verwirklicht damit das aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG abgeleitete Gebot umfassender gerichtlicher Kontrolle der „beweglichen“

Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, 3. Aufl. (1999), § 74a Rn. 3. Dencker StV 1987, 117 (118 f.); ders. KJ 1987, 36 (52 f.); wohl auch Eisenberg NStZ 1996, 263 (264 f.); vgl. auch Kühl NJW 1987, 737 (747). 30 Hierfür LR/Rieß (Fn. 15), § 209 Rn. 50; ders. GA 1976, 1 (9, 21); vgl. hiergegen Sowada (Fn. 10), S. 673 f. 31 Beckmann, Auswirkungen der Reform von § 129a StGB und § 120 Abs. 2 GVG (1989), S. 82 ff., 90; Kissel/Mayer/Mayer (Fn. 11), § 120 Rn. 7b; Sowada (Fn. 10), S. 671 ff., 674 f.; SK-StPO/Wohlers (Fn. 11), § 142a GVG Rn. 28. Grundsätzlich ebenso Achenbach, FS Wassermann (1985), S. 853 (Fn. 25); Müller/Sax/Paulus, GVG, 7. Aufl. (1981), § 74a Rn. 8. 28 29

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Zuständigkeit und vermeidet das Verdikt der Verfassungswidrigkeit des § 120 Abs. 2 GVG. 3. Damit ist als ein erstes Zwischenergebnis festzuhalten: Eine Ausübung des Evokationsrechts nach der Eröffnung des Hauptverfahrens ist ausgeschlossen. Nach der hier vertretenen Ansicht ist die Evokation für die sachliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts nicht konstitutiv. Deshalb ist eine Zuständigkeitsverschiebung gemäß §§ 225a, 270 StPO an den Staatsschutzsenat weder von vornherein ausgeschlossen noch infolge nachträglich erklärter Evokation zulässig. Vielmehr kommt grundsätzlich eine derartige Veränderung der sachlichen Zuständigkeit unabhängig von der Beurteilung durch den (anzuhörenden)32 Generalbundesanwalt unter der Voraussetzung in Betracht, dass seitens des mit der Sache befassten Gerichts die Voraussetzungen des § 120 Abs. 2 GVG (einschließlich der staatsschutzrechtlichen „besonderen Bedeutung des Falles“) gegeben sind.

II. Im Zentrum des Interesses steht damit die Frage, ob durch die Erweiterung des § 120 Abs. 2 GVG die Zuständigkeit des Landgerichts entfallen ist. Die Beantwortung dieser Frage ist auch dann von entscheidender Bedeutung, wenn man entgegen der hier vertretenen Ansicht in der Ausübung des Evokationsrechts eine unabdingbare Voraussetzung für die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts nach dieser Vorschrift sieht. Denn auch unter dieser Prämisse ist für eine nachträgliche Evokationsentscheidung allenfalls Raum, wenn es ihrer tatsächlich zur Bestimmung des gesetzlichen Richters bedarf, weil die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts durch die Gesetzesänderung beendet wurde. 1. Hiergegen bestehen jedoch erhebliche Zweifel im Hinblick auf den Gesichtspunkt der Zuständigkeitsperpetuierung. Nach der in Rechtsprechung33 und Schrifttum34 zur „beweglichen“ Zuständigkeit gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 3

Vgl. LR/Gollwitzer, 25. Aufl. (1997), § 225a Rn. 17; KK-StPO/Tolksdorf, 5. Aufl. (2003), § 225a Rn. 9. 33 BGH GA 1980, 220; 1981, 321 mit Anm. Rieß; BGHSt 47, 16 (21); vgl. auch – zur Straferwartung – BayObLG NStZ 1985, 470 mit Anm. Achenbach; OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 338 f.; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 222 f. 34 KK-StPO/Hannich (Fn. 11), § 24 GVG Rn. 12; Katholnigg (Fn. 28), § 24 Rn. 6; Kissel/Mayer/Mayer (Fn. 11), § 24 Rn. 20; Meyer-Goßner (Fn. 11), § 24 GVG Rn. 10; Pfeiffer, StPO, 5. Aufl. (2005), § 225a Rn. 2; LR/Rieß (Fn. 15), § 209 Rn. 48 f.; ders. NStZ 2003, 49; 32

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GVG ganz überwiegend vertretenen Auffassung endet mit dem Eröffnungsbeschluss grundsätzlich die gerichtliche Nachprüfung des Merkmals der „besonderen Bedeutung des Falles“ mit der Folge, dass bei einer späteren Änderung der Beurteilung eine Verweisung gemäß § 270 StPO ebenso wenig in Betracht kommt wie eine Vorlage gemäß § 225a StPO. Etwas anderes soll mit Blick auf die Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nur in jenen Fällen gelten, in denen die Zuständigkeitsbeurteilung des Eröffnungsgerichts objektiv willkürlich erscheint, d.h. wenn sich die Entscheidung eines Gerichts bei der Auslegung und Anwendung einer Zuständigkeitsnorm so weit von dem sie beherrschenden Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass sie nicht mehr zu rechtfertigen ist, bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist.35 Dieses Kontrollsystem besteht aus zwei Komponenten: der zeitlichen Verengung auf den Eröffnungszeitpunkt und der Reduktion des Kontrollmaßstabes auf eine bloße Willkürkontrolle. Die auch in anderen Zusammenhängen zu beobachtende Übernahme der vom BVerfG auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Prüfung entwickelten Willkürformel durch die Fachgerichte verdient insofern Kritik, als hierdurch die Einhaltung einfachgesetzlicher Vorgaben insgesamt nur noch einer Evidenzkontrolle unterworfen wird.36 Die Fokussierung auf den Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung erscheint hingegen in der Sache akzeptabel, soweit man das Kriterium der „besonderen Bedeutung des Falles“ überhaupt für mit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar erachtet (dies ist für § 120 Abs. 2 GVG zu bejahen, bezüglich des § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG hingegen – entgegen der herrschenden Ansicht – zu verneinen).37 Die dem Gericht verfassungsrechtlich aufgebürdete Pflicht zur vollständigen gerichtlichen Kontrolle der Zuständigkeit ist keine Pflicht zur fortwährenden Kontrolle. Das Bestreben, Zuständigkeitsprobleme möglichst frühzeitig abschließend zu klären, liegt auch den zuständigkeits- und besetzungsrelevanten Präklusionsvorschriften (vgl. §§ 6a, 16 und 222b StPO)

SK-StPO/Schlüchter, 12. Lfg. (1994), § 225a Rn. 7; LR/Siolek (Fn. 11), § 24 GVG Rn. 24; KK-StPO/Tolksdorf (Fn. 32), § 225a Rn. 5 (m.w.N.). 35 Vgl. BVerfGE 29, 45 (49); 82, 286 (299); BGHSt 40, 120 (122); 46, 238 (241); OLG Bremen NStZ-RR 1998, 53; Meyer-Goßner (Fn. 11), § 16 GVG Rn. 6 (m.w.N.); Sowada (Fn. 10), S. 203 f. 36 Vgl. hierzu näher Sowada (Fn. 10), S. 17 f.; 216 ff., 230 ff. Vgl. zu einem methodisch ähnlich gelagerten Problem (der „Maßstabsidentität“ von Beweisantrag und Begründung der Aufklärungsrüge) krit. Fezer, FS Meyer-Goßner (2001), S. 629, 630, 637 ff. 37 Vgl. Sowada (Fn. 10), S. 527 ff., 585 ff. (zu § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG) und S. 660 ff. (zu § 120 Abs. 2 GVG); vgl. auch a.a.O. S. 822 ff., 826.

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zugrunde.38 Bedenken ergeben sich allerdings daraus, dass die von der Rechtsprechung geschaffene und vom Schrifttum gebilligte Zuständigkeitsperpetuierung nur unvollkommen im Gesetz verankert ist. Dass ein späterer Wegfall der ursprünglich gegebenen „besonderen Bedeutung“ unbeachtlich ist, lässt sich aus § 269 StPO ableiten, der eine Verweisung an ein Gericht niederer Ordnung ausschließt. Dass umgekehrt das Tatgericht davon entbunden sein soll, permanent die recht schwer fassbare Frage der besonderen Bedeutung im Blick zu behalten und die Sache gegebenenfalls an das höherrangige Gericht zu verweisen, ist zwar justizökonomisch sinnvoll, doch handelt es sich um eine im Gesetz nicht vorgesehene Durchbrechung der §§ 6, 225a und 270 StPO.39 Unter Anwendung des Grundsatzes der Zuständigkeitsperpetuierung ergibt sich für die hier zu diskutierende Fallgestaltung, dass die Zuständigkeit des Landgerichts durch die Erweiterung des § 120 Abs. 2 GVG nicht entfallen ist, weil sich die sachliche Unzuständigkeit allein auf dem Weg über die jetzige Bejahung der „besonderen Bedeutung des Falles“ ergeben könnte, für diesen Aspekt nach Eröffnung des Hauptverfahrens aber kein Raum mehr ist. Damit fehlt zugleich die Grundlage dafür, dass der Generalbundesanwalt diese „besondere Bedeutung“ nunmehr durch Ausübung des Evokationsrechts im Verfahren sollte geltend machen können (oder sogar müssen). 2. Allerdings hat der 3. Strafsenat des BGH diese allgemeinen Grundsätze in der „Eggesin-Entscheidung“40 für den Bereich des § 120 GVG modifiziert. In jenem Verfahren hatten die Angeklagten die vom Oberlandesgericht angenommene erstinstanzliche Zuständigkeit gemäß § 120 Abs. 2 S. 1 Nr. 3a GVG angegriffen. Hierauf legt der BGH zunächst ausführlich seine Verpflichtung zur revisionsgerichtlichen Prüfung dar, der insbesondere die §§ 269 und 336 S. 2 StPO nicht entgegenstünden. In diesem Zusammenhang weist der Strafsenat darauf hin, dass bei der erstinstanzlichen Zuständigkeit eines Oberlandesgerichts gemäß § 120 Abs. 1 oder 2 GVG nicht nur die erstinstanzliche sachliche Zuständigkeit eines der Strafgerichte des hierarchischen Gerichtsaufbaus bestimmt, sondern zugleich eine Entscheidung

Vgl. hierzu Sowada (Fn. 10), S. 18 ff.; vgl. auch SK-StPO/Velten, 49. Lfg. (2006), § 21e GVG Rn. 18. 39 Zu einem eindeutigen diesbezüglichen Willen des Gesetzgebers vgl. Rieß NJW 1978, 2265 (2267 f.). 40 BGHSt 46, 238 ff. = JR 2001, 388 mit Anm. Schroeder; vgl. zu diesem Urteil auch Schaefer NJW 2001, 1626 f. und Welp NStZ 2002, 1 ff. Vgl. ferner den Beschluss desselben Senats in NStZ 2002, 447 f. („Asia-Haus“) mit Anm. Welp NStZ 2002, 609 ff. = JR 2002, 344 mit Anm. Katholnigg. 38

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über die Abgrenzung zwischen der Zuständigkeit der Bundes- und der Länderjustiz vorgenommen wird. Sodann heißt es: „Die verfassungsrechtlich gebotene Beachtung der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern schließt es … aus, daß das Oberlandesgericht nach Eröffnung des Hauptverfahrens an die fehlerhafte Bejahung seiner Zuständigkeit im Eröffnungsbeschluss gebunden ist.“41 Und weiter: „Nimmt ein Oberlandesgericht … seine Zuständigkeit an, obwohl eine solche nach § 120 Abs. 1 oder 2 GVG nicht eröffnet ist, … greift es damit unmittelbar auch in die … grundgesetzliche Kompetenzverteilung zwischen Bundes- und Landesjustiz ein. Ein derartiger Eingriff entzieht dem Verfahren als Ganzem die Grundlage. Er begründet daher ein Verfahrenshindernis (BGHSt 32, 345, 350; 36, 294, 295)“, das von Amts wegen zu beachten ist.42 Die verfahrensrechtlichen Auswirkungen dieses Befundes entfaltet der 3. Strafsenat in drei Schritten. Er stellt zunächst (1) fest, dass das Oberlandesgericht auch im Hauptverfahren die Sache in analoger Anwendung des § 209 Abs. 1 StPO an das zuständige Gericht der Landesjustiz zu verweisen hat, „wenn es nachträglich zu der Erkenntnis gelangt, daß es bei Zulassung der Anklage des Generalbundesanwalts seine sachliche Zuständigkeit zu Unrecht bejaht hat“.43 Sodann legt der Senat (2) dar, dass wegen des Grundsatzes der perpetuatio fori die Verweisung an ein anderes erstinstanzliches Gericht zu unterbleiben habe, wenn sich aufgrund später im Hauptverfahren gewonnener neuer Erkenntnisse herausstellt, dass eines der die Zuständigkeit des Bundes begründenden gesetzlichen Merkmale des § 120 Abs. 1 oder 2 GVG nicht mehr bejaht werden kann. Schließlich ergibt sich (3) für das Revisionsverfahren eine dem Bundesgerichtshof von Amts wegen obliegende Pflicht zur Prüfung, ob das Oberlandesgericht die Anklage des Generalbundesanwalts rechtsfehlerfrei zur Hauptverhandlung zugelassen hat; „abzustellen ist dabei allein auf den Sachstand im Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung“.44 3. Fragt man nach der Relevanz der „Eggesin-Entscheidung“ für die hier zu erörternde Problemlage, so ist zunächst zu konstatieren, dass die unterschiedliche Verschiebungsrichtung (dort vom Oberlandesgericht auf ein Gericht der Landesjustiz, hier die Frage einer Verschiebung zum Oberlandesgericht) einer Heranziehung der Grundsätze jenes Urteils nicht entgegensteht. Denn der tragende Gesichtspunkt ist die Wahrung der im Grund-

BGHSt 46, 238 (241). Ibid., 244 f. 43 Ibid., 246. 44 Ibid., 247 f. 41 42

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gesetz niedergelegten Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Da nach dem Willen des Verfassungsgebers Bund und Länder ihre jeweiligen Zuständigkeiten strikt zu respektieren haben,45 ist die Missachtung der Bundesjustiz (bei Übergehen der Zuständigkeit des Oberlandesgerichts) ebenso zu vermeiden wie die Missachtung der Landesjustiz (bei unrechtmäßiger Aburteilung durch das im Rahmen der Organleihe für den Bund tätige Oberlandesgericht). Bei vordergründiger Betrachtung könnte man sogar annehmen, eine Zuständigkeitsverlagerung „von unten nach oben“ – wie sie hier in Rede steht – müsste unter leichteren Voraussetzungen möglich sein, da in „aufsteigender“ Richtung § 270 StPO (bzw. § 225a StPO) gelte und damit die „Sperre“ des § 269 StPO nicht überwunden werden müsse. Dennoch wäre einer solchen These zu widersprechen: Es geht jeweils gleichermaßen um die Frage, ob – in Abweichung von der allgemein für die sachliche Zuständigkeit innerhalb der Landesjustiz geltenden Handhabung – die normativen Zuständigkeitsmerkmale auch nach Eintritt in das Hauptverfahren Gegenstand einer über den bloßen Willkürmaßstab hinausreichenden gerichtlichen Kontrolle sind. Diese Kontrollerweiterung bedarf in beiden Richtungen gleichermaßen einer dogmatischen Begründung, deren Wurzel die grundgesetzliche Kompetenzverteilung bildet. Konsequenterweise rekurriert der 3. Strafsenat auch nicht vorrangig auf den Schutz individueller Rechte (namentlich des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG), sondern auf die Wahrung der objektiven Kompetenzordnung des Grundgesetzes. Damit treten aber die allenfalls im Kontext des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG beachtlichen Unterschiede der allgemeinen Verweisungsregelungen (§§ 269 bzw. 270 StPO) in den Hintergrund. Freilich darf man die Bedeutung der „Eggesin-Entscheidung“ nicht dahingehend verwässern, dass man hierdurch im Staatsschutzbereich pauschal ein höheres Maß an Zuständigkeitskorrektur für zulässig hält. Vielmehr ist die Kernaussage dieses Grundsatzurteils im Blick zu behalten: Bei der „beweglichen“ Zuständigkeit im Staatsschutzbereich bindet ein rechtswidriger Eröffnungsbeschluss nicht; ein rechtmäßiger Eröffnungsbeschluss bewirkt hingegen eine Zuständigkeitsperpetuierung. In der Sache hat der 3. Strafsenat des BGH aus dem Kompetenzgefüge des Grundgesetzes exakt jenes Kontrollprogramm abgeleitet, das hier (zu II.1) unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Richters (insoweit über die Rechtsprechung und

45 Ibid., S. 244. Die (a.a.O., S. 245 getroffene) Feststellung, dass in der vom Oberlandesgericht kraft Organleihe ausgeübten Bundesjustiz die Landesjustiz nicht inbegriffen ist, gilt selbstverständlich ebenso in umgekehrter Richtung.

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herrschende Meinung hinausgehend) für alle Strafverfahren befürwortet wurde: eine inhaltlich vollumfängliche, d.h. nicht auf den Willkürmaßstab beschränkte und zeitlich auf den Eröffnungsbeschluss verengte Überprüfung der „beweglichen“ Zuständigkeit.46 Die hiernach zentrale Weichenstellung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Eröffnungsbeschlusses ist naturgemäß anhand der zu diesem Zeitpunkt geltenden Rechtslage zu beantworten. Weil damals für eine Bundeszuständigkeit kein Raum war, ist der Eröffnungsbeschluss rechtmäßig; hierdurch ist zugleich die Zuständigkeit der Landesjustiz bindend festgestellt und die Fortsetzung des Verfahrens vor den Landesgerichten enthält keinen Eingriff in die Justizhoheit des Bundes.47 Ob sich im Nachhinein die Tatsachen- oder aber die Gesetzeslage ändert, ist unerheblich; maßgeblich ist allein, dass die rechtmäßige Eröffnungsentscheidung die (auch durch die „Eggesin-Entscheidung“ nicht aufgehobene) Zuständigkeitsperpetuierung auslöst und eine tragfähige Basis für die (fortbestehende) Zuständigkeit der Landesjustiz bildet. 4. Zur Absicherung dieser Überlegungen bleibt zu untersuchen, ob die vom 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs herangezogene Lehre von der Zuständigkeitsperpetuierung als solche Anerkennung verdient. a) Dies ist gerade anlässlich der „Eggesin-Entscheidung“ von Welp48 bestritten worden, der die Auffassung vertritt, es gebe (von § 8 Abs. 1 StPO bezüglich der örtlichen Zuständigkeit abgesehen) für die Konstruktion einer perpetuatio fori keine Grundlage. Dem hierfür angeführten Argument, aus § 270 StPO lasse sich allenfalls das gegenteilige Prinzip entnehmen, ist entgegenzuhalten, dass der Grundsatz der perpetuori fori im hier interessierenden Kontext nicht an die Vorschrift des § 269 StPO gebunden ist, son-

Einer derartigen revisionsgerichtlichen Prüfung stünde nicht § 269 StPO entgegen, da die Bedeutung dieser Vorschrift auf das Hauptverfahren begrenzt ist (vgl. zur Gefahr, den Aussagegehalt dieser Norm zu überhöhen, Sowada [Fn. 10], S. 792 ff.). Ob § 336 S. 2 StPO entgegenstünde, hängt davon ab, wie man die Gewichte zwischen dieser Norm zu § 6 StPO verteilt. Die weitere in der „Eggesin-Entscheidung“ (BGHSt 46, 238 [246 f.]) enthaltene Aussage, dass bei erkannter Fehlerhaftigkeit des Eröffnungsbeschlusses nicht erst die Revision die Korrektur herbeiführt, sondern (unter Durchbrechung des § 269 StPO) eine Verweisung analog § 209 Abs. 1 StPO auch nach Eröffnung des Hauptverfahrens erfolgt, ist für die vorliegend maßgebliche Verschiebungsrichtung angesichts der §§ 225a und 270 StPO ohne Bedeutung. Immerhin stützt das Bemühen um eine möglichst frühzeitige Behebung von Zuständigkeitsmängeln die hier befürwortete analoge Anwendung des § 209 Abs. 2 StPO bei der Eröffnungsentscheidung (vgl. oben I. 2). 47 Vgl. BGHSt 46, 238 (247). 48 Welp NStZ 2002, 1 (4). 46

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dern die normativen Zuständigkeitsmerkmale der „besonderen Bedeutung des Falles“ und der konkreten Straferwartung unabhängig von der Richtung der Zuständigkeitsverschiebung betrifft. Dass bezüglich dieser Merkmale – von Willkürfällen abgesehen – eine Prüfungspflicht sowohl des Tatgerichts nach Eröffnung des Hauptverfahrens als auch des Revisionsgerichts nach nahezu einhellig vertretener und auch vom Gesetzgeber geteilter Meinung entfallen soll,49 beruht vor allem auf Gründen der Prozessökonomie. Denn der unbestimmte Rechtsbegriff der „besonderen Bedeutung“ unterliegt leichter Veränderungen als die „deskriptiven“ Zuständigkeitsmerkmale; er verlangt überdies eine besondere „Gesamtwürdigung“ bzw. „Gesamtabwägung“ neben der Prüfung des Verfahrensgegenstandes. Auch das Prinzip des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) fordert – wie bereits dargelegt – keine strengere Kontrolle, als der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs sie in der „Eggesin-Entscheidung“ eröffnet. Wichtig ist nicht so sehr eine möglichst lang andauernde, sondern eine (wenn auch zeitlich beschränkte) möglichst intensive Kontrolle (auch noch durch das Revisionsgericht). Die im Grundgesetz verankerte Kompetenzordnung zwischen Bund und Ländern steht einer Zuständigkeitsperpetuierung ebenfalls nicht entgegen. Nach Ansicht von Welp50 gibt es „keine perpetuatio fori, durch die eine nicht bestehende Bundeszuständigkeit begründet werden könnte“. Deshalb sei bei fehlender Bundeskompetenz nicht von § 209 StPO Gebrauch zu machen, sondern das Verfahren gemäß § 206a StPO oder § 260 Abs. 3 StPO einzustellen. Allerdings ist nicht ganz eindeutig, welche Konsequenzen Welp aus der Ablehnung einer perpetuatio fori für die umgekehrte Konstellation einer Eröffnung durch das Landesgericht ziehen will. Zum einen wäre denkbar, hier eine Verschiebung gemäß §§ 225a bzw. 270 StPO zuzulassen (weil § 270 StPO gerade das Gegenprinzip zur perpetuatio fori verkörpere); zum anderen käme auch insoweit eine Verfahrenseinstellung in Betracht (weil die gerichtliche Bundeszuständigkeit durch eine Anklage seitens des Generalbundesanwalts begründet werden müsse). Beide Varianten vermögen jedoch nicht zu überzeugen. Dass die Gerichtszuständigkeit nicht notwendigerweise durch eine Anklageerhebung auf derselben Kompetenzebene begründet sein muss, zeigt bereits die durch § 120 Abs. 2 S. 2 GVG für das Oberlandesgericht geschaffene Möglichkeit, ohne erneute Anklage der Landesstaatsanwaltschaft das Verfahren vor einem Landesge-

49 Vgl. neben den in Fn. 33 f. angegebenen Nachweisen Rieß GA 1976, 1 (11 f.) (auch zum Folgenden) sowie BT-Drs. 8/976, S. 22, 59. 50 Welp NStZ 2002, 1 (4).

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richt rechtshängig zu machen.51 Dann ist aber auch nicht einzusehen, warum einem rechtmäßigen (!) Eröffnungsbeschluss – nur darum geht es nach der Konzeption des 3. Strafsenats des BGH – nicht eine Zuständigkeitsperpetuierung für neu eintretende, an sich die Zuständigkeit verschiebende Umstände tatsächlicher oder rechtlicher Art zukommen sollte. Durch den rechtmäßigen Eröffnungsbeschluss ist in die Bundeskompetenz nicht eingegriffen worden; denn zum Zeitpunkt seines Erlasses war allein die Kompetenz des Landes gegeben. b) Für die von einem rechtmäßigen Eröffnungsbeschluss ausgehende Zuständigkeitsperpetuierung auch im Staatsschutzbereich sprechen zudem gewichtige praktische Gründe. Andernfalls dürfte sich das Revisionsgericht nicht auf eine Prüfung der „besonderen Bedeutung des Falles“ zum Eröffnungszeitpunkt beschränken, sondern müsste in allen Verfahren mit einer „beweglichen“ Staatsschutzzuständigkeit von Amts wegen nachprüfen, ob der Sache auch noch zur Zeit des tatrichterlichen Urteils eine „besondere Bedeutung“ zukam. Wenn man nicht – inkonsequenterweise – eine „ausgedünnte“ Variante der perpetuatio fori anerkennen will, müsste die gerichtliche Prüfung auch eine Vollkontrolle sein; sie dürfte sich also nicht auf eine bloße Willkürprüfung beschränken. Würde das Revisionsgericht aus seiner ex post-Perspektive die „besondere Bedeutung des Falles“ verneinen, wäre das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und die Strafsache noch einmal neu vor dem Landesgericht zu verhandeln. Freilich könnte sich zumindest in Grenzfällen52 am Ende des „zweiten Durchgangs“ ergeben, dass nach dem dann vorliegenden Bild eine „besondere Bedeutung“ wohl eher zu bejahen wäre. Hiervon abgesehen wird man, um dem Revisionsgericht die ihm obliegende Prüfung zu ermöglichen, verlangen müssen, dass das erstinstanzlich tätige Gericht in seinem Urteil darlegt, warum es im Zeitpunkt seiner Entscheidung die Voraussetzungen einer „besonderen Bedeutung des Falles“ weiterhin für (nicht) gegeben erachtet hat.53 Selbst wenn man eine Vermutung dahingehend annehmen wollte, dass die für die Eröffnungsentscheidung maßgebliche Beurteilung mangels näherer Ausführungen auch bei Abschluss des instanzgerichtlichen Verfahrens weiterhin gelten sollen,

Vgl. auch oben zu I. 2. Solche gibt es – zumal angesichts der gebotenen „Gesamtwürdigung“ – durchaus; vgl. z.B. Katholnigg JR 2002, 345 (347); Welp NStZ 2002, 609 (610) jeweils zu BGH NStZ 2002, 447 f. – „Asia-Haus“. 53 Vgl. BGHSt 46, 238 (248) zur Pflicht des Generalbundesanwalts bzw. des Oberlandesgerichts, die für die Annahme ihrer Zuständigkeit geltend gemachten Gründe aktenkundig zu machen. 51 52

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würde dies zumindest in den Fällen der während des Hauptverfahrens eintretenden Erweiterung des § 120 Abs. 2 GVG nicht greifen, da es hier im Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses überhaupt noch keine Veranlassung gab, über die Frage der „besonderen (staatsschutzrechtlichen) Bedeutung des Falles“ nachzudenken. Allgemein kommt schließlich hinzu, dass bei der Verneinung einer Zuständigkeitsperpetuierung im Verhältnis der Bundeszur Landeskompetenz in diesem Bereich auch für § 269 StPO kein Raum wäre. Das hätte zur Folge, dass bei einem vor dem Oberlandesgericht geführten erstinstanzlichen Strafverfahren eine Verweisung an das Landesgericht oder (nach Welp) eine Verfahrenseinstellung erfolgen müsste, wenn ein die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts begründendes Delikt gemäß § 154a StPO eingestellt wird. Auch wenn eine derartige Beschränkung der Verfolgung unterbleibt, sich aber der Tatverdacht bezüglich des die Bundeszuständigkeit vermittelnden Delikts in der Beweisaufnahme nicht bestätigt, müsste konsequenterweise die weitere Zuständigkeit des Oberlandesgerichts verneint werden. 5. Des Weiteren lässt sich eine Zuständigkeitsverschiebung auch nicht auf den Rechtsgedanken des § 154a Abs. 3 S. 2 StPO stützen. Nach dieser Vorschrift ist einem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Einbeziehung ausgeschiedener Tatteile oder Gesetzesverletzungen in das Verfahren zu entsprechen. Immerhin scheint diese Norm zu belegen, dass es Fälle gibt, in denen durch ein prozessuales Verhalten der Staatsanwaltschaft eine nachträgliche Änderung der sachlichen Zuständigkeit eintritt. Doch erstens stellt die Gesetzesänderung keinen Fall der Wiedereinbeziehung dar,54 und zweitens ist der Grundgedanke einer Sicherung der umfassenden gerichtlichen Kognitionspflicht hier gar nicht betroffen, da der betreffende Rechtsverstoß ohne prozessuale Intervention der Staatsanwaltschaft dem Eröffnungsbeschluss entsprechend durch das zuständige Landesgericht abgeurteilt würde. Vor allem ist (drittens) zu beachten, dass die Vorschrift des § 154a Abs. 3 StPO nicht etwa automatisch zu einer Zuständigkeitsverschiebung führt. Es handelt sich vielmehr bei der Zuständigkeitsänderung um eine „Nebenwirkung“

Als Nachtrag zu der oben (zu I. 2) diskutierten „konstitutiven“ Bedeutung der Evokation ist anzumerken, dass das Gericht, indem es die vorherige Verfolgungsbeschränkung entweder selbst vorgenommen (§ 154a Abs. 2 StPO) oder die aktenkundig gemachte Verfolgungsbeschränkung durch die Staatsanwaltschaft bei Eröffnung des Hauptverfahrens mitgetragen hat, auf das Gesamtverfahren betrachtet eine stärkere Mitwirkungsmöglichkeit hat, als es dies bei der Unersetzbarkeit der verweigerten Evokation hätte. Zu verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber § 154a StPO vgl. Sowada (Fn. 10), S. 702 ff; SK-StPO/Weßlau, 32. Lfg. (2003), § 154a Rn. 13. 54

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dieser zur Entlastung der Strafjustiz eingeführten Arznei.55 Nicht weil eine zunächst ausgeschiedene Straftat wieder einbezogen wird, ändert sich die Zuständigkeit, sondern nur dann, wenn durch die Einbeziehung die Zuständigkeit eines höherrangigen Gerichts begründet wird, erfolgt eine Verweisung. Die Norm des § 154a Abs. 3 StPO durchbricht hierbei aber nicht die zuständigkeitsperpetuierende Wirkung der normativen Zuständigkeitsmerkmale, insbesondere der „besonderen Bedeutung des Falles“. Konkret: Würde vor dem Amtsgericht ein zunächst ausgenommenes Delikt gemäß § 154a Abs. 3 StPO wieder in das Verfahren einbezogen, so würde (selbstverständlich) nicht darüber nachgedacht werden, ob der Fall nunmehr wegen der besonderen Bedeutung des Falles gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG vor das Landgericht gehört. Die Norm des § 154a StPO hebt die zuständigkeitsperpetuierende Wirkung normativer Zuständigkeitsmerkmale nicht auf, sondern beachtet sie. 6. Ergänzend ist schließlich ein Blick auf die innere Systematik des § 120 GVG zu werfen. Die Vorschrift des § 120 Abs. 1 GVG erfasst die sog. „geborenen“56 bzw. „unbedingten“57 Staatsschutzdelikte, bei denen Tatverdacht und Zuständigkeit nicht auseinanderfallen können. Hier hat der Gesetzgeber die Aburteilung dieser Taten ausschließlich in die Hände der (funktionell als Bundesgerichte tätigen) Oberlandesgerichte gelegt. Ebenso wie die Wiedereinbeziehung einer zunächst gemäß § 154a StPO ausgeschiedenen Katalogtat gemäß § 120 Abs. 1 Nr. 6 GVG zur Vorlage bzw. Verweisung gemäß §§ 225a bzw. 270 StPO führt,58 wird man dies bei einer eintretenden Gesetzesänderung annehmen müssen; denn hiermit steht fest, dass dem Landesgericht für diese Tat die Aburteilungsbefugnis fehlt. Insoweit greift auch der Gedanke der perpetuatio fori nicht ein. In diesem Zusammenhang lässt sich in der Tat davon sprechen, dass das Landesgericht nicht mehr sachlich zuständig ist, obwohl der Eröffnungsbeschluss rechtmäßig gewesen ist. Anders verhält es sich demgegenüber jedoch bei § 120 Abs. 2 GVG. Hier ist von einer „bedingten“ Zuständigkeit des Bundes auszugehen. Das bedeutet, dass die dort genannten Straftaten grundsätzlich in die Verfolgungskompetenz der Länder fallen.59 Das hinzutretende Zuständigkeitsmerkmal der

Vgl. Sowada (Fn. 10), S. 704. Nehm (Fn. 17), S. 25 f. 57 SK-StPO/Frister (Fn. 11), § 120 GVG Rn. 4, 8. 58 Vgl. BGHSt 29, 341 (344 f.) mit Anm. Dünnebier NStZ 1981, 152 f.; LR/Beulke, 25. Aufl. (2002), § 154a Rn. 16; Meyer-Goßner (Fn. 11), § 154a Rn. 17; SK-StPO/Weßlau (Fn. 54), § 154a Rn. 15. 59 Nehm (Fn. 17), S. 26. 55 56

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„besonderen Bedeutung des Falles“ ist ein „Korrektiv, das verhindert, dass bei Straftaten mit politischem Hintergrund die Regelzuständigkeit der Landesjustiz … in eine solche des Bundes verkehrt wird“60; es fungiert gleichsam als „Scharnier zwischen kleinem und großem Staatsschutz“.61 Dieses systematische Gefüge ist auch in Ansehung der Neuregelung hinsichtlich des AWG und des KWKG zu beachten. So haben im Vorfeld der Gesetzesreform Behördenvertreter des Generalbundesanwalts in literarischen Äußerungen für eine Aufnahme der Proliferationsfälle in den Zuständigkeitskatalog des § 120 Abs. 2 GVG plädiert.62 Hierbei wurde teilweise eine entsprechende Erweiterung des § 120 Abs. 1 GVG ausdrücklich abgelehnt. Sowohl aus verfassungsrechtlichen wie aus pragmatischen Gründen sollte es hiernach bei der grundsätzlich originären Zuständigkeit der Landesjustiz bleiben, die eine zügige und angemessene Erledigung der anfallenden Fälle gewährleiste.63 In den Fällen des § 120 Abs. 2 GVG im Allgemeinen und in den dort in Nr. 4 genannten Proliferationsfällen im Besonderen bezeichnet die Landeszuständigkeit mithin den Regelfall, die an das Vorliegen der „besonderen Bedeutung des Falles“ geknüpfte Bundeszuständigkeit hingegen die Ausnahme.64 Dies bedeutet eine zusätzliche Verstärkung des Befundes, dass nach Eröffnung des Hauptverfahrens erfolgende Erweiterungen des Katalogs des § 120 Abs. 2 GVG ohne zuständigkeitsändernde Wirkung sind, weil mit ihnen sowohl der bisherige Rechtszustand beibehalten als auch nach neuem Recht der Regelfall der Kompetenzverteilung zugrunde gelegt wird. Sofern der Gesetzgeber demgegenüber eine unbedingte Bundeszuständigkeit begründen will, mag er § 120 Abs. 1 GVG erweitern. Will er nicht so weit gehen, alle betreffenden Fälle dem Oberlandesgericht zuzuweisen, sollen aber dennoch auch rechtshängige Verfahren schon nach der neuen Gesetzeslage erfasst werden, wäre an eine entsprechende Übergangsregelung zu denken, die zwar nicht an Art. 103 Abs. 2 GG scheitern, aber (insbesondere beim Verdacht einer Einzelfallregelung) möglicherweise Bedenken aus Art. 101 Abs. 1 GG ausgesetzt sein könnte.65 Ohne eine sol-

Nehm (Fn. 17), S. 22 f. bezüglich § 120 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 GVG; vgl. auch Eisenberg NStZ 1996, 263 (267). 61 Schnarr MDR 1993, 589 (595). 62 Hannich, FS Nehm (2006), S. 147 ff. (auch zum Folgenden); LK/Schmidt (Fn. 4), Vor § 93 Rn. 14; Schmidt/Wolff NStZ 2006, 161 (165). 63 Hannich, FS Nehm (2006), S. 147 f. 64 S.a. oben I. 2 (zu Fn. 28). 65 Vgl. hierzu auch Sowada (Fn. 10), S. 141 ff. 60

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che besondere Regelung ist für eine Ausweitung des Evokationsrechts kein Raum. Immerhin ist mit einem Seitenblick auf die Folgen einer solchen Übergangsregelung hinzuweisen: Hierdurch würde nicht nur für besonders geeignet erscheinende Verfahren die Möglichkeit einer Zuständigkeitsverschiebung eröffnet werden, sondern mit dem Wegfall der Zuständigkeitsperpetuierung entstünde für alle im Einzugsbereich der neuen Vorschrift angesiedelten Fälle die Pflicht zur Prüfung der „besonderen Bedeutung des Falles“. Wollte man nicht (systemwidrig) den Gleichlauf zwischen § 225a StPO und § 270 StPO aufheben, so müsste auch bei einem kurz vor dem Abschluss einer aufwändigen Beweisaufnahme stehenden Verfahren eine Verweisung analog § 270 StPO erfolgen, wenn die betreffende Strafkammer die Voraussetzungen des erweiterten § 120 Abs. 2 GVG (einschließlich der „besonderen Bedeutung des Falles“) für gegeben hält. Sofern umgekehrt das Oberlandesgericht seine Zuständigkeit verneint und den Verweisungsbeschluss für unwirksam erachtet, müsste der negative Kompetenzkonflikt in analoger Anwendung der §§ 14, 19 StPO durch den Bundesgerichtshof entschieden werden.66 Schließlich müsste das Revisionsgericht von Amts wegen kontrollieren, ob in den betreffenden Strafsachen die landesgerichtliche Zuständigkeit auch nach der Gesetzesänderung fortbestand. Eine solche Prüfung ist aus den oben dargestellten Gründen nicht nur dann geboten, wenn es (unter nachträglich erklärter „Evokation“) zur Verfahrensüberleitung gekommen ist, sondern es ist ebenso zu fragen, ob sie gegebenenfalls zu Unrecht unterblieb. Die Vornahme einer solchen Prüfung dürfte im Hinblick auf das Merkmal der „besonderen Bedeutung des Falles“ jedenfalls dann höchst problematisch sein, wenn sich das Instanzgericht im Urteil nicht zu dieser Frage verhält;67 umgekehrt erschiene eine Urteilsaufhebung allein wegen der mangelnden Dokumentation der zur Verneinung der „besonderen Bedeutung“ führenden Gründe unter justizökonomischen Gesichtspunkten misslich. Es gibt mithin auch gute praktische Gründe für den Gesetzgeber, bezüglich der bereits rechtshängigen Strafverfahren die Zuständigkeitsperpetuierung beizubehalten und die Neuregelung erst für laufende und künftige Ermittlungsverfahren gelten zu lassen.

66 67

Vgl. BGHSt 45, 26 ff. mit Anm. Franke NStZ 1999, 524 ff. Vgl. BGHSt 46, 238 (248). Vgl. auch oben zu II. 4b.

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III. 1. Der Ertrag der vorstehenden Überlegungen lässt sich wie folgt zusammenfassen: Eine Ausübung des Evokationsrechts durch den Generalbundesanwalt ist nach Eröffnung des Hauptverfahrens nicht mehr möglich. Einer prinzipiell gleichwohl denkbaren Zuständigkeitsverschiebung zum Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts in den Fällen des § 120 Abs. 2 GVG steht (anders als in jenen des § 120 Abs. 1 GVG) jedoch auch bei einer nach Eröffnung des Hauptverfahrens in Kraft tretenden Erweiterung dieser Vorschrift der Grundsatz der Zuständigkeitsperpetuierung bezüglich des normativen Zuständigkeitsmerkmals der „besonderen Bedeutung des Falles“ entgegen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Grundsätze, die der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in der „Eggesin-Entscheidung“ für das Verhältnis zwischen Bundes- und Landesjustiz herausgearbeitet hat; denn hiernach bildet die Rechtmäßigkeit des Eröffnungsbeschlusses eine tragfähige Grundlage für die Zuständigkeitsperpetuierung auch im Staatsschutzbereich. Dieser Befund genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen sowohl hinsichtlich des Prinzips des gesetzlichen Richters als auch bezüglich der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Eine abweichende Beurteilung erscheint lediglich unter der Prämisse denkbar, dass man den Grundsatz der Zuständigkeitsperpetuierung de lege lata im Verhältnis des nieder- zum höherrangigen Gericht mangels einer gesetzlichen Grundlage generell ablehnt. Diese Ansicht wird allerdings heute – soweit ersichtlich – von niemandem vertreten; sie würde zudem weit über den Staatsschutzkontext hinausreichen und auch im Bereich der allgemeinen Kriminalität für Instanz- und Revisionsgerichte gleichermaßen die (fortwährende) Pflicht zur Prüfung aller für die sachliche Zuständigkeit eines Gerichts höherer Ordnung maßgeblichen Umstände statuieren. Diese formale Strenge würde dem in § 6 StPO niedergelegten Grundsatz der von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung der sachlichen Zuständigkeit entsprechen, der in der Verschiebungsrichtung „von unten nach oben“ nicht (wie umgekehrt durch § 269 StPO) durch eine ausdrückliche Gesetzesnorm eingeschränkt ist. Die Konsequenz wäre allerdings ein beträchtlicher justizieller Mehraufwand bei Tat- und Rechtsmittelgerichten (bis der Gesetzgeber vermutlich die von ihm gewollte,68 heute stillschweigend praktizierte Zuständigkeitsperpetuierung in Gesetzesform gegossen hätte). 2. a) Nachtrag: Nach Abschluss dieses Beitrags hat das OLG Stuttgart in der Strafsache, die den Anstoß für diesen Aufsatz gegeben hatte, die Über-

68

Vgl. Fn. 49.

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nahme des zuvor bei der Wirtschaftsstrafkammer des LG Mannheim rechtshängigen Verfahrens gemäß § 225a StPO beschlossen.69 Der Strafsenat stimmt mit der hier vertretenen Auffassung insoweit überein, als eine Ausübung des Evokationsrechts durch den Generalbundesanwalt nach Erlass des Eröffnungsbeschlusses nicht mehr möglich ist und die von der bisherigen Rechtsprechung angenommenen Durchbrechungen der perpetuatio fori (willkürliche Annahme der Zuständigkeit bzw. rechtswidrige Beurteilung der Zuständigkeit im Eröffnungsbeschluss) hier nicht vorliegen. Dennoch gelangt der Staatsschutzsenat zur Übernahme des Verfahrens, weil die für die perpetuatio fori maßgebenden Gründe seiner Meinung nach hier nicht gelten. Hierfür werden folgende Argumente angeführt: (1) Die Feststellung, dass die Prüfung mit dem Eröffnungsbeschluss ende, setze voraus, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt stattgefunden habe; dies sei hier wegen der erst später erfolgten Gesetzesänderung nicht möglich gewesen. „Deshalb kann und muss die ‚besondere Bedeutung’ jetzt erstmals geprüft werden.“ (2) Prozesswirtschaftliche Gründe sprächen nicht gegen eine Übernahme der Sache, da die ausgesetzte Hauptverhandlung ohnehin von Neuem beginnen müsse. (3) Für die Berücksichtigung der „besonderen Bedeutung“ spreche auch, dass es sich bei der Entscheidung nach § 225a StPO um eine Ergänzung des Eröffnungsbeschlusses handele. (4) Ihrem materiellen Inhalt nach falle die Sache nunmehr in den Bereich der Bundeszuständigkeit. Aus der Verpflichtung zur Wahrung der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern folge, dass die perpetuatio fori einer Verfahrensübernahme nicht entgegenstehe, wenn die für eine Beibehaltung einer einmal bestimmten Zuständigkeit sprechenden Gründe nicht mehr tragend seien. Da zudem der Generalbundesanwalt zweifelsohne von seinem Evokationsrecht Gebrauch gemacht hätte, gebiete eine verfassungskonforme Auslegung des neuen Verfahrensrechts die Übernahme. (5) Dass die „besondere Bedeutung des Falles“ nach dem Eröffnungsbeschluss geprüft werden müsse, wenn es bis zum Eröffnungsbeschluss nicht geprüft werden konnte, zeige auch die Situation des Revisionsgerichts bei einer Zurückverweisung gemäß § 354 Abs. 3 StPO.70 (6) Schließlich sei zu bedenken, dass der Eröffnungsbeschluss bei einer Aufnahme der Tatbestände des AWG und des KWKG in § 120 Abs. 1 GVG keine die Zuständigkeit festschreibende Wirkung entfal-

OLG Stuttgart, Beschluss vom 30.10.2007, 4–3 StE 1/07. Vgl. auch Fn. 9. Hierbei nennt das OLG Stuttgart (ibid., S. 20 f.) das Beispiel, dass nach Aufhebung des Schuldspruchs wegen versuchten Totschlags die Sache zur Neufestsetzung der Rechtsfolgen hinsichtlich des verbleibenden § 223 StGB an das Amts- oder (unter Berücksichtigung des § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG) an das Landgericht erfolgen könne. 69 70

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tet hätte. Nichts anderes könne aber in der vorliegenden Situation gelten, wenn der Gesetzgeber eine „bewegliche“ Zuständigkeit einführt. b) Diese Argumente, die das Oberlandesgericht dazu führen, erst seiner Übernahmeentscheidung eine zuständigkeitsperpetuierende Wirkung beizulegen, beeindrucken allenfalls durch ihre Zahl, nicht aber in ihrem dogmatischen Gehalt. Im Einzelnen: Aus dem Umstand, dass jetzt erstmals eine Prüfung der „besonderen Bedeutung“ möglich wäre, lässt sich nicht ableiten, dass sie deshalb jetzt auch erfolgen müsse. Diese in einem Atemzug vorgetragene Gleichsetzung („deshalb kann und muss …“) missachtet die bereits auf David Hume zurückgehende Feststellung, dass von einem Sein nicht auf ein Sollen geschlossen werden darf. Ob im laufenden erstinstanzlichen Verfahren eine Zuständigkeitsbeurteilung bezüglich der „beweglichen“ Zuständigkeitsmerkmale unter Durchbrechung der perpetuatio fori erfolgen darf (und muss), ist gerade die Frage; dass eine frühere Prüfung nicht möglich ist, besagt hierüber nichts. Dass sein muss, was sein kann, ist letztlich ebenso wenig überzeugend wie die Logik von Christian Morgensterns Palmström, nach der nicht sein kann, was nicht sein darf. In gleicher Weise ist der Hinweis, prozesswirtschaftliche Gründe sprächen nicht gegen eine Übernahme, noch kein Argument für die Zuständigkeitsverschiebung. Hiervon abgesehen sind beide Fortsetzungsalternativen auch nicht völlig kostenneutral, da sich die Richter des Staatsschutzsenats neu in den Fall einarbeiten müssen, während die Berufsrichter der Wirtschaftsstrafkammer mit der Strafsache bereits vertraut sind. Wäre das Bevorstehen einer vollständigen neuen Beweisaufnahme ein beachtliches Argument, so müsste dies konsequenterweise stets dazu führen, die zuständigkeitsperpetuierende Wirkung nur während einer laufenden Hauptverhandlung anzuerkennen. Ganz allgemein werden die normativen Zuständigkeitsmerkmale aber sowohl im Rahmen des § 270 StPO als auch bezüglich des § 225a StPO einer Prüfung entzogen. Würde das OLG Stuttgart diese Parallelität anerkennen, fiele das Argument der Prozesswirtschaftlichkeit (als hier nur „zufällig“ zutage tretender Umstand) in sich zusammen. Sieht es hierin hingegen eine echte Voraussetzung für die Übernahme, müsste es die Abkehr von der allgemein herrschenden einheitlichen Betrachtungsweise darlegen und begründen. Auch die „EggesinEntscheidung“ enthält keinen entsprechenden Vorbehalt; der Grundgedanke dieses Urteils, wonach ein rechtmäßiger Eröffnungsbeschluss eine hinreichende Grundlage für die Zuständigkeitsfestlegung darstellt, gilt aber unabhängig von der Frage, ob die Hauptverhandlung gerade läuft oder ausgesetzt ist. Auch das Argument, die Entscheidung nach § 225a Abs. 1 StPO stelle der Sache nach eine Ergänzung des Eröffnungsbeschlusses dar, trägt nicht.

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Erstens geht es gerade um die Zulässigkeit eines solchen Beschlusses;71 zweitens würde mit der Gleichsetzung die Zuständigkeitsperpetuierung vor Beginn der Hauptverhandlung (bzw. nach deren Aussetzung) überhaupt aus den Angeln gehoben. Dass die Sache nach ihrem sachlichen Gehalt nunmehr in die Bundesgerichtsbarkeit fällt, bedeutet lediglich, dass die Voraussetzungen des § 120 Abs. 2 Nr. 4 GVG n.F. erfüllt sind. Dies stellt aber nur eine notwendige, nicht hingegen eine hinreichende Bedingung für eine Zuständigkeitsverschiebung dar. Auch die hypothetische Bemerkung, dass der Generalbundesanwalt gewiss sein Evokationsrecht ausgeübt hätte, ist ohne Bedeutung. Bei der Zuständigkeitsperpetuierung handelt es sich ebenso wie bei den Präklusionsvorschriften um ein abstraktes Regelungsmodell, bei dem es unerheblich ist, ob das Merkmal der „besonderen Bedeutung des Falles“ eindeutig gegeben ist oder zweifelhaft erscheint. Unergiebig ist ferner der Hinweis auf die gegebenenfalls erstmalige Prüfung der „besonderen Bedeutung des Falles“ durch das Revisionsgericht bei einer Zurückverweisung gemäß § 354 Abs. 3 StPO. Die Zuständigkeitsperpetuierung gilt für das Hauptverfahren. Für das Revisionsgericht ist sie nur insofern bedeutsam, als das Unterbleiben einer Zuständigkeitsverschiebung gemäß § 225a StPO bzw. § 270 StPO keine zur Urteilsaufhebung führende Gesetzesverletzung darstellt, soweit es um eine Veränderung normativer Zuständigkeitsmerkmale geht. Wenn aber das instanzgerichtliche Urteil aus einem anderen Grund aufgehoben wird, ist das Revisionsgericht im Rahmen des § 354 Abs. 3 StPO nicht an den Eröffnungsbeschluss gebunden; vielmehr entspricht seine eigene Stellung der des Beschwerdegerichts in den Fällen des § 210 Abs. 3 StPO.72 Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass das Revisionsgericht bei Verneinung der „besonderen Bedeutung“ eine Strafsache auch dann an das Amtsgericht zurückverweisen kann, wenn sie ursprünglich vor der großen Strafkammer eröffnet worden war. Das Revisionsgericht unterliegt im Rahmen des § 354 Abs. 3 StPO also generell nicht dem Grundsatz der Zuständigkeitsperpetuierung, während dieser Grundsatz umgekehrt von den Gerichten im Hauptverfahren zu beachten ist. Damit ist der Hinweis auf das Revisionsgericht aber nicht geeignet, die im Hauptverfahren bestehende Bindung an die im Eröffnungsbeschluss vorgenommene

71 Bezeichnenderweise wird in der vom Oberlandesgericht ([Fn. 69], S. 20) in Bezug genommene Kommentarstelle (KK-StPO/Tolksdorf, 5. Aufl. [2003], § 225a Rn. 15) eine förmliche Zustellung des Übernahmebeschlusses verlangt, weil er den Eröffnungsbeschluss jedenfalls insoweit ergänzt, als sich das dort genannte Gericht für unzuständig erklärt. Auch insoweit stellt der Senat die Dinge auf den Kopf, indem er aus einer Rechtsfolge (Zustellung) einer Entscheidung auf ihre Zulässigkeit schließt. 72 Vgl. Sowada (Fn. 10), S. 789 ff., 794 f.; SK-StPO/Wohlers, 47. Lfg. (2006), § 354 Rn. 72.

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Beurteilung der normativen Zuständigkeitsmerkmale abzustreifen. Noch einmal: Das Revisionsgericht darf nicht ausnahmsweise zur erstmaligen Bestimmung der „besonderen Bedeutung“ die perpetuatio fori durchbrechen, sondern es ist an diesen Grundsatz von vornherein nicht gebunden. Deshalb gibt diese Situation für die Rechtslage bei § 225a StPO nichts her. Geradezu befremdlich ist das Argument, weil bei einer Ergänzung des § 120 Abs. 1 GVG eine Übernahme zulässig wäre, könne nichts anderes gelten, wenn der Gesetzgeber eine „bewegliche“ Zuständigkeit einführt. Hier wird der systematische Unterschied, der sich aus dem normativen Gefüge des § 120 GVG ergibt, offen missachtet. Wohl niemand käme auf die Idee, für künftige Fälle die Evokation für entbehrlich zu halten, weil der Gesetzgeber die Bestimmungen des AWG und des KWKG auch im ersten Absatz des § 120 GVG hätte einstellen können. Jede „bewegliche“ Zuständigkeitsregelung hätte prinzipiell auch unter Weglassung des Merkmals der „besonderen Bedeutung des Falles“ erfolgen können. Wenn man diese hypothetische legislatorische Alternative für beachtlich hält, bedeutet dies die vollständige Aufgabe der Zuständigkeitsperpetuierung (nicht nur im Staatsschutzkontext), die auch das OLG Stuttgart vermutlich nicht will. Dann muss man aber die gesetzgeberische Regelungsform ernst nehmen und die sich hieraus ergebenden systematischen Konsequenzen beachten.

IV. Weisen alle Befunde in dieselbe Richtung, so eröffnet sich eine weitere, über die dogmatische Fragestellung hinausweisende Dimension, wenn man danach fragt, warum von staatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Seite gleichwohl eine Zuständigkeitsverlagerung auch schon während der ausgesetzten Hauptverhandlung angestrebt bzw. durchgeführt wurde. Man wird als Motiv hierfür Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte annehmen dürfen: Mit dem konkreten Verfahren war der Generalbundesanwalt bereits befasst und vertraut, es diente geradezu als Prototyp solcher Fälle, für die eine Erweiterung des Evokationsrechts gefordert wurde. Aus diesem Blickwinkel mag es sachgerecht und vernünftig erscheinen, wenn in derartigen Fällen die Verfolgungsübernahme ungeachtet der zwischenzeitlich erfolgten Eröffnung des Hauptverfahrens ermöglicht wird. Das gilt umso mehr, als nach der Aussetzung des Verfahrens ohnehin eine neue Hauptverhandlung durchgeführt werden muss, die dann auch schon beim eigentlich „richtigen“ Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts stattfinden könnte. Mögen hinter der Zuständigkeitsperpetuierung auch abstrakte Zweckmäßigkeitserwägungen (Entlastung der Strafjustiz) stehen, so werden sie doch vorliegend – in den Augen der Justizbehörden – überlagert von den konkreten Zweckmäßig-

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keitsüberlegungen, die in Ansehung des speziellen Einzelfalls für dessen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht sprechen. Damit ist der Blick auf das prinzipielle Spannungsverhältnis zwischen Formalismus und Pragmatismus gelenkt, das weite Teile des Strafverfahrensrechts bestimmt. In besonderer Weise gilt dies für das Prinzip des gesetzlichen Richters, das aus Praktikersicht oft „überstrapaziert“73 oder gar „zu Tode geritten“74 wird. Aus dieser Grundhaltung heraus werden formale Prinzipien als lästige Hemmnisse betrachtet, die eine effektiv und sachgerecht erscheinende Behandlung der einzelnen Fälle erschweren. Selbst das folgenorientierte Argument der Auswirkungen auf andere Fälle fruchtet hier wenig; denn in Wahrheit geht es darum, sich einen flexiblen Umgang mit der Zuständigkeitsfrage zu erhalten und auf diese Weise Verschiebungen nur dort zu bewirken, wo sie einem sachgerecht erscheinen. Hierzu ist allgemein festzustellen: In unserem Verfassungsmodell ist der „gesetzliche“ Richter nicht der (nach welchen und wessen Maßstäben?) am besten „geeignete“, sondern der aufgrund eines abstrakt-generellen Normensystems blindlings, d.h. unabhängig von einem einzelfallbezogenen menschlichen Willensakt gleichsam „zufällig“ zur Entscheidung berufene Richter.75 Im Kontext des Staatsschutzes ist überdies zu bedenken, dass das Evokationsrecht einer zentral organisierten Exekutivbehörde eine erhebliche Machtposition zuweist und dass in Staatsschutzsachen der politische Argwohn besonders wach und deshalb schon der Anschein etwaiger Steuerungsmaßnahmen nach Möglichkeit peinlich genau zu vermeiden ist.76 Auch unter diesem Vorzeichen geht es nicht darum, von einer angestoßenen Gesetzesänderung in einem besonders geeignet erscheinenden Verfahren schon „profitieren“ zu können, sondern um eine gleichmäßige Rechtsanwendung in allen einschlägigen Fällen. Dem Rechtsstaatsgedanken entspricht allgemein die Perspektive des Misstrauens gegen die Ausübung staatlicher Macht, und die (sei es auch begründete) Hoffnung auf die Charakterfestigkeit der beteiligten Personen bietet aus prinzipiellen Gründen keinen hinreichenden Ersatz für etwaige Mängel des Systems.77 Deshalb gilt es, den Wert der schützenden Formen im Strafverfahren gegen jene Erosionstendenzen zu verteidigen, die im Interesse der Effektivität und Funktionstüchtigkeit das Gepräge des Straf-

Vgl. Kissel StV 1993, 398 f. Vgl. Foth JZ 1993, 942; ebenso bereits Schalscha DRiZ 1960, 16; Staiger JR 1978, 434: Vgl. auch die Zusammenstellung ähnlicher Formulierungen bei Sowada (Fn. 10), S. 82. 75 Sowada (Fn. 10), S. 820; vgl. ferner a.a.O. S. 103 f, 421, 811 ff; 833. 76 Sowada (Fn. 10), S. 667; Woesner NJW 1961, 533 (534). 77 Sowada (Fn. 10), S. 91 ff.; zum Folgenden auch a.a.O. S. 6 f. und 120 ff. 73 74

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prozesses nachhaltig erschüttert haben. Dieses Anliegen ist auch im Werk von Gerhard Fezer deutlich erkennbar,78 dem das Strafprozessrecht viele scharfsinnige Analysen und wertvolle Einsichten verdankt.

Vgl. (zur Zurückdrängung der Verfahrensrüge und zur Etablierung der Darstellungsprüfung durch die Revisionsgerichte) Fezer, FS Hanack (1999), S. 349 ff.; sowie („zur fortschreitenden Relativierung der Verfahrensvorschriften durch den BGH“) jüngst ders. FS Otto (2007), S. 901 ff.; vgl. ferner Mehle, FS Dahs (2005), S. 381 ff. 78

III. Beweisgewinnung und -verwertung

Zeugenschutzprogramme und Wahrheitsermittlung im Strafprozess ULRICH EISENBERG

Die Wahrheitsermittlung und insbesondere die Aussagepflicht des Zeugen im Strafprozess stehen seit jeher in einem Spannungsverhältnis mit (vorgeblichen oder tatsächlichen) Schutzbelangen bezüglich des Zeugen als Individuum einerseits und Geheimhaltungsinteressen öffentlicher Art andererseits, wozu der Jubilar in seltener Kontinuität und Konsistenz anlässlich von Aufsätzen und Anmerkungen zu Judikaten wie auch in seinen „Grundfragen der Beweisverwertungsverbote“ immer wieder Position bezogen hat. In jüngerer Zeit hat der Gesetzgeber verschiedene spezielle Regelungen betreffend Schutzbelange von Zeugen eingeführt,1 von denen bislang nur einzelne – und davon vor allem die Videovernehmung – Gegenstand vielfältiger wissenschaftlicher Auseinandersetzung waren. Weniger häufig beleuchtet ist hingegen, wie sich Zeugenschutzprogramme – idealiter im Sinne polizeilicher Maßnahmen der Gefahrenabwehr zum Schutz von gefährdeten Zeugen – zum System des Strafprozesses verhalten und speziell auf die Pflicht zur Wahrheitsermittlung auswirken, obgleich solche Programme bereits seit geraumer Zeit durchgeführt werden2 und mit dem Inkrafttreten des ZSHG (= Zeugenschutz-Harmonisierungsgesetz) zum 31.12.20013 eine gesetzliche Regelung dazu vorliegt,4 die im Übrigen durch einschlägige Verwaltungsvorschriften5 konkretisiert worden ist.

Verwiesen sei hier nur auf die Regelungen des ZSchG vom 30.4.1998, BGBl. I S. 820, sowie des OpferRRG vom 24.6.2004, BGBl. I S. 1354. Zusf. zur legislatorischen Tätigkeit in diesem Bereich Caesar NJW 1998, 2313 (2314 ff.); krit. speziell zu solchen bezüglich (mutmaßlichen) Geschädigten Schork Jura 2003, 304. 2 In den Jahren 1995 bis 2000 z.B. seien pro Jahr durchschnittlich etwa 650 Zeugenschutzfälle bearbeitet worden (BT-Drs. 14/646, S. 8), wobei die Anzahl der dabei erfassten Zeugenpersonen deutlich höher liege (vgl. Jarvers/Kinzig MschrKrim 2001, 439 (446): 800–900 jährlich). 3 Gesetz vom 11.12.2001, BGBl. I S. 3510 und dazu etwa Soiné/Engelke NJW 2002, 470 ff.; Hilger, FS Gössel (2002), S. 605 ff. 1

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Strafprozessual ist einerseits von Interesse, ob und ggf. welche Gefahren sich rechtstatsächlich aus dem Bestehen von Zeugenschutzprogrammen für die Wahrheitsermittlung ergeben, etwa durch eine Beeinflussung oder gar Instrumentalisierung von Zeugen. Andererseits stellt sich die Frage, wie mit Geheimhaltungsinteressen umzugehen ist, die der Aufnahme in Zeugenschutzprogramme entsprechen, d.h. wie diese mit der Pflicht zur Wahrheitsermittlung (§ 244 Abs. 2 StPO) und speziell den Beteiligungsrechten des Angeklagten in Ausgleich zu bringen sind.

I. Das ZSHG als Ausdruck eines Wandels von Zeugenrolle bzw. strafprozessualer Kompetenzverteilung Die Rolle des Zeugen als persönliches Beweismittel im Strafverfahren hat sich gerade auch im Rahmen der vorerwähnten gesetzlichen Regelungen aus jüngerer Zeit in gewissem Ausmaß gewandelt6. Zwar kommt der Zeugenaussage quantitativ nach wie vor überragende Bedeutung im Verhältnis zu sonstigen Beweismitteln zu und bestehen die hinreichend bekannten Fehlerquellen dieses Beweismittels im Wesentlichen fort. Verändert hat sich jedoch das Verständnis von der Person des Zeugen als Beteiligter im Strafprozess, und zwar teilweise genährt von der Rolle derjenigen Zeugen, die zugleich (mutmaßliche) Geschädigte sind, wobei – für einzelne Strömungen von Frauenpolitik wie innerhalb der Massenmedien attraktiven, jedoch – statistisch unbedeutenden Deliktsgruppen erhebliche Bedeutung zukommt. War das Verständnis im klassischen Sinn von der Funktion des Zeugen für die Wahrheitsermittlung geprägt, so wird dieser zunehmend als ein Subjekt des Strafverfahrens angesehen, wobei sich das Verhältnis von Rechten und Pflichten zugunsten ersterer verschoben hat und unverkennbar Elemente eines Parteienprozesses eingedrungen sind7. Im Speziellen ist das ZSHG in gesteigertem Maße geeignet, den Ausgleich zwischen Zeugeninteressen und Interessen (mutmaßlich) Geschädig-

4 Zum Verhältnis und ggf. gegenseitigen Ausschluss der strafprozessualen Schutzregelungen und Zeugenschutzprogrammen Hohnel NJW 2004, 1356 ff. 5 Vgl. zuletzt Gemeinsame Richtlinien der Innenminister/-senatoren und der Justizministerinnen und Justizminister des Bundes und der Länder zum Schutz gefährdeter Zeugen vom 17.2.2003 (VS). 6 Zur Ausweitung gerichtlicher Schutz- und Fürsorgepflichten zusf. Beulke, Strafprozessrecht, 9. Aufl. (2006), Rn. 196a, 430 ff.; vgl. auch schon Caesar NJW 1998, 2313 (2313 f.), unter Reklamation einer Notwendigkeit für die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege. 7 Vgl. statt vieler Beispiele etwa § 58a Abs. 3 StPO i.d.F. gemäß OpferRRG.

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ter bzw. im Hintergrund wirkender Strategien der Exekutive einerseits und Beschuldigteninteressen andererseits ins Wanken zu bringen.8 Das Gesetz lässt sich als Ausdruck eines grundlegenderen Wandels strafprozessualer Kompetenzverteilung oder gar (auch) einer symbolisch und populistisch agierenden Kriminalpolitik begreifen.9

1. Zur Entstehungsgeschichte des ZSHG Gemäß dem Erkenntnisstand der Gesetzgebungslehre im Allgemeinen findet bei der Auswahl von Regelungsproblemen und deren Bearbeitung im Rahmen legislatorischer Tätigkeit der Einfluss bestimmter Interessengruppen Berücksichtigung bzw. ist eine gewisse Macht erforderlich, um ein Thema auf die politische Agenda zu setzen und dessen Ausgestaltung zu beeinflussen. In diesem Sinne haben bei der Ausgestaltung des ZSHG neben wahltaktischen Erwägungen und der Lobbyarbeit durch mancherlei Opferschutzverbände auch Interessen der strafverfolgenden Exekutive eingewirkt, mit der Folge, dass das ZSHG durchaus Effektivierungsbemühungen und Befugnisausweitungen zugunsten dieser nachgekommen ist. Denn das Gesetz weist, neben seiner symbolischen Wirkung sowie der intendierten und erreichten Möglichkeit einschlägigen Zeugenschutzes, aus organisationssoziologischer Perspektive eine erhebliche Attraktivität bezüglich der Schaffung von Stellen und Zuweisung diesbezüglicher Mittel auf. Andererseits ist das Regelwerk insofern von Bedeutung, als Polizei und StA nunmehr auf gesetzlicher Grundlage Zeugenschutzmaßnahmen verfahrenstaktisch einsetzen und Konflikte (als Vorstufe von Prozessen der Machtbildung) schaffen können – etwa indem sie (Mit-)Beschuldigten Anreize bieten, gegeneinander auszusagen. Hierfür spricht insbesondere der Verzicht sowohl auf eine Beschränkung auf bestimmte Deliktsgruppen10 als auch auf eine Verpflichtung zur organisatorischen Trennung von Strafverfolgung und Zeugenschutz (nebst der in die gleiche Richtung gehenden Ausgestaltung der bezüglich des Zeugenschutzes erlassenen Richtlinien, vgl. Fn. 5). Demgegenüber entsprach es vor Verabschiedung des ZSHG allgemeiner Auffassung, dass – zwecks Vorbeugung der Möglichkeit der Beeinflussung

S.a. Schünemann StV 1998, 391 (393), 400 f.; Walther JZ 2004, 1107 (1108). Vgl. dazu näher Singelnstein/Stolle, Die Sicherheitsgesellschaft, 2. Aufl. (2008), S. 57 ff. 10 So ausdrücklich z.B. der Gesetzentwurf des Landes Rheinland-Pfalz, demzufolge das ZSHG nur bei dem Verdacht schwerer Straftaten, insbesondere solcher, die als terroristisch bzw als sog. „Organisisierter Kriminalität“ zugehörig beurteilt werden, Anwendung finden sollte (BT-Drs. 458/98, S. 1). 8 9

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von Zeugen – Zeugenschutzdienststellen und polizeiliche Sachbearbeitung strikt voneinander zu trennen sind.11 In diesem Sinne war bspw. in der Begründung zum Gesetzentwurf des Landes Rheinland-Pfalz (für das ZSHG) die Formulierung zu finden, dass durch Maßnahmen des Zeugenschutzes die Zeugenaussage nicht beeinflusst werden dürfe und daher Zeugenschutzdienststelle und ermittlungsführende Dienststelle voneinander zu trennen seien.12 Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens traten die genannten Aspekte jedoch zunehmend in den Hintergrund. Bereits nach den Empfehlungen der Ausschüsse wurde von einer strikten Trennungsregelung abgerückt,13 so dass nun gemäß der Gesetzesbegründung Zeugenschutzdienststellen nur noch in der Regel organisatorisch von den Ermittlungsbehörden zu trennen sind.14

2. Folgerungen So sehr das Anliegen eines effektiven Schutzes solcher Personen, die im Sinne der Vorgaben des ZSHG tatsächlich gefährdet sind, zu unterstützen ist und für die Wahrheitsfindung insofern dienlich ist, als die Aussagebereitschaft solcher Zeugen gefördert wird, entspricht das ZSHG (in spezieller Ausgestaltung) dem gesetzgeberischen Modell einer Diskrepanz zwischen formuliertem und tatsächlichem Gesetzesziel.15 Zu besorgen ist im Extrem z.B., dass als notwendig erachtete oder (nur) als notwendig dargestellte Schutzmaßnahmen etwa infolge verfahrenstaktischen Einsatzes gar auch solchen Personen zugute kommen, die dieses Schutzes nicht bedürfen, und zwar ohne dass darin ein Verstoß gegen ausdrückliche Vorschriften des ZSHG läge – abgesehen davon, dass einschlägige Maßnahmen nur als ultima ratio in Betracht kommen dürfen.16 Aber auch für den Regelfall ist nicht zu verkennen, dass die Auseinandersetzung mit den Belangen einschlägig gefährdeter Zeugen ausweislich des hier in Rede stehenden Resultats ge-

Vgl. etwa schon Rebmann/Schnarr NJW 1989, 1185 (1187); Zacharias, Der gefährdete Zeuge im Strafverfahren (1997), S. 170 f., 192. – Nach den aktuellen Richtlinien Nr. 9 (vgl. Fn. 5) „soll, soweit organisatorisch möglich“ eine derartige Verbindung ausgeschlossen werden, und zwar zum einen aus Objektivitätsgründen und zum anderen zur Vermeidung des Vorwurfs der Zeugenbeeinflussung. 12 BR-Drs. 458/98, S. 28; § 3 Abs. 2 des Entwurfes lautete: „Innerhalb einer Behörde sind Zeugenschutzdienststelle und Ermittlungseinheiten organisatorisch zu trennen“ (BR-Drs. 458/98, S. 2). 13 BT-Drs. 458/1/98, S. 9. 14 BT-Drs. 14/6467, S. 10. 15 Vgl. dazu systematisch Verf., Kriminologie, 6. Aufl. (2005), § 23 Rn. 28 ff. 16 Schünemann StV 1998, 391 (399). 11

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setzgeberischer Tätigkeit in eine Schieflage geraten ist.17 Dies gilt zum einen bereits insofern, als nicht immer berücksichtigt wird, dass es sich um eine vergleichsweise sehr kleine Gruppe von Zeugen handelt – namentlich solche in Verfahren so genannter „Organisierter Kriminalität“ bzw. kindliche Zeugen in Verfahren wegen Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Andererseits wird eher (nur noch) nachrangig thematisiert, dass Maßnahmen des Zeugenschutzes nach dem ZSHG geradezu eine Behinderung der Wahrheitsfindung nicht nur in mittelfristiger Tendenz nach sich ziehen, sondern schon in jedem einzelnen einschlägigen Verfahren mit sich bringen können.18

II. Gefahren der Beeinflussung durch Zeugenschutzprogramme Die unwiderstehlichen Gefahren, die sich für die Wahrheitsermittlung aus Zeugenschutzprogrammen ergeben können, bestehen vor allem in verschiedenen Formen der – gewollten oder nicht gewollten – Beeinflussung von Zeugenaussagen, die sich aus dem mit diesen Programmen verbundenen Intra-Rollenkonflikt19 ergeben. Der Zeuge ist in seiner sozialen Rolle einerseits der Wahrheitsfindung verpflichtet, andererseits den Strafverfolgungsbehörden, die ihm Schutzmaßnahmen zugute kommen lassen (können). Dieser ggf. auftretende Konflikt und die damit erhöhte Gefahr von Falschaussagen sind mit der Schaffung des ZSHG institutionalisiert worden. Auf der konkreten Ebene ist in diesem Zusammenhang einerseits der verfahrenstaktische Einsatz von Zeugenschutzmaßnahmen durch die Exekutive von Bedeutung, andererseits können sich auch die Zeugen selbst zu unzutreffenden Aussagen veranlasst sehen, wenn sie sich hierdurch die Gewährung von Vorteilen im Rahmen von Zeugenschutzmaßnahmen versprechen.

1. Verfahrenstaktischer Einsatz von Zeugenschutzprogrammen Die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm wird in der Regel durch die jeweils mit dem Ermittlungsverfahren befassten Strafverfolgungsbehörden angeregt. Erst nachrangig kommt die spezielle Zeugenschutzdienststelle zum Zuge, die (formal) gemäß § 2 Abs. 2 S. 1 ZSHG über die Aufnahme

Vgl. schon Dahs NJW 1998, 2332 (2333). Vgl. etwa schon Ahrens DRiZ 1986, 355; Krehl NJW 1991, 85; Verf. StV 1993, 624 (627). 19 Dazu Rehbinder, Rechtssoziologie, 5. Aufl. (2003), 43 f. 17 18

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entscheidet. Dabei entspricht es nicht seltener Praxis, dass die polizeilichen Ermittler die Aufnahme im Zusammenhang mit einer Zeugenaussage und deren Gewicht für das angestrebte Verfahrensergebnis initiieren (missverständlich daher § 2 Abs. 4 S. 1 ZSHG), indem sie eine Absprache mit der Staatsanwaltschaft anstreben. a) Im einzelnen sind Fallgestaltungen nicht auszuschließen, in denen tatsächlich nicht nur der Schutz der Zeugenperson und ihrer Integrität, sondern zumindest auch verfahrenstaktische Zielsetzungen der Staatsanwaltschaft und insbesondere ihrer Ermittlungspersonen20 mitbestimmend sind oder gar im Vordergrund stehen. Dies ist von einem einfachen „Handel“ bis hin zu einer Instrumentalisierung von Zeugen für die Erreichung eines bestimmten Verfahrensergebnisses ggf. nahe liegend, wenn diese tatsächlich auf den Schutz angewiesen sind. In diesem Zusammenhang können rechtstatsächlich mitunter gar die §§ 136a Abs. 1 S. 3 i.V.m. 69 Abs. 3 StPO bzw. § 163a Abs. 5 StPO berührt sein. Als besonders problematisch nehmen sich Verfahrensabläufe des so genannten Rollentauschs vom (Mit-)Tatverdächtigen bzw. Mitbeschuldigten zum Zeugen aus, der zumindest nach der überwiegenden Judikatur in bestimmten Konstellationen der Verfahrenstrennung zulässig sein soll.21 Hierdurch werden schon im Allgemeinen – auch im Hinblick auf den weiteren Verfahrensverlauf nicht unbedenklich – Beschuldigtenrechte umgangen, weshalb die Möglichkeit des Rollentausches grundsätzlich zu Bedenken Anlass gibt.22 Gleichwohl ist im Rahmen von Zeugenschutzprogrammen eher eine Zunahme dieser Praxis zu besorgen,23 da den bisherigen Mitbeschuldigten auf diesem Weg eine kronzeugenähnliche Stellung als Anreiz angeboten werden kann. Indes bestehen bei solchen früheren Mitbeschuldigten als Zeugen die im Folgenden zu erörternden Gefahren für die Wahrheitsermittlung offensichtlich, nachdem sie mutmaßlich selbst in das zur Verhandlung stehende Geschehen und in das Verfahren involviert sind bzw. waren und so regelmäßig besondere eigene Interessen haben werden, deren Durchsetzung für sie im Vordergrund stehen mag.

20 Vern. Buggisch, Zeugenbedrohung und Zeugenschutz in Deutschland und den USA (2001), S. 291. 21 Vgl. zum Ganzen Verf., Beweisrecht der StPO, 5. Aufl. (2006), Rn. 932 ff. 22 Dazu näher schon Prittwitz, Der Mitbeschuldigte im Strafprozeß (1984). 23 S. hinsichtlich Kronzeugen Jarvers/Kinzig MschrKrim 2001, 439 (444), sowie Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 16.05.2007 mit dem Ziel einer – personalpolitisch ergiebigen – weitrechenden Ausdehung.

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b) Die Zeugenschützer selbst sind zwar angewiesen, mit den zu schützenden Zeugen nicht über das Verfahren zu kommunizieren. Gleichwohl besteht in der Praxis die Gefahr, dass Polizeibeamte den Zeugen bezüglich dessen Aussageverhalten (auch) in der Hauptverhandlung bewusst oder unbewusst beeinflussen, denn dieses ist der für beide Seiten verbindende Umstand. Sozialpsychologisch betrachtet sind Zeugenschützer wie einbezogene Zeugen in einer von dem Aussageverhalten dieser hergeleiteten ganz speziellen Situation aufeinander bezogen und im Übrigen mitunter von der Außenwelt mehr oder weniger isoliert.24 Daraus folgt die Problematik, dass Zeugenschützer ihrerseits ggf. zu Zeugen vom Hörensagen werden können, wenn sich der einbezogene Zeuge bspw. letztlich doch gegen eine Aussage in der Hauptverhandlung entscheiden sollte, nachdem er mit jenen über das Verfahren gesprochen hat. c) Weiterhin wird die Gefahr eines verfahrenstaktischen Einsatzes von Zeugenschutzprogrammen insofern erhöht, als sich – entgegen der mit dem ZSHG angestrebten rechtlichen Klarheit und Einheitlichkeit – weder in diesem noch in den diesbezüglichen Richtlinien konkrete, hinreichend bestimmte Kriterien für die Aufnahme in Zeugenschutzprogramme finden. Vielmehr wird seitens der ermittlungsführenden Dienststelle ohne genauere Vorgaben eine Gefahrenanalyse erstellt sowie die Zeugenschutzdienststelle informiert, die dann im Einvernehmen und ggf. nach eigenen Gefahrermittlungen prüft, ob eine Aufnahme erfolgen soll.25 Die Sachlage ist zudem dadurch verschärft, dass der Anwendungsbereich des ZSHG – entgegen seitheriger Auffassung (vgl. oben I. 1.) – nicht auf bestimmte Deliktsbereiche begrenzt ist, sondern nur durch das demgegenüber wesentlich weichere Verhältnismäßigkeitsprinzip eingeschränkt wird.26 – Im Einzelfall können Bedenken auch daraus erwachsen, dass die Bereitschaft des Zeugen, sich nach dem Verpflichtungsgesetz verpflichten zu lassen, als Geeignetheitskriterium für die Aufnahme in ein Schutzprogramm erachtet wird.27

Vgl. dazu etwa Hammes Kriminalistik 1986, 57. S. zu den in der Praxis relevanten Kriterien Zacharias (Fn. 11), S. 168 f. Eine psychologische Betreuung ist nur eingeschränkt möglich, weil das Schweigerecht von der Zeugenschutzdienststelle nicht respektiert wird (vgl. Nachbar/Tentler Der Kriminalist 2007, 221 ff.). 26 Vgl. auch Soiné/Engelke NJW 2002, 470 (472). 27 Soiné/Engelke NJW 2002, 470 (473) zu § 3 ZSHG; Richtlinie vom 17.2.2003 (Fn. 5), Nr. 11.1. 24 25

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2. Förderung von Falschaussagen Darüber hinausgehend und gleichsam als Kehrseite der genannten zusätzlichen Belastungen ist eine Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung durch Zeugenschutzprogramme auch insofern zu besorgen, als eine Förderung von Falschaussagen insoweit nicht auszuschließen ist, als Zeugen unzutreffende Angaben machen, um damit die Voraussetzungen für ihre Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm (§ 2 S. 2 ZSHG) zu schaffen.28 a) Dies kann einerseits der Fall sein, wenn ein Zeuge unabhängig von Gewicht und Inhalt seiner Aussage der Auffassung ist, dass er des Zeugenschutzes bedürfe, etwa wenn er aus dem Umfeld des Beschuldigten stammt, und ihm die Aussage als Mittel dient, um Schutz zu erhalten.29 Andererseits – und entsprechend insoweit ähnlichen Konstellationen bei Kronzeugenregelungen oder auch V-Personen – ist die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm mit nicht unerheblichen Vorteilen verbunden, die etwa auch ohne den Schutzaspekt von Interesse sein können.30 Neben bzw. im Rahmen der Verschaffung einer Tarnidentität (§ 5 Abs. 1–3 ZSHG) können z.B. auch materielle Zuwendungen (§ 8 S. 1 ZSHG) und sonstige konkrete Vergünstigungen31 zugesprochen werden. Dabei ist zusätzlich zu bedenken, dass Zeugen mitunter nicht klar zwischen ermittlungsführender Dienststelle und Zeugenschutzdienststelle zu unterscheiden vermögen. Daher sind Konstellationen nicht fern liegend, in denen ein Zeuge unzutreffende Angaben im Sinne eines Paktes oder aufgrund eines (situativ entstandenen) Verpflichtungsempfindens gegenüber Zeugenschützern macht, ohne die Folgen hinsichtlich der ermittelnden Dienststelle zu antizipieren. b) Sobald die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm erfolgt ist, verschärft sich der beschriebene Rollenkonflikt in verschiedener Weise. Dies

S.a. Plenarprotokoll 14/180 v. 29.6.2001, S. 17792. Vgl. schon Griesbaum NStZ 1998, 433 (435); Zacharias (Fn. 11), S. 185 f. 30 Vgl. zu daraus etwa folgenden Einschränkungen der Glaubhaftigkeit von Aussagen Verf. (Fn. 21), Rn. 942, 1035 ff. m.w.N. 31 Hierbei handelt es sich je nach fallbezogener bzw. regionaler Praxis etwa um das Verschaffen einer Wohnung (nebst Einrichtung) und/oder eines Kfz, mitunter auch die Begleichung von Schulden (vgl. aber § 9 ZSHG), ggf. die Vermittlung einer Beschäftigung, (bei nichtdeutschen Zeugenpersonen) die Verschaffung von Aufenthalts- bzw. Arbeitserlaubnis oder aber Ausweisungsschutz. Das von Soiné/Engelke NJW 2002, 470 (475) und auch in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 14/6467, S. 12) angenommene, aus § 8 ZSHG abgeleitete Verbot der wirtschaftlichen Besserstellung des Zeugen, welches Grundanliegen des ZSHG gewesen sei, findet im Wortlaut keinen eindeutigen Niederschlag. 28 29

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gilt zum einen schon insofern, als die Rücknahme einer bereits getätigten falschen Aussage angesichts der drohenden Konsequenzen wesentlich erschwert ist und im laufenden Verfahren immer schwieriger wird – gar bei Anwesenheit sog. polizeilicher „Prozessbeobachter“ in der Hauptverhandlung32. Denn dadurch setzt sich der Zeuge ggf. u. a. der Gefahr der Rückforderung von Zuwendungen aus, deren Gewährung auf wissentlich falschen Angaben beruhte (§ 8 S. 2 ZSHG). Hat bereits eine richterliche Vernehmung stattgefunden, sind außerdem die §§ 153 ff. StGB einschlägig, so dass die Gefahr einer Strafverfolgung konkret besteht. Während dem Zeugen so einerseits zumindest der Entzug der polizeilichen Unterstützung droht, kann er andererseits wegen der getätigten Aussagen regelmäßig nicht in sein vorheriges Umfeld zurückkehren. Weiterhin und darüber hinausgehend kann sich der Konflikt aber auch ohne vorangegangene Falschaussage verschärfen. Denn einerseits werden die betroffenen Zeugen nicht selten ohnehin ein gewisses Verpflichtungsempfinden entwickeln und so dem faktisch vorhandenen Druck folgen, zu einem Ermittlungserfolg beizutragen, ohne dass Zeugenschützer einschlägige Erwartungen artikuliert haben müssten. Infolgedessen kann der Zeuge etwa auch eine falsche Anschuldigung als Unterstützung der Polizeiarbeit ansehen, wenn er der Polizei damit Zugang ins „Milieu“ verschafft.33 Zum anderen haben sich als einschlägig gefährdet beurteilte Zeugen mit der Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm in eine Art von Abhängigkeitssituation begeben, die mitunter gemäß dem faktischen Erwartungsdruck dazu führen mag, dass eine einbezogene Person mehr berichtet, als sie gewissenhaft aussagen könnte, um sich derart als „verdienter“ bzw. gar unentbehrlicher Zeuge darzustellen. Endlich wird zu berücksichtigen sein, dass – auch im Hinblick auf eine Beendigung von Schutzmaßnahmen nach der Hauptverhandlung – der einbezogene Zeuge ggf. ein eigenes Interesse daran haben kann, dass gegen den von ihm belasteten Angeklagten eine – hohe, zumindest eine nicht aussetzungsfähige – Freiheitsstrafe verhängt wird.

Vgl. dazu etwa BVerfG vom 12.1.2005 (2 BvR 27/05); BGHSt 17, 203. So auch Zacharias (Fn. 11), S. 186, der zudem auf die psychologische Wirkung des polizeilichen Schutzes hinweist, der dem Zeugen ein allgemeines Sicherheitsgefühl vermittle und so übertriebene oder gar falsche Aussagen auch vor Gericht erleichtere. 32 33

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III. Berücksichtigung in der Hauptverhandlung Der Zeugenschutz steht vor allem auf der Ebene der strafprozessualen Hauptverhandlung seit jeher im Konflikt mit der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) sowie den Beteiligungsrechten des Angeklagten, da er für diese in aller Regel eine Einschränkung bedeutet. Dies betrifft eine vollständige oder teilweise Vorenthaltung von Zeugen in der Hauptverhandlung (etwa § 96 StPO analog, §§ 168e, 247a, 255a StPO) ebenso wie die Zurückhaltung betreffend Informationen von bzw. über den Zeugen (etwa § 68 StPO), wenn dies als zu dessen Schutz erforderlich gehalten wird.34 Gerade jedoch die Möglichkeit, die Aussagen von Belastungszeugen zu prüfen und daraufhin ggf. in Frage zu stellen, und damit die diesbezüglichen Beteiligungs- und Konfrontationsrechte gehören zu den wichtigsten Befugnissen des Angeklagten im Strafverfahren.35 Darüber noch hinausgehend zeigt sich der in Rede stehende Konflikt bei Zeugenschutzprogrammen auch und in besonderer Intensität hinsichtlich Erkenntnissen, die der einbezogene Zeuge über Maßnahmen des jeweiligen Programms erlangt hat und die ggf. als geheimhaltungsbedürftig beurteilt werden könnten. Dies betrifft einerseits sowohl die persönlichen Schutzbelange des Zeugen wie auch öffentliche Geheimhaltungsinteressen bezüglich des Vorgehens bei Zeugenschutzmaßnahmen. Andererseits kann aber gerade angesichts der aufgezeigten Gefahren auch für die Wahrheitsermittlung (vgl. oben II. 1.und 2.) das berechtigte Interesse des Angeklagten wie auch die Pflicht des Gerichts bestehen, die Vorgänge im Rahmen des Zeugenschutzprogramms aufzuklären. Somit bestehen aus dieser Perspektive zusätzliche Gefahren auch für die Wahrheitsermittlung – und zwar herrührend bereits aus dem Ermittlungsverfahren – dadurch, dass der Zeuge zwar für die Staatsanwaltschaft, nicht aber für die Verteidigung zu erreichen und er bzw. seine Aussage von dieser insoweit also auch nicht adäquat überprüft und daraufhin ggf. in Frage gestellt werden können. In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, wie sich das ZSHG auf die einschlägigen Regelungen der StPO auswirkt bzw. in welchem Verhältnis beide zueinander stehen. Sodann ist erörterungsbedürftig, inwieweit bei der Zeugenvernehmung solche Vorgänge oder Abläufe, die unmittelbar das Zeugenschutzprogramm betreffen, aus der Hauptverhandlung herausgehalten werden dürfen,

34 Vgl. zu diesem Konflikt anhand einzelner solcher Maßnahmen etwa Franke StraFo 2000, 295 ff. 35 Walther JZ 2004, 1107.

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wodurch vor allem Beteiligungsrechte des Angeklagten eingeschränkt würden.36

1. Zum Verhältnis von ZSHG und strafprozessualen Regelungen Die StPO enthält ein Regime allgemeiner wie auch spezieller Regelungen zum Schutz von Zeugen. Dem könnte jedoch das ZSHG als hinsichtlich Zeugenschutzprogrammen spezielleres Gesetz vorgehen. Allerdings ergibt die Auslegung des ZSHG nicht nur keine umfassende Geheimhaltungspflicht für Zeugen im Strafverfahren, sondern auch keine weitergehenden Beschränkungen der Aussagepflicht, als sich solche ohnehin aus der StPO ergeben. a) Zwar statuiert § 2 Abs. 3 ZSHG eine Geheimhaltungspflicht; jedoch richtet sich die Norm gemäß ihrem Wortlaut und der amtlichen Überschrift „Zeugenschutzdienststellen“ nicht an den Zeugen selbst, sondern nur an die Bediensteten der beteiligten Behörden. Etwas anderes könnte hingegen für die Verschwiegenheitspflicht nach § 3 S. 1 ZSHG gelten, die sich an alle diejenigen richtet, die mit dem „Zeugenschutz befasst“ sind. Ob hierunter auch die in das Zeugenschutzprogramm aufgenommenen Personen zu verstehen sind, wird angesichts dieser wenig deutlichen Formulierung nicht klar, scheint jedoch sprachlich besehen eher fern liegend. Denn der geschützte Zeuge wird mit dem Programm nicht „befasst“, vielmehr legt diese Formulierung nahe, dass nur dienstlich mit Zeugenschutzprogrammen in Berührung kommende Personen von der Regelung betroffen sein sollen. Ob die (seither singuläre) Auslegung des BGH, dass die Regelung auch den geschützten Zeugen erfasse,37 angesichts dessen überzeugen könnte, sei hier dahingestellt. Denn die aufgrund der Regelung begründete Verschwiegenheitspflicht wird dann ohnehin durch die Vorschrift des § 10 ZSHG durchbrochen, so dass es auf eine Entscheidung dieser Frage nicht ankommt. Diese Norm regelt für verschiedene justizförmige Verfahren differenziert, welche Angaben in einem Zeugenschutzprogramm befindliche Personen gleichwohl machen müssen und welche nicht. § 10 Abs. 3 ZSHG verweist dabei gerade für den Strafprozess

36 Zur vorgelagerten, allgemeinen Problematik der Konkurrenz zwischen Auskünften über personenbezogene Daten von geschützten Zeugen gegenüber Strafverfolgungs- wie auch anderen Behörden und Geheimhaltungsbelangen vgl. bereits Hilger, FS Gössel (2002), S. 607 ff. 37 BGH NJW 2006, 785 (787).

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(und anders als für sonstige Verfahren) auf die allgemeinen Regelungen der §§ 68, 110b Abs. 3 StPO, bei denen es danach bleiben soll. Hieraus ergibt sich zum einen, dass für die von diesen Normen erfassten Angaben keine anderen Regelungen als die der StPO gelten. Zum anderen kann sich aber auch für sonstige Angaben aus dem ZSHG keine allgemeine Verschwiegenheitspflicht ergeben. Denn die genannten speziellen StPORegelungen stellen die Pflicht zur Offenbarung zentraler persönlicher Angaben wie z.B. Identität und Wohnort in das im Einzelfall auszuübende Ermessen des Gerichts. Wenn dies aber bereits für die Preisgabe derartiger Kerntatsachen gilt, müssen sonstige Informationen erst recht mindestens ebenso behandelt werden.38 b) Demnach ergibt sich aus dem ZSHG keine weitergehende Beschränkung der Aussagepflicht von Zeugen bzw. von Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten.39 Vielmehr hat der Gesetzgeber im ZSHG den von der StPO festgelegten Vorrang der Wahrheitsfindung gegenüber den Geheimhaltungsinteressen des Zeugenschutzes unangetastet gelassen.40 Hieran vermag auch eine im Einzelfall ggf. vorliegende förmliche Verpflichtung zur Verschwiegenheit im Allgemeinen nichts zu ändern, da für einbezogene Zeugen schlechthin die Vorschrift des § 54 StPO41 weder direkt noch analog anwendbar ist.42 Denn Beschneidungen der Aufklärungspflicht obliegen dem Gesetzgeber, der bei der Schaffung des ZSHG indes keine solche Regelung getroffen hat;43 zudem stehen im Speziellen Beschränkungen der Zeugnispflicht nicht im alleinigen Ermessen des (einfachen) Gesetzgebers, da Zeugenpflichten Ausdruck der verfassungsrechtlich verankerten Unschuldsvermutung und zugunsten der Verteidigungsrechte des Angeklagten rechtsstaatlich geboten sind, so dass hier allenfalls überragende Gründe des Zeugenschutzes Einschränkungen zu rechtfertigen vermögen.44 c) Sofern der gefährdete Zeuge seine Aussage zurückzieht, kann eine Vernehmung der Zeugenschützer als Zeugen vom Hörensagen in Betracht kommen oder auch als unmittelbare Zeugen für Fragen, die das Zeugen-

So auch BGH NJW 2006, 785 (787). Soiné/Engelke NJW 2002, 470 (473). 40 So auch Hilger, FS Gössel (2002), S. 612. 41 Vgl. zum Anwendungsbereich statt vieler Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 54 Rn. 10 ff. 42 V-Leuten wird hingegen teilweise eine Anwendung dieser Vorschrift zugebilligt, vgl. etwa BGHSt 31, 148 (156 f.); KK-StPO/Senge, 5. Aufl. (2003), § 54 Rn. 9. 43 BGH NJW 2006, 785 (786 f.). 44 So Walther JZ 2004, 1107 (1114). 38 39

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schutzprogramm betreffen. Für diese Zeugen, die in der Regel Beamte sein werden, kommt solchenfalls indes eine Anwendung des § 54 StPO bzw. von § 96 StPO analog in Betracht.

2. Beteiligungsrechte des Angeklagten Für eine Berücksichtigung von Geheimhaltungsbelangen bezüglich Zeugenschutzprogrammen in der Hauptverhandlung bleibt somit nur ein Rückgriff auf allgemeine Regelungen der StPO, nachdem sich im ZSHG hierzu über die genannten, gewisse Kerntatsachen betreffenden Regelungen hinaus keine spezielle Vorschrift findet. a) aa) Hinsichtlich der allgemeinen Regelung des § 241 Abs. 2 StPO45 hat der BGH angenommen, dass Fragen zu Zeugenschutzprogrammen (zwar nur, aber immerhin) im Einzelfall und nach pflichtgemäßem Ermessen als ungeeignet abgelehnt werden dürfen, und dass insoweit das Fragerecht des Angeklagten (§ 240 Abs. 2 S. 1 StPO, Art. 6 Abs. 3d MRK) eingeschränkt werden könne.46 Diese eher weite Auslegung des § 241 Abs. 2 StPO entspricht nicht dem bewährten Verständnis der Vorschrift47. Bislang galten – abgesehen von der Wahrheitsfindung ohnehin nicht dienlichen Fragen – solche Fragen als ungeeignet, über die aus Rechtsgründen kein Beweis erhoben werden darf.48 Dies ist bei Zeugenschutzprogramme betreffenden Fragen, soweit sie nicht von § 68 StPO erfasst sind, jedoch gerade nicht gegeben. Als sonstige Gründe für eine Zurückweisung sind zwar u. a. ein Missbrauch des Fragerechts, die Verfolgung verfahrensfremder Zwecke oder solche Fragen anerkannt, die die Ehre des Zeugen oder seinen Intimbereich unnötig antasten.49 Dies ist bei Fragen hinsichtlich Zeugenschutzprogrammen jedoch regelmäßig nicht ohne weiteres der Fall, so dass die von diesen Zurückweisungsgründen markierte Grenze der Ungeeignetheit im Sinne von § 241 Abs. 2 StPO mitnichten erreicht ist. Dies gilt auch, soweit allgemein als Maßstab formuliert wird, ungeeignete Fragen

45 S. allgemein zur Regelung Meyer-Goßner (Fn. 41), § 241 Rn. 12 ff. sowie BGH NJW 2005, 1519 ff.; NStZ 2005, 218 f. 46 BGH NJW 2006, 785. Zu den Anforderungen an eine solche Zurückweisung allg. BGH StV 2001, 261 f. 47 Vgl. zur gebotenen Zurückhaltung nur LR/Gollwitzer, StPO, 25. Aufl. (2001), § 241 Rn. 8, 15. 48 Verf. (Fn. 21), Rn. 798a; LR/Gollwitzer (Fn. 47), § 241, Rn. 6, 14; vgl. auch KKStPO/Tolksdorf, 5. Aufl. (2003), § 241 Rn. 4. 49 LR/Gollwitzer (Fn. 47), § 241, Rn. 8.

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seien solche, die mit den Zielen des Strafprozesses nicht vereinbar seien.50 Denn eine notwendige Aufklärung über Vorgänge im Rahmen von Zeugenschutzprogrammen ist mit der Wahrheitsermittlungspflicht, sofern nicht bestimmte gesetzliche Einschränkungen vorliegen, nicht nur stets vereinbar, sondern verpflichtend. Demgegenüber haben einschlägige Geheimhaltungsbelange nach der Entscheidung des Gesetzgebers grundsätzlich zurückzustehen. Die pauschale Aufnahme des Zeugenschutzes als Zurückweisungsgrund ist daher mit den bisherigen Maßstäben nicht zu vereinbaren. Andernfalls würde die vom BGH selbst getroffene Feststellung umgangen, dass Einschränkungen der Wahrheitsermittlung dem Gesetzgeber obliegen, der im ZSHG gerade keine weitergehende Regelung getroffen hat. Zu einem anderen Ergebnis könnte man möglicherweise auf der Grundlage der Fürsorgepflicht des Gerichts (auch) bezüglich Zeugen als Rechtsgrund gelangen. Eine solche Argumentation begegnet zunächst Bedenken, da diesbezügliche Regelungen als Beschränkungen von Aufklärungspflicht und Verteidigungsrechten im ZSHG oder zumindest in der StPO mit einer gewissen Bestimmtheit hätten getroffen werden müssen. Zwar ist anerkannt, dass die Zeugnispflicht auch über spezielle gesetzliche Regelungen hinaus in Einzelfällen aus Gefährdungsgründen eingeschränkt sein kann, wenn sich dies bei Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unmittelbar aus den Grundrechten des Zeugen ergibt.51 In solchen besonders gravierenden Ausnahmekonstellationen kann es daher vor dem Hintergrund der gerichtlichen Schutz- und Fürsorgepflicht zulässig sein, eine Frage als ungeeignet im Sinne von § 241 Abs. 2 StPO einzustufen.52 Dies kann jedoch nur Einzelfälle betreffen und eine pauschale Aufnahme von Fragen zu Zeugenschutzprogrammen als Zurückweisungsgrund nicht rechtfertigen. bb) In diesem Sinne ist für eine Anwendung § 241 Abs. 2 StPO bezüglich Zeugenschutzprogrammen zunächst stets zu prüfen, ob eine solch gravierende Ausnahmekonstellation vorliegt und ob den Geheimhaltungsbelangen des Zeugenschutzes durch andere geeignete Schutzmaßnahmen Rechnung getragen werden kann, wie bspw. einen Ausschluss der Öffentlichkeit.53 Bei Verneinung dessen ist – selbst wenn man entgegen der hier dargelegten Position davon ausgeht, § 241 Abs. 2 StPO dürfe in einem größeren Maße Anwendung finden – bei der sodann erforderlichen Ermessenentscheidung

KK-StPO/Tolksdorf (Fn. 48), § 241 Rn. 4. BVerfGE 64, 108 (116 f.); 33, 367 (374 f.). 52 Teilweise wird als Maßstab für eine solche Beschränkung der Zeugnispflicht § 34 StGB herangezogen (vgl. zum Ganzen etwa Verf. [Fn. 21], Rn. 1099 f.). 53 Walther JZ 2004, 1107 (1114); LR/Gollwitzer (Fn. 47), § 241, Rn. 8. 50 51

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ein strenger Maßstab anzulegen, um die divergierenden Interessen in Ausgleich zu bringen. Dabei ist vom Tatgericht abzuwägen, ob die Beantwortung der gegenständlichen Frage zur vorrangigen Wahrheitserforschung gemäß § 244 Abs. 2 StPO erforderlich ist, und es sind die Bedeutung der Frage im Rahmen der bisherigen Beweisaufnahme einerseits und die Geheimhaltungsbedürftigkeit andererseits zu berücksichtigen. Im Übrigen wird nicht unbeachtet bleiben dürfen, dass das Geheimhaltungsinteresse bezüglich Zeugenschutzmaßnahmen grundsätzlich nachrangig ist (vgl. schon § 10 Abs. 3 ZSHG), so dass es § 244 Abs. 2 StPO in aller Regel gebietet, auch Fragen mit Bezug zum Zeugenschutz zuzulassen. Dies gilt gerade wegen der eingangs aufgezeigten Gefahren, die sich durch den Einsatz von Zeugenschutzprogrammen ergeben können (vgl. oben II. 1. und 2.), und die ein weitgehend uneingeschränktes Fragerecht (auch) des Angeklagten als zentral für die Wahrheitsermittlung im Strafverfahren unabweisbar machen. Zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Aussagen von (sich in dem erläuterten Rollenkonflikt befindlichen) Zeugen aber kann es auch erforderlich bis unerlässlich sein, konkrete Fragen zur Aufnahme und zum Umfang des Zeugenschutzprogramms zu stellen. Der Geheimhaltung wird demgegenüber nur ganz ausnahmsweise Vorrang zukommen dürfen, wenn dies die Grundrechte des Zeugen gebieten bzw., nach Auffassung des BGH, wenn die Beantwortung der Frage für die richterliche Überzeugungsbildung keine Bedeutung gewinnen wird.54 Ein sich dadurch einstellendes Aufklärungsdefizit ist durch eine besonders vorsichtige Beweiswürdigung sowie ggf. die Anwendung des Zweifelssatzes auszugleichen.55 b) Als weitere allgemeine Regelung, die eine Berücksichtigung von Geheimhaltungsbelangen bzgl. Zeugenschutzprogrammen ermöglichen könnte, kommt sodann zunächst das Beweisantragsrecht des Angeklagten (§§ 244 ff. StPO) in Betracht. Von den Ablehnungsgründen der §§ 244 Abs. 3, 245 StPO sind in diesem Zusammenhang vor allem die Unzulässigkeit und die völlige Ungeeignetheit relevant, sofern man davon ausgeht, dass die mit dem beantragten Beweismittel verfolgten Zwecke für das Verfahren von Bedeutung und nicht bereits hinreichend erwiesen sind. Unzulässig im Sinne des § 244 Abs. 3 S. 1 StPO ist ein Beweisantrag vor allem dann, wenn diesbezüglich ein Beweisthema- oder ein Beweismittelverbot besteht; darüber hinaus auch, wenn die Beweiserhebung aus anderen

54 55

BGH NJW 2006, 785 (789). Dazu BGHSt 49, 112 (116 ff.) m. Anm. Müller JZ 2004, 922; Beulke (Fn. 6), Rn. 124.

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Gründen rechtlich unzulässig wäre, was sich vor allem aus der StPO56 und im Übrigen aus anderen Gesetzen ergeben kann. Wie bereits ausgeführt (vgl. oben 1.), legt das ZSHG der Wahrheitsfindung keine weitergehenden Schranken auf und enthält auch die StPO über die Einzelregelungen hinaus keine allgemeine Beweisbeschränkung zum Zeugenschutz. Beweisanträge bezüglich Zeugenschutzprogrammen können daher zumindest nicht aufgrund von Geheimhaltungsbelangen als rechtlich unzulässig angesehen und abgelehnt werden. Was den Ablehnungsgrund der völligen Ungeeignetheit anbetrifft, so ist dieser Terminus anders zu verstehen als in § 241 Abs. 2 StPO. Dies ergibt sich bereits aus dem Zusatz „völlige“ sowie aus den sonstigen Ablehnungsgründen des § 244 Abs. 3 StPO, die verschiedene Aspekte erfassen, die bei § 241 Abs. 2 StPO unter den Terminus „ungeeignet“ gefasst werden. Vielmehr muss das Gelingen des Beweises hier von vorneherein ausgeschlossen erscheinen, d.h. es wird darauf abgestellt, ob das beantragte Beweismittel überhaupt in der Lage sein kann, den gewünschten Beweis zu erbringen. Hierbei ist regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen bzw. zur Ablehnung sind besondere Umstände von Nöten; eine relative Ungeeignetheit ist nicht ausreichend. Angesichts dessen kann auch dieser Ablehnungsgrund nicht dazu herhalten, Beweisanträgen mit Bezug zu Zeugenschutzbelangen alleine aus Gründen der Geheimhaltung nicht nachgehen zu müssen. c) Weiterhin könnte in Betracht kommen, dass einschlägigen Geheimhaltungsbelangen auch durch eine Beschränkung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten in der Hauptverhandlung Rechnung getragen wird. Indes schreibt § 230 Abs. 1 StPO die Anwesenheit des Angeklagten zwingend vor, so dass eine Beschränkung nach dieser allgemeinen Regelung unzulässig ist, vielmehr nur im Rahmen von Ausnahmeregelungen hierzu geschehen dürfte. Als eine solche kommt neben dem in seinen Vorraussetzungen vergleichsweise engen § 247a StPO vor allem § 247 S. 1 StPO in Betracht. Auch dieser verlangt indes im Einzelfall eine konkrete Gefahr für die Wahrheitsfindung sowie die anschließende Unterrichtung des Angeklagten gemäß § 247 S. 4 StPO und ist nach allgemeiner Auffassung als Ausnahmebestimmung restriktiv auszulegen.

56

S. Meyer-Goßner (Fn. 41), § 244 Rn. 49.

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3. Fazit Aufklärungspflicht und Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten in der strafrechtlichen Hauptverhandlung haben nach der gesetzlichen Konzeption gegenüber Geheimhaltungsbelangen im Zusammenhang mit Zeugenschutzprogrammen grundsätzlich Vorrang. Denn zum einen ergeben sich aus dem ZSHG keine über die StPO hinaus gehenden Beschränkungen zugunsten solcher Belange. Zum anderen sieht auch die StPO keine solche Regelung genereller Art vor. Danach können Wahrheitserforschungspflicht und Angeklagtenrechte nur nach den genannten speziellen Regelungen begrenzt werden, um Tatsachen betreffend Zeugenschutzprogramme geheim zu halten, wenn die Voraussetzungen dieser Regelungen vorliegen. Eine darüber hinausgehende Berücksichtigung von Geheimhaltungsbelangen ist hingegen unzulässig, sofern nicht ganz ausnahmsweise die Zeugnispflicht des Zeugen unmittelbar durch dessen Grundrechte begrenzt wird57.

57

S. dazu schon Fezer, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. (1995), 13/24 f.

Plädoyer für die Streichung der Vorschriften über die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme HELMUT FRISTER

I. Problem und Gang der Untersuchung In seinem leider schon ein wenig in die Jahre gekommenen, aber jedenfalls in der Düsseldorfer Lehrbuchsammlung immer noch oft ausgeliehenen Juristischen Studienkurs Strafprozeßrecht unterscheidet Gerhard Fezer zwischen formeller und materieller Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme1. Während dem Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit genügt sei, wenn die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung vor dem erkennenden Gericht selbst stattfinde, betreffe der Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit die Nähe des einzelnen Beweismittels zum Beweisthema. Materiell unmittelbar sei eine Beweisaufnahme, wenn sie sich des „Original“Beweismittels bediene, also z.B. die Person als Zeuge gehört werde, die den festzustellenden Sachverhalt selbst wahrgenommen haben will. § 250 StPO regele – so führt Gerhard Fezer weiter aus2 – einen Teilbereich der materiellen Unmittelbarkeit. Die Vorschrift betreffe das Verhältnis von Personalbeweis und Urkundsbeweis, d.h. sie verbiete es, die Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen durch die Verlesung eines Vernehmungsprotokolls oder einer schriftlichen Erklärung zu ersetzen. Sie begründe dagegen keine generelle Verpflichtung, auf das Originalbeweismittel zurückzugreifen, stehe also einer Ersetzung einer Zeugenaussage durch die Aussage eines Zeugen vom Hörensagen nicht entgegen. Die Zulässigkeit einer solchen Ersetzung beurteile sich nicht nach den §§ 250–256 StPO, sondern nach den Vorschriften über den Umfang der Beweisaufnahme. Dies sei auch sachgerecht, weil der Hörensagenbeweis „nicht unbedingt gleich negativ zu bewerten sei“ wie der Beweis durch berichtende Urkunden. Immerhin stehe der Zeuge vom Hörensagen in der Hauptverhandlung

1 2

2. Aufl. (1995), 14/1 ff. Ibid. 14/86 ff.

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Helmut Frister

zur Verfügung, so dass ihm Fragen auch bezüglich der Glaubwürdigkeit des Originalzeugen gestellt werden könnten. Ich möchte in meinem Beitrag weder diese – bekanntlich herrschende, aber nicht unumstrittene3 – Auslegung des § 250 StPO diskutieren, noch die Frage erörtern, ob de lege ferenda die Verlesung eines Vernehmungsprotokolls oder die Vernehmung der Verhörsperson als das relativ bessere Beweismittel anzusehen ist. Mich interessiert vielmehr eine unausgesprochene Prämisse von Gerhard Fezers Argumentation, nämlich die These, dass die §§ 250–256 StPO die Anforderungen an die materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gegenüber den allgemeinen Vorschriften über den Umfang der Beweisaufnahme verschärfen. Diese historisch überkommene Funktion der Regelungen scheint mir inzwischen partiell überholt zu sein. Es gibt zwar noch immer Bereiche, in denen die §§ 250–256 StPO die sich aus den §§ 244, 245 StPO ergebenden Anforderungen verschärfen, aber in zunehmendem Maße haben diese Vorschriften heute eine genau entgegengesetzte Funktion. Sie ermöglichen einen Verzicht auf die unmittelbare Beweiserhebung, der bei Anwendung der allgemeinen Regelungen über den Umfang der Beweisaufnahme gerade nicht möglich wäre. Im Folgenden soll zunächst diese ambivalente Funktion der §§ 250–256 StPO dargestellt (unter II.) und darauf aufbauend die Frage diskutiert werden, ob es für eine Sonderregelung eines Teilbereichs der materiellen Unmittelbarkeit eine Existenzberechtigung gibt (unter III.). Das Ergebnis dieser Diskussion ist im Titel des Beitrags vorweggenommen. Ich plädiere dafür, die Sonderregelung zu streichen und die materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme durch die allgemeinen Regeln über den Umfang der Beweisaufnahme zu gewährleisten. Dies kann allerdings nicht durch eine ersatzlose Streichung der §§ 250–256 StPO geschehen. Denn diese Vorschriften enthalten nicht nur eine Regelung der materiellen Unmittelbarkeit, sondern dienen zum Teil auch anderen Interessen, insbesondere Zeugnisund Aussageverweigerungsrechten, so dass zu erörtern bleibt, wie diesen anderweitigen Regelungszwecken bei einer Aufhebung der Sonderregelung für die materielle Unmittelbarkeit weiterhin Rechnung getragen werden kann (unter IV.). Abschließend werden die Ergebnisse der Untersuchung in einem Gesetzgebungsvorschlag zusammengefasst (unter V.).

Vgl. für die Gegenauffassung insbesondere Grünwald, Das Beweisrecht der Strafprozeßordnung (1993), S. 113 ff. 3

Streichung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme

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II. Die ambivalente Funktion der §§ 250–256 StPO 1. Die Funktion bei einem verteidigten Angeklagten Die Frage, ob und in welcher Weise die §§ 250–256 StPO die sich aus den Regeln über den Umfang der Beweisaufnahme ergebenden Anforderungen an die materielle Unmittelbarkeit modifizieren, soll zunächst für den verteidigten Angeklagten analysiert werden. Insoweit sieht das Gesetz in § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO ausdrücklich vor, dass mit dem Einverständnis von Staatsanwalt, Verteidiger und Angeklagtem alle Arten von Vernehmungsniederschriften und schriftlichen Erklärungen verlesen werden dürfen. Soweit ein solches Einverständnis der genannten Verfahrensbeteiligten vorliegt, hat das Gericht die Frage der Ersetzung der persönlichen Vernehmung damit im Ergebnis bereits nach geltendem Recht allein nach der Amtsaufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO zu entscheiden. Deshalb kann den §§ 250–256 StPO bei einem verteidigten Angeklagten nur für den Fall eine modifizierende Funktion zukommen, dass zumindest einer der Verfahrensbeteiligten eine persönliche Vernehmung für erforderlich erachtet. In einem solchen Fall könnte dieser Verfahrensbeteiligte einen Antrag auf persönliche Vernehmung stellen, der ohne die Sonderregelung der §§ 250– 256 StPO ohne weiteres als Beweisantrag zu qualifizieren wäre und damit im Normalverfahren4 nur unter den Voraussetzungen der §§ 244 Abs. 3 – 245 StPO abgelehnt werden dürfte. Da ein Gericht, das die protokollierte oder schriftlich niedergelegte Aussage eines Zeugen oder Sachverständigen selbst in das Verfahren einführt, diese Aussage nicht zugleich für irrelevant erklären kann, wäre eine Ablehnung dieses Antrags, abgesehen von dem Fall der Prozessverschleppungsabsicht, nur möglich, wenn das Gericht entweder die unter Beweis gestellte Tatsache durch die Verlesung bereits als bewiesen ansieht oder die Vernehmung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht durchführbar ist. Im ersten Fall hat sich das Beweisbegehren erledigt und im zweiten Fall kann schon der Natur der Sache nach keine persönliche Vernehmung erfolgen, so dass das Vernehmungsgebot des § 250 S. 1 StPO den Verfahrensbeteiligten keine zusätzliche Möglichkeit gibt, eine von ihnen für erforderlich gehaltene persönliche Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen zu erzwingen. Erhöhte inhaltliche Anforderungen an die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme könnten sich deshalb allenfalls aus dem Verlesungsverbot des § 250 S. 2 StPO ergeben. Dieses greift jedoch gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO

Zu den besonderen Verfahrensarten ohne materielles Beweisantragsrecht vgl. sogleich unter 3. 4

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ebenfalls nicht ein, wenn der Zeuge oder Sachverständige in absehbarer Zeit nicht vernommen werden kann. Außerdem untersagt es nach der zwar mit dem Wortlaut des § 253 StPO kaum zu vereinbarenden5, aber gleichwohl für die Rechtsprechung nicht mehr in Frage stehenden herrschender Meinung6 nur die vollständige Ersetzung der persönlichen Vernehmung, nicht aber eine ergänzende Verlesung von Vernehmungsniederschriften und schriftlichen Erklärungen. Damit ist die Verlesung im Wesentlichen nur in den Fällen verboten, in denen eine gebotene persönliche Vernehmung nicht durchgeführt wird, so dass das Verlesungsverbot nur die Kehrseite des auch durch einen Beweisantrag zu begründenden Vernehmungsgebots ist: Wenn bereits die Ablehnung des Antrags auf persönliche Vernehmung rechtsfehlerhaft ist, kommt es auf ein Verbot, die Niederschrift über eine frühere Vernehmung bzw. eine schriftliche Erklärung zu verlesen, nicht mehr an. Allerdings gibt es eine Konstellation, in der die Rechtsprechung gemäß § 250 S. 2 StPO ein Verlesungsverbot auch ohne einen Verstoß gegen das Vernehmungsgebot angenommen hat. Es handelt sich dabei um den Fall, dass ein Zeuge oder Sachverständiger zwar in der Hauptverhandlung persönlich vernommen wird, dort aber – z.B. wegen eines umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts nach § 55 StPO – keinerlei Angaben zur Sache macht. Obwohl in einem solchen Fall das originäre Beweismittel ebenfalls nicht zur Verfügung steht und deshalb nach dem Grundgedanken des § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO der Rückgriff auf die Niederschrift über eine frühere Vernehmung bzw. eine schriftliche Erklärung möglich sein müsste, hält die Rechtsprechung bisher eine solche Verlesung für unzulässig, weil das Gesetz nicht darauf abstelle, ob der Zeuge bzw. Sachverständige zur Sache aussage, sondern ob er gerichtlich vernommen werden könne7. Ob diese Wortlautargumentation zwingend ist, sei dahingestellt. Folgt man ihr, so handelt es sich jedenfalls um einen aus einer missglückten Formulierung des Gesetzes resultierenden Sonderfall, der bei der Beurteilung der grundsätzlichen Legitimation der Unmittelbarkeitsvorschriften außer Betracht bleiben kann. Für diese Beurteilung bleibt damit festzuhalten, dass das Verlesungsverbot des § 250 S. 2 StPO seinem Grundgedanken nach nur die Kehrseite des auch durch einen Beweisantrag zu begründenden Vernehmungsgebots ist.

Vgl. dazu Grünwald (Fn. 3), S. 133 ff., insb. S. 137 f. BGHSt 1, 4 (5); 20, 160 (162); Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 251 Rn. 12 m.w.N. 7 BGH NJW 2007, 2195 (2196 ff.) m.w.N.; nachdem der 4. Senat diese Rechtsprechung ausdrücklich in Zweifel gezogen hatte (BGH NJW 2007, 2341 [2342 f.]), scheint er sie nunmehr doch aufrechterhalten zu wollen (BGH NJW 2008, 1010 [1011]). 5 6

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Deshalb erhöht es die Anforderungen an die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme bei einem verteidigten Angeklagten nur insofern, als in den Fällen, in denen keine vom Willen der Verfahrensbeteiligten unabhängige Befugnis zur Verlesung vorliegt, das Gericht dazu verpflichtet ist, das Einverständnis der anderen Verfahrensbeteiligten zu einer beabsichtigten Verlesung einzuholen, während es ohne diese Regelungen Sache der Verfahrensbeteiligten wäre, der Verlesung durch einen Antrag auf persönliche Vernehmung zu widersprechen. Dieser erhöhten formalen Anforderung steht jedoch die Tatsache gegenüber, dass nach ganz herrschender Meinung im Regelungsbereich der §§ 250–256 StPO zwar die Amtsaufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO gilt8, die Regelungen des Beweisantragsrechts aber keine Anwendung finden9, so dass bei einer nach den §§ 251, 256 StPO erlaubten Verlesung die unmittelbare Zeugenvernehmung jedenfalls nicht durch einen Beweisantrag erzwungen werden kann. Insbesondere nach der Erweiterung der Verlesungsmöglichkeiten durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. 08. 200410 liegt darin eine durchaus erhebliche Absenkung der Anforderungen an die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. Ohne die Regelung der §§ 250–256 StPO könnte z.B. der Angeklagte, der die Richtigkeit eines polizeilichen Spurensicherungsprotokolls bezweifelt, nach § 244 Abs. 3 StPO ohne weiteres die persönliche Vernehmung der betreffenden Ermittlungsbeamten durch einen Beweisantrag erzwingen. Aufgrund der Regelung des § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO11 ist ihm diese Möglichkeit jedoch jedenfalls in der Praxis verwehrt. Wenn es ihm nicht gelingt, seine Zweifel konkret zu belegen, ist das Gericht in einem solchen Fall auch aufgrund seiner Amtsaufklärungspflicht nicht gehalten, eine persönliche Vernehmung durchzuführen. Entsprechendes gilt etwa bei Zweifeln an der Richtigkeit einer als Beleg für einen angeblich entstandenen Vermögensschaden vorgelegten Reparaturrechnung (vgl. § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO) oder eines ärztlichen Attests über ein angeblich erlittenes Schleudertrauma (vgl. § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO).

BGHSt 10, 186 (191); BGH NStZ 1988, 37 (38) u. NStZ 1993, 397 f.; Fezer JuS 1977, 382. 9 BGH bei Pfeiffer NStZ 1981, 295; BayObLG NJW 1953, 194; Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl. (1983), S. 296; LR/Gollwitzer, 25. Aufl. (2000), § 256 Rn. 53; Meyer-Goßner (Fn. 6), § 256 Rn. 2; SK-StPO/Schlüchter, 6. Lfg. (1992), § 256 Rn. 5; a.A. Grünwald (Fn. 3), S. 115. 10 BGBl. I S. 2198; vgl. dazu Knauer/Wolf NJW 2004, 2932 (2934 ff.). 11 Knauer/Wolf (NJW 2004, 2932 [2936]) bezeichnen die Einführung dieser Regelung zu Recht als „geradezu radikale Änderung“ des Gesetzes; kritisch auch Meyer-Goßner (Fn. 6), § 256 Rn. 1; Neuhaus StV 2005, 47, 51 f.; Sommer StraFo 2004, 295 (297 f.). 8

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2. Die Funktion bei einem unverteidigten Angeklagten Soweit die Ersetzung der persönlichen Vernehmung durch die Verlesung einer Niederschrift über eine frühere richterliche Vernehmung in Frage steht, gilt bei einem unverteidigten Angeklagten im Prinzip das Gleiche. Denn § 251 Abs. 2 Nr. 3 StPO lässt – wie sich im Umkehrschluss aus § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO ergibt – die Verlesung richterlicher Protokolle mit Einverständnis der Prozessbeteiligten auch dann zu, wenn der Angeklagte keinen Verteidiger hat. Deshalb erhöhen die §§ 250–256 StPO die Anforderungen an die Verlesbarkeit richterlicher Protokolle auch bei einem unvereidigten Angeklagten nur insofern, als sie das Gericht dazu verpflichten, das Einverständnis des Angeklagten zu einer nicht schon aus anderen Gründen zulässigen Verlesung einzuholen, während es ansonsten Sache der Angeklagten wäre, die persönliche Vernehmung zu beantragen. Allerdings ist diese erhöhte formale Anforderung bei einem unverteidigten Angeklagten insofern von größerer Bedeutung, als bei ihm nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden kann, dass er seine Interessen auch durch einen entsprechenden Beweisantrag durchsetzen könnte (vgl. dazu unter III. 2). Schon im Grundsatz anders ist die Sachlage dagegen bei der Ersetzung der persönlichen Vernehmung durch die Verlesung eines nichtrichterlichen Vernehmungsprotokolls oder einer schriftlichen Erklärung. Die Rechtfertigung einer solchen Ersetzung durch das Einverständnis der Prozessbeteiligten sieht § 251 StPO bei einem unverteidigten Angeklagten nicht vor, so dass die §§ 250–256 StPO die Anforderungen an die Unmittelbarkeit gegenüber der allgemeinen Wahrheitserforschungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO insoweit nicht nur formal, sondern inhaltlich verschärfen. Sofern keiner der in den §§ 251 ff. StPO genannten Ausnahmefälle vorliegt, darf die persönliche Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen selbst dann nicht durch die Verlesung eines nichtrichterlichen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden, wenn das Gericht, der Staatsanwalt und der Angeklagte übereinstimmend der Auffassung sind, dass die persönliche Vernehmung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Diesen erhöhten Anforderungen an die Unmittelbarkeit steht aber auch bei einem unverteidigten Angeklagten die Erweiterung der Verlesungsmöglichkeiten durch die Einschränkung des Beweisantragsrechts gegenüber.

3. Die Funktion in besonderen Arten des Verfahrens Im beschleunigten Verfahren und im Verfahren nach Einspruch gegen einen Strafbefehl dürfen gemäß §§ 420 Abs. 1–3, 411 Abs. 2 S. 2 StPO „mit Zustimmung des Angeklagten, des Verteidigers und der Staatsanwaltschaft, soweit sie in der Hauptverhandlung anwesend sind“, alle Arten von Ver-

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nehmungsniederschriften und schriftlichen Erklärungen verlesen werden. In der Sache wird damit die im Normalverfahren nur für den verteidigten Angeklagten geltende Regelung des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO auf alle Angeklagten ausgedehnt. Auf den ersten Blick könnte man deshalb annehmen, dass die §§ 250–256 StPO in diesen Verfahren – ebenso wie im Normalverfahren bei einem verteidigten Angeklagten (vgl. dazu unter 1.) – keine zusätzlichen inhaltlichen Anforderungen an die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme begründen. Jedoch ist dies nur für die Verfahren vor dem Schöffengericht richtig. Soweit die Verfahren – wie in der Regel – vor dem Strafrichter stattfinden, erhalten die §§ 250–256 StPO eine inhaltliche Funktion dadurch, dass dann gemäß §§ 420 Abs. 4, 411 Abs. 2 S. 2 StPO das Gericht allein über den Umfang der Beweisaufnahme entscheidet. Aufgrund dieser Besonderheit hätten die Verfahrensbeteiligten ohne die §§ 250–256 StPO keine Möglichkeit, die persönliche Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen durch einen Beweisantrag zu erzwingen. Das Gericht könnte also auch gegen ihren Willen alle Arten von Vernehmungsniederschriften und schriftlichen Erklärungen verlesen, wenn es die persönliche Vernehmung als zur Erforschung der Wahrheit nicht geboten erachtet. Dies aber ist nach § 420 Abs. 3 StPO nicht möglich. Im beschleunigten Verfahren und im Strafbefehlsverfahren vor dem Strafrichter begründen die §§ 250–256 StPO deshalb ebenso wie im Normalverfahren gegen einen unverteidigten Angeklagten Anforderungen an die Unmittelbarkeit, die sich aus den jeweiligen Regeln über den Umfang der Beweisaufnahme nicht ableiten lassen. Während aber im Normalverfahren gegen einen unverteidigten Angeklagten die inhaltliche Funktion der §§ 250–256 StPO darin besteht, die einverständliche Ersetzung der persönlichen Vernehmung zu limitieren (vgl. unter 2.), hindern die Vorschriften im beschleunigten Verfahren und im Strafbefehlsverfahren das Gericht daran, die persönliche Vernehmung gegen den Willen anderer Verfahrensbeteiligter zu ersetzen. Entsprechendes gilt im Privatklageverfahren, in dem das Gericht gemäß § 384 Abs. 3 StPO ebenfalls allein über den Umfang der Beweisaufnahme entscheidet.

III. Rechtspolitische Bewertung 1. Notwendigkeit einer gesonderten Regelung beim verteidigten Angeklagten? Die Untersuchung der Frage, ob und inwieweit die vorstehend herausgearbeiteten Modifizierungen der allgemeinen Regeln über den Umfang der Beweisaufnahme sachlich geboten ist, soll ebenfalls mit dem verteidigten

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Angeklagten begonnen werden. Seine verfahrensrechtliche Stellung wird durch die gesetzliche Regelung der materiellen Unmittelbarkeit lediglich insofern gestärkt, als er eine von ihm für notwendig erachtete persönliche Vernehmung nicht gesondert beantragen muss, sondern stattdessen sein Einverständnis mit der Verlesung verweigern kann. Einen sachlichen Grund für diese Abweichung von dem ansonsten für Beweisbegehren geltenden Verfahren könnte man allenfalls darin sehen, dass der Verzicht auf die persönliche Vernehmung typischerweise mit einer Gefahr für die Wahrheitsfindung verbunden ist. Jedoch vermag dies die Notwendigkeit einer Sonderregelung nicht zu begründen. Auch wenn der Verzicht auf eine Beweiserhebung von Amts wegen auf der Einschätzung beruht, dass eine typischerweise bestehende Gefahr im Einzelfall nicht zum Tragen kommt, kann jedenfalls dem verteidigten Angeklagten durchaus zugemutet werden, eine etwaige abweichende Auffassung durch einen Beweisantrag geltend zu machen. Beim verteidigten Angeklagten bleibt damit als möglicher Grund für eine gesonderte gesetzliche Regelung der materiellen Unmittelbarkeit nur die jedenfalls nach herrschender Meinung mit einer solchen Sonderregelung verbundene Einschränkung des Beweisantragsrechts. Ob diese Einschränkung sachgerecht ist, kann nur anhand des Grundgedankens des Beweisantragsrechts beantwortet werden. Dieses beruht – wie ich an anderer Stelle näher dargelegt habe12 – auf dem Dilemma, dass eine Auswahl der zu erhebenden Beweise nur anhand der voraussichtlichen Beweisergebnisse erfolgen kann, deren Prognose aber vom jeweiligen Vorverständnis abhängig und der Natur der Sache nach unzuverlässig ist. Weil sich das Ergebnis einer noch nicht erfolgten Vernehmung, der Inhalt einer noch nicht gelesenen Urkunde und auch die Beschaffenheit eines noch nicht wahrgenommenen Augenscheinsobjekts13 nicht zuverlässig prognostizieren lassen, sollen insoweit bestehende, zumeist aus unterschiedlichen Vorverständnissen resultierende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Verfahrensbeteiligten durch Erhebung des betreffenden Beweises ausgeräumt werden. Um dies zu gewährleisten, gibt das Beweisantragsrecht den Prozessbeteiligten die Möglichkeit, die Erhebung eines Beweises auch dann durchzusetzen, wenn das Gericht die betreffende Beweisprognose nicht teilt, also z.B. bei

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ZStW 105 (1993), 340 ff. Der Grundgedanke des Beweisantragsrechts erfasst – ungeachtet der Regelung des § 244 Abs. 5 S. 1 StPO – auch den Augenscheinsbeweis; zum Sinn dieser Sonderregelung vgl. Grünwald (Fn. 3), S. 101 ff. 13

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einer als Zeuge in Betracht kommenden Person nicht annimmt, dass sie die vom Antragsteller prognostizierte Aussage machen wird. Dieser Grundgedanke des Beweisantragsrechts passt auch auf den Fall der Ersetzung einer persönlichen Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen durch die Verlesung einer Niederschrift oder einer schriftlichen Erklärung. Da eine solche Ersetzung mit der Amtsaufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO nur zu vereinbaren ist, wenn das Gericht davon ausgeht, dass die persönliche Vernehmung zu keinem anderen Ergebnis führen würde als die Verlesung der Niederschrift bzw. schriftlichen Erklärung, beruht sie stets auf einer Prognose des Vernehmungsergebnisses. Soweit ein Verfahrensbeteiligter diese Prognose nicht für richtig hält, ist dies eine Meinungsverschiedenheit über das voraussichtliche Ergebnis einer Beweisaufnahme, die durch Erhebung des betreffenden Beweises auszuräumen ist. Dementsprechend müssen die Verfahrensbeteiligten nach dem Grundgedanken des Beweisantragsrechts auch das Recht haben, die persönliche Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen durch einen entsprechenden Beweisantrag zu erzwingen. Zur Begründung einer Einschränkung dieses Rechts ließe sich allenfalls anführen, es gäbe Fälle, in denen der Gegenstand der Beweiserhebung für den Zeugen oder Sachverständigen eine solche Routineangelegenheit sei, dass eine Erinnerung daran praktisch ausgeschlossen werden könne14. Jedoch vermag diese – spätestens mit der Erweiterung der Verlesungsmöglichkeiten durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz ohnehin nicht mehr auf alle gesetzlichen Verlesungsgründe passende – Überlegung nicht zu überzeugen. Selbst wenn es sich bei dem Gegenstand der Beweiserhebung für den Zeugen oder Sachverständigen um einen in der Regel schnell wieder vergessenen Routinevorgang handelt, kann die Befragung in der Hauptverhandlung im Einzelfall doch eine Erinnerung hervorrufen und damit zu einem von dem Inhalt der schriftlichen Erklärung möglicherweise abweichenden Vernehmungsergebnis führen. Ansonsten wäre nicht zu erklären, dass das Gericht nach allgemeiner Auffassung15 gemäß § 244 Abs. 2 StPO dazu verpflichtet ist, ungeachtet des Vorliegens eines gesetzlichen Verlesungsgrundes die persönliche Vernehmung durchzuführen, sofern es selbst ein abweichendes Vernehmungsergebnis für möglich hält. Da sich somit die Möglichkeit eines solch abweichenden Ergebnisses selbst bei einer Aussage über Routinevorgänge nicht zuverlässig ausschlie-

14 In diese Richtung etwa die Rechtfertigung des § 256 StPO bei LR/Gollwitzer (Fn. 9), § 256 Rn. 1. 15 Vgl. die Nachweise in Fn. 8.

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ßen lässt, ergibt sich aus der Existenz von Vernehmungsniederschriften und schriftlichen Erklärungen prinzipiell keine Legitimation dafür, den Verfahrensbeteiligten das ihnen ansonsten zugestandene Recht zu versagen, die Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen gemäß § 244 Abs. 3, Abs. 4 und § 245 Abs. 2 StPO im Wege eines Beweisantrags zu erzwingen. Die nach herrschender Meinung mit der gesonderten gesetzlichen Regelung der materiellen Unmittelbarkeit verbundene Einschränkung des Beweisantragsrechts ist deshalb sachlich verfehlt und dementsprechend nicht geeignet, die Notwendigkeit einer derartigen Sonderregelung zu begründen. Jedenfalls bei einem verteidigten Angeklagten, also immerhin in allen landgerichtlichen und in vielen amtsgerichtlichen Verfahren, wäre damit eine Anwendung der allgemeinen Regeln über den Umfang der Beweisaufnahme gegenüber der gesetzlichen Regelung der materiellen Unmittelbarkeit in jedem Fall vorzugswürdig. Die Rechtsstellung des Angeklagten würde durch eine solche Änderung nicht etwa geschwächt, sondern im Gegenteil insgesamt gestärkt.

2. Notwendigkeit einer gesonderten Regelung beim unverteidigten Angeklagten? Bei einem unverteidigten Angeklagten ist die Sachlage zunächst insofern eine andere, als ein solcher Angeklagter typischerweise nur begrenzt in der Lage ist, seine prozessualen Rechte aktiv wahrzunehmen. Deshalb macht es für ihn einen erheblichen Unterschied, ob er zur Durchsetzung einer persönlichen Vernehmung einen Beweisantrag stellen oder lediglich sein Einverständnis mit einer Verlesung gemäß § 251 Abs. 2 Nr. 3 StPO verweigern muss. Jedoch zwingt auch dies nicht zu einer gesonderten gesetzlichen Regelung der materiellen Unmittelbarkeit. Der Gefahr, dass ein unverteidigter Angeklagter aus Unkenntnis auf die Durchsetzung seines Rechts auf persönliche Vernehmung verzichtet, kann und sollte durch eine entsprechende Hinweispflicht des Gerichts begegnet werden. Sofern der Vorsitzende den Angeklagten vor einer Verlesung darauf hinzuweisen hätte, dass sein Beweisantragsrecht, über das er gemäß § 136 Abs. 1 S. 3 StPO bereits bei seiner ersten Vernehmung zu belehren ist, auch das Recht umfasst, die persönliche Vernehmung des Zeugen oder Sachverständigen in der Hauptverhandlung zu verlangen, könnte auch einem unverteidigten Angeklagten zugemutet werden, einen auf die persönliche Vernehmung gerichteten Beweisantrag zu stellen. Als möglicher Grund für die gesonderte gesetzliche Regelung der materiellen Unmittelbarkeit bleibt damit nur die Überlegung, dass ein unverteidigter Angeklagten in der Regel gar nicht beurteilen könne, ob eine persön-

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liche Vernehmung des Zeugen oder Sachverständigen für seine Verteidigung erforderlich ist und deshalb nur bei den vom Gesetz als besonders zuverlässig angesehenen richterlichen Vernehmungsniederschriften auf die persönliche Vernehmung des Zeugen oder Sachverständigen soll verzichten können. In der Tat dürfte eine solche Beurteilung einen unverteidigten Angeklagten in vielen Fällen überfordern. Jedoch ist die Kompetenz des unverteidigten Angeklagten zur Beurteilung seiner Verteidigungsinteressen auch bei vielen anderen prozessualen Entscheidungen zweifelhaft. Im Allgemeinen trägt das Gesetz dem nur durch das Institut der notwendigen Verteidigung Rechnung, so dass sich die Frage stellt, aus welchem Grund gerade bei der Entscheidung über die Ersetzung einer persönlichen Vernehmung durch eine nichtrichterliche Vernehmungsniederschrift oder eine schriftliche Erklärung eine professionelle Beratung unerlässlich sein soll. Dies damit zu begründen, dass eine solche Ersetzung in besonderer Weise mit Gefahren für die Wahrheitserforschung verbunden sei, mutet schon in Anbetracht der durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz erheblich erweiterten Ausnahmen von dem Ersetzungsverbot widersprüchlich an. Aber auch ohne diese Ausnahmen wäre ein derartiger Begründungsversuch insofern nicht überzeugend, als einem unverteidigten Angeklagten ohne weiteres die Möglichkeit zugebilligt wird, durch ein glaubhaftes Geständnis die Beweisaufnahme und damit die Verwertung von Zeugen- oder Sachverständigenaussagen insgesamt überflüssig zu machen16. Da diese weitergehende Möglichkeit auch dem unverteidigten Angeklagten heute regelmäßig sogar mit dem Angebot einer Strafmilderung schmackhaft gemacht wird, erscheint es doch eher anachronistisch, ihn speziell vor unbedachten Verfügungen über sein Recht auf persönliche Vernehmung der Zeugen und Sachverständigen schützen zu wollen. Im Ergebnis ist deshalb eine gesetzliche Sonderregelung der materiellen Unmittelbarkeit auch gegenüber einem unverteidigten Angeklagten nicht erforderlich. Das Gericht sollte lediglich dazu verpflichtet werden, einen solchen Angeklagten darauf hinzuweisen, dass er die persönliche Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen beantragen kann.

3. Notwendigkeit einer gesonderten Regelung in Verfahren ohne materielles Beweisantragsrecht Soweit der Strafrichter im beschleunigten Verfahren oder über den Einspruch gegen einen Strafbefehl verhandelt, schwächt die gesetzliche Rege-

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Vgl. zu dieser Möglichkeit KK-StPO/Herdegen, 5. Aufl. (2003), § 244 Rn. 1 m.w.N.

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lung der materiellen Unmittelbarkeit den Ausschluss des materiellen Beweisantragsrechts dadurch ab, dass sie den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit gibt, die persönliche Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen, deren Aussage das Gericht verlesen will, durch die Verweigerung der Zustimmung zur Verlesung zu erzwingen. Diese Abschwächung ist zwar im Ergebnis rechtspolitisch zu begrüßen, auf der Grundlage der gesetzlichen Wertentscheidung, die Auswahl der zu erhebenden Beweise allein dem Gericht anzuvertrauen, aber nicht konsequent. Wenn die zu vernehmenden Zeugen und Sachverständigen generell nur aufgrund der gerichtlichen Prognose des voraussichtlichen Vernehmungsergebnisses bestimmt werden sollen, dann dürfte auch für die Frage, ob das Ergebnis einer persönlichen Vernehmung vom Inhalt eines bereits vorliegenden Vernehmungsprotokolls oder einer schriftlichen Erklärung abweichen wird, nur die Einschätzung des Gerichts maßgeblich sein. Im Ergebnis besteht deshalb auch im Hinblick auf das beschleunigte Verfahren und das Strafbefehlsverfahren keine Notwendigkeit für eine gesonderte Regelung der materiellen Unmittelbarkeit. In Anbetracht der gravierenden Konsequenzen jeder strafrechtlichen Verurteilung wäre es vielmehr geboten, den Verfahrensbeteiligten auch in diesen Verfahren das materielle Beweisantragsrecht zu geben17, damit Meinungsverschiedenheiten über das Ergebnis einer noch nicht erfolgten Vernehmung, den Inhalt einer noch nicht gelesenen Urkunde und die Beschaffenheit eines noch nicht wahrgenommenen Augenscheinsobjekts stets durch Erhebung des betreffenden Beweises ausgeräumt werden. Von diesem Grundsatz Abstriche zu machen, erscheint mir auch aus prozessökonomischen Gründen nicht gerechtfertigt. Letztlich muss diese Frage jedoch im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter vertieft werden, da sie nicht die Notwendigkeit einer besonderen Regelung der materiellen Unmittelbarkeit, sondern die Ausgestaltung der Regeln über den Umfang der Beweisaufnahme im Kontext einer bestimmten Verfahrensart betrifft. Sie bleibt deshalb auch bei meinem abschließenden Gesetzgebungsvorschlag außer Betracht.

Vgl. zur Kritik der gesetzlichen Regelung SK-StPO/Paeffgen, 15. Lfg. (1996), § 420 Rn. 3 f. u. 19 f. m.w.N. 17

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IV. Berücksichtigung der weiteren Regelungszwecke der §§ 250–256 StPO Nachdem sich eine gesonderte gesetzliche Regelung der materiellen Unmittelbarkeit als nicht sinnvoll erwiesen hat, bleibt die Frage zu klären, wie die im geltenden Recht in diese Regelung eingefügten weiteren Rechtsfragen ohne sie gelöst werden könnten. Im Einzelnen geht es dabei um die Verwertung früherer Aussagen eines in der Hauptverhandlung schweigenden Zeugnisverweigerungsberechtigten (§ 252 StPO), die Verwertung früherer Einlassungen eines in der Hauptverhandlung schweigenden Angeklagten (§ 254 StPO) und den Schutz bestimmter Zeugen vor einer erneuten Traumatisierung durch die Wiederholung ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung (§ 255a Abs. 2 StPO).

1. Die Regelung des § 252 StPO Das Verlesungsverbot des § 252 StPO soll nicht den Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkundsbeweis sichern, sondern den zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigten die Möglichkeit geben, die endgültige Entscheidung über die Zeugnisverweigerung erst in der Hauptverhandlung zu treffen18. Dieser Regelungszweck ist durch eine Anwendung der allgemeinen Regelungen über den Umfang der Beweisaufnahme nicht zu verwirklichen, so dass § 252 StPO auch bei einem Verzicht auf eine gesonderte gesetzliche Regelung der materiellen Unmittelbarkeit in der Sache erhalten bleiben müsste. Allerdings sollte eine derartigen Gesetzesänderung vernünftigerweise zum Anlass genommen werden, die durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs19 entstandene Friktion zu beseitigen, dass zwar das Protokoll einer richterlichen Vernehmung nicht verlesen, das Ergebnis einer solchen Vernehmung aber gleichwohl durch eine Zeugenaussage des Richters verwertet werden darf. Da die Beeinträchtigung der durch § 252 StPO geschützten Interessen des Zeugnisverweigerungsberechtigten in keiner Weise davon abhängt, in welcher Form seine etwaigen früheren Aussagen verwertet werden20, müsste eine neue Regelung jedenfalls als Verwertungs- und nicht als Verlesungsverbot ausgestaltet werden. In der Sache wäre zu entscheiden, ob man wirklich erst in der Hauptverhandlung oder – wie die Rechtsprechung im Ergeb-

BGHSt 2, 99 (103 ff.); Fezer, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. (1995), 15/44 ff.; LR/Gollwitzer (Fn. 9), § 252 Rn. 3; SK StPO/Schlüchter (Fn. 9), § 252 Rn. 1. 19 BGHSt 2, 99 (105 ff.); 49, 72 (76 ff.). 20 Fezer JuS 1977, 669 (670 ff.); ders. JZ 2007, 723. 18

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nis annimmt – schon bei der ersten richterlichen Vernehmung eine endgültige Entscheidung über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts verlangen will. Ich halte die derzeitige Rechtsprechung zwar für eindeutig gesetzwidrig, die ihr zugrunde liegende rechtspolitische Wertung aber für einen akzeptablen Kompromiss. Das Abstellen auf die erste richterliche Vernehmung beugt einer Überrumpelung durch die Strafverfolgungsbehörden immer noch vor und hat den Vorteil, dass zu einem früheren Zeitpunkt Klarheit über den Fortgang des Verfahrens geschaffen und die Gefahr von Pressionsversuchen gemindert wird.

2. Die Regelung des § 254 StPO § 254 StPO wird in der Rechtsprechung als reines Verlesungsverbot interpretiert21. Die Vorschrift hindere die Gerichte nicht daran, durch die Vernehmung von Verhörspersonen als Zeugen auch das Ergebnis einer staatsanwaltschaftlichen oder polizeilichen Vernehmung des Angeklagten in die Hauptverhandlung einzuführen und bei der Urteilsfindung zu verwerten. Da es kein vernünftiges Interesse gibt, speziell die Verlesung des Ergebnisses staatsanwaltschaftlicher oder polizeilicher Vernehmungen zu verhindern22, ist § 254 StPO bei einer solchen Interpretation schon im geltenden Recht überflüssig und könnte dementsprechend bei einem Verzicht auf eine gesonderte gesetzliche Regelung der materiellen Unmittelbarkeit ohne weiteres mit aufgehoben werden. Einem etwaigen Interesse, die Verhörsperson zum Inhalt der Aussage und zum Zustandekommen des Protokolls ergänzend zu vernehmen, ließe sich auch im Rahmen des Beweisantragsrechts unschwer Rechnung tragen. Richtigerweise ist § 254 StPO jedoch als Verwertungsverbot zu verstehen. Der Vorschrift liegt ein ähnlicher Grundgedanke wie dem § 252 StPO zugrunde. Sie soll dem Beschuldigten die Möglichkeit geben, die endgültige Entscheidung über die Ausübung seines Rechts, sich nicht zur Sache einzulassen, erst bei seiner ersten richterlichen Vernehmung zu treffen23. Da das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, jedenfalls nicht weniger schutzwürdig ist als die Angehörigenbelastungsfreiheit, sollte auch dieser Grundgedanke bei einem Verzicht auf eine gesonderte gesetzliche Regelung der materiellen Unmittelbarkeit erhalten bleiben bzw. erst praktisch zur Geltung gebracht werden. Dies führt zwar insofern zu einem gesteigerten Verfah-

BGHSt 3, 149 (150); 14, 310; 312; 22, 170 (171). Vgl. Grünwald (Fn. 3), S. 133. 23 Grünwald (Fn. 3), S. 132; vgl. auch Fezer JuS 1977, 520 (524). 21 22

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rensaufwand, als dann zur Sicherung der Verwertbarkeit eines Geständnisses des Beschuldigten stets eine richterliche Vernehmung durchgeführt werden müsste. Zugleich würden dadurch aber Streitigkeiten über das Zustandekommen von in einer polizeilichen Vernehmung abgelegten Geständnissen vermieden, womit dieser erhöhte Aufwand zumindest zum Teil wieder kompensiert würde.

3. Die Regelung des § 255a Abs. 2 StPO Gemäß § 255a Abs. 1 StPO gelten für die Vorführung der Bild-TonAufzeichnung einer Zeugenvernehmung grundsätzlich die gleichen Regeln wie für die Verlesung einer Niederschrift der Vernehmung. Bei einem Verzicht auf eine gesetzliche Regelung der materiellen Unmittelbarkeit gesondert zu berücksichtigen ist deshalb nur die Erweiterung der Vorführungsmöglichkeit durch § 255a Abs. 2 StPO. Die Regelung will unter 16 Jahre alten Zeugen in bestimmten, sie erfahrungsgemäß besonders belastenden Strafverfahren eine erneute Vernehmung in der Hauptverhandlung nach Möglichkeit ersparen und lässt deshalb die Ersetzung der persönlichen Vernehmung durch die Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren richterlichen Vernehmung zu, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger bereits bei der aufgezeichneten Vernehmung Gelegenheit hatten, den Zeugen persönlich zu hören und zu befragen. Die dieser Regelung zugrunde liegende Interessenabwägung ist zwar nicht unproblematisch, soll aber im Rahmen dieses Beitrags nicht in Frage gestellt werden. Deshalb wird dem Schutzzweck des § 255a Abs. 2 StPO in dem abschließenden Gesetzgebungsvorschlag durch eine Einschränkung des Beweisantragsrechts Rechnung getragen.

V. Gesetzgebungsvorschlag 1. § 250 StPO erhält folgende Fassung: (1) Soweit die Vernehmung einer Person zur Wahrheitserforschung nicht erforderlich ist, darf sie durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung oder durch Vorführung einer Bild-Ton-Aufzeichnung ersetzt werden. (2) Ersetzt das Gericht die Vernehmung eines Zeugen unter 16 Jahren durch die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren richterlichen Vernehmung, an der der Angeklagte und sein Verteidiger Gelegenheit hatten mitzuwirken, so entscheidet es über einen Beweisantrag auf Vernehmung dieses Zeugen in Verfahren wegen Straftaten gegen die

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sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174–184f des Strafgesetzbuches) oder gegen das Leben (§§ 211 bis 222 des Strafgesetzbuches), wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 des Strafgesetzbuches) oder wegen Straftaten gegen die persönliche Freiheit nach den §§ 232 bis 233a des Strafgesetzbuches nach pflichtgemäßem Ermessen. Im Übrigen bleiben die §§ 244 Abs. 3 bis 246 unberührt. (3) Der Vorsitzende hat einen Angeklagten, der keinen Verteidiger hat, nach der Verlesung eines Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung oder der Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung darauf hinzuweisen, dass er das Recht hat, die Vernehmung der betreffenden Person zu beantragen. 2. § 251 StPO erhält folgende Fassung: Sagt der Angeklagte in der Hauptverhandlung nicht zur Sache aus, so darf nur das Ergebnis einer früheren richterlichen Vernehmung in die Verhandlung eingeführt und bei der Urteilsfindung verwertet werden. Entsprechendes gilt, wenn ein Zeuge in der Hauptverhandlung berechtigterweise das Zeugnis verweigert. 3. Die §§ 252 bis 256 StPO und § 420 Abs. 1 bis 3 StPO werden aufgehoben.

Zur strafprozessualen Verwertbarkeit von im Ausland abgelegten Geständnissen RAINER KELLER

Tema con variazioni für den Jubilar. Eines der Themen Gerhard Fezers – die Lehre von den Verwertungsverboten, durchkomponiert in einem Aufsatz von 19951 – soll hier variiert werden für die Verwertung von im Ausland abgelegten Geständnissen, zumal dazu neuerdings einige eingehende und divergierende Untersuchungen erschienen sind2. Ausgeklammert wird die Problematik der Rechtshilfe innerhalb der Europäischen Union. Praktisch geht es um Fälle wie den 1994 vom Bundesgerichtshof3 behandelten: Ein im schweizerischen Kanton Luzern wegen Diebstahls verdächtigter Deutscher hatte vor einer dortigen Amtsstatthalterin ein Geständnis abgelegt, ohne zuvor über sein Schweigerecht belehrt worden zu sein, weil dies im Kanton Luzern nicht vorgeschrieben war. Durfte das Geständnis in einem anschließend von einem deutschen Gericht wegen des Diebstahls geführten Verfahren verwertet werden?

I. Überblick In derartigen Konstellationen kommt a prima vista ein unselbständiges Verwertungsverbot in Betracht, und zwar zunächst, wenn der Status der Vernehmungsperson nicht dem eines Richters i.S. des § 254 StPO entsprach. Die Amtsstatthalterin war nicht wie deutsche Richter unabhängig. Nach Fezer4 ist dies für die Verwertung jedoch nicht primär relevant, son-

Grundfragen der Beweisverwertungsverbote (1995). Böse ZStW 114 (2002), 148 ff.; Gleß, FS Grünwald (1999), S. 197 ff.; dies., Beweisrechtsgrundsätze einer grenzüberschreitenden Strafverfolgung (2006); Schuster, Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweise im deutschen Strafprozess (2006). 3 NJW 1994, 3364 ff. 4 JuS 1977, 382; ders., Strafprozeßrecht, 2. Aufl. (1995), 14/22; ebenso Wohlers NStZ 1995, 45 f. 1 2

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dern die Funktion des Richters im Ermittlungsverfahren, nämlich (anders als der Beweise sammelnde Staatsanwalt) endgültige Beweisergebnisse zu produzieren. Da dies auch die Aufgabe der genannten Vernehmungsperson war, stand der Verwertung insofern, wie auch der Bundesgerichtshof annahm, nichts entgegen. Es ist allerdings nicht sicher, ob generell angenommen werden kann, wenn ausländische Vernehmungen im deutschen Verfahren verwertet werden sollen, komme es nicht primär auf die Unabhängigkeit der Vernehmungsperson an, sondern auf ihre Funktion, endgültige Beweisergebnisse zu produzieren. Denn die empirische Prämisse für die Nichtberücksichtigung der Unabhängigkeit – Staatsanwälte arbeiteten nicht generell unzuverlässiger als unabhängige Richter – ist eine inländische Gegebenheit. Es sind ausländische Staaten durchaus vorstellbar, in denen die Zuverlässigkeit von Staatsanwälten o.ä. Vernehmungspersonen, die dort endgültige Beweisergebnisse zu produzieren haben, dadurch erheblich gemindert wird, dass sie exekutivischen Weisungen unterworfen sind. Dann ist bei der Verwertung ihrer Beweisergebnisse ihre Gleichstellung mit Richtern nicht angemessen. Ein unselbständiges Verwertungsverbot könnte weiter abgeleitet werden aus § 136 StPO, weil die Vernehmung ohne Belehrung stattfand. Bei innerstaatlichen Vernehmungen führt das bekanntlich zu einem Verwertungsverbot5.– Fezers Lehre6 geht davon aus, dass prozessuale Regeln wie § 136 StPO nicht nur Individuen schützen, sondern darüber hinaus objektivrechtliche Selbstbeschränkungen des Staates statuieren: An Beweismitteln, die unter Verstoß gegen die genannten Regeln erlangt wurden, hat die staatliche Wahrheitsfindung kein respektables Interesse. In dieser objektivrechtlichen Sicht erscheint es gleichgültig, ob das Geständnis gegenüber in- oder ausländischen Behörden abgegeben wurde, relevant ist die Beschränkung des Verwertungsinteresses der deutschen Wahrheitsfindung. Allerdings impliziert diese Version der Ableitung eines Verwertungsverbotes, dass der Akt der ausländischen Beweiserhebung quasi von außen und nachträglich als abweichend von § 136 StPO bewertet wird7, denn die vernehmende Person handelte gemäß den für sie geltenden Normen. Die Ableitung des Verwertungsverbotes impliziert hier eine Relativierung der Differenz von selbstän-

BGHSt 38, 214; dazu Fezer JR 1992, 385. In einem Fall mit DDR-Bezug (BGHSt 38, 263) hat Fezer (JR 1992, 427 f.) ein Verwertungsverbot übereinstimmend mit dem BGH abgelehnt, dies aber auf die Besonderheiten der damaligen deutschen Einigung gestützt und Verallgemeinerungen abgelehnt. 6 (Fn. 1), S. 20 ff.; Strafprozeßrecht (Fn. 4), 16/29 ff. 7 Vgl. Fezer JR 1992, 427 (428). 5

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digen und unselbständigen Verwertungsverboten, die im Folgenden zu erörtern sein wird. Im Übrigen ist nicht ganz sicher, ob die von Fezer erkannte objektivrechtliche Selbstbeschränkung der deutschen Wahrheitsfindung auch bezogen werden kann auf Beweise, die konform mit einer Rechtsordnung erhoben wurden, der sich der Beschuldigte freiwillig unterworfen hatte. Bevor diesen Fragen weiter nachgegangen wird, muss die Ansicht der Rechtsprechung berücksichtigt werden.

II. Einschlägige Rechtsprechung Bekanntlich geht sie, wenn auch nicht ausnahmslos, von der Regel aus, die inländische Wahrheitserforschung müsse quasi ersatzweise das ausländische Verfahrensrecht als Maßstab der Beweiserhebung akzeptieren, wenn es ihr trotz einschlägiger Bemühung nicht gelungen ist, eine dem deutschen Verfahrensrecht entsprechende Beweiserhebung im Ausland zu erreichen, und die ausländische Beweiserhebung die rechtsstaatlichen Grundelemente des deutschen Verfahrensrechts nicht verfehlte8. Da im dargestellten Fall eine Orientierung der schweizerischen Vernehmungsperson am deutschen Verfahrensrecht nicht erreicht werden konnte, war für den Bundesgerichtshof die erste Voraussetzung der Anwendung des ausländischen Rechts gegeben. Er nahm weiter mit der schon dargestellten Argumentation an, dass die Funktion der Amtsstatthalterin der des inländischen Richters weitgehend entsprochen habe. Ob das Fehlen der Belehrung, das in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei inländischen Vernehmungen erst seit 1992 zu einem Verwertungsverbot führt, fundamentalen Grundsätzen des deutschen Verfahrensrechts widersprach, ließ der Bundesgerichtshof zunächst offen; inzwischen hat er die Frage implizit verneint9. Die Grundthese der Rechtsprechung – wenn das deutsche Recht für die Wahrheitserforschung nicht effizient ist, wird das ausländische akzeptiert – soll hier zunächst diskutiert werden.

8 RG GA 47 (1900), 164; RGSt 40, 189; BGH GA 1976, 218; BGH NStZ 1985, 376. Ebenso AK-StPO/Dölling, Bd. II, 2 (1993), § 251 Rn. 27; LR/Gollwitzer, 25. Aufl. (2000), § 223 Rn. 38, § 251 Rn. 2; AK-StPO/Keller Bd. II, 2 (1993), § 223 Rn. 18 ff.; KK-StPO/Tolksdorf, 5. Aufl. (2003), § 223 Rn. 25. 9 BGH NStZ-RR 2002, 65 (67).

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III. Das Problem des anzuwendenden Rechts 1. Anwendung ausländischen Rechts In der Literatur10 wird dafür geltend gemacht, ein unselbständiges Verwertungsverbot setze stets ein Handlungsunrecht der Strafverfolgungsbehörde bei der Beweiserhebung voraus; nur daraus könne ein Verwertungsverbot abgeleitet werden. Gegen das inländische Recht könne die ausländische Behörde bei der Beweiserhebung nicht verstoßen; insofern könne nur ein hypothetisches Handlungsunrecht gegeben sein. Es müsse also grundsätzlich auf das bei der Beweiserhebung geltende Recht abgestellt werden, im Falle ausländischer Beweiserhebung mithin – wie die Rechtsprechung annimmt – auf das ausländische Recht, sofern nicht elementare Verfahrensgrundsätze entgegen stehen11. Im Übrigen komme ein (nicht abgeleitetes) selbständiges Verwertungsverbot in Betracht; im gegebenen Fall wird ein solches teilweise bejaht12. Stellt man zunächst die Klärung des Begriffs Handlungsunrecht zurück, so ist problematisch, ob das eventuelle Handlungsunrecht ausländischer Behörden nur anhand des ausländischen Rechts festgestellt werden kann. Insofern ist das Strafanwendungsrecht aufschlussreich. Nach diesem – vor allem dem deutschen – darf, was ein Angehöriger des Staates A in diesem getan hat, unter Umständen vom Staat B nach dessen Strafrecht abgeurteilt werden, auch wenn es im Staat A nicht oder anders strafbar war. Das deutsche Strafrecht „gilt“, wie es in den §§ 5–7 StGB mehrfach heißt, u.U. im Ausland bzw. weltweit. Seine dementsprechende Anwendung unterstellt, dass die davon Betroffenen im Ausland nicht nur hypothetisch ein Handlungsunrecht im Sinn des deutschen materiellen Rechts „verwirklicht“ haben. Deshalb ist es, ungeachtet der Differenz von materiellem und Prozessrecht, prinzipiell auch möglich, vom ausländischen Recht geleitete Tätigkeiten ausländischer Behörden nach deutschem Verfahrensrecht zu beurteilen und diesbezüglich gegebenenfalls ein Handlungsunrecht festzustellen. Dies ist im Übrigen auch vom Völkerrecht grundsätzlich gedeckt: Das Verfahrensrecht der Staaten darf der transnationalen Anwendung ihres materiellen Rechts in der Regel folgen13.

Schuster (Fn. 2), S. 95 ff.; vgl. auch Nagel, Beweisaufnahme im Ausland (1988), S. 152 f.; Wilkitzki, in: Grützner/Pötz (Hrsg.), IRG-Kommentar (Stand: 2000), Vor § 68 Rn. 17. 11 Schuster (Fn. 2), S. 102. 12 Schuster (Fn. 2), S. 209 f. 13 Kreß, Journal of International Criminal Justice 4 (2006), 561 (564); O’Keefe, ibid. 2 (2004), 735 (737); zu Ausnahmen: Keller GA 2006, 25 (29 ff.). 10

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Wenn die Beweiserhebung ausländischer Behörden nach deutschem Recht beurteilt und ein Handlungsunrecht festgestellt wird, so hat dieses allerdings, das ist nicht zu leugnen, stark normativistische Züge. Und wenn aus dem Handlungsunrecht ein Verwertungsverbot abgeleitet wird, so bezieht sich die dem zugrunde liegende Beurteilung zunächst auf das Ergebnis der Beweiserhebung – hier das Protokoll der Vernehmung. Nur weil dieses gegebenenfalls nicht verwertet werden soll, wird die Erhebung unter Umständen als im Sinn des deutschen Rechts unzulänglich bewertet14. Der Sache nach wird damit, wie erwähnt, die Differenz zwischen unselbständigen und selbständigen Verwertungsverboten relativiert. Schuster15 geht noch einen Schritt weiter und meint, es könnten in derartigen Fällen nur selbständige Verwertungsverbote angenommen werden. Ob das angemessen ist, ist Gegenstand der allgemeinen Lehre von den Beweisverboten und an dieser Stelle nicht relevant. Auch wenn die Frage der Verwertung eines ausländischen Beweises im Horizont eines selbständigen Verbots thematisiert wird, kommt es darauf an, ob dabei die Konsequenzen der deutschen Beweiserhebungsnormen für die Zulässigkeit der Verwertung leitend sind oder außer Acht gelassen werden mit der Begründung, die Beweiserhebung sei nach dem Recht des Auslandes zu bewerten. An dieser Frage führt die Verschiebung der Differenz von selbständigen und unselbständigen Verwertungsverboten nicht vorbei. Für die Relevanz des ausländischen Rechts bringt Schuster16 allerdings beachtliche Erwägungen, indem er auf ähnliche Konstellationen hinweist. Bei tatsächlichen oder rechtlichen Veränderungen in der Zeit zwischen Beweiserhebung und Verwertung stellt die Rechtsprechung auf die ex anteSicht ab. Wenn Ermittlungen in einem nichtstrafrechtlichen Verfahren (z.B. Insolvenz-, Steuerverfahren) Erkenntnisse erbrachten, die für die strafprozessuale Wahrheitsfindung erheblich sind, so wird die Zulässigkeit der Verwertung nicht grundsätzlich von der strafprozessualen Bewertung der Beweiserhebung abhängig gemacht. Vielmehr wird diese nach den einschlägigen Normen des nichtstrafrechtlichen Verfahrens beurteilt und – davon gesondert – teilweise in selbständigen verfassungsrechtlichen Verwertungsverboten reguliert. Daraus könnte per Analogie geschlossen werden, dass in einem deutschen Strafverfahren auch bei der Verwertung von

Entsprechend dürfte zu argumentieren sein nach der Lehre Denckers (Verwertungsverbote im Strafprozeß [1977], S. 59 ff.), der unselbständige Verwertungsverbote mit sachhaltiger Begründung strikt aus dem Handlungsunrecht ableitet. Zur entsprechenden Begründung von Verwertungsverboten durch Grünwald vgl. Gleß, FS Grünwald (1999), S. 197 f. 15 (Fn. 2), S. 99 ff. 16 Ibid. 14

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Beweisen, die in einem ausländischen Strafverfahren erhoben wurden, das ausländische Verfahrensrecht zu akzeptieren sei. Dieser Schluss wäre jedoch vorschnell. Ob bei Rechtsänderungen zwischen Beweiserhebung und Verwertung die ex ante-Sicht gilt, ist umstritten17. Vor allem aber lässt sich die Art der Koordination der verschiedenen innerstaatlichen Verfahrensrechtssysteme nicht ohne weiteres übertragen auf das Verhältnis der Verfahrensrechtssysteme verschiedener Staaten. Das innerstaatliche Recht ist zwar in sich vielfach differenziert, steht aber vorab unter dem Gebot der Widerspruchsfreiheit und in diesem Sinne der Rechtseinheit. Auch wird es durch eine Instanz, das Parlament, gesetzt, ist ihr zuzurechnen und durch sie demokratisch legitimiert. All dies trifft auf das Verhältnis des innerstaatlichen Verfahrensrechts zum ausländischen nicht zu. Im Hinblick auf die gegebenen grundlegenden Differenzen kann es durch die Einbeziehung ausländischen Rechts zu tiefergreifenden Friktionen im inländischen Verfahren kommen als bei der Einbeziehung inländischen Rechts. Zwar ergibt sich daraus keineswegs, dass generell innerstaatliches Recht ausländisches Recht nicht einbeziehen dürfe; dies ist in diversen Bereichen normal (Beispiel: IPR). Aber der postulierte Analogieschluss von der Koordination verschiedener innerstaatlicher Verfahrensordnungen zur zwischenstaatlichen Koordination ist schwach.

2. Anwendung inländischen Rechts Für diese wird geltend gemacht, für das inländische Strafverfahren sei es irrelevant, ob die ausländische Beweiserhebung der lex fori entsprach. Für die Frage der Verwertung bei der Wahrheitsfindung im deutschen Verfahren müsse die Rechtsmäßigkeit der Beweiserhebung grundsätzlich nach deutschem Recht beurteilt werden18. Allerdings müsse das inländische Strafverfahrensrecht teilweise „angepasst“ werden, weil es bei der Beweiserhebung im Ausland nicht effektiv angewendet werden kann. „Tatsächliche“ Hindernisse stünden dem entgegen. In diesem Zusammenhang soll u.a. das Protokoll der ausländischen Amtsstatthalterin als richterliches oder wenigstens polizeiliches im Sinn des deutschen Rechts bewertet werden19. Zur weiteren Begründung der Vernachlässigung des ausländischen Rechts

Vgl. Wohlers NStZ 1995, 45 (46). Böse ZStW 114 (2002), 148 (150 ff.); Gleß, FS Grünwald (1999), S. 207 ff.; Wohlers NStZ 1995, 45 (46). 19 Böse ZStW 114 (2002), 148 (151, 153, 171); Gleß, FS Grünwald (1999), S. 207, 209. Wenn konsequent deutsches Recht angewandt würde, dürfte das Protokoll auch nicht als polizeiliches gewertet werden. 17 18

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bei der Beweisverwertung wird darauf hingewiesen, dass das deutsche (wie jedes andere auf eine differenzierte Gesellschaft bezogene) Strafverfahren in spezifischer Weise strukturiert ist. Die Bedeutung einzelner Verfahrenshandlungen wird daher durch ihren verfahrenspezifischen Zusammenhang bestimmt. Wird die Orientierung an beliebigen ausländischen Verfahrensrechten bezüglich der Beweiserhebung zur Normalität, so wird die Konsistenz des inländischen Verfahrens gefährdet20. Das diesbezügliche Gebot der Rechtsprechung, die Friktionen der verschiedenen Beweiserhebungsnormen bei der richterlichen Beweiswürdigung zu kompensieren, ist seinerseits im Hinblick auf die differenzierte Struktur des deutschen Verfahrens problematisch21. Dass die Wahrung der Konsistenz des staatlichen Verfahrens vorrangig für den Umgang mit ausländischen Beweiserhebungen sein soll, macht freilich auch die Problematik der hier erörterten Konzeption aus. Gegen sie könnte eingewandt werden, unter modernen Verhältnissen könnten Staaten nicht mehr als vereinzelte Identitäten verstanden werden. Ihr Aufeinanderbezogensein sei ebenso erheblich, wie ihre normative Identität. Dies bedarf der Erläuterung.

3. Offenheit und Konsistenz des staatlichen Verfahrensrechts Die Vorstellung, ein Staat könne bei der Durchsetzung seines Rechts die Standards grundsätzlich unabhängig vom Recht anderer Staaten bestimmen, ist der Realität kaum mehr angemessen. Staaten sind tatsächlich vielfältig aufeinander angewiesen. Sie können sich rechtlich nur gestützt auf andere Staaten und deren Recht realisieren. Die Bundesrepublik wäre nicht was sie ist, wenn sie von korrupten Willkürregimes umgeben wäre; auch die inländische Bedeutung und Verarbeitung von Kriminalität bliebe davon nicht unberührt. Insofern erscheint die These, für die deutsche Verwertung von Beweisen sei irrelevant, ob die ausländischen Behörden bei der Erhebung der Beweise ihr Recht beachtet hätten, etwas überzogen. – Im Völkerrecht wird die Entwicklung reflektiert22. Im 19. Jahrhundert hatte noch Binding die solipsistische Staatskonzeption postuliert mit der Annahme, jeder Staat dürfe Kraft seiner Souveränität sein Strafrecht an sich weltweit anwenden23.

20 Gleß ZStW 115 (2003), 131 (139 ff.); grundlegend dies., Beweisrechtsgrundsätze (Fn. 2), S. 141 ff., 202 ff., 224 ff. 21 Vgl. Fezer JZ 2001, 363 (364); ders., FS Gössel (2002), S. 627 ff. 22 Vgl. Oeter, FS Steinberger (2002), S. 259 ff. 23 Dazu Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. (1983), S. 123 f.

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Auch im Lotus-Urteil des StIGH von 192724 finden sich noch Züge jener Vorstellung. Seitdem wird sie zunehmend relativiert. Die Souveränität eines Staates ergibt sich rechtlich durch das Völkerrecht, d.h. durch die Anerkennung seitens anderer Staaten, deren Souveränität mit der Behauptung eigener Souveränität grundsätzlich zu respektieren ist. Demgemäß gilt staatliche Souveränität als schon im Ansatz eingefügt in das Verhältnis zu anderen Staaten. Aus diesem relativierten Souveränitätsverständnis ergibt sich zunächst keine Pflicht der Staaten sich kooperativ einzustellen und etwa bei der Strafverfolgung ausländische Beweismittel großzügig zu verwerten. Grundsätzlich dürfen sie sich bei ihrer Rechtsdurchsetzung isolieren. Dies hätte allerdings Konsequenzen für die Bürgerfreiheiten, zu denen gegenwärtig die transnationale Entfaltung von Wirtschaft, Tourismus, Informationsverkehr etc. gehört. Damit ist notwendig die Internationalisierung der Kriminalität und der Bedingungen ihrer Wahrnehmung verbunden. Würde ein Staat diese grundsätzlich auf das Inland beschränken, so müsste er, um sein Recht zu wahren, präventive Maßnahmen ergreifen, die darauf gerichtet wären, den Bedarf nach Rechtshilfe zur Ausnahme, die inländische Nachweisbarkeit zum Normalfall zu machen. Die internationale Freiheitsentfaltung würde beschränkt. Deshalb sollte nicht Isolationismus, sondern mehr oder weniger Offenheit für Kooperation dem Verständnis des Beweisrechts zugrunde gelegt werden. Die anderen Staaten sind nicht nur tatsächliche Hindernisse der deutschen Wahrheitserforschung. Freilich muss die Kooperation, da es keine Weltregierung gibt, getragen sein von den Staaten Kraft ihrer Souveränität und eigenständigen rechtlichen Ordnung. Nur aufgrund der Anerkennung der Rechtsordnung der einzelnen Staaten als selbständige, d.h. als je besondere, ist ihre Kooperation legitimierbar. Es ist verfehlt, die Staaten nur als Serviceagenturen effizienter internationaler Kriminalitätsbekämpfung zu verstehen. Die demokratisch legitimierte und kulturell geprägte Besonderheit der Rechtsordnungen der Staaten muss gewahrt werden. Allerdings sind staatliche Eigenständigkeit und kulturelle Besonderheit keine überhistorischen Festlegungen. Sie implizieren Entwicklung und damit auch die Möglichkeit der Assimilation von Rechtsordnungen und Kulturen. Die Kooperation ist ein Element solcher Entwicklung. Sie muss jedoch so kanalisiert werden, dass die staatlichen Rechtsordnungen, solange sie die Entwicklung zu tragen haben, nicht zu einem unkontrollierten Patchwork globaler Einflüsse desintegriert werden. Deshalb kann nicht als

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Permanent Court of International Justice, Ser. A. Nr. 9.

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Normalfall gelten, dass das deutsche Strafverfahrensrecht beliebige ausländische Rechtsordnungen beim Tatnachweis rezipiert und nur als Grenze ihre Grundelemente berücksichtigt werden. Das Beweisrecht ist ein zentrales Element der normativen Verarbeitung von Kriminalität. Die Gefahr seiner Desintegration durch internationale Einflüsse der Rechtshilfe ist wegen des Anwachsens internationaler Kriminalität durchaus relevant. Anders mag die Öffnung des staatlichen Verfahrensrechts einzuschätzen sein, wo überstaatliche Einheiten eine eigenständige Rechtskultur entwickelt haben, die – wie möglicherweise die hier nicht thematische Europäische Union – ihrerseits Träger und Legitimation von Kooperation sein kann. Angesichts der hier vertretenen Skepsis gegenüber genereller Rezeption ausländischen Rechts mag auf Rechtssysteme wie das Internationale Privatrecht verwiesen werden, in welchen die Anwendung ausländischen Rechts sinnvoll praktiziert wird. Indessen kann dies nicht Vorbild für das Strafrecht sein, denn das IPR hat einen anderen Gegenstand: Primär die aufgrund subjektiver Rechte, individueller Freiheit also, gestalteten Verhältnisse der Individuen. Im Strafrecht wird den Individuen eine objektive Gerechtigkeitsordnung oktroyiert. Partielle Modifikationen, etwa hinsichtlich legitimer Opferinteressen, ändern das objektivrechtliche Grundkonzept nicht wesentlich. Die subjektiven Rechte des Beschuldigten im Strafverfahren fungieren primär als Abwehr; ihre Gestaltungsfunktion ist ersetzbar: Auch ohne seine Mitwirkung kann der überführte Angeklagte verurteilt und damit der objektiven Ordnung unterworfen werden. Gerade wegen dieses zentralen Stellenwerts der objektiven Seite des Verfahrensrechts muss seine Legitimität bewahrt, d.h. seine Konsistenz gegenüber internationalrechtlichen Einflüssen vorrangig sein. Die zugleich gebotene kooperative Einstellung kann deshalb nur unter Berücksichtigung der Besonderheiten einzelner Konstellationen – hier die der §§ 136, 254 StPO – erwogen werden. Unveränderlich ist diese Konzeption selbstverständlich ebenfalls nicht. Wenn die gegenwärtige Tendenz, den Strafprozess für die subjektive Disposition der Beteiligten zu öffnen, noch weitergetrieben wird, so mag einst auch die Anwendung ausländischen Rechts den Beteiligten verfügbar werden.

IV. Modifikationen im Zusammenhang der §§ 136, 254 Abs. 1 StPO 1. Kongruenz der Funktion und der Zuverlässigkeit Wie die erste Voraussetzung der Verwertung – Richterstatus des Vernehmenden – modifiziert werden kann, wurde eingangs gezeigt. Dass ent-

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scheidend sein sollte, ob die Funktion des ausländischen Vernehmenden der des deutschen Richters bei der Vernehmung entspricht, wird bestätigt durch das im Vorangegangenen dargestellte Gebot, die Konsistenz des deutschen Verfahrens, d.h. den funktionalen Zusammenhang der einzelnen Rechtsakte, zu wahren. – Hinzukommen muss aber, dass der Status des ausländischen Vernehmenden eine dem deutschen Richter ähnliche Zuverlässigkeit generell verbürgt. Dies kann, wie gezeigt, nicht ohne weiteres aus der Kongruenz der Funktionen erschlossen werden25.

2. Probleme der Zurechnung des Belehrungsmangels Nun zum Fehlen der Belehrung über das Schweigerecht. Die Literatur26 versteht das Belehrungsgebot als Teil des subjektiven Rechts des Beschuldigten, sich nicht selbst durch Aussagen belasten zu müssen und seine Verteidigung frei gestalten zu können. Geständnisdruck bei ausländischen Vernehmungen schließe deren Verwertung ebenso aus wie bei inländischen Vernehmungen. Die durch das Fehlen der Belehrung entstandene Einschränkung der freien Verteidigung im ausländischen Verfahren sei dem Beschuldigten nicht zurechenbar. Dass sie auch der deutschen Strafverfolgungsbehörde nicht zurechenbar sei, sei irrelevant, weil die Beschränkung der freien Verteidigung den Wertungen des deutschen Prozessrechts widerspreche. Wenn die Belehrungspflicht konsequent als Teil des subjektiven Rechts auf freie Verteidigung verstanden wird, lässt die dargestellte Argumentation Zweifel aufkommen. Subjektive Rechte sind Elemente von Freiheit und mit Verantwortung verbunden. Ihr Träger muss ein Stück weit dafür einstehen, ob und wie er sie ausübt. Wenn jemand sich freiwillig aus dem territorialen Bereich der inländischen Rechtsordnung heraus und in den Bereich einer anderen Rechtsordnung begibt, in welcher seine freie Verteidigung nicht durch Belehrung unterstützt wird, so hat er dies zu verantworten. Er hat, wenn er freiwillig ausgereist ist, das andere Land wegen dessen wirtschaftlicher, personeller, steuerlicher oder dergleichen, jedenfalls wegen vom Inland abweichender Verhältnisse für seinen Aufenthalt gewählt; andernfalls wäre er nicht gereist. Er kann dann nicht plausibel geltend machen, speziell die strafprozessualen Verhältnisse jenes Landes habe er aber, trotz vorbehaltloser Einreise, nicht gewollt. Dass er dann bei seinem folgenden

Im Ergebnis ebenso Britz NStZ 1995, 607 f.; Gleß, FS Grünwald (1999), S. 209. Böse ZStW 114 (2002), 148 (169 ff.) m.w.N.; Schuster (Fn. 2), S. 207 ff.; Wohlers NStZ 1995, 45 f. 25 26

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Aufenthalt in Deutschland von den Konsequenzen jenes Aufenthalts im Ausland entlastet werden sollte, liegt unter dem Aspekt des subjektiven Rechts, das mit Verantwortung verbunden ist, nicht auf der Hand, denn der Träger des subjektiven Rechts hat in zurechenbarer Weise verhindert, dass die inländische Strafverfolgung die Vernehmung gegebenenfalls nach hiesigen Standards durchführt. Würde angenommen, der Verzicht auf die Belehrung im Ausland sei nicht zu berücksichtigen, nur innerprozessualer Verzicht sei relevant, so müsste konsequent weiter angenommen werden, auch die Belehrungspflicht selber bestehe nur innerprozessual, nicht im Ausland27. Im Kontext des rein subjektiven Rechts auf freie Verteidigung ist ein Verwertungsverbot bezüglich ausländischer Vernehmungen also kaum zu begründen. Hier könnte nun der Hinweis der Literatur auf die Wertungen der deutschen Rechtsordnung relevant sein und eine objektivrechtliche Einschränkung der subjektiven Folgenverantwortung statuiert werden. Die deutsche Verfahrensrechtordnung, so könnte mit Fezer angenommen werden, verwertet unter Druck zustande gekommene Geständnisse nicht, ungeachtet einer eventuellen Verantwortlichkeit des Betroffenen. Dies trifft jedoch nicht ganz zu. § 136 StPO gewährleistet das Unterbleiben von Geständnisdruck, auch wenn man vom Ausland absieht, nur in einem Teilbereich der inländischen Gesellschaft: im Verhältnis des Beschuldigten zur Strafverfolgungsbehörde und zu anderen mit dieser informationell verbundenen Behörden, denen gegenüber die Bürger auskunftspflichtig sind28. Außerhalb dieses sozialen Bereiches, im Verhältnis zwischen privaten Bürgern also, von denen einer den anderen etwa durch Drohung zu einem Geständnis veranlasst, ist dessen Verwertung nach h.M. nur in wenigen Ausnahmefällen ausgeschlossen: wenn schwere Menschenwürdeverletzungen als Druckmittel eingesetzt werden29, unter Umständen bei Ermittlungen durch V-Leute oder private Sicherheitsdienste30. Davon abgesehen gilt in den Verhältnissen privater Bürger Selbstverantwortung hinsichtlich der Geständnisse. Grund dieser Begrenzung der Verwertungsverbote dürfte sein, dass die zwischenbürgerlichen Verhältnisse weitgehend frei sind und sein sollen von staatlicher Steuerung. Die objektivrechtliche Fürsorge durch Verwertungsverbote reicht also regelmäßig nur soweit wie

So die Vertreter der Anwendung ausländischen Rechts, vgl. Fn. 10. Dazu BVerfGE 56, 37 (48 ff.). 29 Vgl. Beulke, Strafprozessrecht, 9. Aufl. (2006), Rn. 479; Fezer, Strafprozeßrecht (Fn. 4), 3/29. 30 Dazu Keller, Rechtliche Grenzen der Provokation von Straftaten (1989), S. 139 ff.; ders., FS Grünwald (1999), S. 274 ff. 27 28

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die staatliche Steuerung des Verhältnisses des Beschuldigten zu Strafverfolgungs- und ähnlichen Behörden. Was ergibt sich, wenn diese Wertungen auf die vorliegend problematisierte Nutzung ausländischer Geständnisse übertragen werden? Zunächst ist klar, dass die vom deutschen Staat veranlasste Tätigkeit ausländischer Ermittlungsbehörden nicht in Analogie zur Tätigkeit von inländischen VLeuten oder privaten Sicherheitsdiensten bewertet werden kann, wenn zuvor die ausländische Vernehmung der durch einen deutschen Richter gleichgestellt wurde. Relevant aber ist, dass die ausländische Vernehmungstätigkeit eine staatliche ist und oft durch deutsche Ermittlungsbehörden veranlasst wurde. Wenn die Produkte dieser Rechtshilfe verwertet würden, so würde die ausländische Vernehmungstätigkeit für die inländische Strafverfolgung funktionalisiert – allerdings meist nicht strikt. Die Rechtshilfe funktioniert zwischen den Staaten in der Regel nicht in gleicher Weise rechtlich determiniert wie die Amts- und Rechtshilfe zwischen innerstaatlichen Strafverfolgungs- und anderen Behörden. Sie lässt dem ersuchten Staat meist mehr Eigenständigkeit. An diese Differenzen der Unterscheidung und Verkoppelung von Behörden kann die Zurechnung des Belehrungsmangels geknüpft werden.

3. Bedingungen der Zurechnung zur inländischen Strafverfolgung Das Fehlen der Belehrung bei der ausländischen Vernehmung ist der inländischen Wahrheitsfindung zuzurechnen, wenn sie jene steuerte, d.h. wenn auf Grund rechtlicher oder informeller Bindung der ausländischen Strafverfolgungsbehörde an die inländische jene bei der Entscheidung über das Ob der Vernehmung keine erhebliche Eigenständigkeit hatte. Solche Verbindung ähnelt der innerstaatlich verbindlichen Amts- bzw. Rechtshilfe zwischen Behörden31. Bei solcher Verbindung wird die ausländische Vernehmung der Sache nach Teil der inländischen Wahrheitsfindung und gehört in den objektivrechtlichen Schutzbereich des inländischen nemo tenetur-Grundsatzes, woraus – ungeachtet der Verantwortung des Betroffenen

31 Die Ähnlichkeit wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass die ausländische Strafverfolgungsbehörde bei der Durchführung der Rechtshilfe ihr eigenes Vefahrensrecht anwendet, denn bei innerstaatlicher Rechtshilfe ist es i.d.R. ebenso.

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für die vorangegangene ausländische Rechtsanwendung – ein Verwertungsverbot abzuleiten ist.32 Den Belehrungsmangel auch dann der innerstaatlichen Strafverfolgung vollständig zuzurechnen, wenn die ausländische Vernehmung nicht in der dargestellten Weise strikt mit der innerstaatlichen Strafverfolgung gekoppelt war, der ausländische Staat bezüglich des Ob der Vernehmung also noch erhebliche Eigenständigkeit hatte, ist unangemessen. Der vollständige staatliche Schutz des Beschuldigten muss nicht auf Vernehmungen erstreckt werden, die staatlich nicht voll zu steuern sind. Das wurde anhand der Geständnisse zwischen Privaten und ihrer Verwertung gezeigt. Dass es sich vorliegend um eine (ausländische) staatliche Vernehmung handelt, ändert an der Begrenzung nichts. Der Beschuldigte hat das Eingreifen des innerstaatlichen Schutzes durch seine Ausreise in zurechenbarer Weise verhindert. Diese Zurechnung ist die Kehrseite der Beliebigkeit, mit der die Individuen von Rechtsordnung zu Rechtsordnung wechseln können. Die Alternative wäre die Restriktion des freien grenzüberschreitenden Wirtschafts-, Personen- und Informationsverkehrs. Allerdings ist eine teilweise Zurechnung des Belehrungsmangels zur inländischen Wahrheitserforschung angemessen. Denn auch wenn die dargestellte enge Koppelung nicht gegeben ist, ist die deutsche Strafverfolgungsbehörde bezüglich der Art der Rechtshilfe nicht völlig frei von Verantwortung. Ebenso wie bei herkömmlichen Ermittlungen muss sie bei ihrem Rechtshilfeersuchen unnötige, d.h. unverhältnismäßige Belastungen des Betroffenen vermeiden. Die ausländische Vernehmung ohne Belehrung ist eine Belastung. Auch wenn der Beschuldigte gegenüber inländischen Strafverfolgungsorganen keinen Anspruch darauf hat, dass sie unbedingt unterbleibt, kann er doch verlangen, dass sie von der inländischen Behörde nicht unnötig veranlasst wird. Diese muss also, soweit möglich, die ausländische Behörde veranlassen, die Belehrung durchzuführen. Erfüllt sie diese Pflicht nicht, greift, wie auch der Bundesgerichtshof33 annimmt, ein Verwertungsverbot ein. Dass die Wahrung des nemo tenetur-Grundsatzes außerhalb des inländischen Verfahrens derart gemäß der Verhältnismäßigkeit abgestuft wird, entspricht der Verfassungsrechtsprechung34.

Praktisch dürfte die enge Bindung nur selten gegeben sein. Immerhin nähert sich die Kooperation der EU-Staaten diesem Zustand. Dementsprechend wird in Art. 4 des EURechtshilfeübereinkommens v. 25.5.2000 der jeweils um Rechtshilfe ersuchte Staat verpflichtet, bei dieser möglichst die Standards des ersuchenden Staates zu wahren. 33 BGHSt 35, 82; 42, 86. 34 BVerfGE 56, 37 (42, 45 f., 48). 32

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Die dargestellten Begrenzungen des Verwertungsverbots wurden hier im Hinblick auf den Beschuldigten entwickelt, der sich freiwillig in den Wirkungsbereich der Rechtsordnung des Staates begeben hatte, in welchem er vernommen wurde. Gleichzustellen ist der Fall, dass der Beschuldigte Angehöriger jenes Staates ist, denn das Unterworfensein unter die Rechtsordnung ist – bis zur Grenze der Menschenrechte – Essential der Staatsangehörigkeit. Zusammengefasst ergibt sich: Das hier thematisierte Geständnis ohne Belehrung ist im deutschen Verfahren verwertbar, wenn Funktion und Zuverlässigkeit der vernehmenden Personen der eines deutschen Richters entsprach und der Vernommene dem ausländischen Staat angehörte oder sich freiwillig in diesen begeben hatte – nicht jedoch, wenn die ausländischen Ermittlungen in der dargestellten Weise mit den deutschen verkoppelt waren, auch nicht wenn die deutsche Behörde es versäumt hatte, auf die Wahrung inländischer Standards bei der Vernehmung hinzuwirken. – Praktisch ist die Verwertung des im Ausland abgelegten Geständnisses ohne Belehrung demnach oft zulässig, denn die erwähnte Kopplung dürfte nur selten gegeben sein. Im Hinblick auf die Standards des deutschen Strafverfahrens ist das problematisch. Immerhin wird jedoch die Gefahr der Desintegration der inländischen Verfahrensordnung begrenzt durch das Erfordernis kongruenter Funktion und Zuverlässigkeit der ausländischen Vernehmungsperson und durch die erwähnte Pflicht der inländischen Behörde, auf die Wahrung ihrer Standards hinzuwirken. Auch sollte bedacht werden, dass in der Praxis jede Kooperation der inländischen Strafverfolgung mit dem Ausland Abstriche an den inländischen Standards impliziert und aus der strikt internen Sicht problematisch erscheinen muss. Inwieweit die dargestellten Grundsätze auf die Verwertung anderer ausländischer Ermittlungen übertragen werden können, mag hier offen bleiben. Zumindest bestätigt die dargestellte Orientierung an der Verantwortlichkeit des Beschuldigten für die Anwendung ausländischen Verfahrensrechts, dass es angemessen ist, bei einer ausländischen Zeugenvernehmung ohne die in § 52 StPO vorgeschriebene Belehrung ein Verwertungsverbot anzunehmen35: Hier ist der Beschuldigte nicht dafür verantwortlich, dass die Vernehmung nach ausländischem Recht stattfand.

BGH NStZ 1992, 394 stützte das Verwertungsverbot auf den Rechtsgedanken des § 252 StPO. 35

Verwertbarkeit von im Ausland abgelegten Geständnissen

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V. Schluss Offen bleibt auch, ob die dargestellte Lösung der strafprozessualen Intention Gerhard Fezers entspricht. Immerhin könnte sie belegen, dass seine These, die den Verwertungsverboten zugrunde liegenden Normen enthielten eine objektivrechtliche Komponente, auch in den vorliegend behandelten Konstellationen fruchtbar ist.

Strafprozessuale Beweisstrukturen RAINER PAULUS

I. Finalität des Beweises „Hingegen liefert den förmlichsten und großartigsten Syllogismus … jeder gerichtliche Prozeß. Die … Kriminalübertretung … ist die Minor … Das Gesetz für solchen Fall ist die Major. Das Urteil ist die Konklusion, welche daher als ein Notwendiges vom Richter bloß ‚erkannt’ wird“1. Diesem syllogistischen Gedankenprozess2 wiederum strukturgleich ist die „Minor“3: Obersatz ist die Gerichts-„Überzeugung“ (§ 261 StPO), Untersatz der – durch Ergebnisse (Aussagen- und Urkundeninhalte, Sachbeschaffenheiten) des Beweisverfahrens i. w. S. (§§ 243 Abs. 4 S. 2, 244 Abs. 1, 2 StPO: Angeklagten-, Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen, Augenscheinseinnahmen) konstituierte – „Inbegriff der Verhandlung“ (§ 261 StPO), Schlussfolgerung die „Wahrheit“ (§ 244 Abs. 2 StPO). Beweisführungssubjekt im Strafverfahren ist das Gericht: nicht judici fit probatio4, sondern judex demonstrat5, zielgerichtet auf die justizförmige Entscheidung, ob die gegen die angeklagte(n) Tat(en) streitende Unschuldsvermutung widerlegt, im Bereich der „Minor“6 also deren Prämissen – überzeu-

Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Teil II, Buch I, Kap. X. Hinweis auf logische Beweisform juristischer Prozesse auch bei Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (1973), S. 3; Walter, Freie Beweiswürdigung (1979), S. 7. 3 Bereits Zachariae, Handbuch des deutschen Strafprocesses, 2. Bd. (1868), S. 399: Die „Uebertretung ist das Product einer Verstandesoperation, eines Syllogismus, bei welchem das allgemeine Erfahrungsgesetz auf die concreten Erscheinungen angewendet … wird“. Vgl. auch Fezer StV 1995, 95 (97). 4 Anders die h.M.; vgl. nur Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl. (1983), S. 50. 5 Verf., FS Weber (2004), S. 486. Erg. unten I. 2. b. (1) mit Fn. 51. 6 Zu ihrer Bedeutung schon Glaser, Beiträge zur Lehre vom Beweis im Strafprozeß (1883), S. V (Vorwort): „Den Mittelpunkt jedes Prozesses bildet die Beweisfrage; praktisch ist sie das in erster Linie Ausschlag gebende“. So auch Alsberg, Der Beweisantrag im Strafprozeß (1930), S. III (Vorwort); BVerfGE 57, 250 (275): „Zentrales Anliegen des Strafprozesses“ sei „die Ermittlung des wahren Sachverhalts …“. 1 2

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gungsbegründende (§ 261 StPO) „Tatsachen“-Feststellung (§ 244 Abs. 2 StPO) – erfüllt sind oder nicht7. Zentralfrage ist das Verhältnis zwischen „Wahrheit“ und „Überzeugung“.

1. „Wahrheit“ als Maßstab rechtsrichtiger „Überzeugung“ a) In langer Tradition und heute fast unbezweifelt soll für „Überzeugung“ (§ 261 StPO) vorausgesetzt sein, dass sie übereinstimmt mit der ontologisch-materiellen „Wahrheit“ i.S.d. realen Tatgeschehens, der objektivhistorischen Wirklichkeit8, ohne die „das materielle Schuldprinzip sich nicht verwirklichen“9 lasse; falls nicht, sei eine dennoch erklärte „Überzeugung“ falsch und könne ein „Fehlurteil“10 bewirken. Weil aber jene „absolute“ Seins-Wahrheit menschlicher Erkenntnis verschlossen sei, da schon erkenntnistheoretisch der Induktionsbeweis nur zu synthetischen Wahrscheinlichkeitsurteilen führen kann, dürfe, sollte Strafrechtspflege nicht unmöglich sein, größtmögliche Wahrheits-„Nähe“11 genügen. Dies erkann-

Verf., FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät (2002), S. 688 f. Kommissionsbericht zum StPO-Entwurf 1874, in: Hahn (Hrsg.), Die gesammten Materialien zur StPO, Bd. II (1881), S. 1512 („Die Aufgabe des Strafverfahrens besteht in der Ermittelung der materiellen Wahrheit, und die Zuerkennung der Strafe hat nur in der Feststellung derselben ihren sicheren Boden“); RGSt 6, 135 (136); 12, 427 (428); 13, 158 (160); 14, 364 (374): 15, 337 (338); RG JW 1914, 893; 1916, 1026; BVerfGE 57, 250 (275); BVerfG (Kammer) NJW 2003, 2444 (2445); BGHSt 36, 354 (358 f.); BGH NStZ 1992, 48 (49); StV 2007, 403 (405); BGHZ 53, 245 (255 f.); Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, Teil I, 2. Aufl. (1964), Rn. 363, 364, 373; Rödig (Fn. 2), S. 159; Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß (1992), S. 176, 177; SK-StPO/Schlüchter, 13. Lfg. (1995), § 261 Rn. 61; Perron, Das Beweisantragsrecht des Beschuldigten im deutschen Strafprozeß (etc.) (1995), S. 38 m.w.N.; Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren (1998), S. 49, 187, 229 f.; Weigend ZStW 113 (2001), 271 (303); Gössel, Ermittlung oder Herstellung der Wahrheit im Strafprozeß? (2000), S. 8, 13 f.; Erb, FS Rieß (2002), S. 79 f.; Engländer ARSP-Beiheft 104 (2005), S. 85 (90); Ranft, Strafprozeßrecht, 3. Aufl. (2005), Rn. 1622; Kindhäuser, Strafprozessrecht (2006), § 20 Rn. 5; LR/Rieß, StPO, 26. Aufl. (2006), Einl. G Rn. 44; Volk, Grundkurs StPO, 5. Aufl. (2006), § 24 Rn. 1; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 244 Rn. 11. 9 BVerfGE 57, 250 (275) und StV 2007, 393 (396). Zahlr. Nachw. zur „Verwirklichung des materiellen Rechts“ als Prozesszweck bei Verf., FS Spendel (1992), S. 688 f. sowie Verf., FS 600 Jahre Juristenfakultät (2002), S. 689 f. 10 Dazu unten I. 2. a. mit Fn. 45. 11 Nachw. bei Verf., FS 600 Jahre Juristenfakultät (2002), S. 696. Ferner: Lampe, FS Pfeiffer (1998), S. 377; Perron (Fn. 8), S. 38; Stamp (Fn. 8), S. 156 m.N.; Weigend ZStW 13 (2001), 271 (277); Eicker, Die Prinzipien der „materiellen Wahrheit“ und der „freien Beweiswürdigung“ im Strafprozeß (2001), S. 14 f., 18, 41 f.; Schulenburg, Das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung im Strafprozeß (2002), S. 54; Popp, Verfahrenstheoretische Grundlagen der Fehlerkorrektur im Strafverfahren (2005), S. 136; Hamm/Hassemer/Pauli, 7 8

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te – ohne sachlichen Unterschied12 und nur verschiedene, je als Wahrheit „geltende“ Aspekte des beweismäßigen Erkenntnisvorgangs betonend und im Kern bis heute fortwirkend – die RG-Rechtsprechung einerseits13 im Bewusstsein „hoher“ bzw. „mit an Sicherheit grenzender“ Wahrscheinlichkeit14 (weil absolute Wahrheit objektiv unerreichbar sei), andererseits in der subjektiven Gewissheit fern praktisch-konkreter Zweifel an der zu erkennenden Realität15 (wegen theoretisch-abstrakt stets möglicher, aber prozes-

Beweisantragsrecht, 2. Aufl. (2007), Rn. 30. Schon Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren in Fortbildung (etc.), 1. Abt., 2. Aufl. (1832): „der materiellen Wahrheit möglichst gemäßes … Urtheil“ (§ 57) i. S. „der Erreichung historischer Wahrheit …“ (§ 80). 12 Zutr. Meurer, FS Tröndle (1989), S. 542; Schmitt (Fn. 8), S. 202; A. Schmidt, Grundsätze der freien richterlichen Beweiswürdigung im Strafprozeßrecht (1994), S. 80 ff.; Stamp (Fn. 8), S. 166 f. 13 Nur „schief und ungenau“ (RGSt 66, 163, [164 f.]) bzw. „bedenklich und missverständlich“ (BGHSt 10, 208 [209]; BGH GA 1954, 153) formuliert. 14 Grundlegend RGSt 61, 202 (206) v. 15.2.1927 (nahezu wortgleich mit RGZ 16, 338 v. 14.1.1885): „Ein ‚absolut sicheres’ Wissen … ist der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit überhaupt verschlossen. Wollte man eine Sicherheit so hohen Grades verlangen, wäre eine Rechtsprechung so gut wie unmöglich. Wie es allgemein im Verkehr ist, so muß auch der Richter sich mit einem so hohen Grade von Wahrscheinlichkeit begnügen, wie er bei möglichst erschöpfender und gewissenhafter Anwendung der vorhandenen Mittel der Erkenntnis entsteht. Ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit gilt als Wahrheit, und das Bewußtsein des Erkennenden von dem Vorliegen einer so ermittelten hohen Wahrscheinlichkeit als die Überzeugung von der Wahrheit“. – In der Sache ebenso RGSt 72, 89 f.; 75, 372 (374): „an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ stehe „der Gewißheit gleich“; RG DRiZ 1927, 336; JW 1928, 116; 1935, 543. 15 Fundamental RGSt 66, 163 (164 f.) v. 14.3.1932: Der Tatbestand sei nur dann mit erforderlicher Sicherheit festgestellt, „wenn das Urteil erkennen läßt, daß der Tatrichter von der Schuld des Angeklagten voll überzeugt ist“. Dies werde „nicht durch das Bewußtsein ausgeschlossen, daß jedes auf menschlicher Erkenntnis beruhende Urteil, mag es auch noch so sicher erscheinen, allen Fehlern und Irrtümern unterworfen ist, die durch die Unzulänglichkeit dieser Erkenntnis bedingt sind. Objektive Wahrheit ist nur gedanklich vorstellbar: Ihr Nachweis durch menschliche Erforschung und Erkenntnis ist begrifflich unmöglich, weil diese als an die erkennende Person gebunden von Natur subjektiv, also relativ sind … Auch dem Richter ist deshalb die Findung absoluter Wahrheit verschlossen; auch er vermag sich nur auf Grund der Abwägung des Für und Wider zu einer für sein richterliches Erkennen gültigen, also subjektiven oder relativen Wahrheit, nämlich zur richterlichen Überzeugung durchzuringen“ (Hervorhebungen im Original). Bestätigt in RGSt 72, 155 (156); RG JW 1933, 454; 1935, 543. Vgl. bereits Glaser (Fn. 6), S. 137 (zum „Indizienbeweis“): „Es bleibt daher in einem solchen Fall ein Zweifel nicht mehr übrig, sondern nur das Bewußtsein jener abstracten Möglichkeit anderen Sachverhalts, wie es überall zurückbleibt, wo nicht apodiktische Gewissheit zu erlangen ist. Und auf der Abneigung menschlichen Geistes, sich durch eine blosse Möglichkeit, ohne die geringste Verbürgung ihrer Verwirklichung zum Handeln bestimmen zu lassen, an wunderbare Zufälle zu glauben, wo andere Erklärungen näher liegen, die nichts als jene abstracte Möglichkeit gegen sich haben, – beruht die prozessuale Gewissheit“.

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sual irrelevanter Zweifel im Bewusstsein, dass jene absolute Wahrheit ohnehin nicht feststellbar sei). Aus beiden – zunächst isoliert gesehenen, später einander immer stärker angenäherten16 – Maßprinzipien17 hat sich als der materiell-ontologischen Wahrheit „nahe“, nunmehr „prozessuale“ Wahrheit die derzeit h.M.18 einer Kombination subjektiver „Gewissheit“ mit objektiv „hoher Wahrscheinlichkeit“, rational-argumentativ19 verbunden „als jeweils notwendige Komponenten in einem Gegenseitigkeitsverhältnis“20, etabliert. b) Allerdings war derart heute Geltendes längst gesagt. Bereits im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess war erkannt, dass der Tatbeweis (constare de delicto) durch das reale corpus delicti nur bei Spuren hinterlassenden delicta facti permanentis (z.B. Mord, Brandstiftung) zu führen war, nicht auch bei delicti facti transeuntis (etwa Beleidigung, Ketzerei), so dass schon frühzeitig das corpus delicti als Beweis verstanden wurde21, zunächst in Form der „objektiv-mathematische Wahrheit“ postulierenden „gesetzli-

Seit jeher gilt, dass (prozessual) auch „persönliche Gewissheit“ logischem Denken und allgemeingültiger Erfahrung verpflichtet ist (RGSt 19, 55 (59); 32, 165 (177); 41, 78 (79); 45, 138 (139); 61, 151 (154); 64, 250 (251); BGHSt 10, 208 (211); BGH NJW 1951, 325; GA 1954, 152; Beling, Reichsstrafprozessrecht (1928), S. 292: Beweiswürdigende „Schlußfolgerungen sind … immer nur auf dem Grunde allgemeiner Erfahrungsregeln möglich“. 17 Übersichten bei Meurer, FS Tröndle (1989), S. 538–541; LR/Gollwitzer, 25. Aufl. (2001), § 261 Rn. 7–9; Schmitt (Fn. 8), S. 202–205; A. Schmidt (Fn. 12), S. 90–100, 107–110; Herdegen, FS Hanack (1999), S. 312 ff.; ders. NJW 2003, 3513 (3514–3516). 18 BVerfGE 57, 250 (275); BVerfG (Kammer) NJW 2003, 2444 (2445); BGHSt 38, 186 (193); BGH NStZ 1988, 236 (237); 1990, 402; StV 1993, 510 (511); 1995, 453; NJW 1992, 921 (923); 1999, 1562 (1564); BayObLG NStZ-RR 1996, 312; Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. (1985), S. 298; Fezer StV 1995, 95 (96); Schäfer StV 1995, 147 (149 ff.); SK-StPO/Schlüchter (Fn. 8), § 261 Rn. 55; Herdegen NStZ 1987, 193 (197); ders., FS Hanack (1999), S. 326 ff.; ders. NJW 2003, 2316; Jähnke, FS Hanack (1999), S. 360 ff.; KMR/Stuckenberg, 19. Lfg. (1999), § 261 Rn. 19, 20, 26; Eicker (Fn. 11), S. 36, 40, 45; Gräns, Das Risiko materiell fehlerhafter Urteile (2002), S. 172 ff., 179; Hellmann, Strafprozessrecht, 2. Aufl. (2005), Rn. 800, 801; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 5. Aufl. (2006), Rn. 91, 96; LR/Gollwitzer (Fn. 17), § 261 Rn. 13; Meyer-Goßner (Fn. 8), § 261 Rn. 2; Volk (Fn. 8), § 29 Rn. 4; Krey, Deutsches Strafverfahrensrecht, Bd. 2 (2007), Rn. 1027, 1028. 19 Nur die Begründung der Überzeugung, nota bene, nicht auch der als Ergebnis festgestellte Sachverhalt, muss hiernach „hochwahrscheinlich“ zutreffend sein angesichts auch faktisch möglicher, aber erfahrungsgemäß völlig außergewöhnlicher Geschehensabläufe (zutr. Jähnke, FS Hanack (1999), S. 362 m. Hinw. auf BGHSt 32, 38 u. BGHSt 35, 347: Fälle „Sirius“ und „Katzenkönig“). 20 Fezer StV 1995, 95 (99); BGH StV 1993, 510 (511): „Die … persönliche Gewißheit … setzt objektive Grundlagen voraus. Diese müssen aus rationalen Gründen den Schluß erlauben, daß das festgestellte Geschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit der Wirklichkeit entspricht“. 21 Zum Ganzen Hall, Die Lehre vom corpus delicti (1933), S. 34 ff. 16

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chen Beweistheorie“22, ab dem 18. Jahrhundert in Gestalt des „moralische Gewissheit“ trotz nur objektive Wahrscheinlichkeit begründenden „Indizienbeweises“23. c) Ist subjektivem Erkennen verschlossene „objektiv-materielle“ Wahrheit Beweisziel, erscheint das Zentralproblem dann rechtlich zu fordernder Wahrheits-Nähe konstruktiv in der Tat kaum anders lösbar als auf den von Rechtsprechung und sie begleitender Literatur begangenen Wegen. Jenes Minus bedarf – über die Unverzichtbarkeit effektiver Strafrechtspflege hinaus – dann normativer Legitimation. Diese fehlt. Erstens: Wahrheit ist we-

22 Ausführlich Verf., FS Weber (2004), S. 487–499. Glaser (Fn. 6), S. 5: „Man glaubte so ein System aufstellen zu können, welches den richterlichen Urtheilen objective Wahrheit, nicht blos subjectives Fürwahrhalten – rechtliche Gewissheit, nicht blosse Wahrscheinlichkeit zu Grunde legt“. 23 „Wahrheit“ als im Grunde nur „Wahrscheinlichkeit“ bzw. „moralische Gewissheit“: Z.B. Leyser, Meditationes ad pandectas (etc.) (1717 ff.), Bd. 8 spec. 561 med. 4 („Ad corpus delicti certitudo moralis, qualis in rebus humanis haberi potest, non mathematica et absoluta, requiritur“), Bd. 9 spec. 591 med. 1–4 („corpus delicti nihil aliud esse, quam certitudinem moralem de crimine vero commisso“); v. Boehmer, Elementa Jurisprudentiae Criminalis (etc.) (1749), sect. I cap. XIII § 241 („impossibile est, de omnibus rebus mathematicam certitudinem exigere; plerumque moralis sufficit …”); Beccaria, Dei delitti e delle pene (1764), (deutsch von Esselborn [1905]), § XIV (Unter „Wahrscheinlichkeit … verstehe ich diejenige Gewißheit …, welche zur Bestrafung unumgänglich erfordert wird”, weil „die moralische Gewißheit nur bloße Wahrscheinlichkeit ist, welche Gewißheit genannt zu werden verdient, weil sie einem jeglichen Menschen von gesundem Verstande Beifall abnötigt … Die Gewißheit … ist also diejenige, nach welcher auch sonst jeglicher Mensch in den wichtigsten Angelegenheiten des Lebens zu verfahren pflegt“); Gmelin, Grundsätze der Gesetzgebung über Verbrechen und Strafen (1785), § 251; Tittmann, Handbuch des gemeinen deutschen Peinlichen Rechts, Theil IV (1810), § 853 („Es wird und kann … keine mathematische Gewißheit gefordert werden, sondern es muß genügen, wenn es sich aus dem ganzen Zusammenhange der Sache vernünftiger Weise nicht anders glauben läßt, als daß das Verbrechen … verübt worden sei“); v. Soden, Geist der peinlichen Gesetzgebung Teutschlands, 2. Bd., 2. Aufl. (1792), S. 251 f. (Beweis sei die „Ueberzeugung, daß eine strafbare Handlung … begangen sey“; die „Fackel der Vernunft kann allein und wird und muß den Richter sicher leiten … in der Beurtheilung, ob die Stufe der Ueberzeugung erreicht sey, die die Möglichkeit des Gegentheils ausschließt …“); v. Quistorp/Roß, Grundsätze des teutschen Peinlichen Rechts, 6. Aufl. (1821), Bd. III, 1. Abt. § 611; Mittermaier (Fn. 11), § 80 („Nach der Natur der hier vorhandenen Geistesoperationen kann nicht jene Nothwendigkeit erreicht werden, welche bei der mathematischen Wahrheit möglich ist“. Das „Erforschen der Wahrheit“ erfordere einen „Kampf von Gründen für und wider …, und nur aus der sorgfältigen Abwägung dieser Gründe geht die Gewißheit hervor, bei welcher alle Gründe des Gegentheils, welche die Erfahrung in concreto aufzeigte, völlig beseitigt sind und die nur als Möglichkeiten bedachten Gründe für das Gegentheil … so ausgeschlossen sind, daß kein Zweifel zurückbleibt“). – Zum Postulat richterlicher Überzeugungsbegründung im reformierten Strafprozess des 19. Jahrhunderts näher Verf., FS Weber (2004), S. 499–502.

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der je nach Verfahrensstruktur und -bedeutung divers noch ein von Prozedierqualität abhängiges Produkt24. Sie ist nie graduierbar25, sondern gleich in Schwurgerichts- und Bußgeldsachen; divers sind nur Art und Umfang festzustellender entscheidungsrelevanter Tatsachen sowie das Beweisrecht26. Gleiches ist einzuwenden gegen eine „kommensurable“ Wahrheit als Ergebnis einer Abwägung zwischen zu schützenden Interessen (hier: der Strafverfolgung) und dem dazu nötigen Verfahrensaufwand (als Interessenbeeinträchtigungen)27. Zweitens: Neuere Versuche, „Fehlverurteilungsrisiken“ zu legitimieren durch objektive, die Überzeugung i. S. subjektiver Gewissheit ersetzender Kriterien wie „Schuldwahrscheinlichkeit“ von ca. 96%28, eines dem „erlaubten Risiko“ in der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit vergleichbaren „Entscheidungsnormensystems“29 oder „intersubjektiv als rechtlich richtig begründeter Regeln (Entscheidungsnormen)“30, überzeugen mangels zureichender Maßkriterien31 ebenso wenig wie das Abstellen auf subjektive Gewissheit (einschließlich sprachlich nicht vollständig darstellbarer, nicht-begrifflicher, gleichwohl empirisch zuverlässiger Erkenntnisse) als erforderliche und genügende Verurteilungsvoraussetzung32. Drittens: Nachvollziehbarkeit der Beweiswürdigung durch „vernünftige“, „erfahrene“, „sachkundige“ Dritte, namentlich Richter33, kann Maßstab nicht pro-

So jedoch Volk, FS Salger (1995), S. 417 f. Neumann, Wahrheit im Recht (2004), S. 9. 26 §§ 244 Abs. 2, 3–4; 411 Abs. 2 S. 2; 420 Abs. 4; 384 Abs. 3; 261 StPO; 71 Abs. 1, 77 OWiG. 27 Rödig (Fn. 2), S. 158 ff., 160–162. 28 Hoyer ZStW 105 (1993), 523 (536 ff., 540 f.): Weil dann das Gewicht des Eingriffs in den status negativus des potentiell Nichtschuldigen durch die sehr geringe Nichtschuldwahrscheinlichkeit ausgeglichen sei. 29 Stein, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts (1995), S. 233 (247 ff.), wobei im „Spannungsverhältnis zwischen dem Tatschuldgedanken und den Erfordernissen einer effektiven Strafrechtspflege“ (S. 262) eine „generelle Leitlinie“ sei, „daß die Eingehung der Risiken um so eher zu akzeptieren ist, je existentieller eine effektive Strafrechtspflege darauf angewiesen ist“ (S. 252). 30 Freund, FS Meyer-Goßner (2001), S. 425 ff., über deren „rechtlich legitimierbaren Inhalt“ freilich noch zu diskutieren sei (S. 428). 31 Zutr. Kritik bei Erb, FS Rieß (2002), S. 83 ff. 32 Frister, FS Grünwald (1999), S. 173 ff., 176 ff., 183 f., 186. Dazu krit. auch Freund, FS Meyer-Goßner (2001), S. 412–414. Im Übrigen unten I. 2. b. (2) mit Fn. 54–57. 33 So z.B. Stree, In dubio pro reo (1962), S. 40; Käßer, Wahrheitserforschung im Strafprozeß (1974), S. 63 ff.; Peters, Der neue Strafprozeß (1975), S. 171; ders. JR 1977, 83 (84); Otto NJW 1978, 1 (7); Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. (1998), § 15 Rn. 13. – Abl.: Walter (Fn. 2), S. 166 ff.; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit (1978), S. 115 f.; Gräns (Fn. 18), S. 181. – Näher Verf., FS Krause (1990), S. 73 f. sowie FS Spendel (1992), S. 693. 24 25

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zessualer Wahrheit für das Tatgericht, sondern allenfalls revisionsgerichtlicher Urteilsprüfung sein34. Viertens: Durch Konsens Prozessbeteiligter im Wege des Dialogs bzw. Diskurses geschaffene „Wahrheit“35 scheidet schon angesichts ausschließlich richterlicher Feststellungskompetenz aus. Eröffnet der Konsens den Pragmatismus prozesserledigender Absprache, ist der Bereich nur noch „formeller Wahrheit“ i.S.d. Dispositionsmaxime des Parteienprozesses nicht mehr fern. d) Wahrheit als „objektive Wirklichkeit“ ist schon materiell-rechtlich häufig irrelevant: War Tatzeit um 21.32 Uhr eines bestimmten Tages, ist die dem nur „nahe“ Aussage, sie liege zwischen 21.00 und 22.00 Uhr, wahr und rechtsgenügend. Dies nur ein Beispiel für viele, dass zeitlich, räumlich, quantitativ exakte Übereinstimmung mit der Realität i.d.R. nicht gefordert ist36. e) Schließlich ist der als „objektiv-historische Wirklichkeit“ verstandene37 Terminus Wahrheit in § 244 Abs. 2 StPO bereits eine legislatorische Fehlleistung. Er wurde erstmals 193538 anlässlich der Normierung der in der RG-Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Beweisantragsrecht in die StPO eingefügt39, ohne zu beachten, dass Beweisziel für das RG gerade nicht die empirisch unerreichbare und schon begrifflich (!) nicht feststellbare „absolute“ Wahrheit, sondern die als solche nur fingierte („geltende“) richterliche Überzeugung war40. Daher sinnvoll und sachgerecht nicht „zur Erforschung der Wahrheit“ ist die Zweckformel des § 244 Abs. 2 StPO zu interpretieren, sondern „zur Bildung seiner Überzeugung (§ 261)“.

Verf., FS Spendel (1992), S. 705–718. Etwa Grasnick, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammers Archiv (1993), S. 55 (67 ff.); Hamm/Hassemer/Pauli (Fn. 11), Rn. 24. 36 Verf., FS Krause (1990), S. 55. 37 Vgl. oben I. 1. a. mit Fn. 8. 38 Die StPO 1877 enthielt nur folgende Regelungen (in Klammern die im Wesentlichen entspr. heutigen Vorschriften): § 243 Abs. 1 (§ 244 Abs. 1); § 243 Abs. 2 (§ 244 Abs. 4); § 244 Abs. 1 (§ 245 Abs. 1); § 244 Abs. 2 (§§ 384 Abs. 3, 411 Abs. 2 S. 2, 420 Abs. 4) für das SchöffG sowie das LG als Berufungsinstanz in Übertretungs- und Privatklagesachen. 39 G. zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des GVG v. 28.6.1935 (RGBl. I, 844). § 244 Abs. 2 lautete: „Das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist“. 40 Oben I. 1. a. mit Fn. 14–15. 34 35

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2. „Überzeugung“ als Kriterium prozessualer „Wahrheit“41 a) Mit dem Beweisziel „Überzeugung“ ist „Wahrheit“ nur als ontologische, nicht auch als Prädikat rechtsrichtiger, rational durch das Tatgericht verifizierbarer42 und revisionsgerichtlich falsifizierbarer43 Aussagen aus dem gerichtlichen Erkenntnisprozess eliminiert. In der formalen Wahrheitsdefinition als adaequatio (Übereinstimmung) intellectus (Vorstellung bzw. Aussage) et rei (rechtsrelevanter Sachverhalt) bedarf die adaequatio im „prozessualen Raum“ der meta-sprachlichen Kategorie, einer normativ geforderten „Überzeugung“, in der eine „Tatsache“ als rechtlich existent und damit über sie als wahr ausgesagt wird44. Diese prozessuale Wertung weist ein Urteil, dem eine auf ordnungsgemäßer Überzeugungsbildung gegründete Tatsachenfeststellung zugrunde liegt, als rechtsrichtig und auch dann nicht als „Fehlverurteilung“ aus, wenn jener Sachverhalt der historischen Wirklichkeit nicht korrespondiert45. „Wahrheit“ ist im Strafverfahren somit nicht (ontologische) Voraussetzung, sondern (semantische) Folge der „Überzeugung“46. b) (1) Als prozessuales Wahrheitskriterium ist die „Überzeugungs“Aussage legitimierbar nur durch zureichende Begründung. Das war – nach beseitigter gesetzlicher Beweistheorie – Standard schon im „reformierten Strafprozess“ des 19. Jahrhunderts47, wurde aber nach Inkrafttreten der RStPO 1877 mit Hinweis auf eine subjektiv-psychologische Natur und weitgehende Irrationalität der Überzeugungsbildung als scheinbar unüberprüfbar hinzunehmende „Domäne des Tatgerichts“ nicht (mehr) gesehen48.

Zur näheren Begründung muss ich hier auf meine in Fn. 5 (S. 503 f.), 7 (S. 706 ff.), 9 (S. 696 ff.) und 33 (S. 68 ff., 72 f.) angeführten Arbeiten verweisen. 42 Oben I. vor 1. mit Fn. 5. 43 Verf., FS Krause (1990), S. 75 und FS Spendel (1992), S. 713–715. 44 Verf., FS Spendel (1992), S. 703 f. 45 Verf., FS Spendel (1992), S. 697. Ausführlich Verf., FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät (2002), S. 689 ff., 708 zur verfehlten h.M. (vgl. oben I. 1. a. mit Fn. 7–10), Prozessaufgabe sei die „Verwirklichung des materiellen Rechts“ und damit die Feststellung des ontologisch-wahren Sachverhalts. 46 Verf., FS Krause (1990), S. 56 f., 62 ff., 68 ff., 72 ff. sowie FS Spendel (1992), S. 697. 47 Nachweise in Fn. 23. 48 Dazu Verf., FS Spendel (1992), S. 700–702 und Verf., FS Weber (2004), S. 502 f. sowie unten II. 1. a. mit Fn. 66–73. – Anders der Zivilprozess, dem der Geschworenengerichtsidee geschuldete rationalitätshemmende Begründungsdefizite der Beweiswürdigung fremd waren: „Diese sehr freie Stellung kann dem deutschen Richter im Vertrauen auf dessen Bildung, Integrität und unabhängige Stellung unbedenklich gewährt werden. Um eine sorgfältige Abwägung der Gründe, welche für die Ueberzeugung des Richters leitend sind, zu sichern, ist angeordnet, daß in dem Urtheil diese Gründe anzugeben seien … Uebrigens darf … nicht übersehen 41

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Wesentlich dank der BGH-Rechtsprechung49, vergleichbar bedeutsam wie die RG-Judikatur zu Aufklärungspflicht und Beweisantragsrecht50, ist nunmehr mit Recht anerkannt, dass das Tatgericht seine ÜberzeugungsAussage als „wahr“ beweisen muss durch in sich lückenlose (insbesondere konkrete Alternativen berücksichtigende), widerspruchs- und kreisschlussfreie, Gesetze allgemeiner und sprachlicher Logik sowie Regeln genereller und wissenschaftlicher Erfahrung (je nach ihrer Geltungskraft) beachtende Argumentation51. „Subjektive Gewissheit“ und „objektiv hohe Wahrscheinlichkeit“ taugen weder je für sich noch kumuliert als prozessuale Wahrheitskriterien52. Vielmehr gilt: Urteilswahrheit meint Begründungsrichtigkeit53. (2) Soweit nicht ausschließlich zwingende Denk- oder/und (rechtlich) ausnahmslos gültige naturwissenschaftliche Gesetze konkretisierend, lässt selbst jene rechtsgenügende Begründung objektiv stets Raum für (ohnehin nie ausschließbare) „abstrakte“ wie auch (dem Induktionsbeweis immanente) „konkrete“ Zweifel an ihrer Ergebnisrichtigkeit und damit Aussagenwahrheit offen54. „Überzeugung“ (§ 261 StPO) bedeutet aber für das Tatgericht subjektiv-persönliche Gewissheit von Begründungsrichtigkeit, nicht neben dieser, sondern durch sie, nicht als Bedingung (Maßstab, Voraussetzung) für sie, sondern Folge aus ihr55. Rechtlich ist diese Gewissheit nicht, wie vielfach gemeint, irrationaler, voluntativer, intuitiver, psychologischer Art, sondern rationaler, noch objektiv mögliche Zweifel an der Begrün-

werden, daß mit der Verwerfung einer gesetzlichen Beweisregel die Regel selbst noch nicht beseitigt, sondern nur in ihrer rechtlichen Bedeutung verändert wird, indem die gesetzlichen Vorschriften den Charakter goldener Erfahrungssätze annehmen“ (Motive zu § 259 CPO [= heute § 286 ZPO], in: Hahn/Stegemann (Hrsg.), Materialien zur Civilprozeßordnung, 1. Abt., 2. Aufl. (1881), S. 275 f.). 49 Umfassend aufgearbeitet von Fezer, Die erweiterte Revision – Legitimierung der Rechtswirklichkeit? (1974), S. 51 ff.; ders., Möglichkeiten einer Revision in Strafsachen (1975), S. 65–94, 97–129, 142–170; Nack StV 2002, 510 ff. u. 558 ff.; w. Nachw. bei Verf., FS Spendel (1992), S. 702, Fn. 83. 50 Unten II. 1. b. mit Fn. 89–107. 51 Verf., FS Weber (2004), S. 486. 52 Zur näheren Begründung Verf., FS Spendel (1992), S. 692–696 u. FS Weber (2004), S. 502 f. – Selbst Vertreter der gegenwärtig h.M. (oben I. 1. a. mit Fn. 18) konzedieren vereinzelt, dass eine Bestimmung des Beweismaßes der „hohen Wahrscheinlichkeit“ bisher nicht gelungen sei (Herdegen NStZ 1987, 199; Gräns, [Fn. 18], S. 190). 53 Verf., FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät (2002), S. 708 u. FS Weber (2004), S. 504. 54 „Demgemäß schließt die Forderung einer objectiven … empirischen Gewißheit einen Widerspruch mit dem Wesen der Ueberzeugung … in sich“ (Zachariae [Fn. 3], S. 399). 55 Fezer StV 1995, 95 (99); Verf., FS Spendel (1992), S. 694 f.

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dungsrichtigkeit endgültig mittels dem erkennenden Gericht in alleiniger Kompetenz zugewiesener unmittelbarer Wahrnehmung der Beweisverfahrensergebnisse (des „Was“) und der Art und Weise ihres Zustandekommens (des „Wie“) in mündlicher Hauptverhandlung56 überwindender Erkenntnisakt, eine conviction nicht intime, sondern raisonée. Und nur so verstanden gälte: „Diese persönliche Gewissheit ist für die Verurteilung notwendig, aber auch genügend“57. Solche (Begründungs-)Gewissheit ist schließlich aus rechtlich-verantwortungsethischen Gründen unverzichtbar58.

II. Instrumentalität des Beweises 1. Disparitäten zwischen Gerichtsüberzeugung (§ 261 StPO) und Umfang der Beweisaufnahme (§ 244 StPO) Ist rechtsrichtige Überzeugung als strafprozessuales Wahrheitskriterium das Ziel, so sind prozessordnungsgemäß gewonnene Beweisergebnisse zweckfinale Mittel des Beweises59. Dennoch ist für die h.M.60 § 261 StPO

56 In öffentlicher, mündlicher und unmittelbarer Beweisaufnahme erkannte bereits der „reformierte Strafprozeß“ eine der wesentlichen Garantien zuverlässiger Überzeugungsbildung (Verf., FS Weber [2004], S. 501 m. Nachw. in Fn. 141). Entsprechend führen die Motive zum StPO-Entwurf 1874 (in: Hahn, Die gesammten Materialien zur StPO, 1. Abt., 1880), S. 194 aus: „Nur wenn die erkennenden Gerichte sich darauf angewiesen sehen, ausschließlich aus den lebendigen Erkenntnisquellen der mündlichen Verhandlung ihre Entscheidung zu schöpfen“, werde sich „eine genügende Gewähr für die Rechtssicherheit finden“. 57 BGHSt 10, 208 (209). Vgl. schon RGSt 66, 164 (Zitat oben Fn. 15). 58 Näher Verf., FS Spendel (1992), S. 695 m. Nachw. – Dem Richter ist „als höchstpersönliche Verantwortung auferlegt“, dass „er mit seiner ganzen Persönlichkeit hinter der Entscheidung steht“ (Hanack JuS 1977, 727 [729]). Ebenso Erb, FS Rieß (2002), S. 92. 59 Oben I. vor 1. mit Fn. 3. 60 Wessels JuS 1969, 1 (6); Engels GA 1981, 21 (25 ff.); Herdegen, GS Meyer (1990), S. 189: „Die Qualität der Wertung hängt von der Qualität des Objekts der Wertung ab“; ders., in: KK-StPO, 5. Aufl. (2003), § 244 Rn. 17, 25; Schulz StV 1991, 354 (361); A. Schmidt (Fn. 12), S. 172; Fezer StV 1995, 263; LR/Gollwitzer (Fn. 17), § 244 Rn. 25; Toepel, Grundstrukturen des Sachverständigenbeweises im Strafprozeßrecht (2002), S. 309, 317; Schulenburg (Fn. 11), S. 79 ff.; Tenorth-Sperschneider, Zur strukturellen Korrespondenz zwischen den gesetzlichen Ablehnungsgründen nach § 244 Abs. 3 S. 2 StPO und einem zulässigen Beweisantrag (2004), S. 39. Früh schon Lobe LZ 1914, Sp. 977 ff.: In § 260 StPO 1877 „wird eine stattgefundene Beweisaufnahme vorausgesetzt, … nichts aber über die Anordnung der Beweisaufnahme und deren Umfang selbst gesagt … Für diesen Umfang aber gibt es einen objektiven Maßstab, der gefunden wird aus dem Wesen der Wahrheitsforschung durch das Gericht“ (Sp. 981); „Das Gericht ist verpflichtet alle zur Erforschung der Wahrheit objektiv … geeigneten und bekannten Beweismittel zu erheben und zu prüfen“ (Sp. 985).

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nicht Grund (Maßprinzip) des Beweisaufnahmeumfangs (§ 244 Abs. 2 StPO), sondern – bei eingeräumter „vielfacher Verschränkung“61 – die „strikte Trennung von gebundener Beweiserhebung und freier Beweiswürdigung … eine unverzichtbare Errungenschaft des modernen Strafprozesses“62: Überzeugungsbildung sei statthaft erst nach vollständig erfüllter Aufklärungspflicht63; § 261 StPO statuiere „jedenfalls in keiner Hinsicht einen Beweiszwang des Gerichts“64 und besage „nichts über den Gegenstand der Beweisaufnahme“65. Diese Auffassung resultiert aus zwei Entwicklungslinien, jeweils mit dem Ziel, prozessuale Wahrheitsfindung – trotz fortbestehenden Postulats grundsätzlicher Unangreifbarkeit „freier“ Überzeugungsbildung – möglichst rational und überprüfbar zu gestalten: a) Objektivierung des Beweises wegen irrevisibler Beweiswürdigung (1) Getreu Vorgaben des StPO-Gesetzgebers, dass die Begründung der tatrichterlichen Überzeugungsbildung, zumal von einer Laienjury des Geschworenengerichts, nicht zu verlangen sei und das Urteil nur die „objektiven Entscheidungsgründe, nicht aber die subjektiven Beweisgründe enthalten“ müsse66, also dem Revisionsgericht „die Beurtheilung des rein Thatsächlichen“ nicht zustehe67, galt, sofern nicht der Überzeugungsbegriff selbst verkannt war68, auch für die Rechtsprechung zunächst die Maxime grundsätzlicher Irrevisibilität der Beweiswürdigung69. Lediglich deren Ergebnis konnte die Sachrüge begründen, wenn die „für erwiesen erachteten Tatsachen … die gesetzlichen Merkmale der Straftat“ (§ 267 Abs. 1 1

61 Fezer StV 1995, 95 (96); BVerfG a.a.O. (Fn. 8). Ähnlich Meurer, GS Kaufmann (1986), S. 960: „vielfältige Wechselwirkung“. 62 Meurer, ibid. Ebenso Strate, FS Rieß (2002), S. 615. 63 Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl. (1983), S. 412; LR/Gollwitzer (Fn. 17), § 244 Rn. 45: „Weitgehend unstreitig ist heute, daß die Freiheit der Beweiswürdigung erst dann einsetzt, wenn die Aufklärungspflicht erfüllt ist“. Frühzeitig schon RGRspr 6, 453 (454): § 260 StPO 1877 „beruht auf der Voraussetzung, dass der Verpflichtung, die materielle Wahrheit zu erforschen, … im vollen Umfang genügt worden ist“. Ebenso RGRspr 7, 296 (297). 64 Alsberg (Fn. 6), S. 114. 65 Meurer, GS Kaufmann (1986), S. 947. 66 Motive (Fn. 56), S. 211 (zu § 207 = § 260 StPO 1877 = § 261 StPO heute, sowie zu § 225 Abs. 1 = § 267 Abs. 1 S. 1 StPO seit 1924). Dazu Verf., FS Spendel (1992), S. 700–702. 67 Motive (Fn. 56), S. 250, 251. 68 Oben I. 1. a. mit Fn. 14, 15. 69 RGRspr 1, 532 f. u. 776 f.; RGSt 3, 201 (202); 8, 351 (352 f.); 14, 364 (376); 23, 409 (411); 42, 168 (169 f.); 47, 160 (169).

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StPO) nicht ausfüllten, weil sie – als solche auch revisionsgerichtlich ohne Weiteres überprüfbar – unklar, widersprüchlich oder mit Denkgesetzen, Sprachregeln, Grundsätzen allgemeiner Erfahrung und offenkundigen Tatsachen unvereinbar waren70. Gleiches galt, soweit nach Beseitigung des Jurysystems 1924 die Überzeugungsbildung im Urteil dokumentiert wurde, für deren Begründung71, weil die „Berücksichtigung allgemeiner Erfahrungssätze, Denkgesetze und Auslegungsregeln … nicht in das Gebiet der durch § 261 StPO dem Tatrichter vorbehaltenen Beweiswürdigung“ falle72, wobei das RG jedoch „bisher noch nicht ausdrücklich entschieden“ habe, ob „Verstöße gegen Denkgesetze, die bei der Beweiswürdigung unterlaufen, das sachliche Recht oder nur das Verfahrensrecht verletzen …“73. (2) Erschien somit der Beweis (i. w. S.) mit Blick auf die Überzeugungsbildung nur begrenzt rationalisierbar, objektivierbar, überprüfbar, lag als Korrektiv nahe74, Beweiswürdigung zumindest gegenständlich an umfassend erfüllte Aufklärungspflicht zu binden. Der damit notwendige, den Umfang der Beweisaufnahme bestimmende, die Inquisitionsmaxime konkretisierende Maßstab des § 153 Abs. 2 StPO 1877 (= § 155 Abs. 2 StPO heute)75 i.V.m. § 243 Abs. 3 StPO 187776 war aber 50 Jahre lang nur formaler Art; inhaltlich folgte er aus § 260 StPO 1877 (= § 261 StPO heute): War

RGSt 38, 308 (309); 41, 78 (79); RG JW 1922, 1017 f. m. Anm. Alsberg u. Friedlaender; 1923, 838 m. Anm. Alsberg; 1927, 912 (913) m. Anm. Mannheim; 1927, 3051; 1932, 420 m. Anm. v. Scanzoni. 71 RGSt 63, 112 (113 f.); 64, 250 f.; RG JW 1931, 738 f. u. 1494 f.; 1932, 422 u. 3070, je m. Anm. Alsberg; 1934, 2070; HRR 1934 Nr. 615 („einfache Erfahrungstatsache“, dass „auch Wilddiebe bisweilen die Wahrheit“ sagen). 72 RGSt 61, 151 (154 f.) = JW 1928, 1225 (1226 f.) m. Anm. Oetker. 73 RG JW 1934, 2072 f. 74 Mittermaier, Das System der Nichtigkeiten wegen Verletzung von Formvorschriften im Strafprocesse (etc.), GS 2 (1850), 1. Bd., S. 291, (296): „Je freier die Ueberzeugung der Geschwornen ist, desto sorgfältiger muß der Richter bei der Vorlage der Materialien sein, auf deren Grund die Geschwornen bauen …“; Kunert GA 1979, 401 (413): „Je freier die Würdigung, desto gebundener muß die Präsentation der Beweismittel sein“. 75 Motive (Fn. 56), S. 147 (zu § 135 Entw. 1874 = § 155 Abs. 2 StPO heute): Es „ergiebt sich aus der Natur der Strafsache …, daß der Richter ebenso berechtigt als verpflichtet sein muß, die Wahrheit nöthigenfalls auch durch andere Mittel, als durch die vom Kläger oder dem Beschuldigten an die Hand gegebenen, zu erforschen … Dieser Auffassung giebt der § 135 Abs. 2 Ausdruck …“. – Zur RG-Rspr. zahlr. Nachw. bei Wißgott, Das Beweisantragsrecht im Strafverfahren (1998), S. 127 ff. 76 Die Vorschrift galt bis 1935 (vgl. Fn. 39): „Das Gericht kann auf Antrag und von Amts wegen die Ladung von Zeugen und Sachverständigen sowie die Herbeischaffung anderer Beweismittel anordnen“. 70

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das Gericht „überzeugt“, erübrigte sich weitere Beweisaufnahme77 selbst dann, wenn sie „außerordentlich nahe lag“78, resümiert in der (deklaratorischen) Frage: „Wie aber soll für das Gericht noch Anlass bestehen können, den Sachverhalt weiter aufzuklären, wenn es bereits die volle Überzeugung von der Schuld des Angeklagten erlangt hat?“79 So konnte erst die „Entkoppelung des Umfangs der Beweisaufnahme von der freien Beweiswürdigung“80 – ungeachtet im Urteil bekundeter Existenz der Gerichtsüberzeugung – nunmehr wegen Verletzung der inquisitorischen Aufklärungspflicht und folglich nicht hinreichend fundierter „Überzeugung“ die Revision begründen, falls das Tatgericht die Beweisaufnahme nicht auf bekannte oder (z.B. aus den Akten) erkennbare (weitere) Beweismittel erstreckt hatte, die seine Überzeugungsbildung – positiv oder negativ – möglicherweise beeinflusst hätten81, also objektiv „zur Erforschung der Wahrheit notwendig“82 waren. Dem folgend83 erachtet auch der BGH die Aufklärungsrüge für begründet, wenn objektiv – d.h. „aus seiner Sicht der Dinge“84 und „bei verständiger Würdigung der Sachlage“85 – der nicht erhobene Beweis „zur Erforschung der Wahrheit … von Bedeutung“ (§ 244 Abs. 2 StPO) gewesen ist, da er sich „aufgedrängt“ bzw. „nahegelegen“ hatte86 oder schon die

RGSt 6, 135 (136); RG JW 1916, 1026. Den Beweisaufnahmeumfang leitete folglich das ebenfalls irrevisible „Ermessen“ des Gerichts: RGSt 6, 135 (136); 13, 158 (160 f.); RG GA 44 (1896), 273 f.; 46 (1898/99), 208 f.; JW 1902, 579; 1916, 1026; Recht 1918, 1640 u. 1641. – Nur bei (noch) fehlender Überzeugung konnte eine „Aufklärungsrüge“ (i.d.R. der StA) Erfolg haben, wenn trotz weiterer Ermittlungsmöglichkeiten das Gericht vorschnell „in dubio pro reo“ freigesprochen hatte (RGRspr 10, 420 f.; RGSt 47, 417 (425); RG JW 1914, 696 f.; SächsA 1916, 391 f.). 79 Schneidewin, in: Lobe (Hrsg.), 50 Jahre Reichsgericht am 1.10.1929, 1929, S. 270 (331). 80 Schulz StV 1991, 354 (361). Vgl. bereits v. Schwarze, (StPO-Materialien [Fn. 8], S. 1880): „Eine freie Beweiswürdigung ist kaum denkbar, wenn man sich darauf einlassen will, dem Gericht nachzulassen, daß es den Umfang der Beweisaufnahme bestimme …“. 81 RG JW 1928, 68, 1506 m. Anm. Alsberg u. 2988 m. Anm. Beling; 1931, 2030 f. u. 2495 (2496), je m. Anm. Alsberg; 1933, 451 m. Anm. Alsberg u. 2217 (2218 f.) m. Anm. Wegner; 1937, 1359 u. 1360; GA 73 (1930), 170 f.; HRR 1932 Nr. 2329. 82 § 244 Abs. 2 StPO 1935 (vgl. Fn. 39). 83 Zur Gesamtentwicklung instruktiv Fezer, FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 847–856. 84 BGHSt 36, 159 (164 f.); BGH NStZ 1985, 324 (325); 1992, 450; StV 1989, 467; 1996, 581. 85 BGH NJW 1951, 283; NStZ 1994, 247 (248) m. Anm. Widmaier = StV 1994, 169 m. Anm. Strate; NStZ-RR 1996, 299; NStZ 1998, 50. 86 BGHSt 1, 94 (98); 3, 169 (175); 10, 116 (118 f.); 12, 311 (316); 27, 250 (252); 30, 131 (140); 35, 21 (26); 39, 291 (297); BayObLGSt 1971, 128 (130). Ständ. Rspr.; vgl. Schatz, Das Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung: Reformgeschichte und Reformproblematik (1999), S. 231 f. m. zahlr. Nachw. 77 78

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„entfernte Möglichkeit“87 seiner konkreten (nicht nur abstrakten) Entscheidungsrelevanz gegeben war. b) Beweisantizipationsverbot und Beweisantragsrecht (1) Ein zweites Einfallstor zu verstärkter Objektivierung der Wahrheitsfindung jedoch hatte das RG schon von Beginn an eröffnet bei der – notwendig beschlussförmigen88 – Ablehnung von Beweisanträgen (i.d.R. des Angeklagten), geprüft am Maßstab des § 377 Nr. 8 StPO 187789. Zwar stand gesetzlich – anders nur bei präsenten Beweismitteln in erstinstanzlichen LG-, SchwurG- und RG-Sachen90 – bis 193591 der Beweisaufnahmeumfang im Übrigen92 (und bei nicht präsenten Beweismitteln ausnahmslos) im Gerichtsermessen93. Damit erschien zunächst die Verteidigung zulässig beschränkbar94 mit Beweisantragsablehnung unter Hinweis auf anderweitig schon festgegründete „Überzeugung“95. (2) Von diesem – für den Sachverständigen- und Augenscheinsbeweis96 grundsätzlich97 aufrechterhaltenen – Prinzip wich zuerst der 2. StS des RG,

BGHSt 23, 176 (188); 30, 131 (143); BGH StV 1993, 194. § 243 Abs. 2 StPO 1877 mit der Begründung: Die „Ablehnung eines Beweisantrages enthält den Ausspruch, daß der angetretene Beweis, selbst wenn er die Behauptung des Antragstellers bestätigte, auf die richterliche Ueberzeugung … ohne Einfluß sein werde. Der … Beschluß ist daher in gewissem Sinne schon ein Bestandtheil des Endurtheils“ (Motive [Fn. 56], S. 192). 89 Wortgleich nunmehr § 338 Nr. 8 StPO. 90 § 244 Abs. 1 RStPO 1877. 91 S. oben Fn. 39 sowie u. (3) m. Fn. 106. 92 § 244 Abs. 2 RStPO 1877. 93 So auch die partikularstaatlichen Regelungen im 19. Jahrhundert (ausführlich Schatz, [Fn. 86], S. 42–55). Dem entsprach § 207 StPO-Entw. 1874: „Den Umfang der Beweisaufnahme bestimmt das Gericht, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein“. Jedoch sah der StPO-Gesetzgeber diesen Grundsatz „so sehr im Wesen einer gesunden Strafrechtspflege begründet, daß es einer ausdrücklichen Aufnahme … in die Strafprozeßordnung gar nicht bedurfte“ (RGSt 1, 61 [62]). 94 Vgl. RGSt 1, 138 (140) – wie schon die Motive (vgl. Fn. 88) –: Insoweit „unterwirft das Gesetz das richterliche Ermessen keiner Beschränkung und ist daher das erkennende Gericht vollkommen berechtigt, eine solche Vernehmung abzulehnen, wenn es nach den Ergebnissen der Verhandlung die Überzeugung gewinnt, daß die Aussage des Zeugen, selbst wenn sie die Behauptung des Antrages bestätigen sollte, ohne Einfluß auf die Schuldfrage bliebe …“. 95 RG, ibid.; RGSt 1, 175 (176 f.); 1, 297 (298); 1, 315 (316); 1, 383 f.; 14, 276 (277 f.); 39, 258 (259 f.); RGRspr 1, 310 f.; 1, 551 (552 f.); 2, 45 (46); RG HRR 1930 Nr. 1660. 96 Detaillierte Gesamtübersicht m. umfassenden Nachw. bei Wißgott (Fn. 75), S. 88–107. 87 88

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dem später die übrigen Senate folgten, ab für Bereiche des Zeugen- und Urkundenbeweises angesichts allgemein-objektiver Erfahrung, dass gemäß Grundsätzen der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit erst die konkret durchgeführte Beweisaufnahme deren Resultat und Bedeutung für die Überzeugungsbildung zuverlässig ergeben könne98; werde sie nur abstrakt antizipiert gewürdigt und damit ein Beweisbegehren abgelehnt, sei die Verteidigung unzulässig beschränkt99, es sei denn, dass „vermöge besonderer, in der Person des Zeugen liegender tatsächlicher Umstände der Wert des Zeugenbeweises ausnahmsweise schon vorher abschließend beurteilt, d.h. sein gänzlicher Unwert sicher festgestellt werden kann“100. Durfte somit nur „die Gesamtheit der erhobenen, nicht auch der erst zu erhebenden Beweise die Grundlage der richterlichen Überzeugung bilden“101 und dem „erhobenen Beweis … vor dem angebotenen … kein Vorrang eingeräumt werden“102, bestimmt also nicht mehr das von seiner (bisherigen) Überzeugung geleitete Ermessen des Gerichts den Umfang der Beweisaufnahme, ist der „Beweisanspruch“ ein „Rechtsanspruch geworden“103, dem das „Verbot der Beweisantizipation … immanent“ ist104. (3) Für Beweisantragsentscheidungen konkretisierte in der Folgezeit das RG aus dem „Beweisantizipationsverbot“ Einzelkriterien105, die schließlich 1935106 in § 245 Abs. 2 StPO normiert wurden. Auch auf diesem Weg war ein weiterer Baustein gesetzt für „gebundene“ Beweisaufnahme als ein

Ausnahmen, falls im Sachverständigenbeweis das Gericht sich einschlägige Sachkunde nicht zutrauen durfte (RGSt 61, 273) bzw. der beantragte Augenschein die Zeugenaussage über einen örtlichen Befund widerlegen sollte (RG JW 1911, 248). 98 RGSt 1, 51 f.; 1, 189 (190); 5, 312 (313 f.); 8, 306 f.; 14, 276 (278); 29, 368; 39, 258 (259 f.); 39, 363 (364); 44, 294 (298); 47, 100 (104 f.); RGRspr 3, 498 f.; 3, 768 (769); 7, 296 (297); 8, 693 (694); 10, 29 (31); RG GA 57 (1910), 229; JW 1914, 433; Alsberg JW 1922, 258 (260). Weit. Nachw. Fn. 99. – Ebenso im Lauf der StPO-Gesetzgebungsarbeiten (Materialien [Fn. 8]) die Abg. Reichensperger (S. 852 f.), Völk (S. 1337) und v. Schwarze (S. 1880). 99 § 377 Nr. 8 RStPO 1877 (vgl. Fn. 89). So z.B. RGSt 7, 76 (79); RGRspr 2, 126 (127); 6, 322 f.; 6, 453 (454); 8, 306 (307). 100 RGSt 52, 178 (179). Ebenso RGSt 47, 100 (105); 54, 181 (182); 56, 139 (140); 58, 378 (380); Graf zu Dohna, FS Kohlrausch (1944), S. 329 f. 101 Alsberg JW 1922, 258. 102 Alsberg (Fn. 6), S. 59. 103 Alsberg, ibid. 104 Alsberg, ibid. 105 Vgl. nur Alsberg (Fn. 6), passim. 106 S. Fn. 39. 97

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gegenüber „freier“ Überzeugungsbildung eigenständiges Korrektiv mit spezifischen Rechtskategorien107.

2. Gleichheit der Maßprinzipien für § 261 StPO und § 244 StPO Der Auffassung zuwider, dass Beweiswürdigung (als Folge) und Beweisaufnahme (als Grund) rechtsqualitativ zu unterscheidende Prozessphasen seien, wird sich erweisen, dass, stets orientiert am Zentralbegriff rechtsrichtiger Überzeugung108, § 244 StPO nicht eigenständige Voraussetzung, sondern nur instrumentale und inhaltsbestimmte Konsequenz aus § 261 StPO sein kann109, das Mittel also dem Zweck folgen muss. a) Überzeugung und Aufklärungspflicht (1) Überzeugungsbildung ist strukturell Rechtsanwendungsakt, d.h. Subsumtion der Beweisergebnisse110 – durch rechtsrichtige Würdigung anhand aufgezeigter Maßstäbe111 – unter die Norm des § 261 StPO112: Sie bestimmt, was das Gericht als „von Bedeutung“ (§ 244 Abs. 2 StPO) aufzuklären hat durch suchende Auswahl für § 261 StPO rechtsrelevanter Beweisergebnisse und dazu dienender Beweismittel in einem jeder Normkonkretisierung eigenen Vorgang „ständiger Wechselwirkung, einem Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt“113.

Zum Verhältnis Beweisantragsrecht–Aufklärungspflicht vgl. unten II. 2. c. (1) mit Fn. 137–147. 108 Oben I. 2. mit Fn. 41–58. 109 Verf., FS Spendel (1992), S. 689 f. 110 Oben I. vor 1. mit Fn. 3 111 Oben I. 2. b. mit Fn. 49–58. 112 Diese Vorschrift, nicht § 244 Abs. 2 StPO (als Folge), normiert „einen die Handhabung aller Verfahrensvorschriften beherrschenden Grundsatz“ (BGHSt 1, 94 [96]), ein „grundlegendes, das gesamte Strafverfahren beherrschendes Prinzip“ (BGHSt 23, 176 [187]; ebenso Alsberg/Nüse/Meyer [Fn. 63], S. 19) – alle jedoch zur „Aufklärungspflicht“ aus § 244 Abs. 2 StPO. 113 Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. (1963), S. 13 (15). Dazu auch oben II. 1. a. mit Fn. 61. Gelegentlich formuliert als „Erheblichkeitsprognose“ oder „präsumtives Eignungsurteil“ (wörtlich oder im Ergebnis): Köhler, Inquisitionsprozeß und autonome Beweisvorführung (§ 245 StPO) (1979), S. 27; Fezer, FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 856; ter Veen, Beweisumfang und Verfahrensökonomie im Strafprozeß (1995), S. 39, 49, 55; SK-StPO/Paeffgen, 15. Lfg. (1996), § 420 Rn. 20; Vest, FS Trechsel (2002), S. 792; Schulenburg (Fn. 11), S. 61. 107

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(2) Die – nur terminologisch unterschiedlichen – Maßkriterien für Beweiswürdigung114 und Aufklärungspflicht115 sind inhaltsgleich116: Aus dem Gebot rationaler Beweiswürdigung durch lückenlose, d.h. „naheliegende“ oder auch nur „mögliche“ Alternativen miterwägende und hierdurch konkrete Zweifel117 ausschließende bzw. hervorrufende Argumentation (§ 261 StPO) folgt die Pflicht des Gerichts, in diesem Begründungskontext relevante und deshalb „sich aufdrängende“ – bekannte oder erkennbare118 – Beweismöglichkeiten auszuschöpfen (§ 244 Abs. 2 StPO)119. b) Überzeugung und Beweisantizipationsverbot Beweiswürdigungsextern konzipiert besagen Beweisantizipationsverbot und darin wurzelndes Beweisantragsrecht120, dass über Beweisaufnahmebegehren Prozessbeteiligter zu entscheiden sei nicht am Maßstab (schon gebildeter) „subjektiver Überzeugung“: Diese bedürfe, die Wahrheitsfindung fördernd, vielmehr objektivierender Korrektur auf der Grundlage erweiterten Beweisaufnahmeumfangs121. Damit ist aber das Wesen rechtsrichtiger Überzeugungsbildung122 verkannt, die Beweisantizipationen nicht verbietet, sondern gebietet. (1) Zutreffend ist weithin anerkannt, dass die Konkretisierung selbst der meisten Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 S. 2, Abs. 4, 5 StPO rationaler Vorbeurteilung bedarf123: Offenkundiges steht infolge zuverlässiger Erfah-

Oben I. 2. b. mit Fn. 51. Oben II. 1. a. (2) mit Fn. 85–87. 116 Zutr. (ausdrücklich oder inzident) Herdegen, FS Boujong (1996), S. 783 f.; ders. NStZ 1998, 444 (445 f.); Fezer, FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 856 f.; Keller GA 1999, 255 (261); Jähnke, FS Hanack (1999), S. 362 f. – Deutlich BGH StV 1996, 249 (250 zum Fall „Aussage gegen Aussage“): „Die Anforderungen, die … an die Beweiswürdigung … zu stellen sind …, gelten in vergleichbarer Weise auch für Anforderungen … an den Umfang der Aufklärungspflicht“. 117 Oben I. 2. b. mit Fn. 54–57. 118 Auch z.B. infolge von Beweisanregungen bzw. -ermittlungsanträgen Prozessbeteiligter oder aus dem Akteninhalt. 119 Gleiches gilt für §§ 244 Abs. 5 S. 1, 384 Abs. 3, 411 Abs. 2 2, 420 Abs. 4 StPO. 120 Oben II. 1. b. (2) mit Fn. 96–106. Dazu Alsberg (Fn. 6), S. 59: Anerkennung des Beweisantizipationsverbots als „Geburtsstunde des Beweiserhebungsanspruchs“. 121 Zu dessen Ausgestaltung kraft Amtsaufklärungspflicht und Beweisantragsrechts sogleich unten (2) mit Fn. 130–135. 122 Oben I. 2. b. mit Fn. 52–55. 123 Übersicht bei Fezer, FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 862–868. – Dagegen keine Frage der „Beweisantizipation“, wenn ein unter Beweis gestellter faktischer Umstand aus „tatsächlichen“ Gründen nicht „von Bedeutung“ (§ 244 Abs. 2, Abs. 3 S. 2 StPO) ist: Weil nur „der 114 115

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rung fest und disqualifiziert Gegenteiliges als überzeugungsirrelevant124. – Völlig ungeeignet ist das Beweismittel, falls erfahrungssicher ex ante aus sich heraus und prinzipiell ohne Rückgriff auf das bisherige Beweisergebnis125 beurteilbar das Beweismittel (bzw. das präsumtive Beweisergebnis) auf die Überzeugungsbildung ohne Einfluss bleiben muss126. – Als unerreichbar gilt ein Beweismittel u. a. dann, wenn das Gericht das Maß seines (erfolglosen) Bemühens, es in absehbarer Zeit beizubringen, orientiert hatte (auch) antizipierend an der Bedeutung des erwartbaren Beweisergebnisses für die Sachverhaltsfeststellung127. – Zur Absicht der Prozessverschleppung muss das Gericht seine Überzeugung begründen, dass, wie auch der Antragsteller wisse, die Beweisaufnahme nichts i.S.d. behaupteten Beweisthemas erbringen kann128. – Im Sachverständigenbeweis prüft das Gericht, ob zuverlässiger als seine eigene die Sachkunde eines potentiellen Sachverständigen zur Sachaufklärung beiträgt (§ 244 Abs. 4 S. 1 StPO) bzw. ob ein Gutachten durch das eines weiteren Sachverständigen ausnahmsweise widerlegt bzw. in Frage gestellt werden kann (§ 244 Abs. 4 S. 2 StPO). – Der Augenschein darf i.d.R. abgelehnt werden, sofern das Gericht die (im An-

Inhalt der Beweisaussage und ihr Zuverlässigkeitswert … durch das Verbot der Beweisantizipation der Vorausbestimmung entrückt sind, nicht auch die Beweiserheblichkeit …“, so verneint das Gericht mit der „Erheblichkeit der Beweistatsache … nicht zugleich auch ihre Wahrheit …“ (Alsberg, [Fn. 6], S. 62); ebenso Dohna (Fn. 100), S. 325. – Fälle: Aus einer Indiztatsache will das Gericht lediglich die vom Antragsteller gewünschten Schlüsse nicht ziehen (Meyer-Goßner [Fn. 8], § 244 Rn. 55 m. Nachw.); die zu beweisende Tatsache ist schon erwiesen; bereits ungeachtet der zugunsten des Angeklagen als wahr unterstellten Tatsache ist eine Verurteilungsüberzeugung nicht begründbar. 124 Es sei denn, es wird zugleich die Notorietät begründet in Zweifel gestellt (BayObLG JR 1966, 277). 125 Dieses darf ausnahmsweise in die Vorwegwürdigung einbezogen werden (vgl. auch BGH NStZ 1997, 503 m. Anm. Herdegen = StV 1997, 567 m. Anm. Wohlers), falls es auf den unmittelbar-persönlichen Eindruck vom Zeugen nicht ankommt und etwa der bisherige Beweis – mangels konkreter gegenteiliger Anhaltspunkte – naturwissenschaftlich (z.B. durch gem. § 256 StPO verlesenes BAK-Gutachten) oder als nahezu sicherer Erfahrung gemäß (z.B. Identität der dem Angeklagten entnommenen mit der im BAK-Gutachten ausgewerteten Blutprobe) zweifelsfrei zuverlässig ist. 126 Oben II. 1. b. (2) mit Fn. 100. Vgl. BGHSt 14, 339 (342 f.); 30, 131 (141); BGH NJW 1951, 283; 1952, 191; NStZ 1984, 134; 1985, 324 (325); 1995, 45; 2000, 156; StV 1990, 98; 2002, 352; Alsberg/Nüse/Meyer (Fn. 63), S. 30, 843. Zahlr. w. Nachw. bei ter Veen (Fn. 113), S. 137, Fn. 351–352. 127 BGHSt 22, 118 (120); BGH NStZ 1982, 127; 1993, 349; Alsberg/Nüse/Meyer (Fn. 63), S. 622; ter Veen (Fn. 113), S. 160–164. 128 BGHSt 29, 149 (151); Alsberg/Nüse/Meyer (Fn. 63), S. 642 u. Meyer-Goßner (Fn. 8), § 244 Rn. 68, je m.w. Nachw.

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trag bestrittene) Sachbeschaffenheit schon in bisheriger Beweisaufnahme als überzeugungssicher festgestellt erachten darf129. (2) Und grundsätzlich: Da formal den Gegenstand der Überzeugungsbildung alle Beweisergebnisse konstituieren, die im „Inbegriff der Verhandlung“ (§ 261 StPO) für jene Überzeugung qualitativ „von Bedeutung“ (§ 244 Abs. 2 StPO) sind, folgt aus § 261 StPO die Gerichtspflicht130, zum Aufbau eines in sich geschlossenen Begründungszusammenhangs alle – ex officio ersichtlichen oder beantragten – Beweise zu erheben, die in hypothetischer Vorbewertung in jenen Gesamtkontext rationaler Argumentation als geeignet und notwendig einzustellen sind. Dafür maßgebend ist nicht, ob das Gericht bereits (faktisch) überzeugt ist131, sondern ob es (rechtlich) schon überzeugt sein darf132. – Inhaltlich in die prognostische Bewertung einer möglichen Beweisaufnahme als relevant sind maßstäblich einzubeziehen auch die beiden empirisch-rationalen Einsichten, dass das tatsächliche Beweisergebnis von dem zu erwartenden abweichen133 und es zuverlässig erst nach unmittelbarer gerichtlicher Wahrnehmung gewürdigt werden kann134. Nur zureichende Begründung, dass auch diese beiden allgemeinen Erfahrungsregeln angesichts besonderer Umstände im konkreten Fall nicht gelten135, begrenzt insoweit die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO). c) Überzeugung und Beweisantragsrecht Am Beweisziel rechtsrichtiger Überzeugungsbildung136 und an deren Maßstäben zu orientierten sind schließlich der antragsinitiierte Umfang der Beweisaufnahme und der Begriff des Beweisantrags selbst. (1) Umfang der Beweisaufnahme: Zur Begründung, dass für Amtsaufklärungspflicht (§§ 244 Abs. 2; 384 Abs. 3; 411 Abs. 2 S. 2; 420 Abs. 4 StPO)

129 BGHSt 8, 177 (180); Alsberg/Nüse/Meyer (Fn. 63), S. 743; ter Veen (Fn. 113), S. 63 m. w. Nachw. 130 Oben II. 2. a. (2) mit Fn. 114–119. 131 Dazu oben II. 1. a. (2) mit Fn. 79. 132 Zutr. Herdegen , GS Meyer (1990), S. 192. Im Ergebnis ebenso Schmitt (Fn. 8), S. 394; Fezer, FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 856 f. 133 Vgl. BGH NStZ 1997, 505: „unerwartete Wende“; Vest (Fn. 113), S. 797: „überraschende Wende“; Alsberg (Fn. 98), S. 260: Es müsse „wegweisend sein der Erfahrungssatz, daß der Eindruck einer Beweiserhebung oft von viel weittragenderer Bedeutung ist, als es der Antragsteller zu schildern vermag“. 134 Oben I. 2. b. (2) mit Fn. 56 und II. 1. b. (2) mit Fn. 98. 135 Oben II. 1. b. (2) mit Fn. 100 und II. 2. b. (1) mit Fn. 125, 126. 136 Oben I. 2. b. (1) mit Fn. 47–53.

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und Beweisantragsentscheidungen (§ 244 Abs. 3 S. 2 – Abs. 5 StPO) inhaltsgleiche Kriterien mit der Folge jeweils gleichen Beweisaufnahmeumfangs gälten137, wird im Wesentlichen angeführt: Die aus dem Beweisantizipationsverbot entwickelten Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 S. 2 – Abs. 5 StPO138 seien nur Konkretisierungen der Offizialmaxime; Beweisantizipationen seien gleich fehlerhaft im Rahmen der Aufklärungspflicht oder eines Beweisantrags; falls Beweisanträge dem Gericht weitere Sachaufklärung gebieten, so nicht wegen (rechtlicher) Kongruenz mit der Aufklärungspflicht, sondern infolge derer nunmehr erweiterten (faktischen) Informationsbasis. – Nach h.M.139 jedoch können Beweisanträge gem. § 244 Abs. 3 S. 2 – Abs. 5 StPO (weitere) Beweisaufnahmen gebieten, die allein vermöge Aufklärungspflicht nicht veranlasst gewesen wären: Das Beweisantragsrecht stärke als „gegenläufiges Prinzip“, als „das strukturell unerlässliche Gegengewicht, das der Hauptverhandlung den Charakter des reinen Inquisitionsprozesses nimmt“140, Prozesssubjektsrechte des Angeklagten; ihm, nicht dem Gericht, weise es die Prognosekompetenz für Ergebnis und Wert des beantragten Beweises zu; seine Aufklärungspflicht dürfe das Gericht auch am bisher gewürdigten Beweisergebnis messen141,

137 „Identitätstheorie“: Beling, Rspr. des RMG v. 6.10.1902–19.4.1912 auf dem Gebiete des Strafprozeßrechts, ZStW 38 (1918), 612 (620 f.); ders., Anm. zu RG JW 1925, 2782, ibid. S. 2784 (mit dem Antrag werde nur verlangt, was nach dem Grundsatz der materiellen Wahrheitsforschung hypothetisch ohnehin Amtspflicht des Gerichts sei); Dohna (Fn. 100), S. 334 („Denn in Wahrheit lassen sich … schlechthin gar keine vernünftige Beweisanträge denken, welche nicht zugleich schon aus dem Gesichtspunkt der Offizialmaxime zur Berücksichtigung nötigen“); Engels GA 1981, 21 (32); Wessels JuS 1969, 1 (3 f.); Gössel, Strafverfahrensrecht (1977), S. 246, 248; ders. JR 1996, 100 (101); Köhler (Fn. 113), S. 26 f.; Schulz StV 1991, 354 (359 f.); Herdegen, GS Meyer (1990), S. 197 u. Herdegen, FS Boujong (1996), S. 785 f.; Fezer, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. (1995), 12/99 (später aufgegeben, vgl. Fn. 139); w. Nachw. bei Schatz (Fn. 86), S. 215, Fn. 181. 138 S. o. II. 1. b. (2)–(3) mit Fn. 96–107. 139 Alsberg (Fn. 6), S. 12 f. („Wird … ein Beweisantrag gestellt, so zessioniert insoweit die souveräne Beurteilung der Beweislage durch den Richter“); Alsberg/Nüse/Meyer (Fn. 63), S. 29 ff., 65, 73, 88, 371, 412, 868; Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Teil II (1957), Erl. 22 f. Vor §§ 244 ff.; Roxin (Fn. 33), § 43 Rn. 4; SK-StPO/Schlüchter (Fn. 8), § 244 Rn. 52; LR/Gollwitzer (Fn. 17), § 244 Rn. 59, 119; Fezer StV 1995, 263 (268) u. Fezer, FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 858; ter Veen (Fn. 113), S. 42, 65 ff., 70, 77, 79; Perron (Fn. 8), S. 196, 215 ff.; Wißgott (Fn. 75), S. 253 ff.; Schatz (Fn. 86), S. 220 ff. (m.w.N. S. 211 f. Fn. 164). 140 Fezer, FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 876 u. StV 1995, 263 (268). 141 „Differenzierungstheorie“: BGHSt 40, 60 (62): Anders als bei Beweisanträgen sei im Rahmen der Aufklärungspflicht das Gericht „vom Verbot der Beweisantizipation befreit“ und es dürfe seine Entscheidung von den zu prognostizierenden Ergebnissen der Beweisaufnahme abhängig machen); BGHSt 36, 159 (165): „rechtlich zulässige Antizipation des mutmaßlichen

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über Beweisanträge aber sei nur anhand der objektiven Maßstäbe des § 244 Abs. 3 S. 2 – Abs. 5 StPO zu befinden142. Beide Auffassungen haben nur teilweise Richtiges für sich: Zutreffend ist zwar das „Informationsargument“ der „Identitätstheorie“, nicht auch ohne Weiteres deren Behauptung, die Aufklärungspflicht von Amts wegen und auf Beweisantrag hin sei gleich; denn der Katalog des § 244 Abs. 3 S. 2 – Abs. 5 StPO enthält keineswegs alle Einzelkonkretisierungen des Beweisantizipationsverbots und der Amtsaufklärungspflicht143 durch das RG, und es bedeutete eine petitio principii, von Folgerungen (= § 244 Abs. 3 S. 2 – Abs. 5 StPO) aus beiden Rechtsinstituten auf deren Inhalt rückzuschließen. – Ebenso ist der „Differenzierungstheorie“ zuwider die beweisantragsrechtliche Subjektstellung des Angeklagten lediglich Konsequenz des § 244 Abs. 3 S. 2 – Abs. 5 StPO und auch in Fällen der §§ 384 Abs. 3, 411 Abs. 2 S. 2, 420 Abs. 4 StPO gewahrt; mit gleicher Argumentation ist die „Prognosekompetenz“ des Antragstellers nur als Folge aus § 244 Abs. 3 S. 2 – Abs. 5 StPO zu qualifizieren, die Rückschlüsse auf den Inhalt der Vorschrift als nicht schlechthin denkfehlerfrei ausweist. – Beide Ansichten verfehlen jedoch den Kern der Streitfrage: Der Beweisaufnahmeumfang kraft Aufklärungspflicht und aufgrund Beweisantrags kann und muss in Einzelfällen differieren, weil Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) und Beweisantragsentscheidungen gem. §§ 384 Abs. 3, 411 Abs. 2 S. 2, 420 Abs. 4 StPO stets konkreter Rechtswertung mit Rücksicht auch auf bisherige überzeugungsrelevante Beweisergebnisse unterliegen, während nach § 244 Abs. 3 S. 2 – Abs. 5 StPO insoweit die Beweissituation abstrakt-generell, ohne stets den sachlichen Einzelfallerfordernissen gerecht

Ertrages“); BGH StV 1997, 511; NStZ 1999, 312 = JR 2000, 32 (33). Nach Auffassung des Gesetzgebers zu §§ 384 Abs. 3, 411 Abs. 2 S. 2, 420 Abs. 4 StPO soll das Gericht Beweisanträge mit größerem „Ermessensspielraum“ (als in Fällen des § 244 Abs. 3 S. 2 – Abs. 5 StPO) auch dann ablehnen dürfen, wenn es den Sachverhalt für genügend geklärt hält und der Auffassung ist, die weitere Beweiserhebung werde an seiner Überzeugung nichts ändern (BR-Entw. z. RPflEntlG 1991: BR-Drs. 314/91, S. 99 f. sowie BT-Drs. 12/1217, S. 35; RegEntw z. VBG 1994: BT-Drs. 12/6853, S. 36). 142 Eine „Teilkongruenztheorie“ will das Antizipationsverbot bzgl. des Beweisergebnisses nur bei Beweisanträgen, hinsichtlich deren Würdigung auch für die Aufklärungspflicht anerkennen (Grünwald, Das Beweisrecht der Strafprozessordnung [1993], S. 105 ff.; Frister ZStW 105 (1993), 340 (347 ff.); SK-StPO/Paeffgen [Fn. 113], § 420 Rn. 17). Diese Unterscheidung ist jedoch sachlich unbegründet (krit. auch Perron [Fn. 8], S. 217, Fn. 230; Wißgott [Fn. 75], S. 31, Fn. 52; Schatz [Fn. 86], S. 212, Fn. 165). 143 Beide sind inhaltsgleich (a.M.: Schulz StV 1991, 354 [359 f.]; Schatz [Fn. 86], S. 221 f.) und haben nur aufgrund unterschiedlicher revisionsrechtlicher Vorgaben (oben II. 1. a. [2] mit Fn. 74–82) keine Parallelentwicklung erfahren.

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werdend, zu beurteilen ist144. Dies erklärt, weshalb Beweise zu erheben sind einerseits, obwohl gemäß Anforderungen rechtsrichtiger Überzeugungsbildung (kein „Ermessen“!)145 der Sachverhalt an sich als so weitgehend geklärt erachtet werden darf, dass bei verständiger Würdigung der Sachlage eine weitere Beweisaufnahme an der Überzeugung nichts ändern könnte146, andererseits, obgleich die Beweisaufnahme nach § 244 Abs. 3 S. 2 – Abs. 5 StPO allein nicht geboten gewesen wäre147. (2) Beweisantrag: Auch er ist nicht autonomes Rechtsinstitut, sondern Mittel zwecks Einwirkung – positiv oder negativ – auf gerichtliche Überzeugung (§ 261 StPO). Dieses Ziel mit dazu notwendiger gerichtlicher Konkretisierung der Offizialmaxime bestimmt seinen – gesetzlich undefinierten – Begriff und Inhalt: dem Gericht sinnvolle Prüfung der – abstraktgesetzlichen (§ 244 Abs. 3 S. 2 – Abs. 5 StPO) bzw. konkret-individuellen (§§ 384 Abs. 3, 411 Abs. 2 S. 2, 420 Abs. 4, je i.V.m. § 244 Abs. 2 StPO) – Gründe zur Antragsentscheidung zu ermöglichen, insbesondere ob die Beweisaufnahme als überzeugungsrelevant überhaupt erforderlich („von Bedeutung“) und geeignet sei148. Daher muss, sofern anderweitig jeweils nicht erkennbar, der Antragsteller zur Substantiierung seines Beweisbegehrens auch Gründe anführen, weshalb er die zu beweisende Tatsache zumindest

Abstrakt-gesetzliche Beweiserhebungsregeln i.S.v. § 244 Abs. 3 S. 2 – Abs. 5 StPO sind rechtspolitisch gleichwohl (in Grenzen) legitim, sofern sie kraft legislatorischer „Sekundärwertung“ (Verf., FS Krause [1990], S. 60) weiteren Rechtszwecken wie z.B. (so hier) der Rechtssicherheit, Rechtsklarheit, dem Begründungsgebot, der Dichte rechtlicher Kontrollmöglichkeiten (Herdegen, GS Meyer [1990], S. 197, 198) zu dienen bestimmt sind, ohne die gesetzgeberische „Primärwertung“ (hier: „überzeugungs“-relevante Sachaufklärung in concreto) zu konterkarieren. Nebenbei: Sachinadäquat übersteigerte Abstraktion durch generalisierende BeweiswertNormen war einer der Hauptgründe für die Ablösung der „gesetzlichen Beweistheorie“ durch das Prinzip davon „freier“ Überzeugungsbildung im „reformierten Strafprozess“ des 19. Jahrhunderts (dazu Verf., FS Weber [2004], S. 492–495). 145 Oben I. 2. b. (1) mit Fn. 47–53. 146 So zur Aufklärungspflicht BGHSt 36, 159 (164 f.); Alsberg/Nüse/Meyer (Fn. 63), S. 30, 843; SK-StPO/Schlüchter (Fn. 8), § 244 Rn. 52; Wessels JuS 1969, 1 (5); KK-StPO/Herdegen (Fn. 60), § 244 Rn. 22; SK-StPO/Paeffgen (Fn. 113), § 420 Rn. 22; w. Nachw. o. Fn. 139. Insoweit kann wegen ordnungsgemäßer Überzeugungsbildung nur die Verfahrensrüge wegen Verletzung des § 244 Abs. 3 S. 2 – Abs. 5 StPO Erfolg haben. 147 BGHSt 10, 116 (118 f.); 23, 176 (187 ff.). Hier kann nur die Revisionsrüge wegen lückenhafter Überzeugungsbildung (§ 261 StPO) oder mangelhafter Aufklärung (§ 244 Abs. 2 StPO) durchgreifen. 148 BGHSt 37, 162 (165); 39, 251 (254); 40, 3 (6); BGH NStZ 1998, 97; 1999, 522. 144

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vermuten oder für möglich halten darf149 oder warum eigentlich z.B. ein Zeuge zum Beweisthema etwas zu bekunden vermag150.

149 BGH NStZ 1992, 397; StV 1993, 3; 1997, 567; Meyer-Goßner (Fn. 8), § 244 Rn. 20 m.w.N. pro und contra. 150 „Konnexität“ zwischen Beweistatsache (bzw. -ergebnis) und Beweismittel: BGHSt 43, 321 (329 f.); BGH NStZ 1998, 97; 1999, 522; 2000, 437; 2006, 585. – Abl.: Fezer, FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 871 f.; Herdegen NStZ 1999, 176 (180 f.): „contra legem“.

Strafprozessuale Verwertung selbstbelastender Angaben im Verwaltungsverfahren REINHOLD SCHLOTHAUER

I. Auskunftszwang im Verwaltungsverfahren und Selbstbelastungsfreiheit Die „moderne Risikogesellschaft“ ist u.a. dadurch gekennzeichnet, daß mit der Zunahme potentieller Gefahren immer höhere Anforderungen an den Staat gestellt werden, diese Gefahren zu beherrschen oder zumindest zu begrenzen1. Will er dieser Aufgabe gerecht werden, muß er sich bei bekannten Gefahrenquellen diejenigen Informationen beschaffen, die es ihm ermöglichen, einen bevorstehenden Schadenseintritt zu erkennen, um noch rechtzeitig Abwehrmaßnahmen ergreifen zu können, oder im Schadensfall aufgrund der daraus gewonnenen Erfahrungen zumindest eine Wiederholung zu vermeiden. Auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts gibt es deshalb mittlerweile eine Unzahl von Aufsichts- und Überwachungsregeln, die der Abwehr von Gefahren dienen, gleichgültig ob sie individuellen oder öffentlichen Rechtsgütern drohen. Der Schwerpunkt dieser staatlichen Überwachungs- und Kontrollrechte liegt auf dem Gebiet des Arbeits- und Wirtschaftslebens. Zu den den zuständigen Überwachungsbehörden zur Durchführung ihrer Überwachungsaufgaben eingeräumten Befugnissen gehört u.a. das Recht, Auskünfte von denjenigen natürlichen Personen bzw. Vertretern solcher juristischen Personen einzuholen, die mutmaßlich die zur Erfüllung der Überwachungsaufgabe erforderlichen Kenntnisse vermitteln können2. Zur

Beck, Risikogesellschaft (1986). Vgl. den Überblick bei Wolff, Selbstbelastung und Verfahrenstrennung (1997), S. 149, Fn. 184 und bei Böse, Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005), S. 204, Fn. 27. Zu ergänzen wären bspw. noch die Auskunftspflichten nach § 22 Abs. 1 ArbSchG, § 17 Abs. 4 ArbZG, § 13 ASiG, § 7 AÜG, § 64 ArzneimittelG, § 101 Abs. 2 BBiG, § 17 Abs. 1 BeschG, § 21 ChemieG, § 4 FahrpersonalG, § 20 FernUSG, § 7 FilmförderungsG, § 8 GPSG, § 18 GÜG, § 26 MedProdG, § 5 Abs. 1 SchwarzArbG sowie § 306 SGB III. 1 2

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Auskunft verpflichtet können deshalb nicht nur diejenigen sein, die zu den überwachungsrechtlich verantwortlichen Personen gehören, sondern auch Dritte (Arbeitnehmer, Geschäftspartner oder Unbeteiligte), soweit dies im Einzelfall gesetzlich vorgesehen ist3. Das Auskunftsverlangen setzt regelmäßig nicht voraus, daß der Verdacht eines bestimmten Gesetzes- oder Pflichtenverstoßes vorliegt. Vielfach geht es um die Überwachung der Einhaltung von Vorschriften oder Verwaltungsakten, deren Mißachtung noch keine Sanktionen wegen Verletzung eines Ordnungswidrigkeiten- oder Straftatbestandes zur Folge hat. Dadurch soll den Behörden die Erfüllung der ihnen obliegenden Beratungsaufgaben4 oder der Erlaß solcher verpflichtender Anordnungen ermöglicht werden, die erst im Falle ihrer Mißachtung Sanktionen zur Folge haben können. Dabei kann es allerdings zur Aufdeckung von solchen Rechtsverstößen kommen, die nach den jeweiligen Vorschriften als Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten sanktionsbewehrt sind5. Ist es zu einem Schadensfall gekommen, können solche Überwachungsmaßnahmen, die der Aufklärung seiner Ursachen mit dem Ziel dienen, eine Wiederholung zu vermeiden, zur Feststellung von (Sorgfalts-)Pflichtverletzungen führen, die die Voraussetzungen eines strafbaren oder ordnungswidrigen Verhaltens nach dem allgemeinen Strafrecht oder Ordnungswidrigkeitenrecht begründen. Dabei kommen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten aus allen Rechtsbereichen in Betracht: In strafrechtlicher Hinsicht könnten beispielsweise im Bereich des Arbeitsschutzes Feststellungen nach einem Betriebsunfall zum Vorwurf von Körperverletzungs- oder Tötungsdelikten führen. Im Bereich des Abfallrechts und des Immissionsschutzes kann der Verdacht von Straftaten nach dem Umweltstrafrecht (§§ 324 ff StGB) entstehen, im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts können Erkenntnisse den Vorwurf einer Strafbarkeit wegen Subventionsbetruges, Kapitalanlagebetruges, Kreditbetruges oder Geldwäsche begründen. Erhalten die Strafverfolgungsbehörden von solchen Vorgängen Kenntnis, haben sie das Recht, von den jeweils zuständigen Aufsichts- und Überwachungsbehörden die für eine Strafverfolgung erforderlichen Auskünfte zu verlangen (§ 161 Abs. 1 StPO). Von wenigen Ausnahmen abgesehen (vgl. § 30 AO: Steuergeheimnis, § 35 SGB I, §§ 68 bis 77 SGB X, § 61 SGB VIII: Sozialgeheimnis, § 96 StPO: Sperrerklärung durch die oberste Dienst-

Böse (Fn. 2), S. 205. Vgl. dazu bspw. Faber, Die arbeitsschutzrechtlichen Grundpflichten des § 3 ArbSchG (2004), S. 390 ff. 5 Vgl. z.B. §§ 38, 39 WpHG, §§ 25, 26 ArbSchG. 3 4

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behörde und § 97 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 StPO: beschlagnahmefreie Gegenstände)6 ist die betreffende Behörde zur Auskunftserteilung verpflichtet. In der Regel wird der Auskunftsanspruch der Strafverfolgungsbehörden durch Vorlage vorhandener Akten erfüllt7. Damit kommt die Verwertung aller in den Akten befindlichen Informationen im Strafverfahren in Betracht. Dies kann im Einzelfall zu einer Kollision mit dem Recht führen, wonach niemand gezwungen werden darf, sich – insbesondere durch seine eigenen Äußerungen – selbst einer Straftat zu überführen („Nemo tenetur se ipsum accusare vel prodere“)8. Denn im Verwaltungsverfahren kann die für die Durchführung der staatlichen Aufsichts- und Überwachungsaufgaben erforderliche Informationsbeschaffung notfalls mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden. In aller Regel kann ein Verstoß gegen eine – durch Verwaltungsakt – angeordnete Verpflichtung auf Auskunftserteilung als Ordnungswidrigkeit sanktioniert werden9. Wird dadurch der Betroffene zu einer selbstbelastenden Äußerung gezwungen und diese Äußerung anschließend in einem gegen ihn gerichteten Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren verwertet, liegt darin eine Verletzung des Nemo-teneturGrundsatzes. Um eine solche Verletzung zu vermeiden, bestehen mehrere Möglichkeiten10. Danach kann schon auf der Stufe der Beweiserhebung dem Verbot des Selbstbelastungszwangs dadurch Rechnung getragen werden, daß dem Betroffenen im Einzelfall das Recht eingeräumt wird, die Erteilung von selbstbelastenden Auskünften zu verweigern. Ein Verstoß gegen den Nemotenetur-Grundsatz kann aber auch dadurch vermieden werden, daß die erzwungene Selbstbelastung in einem Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren einem Verbot der Beweisverwertung bzw. Beweisverwendung unterfällt11. Die Entscheidung, welche Schutzgestaltung für ein konkretes Verfahren zu wählen ist, ist Aufgabe des Gesetzgebers. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht in seiner sog. Gemeinschuldnerentscheidung12 ausgeführt:

6 Siehe Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 161 Rn. 1a, 5 und 6, § 96 Rn. 12 jew. m.w.N. 7 Vgl. LR/Rieß, 25. Aufl. (2004), § 161 Rn. 6. 8 Vgl. nur SK-StPO/Rogall, 14. Lfg. (1995), Vor § 133 Rn. 130 ff., insbesondere Rn. 139 m.w.N. Auf die unterschiedlichen Ansätze zu den Grundlagen und der Reichweite dieses Grundsatzes braucht im vorliegenden Zusammenhang nicht eingegangen zu werden. 9 Vgl. Wolff (Fn. 2), S. 149 m.w.N. 10 Vgl. Böse (Fn. 2), S. 454 ff. 11 Vgl. Wolff (Fn. 2), S. 136. 12 BVerfGE 56, 37 = StV 1981, 213; siehe hierzu ausführlich Wolff (Fn. 2), S. 105 ff und Stürner NJW 1981, 1757.

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Am weitesten reiche der Schutz gegen Selbstbezichtigungen für Zeugen, Prozeßparteien und insbesondere Beschuldigte durch Zubilligung eines Schweige- oder Aussageverweigerungsrechts13. Handele es sich aber um die Erfüllung eines berechtigten Informationsbedürfnisses privater Dritter, sei der Gesetzgeber befugt, die Belange der verschiedenen Beteiligten gegeneinander abzuwägen: „Er kann dabei berücksichtigen, daß es im Konkursverfahren – anders als bei den erwähnten verwaltungsrechtlichen Auskunftspflichten, die der Gesetzgeber in neueren Regelungen durch ein Auskunftsverweigerungsrecht für den Fall der Selbstbezichtigung ergänzt hat – nicht allein um ein staatliches oder öffentliches Informationsbedürfnis, sondern zugleich um die Interessen geschädigter Dritter geht. Nur durch eine uneingeschränkte Auskunftspflicht kann der Gemeinschuldner daran gehindert werden, Teile der Konkursmasse dem berechtigten Zugriff seiner Gläubiger zu entziehen (…). Das Persönlichkeitsrecht des Gemeinschuldners würde aber unverhältnismäßig beeinträchtigt, wenn seine unter Zwang herbeigeführten Selbstbezichtigungen gegen seinen Willen zweckentfremdet und der Verwertung für eine Strafverfolgung zugeführt würden“14. Von der Möglichkeit eines solchen Beweisverwertungs- bzw. -verwendungsverbots selbstbelastender Angaben in einem Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren hat der Gesetzgeber bsplsw. im Falle der Auskunftspflicht des Gemeinschuldners im Insolvenzverfahren (§ 97 Abs. 1 S. 3 InsO), des Verletzers eines Urheberrechts (§ 101a Abs. 4 UrhG) sowie einer Marke oder geschäftlichen Bezeichnung (§ 19 Abs. 4 MarkenG) Gebrauch gemacht. Soweit vorkonstitutionelles Recht eine mit der Möglichkeit der Selbstbelastung verbundene Auskunftspflicht begründet, ist dieser Kollision durch eine verfassungskonforme Auslegung der die Auskunftspflicht begründenden Vorschrift dahingehend Rechnung zu tragen, daß eine erzwungene Selbstbelastung im Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren nur mit Zustimmung des Auskunftspflichtigen verwertet werden darf15. Im aufsichts- und überwachungsrechtlichen Verwaltungsverfahren hat der Gesetzgeber in den einschlägigen Gesetzen16 von der Möglichkeit Gebrauch

BVerfGE 56, 37 (42 f.). BVerfGE 56, 37 (49 f.). 15 BVerfGE 56, 37; BGHSt 37, 340 = StV 1991, 344 zur Offenbarungspflicht des Schuldners im Zwangsvollstreckungsverfahren (§ 807 ZPO). 16 Siehe die Nachweise in Fn. 2. 13 14

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gemacht, den Auskunftspflichtigen ein Auskunftsverweigerungsrecht einzuräumen17. Dieses Recht wird in nur wenigen Gesetzen um die Pflicht der jeweiligen Aufsichtsbehörde ergänzt, den Auskunftspflichtigen über die Existenz dieses Auskunftsverweigerungsrechts zu belehren18. Hier stellt sich zunächst die Frage, ob selbstbelastende Äußerungen des Auskunftspflichtigen in einem gegen ihn betriebenen Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren verwertet werden dürfen, wenn die gesetzlich gebotene Belehrung unterblieben ist und der Auskunftspflichtige deshalb in Unkenntnis des ihm zustehenden Auskunftsverweigerungsrechts Angaben macht. Dieses Problem stellt sich aber mit nicht geringerer Dringlichkeit in all denjenigen Fällen, in denen das Gesetz keine ausdrückliche Belehrungspflicht normiert und der Auskunftspflichtige in der irrigen Annahme, zur Auskunftserteilung verpflichtet zu sein, sich selbst belastende Angaben macht.

II. Verwaltungsverfahrensrechtliche Auskunftsverweigerungsrechte mit und ohne Belehrungspflicht Die in den einschlägigen Überwachungsvorschriften gewählte Formulierung des dem Schutze des Nemo-tenetur-Grundsatzes dienenden Auskunftsverweigerungsrechts lautet weitgehend unisono: „Der Auskunftspflichtige (bzw. der zur – Erteilung einer – Auskunft Verpflichtete bzw. der Betroffene) kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihn selbst oder einen der in § 383 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 der Zivilprozeßordnung bezeichneten Angehörigen der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung oder eines Verfahrens nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten aussetzen würde“ (vgl. nur § 17 Abs. 3 HwO, § 50 Abs. 3 BNatSchG, § 22 Abs. 3 GaststG, § 29 Abs. 3 GewO, § 44 Abs. 2 LFGB).

17 Kritisch hierzu im Hinblick auf die im Falle einer Auskunftsverweigerung eingeschränkten Möglichkeiten effektiver Gefahrenabwehr Scholl, Behördliche Prüfungsbefugnisse im Recht der Wirtschaftsüberwachung (1989), S. 132 sowie Thiel GewArch 2001, 403 (405), die für ein nachgelagertes Verwertungsverbot im straf- und ordnungsrechtlichen Verfahren plädieren. 18 Vgl. § 8 Abs. 9 S. 3 GPSG, § 18 Abs. 2 S. 2 GÜG, § 4 Abs. 9 S. 2 WpHG, die eine Belehrungspflicht bzw. eine Hinweispflicht: § 22 Abs. 2 S. 3 ArbSchG normieren.

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Soweit die einschlägige Literatur Aussagen zur Legitimation dieses Rechts macht, wird vielfach lapidar darauf verwiesen, es handele sich hierbei um „allgemeine rechtsstaatliche Vorgaben“19. Auch die Gesetzgebungsmaterialien zu den gesetzlich normierten Auskunftsverweigerungsrechten nehmen auf den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsatz Bezug, wonach eine Selbstbelastung im Rahmen straf- oder ordnungsrechtlicher Verfahren nach Art. 2 Abs. 2 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht erfolgen müsse20. Der Auskunftspflichtige muß ein ihm zustehendes Auskunftsverweigerungsrecht ausdrücklich geltend machen21. Die bloße Nichtäußerung auf relevante Fragen wird durch dieses Recht nicht gedeckt; erst recht nicht die Abgabe unzutreffender Erklärungen22. Der Sache nach steht dem Auskunftspflichtigen das Auskunftsverweigerungsrecht nur zu, wenn die ernsthafte Möglichkeit strafrechtlicher Verfolgung oder eines Verfahrens nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz für den Auskunftspflichtigen oder einen nahen Angehörigen i.S.d. § 383 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 ZPO bzw. § 52 Abs. 1 StPO besteht23. Sie entfällt, wenn ein Verfahrenshindernis der Verfolgung entgegensteht24. Da das Auskunftsverweigerungsrecht des Wirtschaftsüberwachungsrechts dem Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO nachgebildet ist25, können zur Konkretisierung der Verfolgungsgefahr die von der strafprozessualen Rechtsprechung und Literatur entwickelten Maßstäbe herangezogen werden. Ohne Belang ist es, ob eine Verfolgung wegen eines in dem einschlägigen Gesetz normierten Ordnungswidrigkeiten- oder Straftatbestandes oder eines solchen nach anderen Vorschriften, insbesondere des Strafgesetzbuches, droht26. Die Auffassung, das Auskunftsverweigerungsrecht sei einschränkend dahin auszu-

19 Vgl. bspw. Schäfer, WpHG (1999), § 16 WpHG a.F. Rn. 16; Baeck/Deutsch, ArbZG, 2. Aufl. (2004), § 17 Rn. 37; Kunz, in: Kollmer (Hrsg.), ArbSchG (2005), § 22 Rn. 20; Thiel GewArch 2001, 403 (405). 20 Vgl. BT-Drs. 3/1285, S. 260 zu § 41 AWG, BT-Drs. 3/1589, S. 23 zu § 14 KriegswaffenG, BT-Drs. 3/2563, S. 15 zu § 43 KWG. 21 Scholl (Fn. 17), S. 121; Wolff (Fn. 2), S. 194; BayObLG GewArch 1969, 41 (42). 22 Vgl. beispielsweise Rehbinder/Kayser/Klein, Chemikaliengesetz (1985), § 21 Rn. 20; Michel/Kienzle/Pauly, GaststättenG, 14. Aufl. (2003), § 22 Rn. 11; Honig, HwO, 3. Aufl. (2004), § 18 Rn. 15; Bendomir/Kahlo, in: Gassner u. a. (Hrsg.), BNatSchG, 2. Aufl. (2003), § 50 Rn. 9; Scholl (Fn. 17), S. 121. 23 Vgl. beispielsweise Jarass, BImSchG, 7. Aufl. (2007), § 52 Rn. 37; Schliemann, in: Schliemann/Förster/Meyer, Arbeitszeitrecht (1997), Rn. 914 zu § 17 Abs. 6 ArbZG. 24 Michel/Kienzle/Pauly (Fn. 22), § 22 Rn. 11. 25 Scholl (Fn. 17) , S. 123; Wolff (Fn. 2), S. 189. 26 Vgl. nur Schiwy, Chemikaliengesetz, 43. Lfg. (1994), § 21 S. 7.

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legen, daß der zur Auskunft Verpflichtete die Beantwortung nur solcher Fragen verweigern dürfe, bei denen er Verstöße gegen andere als aus der jeweils die Auskunftspflicht begründenden Vorschrift hervorgehenden Bestimmungen zwangsläufig offenbaren müsse27, ist weder mit dem Wortlaut der Auskunftsverweigerungsrechte noch mit dem Nemo-teneturGrundsatz vereinbar28. Die Mehrzahl der Vorschriften, die einem Auskunftspflichtigen ein Auskunftsverweigerungsrecht für den Fall zugestehen, daß die Auskunftserteilung die Gefahr der eigenen Verfolgung bzw. der eines nahen Angehörigen in einem Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren begründet, sieht keine ausdrückliche Verpflichtung der Aufsichtsbehörde vor, den Auskunftspflichtigen über dieses Recht zu belehren oder ihn sonst auf die Möglichkeit der Auskunftsverweigerung hinzuweisen. Nur wenige Vorschriften beinhalten eine ausdrückliche gesetzliche Belehrungs- bzw. Hinweispflicht (vgl. § 8 Abs. 9 GPSG, § 18 Abs. 2 S. 2 GÜG, § 4 Abs. 9 WpHG, § 22 Abs. 1 S. 3 ArbSchG). Eine Begründung dafür, warum den Aufsichtsbehörden in diesen Fällen eine derartige Pflicht auferlegt wird, bzw. von einer solchen im Zusammenhang mit Auskunftsverweigerungsrechten in anderen Aufsichts- und Überwachungsregelungen Abstand genommen wird, findet sich – soweit ersichtlich – weder in den Gesetzgebungsmaterialien29 noch in der Literatur. In letzterem Fall wird aus dem Schweigen des Gesetzes – soweit

27 Vgl. OVG Koblenz NJW 1982, 1414; BayVGH GewArch 1983, 330; Scholl (Fn. 17), S. 130. 28 Vgl. SK-StPO/Rogall (Fn. 8), Vor § 133 Rn. 144; Dingeldey NStZ 1984, 529 (534); BVerwG DÖV 1984, 73, das die Revision gegen das Urteil des OVG Koblenz NJW 1982, 1414 zwar verworfen, aber dessen Begründung zurückgewiesen hat, daß das Auskunftsverweigerungsrecht nicht „auch bei Verstößen gegen das Fahrpersonal-Gesetz in Anspruch genommen werden“ dürfe, aus dem sich die Auskunftspflicht ergab. 29 So beschränkt sich die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes über den Wertpapierhandel etc. (Zweites Finanzmarktförderungsgesetz) vom 27.1.1994 zu § 16 Abs. 6 WpHG – dieser entspricht bezüglich des dem Auskunftspflichtigen zustehenden Auskunftsverweigerungsrechts und der darauf bezogenen Belehrungspflicht dem geltenden § 4 Abs. 9 WpHG – auf den lapidaren Hinweis, daß der Verpflichtete über das Recht zur Verweigerung der Auskunft zu belehren ist: BT-Drs. 12/6679, S. 50; die Begründung zu § 44 des Entwurfs eines Gesetzes über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit – Arbeitsschutzrahmengesetz – vom 2.2.1994, dessen Abs. 2 dem geltenden § 22 Abs. 1 ArbSchG entspricht, verweist lediglich darauf, daß die Regelung „sich weitgehend am geltenden Recht (vgl. § 139b Abs. 1 S. 2, Abs. 4 GewO, § 13 ASiG, § 21 Abs. 3 bis 5 ChemG) an“ –lehne (BT-Drs. 12/6752, S. 53), obwohl die zitierten Gesetze zwar ein Auskunftsverweigerungsrecht, aber gerade keine diesbezügliche Hinweispflicht beinhalten: Siehe § 29 Abs. 3 GewO, § 13 ASiG, § 21 Abs. 3 ChemG.

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die Frage überhaupt thematisiert wird30 – lediglich die Nichtexistenz einer solchen Hinweispflicht konstatiert31. In den Fällen, in denen das Gesetz eine Pflicht zur Belehrung über das Bestehen eines Auskunftsverweigerungsrechts vorsieht, beschränken sich die einschlägigen Kommentierungen insoweit auf den bloßen Hinweis auf die Existenz einer solchen Regelung32. Ob der Gesetzgeber für die unterschiedliche Normierung einer Pflicht zur Belehrung über Auskunftsverweigerungsrechte gleichwohl sachliche Gründe hatte, läßt sich danach nicht eindeutig feststellen. Allerdings könnte sich die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Belehrungspflicht nach § 4 Abs. 9 WpHG damit rechtfertigen lassen, daß die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) nicht in erster Linie als Gefahrenabwehrbehörde fungiert, sondern bei ihr die Betonung stärker auf den repressiven Instrumentarien des Ordnungswidrigkeitenrechts und des Strafrechts liegt (vgl. insbesondere §§ 38 und 39 WpHG)33 und sie nach § 4 Abs. 5 WpHG verpflichtet ist, Tatsachen, die den Verdacht einer Straftat nach § 38 WpHG begründen, der zuständigen Staatsanwaltschaft unverzüglich anzuzeigen. Dieser Gesichtspunkt der Berücksichtigung gesteigerter „Gefährdungslagen“ für den Auskunftspflichtigen wird aber schon durch den Blick auf die unterschiedliche Behandlung von Belehrungspflichten in § 18 Abs. 2 GÜG

Das Thema bleibt beispielsweise unerwähnt bei Ulber, AÜG, 3. Aufl. (2006), § 7 Rn. 30 ff; Andresen/Winkler, FahrpersonalG, 3. Aufl. (2001), § 4 Anm. 10; Metzner, GaststättenG, 5. Aufl. (1995), § 22 Rn. 3, Michel/Kienzle/Pauly, GaststättenG, 13. Aufl. (1999), § 22 Rn. 11; MüKo/Freund, Strafrechtliche Nebengesetze I (2007), §§ 64 bis 69b AMG Rn. 9; v. Have, FilmförderungsG (2005), Erl. zu § 70; Klaue, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Bd. 2, 2007, § 59 GWB Rn. 36; Braun, in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler (Hrsg.), KreditwesenG, 2. Aufl. (2004), § 44 Rn. 63 ff; Lindemann, in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler (Hrsg.), KreditwesenG, 2. Aufl. (2004), § 44b Rn. 15 und § 44c Rn. 6; B. J. Fehn, in: Hohmann/John (Hrsg.), Ausfuhrrecht (2002), § 44 AWG Rn. 45/46; Bendomir/Kahlo (Fn. 22), § 50 Rn. 8 und 9. 31 Vgl. Baeck/Deutsch (Fn. 19), § 17 Rn. 37; Anzinger/Koberski, Kommentar zum ArbeitszeitG, 2. Aufl. (2005), § 17 Rn. 31; Neumann/Biebl, ArbeitszeitG, 13. Aufl. (2001), § 17 Rn. 6, Ambs, in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), 154. Lfg. (2004), § 17 ArbeitszeitG Rn. 8; Brüssow/Petri, Arbeitsstrafrecht (2008), Rn. 297 zu § 17 Abs. 6 ArbZG; Paetow, in: Kunig/Paetow/Versteyl, Kreislaufwirtschafts- und AbfallG (1998), § 40 Rn. 32; Spindler, in: Feldhaus (Hrsg.), Bundesimmissionsschutzrecht, Kommentar Bd. 1, Teil II, 97. Lfg. (2001), § 52 Rn. 76; Jarass (Fn. 23), § 52 Rn. 37; Honig (Fn. 22), § 17 Rn. 15; Ambs, in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), 153. Lfg. (2004), § 17 HwO Rn. 5; ders., in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), 161. Lfg. (2006), § 22 GaststättenG Rn. 5; ders., in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), 147. Lfg. (2002), § 26 MedProdG Rn. 19; ders., in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), 142. Lfg. (2001), § 306 SGB III Rn. 10; Pelchen, in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), 168. Lfg. (2007), §§ 22 bis 24a BtMG Rn. 4; Weber, BtMG, 2. Aufl. (2003), § 24 Rn. 6. 32 Kunz (Fn. 19), § 22 Rn. 20. 33 Vgl. Habetha WM 1996, 2133 (2138). 30

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einerseits und § 24 Abs. 2 BtMG andererseits relativiert. So ist die „Gefährdungslage“ eines Teilnehmers am Betäubungsmittelverkehr oder eines Herstellers ausgenommener Zubereitungen i.S.d. § 24 Abs. 1 BtMG, der bei Meidung einer Ordnungswidrigkeit (§ 32 Abs. 1 Nr. 13 BtMG) verpflichtet ist, Auskünfte zu erteilen (§ 22 Abs. 1 Nr. 2 BtMG), mindestens so intensiv wie diejenige des nach §§ 18 Abs. 1, 16 Abs. 1 Nr. 1 GÜG Auskunftspflichtigen, der lediglich Beteiligter am Verkehr mit Grundstoffen ist, die für die unerlaubte Herstellung von Betäubungsmitteln mißbraucht werden können. Inwiefern letzterer über das ihm zustehende Auskunftsverweigerungsrecht belehrt werden muß (§ 18 Abs. 2 S. 2 GÜG), ersterer dagegen nicht (§ 24 Abs. 2 BtMG), erschließt sich nicht. Und inwiefern derjenige, der technische Arbeitsmittel und Verbraucherprodukte (§ 2 Abs. 1 GPSG) in Verkehr bringt und darüber Auskunft zu erteilen hat, im Hinblick auf die Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit schutzwürdiger oder –bedürftiger ist mit der Folge einer Pflicht der Aufsichtsbehörde zur Belehrung über sein Auskunftsverweigerungsrecht als derjenige, der gefährliche chemische Stoffe oder Zubereitungen (§ 4 Abs. 1 ChemG) oder Arzneimittel in Verkehr bringt und darüber Auskunft erteilen soll (§ 21 Abs. 2 ChemG, § 64 Abs. 4 Nr. 3 AMG), ist ebenso nicht ersichtlich. Auch die berufsbedingte Kenntnis einschlägiger Rechte und Pflichten ist offensichtlich nicht der Maßstab, von dem die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Hinweispflicht auf ein Auskunftsverweigerungsrecht abhängig gemacht wird. Denn sowohl § 22 Abs. 1 ArbSchG, der eine Hinweispflicht auf das Auskunftsverweigerungsrecht normiert, als auch § 13 Abs. 1 ASiG bzw. § 17 Abs. 6 ArbZG, die keine entsprechende Hinweispflicht enthalten, haben „den Arbeitgeber“ zum Adressaten. Eine konsistente Struktur, die verständlich macht, wann der Gesetzgeber die Normierung eines Belehrungsrechts für erforderlich hält und wann nicht, ist deshalb nicht zu erkennen. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, daß die Meinung vertreten wird, ein Auskunftsverweigerungspflichtiger sei auch in denjenigen Fällen über sein Auskunftsverweigerungsrecht zu belehren, in denen das Gesetz eine solche Pflicht nicht ausdrücklich normiert34. Soweit eine Belehrung aus rechtsstaatlichen Gründen für „empfehlenswert“ bzw. „zweckmäßig“ gehalten wird35, ist dem schon im Interesse der Überwachungsbehörde selbst

Siehe die Nachweise bei Wolff (Fn. 2), S. 196, Fn. 521. Vgl. BayObLG GewArch 1969, 41 (42); Kunz (Fn. 19), § 22 Rn. 20; Kollmer, ArbStättV, 2. Auflage (2006), § 33 Rn. 88 unter Verweis auf § 22 Abs. 1 S. 3 ArbSchG; Scholl (Fn. 17), S. 121. 34 35

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zuzustimmen, die anderenfalls befürchten müßte, von demjenigen nicht der Wahrheit entsprechende Auskünfte zu erhalten, der in Unkenntnis des ihm zustehenden Auskunftsverweigerungsrechts auf diese Weise einer selbstbelastenden Äußerung zu entgehen versucht36. Eine Belehrungspflicht läßt sich dem Gesetz jedoch nicht entnehmen: Soweit zur Begründung eine entsprechende Anwendung des § 25 S. 2 VwVfG in Erwägung gezogen wird37, wird diese zu Recht abgelehnt38. In der Tat ist die von § 25 S. 2 VwVfG angesprochene Pflicht zur Erteilung von Auskünften über Verfahrensrechte im Zusammenhang mit § 25 S. 1 VwVfG dahin zu verstehen, daß sie sich auf die Stellung von Anträgen und die Abgabe von Erklärungen bezieht, die von Beteiligten im Verwaltungsverfahren selbst veranlaßt sind oder von ihnen erbeten werden39. Würde sich aus § 25 VwVfG eine Belehrungspflicht bezüglich gesetzlich vorgeschriebener Auskunftsverweigerungsrechte ergeben, hätte es der ausdrücklichen Vorschriften in § 22 Abs. 1 ArbSchG, § 4 Abs. 9 WpHG, § 8 Abs. 9 S. 3 GPSG oder § 18 GÜG nicht bedurft. Der Gesetzgeber hat die Belehrungsvorschrift des § 4 Abs. 9 WpHG zuletzt erst wieder im Jahr 2004 erweitert40, so daß er ersichtlich von der Notwendigkeit einer speziellen Regelung ausgegangen ist. Ein Rückgriff auf allgemeine Verfahrensgrundsätze scheitert vor dem Hintergrund spezialgesetzlich geregelter Auskunftsverweigerungsrechte auch am Fehlen einer vergleichbaren Interessenlage. Soweit ansonsten eine Belehrungspflicht trotz fehlender ausdrücklicher gesetzlicher Regelung befürwortet wird, erfolgt dies weitgehend begründungslos41. Auch der Verweis auf § 55 Abs. 2 StPO42 greift zu kurz, weil Regeln einer Verfahrensordnung nur dann auf eine andere übertragen werden können, wenn sie Ausfluß eines übergeordneten anerkannten Rechts-

36 So für das Zeugnisverweigerungsrecht des § 384 Nr. 2 ZPO Stein/Jonas/Berger, ZPO, 22. Aufl. (2006), § 384 Rn. 18. 37 Für die Ableitung einer sich aus § 14 SGB I ergebenden Hinweispflicht auf das in § 116 Abs. 3 BSHG geregelte Auskunftsverweigerungsrecht (so Schoch, in: Armborst u.a., Lehr- und Praxiskommentar BSHG, 6. Aufl. (2003), § 116 Rn. 54; ferner von Glahn StraFo 2000, 186 [187]) gelten die nachstehenden Ausführungen entsprechend. 38 Paetow, in: Kunig/Paetow/Versteyl, Kreislaufwirtschafts- und AbfallG, 2. Aufl. (2003), § 40 Rn. 32; Frenz, Kreislaufwirtschafts- und AbfallG, 3. Aufl. (2002), § 40 Rn. 17. 39 Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl. (2008), § 25 Rn. 13 u. 14. 40 Vgl. BT-Drs. 15/3174, S. 31. Daß der Gesetzgeber die Frage einer Belehrungspflicht übersehen haben könnte, verneint auch Wolff (Fn. 2), S. 196. 41 Vgl. Lorz, in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), 109. Lfg. (1994), § 38 PflanzenschutzG Rn. 8; Stöckel, in: Erbs/Kolhaas (Hrsg.), 134. Lfg. (1999), § 23 BNatSchG a.F. Rn. 3. 42 Kluge, in: Kluge (Hrsg.), TierschutzG (2002), § 16 Rn. 8; Metzger, in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), 138. Lfg. (2000), § 16 TierschutzG Rn. 13.

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grundsatzes sind. Das ist zwar bei dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit der Fall. Um den Schutz davor, sich nicht selbst – insbesondere durch Erfüllung etwaiger Auskunftspflichten – strafgerichtlicher Verfolgung aussetzen zu müssen, zu gewährleisten, ist aber schon die Zuerkennung eines Auskunftsverweigerungsrechts ausreichend43. Auch die Ableitung einer Belehrungspflicht aus §§ 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2, 136 Abs. 1 S. 2 StPO in Verb. m. § 46 Abs. 1 OWiG vermag nicht zu überzeugen44, solange das behördliche Auskunftsbegehren nicht mit einem strafrechtlichen Ermittlungs- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren einhergeht45. Eine Verpflichtung der Behörde, den Auskunftspflichtigen auch ohne ausdrückliche Regelung über ein bestehendes Auskunftsverweigerungsrecht zu belehren, kann dem Gesetz deshalb nicht entnommen werden46. Für das Verwaltungsverfahren, in dessen Rahmen es zur Erteilung von Auskünften gekommen ist, ist dieser Befund möglicherweise deshalb nur von untergeordneter Bedeutung, als dort die Auffassung vertreten wird, das Auskunftsverweigerungsrecht dürfe auch noch nach Erteilung einer Auskunft ausgeübt werden47 und zwar mit der Folge, daß die Verwaltungsbehörde die Auskunft nicht verwerten dürfe48. Danach soll die nachträgliche Auskunftsverweigerung sogar in solchen Fällen zu einem Verwertungsverbot im Verwaltungsverfahren führen, in denen der Betroffene pflichtgemäß

Böse (Fn. 2), S. 542, 571. Lippert, in: Deutsch/Lippert (Hrsg.), Kommentar zum ArzneimittelG, 2. Aufl. (2007), § 64 Rn. 17; Eberth/Müller, Betäubungsmittelrecht (1982), § 24 BtMG Rn. 5. 45 Unzulässig wäre es allerdings, unter dem Vorwand einer angeblichen Überwachungsmaßnahme Ausforschungen zu Zwecken der Strafverfolgung oder Steuerprüfung zu betreiben: Spindler, in: Feldhaus (Hrsg.), Bundesimmissionsschutzrecht, Kommentar Bd. 1 Teil II, 97. Lfg. (2001), § 52 BImSchG Rn. 33. Hier wäre im Falle einer Verwertung gewonnener Erkenntnisse die Frage eines Verwertungsverbots in vergleichbarer Weise zu beantworten wie bei der Verwertung „gezielter“ Zufallsfunde: Siehe hierzu Park, Handbuch Durchsuchung und Beschlagnahme (2002), Rn. 410 m.w.N. 46 So auch BayObLG GewArch 1969, 41; VG Oldenburg GewArch 1972, 213; Wolff (Fn. 2), S. 196. 47 Ist allerdings auf die Wahrnehmung des Auskunftsverweigerungsrechts erst im Bußgeldverfahren (hier nach § 118 Abs. 1 Nr. 2 HwO) Bezug genommen worden, läßt dies die Ordnungswidrigkeit einer unvollständigen oder unrichtigen Auskunftserteilung nicht entfallen: BayObLG GewArch 1969, 41. 48 Vgl. u.a. Spindler, in: Feldhaus (Hrsg.), BundesimmissionsschutzR, Kommentar Bd. 1 Teil II, 97. Lfg. (2001), § 52 BImSchG Rn. 76; Fähnrich/Weber, in: Schmatz/Nöthlichs (Hrsg.), Sicherheitstechnik, Bd. I Teil 1 a, Geräte- und ProduktsicherheitsG, 8. Lfg. (2006), Erl. zu § 8 GPSG Anm. 4.6.3; Weber, in: Schmatz/Nöthlichs (Hrsg.), Sicherheitstechnik, Bd. II Teil 1, Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit, 7. Lfg. (2005), Erl. zu § 22 ArbSchG Anm. 2.1.4. 43 44

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auf das ihm zustehende Auskunftsverweigerungsrecht hingewiesen worden war. Welche Folgen es für ein Strafverfahren hat, wenn ein Auskunftspflichtiger Angaben gemacht hat, weil er von einem ihm nach den einschlägigen Vorschriften zustehenden Auskunftsverweigerungsrecht keine Kenntnis hatte, möglicherweise er bei einer bestehenden Belehrungspflicht von der betreffenden Behörde sogar pflichtwidrig über diese Möglichkeit nicht unterrichtet worden ist, ist damit allerdings noch nicht geklärt.

III. Verwertung von im Verwaltungsverfahren erteilten Auskünften im Straf- und Bußgeldverfahren Soweit in der einschlägigen Literatur die Folgen einer Verletzung der Hinweis- oder Belehrungspflicht angesprochen werden, wird die Auffassung vertreten, daß „erteilte Auskünfte in einem späteren Straf- oder Bußgeldverfahren nicht verwertbar“ seien49 bzw. eine Differenzierung insoweit vorzunehmen sei, als ein unbedingtes Verwertungsverbot nur im Strafverfahren, nicht aber im Ordnungswidrigkeitenverfahren gelte, im letzteren jedenfalls dann zu verneinen sei, wenn sich der Betroffene nach den Umständen des Falles über seine Aussagefreiheit auch ohne ausdrückliche Belehrung im Klaren gewesen sei50. Inwieweit auch solche Auskünfte im Strafverfahren verwertet werden dürfen, die ein nach den entsprechenden Verwaltungsvorschriften Auskunftspflichtiger wegen Unkenntnis eines ihm zustehenden Auskunftsverweigerungsrechts in der irrigen Annahme macht, zur Auskunftserteilung verpflichtet zu sein, wird – soweit ersichtlich – bezüglich dieser Fallkonstellation in der Literatur nicht erörtert51. Lediglich Lesch52 vertritt – ohne nähere Begründung - die Auffassung, daß die unterbliebene Belehrung eines Auskunftspflichtigen über ein ihm im Verwaltungsverfahren zustehendes Auskunftsverweigerungsrecht zu einem strafrechtlichen Verwertungsverbot führe, wobei die von ihm angeführten ein Auskunftsverweigerungsrecht im

KK-WpHG/Altenhain (2007), § 4 Rn. 164. Kunz (Fn. 19), § 22 Rn. 26; Ambs, in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), 141. Lfg. (2001), § 22 ArbSchG Rn. 7. 51 Vgl. Dingeldey NStZ 1984, 529 (534), nach dessen Auffassung schon durch die Existenz von Auskunftsverweigerungsrechten als Einschränkung öffentlich-rechtlicher Auskunftspflichten dem Nemo-tenetur-Grundsatz ausreichend Rechnung getragen werde. 52 Lesch JR 2005, 302 (303). 49 50

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Rahmen öffentlich-rechtlicher Aufsichts- und Überwachungsregeln begründenden Vorschriften gerade keine Belehrungspflichten normieren. Ein von den im Wirtschaftsverwaltungsrecht normierten Auskunftsverweigerungsrechten und einzelnen Belehrungspflichten losgelöster Ansatz stellt darauf ab, ob ein Auskunftsverlangen eine präventive Überwachungsmaßnahme darstelle oder ob darin zugleich ein repressives Verwaltungshandeln liege. Letzterer Fall ziehe Belehrungspflichten nach sich, die sich aus dem Strafverfahrens- bzw. Ordnungswidrigkeitenrecht ergäben53. Deren Verletzung begründe ein Verwertungsverbot im Straf- bzw. Ordnungswidrigkeitenverfahren. Abgesehen davon, daß die Abgrenzung von präventivem und repressivem Verwaltungshandeln – wie schon die diesbezüglichen Ausführungen der Vertreter dieser Auffassung erkennen lassen54 aufgrund der Doppelzuständigkeit der auskunftsverlangenden Stelle als Aufsichts- und Verfolgungsbehörde erhebliche Schwierigkeiten bereitet, führt diese Meinung zu einer beträchtlichen Verminderung der Effektivität des von den Auskunftsverweigerungsrechten intendierten Selbstbelastungsschutzes. Denn der Rekurs auf das strafprozessuale Auskunftsverweigerungsrecht privilegiert nur den Beschuldigten. Das wirtschaftsverwaltungsrechtliche Auskunftsverweigerungsrecht schützt demgegenüber den Auskunftspflichtigen auch schon im Vorfeld eines gegen ihn betriebenen Ermittlungsverfahrens55. Gerade in den Fällen, in denen noch keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit und einen entsprechenden Anfangsverdacht vorliegen, soll schon die Möglichkeit, daß durch ein Auskunftsverlangen der Auskunftspflichtige zu einer Selbstbelastung veranlaßt würde, durch die Wahrnehmung des Auskunftsverweigerungsrechts unterbunden werden können. Würde eine in Unkenntnis des Auskunftsverweigerungsrechts erteilte Auskunft in einem gegen den Auskunftspflichtigen gerichteten Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren verwertet werden dürfen, wäre dies ein Ergebnis, das das Auskunftsverweigerungsrecht gerade vermeiden soll56. Nicht weiterführend sind auch Überlegungen, die anknüpfend an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf informatio-

53 Bärlein/Pananis/Rehmsmeier NJW 2002, 1825 (1828 ff.). In diesem Sinne wohl auch Brüssow/Petri (Fn. 31), Rn. 492–494 in Bezug auf Befragungen durch die Zollbehörde nach §§ 3 und 4 SchwarzArbG. 54 Bärlein u.a. NJW 2002, 1825 (1829). 55 So zutreffend für das Auskunftsverweigerungsrecht von Zeugen im Strafverfahren SKStPO/Rogall, 32. Lfg. (2003), § 55 Rn. 4. 56 Vgl. SK-StPO/Rogall, 32. Lfg. (2003), § 55 Rn. 4.

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nelle Selbstbestimmung57 die Zulässigkeit der Weitergabe und Verwendung von Erkenntnissen problematisieren, die über den Verwendungszweck, der von der Eingriffsnorm umschrieben ist, hinausgeht. Solche Auskunftspflichten, die lediglich der Erfüllung von Aufsichts- und Überwachungsaufgaben zwecks Gefahrenabwehr dienten, dürften – so die auf eine kurze Formel gebrachte Argumentation – für Zwecke der Strafverfolgung nicht verwendet werden (Prinzip der Zweck- bzw. Bereichsbindung)58. Für die hier erörterten Auskunftspflichten hat der Gesetzgeber aber durch die Normierung von die Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit abwendenden Auskunftsverweigerungsrechten gerade die prinzipielle Zulässigkeit eines Transfers der im Verwaltungsverfahren zulässigerweise erhobenen Auskünfte in das Strafverfahren zum Ausdruck gebracht.

IV. Verbot der Verwertung von in Unkenntnis eines Auskunftsverweigerungsrechts erteilten Auskünften im Straf- und Bußgeldverfahren Über die Zulässigkeit der Verwertung von in der Hauptverhandlung erhobenen Beweisen bei der Urteilsfindung entscheidet das Strafgericht. Besteht kein gesetzlich ausdrücklich angeordnetes Verwertungsverbot, kann ein solches auch Folge einer fehlerhaften Beweiserhebung sein59. Ob ein einem solchen unselbständigen Beweisverwertungsverbot vorausgegangener Verfahrensverstoß vorliegt, ist vorrangig nach Maßgabe der Strafprozeßordnung zu beurteilen. Ist in der Hauptverhandlung durch Vernehmung eines Vertreters einer Aufsichts- und Überwachungsbehörde der Inhalt einer Auskunft eingeführt worden, die der Angeklagte in Erfüllung einer ihm obliegenden Auskunftspflicht erteilt hat, geht es aber um die Verwertung von nicht im Rahmen des Strafverfahrens, sondern einer anderen Verfahrensordnung erlangten Informationen. Damit stellt sich das Problem, welche Regeln zur Anwendung zu kommen haben, um die Frage zu antworten, ob diese Informationen rechtmäßig erlangt wurden oder nicht. Insoweit bestehen Parallelen zur Zulässigkeit der Verwertung von im Ausland gewonnenen Beweisen im deutschen Strafprozeß.

Dazu Wolff (Fn. 2), S. 244. Siehe hierzu Wolff (Fn. 2), S. 252 ff sowie Böse ZStW 119 (2007), 848 (860 ff.). 59 Meyer-Goßner (Fn. 6), Einl. Rn. 55 m.w.N., ferner Fezer, Grundfragen der Beweiserhebungsverbote (1995), S. 20 ff. 57 58

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Hier wird zunächst danach differenziert, ob die Informationsgewinnung unter Verletzung der ausländischen Verfahrensordnung erfolgt ist. Wird diese Frage bejahend beantwortet, soll es darauf ankommen, ob die betreffende Vorgehensweise nach deutschem Strafverfahrensrecht ebenfalls rechtswidrig wäre60 und ein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen würde61. Anders werden diejenigen Fälle beurteilt, in denen die Beweiserhebung den Vorschriften der ausländischen Verfahrensordnung entspricht, diese aber zum Nachteil des Beschuldigten vom Standard des deutschen Verfahrensrechts abweicht: Hier soll die Abweichung nur dann ein Beweisverwertungsverbot begründen, wenn das ausländische Recht so beschaffen ist, daß die danach einzuhaltenden Vorschriften nicht mehr rechtsstaatlichen Minimalanforderungen genügen62. Zieht man die zur Verwertbarkeit im Ausland vorgenommener Beweiserhebungen im deutschen Strafprozeß entwickelten Lösungsansätze heran, um die Frage der Zulässigkeit der Verwertung von in einem Verwaltungsverfahren erteilten selbstbelastenden Auskünften in einem gegen den Auskunftspflichtigen betriebenen Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren zu klären, kann ein erstes Zwischenergebnis für diejenigen Fälle formuliert werden, in denen dem Auskunftspflichtigen nicht nur ein Auskunftsverweigerungsrecht zusteht, sondern darüber hinaus die Überwachungsbehörde

60 Vgl. LR/Gollwitzer, 25. Aufl. (2000), § 251 Rn. 25 sowie Meyer-Goßner (Fn. 6), § 251 Rn. 34 ff m.N. auf Rspr. und h.M. zur Verlesbarkeit von Niederschriften über Vernehmungen im Ausland. 61 Weitergehend Schuster, Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweise im deutschen Strafprozeß (2006), S. 111, der einen Verstoß gegen ausländisches Recht unabhängig davon für maßgeblich hält, ob eine entsprechende Vorschrift in Deutschland existiere oder nicht, wobei auch er die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes von den nach deutschem Recht maßgeblichen Kriterien abhängig macht. Die auf diese Weise erzielten Ergebnisse dürften weitgehend mit denjenigen der h.M. übereinstimmen, wie sein Beispiel einer Verletzung eines sich aus einem Bankgeheimnis ergebenden Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrechts belegt: Wegen der hypothetischen Rechtmäßigkeit der Vernehmung nach deutschem Recht komme man zur Verwertbarkeit der Aussage für ein deutsches Strafverfahren trotz Verstoßes gegen das im Ausland bestehende Verweigerungsrecht (Schuster, ibid., S. 187). Für die völlige Bedeutungslosigkeit der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Beweiserhebung nach ausländischem Verfahrensrecht demgegenüber Böse ZStW 114 (2002), 148 (180) sowie LR/Gleß, 26. Aufl. (2007), § 136 Rn. 88. 62 Vgl. die Zusammenfassung der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur bei Schuster (Fn. 61), S. 84 ff. Die Maßgeblichkeit inländischen Verfahrensrechts für die Beweisverwertung ist nach der Neuerung in Art. 4 Abs. 1 des am 2.2.2006 in Kraft getretenen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EURhÜbK) festgeschrieben: Vgl. zu den Auswirkungen BGH StV 2007, 627. Es bleibt abzuwarten, ob dies auf die Rechtsprechung zur Verwertung von Beweiserhebungen in nicht der Europäischen Union angehörenden Staaten Einfluß haben wird.

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verpflichtet ist, den Auskunftspflichtigen über dieses Recht zu belehren bzw. darauf hinzuweisen: Die unter Verletzung der Belehrungspflicht erlangte Auskunft stellt sich als eine rechtsfehlerhafte Beweiserhebung nach den einschlägigen Vorschriften des jeweiligen Überwachungsverfahrens dar. Wäre es zu einer vergleichbaren Informationserhebung im Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren anläßlich der Vernehmung eines Zeugen gekommen, würde dies eine Verletzung der Belehrungspflicht nach § 55 Abs. 2 StPO (i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG) darstellen. In diesem Fall würde die Verwertung der gleichwohl erlangten Angaben des Zeugen zu seinen Lasten in einem gegen ihn gerichteten Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren seine Selbstbelastungsfreiheit verletzen, so daß die Angaben zum Beweismittelausschluß führen63. Dies hat zur Folge, daß auch die im Verwaltungsverfahren infolge Verletzung der Belehrungspflicht erzielten Auskünfte64 in einem gegen den Auskunftspflichtigen geführten Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren einem Beweisverwertungsverbot unterliegen. In Anlehnung an die Behandlung von Fällen, in denen die Belehrungspflicht bezüglich des einem Zeugen im Strafverfahren zustehenden Auskunftsverweigerungsrechts gem. § 55 StPO verletzt wurde, muß der Verwertung der selbstbelastenden Angaben im Rahmen der Urteilsfindung allerdings spätestens in der Hauptverhandlung von dem verteidigten Angeklagten widersprochen worden sein65. Für diejenigen Fälle, in denen die einschlägigen Vorschriften des Verwaltungsverfahrens zwar ein Auskunftsverweigerungsrecht, aber keine Belehrungspflicht normieren, kommt man bei Heranziehung der zur Verwertbarkeit von Beweiserhebungen im Ausland entwickelten Regeln zu folgendem ersten Befund: Die Zulässigkeit der Verwertung einer – nicht im Wege der Rechtshilfe erfolgten – Vernehmung eines Beschuldigten im Ausland, die nach dortigem Recht ohne Belehrung über das ihm zustehende Schweigerecht66 erfolgen durfte, hat der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vom

63 Vgl. BayObLGSt 1984, 1 (3) = StV 1984, 192; BayObLG StV 2002, 179; OLG Celle NStZ 2002, 386; OLG Karlsruhe StraFo 2002, 291; SK-StPO/Rogall, 32. Lfg. (2003), § 55 Rn. 79; Meyer-Goßner (Fn. 6), § 55 Rn. 17 jew. m.w.N. 64 Der Auskunftspflichtige darf von seinem Recht auf Auskunftsverweigerung auch nicht anderweitig verläßlich Kenntnis gehabt und in diesem Bewußtsein Auskunft erteilt haben: vgl. OLG Celle NStZ 2002, 386; BayObLG StV 2002, 405. 65 BayObLG StV 2002, 179; LR/Ignor, 26. Aufl. (2008), § 55 Rn. 36. 66 Siehe hierzu Hauser JR 1995, 253 (254) (Anm. zu BGH NStZ 1994, 595 = StV 1995, 231).

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10.08.199467 offengelassen68. Bedenkt man, daß dieses Urteil nur kurze Zeit nach der Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1992 erging, durch die ein Beweisverwertungsverbot für Aussagen anerkannt wurde, die unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO erlangt wurden69, ist es verständlich, daß der Bundesgerichtshof sich in dieser Entscheidung damit schwer tat, das schweizerische Kantonalsverfahrensrecht und damit indirekt seine eigene frühere Rechtsprechung als „rechtsstaatswidrig“ zu bezeichnen70. Dies dürfte der Bundesgerichtshof heute im Lichte einer nunmehr über 15 Jahre gefestigten Rechtsprechung anders sehen71. Dementsprechend wird die Verwertung ausländischer Beschuldigtenvernehmungen, denen keine Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht vorausgegangen ist, heute von der h.M. für unzulässig gehalten72. Konsequenterweise wird dies auch für die Situation angenommen, daß der in Deutschland Angeklagte im Ausland als Zeuge vernommen wurde und eine dem § 55 Abs. 2 StPO entsprechende Belehrung unterblieben ist73. Auf die Situation des im Verwaltungsverfahren Auskunftspflichtigen, der in Unkenntnis des ihm zustehenden Auskunftsverweigerungsrechts Angaben gemacht hat, ohne daß er über dieses Recht belehrt werden mußte, läßt sich dieses Ergebnis mit der Begründung eines „rechtsstaatlichen Defizits“ der einschlägigen Verwaltungsvorschriften aber nicht ohne weiteres übertragen. Denn mag sich auch die Intention des Gesetzgebers, eine Pflicht zur Belehrung über einem Auskunftspflichtigen zustehende Auskunftsverweigerungsrechte nur im Ausnahmefall zu normieren, nicht erschließen, wird man darin solange kein rechtsstaatswidriges Defizit erkennen können, wie

BGH NStZ 1994, 595 = StV 1995, 231. Ein Beweisverwertungsverbot für diesen Fall wird bejaht von Rogall JZ 1996, 954; Wohlers, Anm. zu BGH NStZ 1994, 595 in NStZ 1995, 45; Britz, Anm. zu derselben Entscheidung NStZ 1995, 607 (608); LR/Hanack, 25. Aufl. (1997), § 136 Rn. 62; LR/Gleß (Fn. 61), § 136 Rn. 88; Böse ZStW 114 (2002), 148 (171 f.). 69 BGHSt 38, 214 = StV 1992, 212. 70 Schuster (Fn. 61), S. 206. 71 Vgl. bereits BGH StV 1997, 337, wo zur Zulässigkeit der Verwertung selbstbelastender Angaben eines Strafgefangenen im Disziplinarverfahren ausgeführt wird: „Die Belehrung über die Aussagefreiheit (gehört) zu den Anforderungen eines rechtsstaatlichen Verfahrens, das durch § 106 StVollzG gewährleistet werden soll“. Die bei LR/Gleß (Fn. 61), § 136 Rn. 88, Fn. 333 zit. Entscheidung BGH NStZ-RR 2002, 67, die sich auf eine nach Maßgabe des Art. 3 Abs. 1 EuRhÜbK durchgeführte Rechtshilfevernehmung bezog, ist im Hinblick auf den am 2.2.2006 in Kraft getretenen Art. 4 Abs. 1 EuRhÜbK überholt. 72 Schuster (Fn. 61), S. 209; LR/Gleß (Fn. 61), § 136 Rn. 88 jew. m.w.N. 73 Schuster (Fn. 61), S. 209. 67 68

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dem Nemo-tenetur-Grundsatz auf andere Weise effektiv Geltung verschafft werden kann74. Es ist für die Zwecke der Durchführung staatlicher Überwachungs- und Aufsichtsmaßnahmen jedenfalls nicht illegitim, den Auskunftspflichtigen „ein Schweigerecht einzuräumen, sie über das Bestehen dieses Rechts jedoch nicht in Kenntnis zu setzen – möglicherweise in der Hoffnung, daß sich so der Sachverhalt leichter aufklären läßt“75. Soweit das Verwaltungsrecht Auskunftsverweigerungsrechte auch ohne die flankierenden Hinweispflichten vorsieht, liegt bei objektiver Auslegung eine abschließende Regelung vor, die weder im Wege der Analogie überspielt76 noch als verfassungswidrig angesehen werden kann. Für die Beurteilung der Zulässigkeit der Verwertung von Angaben im Strafverfahren, die ein Auskunftspflichtiger im Verwaltungsverfahren in Unkenntnis seines Auskunftsverweigerungsrechts gemacht hat, weil eine Belehrungspflicht nicht bestand, ist vielmehr ein anderer Umstand entscheidend. Informationen, die in anderen Verfahrensarten nach den dort geltenden Vorschriften zulässigerweise erlangt worden sind, dürfen im Strafverfahren bei der Urteilsfindung nur herangezogen werden, „wenn die Voraussetzungen für eine Verwertung im Strafprozeß erfüllt sind (BGHSt 38, 214)“, wie der Bundesgerichtshof bei der Frage der Verwertbarkeit von Angaben eines Angeklagten im Rahmen eines Zivilprozesses betont hat77. Dabei wird durch den Verweis auf BGHSt 38, 214 die Bedeutung des strafprozessualen Schweigerechts und die Notwendigkeit einer entsprechenden Belehrung besonders hervorgehoben. Es ist deshalb zwischen der Beweiserhebung und Beweisverwertung zu trennen: Ob in einer anderen Verfahrensordnung gewonnene Beweismittel auch im „Strafverfahren verwertet werden dürfen, richtet sich allein nach dem (dafür) geltenden Verfahrensrecht. Die durch die StPO gezogenen Grenzen der Wahrheitsfindung können – über die Fälle hinaus, in denen die Verwertung ausscheidet, weil die Beweisgewinnung rechtsstaatlichen Mindestanforderungen nicht genügt – nicht allein deshalb außer Acht bleiben, weil eine Vernehmung im Ausland“78 bzw. im vorliegenden Zusammenhang eine Auskunftserteilung im Verwaltungsverfahren stattgefunden hat.

Vgl. BVerfGE 56, 57 = StV 1981, 213. So aber von Glahn StraFo 2000, 186 (187). 76 Wolff (Fn. 2), S. 196. 77 BGH NStZ 1996, 612. Dabei ging es konkret um die Zulässigkeit der Verlesung (§ 254 StPO) von Angaben in einem richterlichen Protokoll, die der Angeklagte als Zeuge in einem Zivilprozeß gemacht hatte. 78 Wohlers NStZ 1995, 45 (46). 74 75

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Kann der Staat im Strafverfahren Informationen von einem Beschuldigten oder Zeugen aufgrund des Nemo-tenetur-Grundsatzes nicht erlangen, darf er die damit verbundene Beschränkung der Wahrheitsfindung nicht durch Rückgriff auf in einem anderen staatlichen Verfahren bestehende Informationsgewinnungsmöglichkeiten unterlaufen, wenn diese keine dem Strafverfahren vergleichbare Schutzvorkehrungen enthalten. Anderenfalls käme es zu einem innerstaatlichen „Forum Shopping“79, das zur Umgehung der strafprozessualen Schutzrechte führen würde. Der Grund für die Pflicht zur Belehrung über das einem Zeugen im Strafverfahren zustehende Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 Abs. 2 StPO) besteht darin, daß der Gesetzgeber zutreffenderweise davon ausging, daß der Zeuge im Strafverfahren üblicherweise rechtsunkundig ist und von der ihm eingeräumten Rechtsposition keine Kenntnis hat80. „Ein Recht, das man nicht kennt, kann man nicht ausüben“81. „Die Belehrungspflichten wollen die Aussagefreiheit des Zeugen wahren und dadurch sicherstellen, daß er den mit der Aussage verbundenen Konflikten zwischen Wahrheitspflicht und Verwandten- bzw. Eigenliebe ausweichen kann und nicht aus Unkenntnis nahe Angehörige oder sich selbst belastet“82. Dies gilt um so mehr, wenn der Zeuge darüber belehrt wird, daß er zur Aussage verpflichtet ist und eine grundlose Aussageverweigerung die Anordnung von Ordnungsmitteln zur Folge hat (§ 70 StPO). Diese der Belehrungspflicht des § 55 Abs. 2 StPO zukommende Schutzfunktion würde wirkungslos, wenn es zulässig wäre, im Strafverfahren Auskünfte zu verwerten, zu deren Erteilung sich der Beschuldigte im Verwaltungsverfahren deshalb für verpflichtet hielt, weil er von seinem dortigen Auskunftsverweigerungsrecht – insbesondere wegen einer fehlenden Belehrungspflicht – keine Kenntnis hatte. Im Verwaltungsverfahren ist es aber noch wahrscheinlicher als im Strafverfahren, daß ein Auskunftspflichtiger das ihm im Hinblick auf die Gefahr der Verfolgung in einem Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren zustehende Auskunftsverweigerungsrecht nicht kennt oder ihm dieses in der konkreten Befragungssituation nicht bewußt ist. Denn anders als im Strafverfahren liegt dort in der Regel ein Bezug der von ihm verlangten Auskünfte zu Sachverhalten, die für ihn oder nahe Angehörige die Gefahr der

79 Zur Unzulässigkeit eines solchen „Befugnis-Shopping“ bei der Erlangung von Beweisen im Ausland gem. der „Europäischen Beweisanordnung“ siehe Gleß StV 2004, 679 (682). 80 Rengier, Die Zeugnisverweigerungsrechte im geltenden und künftigen Strafverfahrensrecht (1979), S. 244. 81 BGHSt 12, 235 (238) zur „Selbstverständlichkeit“ einer Belehrungspflicht im Hinblick auf das Untersuchungsverweigerungsrecht vor Einführung des § 81c Abs. 3 S. 1 StPO. 82 Rengier (Fn. 80), S. 245.

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Verfolgung begründen könnten, nicht auf der Hand. Weder die Art der Auskunft verlangenden Behörde noch der Gegenstand, auf den sich die Auskunftserteilung bezieht, weisen üblicherweise einen unmittelbar erkennbaren Zusammenhang mit möglichen strafbaren oder ordnungswidrigen Vorgängen auf. Vor diesem Hintergrund kann die ohne Belehrung über das Auskunftsverweigerungsrecht erfolgende Befragung des Auskunftspflichtigen noch eher als im Strafverfahren dazu führen, daß – ohne sich der Bedeutung und Tragweite der Auskunftserteilung bewußt zu sein – Angaben gemacht werden, die die Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit begründen. Ist aber im Strafverfahren die Belehrung eines Zeugen gem. § 55 Abs. 2 StPO zwingend, weil die Beantwortung von Fragen ihn oder nahe Angehörige der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde, käme es zu einer Relativierung des Grundsatzes der strafprozessualen Selbstbelastungsfreiheit, wenn die staatlichen Strafverfolgungsbehörden auf im Verwaltungsverfahren bestehende Möglichkeiten der Informationserlangung zurückgreifen dürften, die im Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren gerade nicht bestehen. Dem kann nur durch Annahme eines strafprozessualen Beweisverwertungsverbotes der im Verwaltungsverfahren erlangten Angaben begegnet werden. Dieses steht allerdings unter der Maßgabe, daß dem Auskunftspflichtigen bei der Auskunftserteilung im Verwaltungsverfahren das ihm dort zustehende Auskunftsverweigerungsrecht unbekannt oder ihm in der Auskunftssituation zumindest nicht bewußt war. Ob das der Fall war oder nicht, muß im Strafverfahren festgestellt werden, besonders wenn eine – wenn auch nicht vorgeschriebene – Belehrung durch die Verwaltungsbehörde unterblieben ist. Verbleiben Zweifel, muß davon ausgegangen werden, daß es dem Auskunftspflichtigen an der Kenntnis gefehlt hat. Anders als in den Fällen der Verletzung der Pflicht zur Belehrung über ein Auskunftsverweigerungsrecht, wie sie beispielsweise in § 22 Abs. 1 S. 3 ArbSchG, § 8 Abs. 9 S. 3 GPSG, § 18 Abs. 2 S. 2 GÜG oder § 4 Abs. 9 S. 2 WpHG vorgesehen ist, kann hier ein Widerspruch gegen die strafprozessuale Verwertung der in Unkenntnis des Auskunftsverweigerungsrechts gemachten Angaben zur Aktivierung des Beweisverwertungsverbots nicht verlangt werden. Denn in den Fällen, in denen das Gesetz keine Belehrungspflicht vorsieht, ist es für einen Beschuldigten fernliegend, daß Angaben, die er im Verwaltungsverfahren gemacht hat, im Strafverfahren einem Beweisverwertungsverbot unterliegen könnten, weil er in Unkenntnis von einem ihm zustehenden Auskunftsverweigerungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat. Damit liegt der Fall anders als dort, wo das Gesetz ausdrücklich eine Belehrungspflicht enthält, deren Verletzung nachträglich insbe-

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sondere anhand der Niederschrift über die Auskunftserteilung festgestellt werden kann. Es ist deshalb näherliegend, die Zulässigkeit der strafprozessualen Verwertung der Angaben des Beschuldigten, die dieser im Verwaltungsverfahren in Unkenntnis eines ihm zustehenden Auskunftsverweigerungsrechts gemacht hat, von seiner Zustimmung abhängig zu machen. Dies entspricht der Situation derjenigen Auskunftspflichtigen, die nicht infolge Unkenntnis, sondern von Gesetzes wegen selbstbelastende Angaben machen. Auch bei ihnen ist deren Verwertung in einem Strafverfahren oder in einem Verfahren nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten nur mit ihrer Zustimmung zulässig83.

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Vgl. § 97 Abs. 1 S. 3 InsO, § 19 Abs. 4 MarkenG, § 101a Abs. 4 UrhG.

Der blinde Fleck Eine Kritik der Lehre vom Beweisantragsrecht EDDA WESSLAU

I. Als die Justizministerkonferenz vor gut einem Vierteljahrhundert die Forderung erhob, durch Teil-Abschaffung des Beweisantragsrechts die Strafjustiz zu entlasten1, hat das die wissenschaftliche Diskussion über das Rechtsinstitut des Beweisantrages enorm beflügelt. Zwar wurde schon zuvor bei nahezu jeder Behandlung des § 244 StPO die Frage aufgeworfen, ob und inwiefern durch das Beweisantragsrecht der Parteien der Umfang der Beweisaufnahme im Verhältnis zu der von Amts wegen erforderlichen Aufklärung erweitert werde; doch blieb die praktische Bedeutung dieses Streitpunktes gering. Ein Ansporn, sich vertieft mit diesem Thema zu befassen, entstand durch die erwähnten Pläne, die zwar nicht in der ursprünglich gedachten Radikalität umgesetzt worden sind, das rechtspolitische Programm der Novellengesetzgebung auf dem Gebiet des Strafverfahrens in der Folgezeit aber sichtlich geprägt haben. Dreh- und Angelpunkt der sich häufenden Publikationen zum Beweisantragsrecht waren – jenseits aller Detailfragen – die beiden wesentlichen Prämissen jenes Programms, die da lauteten: Die Existenz des Beweisantragsrechts belaste den Alltag des Strafprozesses nicht nur unerheblich; eine Einschränkung oder TeilAbschaffung des Beweisantragsrechts habe keine rechtsstaatlich bedenklichen Folgen für die Qualität der Sachverhaltsermittlung im Strafprozess. Damit rückte die Frage nach dem Einfluss von Gericht und Parteien auf den Umfang der Beweisaufnahme bzw. nach dem Verhältnis von Amtsaufklärungspflicht und Beweisantragsrecht ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses.

S. den Beschluss der 52. Konferenz der Justizminister und -senatoren, abgedruckt in: StV 1982, 325 ff. 1

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Wie sich alsbald herausstellen sollte, endete die Diskussion – eben weil sie im Schatten der politisch gesetzten Ziele geführt wurde – in einer gewissen Ratlosigkeit: Wer sich der Auffassung angeschlossen hatte, dass im Bereich der Amtsaufklärungspflicht die gleichen Regeln gelten wie bei der Bescheidung von Beweisanträgen (sog. Identitätsthese), stand nun vor der Schwierigkeit darzulegen, aus welchen Gründen das Beweisantragsrecht überhaupt beibehalten werden sollte.2 Wer umgekehrt das Gericht im Rahmen der Amtsermittlung wesentlich freier sah, den Umfang der Beweisaufnahme zu bestimmen (sog. Inkongruenzthese), konnte zwar auf die besonderen Wirkungen des Beweisantragsrechts hinweisen; die Schwierigkeit bestand dann aber darin zu prognostizieren, welche Konsequenzen eine Beschneidung des Beweisantragsrechts haben würde. Gerade wenn dem Beweisantragsrecht im Prozess der Wahrheitsfindung eine so wichtige Funktion zukommt, musste dann nicht damit gerechnet werden, dass sich funktionale Äquivalente entwickeln werden, wenn der Gesetzgeber das Beweisantragsrecht zurückschneidet?3 Gerhard Fezer hat die entstandene Ratlosigkeit wohl am klarsten zum Ausdruck gebracht. War er ursprünglich ein Verfechter der Identitätsthese4, so sind ihm im Verlaufe der heraufziehenden und alsbald vollzogenen Interventionen des Gesetzgebers in das Gefüge des § 244 StPO Zweifel gekommen. In einem im Jahr 2000 publizierten Beitrag, der eine gründliche

2 Die Existenz des Beweisantragsrechts lässt sich allerdings – jenseits der Frage, in welcher Weise die Qualität der Wahrheitsfindung beeinflusst wird – auf die Subjektstellung des Angeklagten und die damit eng verknüpfte „Legitimation durch Verfahren“ bzw. auf unser liberalrechtsstaatliches Verfassungsverständnis zurückführen, das die Partizipation des Beschuldigten bei der Herstellung „seines Falls“ und die Anerkennung seines Rechts auf „Mit-Steuerung“ gebietet; vgl. Herzog StV 1994, 168; Kahlo KritV 1997, 202 f.; Pieth, Der Beweisantrag des Beschuldigten im Schweizer Strafprozessrecht (1984), S. 310 f, S. 352; ter Veen, Beweisumfang und Verfahrensökonomie im Strafprozeß (1995), S. 220 f.; Schatz, Das Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung: Reformgeschichte und Reformproblematik (1999), S. 277. So berechtigt dieser Erklärungsansatz ist … für die hier im Vordergrund stehende Frage nach der realen Auswirkung des Beweisantragsrechts auf den – ansonsten nach der Amtsaufklärungsmaxime gestalteten – Prozess der Wahrheitsfindung hilft er nicht weiter. Die Präzision, mit der von der Rechtsprechung (und später vom Gesetzgeber) das Beweisantragsrecht durch Abschichtung der zulässigen von den unzulässigen Ablehnungsgründen konturiert worden ist, kann unter Hinweis auf die o. g. Topoi nicht erklärt werden. 3 Vgl. etwa Herdegen, Beweisantragsrecht, Beweiswürdigung, strafprozessuale Revision (1995), S. 31: Der Beweiserhebungsanspruch und die Argumentationslast des Gerichts würden fortbestehen, es „entfiele nur ein Stück Rechtssicherheit und Rechtsklarheit“. 4 Vgl. die Behandlung dieses Themas in der 1. Auflage seines Lehrbuches: Strafprozeßrecht II (1986), 12/88 ff., insbes. 12/185 f; in der 2. Auflage von 1995 sind diese Passagen inhaltlich im Wesentlichen unverändert übernommen, vgl. 12/46 ff., insbes. 12/98 f.

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Analyse der BGH-Rechtsprechung zum Amtsaufklärungsgrundsatz und zum Beweisantragsrecht enthält, gibt er seine frühere Position ausdrücklich auf5 und bekennt sich zur „Inkongruenzthese“: Während das Tatgericht bei der Bescheidung von Beweisanträgen an das Verbot der Beweisantizipation gebunden sei, bringe das Inquisitionsprinzip es mit sich, dass der Tatrichter bei der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme „letztlich“ eine Beweisantizipation vornehmen müsse; tatrichterliche Aufklärung und tatrichterliche Beweiswürdigung seien untrennbar miteinander verwoben.6 Dieser Positionswechsel vollzieht sich freilich eher nebenbei. Denn in jenem Beitrag erhebt Fezer gerade nicht den Anspruch, nunmehr eine „stimmige“, letztverbindliche Erklärung für das dogmatische Verhältnis von Amtsaufklärungspflicht und Beweisantragsrecht anzubieten, sondern im Gegenteil; seine Hauptthese lautet, dass dem „Prozeßmodell eines … voll ausgebauten Amtsaufklärungsgrundsatzes und eines … voll entwickelten Beweisantragsrechts“ keineswegs eine klare systembewusste Entscheidung des Gesetzgebers zugrunde liege.7 Folglich hält er es für ausgeschlossen, dass die gesetzgeberischen Eingriffe in das Beweisantragsrecht in irgendeinem Sinne „erfolgreich“ sein könnten, was zugleich bedeutet, dass eine Prognose über die weiteren Konsequenzen solcher Eingriffe – in Ermangelung einer systemimmanenten Logik – nicht möglich ist. Der reformierte Strafprozess des 19. Jahrhundert sei in eine „Sackgasse“ geraten, „in der man auch nicht mehr zurückgehen kann“.8 Dieses Fazit drückt – rückwärtsgewandt – eine Situation der Ausweglosigkeit aus; man wird es aber auch – vorwärtsgewandt – als Plädoyer für ein neues, die gewohnten Bahnen verlassendes Nachdenken über den Einfluss von Gericht und Parteien auf den Umfang der Beweisaufnahme deuten können. Darum soll es im Folgenden gehen.

II. Zunächst gilt es, die Bahnen, in denen bisher gedacht worden ist, genauer zu identifizieren. Nach meinem Eindruck lassen sich bei den Erklärungsansätzen, die den vom geltenden Recht gewährten Einfluss der Parteien auf die Einführung von Beweisstoff behandeln, zwei Lager erkennen:

Fezer, FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 858, Fn. 63. Ibid., S. 858. 7 Ibid., S. 877; s.a. S. 854. 8 Dies sind die letzten Worte des Beitrages von Fezer. 5 6

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In der Prozessrechtslehre dominant ist die Erklärung des Beweisantragsrechts aus der Geltung des Verbots der Beweisantizipation.9 Die Formulierung des Beweisantizipationsverbots ist dem Bemühen zu verdanken, eine Regel zu finden, die es im Interesse eines möglichst richtigen, der Wahrheit entsprechenden Urteils erlaubt, schon den Umfang der Beweisaufnahme sachgerecht zu bestimmen. Der Sinn dieser Regel soll es dabei sein, die Gefahren für die Wahrheitsfindung zu bannen, die sich daraus ergeben, dass das Gericht sowohl über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet als auch ihren Umfang und ihre Ausgestaltung bestimmt.10 Diese Doppelrolle kann nämlich dazu führen, dass das Gericht sich mit Blick auf die erhobenen Beweise zu einem bestimmten Beweisthema bereits festlegt und deshalb weitere Beweiserhebungen für unnötig hält, obwohl die noch nicht erhobenen Beweise Anlass zu Zweifeln gegeben hätten, wenn sie denn in die Beweiserhebung einbezogen worden wären. Als eine Regel, die solchen Gefahren wehren kann, ist dann also das Beweisantizipationsverbot identifiziert worden. Dieses Verbot bewirkt die Trennung zwischen Beweiswürdigung und Beweisaufnahme.11 Das Beweisantizipationsverbot ist – so sehen es die Vertreter dieses Lagers – von der Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem Recht der Parteien entwickelt worden, Beweisanträge zu stellen, und später ist das Antizipationsverbot dann in den Vorschriften über die zulässigen Gründe für die Ablehnung von Beweisanträgen kodifiziert

Sofern überhaupt über die Darstellung der Rechtslage hinaus Erklärungen gegeben werden; vgl. aus der Kommentarliteratur Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 5. Aufl. (2006), Rn. 198 ff.; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 244 Rn. 46; KMR/Paulus, 30. Lfg. (2001), § 244 Rn. 238; SK-StPO/Schlüchter, 13. Lfg. (1995), § 244 Rn. 52; AK-StPO/Schöch, Bd. II, 2 (1993), § 244 Rn. 29; nicht so eindeutig LR/Gollwitzer, 25. Aufl. (2001), § 244 Rn. 59; KKStPO/Herdegen, 5. Aufl. (2003), § 244 Vorbemerkung III; vgl. andererseits § 244 Rn. 42. Aus der Lehrbuchliteratur vgl. Gössel, Strafverfahrensrecht (1977), § 29 B II; Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. (1998), § 43 A 4; Rüping, Das Strafverfahren, 3. Aufl. (1997), Rn. 475; Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung, Bd. II (1957), Vor § 244 Rn. 22; Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. (1983), Rn. 558; Volk, Grundkurs StPO, 5. Aufl. (2006), § 25 Rn. 17. Siehe aus der Vielzahl der Publikationen noch Engels GA 1981, 21 ff.; Julius NStZ 1986, 61 ff.; Schulenburg, Das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung im Strafprozeß (2002), S. 36 ff.; ter Veen (Fn. 2), S. 36 ff. Schwer einzuordnen: Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl. (1983), S. 26 ff. 10 Fezer, FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 876; Schulenburg (Fn. 9), S. 80 ff.; ter Veen (Fn. 2), S. 52 ff., jew. m.w.N. 11 ter Veen (Fn. 2), S. 52 m.w.N.; Schulenburg (Fn. 9), S. 49 ff., legt allerdings Wert darauf, dass diese Trennung nicht in einem strengen Sinne zu erfolgen habe, sondern die Reichweite des Beweisantizipationsverbots nur so weit gehen kann, wie es erforderlich ist, um Beeinträchtigungen der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen abzuwehren. 9

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worden.12 Deshalb gilt diesem Lager das Beweisantragsrecht gewissermaßen als „Vehikel“, um das Gericht zur Beachtung dieses beweisrechtlichen Prinzips zu veranlassen.13 Naheliegenderweise stellt sich für die Vertreter dieses Lagers jedoch die Frage, ob – nachdem dieses Prinzip erst einmal etabliert und sein Wert für die Qualität der Wahrheitsfindung anerkannt worden ist – das „Vehikel“ überhaupt gebraucht wird. Eigentlich müsste es doch in einem Verfahren mit Amtsaufklärungsmaxime gelingen, das Prinzip so zu formulieren, dass es schon unabhängig von der Stellung eines Beweisantrages zum Tragen kommt und dem Gericht die Möglichkeit eröffnet, den Umfang der Beweisaufnahme von sich aus „richtig“ zu bestimmen.14 Damit ist für dieses Lager der Punkt bezeichnet, um den alle weiteren Überlegungen kreisen. Wie sich diese weiteren Überlegungen im Einzelnen ausdifferenziert haben, soll im vorliegenden Zusammenhang nicht interessieren. Jedenfalls gehört zu den Ausdifferenzierungen auch jener – hier deshalb nicht gesondert behandelte – revisionsrechtlich orientierte Ansatz, der den Sinn der in § 244 Abs. 3 bis 5 StPO kodifizierten Ablehnungsgründe darin sieht, eine höhere Dichte der revisionsrechtlichen Kontrolle zu ermöglichen. Primär soll nämlich auch nach diesem Ansatz das Anliegen sein, das Gericht zu „überzeugungsrelevanter Sachverhaltsaufklärung“ zu veranlassen. Das Beweisantragsrecht komme erst aufgrund einer „Sekundärwertung“ hinzu, in die das Interesse an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit eingeflossen sei15 – ein Interesse, dem durch die verhältnismäßig klar definierten und abschließend geregelten Ablehnungsmöglichkeiten bei Beweisanträgen gut gedient sei.16 Die Existenz des anderen, von mir so bezeichneten Lagers ist weniger offensichtlich. Die Kontroverse zwischen Vertretern der „Identitätsthese“ und Anhängern der „Inkongruenzthese“ hat die Aufmerksamkeit der Rechtslehre dermaßen auf sich gezogen, dass die von vornherein anders gelagerten Erklärungsansätze nahezu untergegangen sind. Die Rede im Plural ist an

Einzelheiten sind hier nicht darzustellen; vgl. dazu nur Fezer, FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 847 ff.; Wißgott, Das Beweisantragsrecht im Strafverfahren als Kompensation der richterlichen Inquisitionsmaxime (1998), S. 81 ff. Dass sich die Herleitung des Beweisantizipationsverbots jenseits dieser historischen Zusammenhänge auch anders begründen lässt, zeigt ter Veen (Fn. 2), S. 53 f, der diese Streitfragen jedoch letztlich für „folgenlos“ hält. 13 In diesem Sinne etwa Perron, Das Beweisantragsrecht des Beschuldigten im deutschen Strafprozeß (1995), S. 217 f. 14 Sehr deutlich wird dieser Impuls bei Schulenburg (Fn. 9), vgl. die pointierte Zusammenfassung S. 275. Es handelt sich um eine von Fezer betreute Dissertation. 15 In diesem Sinne Paulus, Strafprozessuale Beweisstrukturen (in diesem Band, S. 243 ff.). 16 Vgl. Perron (Fn. 13), S. 218; Herdegen (Fn. 3), S. 31, die beide wohl auch dieser Position zuneigen. 12

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dieser Stelle durchaus nicht zufällig. Inwieweit die verschiedenen Texte, auf die ich mich beziehe, es überhaupt rechtfertigen, von einem „Lager“ zu sprechen, erschließt sich nämlich nicht von selbst. Insbesondere kann ich nicht an ein entsprechendes Selbstverständnis anknüpfen, das es einfach machen würde, über die Zugehörigkeit der einzelnen Autoren zu diesem Lager zu entscheiden. Teilweise sind die Texte auch schillernd, die Autoren äußern sich uneindeutig. Es kann im Folgenden daher nur um einige exemplarische Ausschnitte gehen, um meiner These von einem zweiten Lager Substanz zu verleihen.

1. „Wahre Erkenntnis kann es nicht geben, nur Annäherung“ In der theoretischen Grundlegung ihres Buches zum Beweisantragsrecht geben die Autoren Hamm, Hassemer und Pauly17 eine Erläuterung zur Bedeutung der in § 244 Abs. 2 StPO verankerten Inquisitionsmaxime und ihrem Verhältnis zum Beweisantragsrecht, in der sowohl die geschichtliche Entwicklung als auch die systematische Verankerung der beiden Rechtsinstitute im Erkenntnisvorgang des Gerichts angesprochen werden. Diese Erläuterung vermeidet in bemerkenswerter Weise jegliche Bezugnahme auf das Beweisantizipationsverbot. Die „Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts“ wird auf zwei Überlegungen gestützt: erstens auf die Bedingungen der menschlichen Wahrnehmungs- und Beurteilungsfähigkeit, zweitens auf die Subjektstellung des Beschuldigten.18 Die Aufgabe des Gerichts, ein auf Wahrheit gegründetes Urteil zu sprechen, kontrastiere mit der erkenntnistheoretisch wie kognitionswissenschaftlich begründeten Vorstellung, dass es wahre Erkenntnis nicht geben könne, sondern nur Annäherung, die allein durch ein diskursives Vorgehen aller Beteiligten erreichbar sei. In diesem Sinne trage das Beweisantragsrecht zur Wahrheitsfindung bei. Es regele den „Weg zur Erkenntnis“ und gehe dabei in Übereinstimmung mit der Konvergenztheorie der Wahrheit wie auch mit Konsensustheorien „davon aus, dass an der Auseinandersetzung um diesen Weg kontroverse Sichtweisen beteiligt sind“. Ebenso widerspreche die moderne Wahrnehmungspsychologie „dem Prinzip der Inquisition und der Hoffnung, die pure gerichtliche Sachaufklärung sei der Königsweg zur Wahrheit“. Nicht „die Inquisition eines einzelnen Beobachters, sondern die Auseinandersetzung mehrerer Beteiligter“ verspreche

Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, 2. Aufl. (2007), Rn. 4 ff. Dazu sowie zu dem Folgenden Hamm/Hassemer/Pauly (Fn. 17), Rn. 18 ff. Zum Thema „Subjektstellung des Beschuldigten“ vgl. Fn. 2. 17 18

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zuverlässige Tatsachenfeststellungen. Man könne nicht auf ein „reines“ oder „wahres“ Verstehen eines Erkenntnissubjektes hoffen, vielmehr bestehe die Chance darin, die Beteiligten am Verstehensprozess mit ihren unterschiedlichen Vorverständnissen sich einbringen zu lassen. Es müsse um eine „Konkurrenz von Vorverständnissen“ gehen. Ein reines Inquisitionsverfahren, das dem Gericht die alleinige Zuständigkeit für die Aufklärung des Sachverhalts zuweise, erweise sich deshalb als „naiv“. Das Beweisantragsrecht besteht demnach durchaus „im Interesse des Beweisverfahrens“ und nicht nur im Interesse der Prozessbeteiligten. Die Subjektstellung des Beschuldigten komme als rechtspolitisches Motiv, das die Herausbildung des gesamten reformierten Strafprozesses geprägt hat, allerdings hinzu. Mit der gewohnten Sichtweise stimmen diese Thesen nur insoweit überein, als hier wie da eine funktionale Erklärung für das Beweisantragsrecht angeboten wird. Das Beweisantragsrecht existiert um der Qualität des Beweisverfahrens und der Zuverlässigkeit des Ergebnisses willen. Sobald es aber darum geht, diese Funktionalität zu beschreiben, kommen hier völlig andere Argumente ins Spiel. Im Zentrum der Überlegungen steht nicht das Beweisantizipationsverbot, das als beweisrechtliches Prinzip den tatgerichtlichen Erkenntnisprozess und die Verbesserung seiner Qualität im Auge hat. Folgt man den hier vorgetragenen Argumenten, dann wird der „Weg zur Erkenntnis“ nämlich nicht durch Regeln bzw. Prinzipien gelenkt, die vom Erkenntnissubjekt zu beachten wären. Die Skepsis gegenüber dem Richter als Erkenntnissubjekt ist viel grundsätzlicher. Es fehlt überhaupt der Glaube daran, dass ein einzelnes Erkenntnissubjekt – auch wenn es noch so sorgfältig entwickelte Ge- oder Verbote beachtet – zur „Annäherung“ an die Wahrheit fähig sei. Deshalb soll der Prozess der Wahrheitsfindung von vornherein in der Weise organisiert sein, dass die verschiedenen Erfahrungshorizonte der Beteiligten einbezogen werden.

2. „Eine wissenschaftliche Lösung liegt nicht vor und wird wohl auch nicht gefunden werden können“ Im Unterschied zu Hamm, Hassemer und Pauly äußerte sich Joachim Schulz explizit kritisch über die Bemühungen der Rechtslehre, durch die Bestimmung des dogmatischen Verhältnisses von Amtsaufklärungspflicht und Beweisantragsrecht zu sinnvollen Aussagen über die Prozessstruktur zu kommen. Seinen Kommentar zu den Plänen, im Wege eines „Rechtspflegeentlastungsgesetzes“ die „Erosion des Beweisantragsrechts“ voranzutreiben,

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wird man allerdings nicht als Entfaltung einer abweichende Konzeption, sondern allenfalls als deren Andeutung lesen können.19 Wenn sich die Prozessrechtswissenschaft darüber streite, ob das Beweisantragsrecht „weiter gehe“ als die Amtsaufklärungspflicht, dann sei „schon die Frage … falsch gestellt“20, der Streit also wissenschaftlich unergiebig. Denn im Prozessrecht gehe es – anders als im materiellen Recht – oft nicht um die Reichweite von Normen, sondern „um das Verhältnis von Gewichten und Gegengewichten“. Um zu verstehen, wie der Einfluss von Gericht und Parteien auf den Umfang der Beweisaufnahme zusammenspielen, müsse man das Beweisantragsrecht als „eine Art Organisationsrecht“ auffassen, „das Befugnisse um eines oder mehrerer vorgegebener Zwecke willen zuteilt“. Der Zweck liege hier darin, mittels der „parteiprozessualen Komponenten die Gefahren des Inquisitionsverfahrens (zu) kompensieren“. Zur Verdeutlichung seines Standpunktes zeigt Schulz auf, dass das Gericht durch einen sachgerecht gestellten Beweisantrag gar nicht zwingend solche Informationen erhalten muss, die es in die Lage versetzen könnten, eine eigene Prognose abzugeben, ob das vom Antragsteller für möglich gehaltene Beweisergebnis mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist oder nicht. Angesichts der durch einen Beweisantrag geschaffenen Informationslage21 fehle es „bereits an einem Substrat, das unter die dogmatischen Ausprägungen der Amtsermittlungspflicht subsumiert werden könnte“. Damit wird die gängige Auffassung, im Beweisantragsrecht gehe es um die Verankerung des Beweisantizipationsverbots und die Festlegung einer bestimmten Reichweite dieses Verbots, in einem spezifischen Sinne zurechtgerückt. Das Gericht wird nämlich – so muss man Schulz verstehen – durch die Stellung eines Beweisantrages nicht etwa dazu angehalten, seine Prognosen bezüglich Beweisergebnis und Beweiswert (Möglichkeitsbeurteilung) unter strenger Beachtung des Beweisantizipationsverbots aufzustellen, sondern von dem Gericht wird diesbezüglich überhaupt keine eigene Prognose verlangt22. Es reicht vielmehr aus, dass der Antragsteller ein be-

J. Schulz StV 1991, 354 ff.; s. ergänzend ders. GA 1981, 301 (303 ff.). J. Schulz StV 1991, 354 (361); s. dort auch für die weiteren Zitate. 21 J. Schulz weist zutreffend und anhand von Beispielen darauf hin, dass je nach Prozesssituation die Stellung eines Beweisantrages sehr unterschiedliche Informationslagen schaffen kann. 22 Meine Formulierung ist hier bewusst etwas vergröbernd, um die Aufmerksamkeit des Lesers auf die entscheidenden Kontraste zu lenken. So bleibt etwa außer Betracht, dass das Gericht mit Blick auf den Ablehnungsgrund „das Beweismittel ist unerreichbar“ befugt und gehalten ist, das mögliche Beweisergebnis und den möglichen Beweiswert abzuschätzen, um das Ergebnis dieser Abschätzung in Relation zu den gebotenen Bemühungen zu setzen, das Beweismittel doch noch erreichbar zu machen. 19 20

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stimmtes Beweisergebnis für möglich hält. Sieht man die Dinge so, dann muss tatsächlich die „Zuteilung von Befugnissen“ als sinnstiftende Prämisse des Beweisrechts betrachtet werden. Fraglich ist demnach, auf wessen Möglichkeitsbeurteilung es ankommt, und dies ist nicht identisch mit der Frage, wie die Möglichkeitsbeurteilung des Gerichts beschaffen sein muss, um zuverlässige Sachverhaltsfeststellungen zu garantieren. Diese Idee, das Beweisantragsrecht als „Kompetenzzuweisung“ zu verstehen, wird noch von weiteren Autoren aufgegriffen23, namentlich von Frister, Schatz und Wißgott.24 Frister verfolgt das Ziel, die „Doppeldeutigkeit des Begriffs Beweisantizipation“ herauszuarbeiten.25 Wesentlich für seinen Gedankengang ist die Erkenntnis, dass die Beweisführung, soweit sie auf der inquirierenden Tätigkeit des Gerichts beruht, ohne Beweisantizipationen, genauer: „ohne Vorgriff auf die im Verfahren zu erwartenden Aussagen“, überhaupt nicht möglich sei. Solche, und nur solche, Antizipationen könnten also im Bereich der Amtsaufklärungspflicht nicht verboten sein. Sobald ein Beweisantrag gestellt worden sei, könne aber auch in dieser Hinsicht das Beweisantizipationsverbot zum Tragen kommen, allerdings in einer speziellen Bedeutung, denn: „Das Verbot der Ablehnung eines Beweisantrages aufgrund der Antizipation eines negativen Beweisergebnisses ist seiner Struk-

23 In völlig gegensätzliche Richtung argumentieren dagegen Köhler, Inquisitionsprinzip und autonome Beweisvorführung (§ 245 StPO) (1979) und Anders, Beweiserhebungskontrollen des Tatgerichts und Autonomie der Verteidigung durch Präsentation von Entlastungsbeweisen in der Hauptverhandlung des Strafprozesses (1998). Ihre These lautet, dass das Beweisantragsrecht, indem es von der Prüfungskompetenz des Gerichts abhängig bleibt, mit der gerichtlichen Instruktionstätigkeit eine „sachliche Einheit“ bildet (Köhler, S. 27; ebenso Anders, S. 131). Sie halten nur die autonome Beweisvorführung gem. § 245 StPO (a.F.) für ein eigenständiges Rechtsinstitut. Bei der „kategorialen“ Gleichsetzung der beiden Rechtsinstitute – Instruktionsmaxime und Beweisantragsrecht – wird jedoch nicht berücksichtigt, ob die Analyse von Schulz u.a. richtig ist, wonach die Prognosekompetenz hinsichtlich der Beweisbarkeit einer Tatsachenbehauptung – grundsätzlich – auf den Antragsteller übergeht (vgl. Anders, S. 111: dem Gericht sei „auf der Prüfungsebene der Begründetheit des Beweisantrags eine Kontrolle der Schlüssigkeit des Beweisbegehrens der Verteidigung mit der Einschätzungsprärogative des Tatgerichts“ erlaubt; s.a. S. 131). Für Köhler wird durch Stellung eines Beweisantrages bloß der „notwendigerweise begrenzte Horizont der inquirierenden Behörde durch Wissen anderer Verfahrensbeteiligter erweitert“ (vgl. Köhler, S. 26, s.a. S. 43 f.). Dazu, dass der Beweisantrag keine Wissenserklärung ist, s.u. im Text. 24 Vgl. darüber hinaus auch Egon Müller, in: Verhandlungen des 60. DJT, Bd. II/1 (1994), S. M 66; Pieth (Fn. 2), S. 282 ff.; Hirsch, Der zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellte Beweisantrag und seine strafprozessuale Behandlung (1996), S. 41. 25 Frister ZStW 105 (1993), 347 ff.

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tur nach eine Kompetenzzuweisung an die Beweisantragsberechtigten“.26 Nur im Hinblick auf andere Arten von Antizipationen könne das Beweisantizipationsverbot in seiner herkömmlichen Bedeutung zur Geltung kommen und insoweit das Gericht auch im Rahmen eigener inquirierender Tätigkeit binden. Wißgott stützt sich auf das Argument, dass es auf die Perspektive des Beteiligten „schon begrifflich bei der Bestimmung der Reichweite der richterlichen Wahrheitsermittlungspflicht nicht ankommen“ könne.27 Er will damit – ebenso wie Schulz – betonen, dass die Relevanz unterschiedlicher Perspektiven die Besonderheit des Beweisantragsrechts ausmache. Über die präsumtive Beweiskraft könne der Verfahrensbeteiligte entscheiden, wenn er die Beweiserhebung beantragt. Die Auswirkung eines Beweisantrages auf den Umfang der Beweisaufnahme wird also nicht nach dem Muster des Beweisantizipationsverbotes erklärt, und auch die Gewährung eines Beweiserhebungsanspruchs soll nicht der entscheidende Punkt sein. Denn ein solcher Anspruch werde bereits durch § 244 Abs. 2 StPO begründet. Das Beweisantragsrecht institutionalisiere vielmehr „eine andere Form der Wahrheitsfindung“.28 Nach Schatz schützt das Beweisantragsrecht vor der „unüberprüfte(n) Verwerfung von Sachverhaltshypothesen anderer Verfahrensbeteiligter, die zwar ebenso subjektiv sind wie die Annahmen des Gerichts, deshalb aber auch den gleichen Anspruch auf Verifizierung haben.“29. Die „Zuweisung der Prognosekompetenz“ an den Antragsteller wird allerdings als Folge des „verstärkten Beweisantizipationsverbots“ aufgefasst.30

III. Dem ersten Lager ist es gelungen, das Beweisantizipationsverbot als beweisrechtliches Prinzip herauszuarbeiten und für dieses Prinzip eine überzeugende funktionale Erklärung anzubieten. Dennoch hat dieses Lager ein Problem: Die hergestellte historische wie analytische Verbindung zwischen

Frister ZStW 105 (1993), 347 (351). Wißgott (Fn. 12), S. 256 ff. 28 Ibid., S. 258. 29 Schatz (Fn. 2), S. 238 f. Zur näheren Begründung stützt er sich auf die gleichen Argumente wie Hamm, Hassemer und Pauly. 30 Schatz (Fn. 2), S. 237: „… die mit dem verstärkten Beweisantizipationsverbot verbundene Zuweisung einer Prognosekompetenz …“. Diese Formulierung ist allerdings missverständlich; vgl. dazu genauer unten im Text. 26 27

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dem Beweisantragsrecht und dem Beweisantizipationsverbot ist nur auf den ersten Blick plausibel; die Bedeutung des Beweisantrages im Prozess der Wahrheitsfindung wird auf diese Weise nicht wirklich erfasst. Davon soll weiter unten noch genauer die Rede sein. Das andere Lager hat schon auf den ersten Blick ein Problem, weil die angebotenen Konzepte sich entweder gar nicht (1) oder unklar (2) zu den prozessualen Zusammenhängen verhalten, auf die es nach den dominierenden Erklärungsmustern ankommt.

1. Erkenntnistheorie und Kognitionswissenschaft – aber welche Rolle spielt das Prozessrecht? Die Ausführungen von Hamm, Hassemer und Pauly stellen eigentlich keine Erklärung für das Beweisantragsrecht dar, sondern ein vernichtendes Urteil über die Inquisitionsmaxime – was nicht dasselbe ist. Ihre zentrale These, ein jedes Erkenntnissubjekt sei durch Vorverständnisse geprägt und deshalb gehindert, die Vielfalt möglicher Wahrheitsperspektiven zu erfassen, wirkt im vorliegenden Zusammenhang schal. Erstens wird die Verknüpfung zwischen Inquisitionsmaxime und der Maßgeblichkeit lediglich einer (subjektiven) Erkenntnisperspektive überzeichnet. Das inquisitorische Prinzip wird völlig aus dem Zusammenhang der übrigen strafprozessualen Beweisgrundsätze31, namentlich der heute gängigen Auffassung vom Prinzip der freien Beweiswürdigung, gelöst und als isoliertes Modell einer erkenntnistheoretischen und kognitionswissenschaftlichen Kritik unterzogen. Ausgeblendet wird, dass das Erkenntnissubjekt (Tatgericht) gehalten ist, seine gewonnene Überzeugung am Ende zu begründen und dass diese Begründung sodann von einem anderen Erkenntnissubjekt (Revisionsgericht) an intersubjektiv gültigen Maßstäben von „Richtigkeit“ gemessen32 wird. Eine solche Ergebniskontrolle wirkt aber auf den „Weg zur Erkenntnis“ zurück. Eine mögliche Rüge des Revisionsgerichts etwa, dem Urteil fehle es an einer ausreichenden Tatsachengrundlage oder das Urteil wende Erfahrungssätze an, die nicht gesichert seien, bedeutet, dass das Tatgericht sich eben nicht einfach auf sein „Vorverständnis“ verlassen darf und anderen Deutungsmöglichkeiten gar nicht erst nachzugehen braucht. Mit anderen Worten: Wenn Kriterien der Intersubjektivität bei

31 Vgl. dazu Kunert GA 1979, 401 ff., mit dem vielsagenden Titel: „Strafprozessuale Beweisgrundsätze im Wechselspiel“. Zum Nebeneinander von Ergebniskontrolle durch eine „erweiterte Revision“ und Kontrollen, die bereits bei der Herstellung des Ergebnisses – also bei der Beweisaufnahme – ansetzen, s.a. Fezer, FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 847 ff. 32 Einzelheiten bei Fezer StV 1995, 95 ff.; Herdegen StV 1992, 527; ders. StV 1992, 590.

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der Ergebniskontrolle ausreichend verankert sein sollten – was zu prüfen wäre, dann müsste vielleicht der Prozess der Herstellung des Ergebnisses nicht schon seinerseits intersubjektiv organisiert sein. Zweitens ist die Entscheidung zugunsten der Inquisitionsmaxime auch nicht gleichbedeutend mit einem Bekenntnis zu einer „naiven“ Vorstellung von der Erkennbarkeit „objektiver Wahrheit“ und zur „simplen“ Korrespondenztheorie. Zu welcher Wahrheitstheorie die Strafprozessordnung tendiert, lässt sich wiederum nur aus einer Zusammenschau der Maximen des Beweisverfahrens einerseits und dem letztlich maßgeblichen Wahrheitskriterium andererseits erschließen. So gesehen erscheint das Strafprozessrecht allerdings eher neutral: Ob der Tatrichter von einem Sachverhalt „überzeugt“ sein darf, weil er glaubt, seine Vorstellung stimme mit „der Wirklichkeit“ überein (Korrespondenztheorie), oder weil er meint, seine Feststellungen ließen sich widerspruchsfrei in ein System bereits vorhandener wahrer Aussagen über Wirklichkeit einordnen (Kohärenztheorie), oder weil er davon ausgeht, in einem gedachten Diskurs eine allgemein zustimmungsfähige Aussage machen zu können (Konsenstheorie), oder weil ihm in einem argumentativen Annäherungsprozess mit einem vorgestellten Gegenüber weitere Begründungsschleifen nicht mehr eingefallen sind (Konvergenztheorie) – dazu macht das Recht wohlweißlich keine Vorgaben. Drittens wird die Korrektivwirkung von Regeln, die im Prozess der Erkenntnisgewinnung von dem inquirierenden Erkenntnissubjekt zu beachten sind, nicht in Betracht gezogen. Die Gefahren der inquisitorisch konzipierten Richterrolle leugnet ja niemand, umstritten ist doch allein, in welchem Umfang sie – auch ohne Einführung eines „konkurrierenden Vorverständnisses“ in Gestalt eines Beweisantrages – mit Hilfe des Beweisantizipationsverbots beherrschbar sind. Die vielen und z. T. tiefgründigen Untersuchungen zu Geltung und Wirkungsweise des Beweisantizipationsverbots demonstrieren, dass in der Prozessrechtswissenschaft diese Fragen sehr ernsthaft diskutiert werden.

2. Kompetenzrechtliche Deutung – alternativer Ansatz oder nur ein Streit um Worte? Bei den Autoren, die das Beweisantragsrecht im Sinne einer kompetenzrechtlichen Lösung verstanden wissen wollen, bleibt unklar, warum es sinnvoll sein soll, diese Lösung und die normativ-materielle Lösung gegeneinander auszuspielen. Kommt es nicht auf dasselbe hinaus, ob man die Bindung des Tatgerichts an die Möglichkeitsbeurteilung des Antragstellers betont und damit die Kompetenzfrage stellt, oder ob man die Situation aus der Perspektive zulässiger Ablehnungsgründe beschreibt und dabei auf die

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Frage nach der Reichweite des Beweisantizipationsverbotes stößt? Anders gewendet: Was ist von dem Einwand von Kritikern zu halten, die Prognosekompetenz des Antragstellers im Beweisantragsrecht sei lediglich die Folge der in § 244 Abs. 3 bis 5 StPO kodifizierten Ablehnungsgründe und deshalb für die Sinndeutung der Norm völlig unergiebig?33 Wird hier nicht bloß ein Streit um Worte geführt, der getrost unentschieden ausgehen mag? Dass in diesen Fragen Unklarheit herrscht, ist in den Äußerungen der oben genannten Autoren z. T. selbst angelegt. Wenn z.B. Schatz von einer „mit dem verstärkten Beweisantizipationsverbot verbundene(n) Zuweisung einer Prognosekompetenz an den Beweisantragsteller“ spricht, dann scheint er doch nicht von zwei verschiedenen Prinzipien – hier „Organisationsrecht“, dort beweisrechtliche Regel – auszugehen, sondern ganz im Sinne der Inkongruenzthese von einer unterschiedlich starken Geltung eines einheitlichen Prinzips. Auch die Ausführungen von Frister sind in dieser Beziehung zwiespältig. Einerseits ist ihm die Feststellung wichtig, dass der Umfang der Beweisaufnahme durch „zwei unterschiedliche Beweisrechtsprinzipien“ bestimmt werde, andererseits bleibt seine Argumentation zumindest terminologisch der Lehre vom Beweisantizipationsverbot verhaftet und zieht dabei die Trennlinie zwischen dem einen und dem anderen Prinzip nicht restlos überzeugend34.

3. Was bleibt? Die vorstehend formulierten Einwände und Fragen sollten nicht missverstanden werden. M. E. ist es durchaus der Mühe wert, die oben zusammengefassten Sichtweisen auf das Thema „Inquisitionsmaxime und Beweisantragsrecht“ überhaupt einmal in ihrer Gegensätzlichkeit zu Bewusstsein zu bringen. Die Leistung der aus dem zweiten Lager kommenden Erklärungsansätze liegt nämlich darin, dass sie das prozessrechtliche Denken von der Fixierung auf ein normatives Kontrollparadigma befreit und den Blick auf ein interpersonales Kontrollparadigma freigelegt haben. Was damit gemeint ist, soll im Folgenden näher ausgeführt werden.

So Paulus, Strafprozessuale Beweisstrukturen (in diesem Band, S. 243 ff.). Kritik an seiner Trennung zwischen verschiedenen Arten von Antizipationen äußern Widmaier NStZ 1994, 416, Fn. 26; Perron (Fn. 13), S. 217, Fn. 230; Wißgott (Fn. 12), S. 31, Fn. 52; Schatz (Fn. 2), S. 212, Fn. 165; zustimmend äußern sich Grünwald, Das Beweisrecht der Strafprozessordnung (1993), S. 106 ff.; SK-StPO/Paeffgen, 15. Lfg. (1996), § 420 Rn. 16; Hirsch (Fn. 24), S. 40. 33 34

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IV. Eigentlich liegt es auf der Hand: Der gute Sinn des Beweisantragsrechts besteht darin, dem Antragsteller die Aussicht zu verschaffen, im Rahmen seiner eigenen Erfahrungshorizonte und Interpretationsschemata Hypothesen über aussichtsreiche Beweisführung (Möglichkeitsbeurteilungen) zu bilden und diese auch durchsetzen zu können.35 Dieser Befund ist trivial; nicht so trivial ist die Antwort auf die Frage, warum sich hier ein blinder Fleck ergeben hat. Eine Rolle spielt sicherlich die Entstehungsgeschichte des Beweisantragsrechts. Am Anfang stand eben kein gesetzgeberischer Gestaltungsakt, sondern die Rechtsprechung von Revisionssenaten des Reichsgerichts. Revisionsgerichte können rechtsgestaltend aber nur wirken, wenn sie an die Tatgerichte adressierte Regeln aufstellen. Das Beweisantragsrecht hat daher in Gestalt von Beschränkungen der Ablehnungsgründe, die dem Tatrichter zur Verfügung stehen, in das deutsche Prozessrecht Einzug gehalten. Die Prozessrechtswissenschaft ist dann allerdings in ihren Analysen diesem Pfad gefolgt und hat sich nicht für den Aspekt der Autonomie des Beweisantragstellers, sondern für die Logik interessiert, die diesen Beschränkungen aus tatrichterlicher Perspektive innewohnt. Von vornherein ist die Entschlüsselung dieser Logik mit der Frage nach der ratio des Beweisantragsrechts gleichgesetzt worden. In den Fokus des wissenschaftlichen Interesses ist auf diese Weise das Beweisantizipationsverbot geraten; mit zum Teil beachtlichem dogmatischem Aufwand ist das Beweisantragsrechts in eine Lehre vom Beweisantizipationsverbot übersetzt worden.36 Dieser Vorgang wiederum dürfte mit der ausgeprägten Bereitschaft der deutschen Prozess-

Anschauliches Beispiel bei Widmaier NStZ 1994, 416. Es versteht sich, dass diese Durchsetzungsmöglichkeit nicht grenzenlos besteht, sondern z.B. bei missbräuchlicher Ausübung des Beweisantragsrechts – Fälle der Prozessverschleppung – oder bei klar auf der Hand liegender (mit intersubjektiver Sicherheit; vgl. dazu treffend Anders [Fn. 23], S. 67) Fehlerhaftigkeit der Prognose – Fälle des völlig ungeeigneten Beweismittels – entfällt; für die weitere Argumentation spielen diese besonders gelagerten Fälle keine Rolle und werden daher nicht weiter erwähnt. 36 Sehr treffend für diese hier skizzierten Zusammenhänge scheint mir der Begriff der „Pfadabhängigkeit“ zu sein; es handelt sich um ein Theorem, das in der sozialwissenschaftlichen Forschung entwickelt worden ist, um Stabilität und Wandel von Institutionen zu erklären; vgl. z.B. J. Beyer, Pfadabhängigkeit. Über institutionelle Kontinuität, auffällige Stabilität und fundamentalen Wandel (2006). In der Rechtstheorie ist dieses Theorem aufgegriffen worden, um eine Entwicklungslogik von Rechtsinstituten in einem gegebenen Rechtsrahmen zu kennzeichnen. 35

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rechtsdogmatik zu erklären sein, alle sich stellenden Probleme des Beweisrechts aus der richterlichen Perspektive zu beantworten. Aber ist die „Blinder-Fleck“-Diagnose überhaupt richtig? Immerhin wird in einer Vielzahl von Publikationen – und übrigens auch in der Rechtsprechung37 – darauf hingewiesen, dass den Parteien mit dem Beweisantragsrecht ein Beweiserhebungsanspruch verschafft werden soll, der weiter geht als der von Amts wegen bestehende Aufklärungsauftrag;38 das Beweisantragsrecht wird öfters sogar als eigenständiges Prozessinstitut bezeichnet, mit dem „Elemente des Parteienprozesses“ in das Strafverfahren gelangt seien.39 Die Wirkung eines Beweisantrages, die ihn zu einem Recht der Parteien macht, wird aber – und das ist mit dem blinden Fleck gemeint – stets mit dem Beweisantizipationsverbot bzw. mit der Begründungspflicht unter Anwendung der Ablehnungsgründe erklärt.40 Worin die „Eigenständigkeit“ liegen soll, kann aber gerade nicht schlüssig aufgezeigt werden, wenn das Beweisantragsrecht und die Amtsermittlungspflicht im Lichte eines einheitlichen beweisrechtlichen Prinzips gedeutet werden. In dieser Lesart ist allein von Interesse, wie die Begründungen des Tatrichters für die Ablehnung weiterer Beweiserhebungen lauten dürfen. Er hat ein für den Umfang der Beweisaufnahme schlechthin gültiges Prinzip anzuwenden, das lediglich angesichts unterschiedlicher Ausgangslagen – mal hat er einen Beweisantrag zu bescheiden und den Bescheid ggf. zu begründen, mal muss er sich selbst Gedanken über die Erstreckung der Beweisaufnahme auf weitere Tatsachen oder Beweismittel machen – unterschiedliche Handhabungen erfordert. Worin genau dieser Unterschied, von der Begründungspflicht

Z.B. BGHSt 21, 118 (124); BGH NStZ 1989, 334 (335). So alle Vertreter der „Inkongruenzthese“. Häufiger findet sich auch die Wendung, die Antragsberechtigten sollen die Beweisaufnahme unmittelbar beeinflussen können. Das trifft im Ergebnis zwar das Richtige, bleibt aber ein bloßes Postulat; was fehlt, ist die Herleitung dieses Postulats aus den Zusammenhängen der Beweislehre bzw. – wem das lieber ist – der Erkenntnistheorie und Kognitionswissenschaft. 39 Vgl. statt vieler Fezer StV 1995, 268 m.w.N. 40 Die noch am ehesten in Richtung „andere Form der Wahrheitsfindung“ interpretierbare Darlegung findet sich bei KK-StPO/Herdegen (Fn. 9), § 244 Vorbem. III. Dort wird betont, dass das Beweisantragsrecht den Parteien die Möglichkeit einräumt, unabhängig von tatrichterlichen Vorstellungen auf Ablauf und Ergebnis der gerichtlichen Rekonstruktion und Konstitution von Wirklichkeit Einfluss zu nehmen. Dies geschehe „durch die AblehnungsEinschränkungen des § 244 Abs. 3 und 4…“. Das Beweisantragsrecht habe eine „komplettierende, in ihrer Tragweite nur von der Explikation der begrifflich fixierten Ablehnungsgründe abhängige Funktion“. Die „Ablehnungs-Einschränkungen“ erscheinen hier tatsächlich nicht als das Primäre, sondern als Mittel („durch“) zur „Komplettierung“ tatrichterlicher Vorstellungen. Eine vertiefende Erklärung für die Notwendigkeit solcher „Komplettierungen“ findet sich allerdings nicht. 37 38

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abgesehen, besteht – das fällt allerdings schwer zu sagen und ist für dieses Lager ein ungelöstes, ja unlösbares Problem. Solange das Denken auf die richterliche Perspektive fixiert bleibt und sich um die Frage dreht, welche Begründungen für die Ablehnung weiterer Beweiserhebungen als richtig gelten dürfen und welche nicht, solange kann die Crux des Beweisantragsrechts nicht richtig erfasst werden. Der blinde Fleck blockiert die Erkenntnis, dass das Beweisantizipationsverbot als ein dem Richter an die Hand gegebenes Prinzip in seiner Leistungsfähigkeit begrenzt ist; der Beweisantrag leistet mehr als das, was mit diesem Prinzip ausgedrückt werden kann. Der Beweisantrag ist nicht lediglich ein Anlass, das dem Gericht zur Verfügung stehende Arsenal zulässiger Begründungen enger zu fassen. Die Crux des Beweisantragsrechts liegt im Übergang zu einem wesentlich anderen Kontrollmechanismus, einem Mechanismus, der nicht durch die Kontrolle der vom Richter anzustellenden Überlegungen vermittelt wird. Ich möchte dafür den Begriff des interpersonalen Kontrollparadigmas – im Unterschied zum normativen Kontrollparadigma – verwenden. Ein normatives Kontrollparadigma setzt auf die Bindung des Tatgerichts an Regeln und die Überprüfung des Regelgehorsams im Rechtsmittelverfahren; ein interpersonales Kontrollparadigma setzt darauf, dass die Prozessbeteiligten unter Ausnutzung ihrer Aktionsmöglichkeiten das Gericht von vorschnellen oder falschen Festlegungen im Prozess der Wahrheitsfindung abhalten. Diese Art der Kontrolle ist im vorliegenden Zusammenhang leistungsfähiger als das normative Kontrollparadigma. Zur Begründung dieser These braucht gar nicht viel gesagt zu werden: Das Beweisantizipationsverbot soll – das wurde oben schon kurz ausgeführt – den Gefahren für die Wahrheitsfindung entgegenwirken, die durch die Verwobenheit von Beweisaufnahme und Beweiswürdigung in einer inquisitorisch konzipierten Richterrolle entstehen. Das Verbot der Beweisantizipation ist aber nur zum Teil geeignet, diesen Gefahren zu wehren. Es lässt sich nämlich nicht ummünzen in ein Gebot, bestimmte Beweishypothesen zu bilden. Gefahren für die Wahrheitsfindung entstehen aber nicht nur dadurch, dass der Richter sich mit Blick auf bereits erhobene Beweise zu früh festlegt, sondern auch dadurch, dass er Beweisführungsmöglichkeiten nicht erkennt oder als nicht aussichtsreich einschätzt, weil sein Erfahrungshorizont und seine Vorverständnisse die Bildung entsprechender Hypothesen nicht zulassen. An dieser Stelle unterliegen m. E. all’ diejenigen einem folgenschweren Irrtum, die mit Hilfe eines äußerst strengen und aufs Kleinste ausdifferenzierten Beweisantizipationsverbots glauben errei-

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chen zu können, dass dem Richter „nichts entgeht“.41 Die Hypothesenbildung, die einer Beweisaufnahme stets vorangeht, hängt nämlich nicht allein von Informationslagen ab. Nur wenn das der Fall wäre, könnte das Kalkül aufgehen: Mittels genauestens zu beachtender Antizipationsverbote werden diese Informationslagen so gestaltet, dass sie sich für den Richter nicht anders darstellen als für die anderen Prozessbeteiligten – also ist der Richter im Stande, dieselben Hypothesen zu bilden wie jeder andere Prozessbeteiligte. Aber so ist es eben nicht. In der Beweislehre ist man sich einig, dass verschiedene Menschen bei gleicher Informationslage durchaus unterschiedliche Schlüsse ziehen.42 Das ist das vielzitierte subjektive Moment einer jeden Beweiswürdigung, und dieser subjektive Einschlag ist selbstverständlich auch schon in der Phase der Hypothesenbildung einzukalkulieren.43 Da der Richter diese Bedingungen menschlicher Erkenntnisfähigkeit schlechterdings nicht überwinden kann, hilft an dieser Stelle das normative Kontrollparadigma nicht weiter, m. a. W. ein an den Richter adressiertes Gebot, bestimmte Hypothesen zu bilden, lässt sich nicht aufstellen. Auch das zum normativen Kontrollparadigma zählende Revisionsrecht kann hier nicht eingreifen, weil der Revisionsrichter nur mangelnde Sorgfalt bei der Hypothesenbildung kritisieren könnte. Darum geht es im vorliegenden Zusammenhang aber gerade nicht. Auch wenn andere Akteure abweichende bzw. weitere Hypothesen aufstellen könnten, heißt das nicht, dass der Richter, der diese Hypothesen nicht aufgestellt hat, unsorgfältig vorgegangen ist.44 Will man diese Gefahren nicht hinnehmen, die aus der Alleinzuständigkeit des Richters für die Hypothesenbildung resultieren, dann bedarf es der Mobilisierung weiterer Akteure, die mit ihren abweichenden Erfahrungshorizonten und Wahrheitsperspektiven ihrerseits zur Bildung von Beweishypothesen aufgerufen sind. Dafür gibt es das Beweisantragsrecht.45

Beispielhaft dafür ist die Arbeit von Schulenburg (Fn. 9). Es handelt sich freilich nicht nur um ein Problem der Beweislehre, sondern um ein allgemeines Problem menschlicher Erkenntnis; s. dazu oben die Ausführungen von Hamm, Hassemer und Pauly. 43 Das verkennen Wenner, Die Aufklärungspflicht gem. § 244 Ans. 2 StPO (1982), S. 172 und Gössel JR 1996, 101. 44 Deshalb überzeugt die Argumentation von Gössel nicht, der zwar die Relativität menschlichen Erkenntnisvermögens einräumt, aber eine retrospektive „objektive“ Kontrolle durch die Revisionsgerichte für ein wirksames Korrektiv hält; s. Gössel, Empfehlen sich Änderungen des Strafverfahrensrechts mit dem Ziel, ohne Preisgabe rechtsstaatlicher Grundsätze den Strafprozeß, insbesondere die Hauptverhandlung, zu beschleunigen?, Gutachten C für den 60. DJT, Bd. I (1994), S. C 68. Zutreffende Kritik bei Schatz (Fn. 2), S. 238. 45 Noch weitergehende Möglichkeiten, den eigenen Wahrheitshorizont zur Geltung zu bringen, bot das Recht der autonomen Beweisvorführung in seinem ursprünglichen Format (bis 41 42

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Die Stellung eines Beweisantrages bewirkt die Bindung des Tatgerichts an die Möglichkeitsbeurteilung des Antragstellers. Die oben aufgeworfene Frage ist damit beantwortet: Es kommt zwar auf dasselbe hinaus, ob mit Blick auf das Beweisantragsrecht die Prognosekompetenz des Antragstellers betont wird oder das durch bestimmte Regeln beschränkte Begründungsarsenal des Gerichts, das einen Beweisantrag ablehnen will. Allerdings darf eben nicht verkannt werden, dass diese Ablehnungs-Einschränkungen lediglich das Mittel sind, um die Verlagerung der Prognosekompetenz auf den Antragsteller sicherzustellen. Insofern handelt es sich bei den Ablehnungs-Einschränkungen und dem Beweisantizipationsverbot als ein am tatrichterlichen Erkenntnisprozess ansetzendes Prinzip um zwei verschiedene und auch verschieden motivierte beweisrechtliche Konzepte. Mit der Stellung eines Beweisantrages beginnt „eine andere Form der Wahrheitsfindung“46. Alle Versuche, über diese rechtlich bedeutsame Differenz zwischen Beweisantragssituation und Geltung der Amtsaufklärungsmaxime hinwegzugehen und das Beweisantizipationsverbot als einheitliches Prinzip zur Kontrolle des Beweisaufnahmeverfahrens zu konzipieren, müssen fehlschlagen. Dies sei anhand des am stringentesten ausgearbeiteten Konzepts eines Beweisantizipationsverbots demonstriert. Dieses Konzept stammt von Schulenburg. Sie geht zunächst von der plausiblen Annahme aus, dass die tatrichterliche Hypothesenbildung nicht nur von dem erreichten Stand der Sachaufklärung, sondern auch von der Qualität weiterer Beweishinweise abhängt.47 Der Beweisantrag wird von ihr sodann unter dem Gesichtspunkt analysiert, ob der Antragsteller in besonderer Weise Einfluss auf diesen Prozess der tatrichterlichen Hypothesenbildung nehmen kann. Bedeutsam erscheint ihr angesichts ihrer Ausgangsfrage aber nur, dass der Beweisantrag eine bestimmte Tatsachenbehauptung enthalten und ein bestimmtes Beweismittel benennen muss.48 Diese Merkmale betref-

1979); dazu eingehend Köhler (Fn. 23) und Anders (Fn. 23). Der entscheidende Unterschied zum Beweisantragsrecht bestand darin, dass die Partei nicht nur abweichende Hypothesen über die Beweisbarkeit erheblicher Tatsachenbehauptungen, sondern sogar eine abweichende Erheblichkeitsbeurteilung durchsetzen konnte. Der Ausbruch aus dem Beweiskonzept des Gerichts konnte also radikaler vollzogen werden. Insofern – aber auch nur insofern; s. Fn. 23 – ist die von Köhler skizzierte und von Anders ausgearbeitete These richtig, dass das Beweisantragsrecht, indem es von der Prüfungskompetenz des Gerichts abhängig bleibt, mit der gerichtlichen Instruktionstätigkeit eine „sachliche Einheit“ bildet (Köhler, S. 27; ebenso Anders, S. 131). 46 Wißgott (Fn. 12), S. 258. 47 Schulenburg (Fn. 9), S. 119 ff. 48 Ibid., S. 188 ff.

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fen nämlich die Qualität eines solchen Beweishinweises. Explizit schließt sie aus, dass die Antragsform irgendeine Rolle spielen kann. Da die Begründung sehr kurz ist, soll sie hier vollständig zitiert werden: „Das Gericht ist unabhängig von der Stellung eines Antrages durch die Verfahrensbeteiligten gem. § 244 Abs. 2 von Amts wegen zur Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet. Entscheidend kann daher nur sein, in welcher tatsächlichen Beweislage und in welcher Konkretheit ein Beweishinweis dem Gericht Informationen vermittelt. Dementsprechend kann auch umgekehrt aus dem Fehlen eines Antrages nicht geschlossen werden, daß die Möglichkeiten zur vorweggenommenen Würdigung eines Beweises sich erweitern. Das Ausbleiben eines Antrages könnte auch auf einer Unkenntnis des Angeklagten von dem Beweismittel oder ungeschicktem Prozeßverhalten des Verteidigers beruhen. Wenn aber die Antragsform selbst keine Bedeutung für die Zulässigkeit der Antizipation des Beweisergebnisses hat, ist auch das Beweiserbieten in seinen Wirkungen einem Beweisantrag gleichzustellen.“49 Diese Darlegungen bedeuten nichts anderes als die Wiederbelebung der Lehre vom Beweisantrag als Wissenserklärung50. Der Beweisantrag „vermittelt“ aber in Wahrheit keine „Informationen“, sondern transportiert Einschätzungen, Prognosen des Antragstellers.51 Letztlich hält Schulenburg dann auch diese Linie nicht konsequent durch. Sie erkennt nämlich, dass der Beweisantrag etwas Verbindliches schafft. Da das Thema „Prognosekompetenz“ in ihrem Konzept keinesfalls einen Platz haben kann, greift sie zu einer anderen Erklärung: Sie spricht dem Beweisantrag „indizielle Wirkung“ zu. „Das Element der «Behauptung» führt … zu dem Verbot, das Ergebnis einer Beweisaufnahme negativ zu antizipieren“52, also über die im Beweisantrag enthaltenen Einschätzungen und Prognosen hinwegzugehen, und zwar weil allein schon das Aufstellen der Beweisbehauptung eine mögliche Änderung des Beweisergebnisses „indiziert“53. Damit ist ein Sollenssatz – verbindliche Geltung der vom Antragsteller entwickelten Einschätzungen und Prognosen – umdefiniert in eine Frage der Empirie: der Richter ist gebunden, weil er einen Erfahrungssatz zugrunde zu legen hat – ein „Kunstgriff“, ohne den sich die Konstruktion des Beweisantizipationsverbots als einheitliches Prinzip nicht hätte durchhalten lassen.

Ibid. Diese Lehre vertritt auch Wenner (Fn. 43), S. 160. 51 Dazu kann auf die oben schon wiedergegeben Argumente von J. Schulz StV 1991, 354 (361), verwiesen werden. 52 Schulenburg (Fn. 9), S. 191. 53 Ibid., S. 192. 49 50

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V. Was ist mit der Erkenntnis gewonnen, dass es sich beim Beweisantragsrecht um ein vom Beweisantizipationsverbot zu unterscheidendes Konzept handelt und dass hier das interpersonale, dort das normative Kontrollparadigma zum Tragen kommt? Damit komme ich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück: zu der Diagnose von Fezer, wonach die bisherige Entwicklung von Beweisantragsrecht und Amtsaufklärungsmaxime – und ich möchte hinzufügen: auch die wissenschaftliche Diskussion über diese Rechtsinstitute – in eine Sackgasse geführt hat. Meine These lautet, dass Ursache dieses Verlaufs die in der Rechtsprechung ebenso wie in der Prozessrechtslehre verbreitete Fixierung auf das normative Kontrollparadigma ist; mein Therapievorschlag geht deshalb dahin, diese Fixierung zu überwinden. Die vorstehenden Darlegungen sollten gezeigt haben, dass die herrschenden Strömungen in der Prozessrechtswissenschaft – offenbar aufgrund eines ungebremsten Zutrauens in das normative Kontrollparadigma – sich schwer tun, die Grenzen dieses Paradigmas zu erkennen. Umgekehrt besteht aus demselben Grunde auch ersichtlich noch zu wenig Bereitschaft, die Chancen des interpersonalen Kontrollparadigmas auszuloten. Hier sind nicht wenige Forschungsdefizite zu beklagen – das Beweisrecht ist nur ein Beispiel für den „blinden Fleck“. Weitere Desiderate betreffen die mögliche Bedeutung des „Rechtsgesprächs“ in der strafprozessualen Hauptverhandlung54, das de lege lata nur rudimentär in Gestalt von Hinweispflichten des Gerichts existiert und de lege ferenda theorielos daherkommt55. Eine Umorientierung dürfte allerdings nicht nur anwendungsbezogen Charakter haben, sondern müsste auch mit einer Ursachenforschung einhergehen: Wie ist die Fixierung auf das normative Kontrollparadigma zu erklären? Es wäre zu einfach, hierfür den Gesetzgeber verantwortlich zu machen, der sich nun einmal für die Inquisitionsmaxime entschieden und damit die Pfade festgelegt hat. Tatsächlich ist nämlich in der ursprünglichen Fassung der RStPO das inquisitorische Prinzip gar nicht so dominant gewesen.56

54 Dazu aber nunmehr Wachsmuth, Das Recht des Angeklagten auf Orientierung, Diss. Bremen, erscheint demnächst. 55 In diesem Sinne äußern sich kritisch zu den auf ein Eckpunktepapier (abgedruckt in: StV 2001, 314) aus dem Jahre 2001 zurückgehenden Plänen, ein Rechtsgespräch im Strafprozess vorzusehen: Freund GA 2002, 88; Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren – Leitidee für eine Gesamtreform? (2002), S. 9 ff. 56 Einzelheiten dazu bei Wißgott (Fn. 12), S. 55 ff.; J. Schulz, in: Bemmann/Manoledakis (Hrsg.), Der Richter in Strafsachen (1992), S. 93 ff.; s.a. Jahn ZStW 118 (2006), 445 ff., der allerdings die Zusammenhänge, insbesondere die Bedeutung des Rechts zur autonomen Be-

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Vielmehr sind inquisitorische und parteiprozessuale Elemente schlicht nebeneinander gestellt worden, ohne das Verhältnis der beiden Elemente zueinander zu klären. Diese Klärung ist der weiteren Entwicklung überlassen worden. Einige der konzeptionell durchaus zentralen Vorschriften – etwa derjenigen über die autonome Beweisvorführung – sind im Verlaufe dieser Entwicklung nahezu obsolet geworden, und umgekehrt haben eher randständige Normen in der Praxis eine enorme Bedeutung erhalten – das gilt etwa für das Recht der Parteien, die Ladung von Zeugen oder Herbeischaffung von sonstigen Beweismitteln durch das Gericht zu beantragen. Bemerkenswert ist insbesondere, wie zurückhaltend die Rolle des Tatgerichts in der Phase der Beweisaufnahme ausgestaltet war: Nach dem ursprünglichen Wortlaut des Gesetzes „kann“ das Gericht „auch von Amtswegen“ die Ladung von Personen und die Herbeischaffung von Beweismitteln anordnen. Dies liest sich eher wie eine Befugnis, den von den Parteien ausgebreiteten Verfahrensstoff zu ergänzen und ist weit entfernt von der Amtsaufklärungspflicht, wie wir sie heute verstehen und praktizieren. Kurzum: Warum die Entwicklung den bekannten Gang genommen und zur Dominanz des inquisitorischen Prinzips geführt hat – einschließlich richterlicher Verantwortung für die „Richtigkeit“ der Tatsachenfeststellungen, ist seinerseits erklärungsbedürftig. Maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung haben jedenfalls Rechtsprechung und Wissenschaft genommen. Also könnte in den dort verbreiteten Geisteshaltungen nach Erklärungen gesucht werden. Insoweit scheint das prozessuale Denken über geraume Zeit – und anhaltend – unter der nahezu unangefochtenen Hegemonie des kritischen Rationalismus zu stehen.57 Das Zutrauen in die Fähigkeit des Menschen zu rationaler Erkenntnis – jenseits eigener Interessen, Vorurteile oder Emotionen – ist nun in der Tat geeignet, sowohl die positive Einstellung zur Inquisitionsmaxime als auch die Anstrengungen zu erklären, mit denen die Prozessrechtslehre – auf den Richter als Erkenntnissubjekt fixiert – diejenigen Bedingungen ausformuliert hat, unter denen eine solche Fähigkeit sich optimal entfalten kann. Die Entwicklung von Regeln, die mögliche Verzerrungsfaktoren neutralisieren sollen, und die Kontrolle des Regelgehorsams durch weitere Instanzen sind dann naheliegende Optionen, um richterliche Erkenntnisfähigkeit zur Entfaltung zu bringen. Das Menschenbild des kritischen Rationalismus verlangt also nach diesem normativen

weisvorführen innerhalb des Gesamtkonzepts der RStPO, unzutreffend deutet; zur Kritik vgl. Weigend, in: Weigend u.a. (Hrsg.), Strafverteidigung vor neuen Herausforderungen (2008), S. 365, Fn. 37. 57 Vgl. auch Jahn GA 2004, 277.

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Kontrollparadigma und dessen Optimierung. Nur wer bereit ist, Ergebnisse der empirischen sozialwissenschaftlichen und kognitionswissenschaftlichen Forschung zur Kenntnis zu nehmen, wird die begrenzten Möglichkeiten, Rationalität zu gewährleisten, deutlicher erkennen und daher leichter aus der Fixierung auf das normative Kontrollparadigma aussteigen können. Schließlich und nicht zuletzt geht es um Rechtspolitik. Ausgangspunkt müsste die – in Fezers Resümee anklingende – kritische Einsicht sein, dass in dem Streben nach Kontrolle des tatrichterlichen Erkenntnisprozesses das deutsche Strafprozessrecht den Zenith überschritten hat. Zwar kann und darf eine verantwortungsbewusste Reformpolitik nicht einfach an den Abbau solcher Kontrollen gehen. Aber es müsste gezielter als bisher die Leistungsfähigkeit verschiedener Kontrollmechanismen geprüft und auf die mögliche Austauschbarkeit der unterschiedlichen Kontrollparadigmata geachtet werden, statt immer nur „an einer Schraube zu drehen“. Wahrscheinlich führt dieser Weg zu einer Neubewertung der Inquisitionsmaxime und zur Bereitschaft, den Parteien mehr Einfluss auf den Umfang der Beweisaufnahme einzuräumen, und zwar nicht nur in Richtung ihrer Erweiterung, sondern auch in umgekehrter Richtung. Welche eventuell ganz neuen Rechtsinstitute sich dabei herausbilden könnten58 und ob das Rechtsinstitut des Beweisantrages dann weiterhin seine Rolle als wichtigstes Instrument in der Hand der Parteien spielen oder ob die autonome Beweisvorführung diese Rolle stärker übernehmen wird – das alles sind Zukunftsfragen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Fragen nicht durch ein allzu vordergründiges Bestreben der aktuellen Politik, die Amtsaufklärungsmaxime zwecks Legalisierung der Absprachenpraxis geschmeidig(er) zu machen, verschüttet werden.

58 Widersprochen werden muss Jahn ZStW 118 (2006), 442 ff., der glaubt, dieses Rechtsinstitut bereits im geltenden Recht vorzufinden: § 244 Abs. 2 StPO könne so verstanden werden, dass die Pflicht des Gerichts zur Beweiserhebung von einem parteilichen Bedeutsamkeitsurteil abhängig gemacht werde. Ablehnend dazu Weigend (Fn. 56); Weßlau StraFo 2007, 4, Fn. 26.

Die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung – ein Instrument zur Relativierung unselbständiger Verwertungsverbote? WOLFGANG WOHLERS*

A. Einführung in die Problemstellung Die Auseinandersetzung mit der Problematik der Verwertungsverbote ist ein Schwerpunkt im wissenschaftlichen Werk Gerhard Fezers. Neben den Grundfällen zum Verlesungs- und Verwertungsverbot im Strafprozeß1, dem Lehrbuch zum Strafprozessrecht2 und dem am 7.11.1994 gehaltenen und nachfolgend in der Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe publizierten Vortrag zu Grundfragen der Beweisverwertungsverbote3 hat diese Auseinandersetzung in einer ganzen Reihe von Anmerkungen stattgefunden, mit denen Fezer die Rechtsprechung des BGH über mehrere Jahrzehnte hinweg kritisch begleitet hat.4 Ganz offenbar fällt es der Rechtsprechung zunehmend schwer, ein Beweismittel, auf das rein faktisch gesehen zugegriffen werden kann (oder auf das bereits zugegriffen wurde), für unverwertbar zu erklären, „nur“ weil der Akt der Beweisgewinnung mit einem formalen Mangel behaftet ist und/oder mehr oder weniger klar ist, dass das Beweisergebnis theoretisch auch auf formal ordnungsgemäße Art und Weise hätte gewonnen werden können. Vor diesem Hintergrund kann es denjenigen, der mit den prozessrechtsdogmatischen und kriminalpolitischen Auffassungen des Jubilars vertraut ist, nicht erstaunen, dass dessen

Für die umfangreiche Unterstützung bei der Aufbereitung der vorhandenen Literatur und Rechtsprechung bin ich Frau Dr. Gunhild Godenzi, LL.M., zu großem Dank verpflichtet. 1 JuS 1978, 104 ff. und 325 ff.; 1979, 35 ff. 2 Strafprozeßrecht, 2. Aufl. (1995), insbesondere Fall 16. 3 Grundfragen der Beweisverwertungsverbote, Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, Bd. 215 (1995). 4 Vgl. insbesondere JZ 1987, 937; StV 1989, 290; JR 1991, 85; JZ 1999, 526; NStZ 2003, 625. *

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Anmerkungen in den einschlägigen Kommentaren und Lehrbüchern durchgehend mit dem Kürzel „krit.“ oder „abl.“ vermerkt werden. Kernpunkt der Kritik an der auf die sog. unselbständigen Verwertungsverbote bezogenen Rechtsprechung ist die Weigerung der Gerichte, sich auf einen verbindlichen Ansatz festzulegen, und stattdessen eine auf den jeweiligen Einzelfall abstellende Gesamtabwägung vorzunehmen, was sich bei näherem Hinsehen nicht als Methode, sondern entweder als Verzicht auf Methode darstellt und/oder deutlich macht, dass es letztlich darum geht, sich ein Optimum an Entscheidungsfreiheit zu sichern.5 So weist Fezer in einer Anmerkung aus dem Jahre 2003 in der Sache zutreffend – wenn auch mit einem leicht resignativen Unterton – darauf hin, der BGH sei bezogen auf die immer wieder auftauchende Problematik der Berücksichtigung hypothetischer Ermittlungsverläufe „über kursorische Wendungen zum Stichwort hypothetischer Ersatzeingriffe nie herausgekommen; er hat niemals ‚Grundsätze entwickelt’“.6 Hypothesenbildungen sind in der Dogmatik der Verwertungsverbote in verschiedenen Zusammenhängen von Bedeutung. So hängt nach der heute in Lehre und Rechtsprechung jedenfalls im Ergebnis ganz überwiegend geteilten Auffassung die Beantwortung der Frage, ob ein Beweismittel nach prozessordnungswidriger Beweisgewinnung einem unselbständigen Verwertungsverbot unterliegt, unter anderem auch davon ab, ob das in Frage stehende Beweisergebnis hypothetisch gesehen auch rechtmäßig hätte gewonnen werden können.7 Hypothetische Erwägungen können darüber hinaus aber auch im Anschluss an eine rechtmässige Beweisgewinnung notwendig werden, z.B. bezogen auf Zufallsfunde, die anerkanntermaßen dann nicht verwertbar sind, wenn ein gezielter staatlicher Zugriff nicht zulässig gewesen wäre.8 Gleiches gilt, wenn es um die Problematik der Fernwirkung nach einer prozessordnungswidrigen Beweisgewinnung geht. Hier wird danach gefragt, ob die Strafverfolgungsbehörden die Beweismittel, auf die sie aufgrund der prozessordnungswidrig gewonnenen Erkenntnisse gestoßen sind, auch unabhängig von dem prozessordnungswidrigen Akt der Beweis-

Vgl. hierzu insbesondere Fezer (Fn. 2), 16/16 ff. NStZ 2003, 625 (629). 7 Vgl. insoweit die Nachweise in den Fn. 12 und 15. 8 Vgl. SK-StPO/Wolter, 11. Lfg. (1994), Vor § 151 Rn 183, 194 f., 202 f.; Fezer NStZ 2003, 625 (630); Maiwald JuS 1978, 379 (382); Pelz, Beweisverwertungsverbote und hypothetische Ermittlungsverläufe (1993), S. 180 ff.; Welp, Die strafprozessuale Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (1974), S. 222. 5 6

Die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung

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gewinnung gestoßen wären.9 Die Rechtsprechung, die ganz offenbar keine grundsätzlichen Bedenken hat, dann auf hypothetische Ermittlungsverläufe zurückzugreifen, wenn es darum geht, mit diesem Instrument das Nichtvorliegen eines Verwertungsverbots zu begründen, also die Relevanz einer prozessordnungswidrigen Beweiserhebung zu relativieren, steht der Berücksichtigung dann skeptisch gegenüber, wenn diese darauf hinauslaufen könnte, die Unverwertbarkeit zu begründen, „weil sich ein ursächlicher Zusammenhang zwischen solchen Fehlern und der schließlichen Überführung des Beschuldigten im Sinne einer conditio sine qua non kaum einmal sicher wird feststellen lassen“.10 Anzumerken bleibt, dass insoweit auch die Strafprozessrechtswissenschaft kein sehr viel überzeugenderes Bild bietet. Zwar hat es nicht an Bemühungen gefehlt, der Problematik Herr zu werden, ein allgemein geteilter oder auch nur als herrschend einzustufender Ansatz hat sich aber auch in der Literatur nicht herausgebildet. Tatsächlich wird die Zulässigkeit der Hypothesenbildung auch in der Literatur ganz überwiegend mehr oder weniger begründungslos bejaht. Unabhängig davon, welchem grundsätzlichen Ansatz zur Bestimmung von Verwertungsverboten die einzelnen Autorinnen und Autoren folgen,11 sind sie sich doch ganz mehrheitlich jedenfalls im Ergebnis einig, dass der Umstand, dass ein konkret prozessordnungswidrig gewonnenes Beweismittel hypothetisch auch auf prozessordnungsgemäßem Wege hätte gewonnen werden können, für die Frage der Verwertbar-

9 Vgl. BGHSt 32, 68 (71) m. Anm. Schlüchter JR 1984, 517; BGHSt 34, 362 (364 f.) m. Anm. Fezer JZ 1987, 936; Grünwald StV 1987, 470; Seebode JR 1988, 427; Reichert-Hammer JuS 1989, 446; AK-StPO/Gundlach, Bd. II/1 (1992), § 136a Rn. 84 f.; SK-StPO/Rogall, 17. Lfg. (1997), § 136a Rn. 106; Fezer (Fn. 2), 16/50. 10 BGHSt 32, 68 (71) mit Anm. Schlüchter JR 1984, 517 ff. und abl. Anm. Wolter NStZ 1984, 276; vgl. auch BGHSt 34, 362 (364 f.) m. abl. Anm. Fezer JZ 1987, 937; Grünwald StV 1987, 470 (472); Seebode JR 1988, 427; Wagner NStZ 1989, 34; Neuhaus NJW 1990, 1221; Reichert-Hammer JuS 1989, 446; Beulke ZStW 103 (1991), 657 (667); Svenja Schröder, Beweisverwertungsverbote und die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung im Strafprozeß (1992), S. 87. 11 Zum Stand der Diskussion in der Strafprozessrechtswissenschaft vgl. die Darstellung der vertretenen Grundansätze bei Fezer (Fn. 2), 16/22 ff. Die These, dass sich die Positionen der Vertreter der Abwägungslösung und der Schutzzwecklehre(n) zwischenzeitlich einander angenähert haben (vgl. Wohlers, in: Malek/Wohlers, Zwangsmaßnahmen und Grundrechtseingriffe im Ermittlungsverfahren, 2. Aufl. [2001], Rn. 208) stimmt offenbar mit dem aus der Innenperspektive der Beteiligten gewonnenen Eindruck nicht überein (vgl. insoweit die erbittert geführte Kontroverse zwischen Amelung [FS Bemman (1997), 505 ff.; FS Roxin (2001), 1259 ff.] einerseits und Rogall [FS Grünwald (1999), 523 ff.; FS Hanack (1999), 293 ff.] andererseits).

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keit irgendwie von Bedeutung ist.12 Und die wenigen Arbeiten, die sich ausführlicher mit der Problematik auseinandersetzen, kommen zu diametral unterschiedlichen Ergebnissen: Während Klaus Rogall in seiner grundlegenden Abhandlung aus dem Jahre 1988 die Berücksichtigungsfähigkeit hypothetischer Ermittlungsverläufe grundsätzlich bejaht,13 lehnen Matthias Jahn und Jens Dallmeyer deren Berücksichtigung in ihrem 2005 publizierten Beitrag als dogmatische Fehlentwicklung strikt ab.14 Die vorliegende Untersuchung nimmt im Ergebnis den gleichen Standpunkt ein. Die These, die mit den nachfolgenden Ausführungen belegt werden soll, ist die, dass die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung jedenfalls bezogen auf die Problematik unselbständiger Verwertungsverbote keinerlei Bedeutung hat, weil die Berücksichtigung hypothetischer Ermittlungsverläufe entweder unzulässig oder aber überflüssig ist.

B. Die Rechtsprechung zur (Un-)Zulässigkeit der Berücksichtigung hypothetischer Ermittlungsverläufe Die Rechtsprechung ist bisher weder auf den Geltungsgrund der Hypothesenbildung noch auf ihre spezifischen Voraussetzungen näher eingegangen, sondern hat hypothetische Erwägungen jeweils ohne nähere dogmatische Begründung in den Abwägungsvorgang zur Ermittlung eines Verwertungsverbotes einbezogen oder aber als unzulässig verworfen. Die Bedeutung, die der Berücksichtigung hypothetischer Ermittlungsverläufe für die Ermittlung eines Verwertungsverbots in der Praxis der Strafgerichte konkret zu-

Vgl. Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), Einl. Rn. 57c; Beulke ZStW 103 (1991), 657 (664 f.); Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 5. Aufl. (2006), Rn. 409 f.; Grünwald, Das Beweisrecht der Strafprozeßordnung (1993), S. 161 f.; Herdegen, in: DAV (Hrsg.), Wahrheitsfindung und ihre Schranken (1989), S. 115 ff.; Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozeß (2003), S. 234 ff.; Kelnhofer, Hypothetische Ermittlungsverläufe im System der Beweisverbote (1994), S. 141 ff.; Kleinknecht NJW 1966, 1537 (1538); Klug, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (1967), S. F 39 und 46 f.; Meurer JR 1990, 389 (391 f.); Otto GA 1970, 289 (292, Fn. 22); Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten in der Polizeivernehmung (1990), S. 89 ff.; Rogall NStZ 1988, 385 (390 ff.); Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. (1998), § 24 Rn. 21, 38; Salditt GA 1992, 51 (73); Schlüchter, FS Krause (1990), S. 490 ff.; Schröder (Fn. 10), S. 195 ff.; Seiler, FS Peters (1974), S. 456; ; Welp (Fn. 8), S. 216 f.; Wolter NStZ 1984, 276 (277); a.A. Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß (1977), S. 80 ff.; Haffke GA 1973, 65 (82); Paulus, GS Meyer (1990), S. 327 f.; Eb. Schmidt MDR 1970, 461 (463). 13 Rogall NStZ 1988, 385 ff. 14 Jahn/Dallmeyer NStZ 2005, 297 ff. 12

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kommt, kann nur schwer abgeschätzt werden, weil die erfolgreiche Hypothesenbildung in der Regel nur als ein Kriterium im Rahmen der von den Gerichten praktizierten Gesamtabwägung in Erscheinung tritt15 und auch in den wenigen Fällen, in denen es ausweislich der Urteilsgründe ausschlaggebend für die Verwertbarkeit eines rechtswidrig beschafften Beweismittels gewesen sein soll,16 zu vermuten ist, dass das jeweilige Ergebnis ebenso gut mit einer anderen Begründung hätte erzielt werden können.17

I. Hypothesenbildung nach Beweisgewinnung, die in materieller Hinsicht prozessordnungswidrig war Eine Analyse der publizierten Entscheidungen ergibt, dass die Hypothesenbildung keine große praktische Relevanz hat, soweit es um das (Nicht-)Vorliegen von Voraussetzungen geht, an die der Akt der Beweisgewinnung in materieller Hinsicht gebunden ist. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, dann hätte der Beweis nicht erhoben werden dürfen. Raum für hypothetische Erwägungen ergibt sich in diesem Zusammenhang überhaupt nur in zwei Fallgestaltungen. 1. Hypothetischer Austausch der Rechtsgrundlage Zunächst einmal geht es um die Fälle, in denen zwar die Massnahme, die konkret ergriffen worden ist, nicht hätte ergriffen werden dürfen, weil die insoweit notwendigen Voraussetzungen nicht gegeben waren, bei denen das Beweisergebnis hypothetisch aber auch auf andere Art und Weise – und dann: prozessordnungsgemäß – hätte gewonnen werden können. Ein in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte mehrfach praktisch gewordenes Beispiel ist die zu Behandlungszwecken entnommene Blutprobe, die dann von den Strafverfolgungsbehörden beschlagnahmt wird, obwohl sie einem Beschlagnahmeverbot nach § 97 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 und damit einem Verwertungsverbot unterliegt. Die Gerichte stellen hier darauf ab, dass den Strafverfolgungsbehörden „unbeschadet des Zeugnisverweigerungsrechts… die (weitere) rechtliche Möglichkeit zu Gebote [stand], durch Anordnung

15 Vgl. BGHSt 24, 125 (130 ff.); 44, 243 (248 ff.); BGH NStZ 2004, 449 (450); NJW 2003, 2034 (2035 f.); BayObLG NJW 1997, 3454 (3455); NZV 1997, 276 (278); OLG Koblenz NStZ 2002, 660 (661); OLG Frankfurt NJW 1997, 2963 (2964). 16 Vgl. OLG Celle NStZ 1989, 385; BGH NStZ 1989, 375 (376). 17 Vgl. Beulke ZStW 103 (1991), 657 (662); Jahn/Dallmeyer NStZ 2005, 297 (303).

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gemäß § 81a StPO die Entnahme einer Blutprobe zu erreichen“.18 Ein weiteres Beispiel bietet der Fall BGH StV 2003, 370, wo es um die Verwertbarkeit eines Raumgesprächs nach Fehlbedienung eines Mobiltelefons ging und wo der 2. Strafsenat im Rahmen der Gesamtabwägung die hypothetische Möglichkeit berücksichtigt hat, dass die Aufzeichnung jedenfalls auf eine Eilanordnung nach §§ 100c Abs. 1 Nr. 2, 100d Abs. 1 hätte gestützt werden können.19 Die Verwertung wird in diesen Entscheidungen der Sache nach also damit legitimiert, dass hypothetisch die Möglichkeit bestanden hatte, eine rechtmässige Anordnung zu erwirken, weil deren materielle Eingriffsvoraussetzungen vorlagen.20 Die Fälle, in denen die Gerichte hypothetische Erwägungen „abgelehnt“ haben, waren demgegenüber die, in denen eine ErsatzEingriffsgrundlage gar nicht vorhanden war. So hat der 3. Strafsenat in BGHSt 34, 39 die Verwertbarkeit einer durch das heimliche Abhören des Eingangsgesprächs in einer JVA erlangten Stimmprobe unter Verweis auf das Nichtvorhandensein einer strafprozessualer Ermächtigung verneint; bei der Stimmaufzeichnung handle es sich um „ein vom Tatrichter in gesetzwidriger Weise gewonnenes Beweismittel, das er auch auf legalem Wege im Zeitpunkt der Verwertung nicht hätte erlangen können.“21 2. Reaktion auf die nachträgliche Veränderung von verwertungsrelevanten Umständen Die zweite Gruppe bilden die Fälle, in denen sich die Umstände in einer Art und Weise verändert haben, dass eine tatsächlich prozessrechtswidrig erfolgte Beweiserhebung nun – erstmalig – prozessordnungsgemäß erfolgen könnte. Praktisch relevant sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Fallgestaltungen, in denen Beschlagnahmeverbote nachträglich entfallen sind. In BGHSt 25, 168 ging es um die Frage, ob ein Beweismittel im Strafverfahren verwertet werden kann, das unter Verletzung des Beschlagnah-

OLG Celle NStZ 1989, 384 m. abl. Anm. Wohlers NStZ 1990, 245 (246); Mayer JZ 1989, 908; vgl. auch OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 246; OLG Zweibrücken NJW 1994, 810 m. Bespr. Weiler MDR 1994, 1163 ff. 19 BGH StV 2003, 370 m. Anm. Gercke JR 2004, 347; Weßlau StV 2003, 483; Braum JZ 2004, 128 und abl. Bespr. Fezer NStZ 2003, 625; krit. auch Wolter, FS Rudolphi (2004), S. 744 f. 20 So auch Jahn/Dallmeyer NStZ 2005, 297 (300). 21 BGHSt 34, 39 (53) m. Anm. Meyer JR 1987, 215; Kühne EuGRZ 1986, 493; Wolfslast NStZ 1987, 103; vgl. auch Dahs, in: DAV (Hrsg.), Wahrheitsfindung und ihre Schranken (1989), S. 130 ff. 18

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meverbots des § 97 Abs. 1 Nr. 1 beschlagnahmt worden war, wenn das Beschlagnahmeverbot im Nachhinein wegfällt. Der 3. Strafsenat hat die Verwertbarkeit mit dem schlichten Verweis darauf bejaht, dass das Beschlagnahmeverbot nicht mehr besteht; eine verwertungsbeschränkende Berücksichtigung des hypothetischen Ermittlungsverlaufs hat er abgelehnt: „Auch von der Frage, ob das Beweismittel auf anderem Wege hätte gewonnen werden können oder ob es zur Zeit der beabsichtigten Verwertung noch gewonnen werden könnte, kann die Zulässigkeit der Verwertung als Beweismittel nicht abhängen >…@; diese Frage lässt sich in der Regel, namentlich für das Revisionsgericht, nachträglich nicht mehr klären.“22 Mit dem Folgeproblem, auf welchen Zeitpunkt es für die Hypothesenbildung eigentlich ankommt und welche Anforderungen an die Hypothesenbildung zu stellen sind, musste sich der Senat damit nicht mehr befassen. Abgesehen davon, dass selbstverständlich (fast) alle Beweismittel zerstört oder auf sonstige Weise in ihrem Beweiswert beeinträchtigt werden können, werfen diesbezüglich insbesondere flüchtige Beweismittel, wie z.B. Blutproben, gewichtige Probleme auf.23 2. Hypothesenbildung im Anschluss an eine Beweisgewinnung, die in formaler Hinsicht prozessordungswidrig war Größere praktische Bedeutung hat die Hypothesenbildung für die Fallgestaltungen, in denen der Akt der Beweisgewinnung als solcher zwar statthaft war, in denen also alle materiellen Voraussetzungen vorlagen, in denen den Strafverfolgungsorganen aber bei der Anordnung und/oder bei der Durchführung der Maßnahme Fehler unterlaufen sind. a) Verfahrensfehler beim Vollzug der Beweisgewinnung Das klassische Beispiel für Verfahrensfehler beim Vollzug der Beweisgewinnung ist der Verstoß gegen das Erfordernis, dass Blutproben durch eine approbierte Medizinalperson zu entnehmen sind (§ 81a Abs. 1 S. 2 StPO). Der 3. Strafsenat des BGH hat die Verwertbarkeit einer von einem nicht approbierten Medizinalassistenten entnommenen Blutprobe unter anderem darauf gestützt, dass diese „auch auf gesetzmäßigem Wege jeder-

22 BGHSt 25, 168 (171); zust. Jäger (Fn. 12), S. 230; vgl. auch Pelz (Fn. 8), S. 62; Schröder (Fn. 10), S. 85 f. 23 Vgl. hierzu Jahn/Dallmeyer NStZ 2005, 297 (301 f.).

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zeit hätte gewonnen werden können“.24 Auf diese Entscheidung hat sich das Oberlandesgericht Celle in einem Fall bezogen, in dem es um eine Blutprobe ging, die – zur Operationsvorbereitung – durch eine Krankenschwester entnommen worden war.25 b) Verfahrensfehler bei Anordnung der Beweisgewinnung Ein Verfahrensfehler bei der Anordnung einer Beweiserhebung kann zunächst einmal darin bestehen, dass es an einer Anordnung durch das eigentlich zuständige Organ überhaupt fehlt. So hat der 4. Strafsenat in BGHSt 31, 304 die Verwertbarkeit eines von den Strafverfolgungsbehörden auf Tonträger aufgenommenen Telefongesprächs zwischen einem V-Mann und einem Tatverdächtigen unter anderem deshalb abgelehnt, weil es ohne die nach §§ 100a, 100b StPO erforderliche richterliche oder staatsanwaltschaftliche Anordnung aufgezeichnet worden war: „Dies würde auch dann gelten, wenn (…) ein Richter, wenn er mit der Sache befasst worden wäre, einen Überwachungs- und Aufnahmebeschluss erlassen hätte. Für eine Betrachtung unter dem Gesichtspunkt eines hypothetischen Ersatzeingriffs … [ist] in Anbetracht der eindeutigen Gesetzeslage kein Raum“.26 Die in dieser Entscheidung zum Ausdruck kommende hypothesenkritische Haltung ist allerdings vereinzelt geblieben. So hat z.B. der 1. Strafsenat in einem Fall, in denen die Strafverfolgungsorgane zu Unrecht von einer ihnen zustehenden sekundären Anordnungskompetenz Gebrauch gemacht haben, die Verwertbarkeit der aufgefundenen Beweismittel massgebend darauf gestützt, dass eine richterliche Durchsuchungsanordnung hypothetisch ergangen wäre, weil eine entsprechende Verdachtslage zum Zeitpunkt der Durchsuchung vorgelegen habe; daher standen „dem Erlass der richterlichen Durchsuchungsanordnung […] keine rechtlichen Hindernisse entgegen, und die sichergestellten Gegenstände waren somit der Verwertung als Beweismittel rechtlich zugänglich“.27 Keine Berücksichtigung findet die hypothetische Möglichkeit, eine richterliche Anordnung zu erlangen, in der Praxis ledig-

24 BGHSt 24, 125 (130); vgl. auch OLG Celle NStZ 1989, 385 (386) mit Anm. Mayer JZ 1989, 908 und abl. Anm. Wohlers NStZ 1990, 245 (246); OLG Zweibrücken NJW 1994, 810 (811); Jahn/Dallmeyer NStZ 2005, 297 f.; Pelz (Fn. 8), S. 60; Schröder (Fn. 10), S. 85. 25 OLG Celle NStZ 1989, 385 (386) m. Anm. Mayer und abl. Anm. Wohlers NStZ 1990, 245; vgl. auch Weiler MDR 1994, 1163 (1165 f.). 26 BGHSt 31, 304 (306); bestätigt durch BGHSt 32, 68 (70); vgl. Beulke ZStW 103 (1991), 657 (662); Schröder (Fn. 10), S. 84 f.; im Ergebnis zust. Roxin NStZ 1989, 376 (379); relativierend Jähnke, FS Odersky (1996), S. 428 ff. 27 BGH NStZ 2004, 449 (450).

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lich dann, wenn die Einschaltung des zuständigen Richters bewusst umgangen oder die Annahme von Gefahr im Verzug willkürlich bejaht worden ist.28 Der Verfahrensfehler kann aber auch darin bestehen, dass eine richterliche Anordnung zwar eingeholt wurde, diese aber abgelaufen oder verbraucht und deshalb nicht mehr wirksam war, als der Akt der Beweisgewinnung erfolgt ist. Der 2. Strafsenat hatte im Fall Weimar zu entscheiden, ob Gegenstände im Strafverfahren als Beweismittel verwertet werden können, die im Rahmen einer Durchsuchung beschlagnahmt worden waren, die durchgeführt wurde, nachdem die – auf eine richterliche Anordnung gestützte – erste Durchsuchung bereits abgeschlossen war. Der Senat kam zu dem Ergebnis, dass auch dann, wenn man annehmen wollte, dass für die erneute Durchsuchung eine erneute Anordnung notwendig gewesen wäre, das Fehlen dieser Anordnung jedenfalls dann kein Verwertungsverbot für die beschlagnahmten Gegenstände zur Folge hat, „wenn dem Erlass der Durchsuchungsanordnung rechtliche Hindernisse nicht entgegengestanden hätten und die tatsächlich sichergestellten Gegenstände als solche der Verwertung als Beweismittel rechtlich zugänglich waren. Zumindest unter diesen Voraussetzungen ließe es sich nicht rechtfertigen, an den formalen Mangel des fehlenden Durchsuchungsbeschlusses die materielle Folge eines die Gegenstände selbst erfassenden Verwertungsverbotes zu knüpfen.“29 In BGHSt 44, 243 ging es um die Befristung bei Abhörmassnahmen und Frage des Verwertungsverbots bei Fristüberschreitung. Der 3. Senat hat die Verwertbarkeit von Beweismitteln bejaht, die bei einer Abhörmassnahme gewonnen wurden, für welche infolge fehlerhafter Berechnung der Dreimonatsfrist des § 100d Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 100b Abs. 2 S. 3 und 4 StPO formell keine wirksame richterliche Anordnung bestand. Dabei misst das Gericht unter anderem dem Umstand Gewicht zu, dass die materiellen Eingriffsvoraussetzungen jederzeit zweifelsfrei erfüllt waren.30

28 Vgl. BGH NStZ 1985, 262; 2004, 449 (450); NStZ-RR 2007, 242 (243); StV 2007, 337 (338 f.); OLG Hamm NStZ 2007, 355 (356 f.); OLG Koblenz StV 2002, 533 (534 f.); LG Heilbronn StV 2005, 380 (382); LG Saarbrücken StV 2003, 434 (436); AG Offenbach StV 1991, 153 (154); LG Bonn NJW 1981, 292 ff.; LG Darmstadt StV 1993, 573 (574); AG Kiel StV 2002, 536 (538); AG Tiergarten StV 2003, 663 (664); vgl. auch LG Bad Kreuznach StV 1993, 629 (635); abl. hierzu SK-StPO/Wohlers, 56. Lfg. (2008), § 105 Rn. 79 m.w.N. 29 BGH NStZ 1989, 375 (376) m. abl. Anm. Fezer StV 1989, 290 und im Ergebnis zust. Anm. Roxin NStZ 1989, 376 (378 f.); Meurer JR 1990, 389; abl. auch Beulke ZStW 103 (1991), 657 (673 ff.); Jäger (Fn. 12), S. 234 f.; Schröder (Fn. 10), S. 141 ff. 30 BGHSt 44, 243 (250) m. abl. Anm. Asbrock StV 1999, 187 (189); Fezer JZ 1999, 526; Starkgraff NStZ 1999, 470; Wolter JR 1999, 521 (525).

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Weiterhin hatte der BGH mit Fällen zu tun, in denen zwar eine richterliche Anordnung vorlag, diese aber fehlerhaft begründet war. In BGHSt 48, 240 hat der 5. Senat die Verwertung der Ergebnisse aus einer Telefonüberwachung bejaht, deren Anordnung auf den Verdacht der Geldwäsche gestützt war, obwohl eine Verurteilung wegen Geldwäsche nicht zu erwarten und die der Geldwäsche zugrunde liegende Tat keine Katalogtat im Sinne des § 100a StPO war. Die Verwertbarkeit der nach Auffassung des Senats somit rechtswidrig erlangten Erkenntnisse wurde damit begründet, dass der rechtliche Bewertungsfehler des Ermittlungsrichters „heilbar“ war, weil „die Anordnung der Telefonüberwachung auf eine andere Katalogtat hätte gestützt werden können… Dabei ist auf der Grundlage der Verdachtssituation zum Zeitpunkt des Erlasses der Anordnungen über die Telefonüberwachungsmassnahmen zu entscheiden, weil spätere Erkenntnisse eine ursprünglich rechtswidrige Anordnung nicht mehr im Nachhinein zu legitimieren vermögen.“31 Ein vergleichbarer Fall ist der, dass zwar eine Anordnung durch das zuständige Organ vorliegt, diese aber deshalb mangelhaft ist, weil in dem verwendeten Formular das falsche Kästchen angekreuzt wurde.32 Dem 4. Strafsenat diente die Hypothesenbildung zur Legitimation der Verwertbarkeit von Beweismitteln gegenüber Tatbeteiligten, gegen die sich die Maßnahme gar nicht gerichtet hatte: „Ist die Maßnahme gegen einen Beschuldigten rechtmäßig, so führt dies zur Verwertbarkeit der in unmittelbarem Zusammenhang gewonnenen Erkenntnisse über einen weiteren Beschuldigten jedenfalls dann, wenn – unter dem Gesichtspunkt eines ‚hypothetischen Ersatzeingriffs’ – auch gegen den anderen die Voraussetzungen für eine richterliche Zustimmung nach § 110b Abs. 2 S. 1 Nr. 1 vorlagen“.33 Im Ergebnis läuft die vorstehend analysierte Rechtsprechung darauf hinaus, dass es nicht darauf ankommt, dass eine ordnungsgemäß begründete Anordnung durch das zuständige Organ vorgelegen hat, sondern dass eine solche hätte ergehen können. Dass sich diese Einschätzung der richterlichen Anordnung als bloße Formalie mit der immer wieder betonten besonderen Bedeutung des Richtervorbehalts in Einklang bringen lässt, dessen Sinn und Zweck ja gerade darin bestehen soll, die Unzulänglichkeiten eines nur nach-

BGHSt 48, 240 (249) m. abl. Anm. Arloth NStZ 2003, 609; Bernsmann/Sotelsek StV 2004, 113; krit. auch Franke GA 2003, 888 (890 ff.); Roßmüller/Scheinfeld wistra 2004, 52 (53 ff.); Kudlich JR 2003, 453 (457); Jahn/Dallmeyer NStZ 2005, 297 (300). 32 Vgl. hierzu den Fall BGHSt 42, 103 m. krit. Anm. Bernsmann NStZ 1997, 250. 33 BGH NStZ 1997, 294 (295); relativierend, aber ohne Bezugnahme auf Hypothesenbildungen, BGH NStZ-RR 1999, 340. 31

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träglichen Rechtsschutzes möglichst weitgehend auszugleichen,34 ist nicht ersichtlich.

II. Zur Zulässigkeit der Hypothesenbildung nach rechtswidriger Beweisgewinnung 1. Zur Notwendigkeit einer die Verwertung legitimierenden Rechtsgrundlage Nicht nur die Beweiserhebung, sondern auch die Beweisverwertung bedarf als staatlicher Eingriffsakt einer gesetzlichen Legitimation.35 Unter welchen Voraussetzungen Beweise erhoben werden dürfen, legt das Strafprozessrecht im Einzelnen fest. Wird ein Beweismittel auf prozessordnungsgemäßem Wege gewonnen, impliziert die Befugnis zur Erhebung dieses Beweises auch die Befugnis, dieses Beweismittel für die Zwecke der Wahrheitsfindung zu verwerten (§§ 244 Abs. 2, 261 StPO).36 Die Unverwertbarkeit kann sich dann allein aus selbständigen (einfachgesetzlichen oder verfassungsrechtlich begründeten) Verwertungsverboten ergeben. Ist ein Beweismittel dagegen prozessordnungswidrig gewonnen worden, kann die Verwertung auf diese Weise nicht legitimiert werden.37 Soll die Hypothesenbildung die Verwertbarkeit eines derartigen Beweisgegenstandes legitimieren, bedarf es einer Rechtsgrundlage, aus der sich ergibt, dass diese Hypothesenbildung überhaupt zulässig ist.38 Keine Begründung, sondern eine schlichte Behauptung ist es, wenn Grünwald darauf verweist, dass es sich bei der Berücksichtigung der Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung um einen „allgemeinen Grundsatz der Beweisverbotsleh-

Vgl. hierzu BVerfGE 20, 162 (223); 103, 142 (151) m. Anm. Gusy JZ 1998, 1033 f. und Bespr. Amelung NStZ 2001, 337 (338); BVerfG StV 1990, 483; 1992, 49; 1994, 353; 1999, 519; 2002, 345; 2003, 203 (204); 2003, 205 (206); 2005, 643 f.; 2006, 624; NStZ-RR 2004, 206 (207); 2005, 203 (204); NJW 2003, 2669; SK-StPO/Wohlers (Fn. 28), § 105 Rn. 16 m.w.N. 35 Jahn/Dallmeyer NStZ 2005, 297 (303). 36 Fezer (Fn. 3), S. 2; vgl. aber auch Störmer, Dogmatische Grundlage der Verwertungsverbote (1992), S. 107: § 244 Abs. 2 StPO statuiere die Pflicht, die Beweiserhebung auf alle präsenten Beweismittel zu erstrecken, unabhängig davon, ob diese rechtswidrig oder rechtmäßig gewonnen worden sind. 37 Kelnhofer (Fn. 12), S. 144; Pelz (Fn. 8), S. 94; im Ergebnis auch Strate, in: DAV (Hrsg.), Wahrheitsfindung und ihre Schranken (1989), S. 20; vgl. auch Jahn/Dallmeyer NStZ 2005, 297 (303): Erst die Einhaltung der gesetzlichen Form lässt den Beweisgegenstand zum Beweismittel werden. 38 Strate (Fn. 37), S. 19 f.; ders. JZ 1989, 176 (178); vgl. auch Amelung, FS Bemman (1997), S. 523. 34

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re“ handeln soll.39 Ebenso wenig kann es überzeugen, wenn die Vertreter der Abwägungslehre die Berücksichtigung hypothetischer Ermittlungsverläufe als zwingend ansehen, weil im Rahmen der Gesamtbetrachtung der Fehlerfolgen und ihrer Bedeutung für die geschützten Interessen keine Elemente ausgeblendet werden dürfen, die die Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit dieser Interessen bestimmen und deren genauere Bewertung ermöglichen.40 Der schlichte Verweis auf die umfassende Gesamtabwägung aller irgendwie relevanten Interessen ändert nichts daran, dass zunächst einmal zu begründen ist, dass es sich bei der Hypothesenbildung um einen Topos handelt, der legitimerweise zu berücksichtigen ist. Die Erwägung, dass dann, wenn das Beweisergebnis ohnehin dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden offen gestanden habe, der Verfahrensverstoß ins Leere gehe, weil er die Rechte des Beschuldigten nicht in feststellbarer Weise beeinträchtigt habe,41 wird der Funktion nicht gerecht, die der schützenden Förmlichkeit des Strafprozessrecht zukommt. Angesichts dessen, dass die weitaus überwiegende Zahl der Vorschriften der StPO zumindest mittelbar auch beweisrelevant sind, muss davon ausgegangen werden, dass ein prozessordnungswidrig gewonnener Beweisgegenstand grundsätzlich unverwertbar ist.42 2. Zur mangelnden Aussagekraft gesetzessystematischer Erwägungen Einzelnen Normen der Strafprozessordnung kann entnommen werden, dass hypothetische Erwägungen dem Strafprozessrecht nicht grundsätzlich fremd sind. Ob aber aus der Existenz dieser Regelungen im Wege eines Erst-recht-Schlusses auf die allgemeine Zulässigkeit der Hypothesenbildung geschlossen werden kann oder aber – im Wege des Umkehrschlusses –

39 Grünwald JZ 1966, 489 (496); krit. hierzu Eb. Schmidt MDR 1970, 461 (463) und abl. Kelnhofer (Fn. 12), S. 88 f., 105. 40 Pelz (Fn. 8), S. 91; Rogall NStZ 1988, 385 (392); vgl. auch Kelnhofer (Fn. 12), S. 73 ff., 129; Eisenberg (Fn. 12), Rn. 409 41 KMR/Paulus, 30. Lfg. (2001), § 244 Rn. 517; SK-StPO/Wolter, 15. Lfg. (1996), Vor § 151 Rn. 202; Kelnhofer (Fn. 12), S. 139; Rogall NStZ 1988, 385 (389); Wolter NStZ 1984, 276 (277); vgl. auch Reinecke, Die Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten (1990), S. 206 f.; Störmer (Fn. 36), S. 242 f. 42 So auch bereits Strate (Fn. 37), S. 20; Strate JZ 1989, 176 (179); vgl. auch Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß (1990), S. 54; Kelnhofer (Fn. 12), S. 144; Pelz (Fn. 8), S. 96, 143 f.; Schöneborn GA 1975, 33 (34 f.).

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davon auszugehen ist, dass hypothetische Erwägungen ausschließlich in den gesetzlich vorgesehenen Fällen zulässig sind, bleibt zweifelhaft. Von den Gegner der Hypothesenbildung ist verschiedentlich auf die Regelung des § 69 Abs. 3 verwiesen worden, der in Verbindung mit § 136a Abs. 3 Satz 2 die Unverwertbarkeit der unter Anwendung von verbotenen Vernehmungsmethoden erlangten Zeugenaussagen ausdrücklich anordnet, obwohl in der Regel die Möglichkeit legaler Erlangung des Beweisergebnisses mittels legaler Zwangsanwendung nach § 70 bestanden habe.43 Tatsächlich wird man aber aus der Erkenntnis, dass in den durch §§ 136a Abs. 3, 69 Abs. 2 erfassten Fällen hypothetische Überlegungen tatsächlich ausgeschlossen sind, nicht ohne weiteres auf die Unzulässigkeit der Hypothesenbildung im Allgemeinen schließen können.44 Andererseits gilt aber auch, dass die in der StPO kodifizierten Regelungen zur Behandlung von Zufallsfunden zwar ein Indiz dafür sein können, dass hypothetische Erwägungen einen Platz im strafprozessualen System haben.45 Sie lassen aber andererseits nicht ohne weiteres den Schluss zu, dass hypothetische Erwägungen auch im Rahmen der unselbständigen Beweisverwertungsverbote zulässig sind.46 Die Unmöglichkeit, aus den Regelungen einzelner Teilbereiche auf einen allgemeinen Grundsatz zu schließen, lässt sich am deutlichsten am Revisionsrecht belegen. Teilweise wird die These vertreten, dem Revisionsrecht liege das Prinzip zugrunde, dass Verfahrensfehler nicht durch eine Gedankenoperation, sondern allein durch eine reale Wiederholung beseitigt werden können.47 Die Hypothesenbildung sei als subsidiäre Ausformung des Wiederholungsprinzips nur dann beachtlich, wenn sich eine reale Wiederholung als nicht sinnvoll erweise, weil sie undurchführbar ist, weil der neue Eingriff unverhältnismäßig wäre oder weil er eine leere Formalität darstellen würde.48 Hierzu ist zunächst einmal anzumerken, dass die Zulässigkeit einer Hypothesenbildung für die Fälle, in denen die in Frage stehenden Beweismittel zur Zeit der gedachten Wiederholungshandlung nicht mehr

Dalakouras, Beweisverbote bezüglich der Achtung der Intimsphäre (1988), S. 135 f.; Dencker (Fn. 12), S. 81 f.; so zunächst auch Rogall ZStW 91 (1979), 1 (33 f.); anders aber dann Rogall NStZ 1988, 385 (391). 44 Kelnhofer (Fn. 12), S. 91; Rogall NStZ 1988, 375 (391); Schröder (Fn. 10), S. 91 f.; Wolter NStZ 1988, 276 (277, Fn. 26). 45 Beulke ZStW 103 (1991), 657 (663); Kelnhofer (Fn. 12), S. 142; Pelz (Fn. 8), S. 74; Rogall NStZ 1988, 385 (391); Schröder (Fn. 10), S. 97; vgl. auch Welp (Fn. 8), S. 220 ff. 46 Kelnhofer (Fn. 12), S. 89 f. 47 Haffke GA 1973, 65 (81 f.); vgl. auch Dencker (Fn. 12), S. 81 f. 48 Dencker (Fn. 12), S. 83 ff. 43

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real rekonstruiert werden können, ein Zugeständnis darstellt, dass die Stringenz des gesamten Ansatzes in Frage stellt.49 Abgesehen hiervon ist dem Revisionsrecht eine Hypothesenbildung aber gerade nicht fremd. Die für die relativen Revisionsgründe zentrale Vorschrift des § 337 StPO beinhaltet mit dem Erfordernis des „Beruhens“ eine hypothetische Komponente:50 Die Relevanz des real geschehenen Verfahrensfehlers wird verneint, wenn auch bei hypothetisch gesetzmäßigem Prozessieren das Urteil so ausgefallen wäre, wie es ausgefallen ist.51 Andererseits zeigt § 338 StPO, nach dem bei Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes eine Entscheidung stets aufzuheben ist, auch wenn das Urteil typischerweise oder im konkreten Fall nicht auf dem Verfahrensfehler beruhen kann, dass die Hypothesenbildung im Revisionsrecht auch nicht umfassend zulässig ist.52 3. Zum normativen Charakter der Hypothesenbildung In der älteren Literatur ist die Auffassung vertreten worden, die Hypothese rechtmäßiger Beweisbeschaffung lasse die Kausalität des Rechtsverstoßes für die Erlangung des Beweismittels entfallen,53 die Erlangung des konkreten Beweismittels beruhe nicht mehr auf der geschehenen Verletzung, wenn diese „durch die Möglichkeit eines zulässigen Eingriffs gewissermaßen überholt“ werde.54 Dieser Ansatz wird heute zu recht allgemein abgelehnt. Dass das in Frage stehende Beweismittel auch auf anderem Wege hätte erlangt werden können, ändert nichts daran, dass es tatsächlich auf prozessordnungswidrigem Wege erlangt worden ist.55 Die Erwägung, dass die Strafverfolgungsbehörden den Beweisgegenstand hypothetisch betrachtet auch auf anderem Wege hätten erlangen können, gehört einer anderen – normativen – Ebene an.56 In Anlehnung an die aus der materiellrechtlichen

Vgl. Kelnhofer (Fn. 12), S. 98. Kelnhofer (Fn. 12), S. 142; Rogall NStZ 1988, 385 (391); Schröder (Fn. 10), S. 95. 51 Herdegen NStZ 1990, 513 (516); Kelnhofer (Fn. 12), S. 142; Pelz (Fn. 8), S. 73, 75. 52 Beulke ZStW 103 (1991), 657 (663); Kelnhofer (Fn. 12), S. 142; Pelz (Fn. 8), S. 73, 75 f.; Rogall NStZ 1988, 385 (391); Schröder (Fn. 10), S. 96. 53 OLG Köln NJW 1979, 1216 (1217); Klug (Fn. 12), F 39, F 46 f.; vgl. auch – aus revisonsrechtlicher Sicht – Schöneborn GA 1975, 33 (38). 54 Welp (Fn. 8), S. 216; ders. JuS 1971, 239 (243). 55 Dencker (Fn. 12), S. 81; Fezer JZ 1987, 937 (939); Haffke GA 1973, 65 (80 ff.); Jäger (Fn. 12), S. 231; Reinecke (Fn. 41), S. 205; Rogall NStZ 1988, 385 (390); ders. ZStW 91 (1979), 1 (33); Reichert-Hammer Jus 1989, 446 (450); Schellhammer NJW 1972, 319 (320); Schlüchter JR 1984, 517 (519); Eb. Schmidt MDR 1970, 461 (463). 56 Beulke ZStW 103 (1991), 657 (660); Grünwald (Fn. 12), S. 161; Herdegen (Fn. 12), S. 120 f.; Kelnhofer (Fn. 12), S. 100; Pelz (Fn. 8), S. 75; Reichert-Hammer JuS 1989, 446 49 50

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Zurechnungslehre bekannten Figur des rechtmäßigen Alternativverhaltens wird heute die Auffassung vertreten, die Hypothese rechtmässigen Alternativverhaltens hebe die normative Verknüpfung zwischen dem tatsächlich geschehenen Verfahrensfehler und dem Beweisergebnis auf und führe so zur Verwertbarkeit des Beweismittels.57 Der richtige Kern dieses Ansatzes liegt darin, dass die Überlegungen zur Berücksichtigung hypothetischer Ermittlungsverläufe auf eine normative Ebene gehoben und von Fragen der tatsächlichen Kausalität gelöst werden.58 Andererseits bestehen aber zwischen dem materiellen Strafrecht und dem Strafprozessrecht doch so gravierende funktionale Unterschiede, dass die im materiellen Strafrecht entwickelten Gesichtspunkte nicht einfach auf das Strafprozessrecht übertragen werden können.59 Der Blick auf die materielle Zurechnungslehre ist mithin zwar geeignet, den Blick dafür zu schärfen, dass es um eine Problematik geht, die eine Wertung erforderlich macht. Anhand welcher Kriterien diese Wertung vorzunehmen ist, kann aber nicht aus der materiellrechtlichen Zurechnungslehre abgeleitet werden. In der älteren Literatur ist die Zulässigkeit der Hypothesenbildung teilweise von der Klassifizierung der verletzten Verfahrensnorm abhängig gemacht worden. Die Verlaufshypothese wurde bei bloßen „Beweisregelungen“ gebilligt, die als Ordnungsvorschriften die Beweisführung lediglich näher ordnen sollen.60 „Hätten die Strafverfolgungsbehörden das vorschriftswidrig erlangte Beweismittel oder -ergebnis – wenn man von technischen oder anderen Schwierigkeiten absieht – auch legal gewinnen können, so gehört die verletzte Beweisverfahrensvorschrift zur Gruppe der bloßen Formvorschriften.“61 Dieser Ansatz beruht allerdings auf einem Zirkelschluss, denn die Antwort auf die Frage, ob ein Verstoß gegen eine

(450); Reinecke (Fn. 41), S. 205; Schlüchter, FS Krause (1990), S. 488; Schröder (Fn. 10), S. 77, 86 f. 57 Grundlegend hierzu Schlüchter JR 1984, 517 (519 f.); vgl. auch Schlüchter, FS Krause (1990), S. 490 ff.; Herdegen (Fn. 12), S. 118 ff.; Reichert-Hammer JuS 1989, 446 (450); Wolter NStZ 1984, 276 (277); vgl. auch Pelz (Fn. 8), S. 105, mit dem Hinweis darauf, dass im Zivilrecht die Haftung des Schädigers grundsätzlich dann entfällt, wenn der Schaden auch bei rechtmässigem Verhalten eingetreten wäre, da der Schaden in diesen Fällen vom Schutzzweck der Haftungsnorm nicht erfasst sei. 58 Fezer JR 1991, 85 (87); Reinecke (Fn. 41), S. 206; Rogall NStZ 1988, 385 (388); vgl. auch Schöneborn GA 1975, 33 (40 f.). 59 Vgl. Pelz (Fn. 8), S. 105 ff.; Schröder (Fn. 10), S. 98 f. 60 Jescheck, Beweisverbote im Strafprozeß, Rechtsvergleichendes Generalgutachten zum 46. DJT, Bd. I (1966), S. 2; Peters, Beweisverbote im Strafprozeß, Gutachten für den 46. DJT, Bd. I (1966), S. 100; Kleinknecht NJW 1966, 1537 (1538). 61 Kleinknecht NJW 1966, 1537 (1538); ebenso Tiedemann, FS Bockelmann (1979), S. 827.

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Verfahrensvorschrift bei der Beweisgewinnung zu einem Verwertungsverbot führt, wird als schon bekannt vorausgesetzt.62 Oder anders ausgedrückt: Wenn eine Verlaufshypothese bei bloßen Form- und Ordnungsvorschriften zulässig sein soll, wobei sich jene von den übrigen Beweisverboten dadurch unterscheiden, dass eine Hypothese gelingt, dann ist die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung dort zulässig, wo sie gelingt.63 Auch wenn der Ansatz, in der Nichtbeachtung prozessualer Formen einen nur formalen Mangel zu sehen, die komplexen Funktionen des Strafprozessrechts unzulässig verkürzt,64 liegt der zutreffende Kern doch darin, dass man die (Un-)Beachtlichkeit hypothetischer Ermittlungsverläufe davon abhängig macht, ob dies mit dem Sinn und Zweck der in Frage stehenden Verfahrensnormen zu vereinbaren ist oder nicht.65 Die Zulässigkeit der Berücksichtigung hypothetischer Ermittlungsverläufe hängt davon ab, zu welcher Kategorie von Prozessrechtsnormen die missachtete Verfahrensnorm gehört. 4. Hypothesenbildung: unzulässig oder überflüssig Die vorrangige Funktion des Strafprozessrechts besteht darin, zu bestimmen, welche Beweismittel in den Akt der Erkenntnisgewinnung einbezogen werden dürfen und auf welchem Wege dies zu geschehen hat. Werden im Rahmen der Beweiserhebung Normen missachtet, die bestimmen, unter welchen Voraussetzungen die Strafverfolgungsorgane beweisrelevante Erkenntnisse gewinnen dürfen, müssen hypothetische Erwägungen von vornherein ausscheiden. Würde man hypothetische Ermittlungsverläufe zulassen, obwohl im Rahmen der Beweiserhebung Normen missachtet worden sind, die das „Ob“ und das „Wie“ der Beweisgewinnung regeln, hätte dies zur Konsequenz, dass die entsprechenden Normen ihre Verbindlichkeit verlieren würden: die Strafverfolgungsorgane könnten sich an diese Normen halten, sie müssten es aber nicht zwingend tun, es wäre ja ausreichend, dass es möglich gewesen wäre, prozessordnungsgemäß vorzugehen. Im Ergebnis würde sich dann der Anspruch auf ein faires Verfahren in einen Anspruch auf ein hypothetisch faires Verfahren verwandeln.66 Verwertbar sind derart

Rogall NStZ 1988, 385 (390); Pelz (Fn. 8), S. 79. Kelnhofer (Fn. 12), S. 83. 64 Kritisch auch Fezer StV 1989, 290 (294 f.); Pelz (Fn. 8), S. 78; Schröder (Fn. 10), S. 102. 65 Für das Abstellen auf den Schutzzweck der Norm auch bereits Beulke ZStW 103 (1991), 657 (664 f.); Schröder (Fn. 10), S. 51 ff., 78 ff. 66 Vgl. Weiler MDR 1994, 1163 (1166): „Wissen die Strafverfolgungsbeamten, daß selbst dann keine prozessuale Sanktion droht, wenn der Normzweck der mißachteten Prozeßnorm 62 63

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gewonnene Erkenntnisse nur dann, wenn der Akt der Beweisgewinnung prozessordnungsgemäß wiederholt wird.67 Konkret bedeutet dies, dass es auf die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung dann nicht ankommt, wenn die Beweisgewinnung prozessordnungswidrig war, weil es an den materiellen Anordnungsvoraussetzungen gefehlt hat: Dass es eine andere Norm gegeben hätte, auf deren Grundlage das Beweismittel prozessordnungsgemäß hätte gewonnen werden können, reicht nicht aus, um die Verwertung eines tatsächlich prozessordnungswidrig gewonnenen Beweisgegenstands zu legitimieren. Ist eine Blutprobe beschlagnahmt worden, obwohl sie einem Beschlagnahmeverbot unterliegt, ist es irrelevant, dass es theoretisch möglich gewesen wäre, die Entnahme einer Blutprobe anzuordnen. Der Umstand, dass gerade in diesen Fällen die reale Wiederholung der Beweiserhebung nicht möglich ist, ändert an diesem Ergebnis nichts. Der Wahrheitsfindung ist zu teuer erkauft, wenn der Preis darin besteht, die Förmlichkeit des Verfahrens zu verabschieden. Gleiches gilt aber auch für die Fälle, in denen es an einer den prozessualen Anforderungen genügenden Anordnung fehlt. Die Rechtsprechung, die – wie oben dargelegt – letztlich darauf hinausläuft, dass es nur darauf ankommt, dass eine ordnungsgemäß begründete Anordnung durch das zuständige Organ hätte ergehen können, lässt den Richtervorbehalt leer laufen. Wenn dessen Funktion darin bestehen soll, die Unzulänglichkeiten eines nur nachträglichen Rechtsschutzes mittels einer vorbeugenden Kontrolle möglichst weitgehend auszugleichen68 und es seine Pflicht ist, für eine angemessene Begrenzung der Zwangsmaßnahme Sorge zu tragen69 und „durch eine geeignete Formulierung des Durchsuchungsbeschlusses im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren sicherzustellen, dass der Eingriff in die Grundrechte messbar und kontrollierbar bleibt, kurz, dass die Ermächtigung

dies an sich gebietet, so werden sie faktisch von den Förmlichkeiten des Strafverfahrens befreit.“ 67 Auf die tatsächliche Wiederholung kann allenfalls dann verzichtet werden, wenn es sich hierbei allein um eine leere Förmlichkeit handeln würde. Dies ist allerdings nur dann der Fall, wenn eine reale Wiederholung überhaupt möglich und gewährleistet ist, dass auch im Falle der Wiederholung ein abweichendes Beweisergebnis ausgeschlossen ist. 68 BVerfGE 20, 162 (223); 103, 142 (151) m. Anm. Gusy JZ 1998, 1033 f. und Bespr. Amelung NStZ 2001, 337 (338); BVerfG StV 2002, 345; 2003, 203 (204); 2003, 205 (206); 2005, 643; 2006, 624; NStZ-RR 2004, 206 (207); 2005, 203 (204); NJW 2003, 2669. 69 BVerfGE 20, 162 (224); 42, 212 (220); 96, 44 (51/52); 103, 142 (151 f.); BVerfG StV 1999, 519 m. Anm. Neander; 2002, 345 (346) m. Anm. Wehnert/Mosiek; 2002, 406 (407); NStZ 2000, 601 m. Anm. Park; NJW 1994, 3281 (3282); BGH CR 1996, 488 (490).

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rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügt“,70 dann muss diese Kontrolle, wenn sie wirksam werden soll, vor dem Eingriff stattfinden. Hieraus folgt, dass die ohne Anordnung durch das zuständige Organ erfolgte Beweisgewinnung als ein Akt schwerwiegend rechtsstaatswidriger Beweisgewinnung einzustufen ist, der ein striktes, durch hypothetische Erwägungen in keiner Weise aufgeweichtes Verwertungsverbot zur Folge haben muss.71 Und dies gilt nicht nur für die Fälle, in denen es an einer Anordnung durch das zuständige Organ gänzlich fehlt, sondern auch für die Fälle, in denen eine Anordnung zwar faktisch vorliegt, diese aber ihrer Kontroll- und/oder Begrenzungsfunktion nicht gerecht wird. Es kann nicht darauf ankommen, dass der Ermittlungsrichter irgendeine Anordnung getroffen hat; erforderlich ist eine Anordnung, aus der sich ergibt, dass er seine Funktion wahrgenommen hat. Wenn eine Anordnung auf eine unzutreffende Rechtsgrundlage gestützt und/oder beim Ausfüllen eines Formulars das „falsche Kästchen“ angekreuzt wird, wird man dies nicht annehmen können. Nicht von vornherein ausgeschlossen ist die Berücksichtigung der Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung nur in den eher seltenen Fällen, in denen im Rahmen der Beweiserhebung Vorschriften nicht beachtet worden sind, deren Funktion allein darin besteht, Interessen zu schützen, die mit der Gewinnung der Tatsachengrundlage nicht zu tun haben, wie z.B. der Schutz der körperlichen Integrität oder des Schamgefühls der zu untersuchenden Person in §§ 81a Abs. 1 S. 2, 81d Abs. 1. Soweit es um Normen geht, die nicht einmal mittelbar beweisrelevante Interessen schützen, wird man die Verwertung auf die Beweiserhebungsnorm i.V.m. §§ 244 Abs. 2, 261 stützen können. Es kann nicht dem Sinn und Zweck einer Norm entsprechen, die Verwertung auszuschließen, wenn bei der Beweisgewinnung allein eine Regelung missachtet wurde, die für sich gesehen gar nicht darauf abzielt, die Beweiserhebung zu beschränken. Letztlich dürfte dies genau die Erwä-

70 BVerfGE 42, 212 (220); vgl. auch BVerfGE 103, 142 (151) m. Anm. Gusy JZ 2001, 1033 (1034); BVerfG StV 1990, 483; 1992, 49; 1994, 353; 1999, 519; 2003, 203 (204); 2005, 643 (644); NStZ 2000, 601 m. Anm. Park; NStZ-RR 2004, 206 (207); 2005, 203 (204); NJW 2003, 2669; BbgVerfG NStZ-RR 1998, 366. 71 SK-StPO/Wohlers (Fn. 28), § 105 Rn. 75; so auch bereits zutreffend Fezer StV 1989, 290 (295) sowie Beulke ZStW 103 (1991), 657 (671 ff.); Jahn/Dallmeyer NStZ 2005, 297 (303 f.); Krekeler NStZ 1993, 263 (264); Nelles StV 1991, 488 (491 f.); Rogall NStZ 1988, 385 (391); Schlothauer StraFo 1998, 397 (402); Weiler, GS Meurer (2002), S. 418; vgl. auch BGHSt 31, 304 (306); einschränkend Ransiek StV 2002, 565 (570); grundsätzlich a.A. Amelung (Fn. 42), S. 40 f.; ders. NJW 1991, 2533 (2535 f.); ders., FS Bemman (1997), S. 508; vgl. aber auch – zur Beachtlichkeit des Handlungsunrechts – Amelung (Fn. 42), S. 41 f.; ders., FS Bemman, S. 508; zur Kritik am Ansatz Amelungs vgl. Kelnhofer (Fn. 12), S. 108 ff. m.w.N.; Roxin (Fn. 12), § 24 Rn. 22.

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gung sein, die hinter der ganz allgemein geteilten Auffassung steht, dass der Verstoß gegen § 81a Abs. 1 S. 2 kein Verwertungsverbot zur Folge hat. Im Ergebnis folgt hieraus: Die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung ist im Rahmen der sog. unselbständigen Verwertungsverbote entweder unzulässig oder aber überflüssig. Unzulässig ist sie dann, wenn – was der Regelfall sein wird – das Verwertungsverbot aus der Missachtung einer Norm resultiert, die zumindest auch beweisrelevant ist. Bei Normen (oder Normteilen), die keine Beweisrelevanz haben, ist die Hypothesenbildung zwar nicht von vornherein unzulässig, sie ist aber überflüssig, weil sie letztlich keinen Erkenntnisgewinn bringt. Entscheidend ist, ob die Missachtung der jeweils in Frage stehenden Norm ihrem Sinn und Zweck nach einer Verwertung entgegensteht. Welche Bedeutung in diesem Rahmen eine Hypothesenbildung haben soll, die letztlich auf nichts anderes hinausläuft, als zu prüfen, ob es einen legalen Weg der Beweisgewinnung gegeben hätte, ist nicht ersichtlich. Dass die Strafverfolgungsbehörden theoretisch/hypothetisch in der Lage sein sollten, sich an die Normen der StPO zu halten, dürfte außer Streit stehen.

IV. Revisionsrecht

Die erweiterte Revision in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes Rechtstatsächliche Befunde: 1970 und 2005 STEPHAN BARTON

I. Die Entdeckung der erweiterten Revision Vor über dreißig Jahren hat Gerhard Fezer seine bahnbrechende Publikation über die erweiterte Revision in Strafsachen vorgelegt.1 Zu diesem Zeitpunkt wurde im Bundesjustizministerium an einer Reform des Rechtsmittels gearbeitet. Man wollte die vom historischen Gesetzgeber als reine Rechtsbeschwerde konzipierte Revision, die von der Idee her nur eine Rechtskontrolle vorsah, gesetzlich erweitern und auch für Angriffe gegen tatsächliche Feststellungen des Tatrichters sowie gegen dessen Beweiswürdigung öffnen.2 Die Arbeit von Fezer hat dazu geführt, dass der Gesetzgeber sein Reformvorhaben ad acta legte.3 Was war passiert? Fezer hatte gezeigt, dass das, was das Ministerium gesetzgeberisch anstrebte, schon in der Rechtswirklichkeit praktiziert wurde. In seiner Analyse kritisierte er zunächst, dass die Erörterung der Sachrüge im Schrifttum unzureichend erfolgte. Zwar würde dort gesehen, dass die Revisionsgerichte aufgrund der Sachrüge nicht nur die Richtigkeit der materiellrechtlichen Subsumtion prüften, sondern auch Verstöße gegen die Denk- und Erfahrungssätze sowie widersprüchliche, unklare, unvollständige (lückenhafte)

Fezer, Die erweiterte Revision – Legitimierung der Rechtwirklichkeit? (1974). Vgl. dazu Fezer (Fn. 1), S. 1, 55. 3 Und erst 1999 wieder aufgriff; diesmal aufgrund einer Initiative der seinerzeitigen Justizministerin Däuber-Gmelin, die ein dreistufiges Gerichtssystem anstrebte. Aber auch hier wurde – unter Rückgriff auf die Untersuchungen von Fezer – das Reformvorhaben erneut gestoppt. Vgl. dazu Barton, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Justizreform 2000 – Kurzer Prozess mit neuen Mitteln? 24. Strafverteidigertag (2002), S. 214 ff.; vgl. hierzu ferner die empirische und rechtsvergleichende Studie von Becker/Kinzig, in: Becker/Kinzig (Hrsg.), Rechtsmittel im Strafrecht, Bd. II (2000), S. 200 ff. (210). 1 2

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Stephan Barton

Feststellungen für revisibel hielten. Aber der dahinter stehende revisionsrichterliche Erkenntnisprozess wäre, was Fezer kritisierte, von der Wissenschaft nicht hinreichend untersucht worden. Es fehlte eine umfassende Analyse der Revisionsrechtsprechung. Dieses rechtstatsächliche Unterfangen nahm Fezer vor. Er untersuchte die 1970 von vier Strafsenaten des BGH entschiedenen Revisionen, sofern diese mit Entscheidungsgründen versehen waren. Seine Betrachtung galt der erweiterten Revision, die er in vier Fallgruppen differenzierte, nämlich erstens Verstöße gegen Denk- und Erfahrungssätze, zweitens Unklarheiten und Widersprüche, drittens „lückenhafte Beweiswürdigung“ und viertens unvollständige Feststellungen. Ferner betrachtete er auch solche Entscheidungen, in denen die Beschwerdeführer vergeblich die tatrichterlichen Feststellungen bzw. die Beweiswürdigung angriffen. Fezer kam zu dem Ergebnis, dass die BGH-Senate der Sache nach eine Darstellungsrüge („Darstellungskontrolle“) entwickelt hätten, aufgrund derer sie die Geschlossenheit der tatrichterlichen Darlegungen prüften. Dies „ermöglicht es, dass der Revisionsrichter unabhängig vom gesetzlich vorgeschriebenen Darstellungsumfang die Urteilsgründe in ihrer konkreten Vollständigkeit oder Unvollständigkeit daraufhin untersucht, ob formelhafte Wendungen in konkrete tatsächliche Feststellungen hätten aufgelöst werden sollen, ob die Erörterung anderer Möglichkeiten als die vom Tatrichter angenommenen fehlt, ob einzelne Feststellungen oder Beweistatsachen fehlen etc.“4 Damit hätten sich die Senate, wie Fezer zeigte, faktisch den Zugriff auf die tatrichterlichen Feststellungen und auf die Beweiswürdigung eröffnet. Die dahinter stehenden Methoden würden aber weder von der Wissenschaft hinreichend zur Kenntnis genommen noch von den Revisionsgerichten selbst offen gelegt. Dies ermöglichte den Senaten, mit dem Begriff der Rechtsverletzung „ein doppeltes Spiel“5 zu treiben: Auf der einen Seite griffe der BGH unter Berufung auf eine angebliche Gesetzesverletzung dem Grund nach tatrichterliche Feststellungen an; auf der anderen Seite könnte er ohne weiteres ebensolche Angriffe von Revisionsführern als revisionsfremd und unzulässig zurückweisen. Fezer zeigte ferner, dass sich durch die Darstellungskontrolle Verfahrens- und Sachrügen aneinander angenähert und durchdrungen hätten. Die klassischen Verfahrensrügen der Verletzung

4 5

Fezer (Fn. 1), S. 51. Ibid., S. 52.

Die erweiterte Revision in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 335

des Beweisantragsrechts und der gerichtlichen Aufklärungspflicht hätten gegenüber der erweiterten Revision seltener Erfolg.6 Fezer führte dies zu der Konsequenz, der sich wie geschildert auch der Gesetzgeber nicht entziehen konnte, dass die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen schon auf der Basis der Urteilsdarstellung überprüft würde. Insofern schien also eine gesetzgeberische Erweiterung der Revision nicht möglich zu sein. Der Gesetzgeber könnte allenfalls das legitimieren, aber nicht besser handhabbar machen, was die Praxis schon selbst betriebe.7 Zwischen der Untersuchung von Fezer und heute liegen mehr als dreißig Jahre, in denen die deutsche Strafjustiz nicht nur diverse Änderungen des Verfahrensrechts, sondern auch die Wiedervereinigung bewältigt hat. In der Rechtspflege wirkt eine neue Generation von Juristen. Es fragt sich, was aus der erweiterten Revision geworden ist. Ist sie noch in gleicher Weise von Bedeutung wie vor 30 Jahren? Haben die Revisionsgerichte der erweiterten Revision feste Konturen verleihen können? Ist nunmehr überzeugend geklärt, in welchen Grenzen die tatrichterliche Beweiswürdigung revisibel ist? Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, hierauf rechtstatsächliche Antworten zu geben. Dazu erfolgt zunächst ein justizstatistischer Vergleich der Jahre 1970 und 2005 der Rechtsprechung der BGH-Strafsenate. Dem schließt sich eine empirische Betrachtung an, in der gefragt wird, ob die erweiterte Revision den Senaten Entscheidungsspielräume eröffnet und wie diese in der Praxis ausgefüllt werden.

II. Justizstatistische Daten im Vergleich In der Tabelle Nr. 1 wird die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen für die Jahre 1970, 1992 bis 1995 sowie für 2005 hinsichtlich ausgewählter Zahlen miteinander verglichen. Natürlich geht es dabei in erster Linie um die erweiterte Revision (in der untersten Zeile). Um deren Bedeutung aber besser einordnen zu können, werden zusätzliche Daten mitgeteilt. Welche Variablen dies sind und wie die Zahlen ermittelt wurden, bedarf der Erläuterung.

6 7

Ibid., S. 54. Ibid., S. 55.

336

Stephan Barton

1. Datenquellen und Vergleichbarkeit der Zahlenangaben Die in den beiden ersten Zeilen von Tabelle Nr. 1 mitgeteilten Zahlenangaben zu den im jeweiligen Jahr abgeschlossenen Verfahren sowie den Urteilen entstammen der offiziellen BGH-Statistik.8 Sie geben im Wesentlichen wieder, wie viele Entscheidungen der BGH in den jeweiligen Jahren traf und welche Entscheidungsformen (Beschluss oder Urteil) dabei im Vordergrund standen. Die weiteren Angaben stammen aus drei verschiedenen Quellen. Die Zahlen für 1970 resultieren aus der eingangs geschilderten Untersuchung von Fezer. Er hat die mit Gründen versehenen Entscheidungen des BGH ausgewertet; insgesamt waren das 702 Revisionsentscheidungen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass ihm nur die Entscheidungen von vier Senaten zur Verfügung standen; es fehlten die Revisionsverfahren, die vom 3. Strafsenat entschieden wurden. Wir erfahren ferner einige Zahlen über erfolgreiche Revisionen, nämlich dass 1970 mit der Aufklärungsrüge 13 Revisionen und 11 weitere wegen der Ablehnung eines Beweisantrags vor den vier untersuchten Senaten erfolgreich waren. Und Fezer teilt auch – ungeachtet gewisser Vorbehalte gegenüber einer rein quantitativen Betrachtung der erweiterten Revision9 – mit, dass in über 60 Entscheidungen die erweiterte Revision aufgrund der Fallgruppen der „lückenhaften Beweiswürdigung“ und der „unvollständigen Feststellungen“ erfolgreich war.10 Bei den Daten fehlen, wie geschildert, Angaben für den 3. Strafsenat. Will man aber die Zahlenangaben für 1970 mit späteren vollständigen Entscheidungsjahrgängen vergleichen, müssen die fehlenden Daten für den 3. Strafsenat hochgerechnet werden. Eine solche Hochrechnung ist in Tabelle Nr. 1 erfolgt.11 Dabei wird unterstellt, dass sich der 3. Senat wie der Durchschnitt der vier anderen verhalten hat.12

8 Die Daten finden sich im Internet unter http://www.bundesgerichtshof.de und dort unter „Statistik der Strafsenate“. 9 Fezer (Fn. 1), S. 11. 10 Ibid., S. 54. 11 Bezüglich der Werte für die erweiterte Revision: Hier wurden zu den „mehr als 60“ Entscheidungen, von denen Fezer spricht, noch diejenigen zugezählt, die sich auf die anderen Fallgruppen bezogen; und diese Werte wurden im Hinblick auf die fehlenden Daten für den 3. Senat wiederum hochgerechnet. 12 Damit soll nicht behauptet werden, es habe seinerzeit keine Unterschiede zwischen den Senaten gegeben. Es soll nur die Vergleichbarkeit der verschiedenen Urteilsjahrgänge ermöglicht werden.

Die erweiterte Revision in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 337

Die Daten für 1992 bis 1995 entstammen einer Untersuchung des Bundesrichters Armin Nack.13 Da er die Daten für einen Vierjahreszeitraum mitteilt, hier aber einzelne Jahre miteinander verglichen werden sollen, wurden jährliche Durchschnittswerte errechnet und der Tabelle zugrunde gelegt. Die Vergleichsdaten für 2005 basieren auf der inhaltlichen Auswertung aller in jenem Jahr mit Gründen versehenen Entscheidungen des BGH in Strafsachen.14 Die inhaltliche Analyse wurde von Thorsten Berenbrink15 auf der Grundlage frei zugänglicher Quellen vorgenommen.16 Erfasst werden dadurch 823 Revisionen (715 Verfahren). Zur Vergleichbarkeit und Validität der mitgeteilten Daten: Schon Fezer hat deutlich gemacht, dass sich Fälle der erweiterten Revision nicht immer präzise von klassischen Subsumtionsrügen trennen lassen; es gibt fließende Übergänge.17 Auch Nack hat dies betont.18 Hier gibt es sicherlich gewisse Beurteilungsspielräume. Es kann deshalb auch nicht ausgeschlossen werden, dass bei den drei verschiedenen Untersuchungen unterschiedliche Kriterien bei der Bestimmung, ob ein Fall der erweiterten Revision vorlag, angelegt wurden. Die Zahlenwerte für 2005 stellen dabei Minimalwerte dar; hier wurde im Zweifel eine Einordnung in der Kategorie der Subsumtionsrügen vorgenommen und nur bei wirklich eindeutigen Fällen von einer erweiterten Revision ausgegangen. Gewisse Unsicherheiten ergeben sich auch für die Kategorisierung, ob ein Revisionserfolg vorliegt; dies gilt speziell für die Trennung von Teilerfolgen und Misserfolgen. Man kann hier unterschiedliche inhaltliche Kriterien anlegen. Anders formuliert: Es ist möglich, dass die Erfolgsberechnungen in den drei Untersuchungen nicht immer auf identischen Grundlagen beruhen. Die Berechnung der Erfolgsquoten in den nachfolgenden Tabellen steht darüber hinaus unter dem generellen Vorbehalt, dass diese tendenziell zu hoch ausfallen. Denn sie basieren auf der Verknüpfung von entschiedenen Revisionsverfahren mit erfolgreichen Revisionen. Die Zahl der Verfahren ist aber niedriger als die der einzelnen Revisionen, was darauf beruht, dass

Nack NStZ 1997, 153 ff. Er teilt nicht mit, wie viele Entscheidungen mit Gründen versehen waren. 14 Eine gesonderte Publikation zur Analyse dieses Entscheidungsjahrgangs ist vorgesehen. 15 Dr. Thorsten Berenbrink ist Rechtsanwalt und war Mitarbeiter im Institut für Anwaltsund Notarrecht der Universität Bielefeld. 16 Es wurde dabei primär die Datenbank „BGH-Nack“ (Luchterhand Verlag) ausgewertet. 17 Fezer (Fn. 1), S. 11. 18 Nack NStZ 1997, 153 (154). 13

338

Stephan Barton

in einem Verfahren mehrere gleichlaufende (z.B. erheben mehrere Angeklagte Revision) oder gegenläufige (nicht nur der Angeklagte legt Revision ein, sondern auch die Staatsanwaltschaft zu dessen Ungunsten) Revisionen anfallen können.19 Stellt man auf Revisionen ab – dazu später mehr –, fallen die Erfolgsquoten deutlich geringer aus.

2. Entwicklung der Revisionsrechtsprechung Die Zahl der erledigten Revisionsverfahren in den Jahren 1970 und 2005 ist ähnlich; sie liegt jeweils knapp unter 3 000. In den 90er Jahren wurden dagegen mehr Revisionen von den Senaten erledigt (fast 3 700); dort lagen die Eingangszahlen entsprechend höher.20 Auch die Zahl der begründeten Entscheidungen ist 1970 ähnlich wie 2005; das bedeutet, dass etwa 70 Prozent der Revisionen ohne jede inhaltliche Begründung als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen werden. Deutlich zurückgegangen ist dagegen die Urteilsquote. Lag diese 1970 nämlich noch bei fast 15 Prozent, so betrug sie 2005 nicht einmal mehr sechs Prozent.21 Das heißt: Urteile erfolgen sehr selten, und die genauere Betrachtung zeigt, dass sie ganz überwiegend auf Revisionen von Staatsanwaltschaften beschränkt sind.22

Zahlen zum Verhältnis von Revisionen und Revisionsverfahren finden sich bei Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen (1999), S. 43 (Grafik 7). 20 Vgl. dazu Barton (Fn. 19), S. 40 ff. sowie die amtliche Statistik des BGH (Fn. 8). 21 Vgl. dazu Barton, in: Jahn/Nack (Hrsg.), 1. Karlsruher Strafrechtsdialog (2008), S. 77 (78) sowie die amtliche Statistik (Fn. 8). 22 Vgl. dazu Barton StV 2004, 337 f. 19

Die erweiterte Revision in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 339

Tabelle 1: Revisionsrechtsprechung im Jahresvergleich 1970 N23 Erledigte Verfahren24

1992-1995 (Durchschnitt) %

N

2005

%

N

%

2 948

100

3 683

100

2 906

100

Urteile25

434

14,7

250

6,8

172

5,9

Begründete Entscheidungen

884

30,0

-

-

823

28,3

Erfolge

-

-

51526

14,0

305

10,5

Verfahrensrecht

-

-

4827

1,3

38

1,3

Aufklärungsrüge

16

0,5

2

0,05

3

0,1

Beweisantrag

14

0,5

4

0,1

9

0,3

8828

3,0

65

1,8

5629

1,9

Erweiterte Revision

Die Erfolgsquote von Revisionen lag 2005 bei 10,5 Prozent.30 Fezer teilt für 1970 keine vergleichbaren Zahlen mit. Aus anderen Untersuchungen weiß man, dass sie in früheren Jahren höher lag.31 Die auf die Verletzung von Verfahrensrecht gestützten Aufhebungen sind gleich bleibend niedrig. Speziell zur erweiterten Revision: Diese hat – statistisch gesehen – keinen quantitativen Zuwachs erfahren; entsprechende Urteilsaufhebungen waren 1970 wahrscheinlich32 sogar häufiger als in den 90er Jahren und 2005 (sie

Bei den Fezer stammenden Werten hochgerechnet von vier auf fünf Senate. Laut BGH-Statistik; hier wird nicht auf einzelne Revisionen abgestellt, sondern auf Verfahren. 25 Ibid. 26 Nur Zurückverweisungen (515), nicht bloße Aufhebungen (634). 27 Laut Nack NStZ 1997, 153 (155): 191 erfolgreiche Verfahrensrügen in vier Jahren. 28 Schätzwert, Fezer (Fn. 1) spricht auf S. 54 von mehr als 60 Entscheidungen allein für die Fallgruppen „Lücken“ und „unvollständige Feststellungen“. 29 Diese 56 Revisionen verteilten sich auf 48 Verfahren. In acht Verfahren waren dabei zwei Revisionsführer erfolgreich. Dreimal waren das gleichlaufende Revisionen von Staatsanwaltschaften und Nebenklägern, zweimal waren zwei verschiedene Angeklagte im selben Verfahren erfolgreich. In drei Fällen handelte es sich um gegenläufige Revisionen von Staatsanwaltschaften und Angeklagten. 30 Zur Erinnerung: Hier werden Revisionserfolge bezogen auf Verfahren und nicht im Hinblick auf einzelne Revisionen gemessen; der Wert fällt also tendenziell zu hoch aus. 31 Barton (Fn. 19), S. 60 (Grafik 15). 32 Mit Sicherheit lässt sich dies wegen der o.g. Hochrechnungen nicht behaupten. 23 24

340

Stephan Barton

fiel von über 80 Fällen auf jetzt ungefähr 60 pro Jahr). Die erweiterte Revision hat sich so gesehen auf einem stabilen Niveau eingependelt. Sie erfolgte sowohl in den 90er Jahren als auch 2005 vergleichsweise häufiger als alle Aufhebungen wegen der Verletzung von Verfahrensrecht insgesamt. Das heißt: Die Summe aller erfolgreichen Revisionen wegen der Verletzung absoluter Revisionsgründe und aller sonstigen Verletzungen des Prozessrechts zusammen liegt niedriger als die revisionsrechtlichen Beanstandungen fehlerhafter Beweiswürdigungen und tatrichterlicher Feststellungen. Im Verhältnis zu anderen Urteilsaufhebungen dürfte der erweiterten Revision eine gestiegene Bedeutung zugekommen sein. Dies ergibt sich aus dem Vergleich der 90er Jahre mit 2005. Es lässt sich nämlich feststellen, dass zum einen die Zahl der Revisionsverfahren in den letzten Jahren rückläufig ist (von 3 683 in den 90er Jahren auf 2 906 im Jahr 2005). Zum anderen ist – unabhängig davon – auch die Erfolgsquote von Revisionen zurückgegangen (von 14,5 Prozent nach den Berechnungen von Nack auf jetzt 10,5 Prozent). Die absolute Zahl der Fälle der erweiterten Revision ist dagegen nur unwesentlich abgeflaut (von 65 auf 56). Relativ gesehen haben diese Urteilsaufhebungen also zugenommen. Halten wir fest: Die erweiterte Revision hat einen festen Platz in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes. Bei insgesamt 305 erfolgreichen Revisionen im Jahr 2005 entfielen 56 (18,4 Prozent) auf sie. Im Vergleich zu anderen Urteilsaufhebungen, speziell erfolgreichen Verfahrensrügen, kommt ihr sogar eine gewachsene Bedeutung zu.

III. Spielräume und deren Ausfüllung Angesichts der nicht hinweg zu denkenden Bedeutung, die der erweiterten Revision in der Revisionsrechtsprechung zukommt, fragt es sich, ob es den Senaten gelungen ist, ihr auch feste inhaltliche Konturen zu verleihen.

1. Fallgruppen bei durchgreifender Revision Werfen wir zunächst einen Blick auf die durchgreifenden Fälle erweiterter Revision. Fezer hatte wie eingangs geschildert vier Fallgruppen herausgearbeitet. Diese lassen sich auch 2005 beobachten. Dabei spielt die Gruppe der Verstöße gegen Denk- und Erfahrungssätze wie schon 1970 auch 2005 eine äußerst geringe Rolle. Es gibt hier nur eine Urteilsaufhebung: „Die Beweiswürdigung hinsichtlich des von der Strafkammer festgestellten Zweckes der Videoaufzeichnung ist rechtsfehlerhaft, da ein Verstoß

Die erweiterte Revision in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 341

gegen Denkgesetze vorliegt. Ein solcher ist u. a. dann gegeben, wenn etwas vorausgesetzt wird, was es erst zu beweisen gilt …“ (2 StR 310/04) Eine geringe Bedeutung kommt in der BGH-Rechtsprechung auch der Fallgruppe der widersprüchlichen Feststellungen bzw. Beweiswürdigung zu. Hier konnten vier einschlägige Fälle festgestellt werden. In 4 StR 107/05 heißt es: „Soweit im Urteil ausgeführt ist, zwischen Dr. Z. und dem Angeklagten sei über den Wert der Beteiligung nicht gesprochen worden, steht dies im Widerspruch zu der Feststellung, der Angeklagte habe gegenüber Dr. Z. die B.-B. ‚als günstig und gewinnbringend (angepriesen)’ (UA 15).“ Und in 5 StR 200/05 wird u.a. ausgeführt: „Die beweiswürdigenden Ausführungen des Landgerichts sind zum Teil widersprüchlich. Sie entbehren ferner der Darlegung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussagen der Zeugin S. und setzen sich nicht mit einer nahe liegenden Falschbelastungshypothese auseinander. Solches war vorliegend aber geboten, weil widersprüchliche Aussagen von in ein Geflecht illegalen Rauschgifthandels verstrickter Personen zu würdigen waren, deren Motivation möglicherweise auf eigene Vorteile oder auf die Abwehr weiterer Beschuldigungen ausgerichtet war (vgl. BGH, Beschluss vom 4. August 2004 – 5 StR 267/04; BGH StV 2005, 253, 254; jeweils m.w.N.).“ Urteilsaufhebungen, die sich darauf gründen, dass der BGH die tatrichterliche Beweiswürdigung bzw. die Urteilsfeststellungen als lückenhaft ansah, sind dagegen von weitaus größerer praktischer Bedeutung (17 Fälle). So heißt es beispielsweise in 5 StR 427/05: „Dem Rechtsmittel kann mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts der Erfolg nicht versagt werden. Das Urteil kann keinen Bestand haben, weil die Feststellungen lückenhaft sind und an durchgreifenden Darstellungsmängeln leiden, so dass eine revisionsrechtliche Nachprüfung nicht möglich ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat der Tatrichter für jede Steuerart und jeden Besteuerungszeitraum unter Schuldgesichtspunkten so klare Feststellungen zu treffen, dass sowohl die dem Schuldspruch zugrunde liegenden Besteuerungsgrundlagen als auch die Berechnung der verkürzten Steuern der Höhe nach erkennbar werden. Eine ins Einzelne gehende Berechnungsdarstellung ist nur dann ausnahmsweise entbehrlich, wenn ein sachkundiger Angeklagter, der zur Berechnung der hinterzogenen Steuern in der Lage ist, ein Geständnis abgelegt hat (st. Rspr.; vgl. nur Senatsbeschluss wistra 2001, 266 und zuletzt Senatsbeschluss vom 13. Oktober 2005 – 5 StR 368/05 jeweils m.w.N.).“ Und in 2 StR 487/04 wird festgestellt: „Die Würdigung der dargestellten Beweisergebnisse durch das Landgericht ist lückenhaft. Das Landgericht

342

Stephan Barton

hätte die von den Sachverständigen und der sachverständigen Zeugin berichteten Befunde nicht nur isoliert und allein im Hinblick auf die Aussage der Zeugin Cigdem Y., sondern im Rahmen einer Gesamtschau auch mit allen vorgenannten Beweistatsachen würdigen müssen, die für eine Täterschaft des Angeklagten sprechen.“ In diesem Zusammenhang lässt sich eine interessante Entwicklung feststellen, nämlich die Herausbildung einer eigenen neuen Fallgruppe, in der sich die Urteilsaufhebung auf konkrete Mängel bei der Beweiswürdigung in Fällen von „Aussage gegen Aussage“ gründet. Hierbei handelt es sich um neun Fälle. Man könnte diese, da hier der Sache nach überwiegend Lücken in der tatrichterlichen Beweiswürdigung gerügt werden, auch der Gruppe der Lücken zuordnen; aber die Fälle der Aussage gegen Aussage haben mittlerweile auch in den Augen der Revisionsrichter eine eigene Typisierung bekommen.33 So verhält es sich z.B. in 4 StR 33/05: „Die der Verurteilung zugrunde liegende Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Allerdings beschränkt sich, weil die Beweiswürdigung in erster Linie Sache des Tatrichters ist, die revisionsgerichtliche Nachprüfung darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung setzt aber voraus, daß sich die Urteilsgründe mit widersprüchlichen, ungenauen oder aus sonstigen Gründen nicht ohne weiteres glaubhaften Zeugenaussagen in einer für das Revisionsgericht überprüfbaren Weise auseinandersetzen (vgl. BGH StV 1992, 555 m.w.N.). Demgemäß müssen die Urteilsgründe in einem Fall, in dem – wie hier – ‚Aussage gegen Aussage’ steht und die Entscheidung allein davon abhängt, wem das Gericht Glauben schenkt, erkennen lassen, daß der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGHSt 44, 153, 159; 256, 257; BGH NStZ 2000, 496, 497; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 23). Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung angesichts der Besonderheiten der gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfe und der Aussageentstehung nicht gerecht.“ Als bemerkenswert erweist es sich, dass in 25 Fällen des Jahres 2005 eine eindeutige Zuordnung unter eine der von Fezer gebildeten Fallgruppen nicht mehr möglich ist, weil der Senat keine verbindliche Festlegung vor-

Das wird nicht zuletzt darin deutlich, dass der frühere Vorsitzenden des 1. Strafsenats diese Rüge als eigene Fallgruppe behandelt; vgl. Schäfer, FS Rieß (2002), S. 486 ff. 33

Die erweiterte Revision in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 343

nimmt. Hier lassen sich wiederum zwei Untergruppen feststellen. Das sind zum einen vier Entscheidungen, in denen der BGH in einem Obersatz mehrere Fallgruppen (Widerspruch, Lücke, Verstoß gegen Denkgesetze) aufzählt und dann unspezifiziert unter diese allgemeine Aufhebungsformel subsumiert. Dabei wird nicht zweifelsfrei deutlich, ob ein oder mehrere Fehler und welche genau für die Urteilsaufhebung letztlich maßgeblich waren. So verhält es sich z.B. in der Entscheidung 1 StR 65/05: „Die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Sie ist etwa dann rechtsfehlerhaft, wenn sie lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht erörtert, widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewißheit überspannte Anforderungen gestellt sind. Dies ist auch dann der Fall, wenn eine nach den Feststellungen naheliegende Schlußfolgerung nicht gezogen ist, ohne daß konkrete Gründe angeführt sind, die dieses Ergebnis stützen können. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine konkreten Anhaltspunkte erbracht sind (st. Rspr., BGH NStZ-RR 2003, 371; BGH NStZ 2004, 35, 36 m.w.Nachw.). Alledem wird die Beweiswürdigung der Strafkammer in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.“ Ähnlich auch 4 StR 160/05: „Soweit die Beweiswürdigung die Beteiligung des Angeklagten V. durch seine Anwesenheit und die zumindest psychische Unterstützung des Angeklagten D. betrifft, ist sie dagegen widersprüchlich, lückenhaft und damit rechtsfehlerhaft…“ In weiteren 21 Fällen lässt sich sogar beobachten, dass der BGH ganz auf eine normative Herleitung seiner Entscheidung verzichtet. Es wird dann weder ein Obersatz in Form eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses aufgestellt, wonach die Beweiswürdigung grundsätzlich Sache des Tatrichters sei und das Revisionsgericht nur bei bestimmten Rechtsfehlern eingreifen dürfe, noch wird eine Einordnung in eine konkrete Fallgruppe vorgenommen. Die Entscheidung wird vielmehr aus dem konkreten Fall selbst abgeleitet. Der Zugriff auf die tatrichterliche Beweiswürdigung bzw. das Beweisergebnis erfolgt dabei wie selbstverständlich: So ist es etwa im Fall 3 StR 5/05: „Dabei sind auch die weiteren Erwägungen des Landgerichts nicht aussagekräftig“. Und weiter: „Diese Mängel der Beweiswürdigung führen zur Aufhebung des Schuldspruchs insgesamt“.

344

Stephan Barton

In der Entscheidung 4 StR 530/05 heißt es schlicht: „Das Urteil hat keinen Bestand, weil die Beweiswürdigung der Strafkammer zur inneren Tatseite durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet.“ Halten wir fest: Auch 2005 dominieren Fälle, bei denen die Revisionsgerichte Lücken bei tatrichterlichen Feststellungen oder Wertungen bemängelt haben. Das sind genau die Konstellationen, bei denen Fezer die größten Spielräume für die Revisionsgerichte festgestellt hatte.34 Daran hat sich nichts geändert. Mehr noch lässt sich sogar feststellen, dass der BGH neuerdings Urteilsaufhebungen ohne eindeutige Fallgruppeneinordnung oder Obersatzbildung vornimmt und damit offen bleibt, weshalb das Revisionsgericht – trotz des Grundsatzes, dass die Beweiswürdigung Sache des Tatrichters sei – ausnahmsweise Zugriff nehmen durfte.

2. Gegenformel und Überschneidungen Die Gegenformel, wonach es unzulässig sei, die tatrichterliche Beweiswürdigung zu rügen, findet weiterhin Verwendung. Auch 2005 gab es zahlreiche Revisionsverfahren, in denen der BGH – oder häufiger noch: die Bundesanwaltschaft in Verwerfungsanträgen – Revisionsangriffe gegen die tatrichterlichen Feststellungen oder gegen die Beweiswürdigung als unzulässig und revisionsfremd zurückgewiesen hat. So heißt es in 2 StR 402/05: „Auch die Angriffe gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts bleiben erfolglos. Die Aufgabe, sich auf der Grundlage der vorhandenen Beweismittel eine Überzeugung vom tatsächlichen Geschehen zu verschaffen, obliegt grundsätzlich allein dem Tatrichter. Seine Beweiswürdigung hat das Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen. Kann der Tatrichter vorhandene Zweifel nicht überwinden, so kann das Revisionsgericht seine Entscheidung nur im Hinblick auf Rechtsfehler überprüfen, insbesondere darauf, ob die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, die Beweismittel nicht ausschöpft, Verstöße gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze aufweist oder ob der Tatrichter überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat. Solche Fehler zeigen die Revisionen nicht auf.“ Ähnlich wird es in 4 StR 366/04 formuliert: „Die Aufgabe, sich auf der Grundlage der vorhandenen Beweise eine Überzeugung vom tatsächlichen Geschehen zu verschaffen, obliegt grundsätzlich allein dem Tatrich-

34

Fezer (Fn. 1), S. 52 f.

Die erweiterte Revision in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 345

ter. Seine Beweiswürdigung hat das Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen. Es ist ihm verwehrt, sie durch eine eigene zu ersetzen oder sie etwa nur deshalb zu beanstanden, weil aus seiner Sicht eine andere Beurteilung näher gelegen hätte. Kann der Tatrichter vorhandene, wenn auch nur geringe Zweifel nicht überwinden, so kann das Gericht diese Entscheidung nur im Hinblick auf Rechtsfehler überprüfen (st. Rspr.; vgl. nur BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 33). Ein solcher liegt nur dann vor, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt; ferner wenn das Gericht an die zur Verurteilung erforderliche Gewißheit überspannte Anforderungen stellt.“35 Besonders drastisch wird die Parallelität von praktizierter erweiterter Revision einerseits sowie Zurückweisung von Angriffen gegen die tatrichterliche Beweiswürdigung andererseits in der Mannesmann-Entscheidung des 3. Strafsenats. Einerseits kritisiert der BGH hier wiederholt die Beweiswürdigung der Kammer als lückenhaft und in sich widersprüchlich und hebt das Urteil auf. Andererseits werden Angriffe der Verteidigung gegen die Beweiswürdigung knapp zurückgewiesen: „Soweit die Verteidigung versucht, die den Senat bindenden Feststellungen des Landgerichts durch Angriffe gegen die Beweiswürdigung in Zweifel zu ziehen, erschöpfen sich ihre Ausführungen weitgehend in einer eigenen Beweiswürdigung. Damit kann sie im Revisionsverfahren nicht gehört werden.“ (3 StR 470/04) Halten wir fest: Eine exakte Trennlinie zwischen irrevisibler tatrichterlicher Beweiswürdigung einerseits und zulässiger revisibler Rechtskontrolle andererseits lässt sich den vom BGH entschiedenen Fällen nicht entnehmen. Es gibt nach wie vor Bereiche, auf die das Revisionsgericht den Zugriff erstrecken kann, sei es, dass es die Formel verwendet, wonach eine rechtsfehlerhafte tatrichterliche Beweiswürdigung keinen Bestand haben dürfe, oder sei es, dass es die Kontrolle einfach faktisch vornimmt. Es gibt aber parallel dazu die Gegenformel, wonach die Beweiswürdigung grundsätzlich Sache des Tatrichters sei und das Revisionsgericht diese regelmäßig hinzunehmen habe. Wann die Regel gilt bzw. wann eine Ausnahme vorgenommen werden darf, ist ungeklärt. Es ist dem Revisionsgericht also möglich, identische Sachverhalte im Ergebnis unterschiedlich zu behandeln: Das Gericht kann Angriffe gegen die Beweiswürdigung als unzulässig zurück-

35

Vgl. auch BGH 4 StR 492/04 und 4 StR 268/05.

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Stephan Barton

weisen und damit der Regel der „klassischen Revision“ entsprechen oder auch auf die Beweiswürdigung zugreifen und damit der erweiterten Revision folgen.36 Es lassen sich damit zwei miteinander konkurrierende Entscheidungsregeln feststellen: Das alte „klassische“ Programm der Revision (Regel Nr. 1: Angriffe gegen die Beweiswürdigung sind unzulässig) läuft parallel neben dem der „modernen“ Revision (Regel Nr. 2: Standardformel oder einfach pragmatische Handhabung). Je nachdem, welche Regel verwandt wird, kann damit bei der Darstellung einer Entscheidung sowohl das eine wie das entgegengesetzte Ergebnis schlüssig dargelegt und gerechtfertigt werden37. Ob das Revisionsgericht im Einzelfall nun zur einen oder anderen Darlegungsregel kommt, ergibt sich jedoch nicht aus diesen selbst. Es muss vielmehr übergeordnete Anwendungsregeln dafür geben, auf welche zurückgegriffen wird. Man kann sie als Metaregeln oder Herleitungsregeln bezeichnen.38 Diese greifen bei der Herstellung der Entscheidung. Die im konkreten Fall einschlägigen Herleitungsregeln erhellen sich jedoch nicht aus den veröffentlichten Entscheidungsgründen. Frühere justizstatistische Analysen lassen jedoch vermuten, dass es solche Anwendungsmuster gibt. Sie ergeben sich im Allgemeinen (also nicht nur bezogen auf die Darstellungskontrolle) z.B. daraus, ob der Angeklagte in der Hauptverhandlung den Vorwurf abgestritten bzw. geschwiegen hat und ob er bisher nicht vorbestraft ist. Dann ist ein Revisionserfolg bei Angeklagtenrevisionen jeweils mehr als dreimal häufiger als wenn er ein (Teil-)Geständnis abgelegt hat oder eine Vorstrafe aufweist.39 Messbar sind aber auch durch-

Fezer hat diese sich überschneidenden Bereiche von Aufhebungs- und Abwehrformeln – wie schon erwähnt – treffend als „doppeltes Spiel“ bezeichnet; Fezer (Fn. 1), S. 52. Diese Parallelität lässt sich auch außerhalb der erweiterten Revision beobachten, beispielsweise im Bereich des Beweises von Verfahrensverstößen durch das Sitzungsprotokoll; vgl. Krawczyk, Die Relativierung der absoluten Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls (§ 274 StPO) in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (2007), S. 253 ff. (256): „Auffällig ist insoweit, dass nahezu identische Konstellationen manchmal entgegengesetzt entschieden werden.“ Ähnliche Überschneidungen finden sich bei der Abgrenzung der Sach- von der Verfahrensrüge; vgl. Barton JuS 2004, 982. 37 Man kann insofern zwischen dem Vorgang der Herstellung und der Darstellung einer Entscheidung trennen; vgl. dazu aus rechtsmethodischer Sicht Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. (1990), S. 116 ff. 38 Zu Regeln und Anwendungsregeln vgl. Sack, in: König/Sack (Hrsg.), Kriminalsoziologie, 3. Aufl. (1970), S. 431 (458 ff.). Auf den Umstand, dass in der Revisionsrechtsprechung Regeln und Anwendungsregeln anzutreffen sind, ist an anderen Stellen hingewiesen worden; vgl. Barton JuS 2004, 982; Barton StV 2004, 335 f. 39 Barton (Fn. 19), S. 255 (Tabelle 100); dort finden sich im Rahmen einer Regressionsanalyse weitere Korrelationen zwischen Revisionserfolgen und erklärenden Variablen. 36

Die erweiterte Revision in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 347

greifende Wirkungen, die von der Person des Senatsvorsitzenden ausgehen40 bzw. in „traditionalen“ Entscheidungskriterien der verschiedenen Senate liegen.41 Damit keine Missverständnisse entstehen: Mit dem Abstellen auf Herleitungsregeln ist kein irgendwie gearteter Vorwurf gegenüber Bundesrichtern verbunden, diese würden gezielt auf die genannten Kriterien abstellen, aber dies in den veröffentlichen Entscheidungen verheimlichen. Eine Verschwörungstheorie soll keinesfalls aufgestellt werden. Zweifel daran, dass Revisionsrichter nicht nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden, sollen nicht einmal ansatzweise geschürt werden. Es geht vielmehr um die These, dass es latente Wirkungskräfte gibt, die sich bei statistischer Betrachtung offenbaren – ungeachtet dessen, ob diese den Richtern bewusst sind oder nicht. Zu denken ist dabei namentlich an subtil wirkende sozialpsychologische Faktoren. Diese können sich am „Sinn für Angemessenheit“ oder an verfahrensökonomischen Kalkülen orientieren42 oder – wie es ein Bundesrichter formulierte: „Ein goldrichtiges Urteil wird man doch nicht aufheben.“43 Das eröffnet aber auch Platz für personen- oder senatsspezifische Entscheidungsvorlieben.

3. Anwendungsregeln Werfen wir einen kurzen Blick darauf, ob sich bei justizstatistischer – und damit zugegebenermaßen relativ oberflächlicher – Betrachtung Hinweise auf latent wirkende Herstellungsregeln dafür feststellen lassen, wann die erweiterte Revision zum Zuge kommt. Hier zeigen sich deliktspezifische Auffälligkeiten. Bei durchgreifenden Fällen der erweiterten Revision stehen nämlich die Sexual- und Tötungsdelikte im Vordergrund; auf sie entfielen 2005 jeweils 15 Fälle und zusammen mehr als die Hälfte aller erweiterten Revisionen; auch Steuerdelikte sind nicht selten (acht Fälle). Vergleichsweise spärlich greift die erweiterte Revision dagegen bei Vermögensdelikten sowie insbesondere bei Raubdelikten sowie bei allen sonstigen Delikten.

Barton (Fn. 19), S. 204 (Grafik 86 und Tabelle 87) und S. 247 (Tabelle 93). Barton (Fn. 19), S. 237 ff. (insbesondere Grafik 92). 42 Vgl. dazu aus gruppendynamischer Sicht Schumacher StV 1995, 444. Er spricht von folgenden Regulationsprinzipien, die sich in der Hauptverhandlung fänden: „Angemessenheit einer Lösungsfindung“, „soziale Verträglichkeit“, „Gerechtigkeitsgesichtspunkt“ sowie „Ökonomieprinzip“. 43 Vgl. Barton (Fn. 19), S. 261 f. 40 41

348

Stephan Barton

Tabelle 2: Deliktgruppen Deliktgruppen Tötungsdelikte

Häufigkeiten

Prozente 15

26,8

Körperverletzungsdelikte

1

1,8

Eigentums-/ Vermögensdelikte

7

12,5

15

26,8

Betäubungsmitteldelikte

6

10,7

Raubdelikte

3

5,4

Steuerdelikte

8

14,3

Sonstige Delikte

1

1,8

56

100

Sexualdelikte

Gesamt

Diese Verteilung entspricht nicht der Deliktstreuung der vom BGH insgesamt entschiedenen Fälle. Es ist nämlich davon auszugehen, dass die Sexual- und Tötungsdelikte insgesamt weniger als 30 Prozent des Inputs der vom BGH zu entscheidenden Fälle ausmachen.44 Die Vermögens-, Betäubungsund insbesondere die Raubdelikte sind damit bei durchgreifender erweiterter Revision ersichtlich unterrepräsentiert. Es ist deshalb zu vermuten, dass BGH-Richter bei Sexual- und Kapitaldelikten vergleichsweise eher Anlass sehen, tatrichterliche Feststellungen oder Beweiswürdigungen zu bemängeln. Bei Vermögens- und Raubdelikten scheint das dagegen viel seltener der Fall zu sein. Es ergibt sich damit, dass aus dem Rahmen fallende Delikte eher zur erweiterten Revision führen als alltägliche Routinefälle. Ob das allein daran liegt, dass Tatrichter hier häufiger pfuschen, darf bezweifelt werden. Plausibler dürfte es sein, dass bei den affektiv aufgeladenen Tötungs- und Sexualdelikten Revisionsrichter genauer hinschauen und sich eine Urteilsaufhebung hier aus revisionsrichterlicher Sicht eher lohnt als bei von ihnen als „Nullachtfuffzehn“ angesehenen Fällen. Besonderheiten zeigen sich auch hinsichtlich der verschiedenen Revisionsführer: Von den auf die erweiterte Revision gestützten Urteilsaufhebungen im Jahr 2005 entfielen 36 auf Angeklagtenrevisionen (64 Prozent), 17 auf solche von Staatsanwälten (30 Prozent) und drei auf Nebenkläger. Diese

Barton (Fn. 19), S. 72 (Grafik 22). Die Zahlen beziehen sich dabei auf BGHEntscheidungen aus dem Jahr 1994. 44

Die erweiterte Revision in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 349

Verteilung entspricht nicht den Eingangszahlen der vom BGH entschiedenen Fälle: Insgesamt hatten die Senate 2005 nämlich über 3 054 Revisionen von Nebenklägern und Angeklagten zu entscheiden und nur über 119 Revisionen von Staatsanwaltschaften. So gesehen war jede siebte staatsanwaltliche Revision mit der erweiterten Revision erfolgreich (14 Prozent), aber weniger als jede 70. anwaltliche Revision (1,3 Prozent).45 Die erweiterte Revision kommt damit überproportional häufig Staatsanwaltschaften zugute. Das gilt selbst dann, wenn man einen Blick auf die Gesamterfolgsquote staatsanwaltlicher Revisionen wirft. Diese ist bekanntermaßen sehr viel höher als die der Angeklagten; im Jahre 2005 lag sie bei 45,6 Prozent (die von Angeklagten dagegen bei 7,9 Prozent).46 Von den 305 in jenem Jahr insgesamt erfolgreichen Revisionen entfielen dabei 65 auf Staatsanwaltschaften (21,3 Prozent).47 Staatsanwaltliche Revisionen sind also nicht nur im Allgemeinen vergleichsweise häufig erfolgreich, sondern dabei besonders oft mit der erweiterten Revision.48 Angeklagte profitieren so gesehen vergleichsweise selten von dieser Art der Revisionskontrolle. Auch hier ist zu fragen: Muss man wirklich davon ausgehen, dass Tatrichter bei Freisprüchen besonders häufig Beweiswürdigungsfehler begehen? Oder könnte es nicht so sein, dass die vergleichsweise seltenen staatsanwaltlichen Revisionen aus dem Rahmen fallen? Trägt dazu vielleicht auch bei, dass der GBA hier grundsätzlich Hauptverhandlungstermine beantragt und schon von daher die Bundesrichter genauer hinschauen?

Diese Daten beziehen sich auf Revisionen, nicht auf Verfahren. Sie stammen aus der amtlichen Statistik bzw. einer Mitteilung des Präsidenten des BGH; vgl. dazu Barton (Fn. 21). Es ist aufgrund der vorliegenden Werte nicht möglich, die Gruppe der anwaltlichen Revisionen getrennt für Angeklagte und Nebenkläger präzise zu bestimmen. 46 Auch hier erfolgt die Prozentuierung bezogen auf die einzelnen Revisionen (anders als oben in Abschnitt II.). 47 Vgl. dazu Barton (Fn. 21). 48 Nicht ganz so auffällig erweisen sich die Werte allerdings dann, wenn man in Rechnung stellt, dass die Staatsanwaltschaften bei vollen Revisionserfolgen – und hierbei handelt es sich vielfach bei der erweiterten Revision – auch sonst mit etwa einem Drittel vertreten sind. 45

350

Stephan Barton

Als auffällig erweisen sich auch Unterschiede zwischen den Senaten: Tabelle 3: Revisionsführer (senatsspezifische Verteilung) Angeklagter N

%

StA N

Nebenkläger %

N

Gesamt

%

N

1. Senat

1

20,0

3

60,0

1

20,0

5

2. Senat

3

50,0

3

50,0

0

-

6

3. Senat

5

62,5

3

37,5

0

-

8

4. Senat

13

81,3

3

18,8

0

-

16

5. Senat

14

66,7

5

23,8

2

9,5

21

Gesamt

36

17

3

56

Während bei drei Senaten acht oder weniger Fälle erweiterter Revision zu registrieren waren, fielen beim 4. und 5. Senat weitaus mehr an, nämlich 16 bzw. 21. Dies bleibt auch dann überraschend, wenn man die Zahlen der insgesamt erfolgreichen Revisionen bei den verschiedenen Senaten berücksichtigt. Auch hier unterscheiden sich die Spruchkörper deutlich. Es waren 32 beim 1. Senat, 66 beim 2. und 52 beim 3. Senat; auf den 4. Strafsenat entfielen 72 und auf den 5. Senat 83 Aufhebungen.49 Während beim 5. Strafsenat damit über 25 Prozent aller erfolgreichen Urteilsaufhebungen auf die erweiterte Revision entfielen, war dies beim 2. Senat in nur neun Prozent der Fälle so. Betrachten wir ferner die Verteilung der verschiedenen Beschwerdeführer auf die Senate. Es zeigt sich, dass mit der erweiterten Revision erfolgreiche Staatsanwaltschafts-Revisionen bei allen fünf Senaten vertreten sind – und zwar überraschend stabil mit drei bzw. beim 5. Senat mit fünf Revisionen: Im Gegensatz dazu verhält sich die Verteilung der erfolgreichen Angeklagtenrevisionen. Hier gibt es große Divergenzen zwischen den Senaten. Beim 4. fallen 13 und beim 5. Senat 14 Angeklagtenrevisionen an; im Unterschied dazu ist nur eine auf die erweiterte Revision gestützte Angeklagtenrevision beim 1. Senat erfolgreich, beim 2. Senat sind es drei. Anders formuliert: Während beim 1. Senat von den fünf erweiterten Revisionen nur

49

Zu den Berechnungsgrundlagen dieser Werte vgl. Barton (Fn. 21).

Die erweiterte Revision in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 351

eine vom Angeklagten stammt (20 Prozent), sind es beim 4. Senat gleich 13 von 16 (81,3 Prozent). Erhebliche Unterschiede ergeben sich auch im Hinblick auf die zum Tragen kommenden Fallgruppen. Von den insgesamt neun Fällen der „Aussage gegen Aussage“ entfielen sechs allein auf den 4. Senat. Umgekehrt fällt auf, dass von allen fünf erfolgreichen Revisionen beim 1. Senat vier auf die Fallgruppe „Lücke“ entfielen. Gewisse Auffälligkeiten zeigen sich auch bei den Delikten. Gemeint ist dabei natürlich nicht, dass Steuerdelikte nur beim 5. Senat anfielen, denn dies folgt aus der Geschäftsverteilung, sondern dass bei einem Senat die erweiterte Revision praktisch nur bei Tötungsdelikten greift, bei dem anderen dagegen besonders häufig bei Sexualdelikten zum Tragen kommt. Es ergibt sich damit, dass die Senate von der erweiterten Revision nicht nur in unterschiedlichem Umfang Gebrauch machen, sondern dass die Urteilsaufhebungen dabei vergleichsweise häufig Revisionen von Staatsanwaltschaften betreffen und sich schließlich auch die erfassten Fälle in ihrer Substanz deutlich unterscheiden. Erneut erscheint es nicht überzeugend, diese zum Teil gravierenden Diskrepanzen allein damit erklären zu wollen, dass die Fälle des einen Senats sich grundlegend von denen der anderen unterscheiden würden. Es liegt näher zu vermuten, dass sich die Senate im Grad der Zurückhaltung, was den Zugriff auf die tatrichterliche Beweiswürdigung betrifft, unterscheiden. Was dem einen Senat als gänzlich unhaltbare und zwingend korrekturbedürftige Beweiswürdigung erscheint, wird von anderen offenbar noch hingenommen. Das kann dazu führen, dass – zugegebenermaßen überspitzt formuliert – bei dem einen Senat nur Urteile der erweiterten Revision anheim fallen, denen Revisionen von Staatsanwaltschaften zugrunde liegen, die Kapitaldelikte betreffen und in denen Lücken moniert werden, dass dagegen beim anderen Senat Sexualdelikte im Vordergrund stehen, wobei die Aufhebungen dann häufig mit Mängeln bei der Bewertung von „Aussage gegen Aussage“ begründet werden.

IV. Schlussbemerkung Die erweiterte Revision hat ihren festen Platz in der Revisionsrechtsprechung des BGH; sie stellt insofern gewachsene revisionsrechtliche Realität dar. Realität ist aber auch, dass sie nach wie vor keine festen Konturen aufweist. Bei ihrer Anwendung dominieren weiche Argumentationsfiguren; insbesondere ist methodisch ungeklärt, wann die tatrichterliche Beweiswürdigung revisibel ist und wann nicht. Damit ergeben sich für die Revisionsgerichte Entscheidungsspielräume; die erweiterte Revision führt deshalb nolens volens zum „doppelten Spiel“. Es ist zu vermuten, dass die Darstel-

352

Stephan Barton

lungskontrolle in der Praxis primär dann zum Zuge kommt, wenn die Revisionsrichter schwerwiegende Bedenken gegen die materielle Richtigkeit eines Urteils haben, dieses Unbehagen sich aber nicht als eindeutiger Verfahrensrechts- oder Subsumtionsfehler ausdrücken lässt. Im Jahr 2005 sind so gesehen schwerwiegende Bedenken überproportional häufig bei Sexualund Tötungsdelikten aufgetreten; auch kommt die Darstellungskontrolle vergleichsweise öfter staatsanwaltlichen Revisionen als solchen von Angeklagten zugute. Das Unbehagen stellt sich bei den Senaten ferner in durchaus uneinheitlicher Weise ein. Fezers 1974 veröffentlichte Analyse erweist sich damit als höchst aktuell. Solange der erweiterten Revision eine methodisch überzeugende Grundlage fehlt, werden latente Wirkungskräfte nicht vollständig zu bannen sein und wird die Darstellungskontrolle deshalb mit der Gefahr uneinheitlicher und inhaltlich fragwürdiger Entscheidungsstandards verbunden bleiben.

Wandel der Revision als Ausdruck geistigen und gesellschaftlichen Wandels WOLFGANG FRISCH

Kein Rechtsmittel der Strafprozessordnung hat sich seit deren Inkrafttreten so gravierend verändert wie die Revision. Gerhard Fezer, der verehrte Jubilar, hat diese Entwicklung durch vielfältige Beiträge begleitet, analysiert, kommentiert und auch beeinflusst.1 Den folgenden Beitrag gerade ihm zu widmen, lag daher nahe – um so mehr, als das Thema der Revision auch eine Gemeinsamkeit des Jubilars und des Autors betrifft, nämlich einen Gegenstand bezeichnet, mit dem sich beide seit dem Beginn ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit immer wieder beschäftigt haben. Natürlich ist es im Rahmen eines begrenzten Festschriftenbeitrags nicht möglich, den Wandel der Revision umfassend und bis in die Details nachzuzeichnen. Wichtige Bereiche dieses Wandels wie z.B. die gravierenden Ausweitungen des revisionsgerichtlichen Sachentscheidungsrechts2 müssen ebenso unberücksichtigt bleiben wie eine Vielzahl praxisrelevanter Details. Die folgenden Darlegungen und Überlegungen konzentrieren sich auf das Kernthema der Revision, also die Frage nach der thematischen Ausrichtung, der Extension und den grundsätzlichen Voraussetzungen der revisionsgerichtlichen Überprüfung. Gewandelte Antworten auf diese Fragen haben das Gesicht der Revision, aber auch deren praktische Bedeutung seit dem Inkrafttreten der StPO nachhaltig verändert. Diese Entwicklungen und Veränderungen, die zum Teil gegenläufig sind, lassen sich nur teilweise rechts-

Vgl. insbesondere Fezer, Die erweiterte Revision – Legitimierung der Rechtswirklichkeit? (1974); ders., Reform der Rechtsmittel in Strafsachen (1974); ders., Möglichkeiten einer Reform der Revision in Strafsachen (1975); ders., in: Ebert (Hrsg.), Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege (1991), S. 89 ff.; ders., FS Hanack (1999), S. 331 ff.; ders., FS Otto (2007), S. 901 ff. 2 Siehe dazu SK-StPO/Wohlers, 47. Lfg. (2006), § 354 Rn. 2 u. 50 ff. m.w.N.; speziell zu § 354 Abs. 1a Frisch StV 2006, 431 ff. (m.w.N.); Ignor, FS Dahs (2005), S. 281 ff.; Senge, FS Dahs, S. 475 ff. und BVerfG NJW 2007, 2977 ff. 1

354

Wolfgang Frisch

theoretisch und prozessdogmatisch erklären. Sie sind zu einem wesentlichen Teil auch Folgen eines allgemeinen geistigen Wandels und einer Veränderung gesellschaftlicher Erwartungen und Bedürfnisse, denen sich die Revision als Teil eines vom Zustand der Gesellschaft abhängigen Rechts nicht entziehen konnte und auch weiterhin nicht entziehen kann.

I. 1.

Stationen und Bereiche des Wandels

Das Grundkonzept der Revision in der StPO von 1877: Beschränkung auf die rechtliche Würdigung der Sache

Mit der Einführung der Revision wollte der Gesetzgeber der StPO ein neues, spezifisch auf die Möglichkeiten und Kapazitäten eines höheren Gerichts zugeschnittenes Rechtsmittel schaffen, das gewisse Mängel der zuvor zu den höheren Gerichten führenden Rechtsmittel nicht aufweisen sollte. Anders als bei der Appellation sollte das höhere Gericht nicht mit der tatsächlichen Seite des Falles befasst werden. „Die Aufgabe des höheren Gerichts“ – so formulieren die Motive zur StPO3 – „besteht nur in der rechtlichen Beurtheilung der Sache“ (S. 201 bzw. 250), insoweit sollte ihm freilich „freie Bewegung gewährt“, sollten „seiner Thätigkeit möglichst wenig formale Grenzen gezogen sein“. Vermieden werden sollten jedoch zugleich die Mängel der Nichtigkeitsbeschwerde, der Kassation oder des Kassationsrekurses, die nach der Auffassung des Gesetzgebers der StPO von 1877 vor allem in der zu formalen Ausgestaltung dieses Rechtsmitteltyps lagen. „Vermöge der formalen Natur dieses Rechtsmittels“ – so wiederum die Motive des Entwurfs zur StPO – „muß der Nichtigkeitsrichter … oft genug Entscheidungen vernichten, welche eine materielle Rechtsverletzung durchaus nicht enthalten“ (S. 201 bzw. 249). Um dies zu vermeiden, sollte der „höhere Richter“ entsprechend der ihm „zugewiesenen freien Stellung“ das „angefochtene Urtheil in der Regel“ (d.h. abgesehen von den so genannten absoluten Revisionsgründen) „nicht schon dann aufzuheben“ haben, „wenn der erste Richter in seiner Entscheidung oder seinem Verfahren das Gesetz irgendwie verletzt hat, sondern nur dann, wenn die Gesetzesverletzung in einem ersichtlichen oder doch möglichen Zusammenhang mit der Entscheidung selbst steht“ (S. 202 bzw. 250). Eine eng begrenzte Ausnahme sollte nur für einige wenige ausdrücklich aufgeführte Vorschriften gelten, die „die

3 Abgedruckt bei Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 3 Abteilung 1 (1885); die erste Zahl steht im folgenden Text für die Seite der Motive, die zweite bezeichnet die Seite bei Hahn selbst.

Wandel der Revision

355

Grundlagen des Verfahrens berühren“ – ihre Verletzung sollte „stets die Aufhebung des Urtheils nach sich ziehen“ (S. 203 bzw. 251 f.). Die rechtliche Würdigung, auf die das Revisionsgericht beschränkt sein sollte, war dabei eine doppelte. Es war zum einen die Prüfung der Frage, ob der Richter das Recht richtig auf die von ihm festgestellten Tatsachen angewandt hat, also die Prüfung, ob nicht bei der Anwendung des materiellen (sachlichen) Rechts auf die vom Tatrichter festgestellten Tatsachen das (materielle) Gesetz verletzt worden ist. Zur „rechtlichen Würdigung der Sache“ gehörte nach den Vorstellungen des Gesetzgebers der StPO freilich – zweitens – auch die Frage, ob nicht das in der Sache durchgeführte Verfahren unter einer Gesetzesverletzung leidet, Letzteres allerdings nur, soweit eine entsprechende Verfahrensrüge erhoben und in einer den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Weise begründet ist (S. 205 f. bzw. 253 f.). Unmittelbare Kehrseite dieser Beschränkung der Revision auf die rechtliche Würdigung der Sache war der Ausschluss des Revisionsgerichts von der tatsächlichen Würdigung des Straffalls. Das bringen die Motive zur StPO mehrfach deutlich zum Ausdruck. „Die rein thatsächliche Würdigung des Straffalles, also namentlich die Würdigung der erbrachten Beweise“, „muß von der Thätigkeit des höheren Richters ausgeschlossen bleiben“ (S. 201 bzw. 249 f.). „Diese Würdigung ist dem Richter erster Instanz ausschließlich überlassen, und das von diesem festgestellte thatsächliche Ergebnis ist für die höhere Instanz maßgebend“ (a.a.O.). Eine Ausnahme von dieser Bindung des Revisionsrichters an die tatsächlichen Feststellungen des Tatrichters sah der Gesetzgeber der StPO nur für den Fall vor, dass das tatsächliche Ergebnis seitens des Tatrichters „im Wege eines gesetzwidrigen Verfahrens gewonnen worden ist“ (a.a.O.). Die einzige Möglichkeit, die nach der Auffassung des Gesetzgebers der StPO von 1877 zu einer Überprüfung und ggf. Beanstandung der tatsächlichen Feststellungen des Vorderrichters sollte führen können, war danach also die Erhebung der Verfahrensrüge. Die Vorstellung, dass das Revisionsgericht allein auf die Sachrüge hin die tatsächlichen Feststellungen des Vorderrichters überprüfen und beanstanden könne, war dem Gesetzgeber der StPO fremd. Abgesehen von der Tatsachenfeststellung und der eigentlichen Beweiswürdigung sollte das Revisionsgericht nach der Vorstellung des Gesetzgebers auch noch von der Würdigung eines zweiten praktisch bedeutsamen Fragenbereichs der tatrichterlichen Entscheidung ausgeschlossen sein: der Strafzumessung. In den Motiven zur StPO heißt es dazu lapidar: „Daraus, daß dem Revisionsrichter eine Beurtheilung des rein Thatsächlichen nicht zusteht, folgt von selbst, daß die Revision nicht auf die Behauptung gegründet werden kann, daß die Art oder die Höhe der Strafe unangemessen be-

356

Wolfgang Frisch

stimmt sei, insofern nur die festgesetzte Strafe innerhalb der vom Gesetz gezogenen Grenzen liegt.“ (S. 202 bzw. 250 f.). Im Gegensatz zu diesen sehr deutlichen, weitgehenden Absagen an die Revisibilität der Tatsachenfeststellung, der Beweiswürdigung und der Strafzumessung sollte die rechtliche Prüfung der Sache nach der Auffassung des Gesetzgebers der StPO offenbar keinen weiteren Einschränkungen unterliegen. Jedenfalls fehlen in den Motiven zur StPO Anhaltspunkte für eine solche Vorstellung. Im Gegenteil. Der Begriff der „Rechtsnorm wird“ – wie es in den Motiven heißt – „hier im weitesten Sinn verstanden“ (S. 202 bzw. 251). In Richtung auf die Normen des Prozessrechts sagen die Motive dann sogar noch ausdrücklich: „ … und grundsätzlich ist keine Prozeßvorschrift von der Begründung der Revision ausgeschlossen“ (S. 203 bzw. 251). Für etwaige Einschränkungen der Revisibilität der materiell-rechtlichen Würdigung fehlen solche bekräftigenden Absagen zwar, aber wohl nur deswegen, weil der Gesetzgeber sie nicht in Erwägung gezogen hatte. Jedenfalls enthalten die Motive hier keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber an Einschränkungen ernsthaft gedacht hätte. Das gilt insbesondere auch für etwaige (später diskutierte) Einschränkungen aus dem Zweck der Revision, zu dem sich die Motive der StPO ausdrücklich nicht verhalten. Was auch schon die StPO von 1877 und die Motive in Richtung auf etwaige Einschränkungen enthalten, sind freilich deutliche Aussagen zu den Anforderungen an die Erhebung der Revision. Sie finden sich in § 305 Abs. 2 der StPO von 1877 (heute § 344 Abs. 2), der für die zulässige Erhebung der Verfahrensrüge die Angabe der verletzten Verfahrensnorm und der die Gesetzesverletzung enthaltenden Tatsachen fordert und es dem Revisionsgericht damit ermöglichen soll, Verfahrensrügen, die diesen Anforderungen nicht genügen, ohne jede weitere Prüfung zu verwerfen. Die Begründung für diese Anforderungen ist, gemessen an der sonstigen Knappheit der Motive, erstaunlich ausführlich und sehr deutlich. Sie sind als Schutz vor „leichtfertigem Gebrauch“ der Revision gedacht und sollen verhindern, dass „die Revisionsgerichte mit frivolen Revisionen überschüttet werden“, da „ein leichtfertiger Gebrauch des Rechtsmittels … nothwendig zu einer Überbürdung“ des Revisionsgerichts „führen müßte“ (S. 205 bzw. 253). Wie sehr auch schon den Gesetzgeber der StPO die Gefahr einer Überlastung des Revisionsgerichts durch eine arbeitsintensive Befassung mit unzureichend substantiierten Verfahrensrügen beschäftigt hat und wie sehr das Gesetz dieser Gefahr vorzubeugen trachtet, zeigt sich auch noch, wenn es an späterer Stelle der Motive zu § 305 StPO a.F. heißt: „In keinem Fall kann es die Aufgabe des Revisionsrichters sein, die Akten behufs Auffindung solcher Thatsachen durchzusehen, welche der aufgestellten Rüge etwa zur Grundlage dienen könnten.“ (S. 206 bzw. 253 f.).

Wandel der Revision

357

Wir brauchen das bisher gezeichnete Bild, das der Gesetzgeber der StPO bei deren Inkrafttreten von der Revision hatte, nicht noch weiter auszumalen. Die bisher gezeichneten Grundlinien reichen aus, nicht nur, um beurteilen zu können, wo sich die Entwicklung der Revision in Ansätzen bewegt, die ihre Wurzel schon in den Vorstellungen des Gesetzgebers der StPO von 1877 haben. Sie reichen auch, um jene Punkte erfassen zu können, in denen die weitere Entwicklung der Revision zu gravierenden Veränderungen der Revision im Vergleich zu den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers geführt hat und es damit zu einem Konzept der Revision gekommen ist, das sich vom ursprünglich intendierten doch deutlich unterscheidet.

2.

Ausweitungen der Revision in ursprünglich für irrevisibel erachtete Bereiche

Keinen Bestand hatte letztlich jene Unterscheidung zwischen revisiblem und irrevisiblem Gebiet, die die Motive der StPO von 1877 geradezu als Besonderheit und als Vorzug der Revision (insbesondere gegenüber der Appellation) herausstreichen: die Unterscheidung zwischen der revisiblen Rechtsfrage und der irrevisiblen Tatfrage (unter Einschluss der Strafzumessung). Mit ihr waren nicht nur die Teile des Strafurteils aus der revisionsgerichtlichen Prüfung herausgenommen worden, an deren Überprüfung vor allem der Angeklagte in der Regel am meisten interessiert ist – weshalb der Revision schon bald der Ruf eines wenig volkstümlichen Rechtsmittels anhaftete.4 Auch in der Wissenschaft und der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung selbst stieß die gesetzliche Distinktion von revisiblem und irrevisiblem Bereich nicht auf die erhoffte und dauerhafte Zustimmung. So finden sich schon bald nach dem Inkrafttreten der RStPO und in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend wissenschaftliche Äußerungen und revisionsgerichtliche Entscheidungen, die sich über die Vorstellungen der Motive hinwegsetzen und auch danach (im Rahmen der Sachrüge) an sich Irrevisibles der revisionsgerichtlichen Prüfung unterwerfen. Im Bereich der Tatsachenfeststellung und der Beweiswürdigung beginnt die Relativierung der These von der Irrevisibilität der Tatfrage – fast zeitgleich mit entsprechenden Äußerungen der wissenschaftlichen Literatur5 –

4 Vgl. Boethke JW 1919, 636; Mannheim, Beiträge zur Lehre von der Revision wegen materiellrechtlicher Verstöße im Strafverfahren (1925), S. 11 f. m.w.N. 5 Vgl. etwa Mezger AcP, Beilageheft zu Band 117 (1918), insbesondere S. 84 f.; Mannheim (Fn. 4), S. 33 ff., 40 f., 58 ff.; etwas später Peters ZStW 57 (1938), 53 (66 ff., insbesondere 70 ff.).

358

Wolfgang Frisch

in der Rechtsprechung der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit Entscheidungen, die die tatrichterliche Auslegung von Gedankenäußerungen, tatrichterliche Beweiswürdigungen und Tatsachenfeststellungen beanstanden, welche gegen die Denkgesetze verstoßen oder mit dem Erfahrungswissen nicht vereinbar sind.6 Bemerkenswert ist dabei, dass das Reichsgericht in solchen Fehlern im Bereich der Tatfrage einen sachlichrechtlichen Fehler sieht. Im Verlaufe der dreißiger Jahre wird die Annahme solcher sachlich-rechtlicher Fehler dann auf Fälle erweitert, in denen der Tatrichter es versäumt hatte, sich im Rahmen der Beweiswürdigung und Tatsachenfeststellung mit (von seinen Folgerungen abweichenden) nahe liegenden anderen Erklärungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen.7 Eine vertiefte Begründung für das Gegebensein sachlich-rechtlicher Fehler in diesen Fällen gibt die Rechtsprechung nicht; es werden vielmehr – auf einer Linie mit der etwa zeitgleich aufkommenden Leistungsmethode8 – einfach auf die Sachrüge hin die inhaltlichen Mängel des Urteils beanstandet, die das Revisionsgericht ohne Weiteres selbst erkennen kann. Der Bundesgerichtshof hielt an dieser – von der Literatur zunächst kaum zur Kenntnis genommenen – Korrektur- und Aufhebungslösung fest. Er geht mittlerweile mit großer Selbstverständlichkeit von einer sachlich-rechtlichen Erörterungs-, Darstellungs- und Begründungspflicht der gesamten Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung aus, deren Nichterfüllung zur Aufhebung des Urteils wegen Lückenhaftigkeit, Unvollständigkeit oder Unklarheit führt.9 Ergänzt wird dieses von der Rechtsprechung entwickelte Instrumentarium zur Überprüfung und Beanstandung tatrichterlicher Beweiswürdigungen und Tatsachenfeststellungen durch spezifische Anforderungen an die Überzeugung des Tatrichters wie z.B. das Erfordernis einer durch die festgestellten Tatsachen begründeten hohen oder erheblichen Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung.10 Auch bei Nichterfüllung dieser Anforderungen beanstandet die Rechtsprechung das tatrichterliche Urteil allein schon auf die Sachrüge hin – obwohl der Begriff der Überzeugung angesichts seiner

Vgl. dazu m.w.N. die Darstellungen bei Fezer, Möglichkeiten (Fn. 1), S. 100 ff., 108 f., 118 ff.; Frisch, FS Eser (2005), S. 264. 7 Vgl. die Überblicke bei Fezer, Möglichkeiten (Fn. 1), S. 105 ff.; Frisch, FS Eser (2005), S. 265. 8 Vgl. dazu Peters ZStW 57 (1938), 53 (70 f.), der sich seinerseits auf KG JW 1929, 885 (Nr. 44) beruft. 9 Eingeh. Nachw. bei Fezer, Möglichkeiten (Fn. 1), S. 130 ff. und SK-StPO/Frisch, 37. Lfg. (2004), § 337 Rn. 118 ff., insbesondere 122, 130, 131. 10 Eingeh. Nachw. der Rspr. und Lit. bei SK-StPO/Frisch (Fn. 9), § 337 Rn. 126 f. sowie Frisch, FS Eser (2005), S. 266. 6

Wandel der Revision

359

Verankerung in § 261 StPO doch ein prozessualer Begriff zu sein scheint. Die Revisionsgerichte überprüfen damit die Beweiswürdigung und die Tatsachenfeststellung heute – abweichend von den Motiven zur StPO – auch ohne entsprechende Verfahrensrüge praktisch auf Klarheit, Folgerichtigkeit, Nachvollziehbarkeit und Vollständigkeit des Gedankengangs sowie die Plausibilität des Ergebnisses. Etwas langsamer und zurückhaltender verlief die Entwicklung zur Revisibilität der Rechtsfolgenentscheidung, insbesondere der Strafzumessung. Aber auch hier wurde die Vorstellung der Motive zur StPO, dass die Strafzumessung (als Teil der Tatfrage) irrevisibel sei, „insofern nur die festgesetzte Strafe innerhalb der vom Gesetz gezogenen Grenzen liegt“, schrittweise relativiert.11 Auch wenn Letzteres der Fall war, wurden doch spätestens zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts tatrichterliche Strafzumessungsentscheidungen vom Reichsgericht beanstandet, die ein Tatbestandsmerkmal nochmals im Rahmen der Strafzumessung verwenden oder sich nicht mit der Frage auseinandersetzen, ob der Strafzweck nicht auch durch die (über die Geldstrafengesetzgebung eröffnete Möglichkeit der) Verhängung einer Geldstrafe erreicht werden kann. Ebenso wurde vom Revisionsgericht überprüft, ob die vom Tatrichter angeführten Erwägungen mit den Strafzwecken vereinbar sind. Später wurde auch beanstandet, dass der Tatrichter für die Strafzumessung bedeutsame Umstände nicht berücksichtigt habe. Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte nach 1945 erweiterte diesen Kanon sachlich-rechtlicher Fehler der Strafzumessung insofern in einem zentralen Punkt, als sie – gestützt auf Vorschriften des Alliierten Kontrollrats – auch die nach den Motiven der StPO dezidiert irrevisible Entscheidung über Art und Höhe der Strafe der revisionsgerichtlichen Kontrolle unterwarf und überprüfte, ob die verhängte Strafe nicht „grausam, übermäßig hoch oder ungerecht“ ist.12 Der Bundesgerichtshof hat die Kontrolldichte der Strafzumessung nochmals gesteigert und in seiner Rechtsprechung allmählich einen umfassenden Katalog sachlich-rechtlicher Fehlerquellen der Strafzumessung entwickelt.13 Er kontrolliert nicht nur, ob die tatrichterliche Entscheidung von den richtigen Strafzwecken ausgeht, ob sie deren Verhältnis richtig sieht, ob sie nicht für die Strafzumessung bedeu-

11 Vgl. dazu die Darstellungen der älteren Rspr. bei Mannheim (Fn. 4), S. 165 ff.; Pohle, Revision und neues Strafrecht (1930), S. 115 ff.; später Bruns, Strafzumessungsrecht (1967), S. 158 ff.; Spendel, Zur Lehre vom Strafmaß (1956), S. 58 ff. 12 Siehe dazu Bruns (Fn. 11), S. 594 ff.; Frisch, FS Eser (2005), S. 267 m.w.N. 13 Eingeh. Darstellung der Rspr. des BGH zur Revisibilität der Strafzumessung bei SKStPO/Frisch (Fn. 9), § 337 Rn. 147, 168 ff.; LR/Hanack, 25. Aufl. (1999), § 337 Rn. 180, 205 ff., 209 ff.

360

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tungslose Umstände fälschlich als bedeutsam erachtet oder relevante Umstände in ihrer Richtung unzutreffend bewertet. Auf die Sachrüge hin geprüft wird auch, ob der Tatrichter im Rahmen der Strafzumessung auf erfahrungsgemäß bedeutsame oder nach Lage des Falles nahe liegende Umstände eingegangen ist; desgleichen, ob der Tatrichter die schärfenden und mildernden Umstände wirklich gegeneinander abgewogen hat. In den letzten drei Jahrzehnten ist der Bundesgerichtshof über diese intensive Kontrolle der meisten Teilphasen des komplexen Strafzumessungsvorgangs noch einen entscheidenden Schritt hinausgegangen. Zwar bezeichnet er die Entscheidung über die Art und Höhe der Strafe in einem Letztbereich noch immer als „Sache des Tatrichters“. Entscheidungen, die aus dem Rahmen des (nach Ansicht des Bundesgerichtshofs!) Vertretbaren herausfallen, insbesondere Strafmaßentscheidungen, die ohne tragfähige Begründung von den für bestimmte Sachverhalte üblichen Strafen stark abweichen oder nicht mehr als gerechter Ausgleich für das Maß des verschuldeten Unrechts gelten können, werden vom Bundesgerichtshof inzwischen aber in ständiger Rechtsprechung als sachlich-rechtlich fehlerhaft beanstandet.14 Wir brauchen das Bild auch hier nicht weiter zu verfeinern. Die vorstehenden Darlegungen zeigen, dass sich die Rechtsprechung in der revisionsgerichtlichen Behandlung der Tatsachenfeststellung, der Beweiswürdigung und der Strafzumessung weit von den Vorstellungen der Motive zur StPO entfernt hat. Mit ihrer eingehenden Überprüfung der Beweiswürdigung, der Tatsachenfeststellung und der Strafzumessung schon auf die allgemeine Sachrüge hin hat die Rechtsprechung Bereiche des tatrichterlichen Urteils der revisionsgerichtlichen Kontrolle unterworfen, die nach der Auffassung des Gesetzgebers der StPO von 1877 irrevisibel sein und allenfalls (so die Tatsachenfeststellung) wegen eines Fehlers im Verfahren sollten angefochten werden können. Durch diesen Wandel der Revision im Wege der Rechtsfortbildung ist die Revision in einem Maße erweitert worden, dass den Bestrebungen, die Revision durch ein weiter gefasstes Rechtsmittel der „Urteilsrüge“ zu ersetzen,15 praktisch die Grundlage entzogen wurde. Freilich ist diese Entwicklung der Revision in den Bereich des ursprünglich als irrevisibel Gedachten nur die eine Seite des Wandels der Revision. Es gibt – wie Gerhard Fezer jüngst selbst festgestellt hat16 – auch eine Kehrseite:

Eingeh. Nachw. dazu bei SK-StPO/Frisch (Fn. 9), § 337 Rn. 158, 174–176 und Maurer, Komparative Strafzumessung (2005), S. 120 ff. 15 Siehe dazu Fezer, Reform der Rechtsmittel im Strafverfahren (1974), S. 36 ff., 41 ff., 56 f. 16 Vgl. Fezer, FS Otto (2007), S. 902 f. 14

Wandel der Revision

361

gegenläufige Entwicklungen, die auf eine Einschränkung des nach den Motiven revisiblen Bereichs hinauslaufen.

3.

Einschränkungen der Revisibilität im Vergleich zu den Vorstellungen des Gesetzgebers der StPO

Einschränkungen der Revisibilität in jenem Bereich, der logisch der Rechtsfrage zuzuordnen ist und nach den Motiven der StPO von 1877 eigentlich Gegenstand der revisionsgerichtlichen Kontrolle sein sollte, finden sich schon in den ersten Jahrzehnten der reichsgerichtlichen Judikatur. Sie betreffen die Revisibilität des materiellen Rechts, mehr noch freilich die des Verfahrensrechts. Sie sind im Laufe der Zeit nicht kleiner, sondern eher deutlich größer geworden. Niederschläge solcher Relativierungen der Revisibilität der logischen Rechtsfrage finden sich in der revisionsgerichtlichen Judikatur schon bald nach dem Inkrafttreten der StPO. Sie betreffen Begriffe, die wir heute als unbestimmte Rechtsbegriffe bezeichnen würden, und hier wieder insbesondere stark normative Begriffe. Die Anwendung derartiger Begriffe wird von den Revisionsgerichten nur begrenzt überprüft.17 Die Revisionsgerichte prüfen zwar, ob der Tatrichter vom richtigen Begriffsverständnis, von zutreffenden Maßstäben, also von der richtigen Auslegung ausgegangen ist und die für die Anwendung des Begriffs maßgebenden Kriterien und Gesichtspunkte beachtet hat. Die Konkretisierung dieser Maßstäbe auf den Einzelfall wird dann aber nur noch begrenzt überprüft und bleibt unbeanstandet, wenn sie nachvollziehbar und vertretbar ist. Diese Einschränkung der vollen Revisibilität, die sich bei einer Reihe materiell-rechtlicher wie prozessualer Begriffe findet, wird zum Teil damit begründet, dass es sich insoweit um Fragen des Einzelfalles und in diesem Sinn um Tatfragen handele, zum Teil mit der Beschränkung der Revision auf die Rechtseinheit betreffende Fragen oder unter Hinweis auf die Struktur dieser Begriffe als Ermessensbegriffe gerechtfertigt. Unter dem Eindruck der Kritik an dieser Judikatur18 hat der Kreis dieser nur begrenzt revisiblen Begriffe nicht unerheblich geschwankt und war eine gewisse Zeit sogar praktisch bedeutungslos geworden. Die letzten Jahre haben insoweit jedoch eine deutliche Wen-

Vgl. die Darstellungen bei Mannheim (Fn. 4), S. 85 ff.; Peters ZStW 57 (1938), 53 (73 ff.) und Pohle (Fn. 11), S. 6 ff. mit Entscheidungen auf S. 109 ff. 18 Erwähnenswert etwa Mannheim (Fn. 4), S. 85 ff.; Drost, Das Ermessen des Strafrichters (1930), S. 67 ff.; Pohle (Fn. 11), S. 56 ff.; siehe auch die spätere zusammenfassende Darstellung bei Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht (1962), S. 13 ff., 19 ff. 17

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de gebracht. Der Bundesgerichtshof gesteht dem Tatrichter inzwischen bei der Anwendung einer wachsenden Zahl von Begriffen des materiellen Rechts und des Prozessrechts sowie bei der Beantwortung bestimmter Fragen (etwa der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, von Tun und Unterlassen, der verminderten Zurechnungsfähigkeit einer Person) einen Beurteilungsspielraum zu.19 Ähnlich wie in der älteren reichsgerichtlichen Rechtsprechung wird die tatrichterliche Entscheidung hierbei zwar daraufhin überprüft, ob sie von der richtigen Auslegung und den maßgebenden Kriterien ausgegangen ist. Eine vertretbare Konkretisierung dieser zutreffenden Maßstäbe und Kriterien bleibt jedoch unbeanstandet, auch wenn das Revisionsgericht sie selbst möglicherweise anders vorgenommen hätte. Abgesehen von dieser sowohl das materielle Recht als auch das Prozessrecht ergreifenden Einschränkung der Revisibilität betreffen die revisionsgerichtlichen Einschränkungen der Revisibilität praktisch durchweg die auf die Verletzung des Verfahrensrechts gestützte Revision. Hier haben die Revisionsgerichte die Revisibilität schon bald nach dem Inkrafttreten der StPO dadurch beschränkt, dass sie eine Reihe von Vorschriften überhaupt für ungeeignet erklärten, die Revision zu begründen. Die Vorstellung der Motive zur StPO, dass „grundsätzlich keine Prozeßvorschrift von der Begründung der Revision ausgeschlossen“ sei, wurde von der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung also schon bald relativiert. Zur Begründung beriefen die Revisionsgerichte sich darauf, dass es sich bei den für irrevisibel erachteten Normen um bloße Soll- oder Ordnungsvorschriften handele.20 Die Extension dieser Soll- und Ordnungsvorschriften, die zeitweise sehr erheblich war, hat unter dem Eindruck der Kritik an dieser Normenkategorie sehr geschwankt. Manche der zunächst als Ordnungsvorschriften aufgefassten Normen, wie z.B. die Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten über sein Schweigerecht, haben später eine Rehabilitation erfahren; die genannte Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten etwa ist später vom Bundesgerichtshof als Ausdruck elementarer rechtsstaatlicher Prinzipien anerkannt worden. Insgesamt ist der Kreis der irrevisiblen Sollvorschriften und so genannten Ordnungsvorschriften damit im Verhältnis zur Blütezeit dieser

Vgl. dazu den Überblick bei SK-StPO/Frisch (Fn. 9), § 337 Rn. 90 f., 110 ff. mit eingeh. Nachw. der Rspr. und des neueren Schrifttums. 20 Näher dazu mit Überblick über die Rspr. und Nachw. der Lit. SK-StPO/Frisch (Fn. 9), § 337 Rn. 39 ff. 19

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Figur deutlich kleiner geworden. Ganz aufgegeben ist die Kategorie indessen durchaus noch nicht.21 Aber auch in Bezug auf die Verfahrensnormen, deren Verletzung an sich mit der Revision gerügt werden kann, hat die Rechtsprechung der Revisionsgerichte Einschränkungen der Revisibilität entwickelt. Die Rüge der Verletzung bestimmter Verfahrensvorschriften im Wege der Revision ist danach ausgeschlossen, wenn vom Revisionsführer erwartet werden durfte und musste, dass er den Verfahrensverstoß bereits im tatrichterlichen Verfahren geltend macht. Angenommen wird das vor allem in Bezug auf Verfahrensverstöße, die der Revisionsführer mit dem Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO hätte geltend machen können (also angeblich verfahrensfehlerhafte Sachleitungsanordnungen des Vorsitzenden);22 aber auch der Gedanke, dass der Revisionsführer die Rüge in bestimmten Fällen verwirkt habe oder dass ein Verhalten in der Tatsacheninstanz als Rügeverzicht verstanden werden müsse, spielt eine Rolle.23 Immer größere praktische Bedeutung erlangt diese Variante der Einschränkung der Verfahrensrevision durch das Erfordernis der Geltendmachung von Verfahrensrügen bereits im Verfahren vor dem Tatrichter in der neueren revisionsgerichtlichen Rechtsprechung in Gestalt der so genannten Widerspruchslösung.24 Der Revisionsführer wird danach mit der Rüge, der Tatrichter habe bestimmte Beweismittel wegen deren verfahrensfehlerhafter Gewinnung nicht verwerten dürfen, nicht mehr gehört, wenn er es in der tatrichterlichen Verhandlung versäumt hat, der Verwertung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu widersprechen. Auch bei den meisten dieser Einschränkungen kann die revisionsgerichtliche Rechtsprechung sich kaum auf entsprechende Ansätze im ursprünglichen Konzept der Revision berufen. Die Motive zur StPO sprechen andeutungsweise nur den Fall an, in dem das prozessuale Verhalten des Beschwerdeführers als Verzicht auf die Geltendmachung eines Verfahrensverstoßes anzusehen ist.25

Vgl. als Beleg dafür nur die aktuelle Diskussion um die Bedeutung des § 268 Abs. 3 S. 2 StPO, in der der 5. Senat die Vorschrift nur noch als Ordnungsvorschrift einstufen will (BGH NJW 2007, 96). 22 Überblick über die einschlägige Rspr. und Nachw. der Lit. bei SK-StPO/Frisch (Fn. 9), § 337 Rn. 27, 216 f. 23 Siehe dazu m.w.N. der Rspr. und Lit. SK-StPO/Frisch (Fn. 9), § 337 Rn. 206 ff. (Verzicht) und 220 ff. (Verwirkung). 24 Dazu näher mit Nachw. der Rspr. und Lit. SK-StPO/Frisch (Fn. 9), § 337 Rn. 218 f. 25 Vgl. die Motive (Fn. 3), S. 203 bzw. 251 (im Zusammenhang des Beruhenserfordernisses). 21

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Zumindest de facto auf eine Einschränkung (der Erfolgsmöglichkeiten) der Revision läuft auch eine weitere Entwicklung im Rahmen der Verfahrensrevision hinaus. Die revisionsgerichtliche Rechtsprechung hat die Anforderungen an die ordnungsgemäße Begründung der Verfahrensrevision in den letzten Jahrzehnten zunehmend verschärft. Den vorläufigen Höhepunkt in dieser Entwicklung bildet die Forderung nach Angabe auch der so genannten Negativtatsachen.26 Sie zwingt den Revisionsführer, der die Verwerfung seiner Rüge als unzulässig vermeiden will, nicht nur die Tatsachen anzugeben, die üblicherweise einen Verfahrensverstoß darstellen, sondern auch noch darzulegen, dass Umstände, die einen Verfahrensfehler in derartigen Fällen ausschließen können, nicht gegeben waren; desgleichen, dass er (der Revisionsführer) gewisse vor der Erhebung der Revisionsrüge zu erfüllende Anforderungen (wie z.B. die Erhebung eines Widerspruchs) erfüllt habe. Auch diese Verschärfung der Anforderungen an den Inhalt der Revisionsbegründung dürfte wohl jenseits dessen liegen, was sich der Gesetzgeber der StPO an notwendiger Begründung der Revision vorgestellt hat. Dementsprechend ist anzunehmen, dass heute manche Verfahrensrüge schon als unzulässig, weil nicht ordnungsgemäß erhoben scheitert, die nach den Vorstellungen des Gesetzgebers der RStPO wohl in die Begründetheitsprüfung gelangt wäre (und hier vielleicht sogar Erfolg gehabt hätte). Eingeschränkt worden sind die Erfolgsaussichten der Verfahrensrüge endlich aber auch durch Entwicklungen zur Begründetheit der Verfahrensrüge. Bei den relativen Revisionsgründen hat man den Eindruck, dass die Revisionsgerichte die früher meist sehr großzügige, fast leerformelhaft gehandhabte Beruhensprüfung in den letzten Jahrzehnten kritischer vornehmen und mehr als früher Gründe anführen, derentwegen sich der Verfahrensverstoß nach ihrer Ansicht auf die Entscheidung nicht ausgewirkt hat.27 Bei den absoluten Revisionsgründen verdient in diesem Zusammenhang eine unter dem Stichwort „Relativierung der absoluten Revisionsgründe“ diskutierte Entwicklung Aufmerksamkeit.28 Sie läuft, grob gesprochen, auf eine Reduzierung der Extension und der Wirkmacht der absoluten Revisionsgründe

26 Überblick über die einschlägigen Anforderungen der Rspr. bei SK-StPO/Frisch, 50. Lfg. (2006), § 344 Rn. 57 ff.; krit. zur Rspr. u.a. Fezer, FS Hanack (1999), S. 346 ff.; MüllerJacobsen, FS zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesanwaltskammer (2006), S. 411 ff.; SK-StPO/Frisch, a.a.O., § 344 Rn. 61 ff. 27 Ebenso Fezer, FS Otto (2007), S. 902 f.; Hamm, FS Dahs (2005), S. 273 f. 28 Überblick über derartige Relativierungen von absoluten Revisionsgründen und die dafür seitens der Rspr. gegebenen Begründungen bei SK-StPO/Frisch, 42. Lfg. (2005), § 338 Rn. 3 f., 17 f.; Kuckein StraFo 2000, 397 ff.; Mehle, FS Dahs (2005), S. 386 ff. und Widmaier, in: Ebert (Fn. 1), S. 77 ff.

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hinaus. Bewirkt wird diese Abschwächung zum einen dadurch, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der absoluten Revisionsgründe restriktiv verstanden werden (etwa die Verletzung der Zuständigkeitsvorschriften auf die Sachverhalte der Entziehung des gesetzlichen Richters reduziert wird). Zum anderen zeigt sich die Tendenz, gewissen erfassten Verstößen dann die aufhebende Wirkung zu versagen, wenn eine Auswirkung des Verstoßes auf den Inhalt der Entscheidung denkgesetzlich ausgeschlossen erscheint. Jedenfalls in dieser letzteren Vorgehensweise hat sich die Rechtsprechung von den Vorstellungen des Gesetzgebers der StPO entfernt, der bei einer Verletzung der als „absolut wesentlich“ angesehenen Vorschriften „jeden Zweifel darüber ausschließen“ wollte, „daß eine Verletzung derselben stets die Aufhebung des Urtheils nach sich ziehe“ (S. 203 bzw. 251 der Motive). Wir brauchen das Bild auch hier nicht weiter auszuziselieren. Schon die bisherigen Darlegungen zeigen sehr deutlich, dass die revisionsgerichtliche Rechtsprechung vor allem die Verfahrensrüge im Laufe der Zeit sehr stark eingeschränkt und durch gesteigerte Anforderungen an ihre Zulässigkeit und Begründetheit ihre Erfolgsaussichten zusätzlich verschlechtert hat. Nur wenige dieser Veränderungen haben Ansätze in den Vorstellungen des Gesetzgebers der RStPO von 1877.

4.

Die Folgen der konzeptionellen Veränderungen

Das Bild ist nach allem ambivalent. Die Sachrüge, deren Bedeutung nach den Vorstellungen des Gesetzgebers der RStPO mit der Beschränkung auf die Rechtsfrage im logischen Sinn nach den rechtstheoretischen Vorstellungen der damaligen Zeit durchaus begrenzt war, hat durch die Erstreckung auf Fehler bei der Beweiswürdigung, der Tatsachenfeststellung und der Strafzumessung schon aus theoretischer Sicht einen gewichtigen Bedeutungszuwachs erhalten. Dagegen hat die ursprünglich gleichgewichtig neben der Sachrüge angeführte Verfahrensrüge im Laufe der Zeit fast nur verloren: Sie ist durch vielfältige justizielle Einschränkungen und Anhebungen ihrer Zulässigkeits- und Begründetheitsanforderungen so verändert worden, dass sie schon aus theoretischer Sicht nur begrenzt Erfolg haben kann. Die Statistik bestätigt das, was aus theoretischer Sicht nahe liegt: Die praktische Bedeutung der Verfahrensrüge ist außerordentlich gering.29 We-

29 Vgl. zum Folgenden Nack NStZ 1997, 153 ff.; Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen (1999), S. 268 ff.; SK-StPO/Frisch, 31. Lfg. (2003), Vor § 333 Rn. 26 f. m.w.N.

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niger als 1% der erhobenen Verfahrensrügen haben in der Revisionsinstanz Erfolg. Demgegenüber liegt der Erfolg der Sachrüge bei etwa 9% der insgesamt erhobenen Sachrügen. Von zehn erfolgreichen Rügen sind zudem neun Sachrügen, allenfalls eine von zehn Aufhebungen geht auf das Konto einer Verfahrensrüge. Bemerkenswert ist aber auch die Aufteilung der Beanstandungsgründe innerhalb der erfolgreichen Sachrüge. Hier bilden Beanstandungen der Strafzumessung mit etwa 42% der sachlich-rechtlichen Aufhebungsgründe die mit Abstand stärkste Gruppe; Beanstandungen der Beweiswürdigung und der Tatsachenfeststellung machen etwa 14% der Aufhebungen auf Grund der Sachrüge aus; bei den restlichen sachlichrechtlich fundierten Aufhebungen handelt es sich um Fehler bei der Anwendung der Vorschriften des Allgemeinen Teils (hier über 50 % Fehler bei den Konkurrenzen) und des Besonderen Teils. Mehr als die Hälfte aller sachlich-rechtlich fundierten Beanstandungen und Aufhebungen betreffen also jene Bereiche, die dem Revisionsgericht nach der Auffassung der Motive zur StPO im Rahmen der Sachrüge verschlossen sein sollten und bei denen allenfalls die Verfahrensrüge Zugriffsmöglichkeiten sollte eröffnen können. Es ist nicht verwunderlich, dass diese gravierende Veränderung der Revision gegenüber den Vorstellungen des Gesetzgebers von 1877 unterschiedlich beurteilt wird.30 Noch nicht einmal die Ausweitung der sachlichrechtlichen Revision wird durchweg positiv beurteilt; schon bei den sie an sich Begrüßenden finden sich Zweifel, ob die Rechtsprechung nicht die Grenzen des Gesetzes überschritten habe. Andere sprechen das im Sinne scharfer Kritik ganz nachdrücklich aus. Die von der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Eingriffsmöglichkeiten missachteten die vom Gesetzgeber vorgesehene Verantwortungsverteilung zwischen Tat- und Revisionsrichter und seien (in Gestalt der Qualifikation von Mängeln der Beweiswürdigung und der Tatsachenfeststellung als sachlich-rechtliche Fehler) zudem rechtstheoretisch nicht hinreichend fundiert; sie hätten wegen des insoweit unterschiedlichen Vorgehens der Revisionsgerichte auch zu Uneinheitlichkeiten und zur Unberechenbarkeit der Revision geführt. Gegenstand harscher Kritik ist naheliegenderweise aber vor allem die Entwicklung der Verfahrensrüge. Ihre geringe Bedeutung sei die Folge einer revisionsgerichtlichen Rechtsprechung, die die Verfahrensrüge durch immer neue Einschränkungen und verschärfte Anforderungen ohne gesetzliche Grundlage letztlich so eingeengt und erschwert habe, dass sie neben der –

Überblick über die Kommentare des Schrifttums m.w.N. bei SK-StPO/Frisch (Fn. 29), Vor § 333 Rn. 12 und Frisch, FS Eser (2005), S. 269 ff. 30

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zusätzlich konterkarierend wirkenden – problematisch ausgeweiteten Sachrüge praktisch bedeutungslos geworden sei. Eine Rechtsprechung, die sich solch harscher Kritik aussetzt und an ihrem Kurs trotz dieser Kritik festhält, tut dies nicht ohne Grund. Über diesen Grund oder besser die Gründe und Hintergründe der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung wird in der prozessualen Diskussion erstaunlich wenig reflektiert, allenfalls wird der eine oder andere Aspekt kurz gestreift. Nicht selten wird der Eindruck erweckt, die Revisionsgerichte hätten hier Maßnahmen ergriffen, die sie genauso hätten unterlassen können – und besser hätten unterlassen sollen. Der Blick ist bei alledem isoliert auf das Subsystem des Strafprozesses gerichtet. Die Frage nach dem geistigen und gesellschaftlichen Hintergrund der Entwicklungen des Prozessrechts wird nur selten gestellt und untersucht.31 Ohne diesen Blick auf den Hintergrund, das geistige Klima und den gesellschaftlichen Wandel ist indessen eine sinnvolle und objektive Beurteilung des Vorgehens der Rechtsprechung nicht möglich. Zwar bildet die Kenntnis dieser Gründe und Hintergründe noch nicht die vollständige Grundlage für die Beantwortung der Frage nach der Sachgerechtigkeit der revisionsgerichtlichen Entwicklungen. Auch Fragen der Vereinbarkeit dieser Entwicklungen mit dem Gesetzestext und Fragen der kategorialen Zuordenbarkeit (etwa bestimmter Fehler) spielen eine Rolle. Aber im Kern sind es doch die Gründe, die für bestimmte Vorgehensweisen sprechen, welche darüber entscheiden, ob bestimmte Flexibilitäten des Gesetzes ausgenutzt werden dürfen und sollen und ob Institutionen im Wege der Rechtsfortbildung weiterentwickelt werden dürfen oder sogar müssen. Es gibt Gründe, die im Kontext der rechtlichen Gesamtordnung und ihrer Grundwerte so bedeutsam sind, dass es praktisch unausweichlich erscheint, ihnen im Wege der Rechtsfortbildung Rechnung zu tragen. Andere sind doch zumindest so, dass sie eine solche Rechtsfortbildung rechtfertigend tragen. Aus dem bisher Gesagten folgt, dass unter rechtstheoretischem und rechtssoziologischem Aspekt zu kurz fasst, wer glaubt, den Stab über die Rechtsprechung der Revisionsgerichte schon mit dem Hinweis auf die anderen Vorstellungen des Gesetzgebers von 1877 (über die Verantwortungsbereiche von Tatrichter und Revisionsrichter) brechen zu können. Die Vorstellungen des historischen Gesetzgebers sind nicht unwichtig, aber sie sind keine Ikone. Recht ist kein Produkt, das statisch, unveränderlich ist – so bleiben muss, wie sich der historische Gesetzgeber das zeitgebunden vorge-

Vgl. allerdings die Arbeit von Braum, Geschichte der Revision im Strafverfahren von 1877 bis zur Gegenwart (1996), insbes. S. 106 ff., 119 ff. 31

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stellt hat. Recht ist abhängig vom Zustand der Gesellschaft, deren Wertvorstellungen und Erwartungen.32 Es verändert sich mit deren Änderung, wobei diese Veränderung bei entsprechender Flexibilität des Gesetzestextes auf der Basis einer veränderten Interpretation oder eines veränderten begrifflichen Verständnisses, sonst im Wege zulässiger Rechtsfortbildung oder der Änderung des Gesetzestextes selbst erfolgt. Diesen Zusammenhängen kann sich auch eine verantwortungsbewusste revisionsgerichtliche Rechtsprechung nicht entziehen. Suchen wir also nach den Gründen, die hinter dem Wandel der Revision stehen.

II. Die zur Erweiterung der Sachrevision führenden geistigen Strömungen 1.

Neue rechtstheoretische Einsichten zur Tat- und Rechtsfrage

Natürlich liegt ein wesentlicher Grund für die sich schrittweise vollziehende Erweiterung der Sachrevision in neu gewonnenen rechtstheoretischen Einsichten, insbesondere zum Ausmaß der Rechtsfrage. Die Motive zur StPO verwenden zwar die Distinktion von Rechtsfrage und Tatfrage zur Abgrenzung des revisiblen vom irrevisiblen Gebiet. Aber die Begriffe waren zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der StPO noch wenig ausgearbeitet. Insbesondere der Anteil der Rechtsfrage (und der Tatfrage) an den damals noch wenig erforschten unbestimmten Begriffen und den viel gebrauchten so genannten Ermessensbegriffen war wenig klar. Die Pauschalverweisung der Strafzumessung in den Bereich der Tatfrage ist dafür ein deutliches Beispiel. Hinzu kommt, dass der Begriff der Tatfrage ganz unterschiedlich verwendet wurde; einmal war er als Ausdruck des tatsächlichen Charakters einer Aussage gedacht, ein anderes Mal zur Bezeichnung dessen, dass es sich um eine Frage des Einzelfalles handele.33 Diese Schwankungen und Unsicherheiten spiegeln sich deutlich in den ersten Jahrzehnten der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung, etwa wenn die Konkretisierung vieler unbestimmter Begriffe auf die Umstände des Einzelfalles als Tatfrage für irrevisibel erklärt wurde. Diese Begriffsvermengungen und Scheinbegründungen wurden in der schon bald nach dem Inkrafttreten der StPO und der ZPO einsetzenden

Siehe dazu auch Frisch, FS Jung (2007), S. 189 ff.; ders., FS Jakobs (2007), S. 97 ff. In der Lit. wurde diese unterschiedliche Verwendung des Begriffs immer wieder gerügt (vgl. z.B. Mannheim [Fn. 4], S. 73 f.). 32 33

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intensiven Diskussion über die Revision und die Begriffe der Tat- und Rechtsfrage sehr rasch aufgedeckt und kritisiert. Zugleich kam es vor allem in den ersten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer Reihe eingehender Untersuchungen über die Struktur der unbestimmten Begriffe, des Ermessens und hier insbesondere auch der Strafzumessung.34 An dieser Diskussion beteiligten sich nicht nur Strafrechtler, sondern auch Zivilrechtler, Rechtstheoretiker und Öffentlichrechtler. Spätestens zu Beginn der dreißiger Jahre waren die wesentlichen Strukturfragen der unbestimmten Rechtsbegriffe, der Ermessenbegriffe und der richterlichen Strafzumessung in grundsätzlicher Hinsicht geklärt. Praktisch alle Untersuchungen waren dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Anwendung unbestimmter und normativer Begriffe auch insoweit Rechtsfrage ist, als es – jenseits der allgemeinen Auslegung – um die Begriffskonkretisierung auf den Einzelfall geht. Zugleich hatten die auf die Untersuchung des Ermessens und der Strafzumessung gerichteten Arbeiten ergeben, dass auch in den verschiedenen Phasen des Strafzumessungsvorgangs rechtliche Maßstäbe (etwa die Strafzwecke, gesetzliche Vorwertungen zu Tatbestandsmerkmalen, allgemeine rechtliche Grundsätze usw.) zur Bewertung von Tatsachen notwendig sind und verwertet werden. Die Zuordnung der Strafzumessung zur Tatfrage seitens der Motive war damit klar als rechtstheoretischer Irrtum des Gesetzgebers der StPO von 1877 erkannt. Natürlich hat es eine gewisse Zeit gebraucht, bis dieser Wandel in den rechtstheoretischen Einsichten Einfluss auf die revisionsgerichtliche Praxis gewann. Außerdem war mit der Einsicht in die strukturelle Zugehörigkeit gewisser Fragen zur Rechtsfrage im logischen Sinne noch nicht zwingend ausgemacht, dass diese Fragen dann auch voll revisibel sein müssten. Es kann Gründe geben, die es sinnvoll erscheinen lassen oder vielleicht sogar erzwingen, auch für strukturell zur Rechtsfrage gehörende Fragen die Kontrolle des Revisionsgerichts zu begrenzen. Aber im Laufe der Jahrzehnte haben sich die richtigen rechtstheoretischen Einsichten doch mehr und mehr durchgesetzt. Das hat zugleich dazu geführt, dass hinsichtlich verbleibender Einschränkungen der Rechtsfrage klarer gesehen und diskutiert werden konnte, welche Gründe eine Einschränkung der Revisibilität nahe legen – etwa eine in bestimmten Bereichen weniger plastische Tatsachenbasis des

34 Vgl. etwa Drost (Fn. 18), S. 13 ff.; Mannheim (Fn. 4), S. 75 ff., 82 ff., 146 ff.; Peters, Die kriminalpolitische Stellung des Strafrichters bei der Bestimmung der Strafrechtsfolgen (1932), insbes. S. 45 ff., 93 ff.; Pohle (Fn. 11), S. 58 ff.; weit. Nachw. der älteren Diskussion bei Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung (1971), S. 116 ff. und Warda (Fn. 18), S. 15 ff., 81 ff.

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Revisionsgerichts bei zugleich gegebener Vertretbarkeit der tatrichterlichen Konkretisierung – und inwieweit das der Fall ist.

2. Änderungen in den geistigen Grundanschauungen, dem Rechtsverständnis und den Vorstellungen über die Aufgaben des Rechtsanwenders Freilich erklären die Wandlungen der rechtstheoretischen Einsichten zur Tat- und Rechtsfrage nur einen Teil der Erweiterungen der sachlichrechtlichen Revision, nämlich die Erweiterung der Revisibilität der Anwendung unbestimmter Begriffe und der Strafzumessung. Genau genommen bilden sie selbst insoweit sogar nur eine notwendige Bedingung und reichen zur Erklärung des heutigen Ausmaßes der Revisibilität dieser Bereiche nicht. Es musste erst auch noch die Kraft des Dogmas gebrochen werden, dass die Revision auf die Aufgabe der Wahrung der Rechtseinheit und damit – unter Ausklammerung der Fragen des Einzelfalls – auf grundsätzliche Fragen beschränkt sei,35 um insoweit zum heutigen Umfang der Revisibilität zu gelangen. Hinsichtlich der zweiten wesentlichen Erweiterung der sachlich-rechtlichen Revision – deren Erstreckung auf die Prüfung auch der Beweiswürdigung und der Tatsachenfeststellung – taugen die neuen rechtstheoretischen Einsichten zur Rechts- und Tatfrage von vornherein nicht als Erklärung. Denn daran, dass die Feststellung jener Tatsachen, die den tatsächlichen Unterbau der sachlich-rechtlichen Entscheidung bilden, und die zu ihnen führende Beweiswürdigung in logischer Hinsicht zur Tatfrage gehören, rüttelten auch die meisten Untersuchungen zur Revision und zur Tat- und Rechtsfrage nicht. Zwar gab es in dieser Diskussion auch Stimmen, die – nicht zu Unrecht – darauf hinwiesen, dass das Gesetz selbst (anders als die Motive zur StPO) die Begriffe Tat- und Rechtsfrage gar nicht verwende, sondern nur eine Gesetzesverletzung verlange und dass von einer solchen, und zwar durchaus im Sinne einer fehlerhaften Anwendung des sachlichen Rechts, auch gesprochen werden könne, wenn das sachliche Recht auf einen fehlerhaften Sachverhalt angewandt wird.36 Aber diese Stimmen blieben doch eine Minderheit – zumindest zunächst. Es bedurfte schon neuer, erheblicher Kräfte, um dieser zudem gar nicht sehr vertieft

Nachw. zu Vertretern dieser These bei Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts (1935), zitiert nach 2. Aufl. (1960), S. 26 ff. 36 Vgl. z.B. Stein, Das private Wissen des Richters (1893), S. 109, 120; weit. Nachw. bei Mannheim (Fn. 4), S. 34. 35

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begründeten Auffassung gegen die transparente und formal-logisch fundierte Distinktion von Tat- und Rechtsfrage zum Durchbruch zu verhelfen. Eben diese Kräfte bildeten sich nun freilich, und zwar schon bald nach dem Inkrafttreten der StPO. Sie erwuchsen aus der Kritik an dem die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beherrschenden Rechtsverständnis des Rechtspositivismus.37 Dessen Grundannahme, dass Recht unabhängig von seinem Inhalt all das sei, was der Gesetzgeber in einem bestimmten Verfahren erlassen hat, erschien zunehmend als ein Zerrbild des Rechts. Nicht weniger kritikwürdig erschien vielen das dieses Rechtsverständnis flankierende Verständnis von der Aufgabe des Rechtsanwenders und der Rechtswissenschaft, das in der bloßen Explikation der gesetzlichen Aussagen und der Gliederung der Gesetzesbegriffe liegen sollte. In größere Zusammenhänge eingeordnet, ist diese Kritik am Rechtsverständnis des Rechtspositivismus und der so genannten Begriffsjurisprudenz ein Teil jener umfassenderen geistigen Strömung, die sich gegen den wissenschaftlichen Positivismus des neunzehnten Jahrhunderts wendete, also gegen jene geistige Grundauffassung, die nur das gelten lassen wollte (und als geeigneten Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung ansah), was wahrnehmbar und messbar, mit naturwissenschaftlichen Begriffen beschreibbar war. Demgegenüber richteten die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aufkommenden geistigen Strömungen,38 wie etwa der Neukantianismus, die Südwestdeutsche Schule der Rechtsphilosophie und die materiale Wertethik, ihr Interesse wieder verstärkt auf ideelle Gehalte, auf die Welt der Werte und die insoweit geltenden Regeln. Diese allgemeine geistige Grundeinstellung strahlte notwendigerweise auch auf das Rechtsverständnis und den dazu stattfindenden Diskurs aus. In der Rechtsphilosophie und der rechtlichen Grundlagendiskussion wurden die Identifizierung von Gesetz und Recht aufgehoben und die Verpflichtung des Rechts auf die Rechtsidee und gewisse rechtliche Grundwerte betont.39 Damit änderte sich zugleich das Bild von der Aufgabe und der Rolle des

Siehe dazu und zum Folgenden z.B. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. (1991), S. 92 ff.; Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. (1962), S. 183 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. (1967), S. 586 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, 3. Aufl. (2007), Rn. 575 ff.; Strömholm, Kurze Geschichte der abendländischen Rechtsphilosophie (1991), S. 263 ff. 38 Siehe dazu die Überblicke bei Hirschberger, Geschichte der Philosophie, 2. Teil, 11. Aufl. (1982), S. 535 ff. (Neukantianismus), 600 ff., 612 f. (materiale Wertethik); Larenz (Fn. 37), S. 92 ff.; auch Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte (1962), S. 103 f. 39 Vgl. etwa Radbruch, Rechtsphilosophie (zitiert nach der von E. Wolf besorgten 6. Aufl. [1963]), S. 123 f. 37

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Rechtsanwenders: Für ein auf die Verwirklichung der Rechtsidee verpflichtetes Rechtsverständnis muss auch der Rechtsanwender auf die Rechtswerte verpflichtet sein – zweifelhaft kann nur sein, was dies im Falle der Kollision dieser Werte mit dem klaren Gesetzeswillen bedeutet. Der eben skizzierte Wandel im Grundverständnis des Rechts und der Aufgabe des Rechtsanwenders blieb nun freilich im rechtlichen Diskurs nicht auf die Rechtsphilosophie und die rechtliche Grundlagendiskussion beschränkt. Er ergriff als geistige Strömung, fast möchte man sagen als eine Art rechtlicher Zeitgeist, bald mehr oder weniger alle Bereiche des Rechts. Im Zivilrecht etwa formierte sich die neue Grundeinstellung in den verschiedenen Richtungen der Interessenjurisprudenz und später insbesondere der Wertungsjurisprudenz. Im Strafrecht begann die Phase der normativierenden Strafrechtswissenschaft.40 Grundbegriffe wie z.B. der Begriff der Schuld wurden nicht mehr psychologisch, sondern normativ, wertend im Sinne des Urteils der Vorwerfbarkeit verstanden. In der Beteiligtenlehre ebenso wie bei der Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch verfielen formale Abgrenzungen und mussten materialen Kriterien Platz machen. In der Lehre von der Rechtswidrigkeit und der Schuld wurden unter Rückgriff auf Grundeinsichten der Wertlehre übergesetzliche Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe entwickelt. All das blieb nicht auf die wissenschaftliche Diskussion beschränkt, sondern ergriff auch die Judikatur – das wohl augenfälligste Beispiel dafür ist der just in dieser Zeit vom Reichsgericht praeter legem entwickelte so genannte übergesetzliche rechtfertigende Notstand.41 Es liegt auf der Hand, dass sich dieser breiten geistigen Strömung die Revisionsgerichte auch bei ihrer Handhabung der Revision nicht entziehen konnten. War das Recht insgesamt auf die Rechtsidee und insbesondere auf den Rechtswert der Gerechtigkeit verpflichtet und hatte der Rechtsanwender an der Verwirklichung der Rechtswerte, also auch der Gerechtigkeit, mitzuwirken, so hatte dazu auch der Revisionsrichter im Rahmen seiner gesetzlichen Möglichkeiten beizutragen. Ein Urteil bestehen zu lassen, dessen Fehlerhaftigkeit er selbst erkannt hatte und das damit möglicherweise auch in der Sache ungerecht war, nur weil insoweit keine Verfahrensrüge erhoben war, erschien mit diesem Grundverständnis nur schwer vereinbar. Wel-

40 Nachw. zu dieser Phase der Normativierung des Strafrechts bei Küpper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik (1990), S. 13 ff., 15 ff.; im Übrigen Larenz (Fn. 37), S. 119 ff.; Zippelius (Fn. 38), S. 64 ff. 41 RGSt 61, 242 (252 ff.) und RGSt 62, 137; zur wissenschaftlichen Vorarbeit H. von Weber, Das Notstandsproblem (1925), S. 1 ff.

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chem Interesse, welchem Wert sollte gedient sein, ein als fehlerhaft erkanntes und damit möglicherweise ganz ungerechtes Urteil bestehen zu lassen? – Die Zugehörigkeit des Fehlers zu einer kategorialen Ebene, die im begriffslogischen Modell „Tatfrage“ heißt, war für sich allein gesehen kein ausreichender Grund, sich den Forderungen der Gerechtigkeit zu versagen. Das Gesetz verwendet die Begriffe Tat- und Rechtsfrage ja noch nicht einmal. Aber auch dass die Rechtseinheit, die bei einem Fehler im Tatsächlichen nicht berührt ist, die Aufhebung eines in tatsächlicher Hinsicht fehlerhaften Urteils nicht fordert, war kein Grund, den Anforderungen der Gerechtigkeit nicht Rechnung zu tragen. In jenem Rechtsverständnis und dem flankierenden auf die Rechtsidee bezogenen Verständnis der Aufgabe des Richters, das in der Zeit der Wertungs- und Interessenjurisprudenz dem rechtlichen Zeitgeist entsprach, gab es damit überhaupt nur einen Grund, das nicht zu tun, was die Gerechtigkeit gebot: die eindeutige Unvereinbarkeit solchen Vorgehens mit dem positiven Recht. Das aber war nicht der Fall: Tat- und Rechtsfrage waren keine Begriffe des Gesetzes. Die vom Gesetz allein geforderte Gesetzesverletzung aber ließ sich annehmen; denn natürlich hatte der Richter bei seinem Folgern und Würdigen rechtlich (zumindest ungeschrieben) geforderten Regeln zu genügen. Und auch die Annahme einer Verletzung des sachlichen Rechts war nicht unmöglich: Schließlich war dieses auf einen Sachverhalt angewandt worden, auf den es wegen der Nichteinhaltung bestimmter Regeln (bei dessen Konstitution) nicht hätte angewandt werden dürfen. Die eben skizzierte Einbettung der revisionsgerichtlichen Tätigkeit in eine breite geistige Strömung zum Rechtsverständnis und das Verständnis auch der Aufgabe der Revisionsgerichte vor diesem Hintergrund und nicht irgendwelche dogmatisch wissenschaftliche Argumentationen zu Tat- und Rechtsfrage waren es, die zur Einbeziehung von Fehlern der Tatsachenfeststellung und der Beweiswürdigung in die sachlich-rechtliche Revision führten. Allein die verpflichtende Kraft dieses Hintergrunds erklärt auch, warum man der Begründung für die Zuordnung der Fehler zum sachlichen Recht keine besondere Aufmerksamkeit schenkte und sich wohl damit begnügte anzunehmen, dass ein solches Verständnis jedenfalls dem zwingenden Gesetzestext nicht zuwiderlaufe. Im wissenschaftlichen Schrifttum hat diese hinter dem revisionsgerichtlichen Vorgehen stehende Grundhaltung wohl am treffendsten Karl Peters zum Ausdruck gebracht, wenn er es als Aufgabe des Revisionsgerichts ansieht, jenen Fehlern Rechnung zu tragen, die das Revisionsgericht mit seinen Möglichkeiten selbst erkennen kann;42 Schwin-

42

Peters ZStW 57 (1938), 53 (70 ff.).

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ges „Zurück zum Revisionszweck der Rechtseinheit“43 vermochte das Blatt nicht mehr zu wenden. Für die Nachkriegsrechtsprechung, die dem Gerechtigkeitsgedanken – nicht zuletzt unter dem Einfluss des Grundgesetzes – besonders verpflichtet war und sich vorübergehend sogar an naturrechtliche Konzepte anlehnte, bestand erst recht kein wirklich überzeugender Grund für eine Kurskorrektur.

3.

Bewertung

Natürlich bildet die vorstehende Beschreibung der Gründe, denen die erweiterte Sachrevision ihre Durchsetzung verdankt, zunächst nur die Erklärung für eine Entwicklung. Ob die Entwicklung normativ zu billigen, insbesondere mit dem Gesetz zu vereinbaren ist, ist eine zweite Frage. Sie in allen Einzelheiten zu diskutieren, ist hier nicht der Raum. Ich muss mich insoweit auf einige skizzenhafte Bemerkungen beschränken und wegen gewisser Einzelheiten auf Darlegungen an anderer Stelle verweisen.44 Aus normativer Sicht eindeutig zu begrüßen ist die Ausweitung der Revision in jene Bereiche, die im Laufe der Jahrzehnte als Teile der logischen Rechtsfrage erkannt wurden: die Anwendung unbestimmter Begriffe auf den Einzelfall und die Strafzumessung. Hier verwirklicht die Ausweitung nur das, was im Grundsatz auch schon der Gesetzgeber der RStPO wollte: die Prüfung der Rechtsfrage. Im Grunde korrigiert die Ausweitung der Revisibilität in diese Bereiche nur einen – zeitbedingten – rechtstheoretischen Motivirrtum des Gesetzgebers, insbesondere zum Wesen der Strafzumessung. Vor dem Hintergrund des gesetzlichen Grundkonzepts (nämlich der prinzipiellen Revisibilität der Rechtsfrage) begründungsbedürftig ist vielmehr, warum diese der Rechtsfrage zuzuzählenden Entscheidungen gleichwohl nur teilweise revisibel sein sollen, es z.B. ausreichen soll, dass die Entscheidungen sich im Rahmen des Vertretbaren bewegen und ein gewisser Beurteilungsspielraum nicht überschritten ist (wie die Revisionsgerichte dies für die Strafzumessung und eine Reihe von unbestimmten Begriffen annehmen). Allerdings dürfte sich dafür eine tragfähige Begründung finden lassen, soweit es um Entscheidungen geht, bei denen – wie bei der Strafzumessung und bei einer Reihe normativer Begriffe – das Recht auf sehr komplexe Sachverhalte zu konkretisieren ist, die dem Revisionsgericht meist weniger plastisch vor Augen stehen als dem Tatrichter. Hier birgt die

Schwinge (Fn. 35), S. 33 ff. Eingeh. Frisch, FS Eser (2005), S. 273 ff.; SK-StPO/Frisch (Fn. 29), Vor § 333 Rn. 13 und (Fn. 9), § 337 Rn. 11, 107 ff., 147 ff. 43 44

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Aufhebung einer vertretbaren Entscheidung des Tatrichters durch das in tatsächlicher Hinsicht schlechter informierte Revisionsgericht die Gefahr in sich, dass eine in Bezug auf den vollständigen, ausdifferenzierten Sachverhalt unter Umständen bessere Entscheidung durch eine andere ersetzt wird, die bezogen auf den vollständigen (dem Revisionsgericht nicht in allen Einzelheiten bekannten) Sachverhalt unter Umständen schlechter ist. Sie sollte deshalb unterbleiben – wegen der geringen Vergleichbarkeit solcher Sachverhalte ist sie auch aus Gründen der Rechtseinheit nicht gefordert. Dies ist anders, wenn es für die begriffliche Konkretisierung nur auf einen oder einige wenige vollständig mitteilbare Umstände ankommt. Hier muss das Revisionsgericht, damit gut vergleichbare Sachverhalte nicht zwar je vertretbar, aber eben doch unterschiedlich behandelt werden, auch gut vertretbare Lösungen aufheben, um so für Rechtseinheit zu sorgen.45 Aber auch die Ausdehnung der Prüfung der Verletzung materiellen Rechts auf den tatsächlichen Unterbau der Entscheidung ist grundsätzlich zu billigen. Die Aufhebung von Entscheidungen, die im tatsächlichen Unterbau (einschließlich der Beweiswürdigung) widersprüchlich oder lückenhaft sind, gegen die Erfahrung verstoßen oder das sachliche Recht auf noch nicht einmal objektiv wahrscheinliche Sachverhalte anwenden, ist nicht nur aus Gerechtigkeitsgründen geboten. Auch dass die Revisionsgerichte hier von einer fehlerhaften Anwendung des sachlichen Rechts ausgehen, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Das sachliche Recht will die von ihm für bestimmte Sachverhalte vorgesehenen Rechtsfolgen nicht schon dann angewandt wissen, wenn der Richter einen thematisch einschlägigen Sachverhalt nur irgendwie festgestellt hat oder von einem solchen für sich ausgeht. Das sachliche Recht setzt vielmehr selbst gewisse Bedingungen voraus, denen der vom Tatrichter angenommene Sachverhalt genügen muss, damit es berechtigt ist, die im materiellen Recht vorgesehenen Rechtsfolgen auszusprechen. Die von den Revisionsgerichten herausgearbeiteten Postulate der Widerspruchsfreiheit der Beweiswürdigung, ihre Vereinbarkeit mit der Erfahrung, ihre Lückenlosigkeit usw. gehören zum Kreis dieser Grundannahmen, die schon aus legitimationsbezogenen Erwägungen als selbstverständliche Grundvoraussetzungen für die richtige Anwendung des sachlichen Rechts angenommen werden müssen. Die Ausdehnung der Sachrüge in den Bereich der Einhaltung bestimmter Bedingungen bei der Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung ist also nicht nur aus Gründen der Gerechtigkeit und im Interesse höherer Effizienz des Rechtsmittels der Revisi-

45

Vgl. SK-StPO/Frisch (Fn. 9), § 337 Rn. 11, 112.

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on zu begrüßen. Sie ist auch rechtstheoretisch fundiert.46 Und sie verwirklicht überdies ein Stück sozialer Gerechtigkeit, weil sie auch dem Verurteilten, der sich keinen zur Erhebung der Verfahrensrüge praktisch unverzichtbaren Verteidiger leisten kann, über die Sachrüge die Möglichkeit eröffnet, gewisse Grundvoraussetzungen der Tatsachenfeststellung und der Beweiswürdigung überprüfen zu lassen. Dass die Revision mit der Erweiterung der Sachrüge hinsichtlich ihrer Erfolgsaussichten schwerer abschätzbar geworden sei, wie von manchen kritisch eingewandt wird, ist zwar richtig, gegenüber den genannten materiellen Vorzügen aber kein wirklich überzeugendes Gegenargument: Natürlich wird das Ergebnis von Entscheidungen um so schwerer prognostizierbar, je differenzierter das Prüfungsraster dieser Entscheidungen ist und je mehr die Anwendung dieses Rasters Erfahrungen voraussetzt, die nicht allgemein vorhanden sind.

III. Geistige, gesellschaftliche und normative Hintergründe des Zustands der Verfahrensrüge 1.

Methodische Vorbemerkungen

Bei der Suche nach den Gründen für den Zustand und die Entwicklung der Verfahrensrüge ist zweierlei zu unterscheiden: die Gründe, die für die geringe Bedeutung der Verfahrensrüge verantwortlich sind, und die hinter ihrer normativen Ausgestaltung, insbesondere den Einschränkungen, stehenden Gründe. Zwar bestehen insoweit Zusammenhänge; doch sind die Gründe nicht identisch. Es gibt Gründe für die geringe Bedeutung der Verfahrensrüge, die nichts mit den kritisierten Einschränkungen oder Anforderungen an die Verfahrensrüge zu tun haben. Eine nicht unerhebliche Zahl von Verfahrensrügen scheitert bereits daran, dass das, was sie rügen, keinen Verfahrensfehler ergibt, oder dass sie so unklar oder unvollständig sind, dass sie auch bei großzügigster Handhabung der Rügeanforderungen zum Scheitern verurteilt wären. Andere Verfahrensrügen werden deshalb nicht abschließend beschieden (und zählen damit auch nicht zum Kreis der erfolgreichen Verfahrenrügen), weil das Revisionsgericht das Urteil bereits aus sachlich-rechtlichen Gründen aufhebt – die Durchsicht revisionsgerichtlicher Entscheidungen zeigt, dass diese Fallkonstellation relativ häufig ist. Es ist also nur ein durchaus begrenzter Teil von Verfahrensrügen, der an den viel kritisierten zu hohen Anforderungen an die Verfahrensrüge oder

46

Vgl. SK-StPO/Frisch (Fn. 9), § 337 Rn. 120, 121 ff.; Frisch, FS Eser (2005), S. 277 ff.

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deren Einschränkung durch die Revisionsgerichte scheitert. Freilich: Auch das Scheitern nur einer begrenzten Zahl von Verfahrensrügen ist allein hinnehmbar, wenn es für die dies bewirkenden Einschränkungen und erhöhten Anforderungen tragfähige Gründe gibt. Die Beantwortung dieser Frage lässt sich nicht auf die Sichtung jener dogmatischen Argumente reduzieren, die in der Diskussion um die entsprechenden Einschränkungen pro und contra vorgetragen werden. Schon die Ausführungen zur Erweiterung der Sachrüge haben gezeigt, dass für die tatsächliche Entwicklung bestimmter Institute oft wichtiger als dogmatische und rechtstheoretische Argumentationen die grundlegenden geistigen Strömungen einer Zeit, Denkstile, gesellschaftliche Einflüsse und Bedürfnisse sein können und sind. Das gilt vor allem dann, wenn die dogmatischen und theoretischen Argumente einander etwa gleich stark gegenüberstehen; hier pflegt im Allgemeinen jene Position die weitere Entwicklung zu prägen, die besser mit den grundlegenden geistigen Strömungen und Denkstilen der Zeit harmoniert oder in dieser Zeit als besonders wichtig erachteten normativen Grundsätzen oder schwer änderbaren gesellschaftlichen Vorgaben besser entspricht. Allgemeinere Topoi der eben genannten Art können aber auch darüber hinaus bedeutsam werden. Sie können z.B. dazu führen, dass Positionen, die ehedem als vorzugswürdig galten, diese Qualität im Laufe der Zeit durch gesellschaftliche Entwicklungen verlieren, weil die für ihre Vorzugswürdigkeit verantwortlichen geistigen Referenzbereiche sich verändern oder verschieben. Dementsprechend erscheint es auch im Zusammenhang der Verfahrensrüge unerlässlich, die Entwicklung dieser Rüge nicht nur im Lichte dogmatischer Argumente oder gar nur bedauernd aus der Sichtweise des Gesetzgebers von 1877 zu kommentieren, sondern als Ausdruck geistiger Grundströmungen, gesellschaftlicher Erwartungen und normativer Akzentuierungen zu begreifen, die auch außerhalb der Revision prägend wirken, indem sie hier wie dort bestimmte Argumentationen und Konstruktionen begünstigen und ihnen Geltung verschaffen. Natürlich kann es bei dieser Analyse und Beschreibung nicht bleiben, es muss noch eine normative Würdigung folgen. Aber diese verspricht bei einer Einbeziehung der geistigen Grundströmungen und maßgebenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen doch sachgerechter auszufallen als die dogmatische Vordergrundbetrachtung unter alleiniger Ausschöpfung der argumentativen Ressourcen des Subsystems „Strafprozess“.

2.

Ergebnisorientiertheit des Denkens – Rückwirkungen auf die Beruhens-Prüfung

Eine nicht unerhebliche Bedeutung für die Entwicklung im Bereich der Verfahrensrüge hat ganz sicher die Ergebnisorientiertheit des Denkens un-

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serer Zeit. Die Angemessenheit des Ergebnisses einer Entscheidung lässt uns über manche Schwäche hinwegsehen. So pflegt etwa eine problematische Formulierung im Bereich der Strafzumessung als falscher Zungenschlag abgetan zu werden, wenn das Ergebnis angemessen erscheint, während sie im Kontext eines ebenfalls problematischen Ergebnisses zum Beleg für rechtlich fehlerhafte Erwägungen wird. Aber auch bei eindeutigen Fehlern bleibt das Ergebnis bedeutsam und sind wir in der Regel bereit, über den Fehler hinwegzusehen, wenn nur das Ergebnis richtig oder angemessen erscheint – dies unter Umständen sogar dann, wenn das richtige Ergebnis nur einem weiteren Fehler zu verdanken ist, der die Wirkungen des ersten Fehlers kompensiert. Auch dem Gesetzgeber der StPO von 1877 war ein gewisses Maß an ergebnisorientiertem Denken nicht fremd. Es fand seinen Niederschlag sogar in den Motiven zur StPO, wenn dort einer der „Mängel“ der so genannten Nichtigkeitsbeschwerde darin gesehen wurde, dass der Nichtigkeitsrichter „vermöge der formalen Natur dieses Rechtsmittels oft genug Entscheidungen vernichten“ musste, „welche (trotz des formalen Mangels) eine materielle Rechtsverletzung durchaus nicht enthalten“47. Die Revision sollte von diesem Mangel befreit werden und deshalb nur zur Aufhebung führen, wenn die (das Verfahren betreffende) Gesetzesverletzung auch die Entscheidung selbst beeinflusst hat oder das wenigstens möglich erscheint. Die Entwürfe zur Reform der StPO haben diesem im Ansatz schon in den Motiven zum Ausdruck gelangenden ergebnisorientierten Denken zum Teil zusätzlichen Raum gegeben.48 Gleiches gilt für den neu eingefügten § 354 Abs. 1a StPO, der es dem Revisionsrichter ermöglicht, eine in den Erwägungen zur Strafzumessung fehlerhafte Entscheidung des Tatrichters zu bestätigen, wenn nur deren Ergebnis angemessen ist (also selbst dann, wenn einiges dafür spricht, dass der Fehler sich auf die Entscheidung des Tatrichters ausgewirkt hat). Soweit es um Verfahrensfehler geht, ist es zwar – vom Fehlen einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage ganz abgesehen – nicht so leicht möglich und legitimierbar, über den Fehler im Blick auf die Angemessenheit des Ergebnisses hinwegzusehen. Denn die Angemessenheit der Entscheidung besteht nur relativ zu den tatsächlichen Feststellungen, und eben diese kann der Verfahrensfehler, anders als z.B. ein materiell-rechtlicher Mangel in den Strafzumessungserwägungen, in Frage stellen. Die sich daraus ergebende (weitgehende) Irrelevanz der Angemessenheit des Entscheidungsergebnis-

47 48

Vgl. Hahn (Fn. 3), S. 201 bzw. 249. Vgl. etwa bei Fezer (Fn. 15), S. 46, 101 (zur Urteilsrüge des E 1939).

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ses wegen deren Abhängigkeit von einer möglicherweise fehlerhaften Entscheidungsbasis hat indessen durch die Erweiterung der sachlichrechtlichen Prüfung in den Bereich der tatsächlichen Feststellungen hinein viel von ihrem Gewicht verloren. Denn damit steht in den Fällen, in denen die Sachprüfung nicht zur Aufhebung der Entscheidung führt, zugleich fest, dass der tatsächliche Unterbau der Entscheidung widerspruchsfrei und mit der Erfahrung vereinbar sowie objektiv wahrscheinlich ist und der zu ihm führende Gedankengang keine Lücken aufweist und sich gut nachvollziehbar mit etwa abweichenden Erklärungen und Hypothesen auseinandersetzt. Aus tatsächlichen Feststellungen, die ehedem so etwas wie ein „unbeschriebenes Blatt“ waren, sind damit solche geworden, für die eine starke Vermutung spricht, die Wirklichkeit richtig zu rekonstruieren. Damit stellt die Angemessenheit der Entscheidung ein weit bedeutsameres Datum dar als früher. Zwar reicht auch dieses Datum selbstverständlich nicht aus, um auf die Erschütterung des tatsächlichen Unterbaus zielende Verfahrensrügen einfach abzutun.49 Ebenso klar ist indessen ein Zweites: dass angesichts des einwandfreien Eindrucks, den der tatsächliche Unterbau der Entscheidung im Rahmen der Sachprüfung hinterlassen hat, in solchen Fällen naheliegenderweise besonders kritisch und genau geprüft wird, ob sich der Fehler auf die tatsächlichen Feststellungen ausgewirkt hat oder haben kann. Die zum Teil gerügte schärfere und Verfahrensfehler häufiger als früher für irrelevant erklärende Praxis des Beruhens50 hat in diesem Zusammenspiel von ergebnisorientiertem Denken und dem Zwischenergebnis der erweiterten sachlich-rechtlichen Prüfung einen wesentlichen Grund.51 Das gilt um so mehr, als die erweiterte Sachprüfung zugleich schrittweise die Möglichkeiten der Revisionsgerichte erweitert hat, die Relevanz eines vorgefallenen Verfahrensfehlers zu entkräften. Denn die zur Ermöglichung der erweiterten Sachprüfung dem Tatrichter abverlangte umfassende Begründung der Beweiswürdigung und der Tatsachenfeststellung liefert dem Revisionsgericht zunehmend auch Informationen, die es eher als früher ermöglichen, eine etwaige Auswirkung des Fehlers auf die Entscheidung (z.B. im Blick auf spätere, im Urteil dargelegte Erkenntnisse oder Entwicklungen) auszuschließen.

Zutreffend Rieß, FS Hanack (1999), S. 409; Schlothauer StraFo 2000, 289 (294 f.). Vgl. etwa Schlothauer StraFo 2000, 289 (290) m.w.N. 51 In der Sache ebenso Fezer, FS Otto (2007), S. 902. 49 50

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3.

Materialisierung von Normen – Keine Gesetzesverletzung trotz Normabweichung

Nicht nur ergebnisorientiertes Denken neigt zu einer kritischeren Betrachtung und Prüfung formeller Fehler. Auch das unserem heutigen Umgang mit rechtlichen Normen selbst eigentümliche materialisierende Denken wirkt in diese Richtung. Kennzeichnend für diese Form des Umgangs mit Normen ist, dass sie nicht einfach vom Text einer Norm ausgeht und sich für die Feststellung einer Gesetzesverletzung mit der Abweichung des Geschehenen vom Norminhalt begnügt. Unverzichtbar für das richtige Verständnis der Norm und die Erfassung wirklicher (bzw. relevanter) Gesetzesverletzungen ist danach vielmehr der materiale Hintergrund der Norm – die Frage nach ihrem Zweck, nach dem Ziel, das sie erreichen, oder dem Zustand, den sie gewährleisten will, den Personen, denen sie zu Gute kommen soll, oder den Missständen, die sie verhindern will. Vor diesem Hintergrund werden dann auch die Abweichungen von der Norm materiell gewürdigt – mit der Folge, dass bestimmte Abweichungen vom Text der Norm im Lichte einer solchen materialen Sicht keine (ausreichenden) Verletzungen des materialen Gehalts der Norm darstellen oder nur von bestimmten Personen geltend gemacht werden können usw. Niederschläge eines solchen Denkens, das den materialen Hintergrund einer Norm für die Bewertung und Behandlung formaler Normabweichungen fruchtbar macht, finden sich in verschiedenen Zusammenhängen des Strafprozesses. Aktuelle Beispiele, die an den revisionsrechtlichen Normen selbst ansetzen und hier den Kreis der relevanten Gesetzesverletzungen einschränken, bilden manche so genannte Relativierungen der absoluten Revisionsgründe.52 Sie gehen davon aus, dass es in diesen als absolut ausgestalteten Revisionsgründen in der Regel um die Verhinderung (oder die Gewährleistung) bestimmter Sachverhalte (etwa die Verhinderung willkürlicher Entziehung des gesetzlichen Richters oder der Ausschaltung der Kontrolle der Öffentlichkeit) gehe – womit dann als Folge gewisse vom Normtext erfasste Sachverhalte, auf die dieser Gedanke nicht zutrifft, als von der Ratio der Norm nicht gemeinte Sachverhalte qualifiziert (und aus dem Kreis der absoluten Revisionsgründe ausgeschlossen) werden. Ganz vergleichbar wird etwa bei der gebotenen Belehrung des Beschuldigten danach gefragt, welchen Zustand das Gesetz mit der Belehrungspflicht zu gewährleisten trachtet – mit der Folge, dass es trotz nicht erfolgter Belehrung doch jeden-

52

Vgl. dazu Kuckein StraFo 2000, 397 ff.; SK-StPO/Frisch (Fn. 28), § 338 Rn. 3 f., 17 f.

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falls an einer materialen, erfolgreich mit der Revision angreifbaren Gesetzesverletzung fehlt, wenn dieser Zustand beim Beschuldigten bereits gegeben war (oder man hiervon ausgehen kann). Auf derselben grundsätzlichen materialen Linie liegt es, wenn bei bestimmten Vorschriften, etwa zur Belehrung von Zeugen, danach gefragt wird, wessen Interesse die Normen im Auge haben – so dass die Verletzung von Normen, die (nach der Auffassung des Revisionsgerichts) allein dem Schutz der Interessen anderer Personen als des Angeklagten dienen, vom Angeklagten mangels Rügebefugnis nicht geltend gemacht werden können (so die Rechtsprechung zu §§ 54, 55 StPO: so genannte Rechtskreistheorie). Gegen diese und ähnliche, letztlich den Kreis potentiell erfolgreicher Verfahrensrügen einengenden Betrachtungsweisen zum Generalangriff auf das materialisierende Denken aufzurufen,53 erscheint verfehlt. Dies nicht nur deshalb, weil der materialisierenden Betrachtungsweise nicht nur Einschränkungen, sondern ebenso die richtige Einschätzung von zuvor zu Unrecht (als Verletzung bloßer Ordnungsvorschriften) bagatellisierter Gesetzesverletzungen (etwa der unterlassenen Belehrung des Beschuldigten) zu verdanken sind. Die bisweilen im Strafprozess begegnenden Kritiken des materialisierenden Denkens verkennen auch, dass die materialisierende Betrachtung rechtlicher Normen Ausdruck eines differenzierteren Denkens ist, das das ganze Rechtssystem beherrscht – hiervon im Strafprozess (oder gar nur für die Revision) eine Ausnahme machen zu wollen, gibt es keine überzeugenden Gründe. Allein diskutabel erscheint es vielmehr, auf der Basis einer als sinnvoll hinzunehmenden Materialisierung das anzugreifen, was die revisionsgerichtliche Rechtsprechung zur Begründung der Einschränkung bestimmter Verfahrensrügen an materialem Hintergrund und Inhalt angibt. Freilich wird man der Rechtsprechung insoweit einräumen müssen, dass eine Reihe der von ihr vorgenommenen Einschränkungen materiell nicht so deplatziert erscheinen, wie das manche Kritik in der Literatur behauptet. Das gilt für einige (nicht alle!) Materialisierungen im Bereich der absoluten Revisionsgründe54 ebenso wie für die Einschränkungen seitens der Rechtskreistheorie, die in Wahrheit nur einen Denkansatz für das Strafrecht verwendet, der im Öffentlichen Recht absolut anerkannt ist und

Vgl. etwa Eb. Schmidt NJW 1969, 1137 (1140 f.) im Zusammenhang einer verfassungsrechtlichen Materialisierung der StPO. 54 Vgl. dazu differenzierend SK-StPO/Frisch (Fn. 28), § 338 Rn. 3 f., 17 f., 40, 49, 104, 123, 136–138, 152. 53

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hier sogar gesetzlichen Niederschlag (in § 42 Abs. 2 der VwGO) gefunden hat.55

4.

Pragmatisch-ergebnisorientierte Neutralisierung von Verfahrensrügen

Der Kreis erfolgreicher Verfahrensrügen wird freilich nicht nur dadurch eingeschränkt, dass bestimmten Normabweichungen über materiale Sichtweisen die Qualität als (rügbare) Gesetzesverletzung abgesprochen oder dass im Falle einwandfrei erscheinender tatsächlicher Feststellungen eine Auswirkung des Verfahrensfehlers auf die Entscheidung verneint wird. Eher noch stärker einschränkend als solch materiales und ergebnisorientiertes, sich noch in revisionsrechtlichen Kategorien (Gesetzesverletzung, Beruhen) bewegendes Denken dürfte eine bestimmte Form pragmatischergebnisorientierten Denkens sein. Sie läuft darauf hinaus, dass (auch aus materialer Sicht) unbestreitbar verfahrensfehlerhafte und sich auf das Urteil auswirkende Handlungen unter bestimmten Voraussetzungen als Verfahrensfehler schlicht ignoriert werden. Dabei ist nicht an Fehler gedacht, die im weiteren Verlauf des Verfahrens geheilt worden sind. Es geht um Verfahrensfehler, bei denen hiervon keine Rede sein kann – insbesondere weil eine Heilung gar nicht möglich ist. Typische Beispiele bilden jene Fälle, in denen bestimmte Beweismittel, die auch für die Entscheidung bedeutsam sind, unter Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbot gewonnen wurden, ihre Verwertung aber doch (unter gewissen Voraussetzungen) als zulässig erachtet wird. Im Grunde läuft das gesamte Verfahren der Anerkennung der Verwertbarkeit fehlerhaft erlangter, urteilsbedeutsamer Beweis- und Erkenntnismittel auf eine großflächige Neutralisierung von Verfahrensverstößen für das weitere Verfahren und insbesondere auch die Revision hinaus. Nur ein Teil dieser Neutralisierungen lässt sich über materiale, an den Zweck des verletzten Gesetzes anknüpfende Erwägungen begründen – so wenn sich darlegen lässt, dass die verletzte Norm nur die Vermeidung bestimmter körperlicher Gefahren beim Betroffenen bezweckt und deshalb die Verwertung des fehlerhaft gewonnenen Beweismittels nicht sperren will.56 In einer Reihe anderer Fälle sind solche materialen Argumentationsmuster nicht verfügbar. Hier steht hinter der Anerkennung der Verwertbarkeit trotz des vorgefallenen Fehlers oft nicht viel mehr als die Erwägung, dass Fehler

55 Frisch, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts (1995), S. 177 (188 ff.); SK-StPO/Frisch (Fn. 9), § 337 Rn. 94–97. 56 Etwa § 81a StPO; dazu BGHSt 24, 125 (128 f.).

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der vorgefallenen Art nicht (über die Annahme eines Verwertungsverbots) dazu führen dürften, dass die Rechtsprechung ihrer Aufgabe nicht mehr nachkommen könne (oder die Gerechtigkeit Schaden nehme). Zwar wird die so motivierte Entscheidung für eine Verwertbarkeit dann meist noch zusätzlich abgestützt – etwa durch den Hinweis darauf, dass das Beweismittel auch ohne die verfahrensfehlerhafte Handlung erlangt worden wäre, oder über eine Abwägung des Gewichts des Fehlers gegen das Gewicht der jeweiligen Tat und die Bedürfnisse der Rechtspflege im konkreten Fall.57 Aber derartige Zusatzbegründungen ändern doch nichts daran, dass im Kern eine pragmatische (und wiederum ergebnisorientierte) Entscheidung getroffen worden ist: Die Annahme der Verwertbarkeit trotz eines Fehlers bei der Erlangung des Beweismittels ist das pragmatisch gewählte und eingesetzte Mittel, um Ergebnisse und Konsequenzen zu vermeiden, die man für unvertretbar hält. Methodisch läuft das von der Rechtsprechung und h.M. hier praktizierte Vorgehen darauf hinaus, bei bestimmten vorgefallenen Verfahrensfehlern das Erlangte nicht schon wegen des Verfahrensfehlers zu sperren, sondern darüber erst im Rahmen einer umfassenderen Betrachtung zu entscheiden. Das ist sicher nicht unproblematisch, denn das Gesetz selbst sieht eine solche Lösung nicht (ausdrücklich) vor. Auf der anderen Seite geht es hier um die Beantwortung einer unausweichlichen Sachfrage, die sich – noch vor der revisionsrechtlichen Problematik – für die Art der Fortsetzung des tatrichterlichen Verfahrens stellt. Die pragmatische Antwort, die die Rechtsprechung und die h.M. in der Literatur gibt, ist in ihrem differenzierenden Grundgedanken auch nicht unvernünftig – so sehr man über die Einzelheiten streiten kann. Sie versucht letztlich zu erreichen, dass nicht schon jeder Verfahrensfehler die Verwirklichung eines materiell gerechten Ergebnisses verhindert, zugleich aber auch zu gewährleisten, dass eine Verwertung nur dann zulässig ist, wenn das Verfahren damit bei einer umfassenderen Betrachtung fair und angemessen bleibt. Insgesamt liegt sie im Grundsatz auf einer Linie mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, nach der Defizite im Einzelnen das Verfahren nicht konventionswidrig machen, wenn dieses bei einer Gesamtbetrachtung fair und angemessen erscheint.58

Vgl. etwa BGHSt 27, 355 (357); 28, 122 (128); 37, 30 (32); 38, 214 (219 f.); 38, 372 (373 f.); 42, 15 (21). 58 Vgl. z.B. EGMR ÖJZ 1991, 25 (26); NJW 1999, 3545; JZ 2000, 993 (994); zu dieser Gesamtprüfung Schroeder GA 2003, 293 ff. 57

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Doch mag das letztlich dahinstehen. Denn genau besehen geht es hier um keinen Wandel der Revision. Was als Wandel der Revision erscheint, sind bloße Auswirkungen von Entscheidungen zum adäquaten weiteren Verfahren in erster Instanz, wenn dort Fehler vorgefallen sind. Entscheidet man sich dort für die Zulässigkeit der Verwertung fehlerhaft erlangter Beweismittel, so hat das aus sachlogischen Gründen natürlich auch Auswirkungen auf die Revision: Dann kann die Revision – selbstverständlich – nicht mehr auf jene Normverletzungen gestützt werden, die dem weiteren tatrichterlichen Verfahren mit dem fehlerhaft erlangten Beweismittel nicht entgegenstehen. Das Problem liegt also der Revision voraus; es geht um die Beantwortung eines gesetzlich nicht beantworteten Problems des tatrichterlichen Verfahrens. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass bei der Beantwortung dieser Frage – erwartungsgemäß – ähnliche Denkstile (Ergebnisorientierung; materialisierende Normbetrachtung) begegnen wie bei spezifisch revisionsrechtlichen Einschränkungen (etwa im Bereich des Beruhens, der erhöhten Anforderung an bestimmte Revisionsgründe oder der Rügbarkeit von Verletzungen).

5. Der Einfluss knapper Ressourcen – Begründungsanforderungen und spezielle Rügevoraussetzungen Die bisher genannten Gründe erklären manche Einschränkung der Verfahrensrüge bzw. der Möglichkeit, Verfahrensfehler erfolgreich zu rügen. Sie erklären aber nicht alles. Der heutige Zustand der Verfahrensrüge hat auch etwas mit Ressourcen zu tun. Er ist Ausdruck knapper Ressourcen und des Bewusstseins davon.59 Manches, was insbesondere von Verteidigern als willkürliche Verengung empfunden wird, ist – ich meine das zunächst nur beschreibend – der Versuch, mit begrenzten und nicht einfach vermehrbaren Ressourcen den Ressourcenproblemen der Revision gerecht zu werden. Ressourcenprobleme stellen sich im Gesamtzusammenhang der Revision zumindest in doppeltem Sinne. Knapp ist erstens die Kapazität des Revisionsgerichts selbst. Diese Kapazität ist auch nicht einfach vermehrbar. Das Revisionsgericht muss deshalb sehen, dass es mit dieser knappen Ressource seine Aufgaben erfüllen kann. Knapp ist zum zweiten aber auch jene Kapazität, die gefordert ist, wenn es zur Aufhebung des angefochtenen Urteils durch das Revisionsgericht kommt: die für die nochmalige tatrichterliche

Vgl. nur (im Zusammenhang der Relativierung der absoluten Revisionsgründe) Kuckein, StraFo 2000, 397 (400); krit. dazu Mehle, FS Dahs (2005), S. 403. 59

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Neuverhandlung geforderte Kapazität. Auch hier darf man nicht die Realität aus den Augen verlieren: Die Ausdünnung der Besetzung landgerichtlicher Kammern belegt diese Realität ebenso wie fortlaufende Stellenstreichungen oder kapazitätsbedingte Einstellungen oder Absprachen.60 a) Soll das Revisionsgericht mit seinen durchaus begrenzten Ressourcen seine Aufgaben erfüllen können, so müssen ihm diese Ressourcen ganz für die Erledigung seiner eigentlichen Aufgaben zur Verfügung stehen – also die Prüfung der Zulässigkeit und Begründetheit der Revision. Ein sachgerechter Einsatz der knappen Ressourcen des Revisionsgerichts setzt dementsprechend voraus, dass die Revisionsbegründung selbst so gestaltet ist, dass das Revisionsgericht allein anhand der ihm vorliegenden Revisionsbegründung und des Urteils ohne weiteres beurteilen kann, ob die Revision Erfolg hat, wenn die als Verfahrensfehler behaupteten Tatsachen zutreffen.61 Vor diesem Hintergrund ist es durchaus einsichtig, dass die Revisionsgerichte die Anforderungen an die Begründung der Verfahrensrüge nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO an diesem Prinzip orientieren und sich weigern, zur Überprüfung der Zulässigkeit und der Schlüssigkeit einer Verfahrensrüge in ein Aktenstudium einzutreten, und dass sie deshalb z.B. Verweisungen auf die Akten für eine zulässige Revisionsbegründung ebenso wenig akzeptieren wie (ersichtlich) unvollständige Wiedergaben von Tatsachenabläufen oder des Inhalts von Beschlüssen.62 Dass das einem hiervon betroffenen Revisionsführer im Einzelfall beckmesserisch erscheinen mag, ist ungeeignet, diese ressourcen-ökonomische Logik zu erschüttern. Denn die Revisionsgerichte entscheiden bei der Festlegung und Handhabung der Zulässigkeitsanforderungen eben nicht nur über einen Einzelfall, sondern treffen eine generelle Entscheidung, an der sie sich dann auch in jedem Einzelfall festhalten lassen müssen. Bezogen auf eine Vielzahl von zum Teil lückenhaften Begründungen wird die Notwendigkeit zur eigenen Durchsicht oder Überprüfung der Akten aber durchaus zu einem Ressourcenproblem, dessen Vermeidung mit Beckmesserei nichts mehr zu tun hat. Bei alldem handelt es sich – entgegen bisweilen erwecktem Eindruck – in prinzipieller Hinsicht auch keineswegs um eine vom Gesetz nicht vorgesehene Erfindung ungerechtfertigter Anforderungen an die Revisionsbegründung. Ein Blick in die Motive der StPO zeigt, dass der Gesetzgeber der StPO das im Prinzip ge-

Zu Letzterem Linden, FS zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesanwaltskammer (2006), S. 381 ff. 61 Näher dazu m.w.N. SK-StPO/Frisch (Fn. 26), § 344 Rn. 44 f. 62 Nachw. dieser Rspr. bei SK-StPO/Frisch (Fn. 26), § 344 Rn. 48 f., 53 ff. 60

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nauso gesehen hat.63 Natürlich mag es Überspitzungen im Einzelfall geben, die vom genannten Prinzip nicht mehr getragen sind; aber hier geht es nicht um einzelne problematische Entscheidungen, sondern um die grundsätzliche Linie. Selbst die häufig kritisierte Pflicht zur Angabe der so genannten Negativtatsachen,64 also des Nichtvorliegens dessen, was der Rüge den Boden entziehen würde, erscheint vor dem eben skizzierten ressourcen-ökonomischen Prinzip nicht von vornherein uneinsichtig. Ist die Rüge eines bestimmten Verfahrensmangels (berechtigterweise) an die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen oder das Nichtvorliegen gewisser (durchaus nicht seltener) Tatsachen geknüpft, so verursacht es natürlich aus der Sicht des Revisionsgerichts unnützen Arbeitsaufwand, wenn sich über diese Umstände nichts in der Revisionsbegründung findet und das Revisionsgericht damit gezwungen ist, sich über diese Punkte selbst zu informieren. So gesehen ist es vor ressourcen-ökonomischem Hintergrund durchaus nachvollziehbar, wenn die Revisionsgerichte versuchen, auch solche Umstände den oben genannten Prinzipien zu unterwerfen. Natürlich ist das allein noch keine ausreichende Legitimation. Unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte ist die einschlägige Rechtsprechung vielmehr hochproblematisch. Die eigentlichen Probleme dieser Rechtsprechung können hier freilich nur angedeutet, nicht näher diskutiert werden. Es sind – abgesehen von der Vorfrage nach der Berechtigung der entsprechenden Rügeanforderungen überhaupt – die Frage nach der Vereinbarkeit dieser Rechtsprechung mit dem Gesetzestext, die Frage, inwieweit an dieser Stelle nicht Begründetheitsfragen in die Zulässigkeitsprüfung gezogen werden, und die Frage, ob eine etwas konziliantere Haltung der Revisionsgerichte in diesem Punkt wirklich zu ressourcenökonomisch nicht mehr zu bewältigendem Aufwand führen würde.65 b) Nicht nur die hohen Anforderungen an die Revisionsbegründung sind mit von ressourcenspezifischem Denken geleitet. Auch andere Grundsätze und Entwicklungen sind zu einem wesentlichen Teil vor diesem Hintergrund zu sehen. Das gilt nicht nur für die – freilich auch noch anders fundierte – Weigerung der Revisionsgerichte, in eine oft aufwändige Rekonstruktion der tatrichterlichen Hauptverhandlung einzutreten, die zugleich bedeutet, dass hierauf angewiesene Verfahrensrügen in der Revision keinen

Hahn (Fn. 3), S. 205 f. bzw. 253 f. Eingeh. Nachw. dazu bei SK-StPO/Frisch (Fn. 26), § 344 Rn. 57 ff. 65 Näher zu diesen Fragen und kritisch gegenüber der Rspr. Fezer, FS Hanack (1999), S. 341 ff., 346 ff.; Kutzer StraFo 2000, 325 (326 f.); SK-StPO/Frisch (Fn. 26), § 344 Rn. 61 ff. m.w.N. 63 64

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Erfolg haben können.66 Es gilt wohl auch für gewisse Voraussetzungen, die nach der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung erfüllt sein müssen, sowie Sachverhalte, die danach nicht vorliegen dürfen, damit bestimmte Verfahrensrügen überhaupt zulässigerweise erhoben werden können. Die Aufstellung solcher Voraussetzungen ist nicht Ausdruck einer „FallstrickStrategie“ oder gar des Bemühens, sonst erfolgreichen Rügen (willkürlich) die Grundlage zu entziehen. Sie ist vielmehr sehr leicht zu erklären, wenn man sie auch vor ressourcenspezifischem Hintergrund sieht – nämlich als Antwort darauf, wie mit gleich bleibender Kapazität eine steigende Flut eher arbeitsintensiver werdender Verfahrensrügen bewältigt werden kann. Ohne Qualitätsverlust oder Verlängerung der Bearbeitungszeiten (die vor dem Hintergrund des Beschleunigungsgrundsatzes als Alternative ebenfalls ausscheidet) ist das praktisch nur auf eine Weise möglich: indem gewissen Verfahrensrügen die weitere Bearbeitung versagt wird. Natürlich kann das nicht willkürlich geschehen. Für die Versagung muss es Gründe geben, die die Versagung als sachgerecht oder doch jedenfalls material vertretbar erscheinen lassen. Sieht man auf das Gemeinsame jener Voraussetzungen, die nach der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung für die Zulässigkeit einer Reihe von Verfahrensrügen erfüllt sein müssen, oder jener Sachverhalte, die insoweit nicht vorliegen dürfen, so wird sehr rasch sichtbar, worin die Revisionsgerichte einen tragfähigen Grund sehen, einer Verfahrensrüge die weitere (materiale) Bearbeitung (samt einer etwaigen Aufhebung des tatrichterlichen Urteils) zu versagen. Es sind Fälle, in denen der Revisionsführer den jetzt mit der Revision gerügten Verfahrensmangel bereits im Verfahren vor dem Tatrichter hätte geltend machen können, dies aber nicht getan hat. Das gilt für die Fälle, in denen der Revisionsführer es unterlassen hat, einen möglichen Zwischenrechtsbehelf (§ 238 Abs. 2 StPO) einzulegen, ebenso wie für den unterlassenen Widerspruch gegen die Verwertung eines fehlerhaften Beweises oder jene Sachverhalte, bei denen die Rechtsprechung schon früher einen Verzicht oder eine Verwirkung angenommen hat. Mit all diesen spezifischen Rügeanforderungen und Rügehindernissen67 konzentriert die Rechtsprechung die begrenzten revisionsgerichtlichen Ressourcen und die knappen Ressourcen für eine erneute tatrichterliche Verhandlung – grob gesprochen – auf die Fälle, in denen die Rechtsverwirklichung wirklich auf die Revision (und ggf. eine erneute tatrichterliche Hauptverhand-

66 Vgl. dazu krit. Fezer, in: Ebert (Fn. 1), S. 89 ff. (104 f.); ders. JZ 1996, 665; Überblick über Rspr. und Lit. zum Problem bei SK-StPO/Frisch (Fn. 9), § 337 Rn. 77 ff. 67 Zusammenfassend dazu SK-StPO/Frisch (Fn. 9), § 337 Rn. 27, 206 ff.

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lung) angewiesen ist, weil der Revisionsführer bisher in der tatrichterlichen Verhandlung das ihm Mögliche unternommen hat. Der Revision entzogen werden dagegen die Fälle, in denen die Rechtsverwirklichung bei bestimmtem, nach Auffassung des Revisionsgerichts vom Revisionsführer erwartbarem Verhalten schon in der Tatsacheninstanz möglich gewesen wäre, der Revisionsführer aber diesen von ihm zu erwartenden Beitrag unterlassen hat. Natürlich lassen sich gegen die skizzierte Lösung, also den Zwang zur Geltendmachung etwaiger Fehler des Tatrichters schon in der Verhandlung vor dem Tatrichter selbst mit der Folge des Rügeverlusts bei fehlender Geltendmachung, dogmatische und prozesstheoretische Einwände formulieren, etwa der Einwand einer problematischen Verschiebung der Verantwortungsbereiche oder einer dem Gesetz fremden Präklusion. Auf der anderen Seite ist freilich eines ebenfalls klar: Wenn die Revisionsgerichte durch das Rügeaufkommen angesichts ihrer begrenzten Ressourcen an Grenzen stoßen und Schwierigkeiten haben, das Rügeaufkommen zu bewältigen, so kann die Lösung unter der Voraussetzung unveränderter Ressourcen letztlich allein in einer Einschränkung der sachlich bearbeiteten Fälle liegen – statt dessen einfach die Qualität der Bearbeitung allgemein den vorhandenen Ressourcen anzupassen, ist keine ernsthaft diskutable Lösung. Zuzugeben ist der Rechtsprechung meines Erachtens auch, dass die Fälle, die sie über spezielle Rügevoraussetzungen oder Rügehindernisse der Revision entzieht, diskutable Kandidaten einer etwa notwendigen Einschränkung sind. Und ebenso wenig ist es aus meiner Sicht zu beanstanden, wenn die Rechtsprechung den Umgang mit Verfahrensrügen auf der Basis der vorhandenen Ressourcen konzipiert und nicht auf Ressourcenzuwächse setzt, die in einer Zeit allgemein knapper Ressourcen ganz ungewiss sind – mag es auch geboten sein, in dieser Richtung tätig zu werden. Für die weitere sinnvolle Diskussion der Problematik dringend notwendig erscheint mir nach allem exakteres Wissen zur Frage, wie sehr die Revisionsgerichte durch die gegenwärtige Praxis der Revisionseinlegung unter Druck stehen und ohne Einschränkungen der genannten Art Gefahr laufen, ihren Aufgaben in den Fällen nicht mehr qualitätsgerecht nachkommen zu können, für die die Revision unverzichtbar erscheint. Anzeichen für einen solchen Druck gibt es freilich – etwa die vielen Fälle, in denen Revisionsgerichte schon heute auf eine abschließende Entscheidung der Verfahrensrüge verzichten, weil die Sachrüge erfolgreich ist.

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6. Zwänge aufgrund normativer Prinzipien – Die verstärkende Wirkung des Beschleunigungsgrundsatzes Der gegenwärtige Zustand der Verfahrensrüge hat freilich nicht nur etwas mit bestimmten – auch normativen – Denkweisen unserer Zeit und mit dem Druck knapper Ressourcen zu tun. Auch normative Prinzipien sind an der Entstehung dieses Zustands nicht unbeteiligt. Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung dürfte vor allem ein Prinzip haben, das die Revisionsgerichte schon deshalb besonders ernst nehmen müssen, weil sie insoweit selbst sehr aufmerksamer Überwachung, und zwar auch durch transnationale Gerichte, unterliegen: der Beschleunigungsgrundsatz. Wie sehr dieser Grundsatz schon in der Vergangenheit auf bestimmte Bereiche des Strafprozessrechts, etwa das Recht der Untersuchungshaft, oder auf Materien des materiellen Strafrechts, etwa das Strafzumessungsrecht, gewirkt hat, ist bekannt. Dass er sogar in der Lage ist, die Auslegung der Vorschriften zur Beweiskraft des Sitzungsprotokolls zu beeinflussen, hätte bis vor kurzem wohl kaum jemand ernsthaft angenommen. Mittlerweile zeigt die Entscheidung des Großen Senats des BGH,68 die ihre Relativierung der Beweiskraft des Sitzungsprotokolls auch auf die sonst durch materiell ungerechtfertigte Rügen und Aufhebungen heraufbeschworenen Spannungen zum Beschleunigungsgrundsatz gründet, welche Bedeutung dieser Grundsatz und das durch ihn bewirkte Denken in der Kategorie vermeidbaren Zeitaufwands in der obergerichtlichen Rechtsprechung inzwischen erlangt haben. Es ist daher ganz bestimmt keine Fehleinschätzung, wenn man annimmt, dass der Beschleunigungsgrundsatz längst auch einen der Hintergründe für gewisse einschränkende Tendenzen im Bereich der Verfahrensrüge bildet. Zwar geht es – natürlich – nicht an, unter Hinweis auf den Beschleunigungsgrundsatz einfach möglicherweise erfolgreichen Verfahrensrügen den Erfolg zu versagen oder sie für unzulässig zu erklären – der Beschleunigungsgrundsatz kann nicht einfach gegen die Verfahrensrüge ins Feld geführt werden, sondern muss mit dieser, die vom Gesetz ausdrücklich vorgesehen ist, in praktische Konkordanz gebracht werden. In Betracht kommen mit anderen Worten allenfalls im Blick auf den Beschleunigungsgrundsatz begründete Einschränkungen. Diese können auch nicht willkürlich bei irgendwelchen Rügen ansetzen. Sie können vielmehr allenfalls solche Rügen betreffen, bei denen es aus sachlichen Gründen einsichtig ist, die Rüge im

68 BGH GSSt 1/06 v. 23.4.2007 S. 18 = BGHSt 51, 298 (310 f.); zur Diskussion vor dieser Entscheidung eingehend Fezer, FS Otto (2007), S. 901 ff. und Beulke, FS Boettcher (2007), S. 17 ff.

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Blick auf den Beschleunigungsgrundsatz auszuschließen. Sachlich einsichtig aber ist dies – jedenfalls im Prinzip – dort, wo der Revisionsführer mit der Einlegung der Revision eine zum Beschleunigungsgrundsatz in Spannung stehende Art der Rechtsverwirklichung wählt, obwohl die Rechtsverwirklichung auch auf andere, mit dem Beschleunigungsgrundsatz nicht (oder nicht so sehr) in Spannung geratende Weise erreichbar gewesen wäre. Die Sachverhalte, auf die das zutrifft, sind leicht ersichtlich: Es sind die auch schon unter dem Aspekt der unnötigen Inanspruchnahme knapper Ressourcen problematischen Fälle, in denen der Revisionsführer Verfahrensfehler, die er – z.B. durch Zwischenrechtsbehelfe oder durch Widerspruch – schon in der Verhandlung vor dem Tatrichter hätte geltend machen können, dort nicht geltend macht, sondern erst in der Revision rügt. Revisionsrügen dieser Art auszuschließen und so dazu zu zwingen, entsprechende Verfahrensfehler bereits in der Hauptverhandlung vor dem Tatrichter geltend zu machen, liegt damit nicht nur aus den schon erwähnten ressourcenspezifischen Erwägungen, sondern auch zur Vermeidung von Spannungen zum Beschleunigungsgrundsatz nahe69 – die Qualifikation konkreter Verfahrensrügen, die dem nicht entsprechen, als unzulässig, ist nur die Folge dieser umfassenderen Konzeption einer ressourcenschonenden und auf zügige Durchführung des Verfahrens bedachten Binnenorganisation der Fehlerbeseitigung im Verhältnis der tatrichterlichen Verhandlung und der Revision. Da hier sogar zwei sich gegenseitig verstärkende Gesichtspunkte in Richtung auf bestimmte Einschränkungen weisen, ist zugleich kaum damit zu rechnen, dass die Rechtsprechung im Kernbereich der betroffenen Sachverhalte von dem eingeschlagenen Weg wieder abgehen wird. Natürlich ist auch hier mit der Beschreibung der vorhandenen Kräfte noch nicht über die normative Adäquität (der Einschränkungen) entschieden. Doch fällt die Kritik an der Rechtsprechung hier meines Erachtens schwer(er), wenn man sieht, dass es primär gar nicht darum geht, einzelne unter Umständen erfolgreiche Verfahrensrügen durch Zusatzanforderungen auszuhebeln, sondern dass es um die allgemeine, die Gesamtkonzeption des Verfahrens betreffende Frage geht, in welcher Phase des Verfahrens (vom Revisionsführer schon in der tatrichterlichen Hauptverhandlung erkannte und rügbare) Verfahrensfehler geltend zu machen sind – wobei die Beantwortung dieser (Vor-)Frage natürlich Rückwirkungen auf die Revision hat.

Dies um so mehr, wenn man in der (Notwendigkeit einer) Aufhebung und Zurückverweisung in der Revisionsinstanz eine Verletzung des Beschleunigungsgebots sieht; zu dieser umstr. Frage Nack, FS zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesanwaltskammer (2006), S. 425 f., 430 ff. 69

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Ich will das Problem in eine Frage kleiden, die die Antwort eigentlich nahe legt: Ist es oder wäre es in einer Zeit knapper, nicht ohne weiteres vermehrbarer Ressourcen der Justiz, in der zugleich in allen Phasen des Verfahrens der Beschleunigungsgrundsatz zu beachten ist, wirklich eine adäquate Binnenorganisation der Verfahrensphasen, Optionen offen zu halten, die unter dem Aspekt der Rechtsverwirklichung nicht notwendig sind, aber bei gezielter Ausnutzung erhebliche Ressourcenprobleme verursachen und Spannungen zu wichtigen normativen Prinzipien geradezu programmieren?

7.

Ausblick

Mit diesen Bemerkungen zur Verfahrensrüge muss es hier sein Bewenden haben. Ohnehin ist das, was zunächst nur als Skizze gedacht war, länger geworden als geplant. Ziel des Beitrags war es aufzuzeigen, dass die Entwicklung der Revision vom Inkrafttreten der StPO bis heute, soweit es um die großen Linien geht, zum wenigsten das Ergebnis dogmatischer und prozesstheoretischer Argumentationen ist. Der Wandel der Revision ist Ausdruck sich ändernder geistiger Strömungen und gesellschaftlicher Bedingungen und Erwartungen. Materialisierung des Denkens und ein stärker ergebnisorientiertes, an der Richtigkeit vor allem des Ergebnisses interessiertes und dieses pragmatisch, aber auch unabhängig von zufällig eingelegten oder nicht eingelegten Verfahrensrügen, gewährleistendes Denken haben zu einer Ausweitung der Sachrüge geführt und zugleich die Erfolgsaussichten der Verfahrensrüge in mehrfacher Hinsicht „ausgedünnt“. Das Bemühen um einen sachgerechten Einsatz knapper justizieller Ressourcen und der Einfluss transnational überwachter normativer Prinzipien haben zu weiteren Einschränkungen des Anwendungsbereichs der Verfahrensrüge geführt. Natürlich mag es nahe liegen, diesen Wandel der Revision und die internen Verschiebungen zwischen Sachrüge und Verfahrensrüge als Deformation der Revision von 1877 zu qualifizieren und damit zu verwerfen. Ich sehe die Entwicklung positiver. Man sollte bei der Würdigung des Wandels der Revision nicht nur nicht vergessen, dass die Revision des Gesetzgebers von 1877 ein noch wenig erprobter Kompromiss aus den damals vorfindbaren Rechtsmittelsystemen war, der schon deshalb nicht einfach zum alleinigen Maßstab der Dinge gemacht werden kann. Selbst wenn die Revision dem damaligen Zustand der Gesellschaft und ihrem Denken entsprochen haben sollte, bleibt weiter zu bedenken, dass sich das Recht einer Gesellschaft mit dem Wandel dieser Gesellschaft und ihres Denkens verändert. Die schrittweisen Veränderungen, die die Revision – von der in ihre eigenen Problemdiskussionen vertieften Wissenschaft lange Zeit unbemerkt – im Laufe der Jahrzehnte durch die Rechtsprechung erfahren hat, sind Ausdruck solchen Wandels. Unter dem Druck neuer geistiger Strömungen

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und veränderter gesellschaftlicher Erwartungen und Bedürfnisse ist so aus einer nach dem ursprünglichen Konzept (der Motive) etwas juristischspröden und nur sehr begrenzt leistungsfähigen (damaligen) Revision ohne Aufgabe der Grundkonzeption ein Rechtsmittel geworden, das nicht nur die Veränderungen der Gesellschaft überstehen konnte, sondern in entscheidender Hinsicht auch deutlich effizienter geworden ist. Ohne diese Veränderungen wäre die Revision längst einem Rechtsmittel gewichen, das über die durch die Rechtsprechung entwickelten Modifizierungen hinaus wohl eine Reihe weiterer Veränderungen enthielte und damit noch mehr von dem manchem offenbar noch immer als Ideal erscheinenden Konzept der Motive der StPO von 1877 abweichen würde. Für den Theoretiker und Dogmatiker enthalten die vorstehenden Einsichten, selbst wenn er mit den meisten Entwicklungen einverstanden sein sollte, freilich auch etwas Beunruhigendes. Wenn die Ausgestaltung und Entwicklung rechtlicher Institutionen so sehr vom Zeitgeist und von gesellschaftlichen Erwartungen und Bedürfnissen geprägt ist: Was sind dann eigentlich juristische, insbesondere rechtsdogmatische und rechtstheoretische Argumentationen noch wert? Bleibt für sie – jenseits der Verdeutlichung des Unübersteigbaren – womöglich nur der Raum, den Zeitgeist und gesellschaftliche Bedürfnisse ihnen lassen? Doch ist das ein neues Thema, das einer eigenen, sehr grundsätzlichen Bearbeitung bedürfte.

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I. Historisches Als sich Mitte der 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der verehrte Jubilar dieser Festschrift in seiner Monografie zu den „Möglichkeiten einer Reform der Revision in Strafsachen“1 mit den damals vorliegenden rechtspolitischen Reformvorschlägen befasste, ging es noch darum, Fehlurteile zu vermeiden. Es wurde darüber diskutiert, ob zur Qualitätsverbesserung strafrechtlicher Urteile einer erweiterten Revision oder der Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz für alle Strafverfahren (beschränkte Berufung) der Vorzug zu geben sei. Vorausgegangen waren den Reformvorschlägen des Deutschen Richterbundes, des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer und einer von den Justizministerien des Bundes und der Länder eingesetzten Arbeitsgruppe2 die teilweise alarmierenden Ergebnisse des Forschungsprojekts, das Karl Peters von 1970 bis 1972 bei der Auswertung von Wiederaufnahmeverfahren vorgestellt hatte.3 Fezer wog das Für und Wider aller Vorschläge ab und kam auch unter Berücksichtigung der bereits damals insbesondere unter Hinweis auf die „Großverfahren“ gegen eine zweite Tatsacheninstanz für alle Verfahren geltend gemachten Praktikabilitätseinwände zu dem vorsichtig formulierten Ergebnis, wonach „der Nachweis, dass eine beschränkte Berufung als erstes Rechtsmittel in Strafsachen ungeeignet sei, erst noch erbracht werden“ müsse. Und Fezer schloss daran sein Fazit an: „Der Gesetzgeber sollte dies bedenken,

Fezer, Möglichkeiten einer Reform der Revision in Strafsachen (1975); Spätere Befassungen Fezers mit der Thematik in: Rechtssicherheit versus Einzelfallgerechtigkeit, Bd. 9 der Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaften des DAV (1992), S. 58 ff.; Fezer StV 1995, 95 f. und Fezer, FS Hanack (1999), S. 331 ff. 2 Alle drei Gesetzesvorschläge sind abgedruckt bei Fezer, Möglichkeiten (Fn. 1), S. 301 ff. 3 Peters, Fehlerquellen im Strafprozess, Bd. I (1970), Bd. 2 (1972), Bd. III (1974). 1

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bevor er sich (scil: stattdessen) für eine Erweiterung der Revision entscheidet.“4

II. Geänderte justizpolitische Bedingungen Das waren noch Zeiten! Das Thema Rechtsmittelreform ist uns bis heute als uneingelöstes Gesetzgebungsvorhaben erhalten geblieben. Aber wo sind die Kommissionen und die Gesetzentwürfe, die sich dieser Frage noch unter dem Aspekt einer verbesserten Wahrheits- und Rechtsfindung annehmen würden? Stattdessen hat es in den letzten beiden Jahrzehnten zahlreiche Änderungen des Verfahrensrechts gegeben, die sich teils unmittelbar (z.B. Zulassungsberufung), meist aber mittelbar einschränkend auf die Rechtskontrolle ausgewirkt haben.5 Es hat darüber hinaus Eckpunktepapiere, Referentenentwürfe für einen Abbau der Rechtsmittelbefugnisse und einen Appell des BGH an den Gesetzgeber gegeben, die verbreitete Praxis der Urteilsabsprachen (mit Rechtsmittelverzicht!) gesetzlich zu regeln, und es gibt – dem folgend – Entwürfe, die z. T. sogar vorsehen, im Falle „konsensual“ erstinstanzlich entschiedener Strafverfahren die Rechtsmittelkontrolle erheblich einzuschränken und insbesondere die Rüge der unzulänglichen Aufklärung des Sachverhaltes völlig auszuschließen.6 Und die vor Fertigstellung dieses

Fezer, Möglichkeiten (Fn. 1), S. 294. Die Strafkammern wurden verkleinert (§ 76 Abs. 2 GVG), die Unterbrechungsfristen für die Hauptverhandlung verlängert (§ 229 StPO), der Urkundenbeweis weitgehend der Unmittelbarkeit, Mündlichkeit und der Öffentlichkeit entzogen (§ 249 Abs. 2), beim Zeugenbeweis die Fernvernehmung durch Videoschaltung eingeführt und erleichtert (§ 247a StPO), die Ersetzung einer persönlichen Vernehmung von Zeugen in der Hauptverhandlung durch Verlesung von Protokollen und schriftlichen Erklärungen (§ 251 Abs. 1, 2 StPO) oder auch durch frühere Videoaufnahmen (§ 255a StPO) erleichtert bzw. eingeführt, die Ersetzung von mündlichen Erörterungen mit Sachverständigen durch Verlesung schriftlicher Gutachten erleichtert (§ 256 StPO), die Mündlichkeit von gehäuften Verteidigungsanträgen optional beseitigt (§ 257a StPO), den Tatgerichten auch bei revisiblen Rechtsfehlern die Urteilsaufhebung und Zurückverweisung durch das Revisionsgericht erspart, indem man dem Revisionsgericht eine eigene Strafzumessungskompetenz zubilligte (§ 354 Abs. 1, 1a und 1b StPO), und die Gefahr der Urteilsaufhebung wegen eines Verfahrensfehlers dadurch minimiert, dass Zwischenentscheidungen vermehrt für unanfechtbar erklärt, und die Zeugenvereidigung vom Grundsatz in eine Ermessensausnahme herabgestuft wurde (§ 59 StPO). 6 BRAK-Strafrechtsausschuss ZRP 2005, 235; Landau/Bünger ZRP 2005, 268; kritisch zu dem Entwurf DAV-Strafrechtsausschuss StraFo 2006, 89 ff.; Wesslau StV 2006, 357; vgl. auch Eckpunkte der Konferenz der Generalstaatsanwälte, NJW 1–2/2006, Umschlagseite XVI, XVIII. Der erste Referentenentwurf für eine gesetzliche Regelung der Urteilsabsprachen aus 4 5

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Beitrages letzte Gesetzesinitiative aus dem Bundesrat schlägt vor, ohne jede Kompensation des damit verbundenen Kontrollverlusts kurzerhand die Sprungrevision ebenso abzuschaffen wie die Revision nach durchgeführter Berufung („Wahlrechtsmittel“). Der Entwurf beginnt unter der Überschrift „Problem und Ziel“ mit einem Hinweis darauf, dass die Justiz infolge zahlreicher Gesetzesänderungen eine Vielzahl zusätzlicher Aufgaben übernommen habe, so dass sie schon am Rande ihrer Belastbarkeit arbeite. Deshalb müssten Strafverfahren noch mehr als bisher beschleunigt und gestrafft werden.7 Da dies seit einiger Zeit die politischen Vorzeichen der Diskussionen um die „Reformen“ des Strafverfahrens im Allgemeinen und des Rechtsmittelsystems im Besonderen sind, wäre es wünschenswert, wenn die Strafrechtswissenschaft sich erneut des Themas annähme. Gewiss ist es schwerer geworden als in den Zeiten von Karl Peters, die Fehlurteilshäufigkeit des bestehenden Strafjustizsystems anhand einer Gegenprobe von formalisierten (Wiederaufnahme-)Verfahren rechtstatsächlich zu ermitteln, weil „ausgedealte“ Urteile vor und nach Rechtskraft nur höchst selten Gegenstand von Anfechtungen werden. Und einer Arbeit wie der Fezers aus den Jahren 1974/75 würde es heute am Untersuchungsgegenstand fehlen: Vorschläge zu einer Verbesserung der Richtigkeitskontrolle tatrichterlicher Erkenntnisse macht mangels politischer Durchsetzbarkeit schon lange niemand mehr. Da es derzeit geradezu utopisch wäre, auf solche Reformansätze zu hoffen, gibt es durchaus Anlässe, das Augenmerk darauf zu richten, welche Anstrengungen inzwischen die Revisionsgerichte selbst, und hier vor allem der BGH unternommen haben, um in weitest möglicher Ausschöpfung der nach geltendem Recht bestehenden Prüfungskompetenz dem Hauptvorwurf gegen die bestehende Arbeitsteilung zwischen Tat- und Revisionsrichter entgegenzuwirken: Dass in den „kleinen“ Strafsachen erst nach zwei Tatsacheninstanzen eine auf reine Rechtsfragen reduzierte Revision stattfindet, während über Kapitaldelikte und schwere Vergehen mit hohen Freiheitsstrafen nur das Revisionsgericht wacht, das aber in die für die Betroffenen meist wichtigsten Entscheidungselemente – die Beweiswürdigung und das Strafmaß – nicht „eingreifen“ darf. Dies wurde in der Vergangenheit und wird außerhalb der Reformdiskussion auch heute noch vielfach als Missstand und als Gerechtigkeitslücke empfunden.

dem BMJ (unter http://www.bmj.bund.de/media/archive/1233.pdf) hatte noch die Beschränkung der Rechtsmittel für den Fall einer Urteilsabsprache übernommen, während die derzeitige Fassung für einen Regierungsentwurf vom 19.6.2007 diese Vorschriften wieder gestrichen hat (noch nicht veröffentlicht). 7 BT-Drs. 16/6969 v. 7.11.2007.

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III. Erweiterte Revision im Wege der Selbsthilfe des BGH Dies dürfte auch der Ausgangspunkt der verdienstvollen Arbeiten des früheren Senatsvorsitzenden Gerhard Herdegen gewesen sein, der seit den 80er Jahren8 aus der Mitte des BGH heraus durchaus nicht nur mit praxisorientierten, sondern auch erkenntnistheoretisch und strafprozessdogmatisch anspruchsvollen Arbeiten seine Lehre vom revisiblen Beweismaß der intersubjektiv argumentativ vermittelbaren hohen Wahrscheinlichkeit entwickelte.9 Ihm ist es auch zu verdanken, dass sich bei den Strafsenaten die Erkenntnis durchsetzte, dass „Beweis“ ein zentraler Rechtsbegriff und nicht nur „etwas Tatsächliches“ ist, mit dem man die Tatrichter alleine lassen müsste. So entstand auch das Bewusstsein um die Notwendigkeit, dass die Revisionsgerichte praktischerweise im Rahmen der Sachrüge10 die Tatrichter dazu zu „erziehen“ haben, ihre Urteile so zu begründen, dass es dem Revisionsgericht nicht nur möglich ist, die Subsumtion eines „fertigen“ Sachverhalts unter die jeweilige Strafnorm zu überprüfen, sondern auch den Herstellungsprozess der für das Revisionsgericht im Übrigen bindenden Feststellungen über das Tatgeschehen. Und da es wegen des Beratungsgeheimnisses keine Protokolle über den Hergang der Erörterungen in der Urteilsberatung geben darf, verlangen die BGH-Senate eine möglichst lückenlose Darstellung und Erörterung der die Überzeugungsbildung des Tatgerichts tragenden Erwägungen in der schriftlichen Urteilsbegründung. Die Herdegensche Lehre vom Beweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit als notwendige argumentative Rechenschaft des Tatrichters für seine Beweiswürdigung hat sich inzwischen auch eine Kammer des BVerfG zu Eigen gemacht.11

8 Diese zeitliche Einordnung bezieht sich auf die Entwicklung eines theoretischen Überbaus zu der bereits seit Beginn der 70er Jahre kasuistisch begonnenen Entwicklung, zu der Fezer zutreffend feststellt, dass sie lange Zeit (gemeint ist wohl: von der Rechtswissenschaft) unbemerkt geblieben ist. Fezer, FS Hanack (1999), S. 333. 9 Herdegen, FS Kleinknecht (1985), S. 175. Erneut veröffentlicht in: Herdegen, Beweisantragsrecht, Beweiswürdigung, strafprozessuale Revision, Bd. 5 der Schriftenreihe Deutsche Strafverteidiger e.V. (1995), S. 60 ff., 62.; vgl. dazu Hamm, in: Otto Lagodny (Hrsg.), Der Strafprozess vor neuen Herausforderungen, Schriftenreihe Deutsche Strafverteidiger e.V. Bd. 20 (2000), S. 17 ff. 10 Dazu, dass es sich hier nicht eigentlich um sachlichrechtliche Fehler handelt, sondern um die im Rahmen der Sachrüge konkludent mit beanstandete Verletzung des § 267 StPO (str.) vgl. Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl. (1998), Rn. 1156 ff.; ähnlich auch Fezer, FS Hanack (1999), S. 335. 11 BVerfGE 1, 145 ff. = StV 2003, 593 = NJW 2003, 2444 mit Bespr.-Aufsatz Herdegen NJW 2003, 3513 ff.

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IV. Fallbeispiel Was aus dieser Prüfungsmethode, die durchaus einer erweiterten Revision gleichkommt,12 inzwischen geworden ist, zeigt ein vom BGH im Februar 2007 entschiedener Fall, der hier deshalb etwas ausführlicher vorgestellt werden soll, weil er verdeutlicht, welche Fortschritte die revisionsrechtliche Rechtsprechung inzwischen aus eigener Kraft vollzogen hat. Das Landgericht hatte den Angeklagten W. wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit versuchter Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. F. (ein Mitglied des Motorradclubs „Red Devils“, der auch mit Drogen handeln sollte) war mit der Anklage vorgeworfen, zusammen mit einem Mittäter einen Herrn S. in dessen Wohnung mit brutalen Bedrohungen um einen DVD-Spieler beraubt zu haben, nachdem Geld in der Wohnung nicht zu finden war. Zu den Zwangsmitteln habe auch das unmittelbare Ansetzen eines Messers an die linke Hand des S. auf den Couchtisch gehört mit der Androhung, einen Finger abzuschneiden. Das Landgericht hatte seine Überzeugung zum Kerngeschehen ausschließlich auf die Aussage des Zeugen S. gestützt. Dieser Zeuge hatte die Geschichte so bei seiner ersten polizeilichen Vernehmung berichtet, das Geschehen dann aber während seiner ersten Vernehmung in der Hauptverhandlung ein halbes Jahr später anders dargestellt. Nunmehr hatte der Zeuge angegeben, dem Angeklagten noch einen Betrag von 400 Euro aus einem 3– 4 Jahre zurückliegenden Verkauf einer Stereoanlage zu schulden. W. habe ihn am Tattag auf diese Schulden angesprochen und ihn aufgefordert, 400 Euro zu zahlen. W. habe erfolglos in den Schränken nach Geld gesucht. Er, S., sei nach einer Ohrfeige zu Boden gegangen. Er habe sich daraufhin damit einverstanden erklärt, dass der DVD-Spieler mitgenommen werden könne. Die Sache mit den Schulden sei ihm zum Zeitpunkt seiner polizeilichen Vernehmung nicht eingefallen, sondern erst später. Gleichwohl hat das Landgericht seine Beweiswürdigung auf die erste (polizeiliche) Aussage gestützt, die eine Subsumtion unter den Straftatbestand des Raubes ermöglichte. Wäre die Strafkammer der neuen Version des Zeugen S. gefolgt, wäre dieses Geschehen nur als Körperverletzung und Erpressung oder Nötigung strafbar gewesen. Der Zeuge S. war nach seiner den Angeklagten entlastenden Aussage nach Bestellung eines Zeugenbeistands während seiner zweiten Zeugenvernehmung in der Sitzung vom 28. März 2006 zur alten Version zurückge-

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Fezer, FS Hanack (1999), S. 331 ff.

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kehrt. Dass dies auf Druck des Vaters des Anzeigeerstatters H. erfolgt sei, hatte der Zeuge S. verschwiegen. Die den Angeklagten entlastende Aussage des S. hielt das Landgericht für unglaubwürdig und damit erklärbar, dass er aufgrund seiner Persönlichkeit wenig standfest sei, und dass er offenbar erhebliche Ängste vor dem Angeklagten W. und seinen Begleitern gehabt habe. Dass ungefähr ein Jahr nach dem Tatgeschehen bei einer Hausdurchsuchung in der Wohnung des Zeugen S. exakt ein solcher DVD-Player (wieder?) im Regal vorgefunden werden konnte mit auch noch identischer Produktionsnummer, erklärte der Zeuge S. zunächst während der Durchsuchung seiner Wohnung mit der Behauptung, er habe dieses Gerät von einem „Kumpel“, den er nicht nennen wolle. Während einer weiteren Zeugenvernehmung kurz darauf, bekundete er, er habe das Gerät auf der Straße in Berlin für 40 Euro besorgt. Weitere Fragen dazu beantwortete er unter Hinweis auf § 55 StPO nicht. Das Landgericht würdigt diese Vorgänge in seinem Urteil nicht. Der Bundesgerichtshof hob das tatrichterliche Urteil auf die Sachrüge mit folgender Begründung auf:13 „Die Beweiswürdigung des Landgerichts entspricht nicht den besonderen Anforderungen, die in der auch hier gegebenen Konstellation Aussage gegen Aussage (vgl. BGH StV 1998, 250) zu erfüllen sind (vgl. BGHSt 44, 153, 158 f.). Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist lückenhaft, weil es die Umstände des von S. bekundeten Erwerbs eines bauartgleichen DVDSpielers wie des geraubten nicht in seine Aussageanalyse einbezogen hat. Dadurch hat das Landgericht Gesichtspunkte außer Acht gelassen, die das vom Zeugen bekundete für den Angeklagten günstigere Alternativgeschehen – Inpfandnahme des DVD-Players wegen bestehender Schulden – zu stützen in der Lage gewesen wären (vgl. Nack StV 2002, 510, 514). Dieses widersprüchliche, schon im Blick auf das vom Zeugen in Anspruch genommene Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO kritisch zu bewertende Aussageverhalten (vgl. BGHSt 47, 220, 223 f.) hätte vorliegend in die Würdigung des Wahrheitsgehaltes der für glaubhaft erachteten Aussage einbezogen werden müssen. Dies gilt umso mehr, weil es das Landgericht unterlassen hat, nach kriminalistischen Erfahrungsregeln (vgl. BGH wistra 2002, 260, 262; BGH Urteil vom 16. März 2004 – 5 StR 490/03; BGH wistra 2007, 18, 19 f.) eine Wahrscheinlichkeit zu

Beschluss vom 1.2.2007 – 5 StR 519/06 (bisher nur bei BGH-Nack veröffentlicht); instruktiv auch die Entscheidung vom selben Tag 5 StR 494/06 in StV 2007, 284. 13

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erwägen, mit der ein – eher nicht weit verbreitetes – Gerät der Unterhaltungselektronik mit identischer Produktionsnummer von einem Hehler hätte erworben werden können. Dies und auch das unübliche Verhalten von Räubern, die unmaskiert lediglich ein Gerät aus einer gut ausgestatteten Wohnung mitnehmen, hätte dem Landgericht Anlass geben müssen, im Einklang mit dem von dem Zeugen geschilderten Alternativverhalten der Täter eine vorübergehende Mitnahme des DVD-Spielers als Pfand in Erwägung zu ziehen. Das Landgericht hat es ferner unterlassen, auch die weiteren Qualitätsmängel der Aussage des Zeugen S. in einer Gesamtbetrachtung zu bewerten (vgl. BGHR StPO § 261 Zeuge 3; Indizien 1, 7). Die Strafkammer ist der belastenden Aussage des Zeugen S. bezüglich des Mitangeklagten F. nicht gefolgt, nachdem S. bei einer polizeilichen Nachvernehmung am 24. 9.2005 ausdrücklich erklärt hatte, er wisse nicht mehr, wer ihn geschlagen habe. Das Landgericht misst damit der fehlenden Aussagekonstanz der F. belastenden Aussage Bedeutung zu, unterlässt aber eine ausdrückliche Begründung, warum solches bei der Bewertung der Aussage zum Nachteil des Angeklagten W. nicht anzunehmen ist. Die Strafkammer hat daneben den Umstand nicht in ihre Aussageanalyse einbezogen, dass S. der Wahrheit zuwider angegeben hat, von dem Zeugen Sch. nicht unter Druck gesetzt worden zu sein, am 28.3.2006 eine – wie geschehen – den Angeklagten W. belastende Aussage zu machen. Schließlich begegnet die Erwägung des Landgerichts Bedenken, S. hätte aus Angst vor dem Angeklagten W. eine für diesen günstigere Falschaussage gemacht. Zwar wäre im Fall einer Wegnahme des DVD-Spielers zur Inpfandnahme eine Strafbarkeit wegen Raubes wegen fehlender Zueignungsabsicht nicht in Betracht gekommen. Indes hätte auch eine Verurteilung des massiv vorbestraften W. nur wegen (räuberischer) Erpressung und gefährlicher Körperverletzung naheliegend zu einer so empfindlichen Sanktion führen können, dass sich S. auch im Blick auf das von ihm geschilderte Alternativgeschehen Racheakten des Angeklagten und seiner Tatgenossen hätte ausgesetzt sehen können. Damit hat das Landgericht der Angst des Belastungszeugen für die Frage, welcher Aussage des Zeugen zu folgen ist, eine zu große Bedeutung beigemessen.“ Wie die Angaben früherer Fundstellen aus der inzwischen ständigen Rechtsprechung zeigen, besteht das Anforderungsprofil an die tatrichterlichen Urteilsgründe zur Beweiswürdigung im Falle eines Schuldspruchs aufgrund einer (einzigen) Zeugenaussage aus folgenden Regeln: –

Die Begründung der tatrichterlichen Beweiswürdigung muss – zumal in Fällen von Aussage gegen Aussage – eine lückenlose Analyse der belastenden Zeugenaussage enthalten.

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Darin muss jedes für den Angeklagten günstigere Alternativgeschehen erörtert und überzeugend ausgeschlossen werden.



Die Signifikanz von widersprüchlichem Aussageverhalten des Zeugen kann einer auf seine Angaben im Übrigen gestützten Feststellung entgegenstehen.



Das Tatgericht darf sich mit einer in sich unschlüssigen Erklärung für das wechselhafte Aussageverhalten nicht zufrieden geben und darf es schon gar nicht für die Zwecke seiner eigenen Würdigung kritiklos übernehmen.



Der Tatrichter muss zu erkennen geben, dass er Aussageinhalte, die nach kriminalistischer Erfahrung unwahrscheinlich sind, als solche gewürdigt hat, und er muss im Einzelnen plausibel begründen, weshalb er ihnen dennoch gefolgt ist.



Dass in einem nicht unwesentlichen Detail die Aussage des Zeugen widerlegt werden konnte, kann es verbieten, dem Zeugen im Übrigen zu glauben.

V. Beweiswürdigung und Zeugenbeweis 1. Entstehungsgeschichte der neuen Rechtsprechung Wie das Beispiel zeigt, haben die Revisionsgerichte erkannt, dass der Zeugenbeweis zwar das wichtigste (i.S.v. häufigste) Beweismittel, aber auch gleichzeitig das schwächste und fehlurteilsträchtigste Beweismittel darstellt. Und es hat sogar den Anschein, dass die Strafsenate des Bundesgerichtshofs manchmal ein wenig Verständnis für die berühmteste aller Beweisregeln alter Zeiten verspüren: Jene mittelalterliche Regel, die unser Nationaldichterfürst Johann Wolfgang Goethe im Faust in den schönen Reim gebracht hat: „Durch zweier Zeugen Mund wird allwegs die Wahrheit kund.“14

14 Selten wird bei diesem Zitat erwähnt, dass Goethe es Mephisto in den Mund legt, der es als teuflisch ironische und zynische Anspielung an jener Stelle verwendet, wo er versucht, Faust als meineidigen Lügner und somit zweiten Zeugen (neben ihm selbst) zu gewinnen. Die alttestamentarische Regel, dass 2 oder 3 Zeugen Voraussetzung für die Todesstrafe durch Steinigung sind (wobei diese Zeugen die ersten Steine selbst zu werfen hatten – Moses 5, 17), ist ebenso wenig auf unsere Zeitbedürfnisse zu übertragen, wie das im Mittelalter vor der Anwendung der Folter vorgeschriebene Beweismaß der Aussage von mindestens zwei „klassi-

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Zwar verbieten weder § 261 StPO noch generell die Rechtsprechung, die Überführung eines Angeklagten allein auf eine einzige den Anklagevorwurf bestätigende Zeugenaussage zu stützen. Aber sobald die kritische Konstellation vorliegt, dass mit nur einem Zeugen der Angeklagte schuldig gesprochen werden soll, misstraut der BGH der Beweiswürdigung des Tatrichters so lange, bis im tatrichterlichen Urteil wirklich jedes dem Angeklagten günstigere Alternativgeschehen nachvollziehbar ausgeschlossen, und jedes auch nur erwägenswerte Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen bis zur Grenze der sprachlich überhaupt vermittelbaren Argumentation so überwunden ist, dass auch das Revisionsgericht – wenn nicht von der Richtigkeit der Schuldfeststellungen – wenigstens davon überzeugt ist, dass der Tatrichter keinen Gedanken bei seinen Erwägungen ausgelassen hat. Dass so etwas das Reichsgericht in den ersten fünf Jahrzehnten nach Inkrafttreten der StPO 1877 noch nicht verlangen konnte, liegt daran, dass bis Mitte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts das Juryprinzip herrschte: 12 Geschworene mussten über die Schuldfrage allein entscheiden, ohne über ihre Überlegungen Rechenschaft ablegen zu müssen oder auch nur zu dürfen. Ein gewisses Maß an Rationalität ihrer Beweiswürdigung und sogar der revisionsrechtlichen Verfahrenskontrolle war dadurch gewährleistet, dass sie einen unter Mitwirkung aller Verfahrensbeteiligten zustande gekommenen „Fragenbaum“ mit in das Beratungszimmer nehmen mussten, wobei sie alle Haupt-, Neben- und Hilfsfragen nur mit Ja oder Nein zu beantworten hatten. Nach Abschaffung der alten Schwurgerichte und ihrer Ersetzung durch aus Berufs- und Laienrichtern zusammengesetzte Kammern, die nunmehr nicht nur über die Schuld-, sondern auch über die Strafhöhe zu entscheiden haben, wurde lange Zeit versäumt, einen Ausgleich für die damit verlorengegangene Disziplinierung der Beweiswürdigung mittels öffentlich diskutiertem Fragenkatalog zu schaffen. Nun war die Beweiswürdigung bis zu der Entscheidung BGHSt 10, 208 lange Zeit vollends eine Black Box, aus der am Ende nichts weiter herauskam als die subjektive Überzeugung des Tatrichters, der keine Rechenschaft über deren Zustandekommen abzulegen brauchte. Es war die Zeit, in der den Tatrichtern empfohlen wurde, möglichst wenig in die Urteile zu schreiben, denn was nicht drin stand, konnte

schen Zeugen“ (vgl. dazu Radbruch, in: Arthur Kaufmann [Hrsg.], Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, 6. Aufl. (1996), S. 5 ff., 19. Aber es macht doch nachdenklich, dass für die Geständniserzwingung durch Folter ein höheres Beweismaß notwendig war als nach der StPO für die Verurteilung. Vgl. auch Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. (1965), S. 129.

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vom Revisionsgericht auch nicht (z.B. als Verstoß gegen Denk- oder Erfahrungssätze) beanstandet werden. Als dann später der BGH erkannte, wie unerträglich das völlige Kontrollvakuum in der wichtigen Ausfüllung des Rechtsbegriffs „Beweis“ war, wurde zunächst rein kasuistisch Begründungsschwächen als einzelfallbezogene Mängel in Revisionsentscheidungen beanstandet, die durch keinerlei verallgemeinerungsfähige Rechtssätze verbunden waren. Zwar hat es verdienstvolle Rechtsprechungsübersichten mit einer Einteilung in typische Fall- und Fehlergruppen gegeben, z.B. von Niemöller15 und Gerhard Schäfer16. Aber das die dort behandelten Entscheidungen jeweils verbindende Element war nicht der verletzte Rechtssatz oder eine unrichtig angewendete Vorschrift, sondern meist eine Lücke in den tatrichterlichen Begründungen, die sich erst und nur dem Leser auftat, welcher den Versuch unternahm, anhand der konkret mitgeteilten Beweisergebnisse das Maß an Rationalität der daraus gezogenen Schlüsse nachzuvollziehen. Am einprägsamsten blieb bis heute der von Niemöller so genannte Fehlertypus der „Tauben Nuss“.17

2. Rationaler und irrationaler Teil der Beweiswürdigung Einig blieb man sich bis heute darin, dass dem Tatgericht immer ein Rest an Irrationalität zugestanden werden muss, der sich der sprachlichen Vermittlung durch geschriebene Urteilsgründe schlechterdings entzieht, und der seine Legitimität auf etwas stützt, was dem Revisionsrichter nun einmal nicht zugänglich sein kann, nämlich das unmittelbare Erlebnis der tatrichterlichen Hauptverhandlung. Dieser argumentativ nicht vermittelbare Anteil der tatrichterlichen Beweiswürdigung ist nicht bei allen Beweismitteln gleich groß. Es gibt Methoden innerhalb des Sachverständigenbeweises, bei denen die Rationalität der Überzeugungsbildung sehr nahe oder sogar exakt bei 100 Prozent liegt, weil die Nachvollziehbarkeit der aus bestimmten Anknüpfungs- oder Befundtatsachen gezogenen Schlüsse den Gesetzen der Mathematik folgt. Man denke zum Beispiel an jene Entscheidung des Bundesgerichtshofs18, in

Niemöller StV 1984, 431. G. Schäfer StV 1995, 147. 17 Niemöller StV 1984, 434: „Gelegentlich hält der Tatrichter einen Umstand für beweiserheblich, der keine Beweisbedeutung besitzt, in Wirklichkeit also beweisneutral ist; die Beweiswürdigung ernährt sich von tauben Nüssen.“ 18 BGHSt 38, 320 = NJW 1992, 2976 = NStZ 1992, 554 = StV 1992, 455 m. Anm. Vogt StV 1993, 175; Herzog StV 1993, 343; Keller JZ 1993, 103; Lührs MDR 1992, 929; Hippel JR 1993, 124. 15 16

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welcher dem Tatrichter gleichsam verboten wurde, die Täterschaft des Angeklagten allein aufgrund eines DNA-Befundes festzustellen, der die Möglichkeit offen ließ, dass auch noch 35 weitere männliche Bewohner von Hannover die Tat begangen haben konnten. Wenn die Urteilsgründe ausweisen, dass dem Tatrichter nichts weiter zur Verfügung stand als die berechnete Aussagekraft einer ansonsten „stummen“ Tatspur, wonach der Angeklagte mit einer 99,986%igen Wahrscheinlichkeit der Spurenleger ist, kann der für die Überzeugungsbildung verbleibende Rest schlechterdings auch nicht durch ein irrationales Erlebnis aus der Hauptverhandlung aufgefüllt worden sein. Dagegen ist die irrationale Komponente der Beweiswürdigung beim Zeugenbeweis notwendigerweise sehr viel größer. Und mir scheint es sogar so zu sein, dass je mehr wir uns mit Zeugen- und Aussagepsychologie sowie den technischen Möglichkeiten der Messung von Wahrheitsliebe (Lügendetektor!) befassen, wir umso deutlicher erkennen, dass der irrationale und damit sprachlich nur sehr unvollkommen vermittelbare Teil der Glaubwürdigkeitsüberprüfung größer ist als der rationale Anteil. Nun kann man einen Widerspruch darin sehen, dass, wenn beim Sachbeweis die bestreitende Aussage des Angeklagten gegen die „99,986%Aussage“ einer am Tatort gesicherten Spur steht, diese zur Überführung nicht ausreichen soll, während die mit einer wesentlich geringeren Wahrscheinlichkeit überhaupt überprüfbaren Zeugenaussagen zur Täterüberführung zugelassen werden. Aber dieser Widerspruch besteht tatsächlich nicht, weil für die gesamte Beweisaufnahme gilt, dass dem Tatrichter nur, aber auch stets so viel Rationalität abverlangt wird, als von dem jeweiligen Beweismittel ausgeht. Und was sich auf dem oft sehr langen Weg zwischen der Wahrnehmung eines Zeugen bis zu seiner Kommunikation mit dem Tatrichter in den beteiligten Köpfen, Herzen und Bäuchen abspielt, ist nun einmal nur sehr begrenzt dem Revisionsgericht mitteilbar. Will man also nicht wegen seiner Fehleranfälligkeit auf den Zeugenbeweis überhaupt verzichten, bleibt dem Revisionsgericht nichts anderes übrig, als beim Zeugenbeweis die Letztverantwortung dem Tatgericht zu überlassen und an sprachlich vermittelter Überzeugungsarbeit (nur, aber auch stets alles) das zu verlangen, was auch der rationalen Überprüfung zugänglich ist. Das sind nicht nur die Gesetze der Logik, die allgemeinen Erfahrungssätze, die schon lange der revisionsgerichtlichen Kontrolle unterlagen, sondern auch die Regeln der Aussagepsychologie19, wobei sich zunehmend die Er-

Instruktiv hierzu Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. I, Glaubwürdigkeits- und Beweislehre, 3. Aufl. (2007). 19

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kenntnis durchsetzt, dass die in der BGH-Entscheidung zu den Mindeststandards eines Glaubwürdigkeitsgutachtens20 aufgestellten Anforderungen auch für Urteilsbegründungen gelten. Dass dem Tatrichter die Regeln der Aussagepsychologie vertraut sind, und dass er sie auch nicht bei der Würdigung einer Zeugenaussage vernachlässigt hat, muss er in den Urteilsgründen durch Benennung der maßgeblichen Kriterien und ihrer Anwendung darlegen und durch Anwendung der sogenannten „Null-Hypothese“ dem Revisionsgericht beweisen. Diese besagt, kurz gefasst, dass der Tatrichter ebenso wie der Glaubwürdigkeitsgutachter bei der Prüfung einer Zeugenaussage nicht beginnen darf mit der Frage: Warum sollte der Zeuge lügen?, sondern mit der Frage: Warum sollte der Zeuge die Wahrheit sagen? Und wo es z.B. nicht fern liegt, dass bei einem Belastungszeugen Rache als Aussagemotiv gewirkt hat, müssen die Urteilsgründe im Rahmen der sog. Motivationsanalyse Rache als mögliche Quelle einer fehlerhaften Aussage argumentativ nachvollziehbar ausschließen ( „Rachehypothese“).21 Je mehr sich eine in den tatrichterlichen Urteilsgründen mitgeteilte Zeugenaussage von den allgemeinen Erfahrungssätzen entfernt, desto mehr muss der Tatrichter an Begründungsaufwand aufbringen, um dem Revisionsgericht zu erklären, dass er nicht nur dies bedacht hat, sondern dass er auch Gründe gefunden hat, aus denen hier ausnahmsweise nicht das Gewöhnliche, sondern das vom Zeugen geschilderte Ungewöhnliche geschehen sein soll. Enthält eine Zeugenaussage Verstöße gegen Denkgesetze (also Unlogisches), so darf der Tatrichter das Ausgesagte nicht einfach übernehmen, weil sonst sein Urteil unter demselben Denkfehler leidet. Und schließlich wird das Revisionsgericht dem Tatrichter seine nicht weiter begründete pauschale Erklärung, er habe einem Zeugen „halt geglaubt“, nicht abnehmen, weil es in diesen Fällen an jeglichen Angaben über die Merkmale der Glaubwürdigkeit und der Glaubhaftigkeit fehlt. Dass dem Tatrichter die Regeln der Aussagepsychologie vertraut sind, und dass er sie auch nicht bei der Würdigung einer Zeugenaussage vernachlässigt hat, muss er in den Urteilsgründen durch Benennung der maßgeblichen Kriterien und ihrer Anwendung darlegen. Dieser dem Tatgericht vom Revisionsgericht abverlangte Begründungsaufwand ist umso größer, je mehr von der einzelnen Zeugenaussage abhängt. Haben schon zehn Zeugen übereinstimmend dasselbe bekundete, so dürfte es ausreichen, dass im Urteil über den 11. Zeugen nichts weiter steht, als dass er die Angaben der anderen zehn auch noch bestätigt hat. Sagen nur

20 21

BGHSt 45, 164 = NJW 1999, 2746 = StV 1999, 473 m. Anm Vogel NJ 1999, 603. BGH StV 2003, 486.

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zwei Zeugen dasselbe aus, kann diese wechselseitige Bestätigung ganz unterschiedliche Gründe haben. Wer allein schon aus der Übereinstimmung von zwei Zeugenaussagen den Schluss zieht, sie müssten „also richtig“ sein, weil sie einander stützten, verkennt, dass die Übereinstimmung ihre Ursache auch in dem genauen Gegenteil finden kann, nämlich in einer abgesprochenen Falschaussage beider Zeugen. Hier wird man vom Tatrichter also zumindest verlangen müssen, dass er in den Urteilsgründen auch diese Möglichkeit in Betracht zieht und sagt, weshalb er sie ausschließt, und sei es auch nur, dass die beiden Zeugen ihre Aussage „unabhängig voneinander“ gemacht haben. Aber auch dies darf nicht zur wohlfeilen Formel verkommen; vielmehr sollten die Urteilsgründe auch ausweisen, woher der Tatrichter weiß, dass die beiden Zeugen ihre Aussage nicht vorher abgesprochen hatten.

3. Zeugenbeweis, insbesondere „Aussage gegen Aussage“22 Den größten Begründungsaufwand müssen die Revisionsgerichte vom Tatrichter in den Fällen verlangen, in denen von einer einzigen Zeugenaussage alles abhängt, weil sie das genaue Gegenteil dessen enthält, was der Angeklagte zu seiner Verteidigung behauptet. Doch selbst dafür haben die Senate des Bundesgerichtshofs sich lange Zeit gescheut, verallgemeinerungsfähige Regeln zu formulieren, die etwa geeignet gewesen wären, in der amtlichen Sammlung abgedruckt zu werden. Man beließ es bei generalklauselartigen Formulierungen wie „hohe Begründungsanforderungen“, „lückenlose Darstellung“, „Gesamtwürdigung“, oder der Beschreibung von Zweckeignungen wie: „damit das Revisionsgericht in der Lage ist zu überprüfen…“ Entscheidend waren aber auch hier stets Einzelfallbetrachtungen und Mängel der konkreten tatrichterlichen Urteilsbegründungen. Häufig kam der Topos „Aussage gegen Aussage“ auch nur deshalb in Revisionsentscheidungen vor, weil eine negative Aussage über das Fehlen eines Rechtssatzes oder das Nichtbestehen einer Beweisregel klargestellt werden sollte. So enthielt beispielsweise eine Entscheidung des 1. Strafsenats aus dem Jahre 199123 noch folgende nirgends mit abgedruckte Passage: „Soweit … ein Verstoß gegen den Grundsatz ‚in dubio pro reo’ gerügt wird, übersieht die Revision, dass es sich bei diesem Grundsatz nicht um

22 Siehe dazu auch schon Hamm und Maul StraFo 2000, 253 ff. und neuerdings Deckers, FS Hamm (2008), S. 53 ff. 23 BGH 1 StR 552/90 vom 21.11.1991, in NStZ 1992, 292, insoweit nicht mit abgedruckt.

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eine Beweisregel handelt. Dass ‚Aussage gegen Aussage’ steht, zwingt nicht zur Anwendung des Rechtssatzes; für den Angeklagten ist bei der Feststellung von Tatsachen vielmehr dann zu entscheiden, wenn Zweifel bestehen und nicht ausgeräumt sind.“ Dass der Zweifelssatz so lange ohne Bedeutung ist, als der Tatrichter keine Zweifel hat, war immer bekannt. Der ausdrückliche Verzicht der StPO auf Beweisregeln und ihr Bekenntnis zur „freien richterlichen Beweiswürdigung“ in § 261 StPO bedeuten auch, dass das Gesetz grundsätzlich dem Tatrichter nicht vorschreibt, wann er Zweifel zu haben hat. Dies war ja auch über Jahrzehnte hinweg der Grund für eine fast vollständige Prüfungsabstinenz der Revisionsgerichte gegenüber dem Teil der tatrichterlichen Urteile, in denen begründet werden soll, wie das Gericht zu seinen Feststellungen gekommen ist. An diesem Prinzip hat sich zunächst auch durch die fortschreitende und fortschrittliche BGH-Rechtsprechung, die immer mehr dazu übergegangen ist, zwar keine Beweisregeln, aber Begründungsanforderungen zu formulieren, bei deren Verletzung der Tatrichter die Aufhebung seines Urteils riskiert, nichts geändert. Wer diese Rechtsprechung im einzelnen verfolgt, wird feststellen, dass es gerade die Fälle waren, bei denen eine Verurteilung allein auf einer einzigen belastenden Zeugenaussage beruht, die zu der Erkenntnis geführt haben, dass die völlig irrationale und unüberprüfbare Aussage des Tatrichters, er habe eben dem Zeugen und nicht dem Angeklagten geglaubt, eine Quelle für Fehlurteile darstellt, die auch eine reine Rechtsüberprüfungsinstanz nicht ohne weiteres hinnehmen darf. Das gilt umso mehr, als in den meisten dieser Fälle der einzige Belastungszeuge gleichzeitig der Anzeigeerstatter und damit regelmäßig auch das angebliche Opfer der in der Anzeige behaupteten Straftat ist. Handelt es sich zudem bei dem Tatopfer auch noch um den Nebenkläger, so könnte die Frage gestellt werden: Besteht hier eine Ausnahme von dem allgemeinen Rechtssatz, wonach jemand, der vor Gericht einem anderen etwas vorwirft, es anders als dadurch, dass er selbst behauptet, es sei so gewesen, beweisen muss? Wieso darf im Strafprozess eine Partei Zeuge in eigener Sache sein, während dem Angeklagten diese Chance genommen wird? Dass der Begriff der „Parteien“ dem Strafprozess fremd ist, reicht für dieses Phänomen als Erklärung nicht aus. Denn wer durch seine Strafanzeige das ganze Verfahren ins Rollen gebracht hat und dann auch noch als Nebenkläger zeigt, dass er seine privaten Verfolgungs- und Genugtuungsinteressen bei der Staatsanwaltschaft nicht ausreichend gewahrt sieht, hat durchaus eine der Klägerseite im Zivilprozess vergleichbare Parteistellung, deren Objektivität und Neutralität in der Rolle des Zeugen durchaus nicht der des Angeklagten überlegen sein muss.

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Im amerikanischen Strafprozess wird bekanntlich dieses Problem dadurch gelöst, dass der Angeklagte seinerseits auch die Möglichkeit erhält, meist am Ende der Beweisaufnahme auf dem Zeugenstuhl Platz zu nehmen, auf die Bibel zu schwören und sich dann dem Kreuzverhör ebenso wie alle anderen Zeugen zu stellen, um auf diese Weise den Geschworenen bei Aussage gegen Aussage das Argument abzuschneiden, der Zeuge unterliege einer strafbewehrten Wahrheitspflicht, der Angeklagte dagegen nicht. Auch wer – wie der Verfasser dieses Beitrags – das amerikanische Modell nicht als mustergültig zur Einführung in das kontinentaleuropäische Verfahren ansieht, mag an diesem Lösungsansatz erkennen, wie sehr es auch in anderen Rechtskreisen als Problem empfunden werden müsste, wenn der einzige Belastungszeuge einen Glaubwürdigkeitsvorsprung und damit eine Chance hat, seine Behauptungen durch die eigene Aussage zu beweisen.

4. Neue Beweisregeln Da die StPO weder eine Zeugenrolle des Angeklagten noch seine strafbewehrte Wahrheitspflicht vorsieht, muss die Rechtsprechung das Problem des scheinbaren Glaubwürdigkeitsgefälles anders lösen, um zu verhindern, dass das Tatopfer es allein in der Hand hat, den Angeklagten zum Verfahrensopfer werden zu lassen. Wie der eingangs geschilderte neue Fall zeigt, hat sich der BGH dafür entschieden, die oben bereits formulierten Anforderungen an die Beweiswürdigung zu überwachen, und zwar unabhängig davon, ob der einzige Belastungszeuge Opfer, Nebenkläger oder (vielleicht nur scheinbar) am Verfahrensausgang uninteressierter Dritter ist. Für besondere Konstellationen hat die Rechtsprechung sogar der ursprünglichen Konzeption des § 261 StPO zum Trotz zahlreiche Beweisregeln entwickelt. Dies hat Sarstedt24 überzeugend bereits 1968 in der Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch nachgewiesen, ohne dass übrigens daran die heutigen Kritiker an den Eingriffen der Revisionsgerichte in die Beweiswürdigung25 etwas auszusetzen hatten. Ein Beispiel für eine („negative“) Beweisregel wurde schon genannt: Das Verbot an den Tatrichter, einen die Tat bestreitenden Angeklagten allein auf Grund eines auch nur geringfügig unter 100% liegenden Spurenbefundes

Vgl. dazu schon Sarstedt, Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch (1968), S. 171 ff. Foth NStZ 1992, 444 ff. und DRiZ 1997, 201 ff., vgl. auch Gössel, Empfehlen sich Änderungen des Strafverfahrensrechts mit dem Ziel, ohne Preisgabe rechtsstaatlicher Grundsätze den Strafprozeß, insbesondere die Hauptverhandlung, zu beschleunigen?, Gutachten C zum 60. DJT, Bd. I (1994), S. C 79; vgl. insgesamt zur Problematik Sarstedt/Hamm (Fn. 10), Rn. 819 ff. 24 25

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für überführt zu halten. Auch soweit der für Verkehrsstrafsachen zuständige 4. Strafsenat des BGH bezogen auf die Notwendigkeit eines Sicherheitszuschlages von 0,1‰ zum Grundwert der absoluten Fahruntüchtigkeit von 1,0 ‰ die Bezeichnung „Beweisgrenzwert“ verwendet26, bedeutet dies nichts anderes, als dass der Tatrichter im Einzelfall noch so sehr von der Fahrtüchtigkeit des Angeklagten trotz der Überscheitung des BAKGrenzwertes überzeugt sein kann – er darf dem Angeklagten nicht glauben, wenn dieser behauptet, er sei völlig klar im Kopf gewesen und seine Reaktionsfähigkeit sei vollkommen intakt gewesen. Was ist das anderes als eine Beweisregel? Eine solche gibt es auch schon seit längerem zum Zeugenbeweis. Sie betrifft den „Zeugen vom Hörensagen“, wenn es sich bei dem vernommenen Zeugen um einen Vernehmungsbeamten handelte, dessen Informant nur deshalb im Dunkeln bleibt, weil durch eine Sperrerklärung der Exekutive seine unmittelbare Vernehmung vereitelt wird. Hierzu finden wir in einer Reihe von Entscheidungen die Formulierung: „Auf sie (die Aussage eines solchen Zeugen vom Hörensagen) kann eine Feststellung regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn diese Bekundungen durch andere nach der Überzeugung des Tatrichters wichtige Beweisanzeichen bestätigt werden. Das Gericht muss sich der Grenzen seiner Überzeugungsbildung stets bewusst sein, sie wahren und dies in den Urteilsgründen zum Ausdruck bringen.“27 Und in einer weiteren Entscheidung des ersten Strafsenats28 zur Tatprovokation durch Vertrauenspersonen der Polizei heißt es: „Sollte die Vertrauensperson als Zeuge nicht zur Verfügung stehen, so ist hinsichtlich der Aussage seines Vernehmungsbeamten zu beachten, dass nach ständiger Rechtsprechung aller Strafsenate des Bundesgerichtshofs bei der Beurteilung der Aussage eines ‚Zeugen vom Hörensagen’ besondere Vorsicht geboten ist. Der Beweiswert eines solchen Beweismittels ist gering, weil weder das Gericht noch die anderen Verfahrensbeteiligten zu einer eigenen Überprüfung der Glaubwürdigkeit in der Lage sind und das Fragerecht der Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK) in erheblicher Weise beschränkt ist. Feststellungen dürfen auf ein solches Beweismittel regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn der Beweisgehalt die-

NJW 1999, 3058 = StV 2000, 25 im Anschluss an BGHSt 37, 89. BGHSt 33, 178 (181); ähnlich schon BGHSt 17, 382 (385 f.); und danach BGHSt 36, 159 (166); BVerfGE 57, 250 (292 f.) und BVerfG NStZ 1995, 600. 28 BGH, Urt. vom 18.11.1999 – 1 StR 221/99, NJW 2000, 1123 ff. 26 27

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ses Beweismittels durch andere wichtige Beweisanzeichen bestätigt worden ist (…29).“ Auch dies ist nicht mehr die Sprache des die Alleinverantwortung des Tatrichters respektierenden Revisionsgerichts, das sich nur mit der Begründung des angefochtenen Urteils zu befassen hätte, um mit allerlei Kunstgriffen eine Aussage darüber zu vermeiden, was von den Ergebnissen der Beweiswürdigung zu halten ist. Es heißt nicht: „… lassen die Urteilsgründe nicht hinreichend erkennen, ob der Tatrichter bedacht hat,… um dem Revisionsgericht die Nachprüfung zu ermöglichen…“ sondern es heißt stattdessen (wenn man den Satz folgerichtig ins Negative wendet): „Feststellungen dürfen auf ein solches Beweismittel allein überhaupt nicht gestützt werden.“ Das ist aber nichts anderes als eine Beweisregel. Eine vernünftige und eine den Regeln der Aussagepsychologie folgende, aber eben eine Beweisregel wie der Satz: „Die Fahrtüchtigkeit darf nicht festgestellt werden, wenn der gemessene BAK-Wert höher als 1,1 ‰ liegt.“ Wenn es aber bei „Aussage hinter der Aussage“ möglich war, den Tatgerichten mehr als nur allgemeine Umschreibungen von Begründungsqualitäten an die Hand zu geben, um der doch generellen Schwäche dieser fragwürdigen Beweismethode gerecht zu werden, lag es nahe, dies auch für die Fälle „Aussage gegen Aussage“ gelten zu lassen. Dies haben zwei in BGHSt. 44 abgedruckte Entscheidungen aus 1998/99 für besondere Konstellationen vollzogen. Dabei wird zwar immer noch nicht die Möglichkeit als solche in Frage gestellt, bei Aussage gegen Aussage dem Zeugen zu glauben und den Angeklagten allein auf dieser Grundlage zu verurteilen.30 Aber für die Fälle, in denen ein Teil der Aussage des

BGHSt 17, 382 (385 f.); 33, 83 (88); BGH StV 1994, 637 und 638, jeweils m.w.N.; G. Schäfer StV 1995, 147 (152); vgl. zur Verletzung des Art. 6 MRK im Zusammenhang mit „anonymen Zeugen“ EGMR StV 1990, 481; 1991, 193; 1992, 499; 1997, 617. 30 In BGHSt 44, 153 (158) = NJW 1998, 3788 = NStZ 1999, 43 = StV 1998, 580 heißt es sogar noch ausdrücklich: „Das Tatgericht ist … entgegen der Auffassung der Revision nicht grundsätzlich schon dann aufgrund des Zweifelssatzes an der Verurteilung gehindert, wenn ‚Aussage gegen Aussage’ steht und außer der Aussage des einzigen Belastungszeugen keine weiteren belastenden Indizien vorliegen. … Wird die Tat vom Tatopfer selbst in einer Zeugen29

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(einzigen) Belastungszeugen bereits widerlegt ist, und das Tatgericht ihm im Übrigen doch Glauben schenken will, formuliert der BGH nun nicht mehr: „Wird bei ‚Aussage gegen Aussage’ diejenige des einzigen Belastungszeugen hinsichtlich einzelner Taten oder Tatmodalitäten widerlegt, so müssen die Urteilsgründe ergeben, aus welchen Gründen der Tatrichter dennoch ihre Glaubhaftigkeit angenommen hat“ sondern es heißt stattdessen: „Wird bei ‚Aussage gegen Aussage’ diejenige des einzigen Belastungszeugen hinsichtlich einzelner Taten oder Tatmodalitäten widerlegt, kann seinen übrigen Angaben nur gefolgt werden, wenn außerhalb der Aussage liegende Gründe von Gewicht für ihre Glaubhaftigkeit vorliegen; dies ist in den Urteilsgründen darzulegen.“ Während sich also alle bisherigen Entscheidungen zu „Aussage gegen Aussage“ nur mit der Verpflichtung des Tatrichters befasst haben, seine Urteilsgründe (nennen wir es ruhig so:) revisionssicher zu machen, formuliert hier der in den Gründen der BGH-Entscheidung wiederkehrende31 Leitsatz so, dass er sich nicht nur auf das Niederschreiben der Urteilsgründe, sondern auf den Beweiswürdigungsvorgang selbst bezieht und dem Tatrichter die Bedingungen nennt, unter denen er überhaupt nur einer belastenden und in anderen Teilen bereits widerlegten Aussage Glauben schenken darf. Dieser Unterschied wird noch deutlicher in der zweiten, in BGHSt 44 veröffentlichten, Entscheidung.32 „Allein auf Angaben des einzigen Belastungszeugen, dessen Aussage in einem wesentlichen Detail als bewusst falsch anzusehen ist, kann eine Verurteilung nicht gestützt werden.“ Damit ist eindeutig ein Verbot für den Vorgang der Beweiswürdigung selbst begründet, das weiter geht als nur ein Gebot zum sorgfältigen und vollständigen Niederschreiben der Beweiswürdigungsgründe. Die „Adresse“ der vom BGH hier erstmals so formulierten Regel ist nicht das Arbeits-

aussage geschildert, so kann der Angeklagte auf dieser Grundlage verurteilt werden, wenn das Tatgericht von der Glaubhaftigkeit der Aussage dieses einzigen Belastungszeugen überzeugt ist.“ 31 BGHSt 44, 153 (159). 32 BGHSt 44, 256 (257) = NJW 1999, 802 = StV 1999, 304 = BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 17.

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zimmer des Berichterstatters, sondern das Beratungszimmer. Oder normativ ausgedrückt: Während sich die bisherige Rechtsprechung zu „Aussage gegen Aussage“ mit § 267 Abs. 1 StPO befasste und die dort nur sehr schwach geregelten Anforderungen an die Darstellung der Beweiswürdigung in den Urteilsgründen immer mehr ausweitete, legen die beiden BGHSt-44-Entscheidungen ganz vorsichtig Hand an den § 261 StPO selbst, indem sie insoweit die „Freiheit“ der Beweiswürdigung ersetzen durch eine bindende Beweisregel. Das ist – wie anhand der Fallgruppen des Sachbeweises gezeigt – nichts Revolutionäres. Aber für den Bereich des Zeugenbeweises, soweit es nicht um den Zeugen vom Hörensagen geht, ist es etwas Neues. Es ist eine durch Richterrecht geschaffene Beweisregel und damit auch ein kleiner Schritt weg von dem bisherigen Dogma, dass in der Arbeitsteilung zwischen Tatrichter und Revisionsrichter bei der Bewertung von Zeugenaussagen die Letztverantwortung unter allen Umständen immer nur beim Tatrichter liegt. Es sind nun erstmals Konstellationen denkbar, bei denen es dem Tatrichter schlechterdings nicht mehr mit allerlei Absicherungsklauseln gelingen kann, ein auf unzureichender Tatsachengrundlage gefundenes Beweisergebnis „revisionssicher“ zu machen. Der Vorteil für die Praxis besteht darin, dass manches Fehlurteil vermieden, und manche Revision in ihren Erfolgsaussichten besser voraussehbar wird. Während sowohl die Verfasser tatrichterlicher Urteile als auch die mit der Revisionsbegründung befassten Verteidiger in den Zeiten der bisherigen kasuistischen Rechtsprechung zu Aussage gegen Aussage (und zu sonstigen Begründungsmängeln der Beweiswürdigung) oft darüber rätselten, was wohl das Revisionsgericht an zusätzlichen Erwägungen als „nahe liegend“ genug erachten werde, um sie zu „vermissen“, kann man anhand der genannten Beweisregel doch einigermaßen zuverlässig dem Urteil ansehen, ob jene zusätzlichen, außerhalb der Belastungsaussage liegenden gewichtigen Gründe vorgelegen haben oder nicht. Und der Strafkammervorsitzende kann (und muss) seine Schöffen, wenn sie sich in der Beratung dafür aussprechen, dem einzigen Belastungszeugen einfach zu glauben, darüber belehren, dass dies nicht zulässig ist, solange es nichts außerhalb der Aussage gibt, was sie stützt. Das ist ein Fortschritt auf dem Weg zu mehr Rationalität bei der Beweiswürdigung.

VI. Fazit Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Rechtspolitik in die eine und die Rechtsprechung in die andere Richtung sich von der Diskussionsgrundlage weit entfernt haben, die vor etwas mehr als 30 Jahren eine Chance für den

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Gesetzgeber geboten hätte, die Defizite des Rechtsmittelsystems durch eine wirkliche Reform zu beseitigen. Angesichts der erfreulichen richterrechtlich entwickelten Fortschritte bei der revisionsrechtlichen Kontrolle der Begründung der tatrichterlichen Feststellungen sowie der neuen Beweisregeln und angesichts der derzeitigen allein an Beschleunigung und „Effizienzsteigerung“ interessierten Justizpolitik ist es gut, wenn der Gesetzgeber sich jeder Neuregelung enthält.

Der befangene Revisionsrichter Grundlagen der Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen und ihre Anwendung im strafprozessualen Revisionsverfahren* MATTHIAS JAHN

I. Einleitung Der Dichtermund bemerkt spöttisch: „Wenn man alle Gesetze studieren sollte, so hätte man gar keine Zeit, sie zu übertreten“1. Trotzdem werden Studenten der Rechtswissenschaft bisweilen straffällig2, was schon während der weiteren Ausbildung zum Volljuristen erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann, denn die persönliche (und nicht die fachliche, wie das Zitat nahe legt) Eignung kann durch Vorstrafen in Frage gestellt werden3. Unmittelbare Fühlung mit der Strafjustiz sollte man bis zur Ersten Juristischen

* Meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter, Herrn Assessor Thomas Hölzlein, bin ich für wertvolle Vorarbeiten und Diskussionen zu besonderem Dank verpflichtet. 1 Goethe, in: Bertram (Hrsg.), Werke (1998), Bd. XVIII, S. 504. 2 Siehe dazu unlängst die Ergebnisse der Befragung von Kinzig (www.idw-online.de/ pages/de/news196586, besucht am 7.4.2008). Nach ihr sind 77% der Besucher einer Tübinger Vorlesung zum Jugendstrafrecht bereits „schwarzgefahren“, 56% haben schon einmal unerlaubt Computersoftware kopiert und 51% einen kleineren Diebstahl oder Ladendiebstahl verübt. Zur Jugenddelinquenz im Zusammenhang mit der Juristenausbildung Streng, Strafmentalität und juristische Ausbildung (1979), S. 77 ff. 3 So ist etwa nach § 46 Abs. 5 Nr. 1 JAPO (BayGVBl. 2003, S. 757, 771) die Aufnahme in den Vorbereitungsdienst zu versagen, wenn der Bewerber wegen einer Vorsatztat zu einer noch nicht getilgten Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist. Nach § 27 Abs. 1 Nr. 3 JAPO ist in Bayern – anders als etwa in Hessen, wo Magnus Gäfgen in der Untersuchungshaft das Erste Juristische Staatsexamen ablegen konnte – sogar schon die Zulassung zur Ersten Juristischen (Staats-)Prüfung zu versagen, wenn dem Antragsteller zur Zeit des Prüfungsverfahrens voraussichtlich die Freiheit entzogen sein wird. Diese Regelung ist unter dem Aspekt des durch die Ausbildungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) geschützten Rechts auf einen berufsqualifizierenden Abschluss bedenklich, zumal Leistungsnachweise nach Ablauf der in § 24 Abs. 3 JAPO genannten Frist verfallen.

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Prüfung also eigentlich nur im Rahmen praktischer Studienzeiten aufgenommen haben. Keine Regel ohne Ausnahme: Auf unkonventionellem Weg kann es gelingen, das Strafprozessrecht schon vor der Referendarzeit bis in die Revisionsinstanz (und sogar darüber hinaus) kennen zu lernen und dort, wie das nachfolgende Stück belegen soll, auf besondere Weise mit seinem „Strafrechtsprof“ zusammenzutreffen. Ich übersehe nicht, ob der Jubilar während der Zeit seiner Tätigkeit im zweiten Hauptamt am Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg ähnliche Erfahrungen zwischen Theorie und Praxis hat sammeln können wie die, an deren einleitende Schilderung ich im Folgenden einige grundsätzliche Überlegungen zum Problem des befangenen (Revisions-)Richters anschließen werde. Diesen Beitrag widme ich Gerhard Fezer gleichwohl nicht nur als bedeutendem Mittler zwischen dem Strafverfahren im Hör- und im Gerichtsaal, sondern auch als dem Vordenker der Zukunft des bundesdeutschen Revisionsrechts.

II. Eine Erlanger Vorgeschichte Den schmalen Grat zwischen Alltag und Strafrecht überschritt der Student der Rechtswissenschaft X während der Vorweihnachtszeit des Jahres 2004.

1. Ausgangs- und Revisionsverfahren Er geriet an einer fränkischen Bundesautobahn in eine Polizeikontrolle. Die Streife wurde von ihm zunächst mit einer Ausgabe des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes konfrontiert4, bemerkte aber trotzdem einen eingeschalteten Funkscanner, mit dem der Polizeifunk abgehört wurde. Im Berufungsurteil heißt es anschaulich, einer der Beamten habe den Polizeifunk aus den geöffneten Seitenfenstern des Pkw des X und seines Streifenwagens auf einmal „doppelt“ hören können. Daraufhin wurde X wegen Verstoßes gegen die §§ 148 Abs. 1 Nr. 1, 89 S. 1 TKG angeklagt und in zwei Instanzen wegen „unerlaubten Abhörens von Nachrichten“ zu einer Geldstrafe verurteilt.

4 In der Beweiswürdigung des Berufungsurteils (LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 26.4.2006 – 2 Ns 207 Js 30100/04 [n.v.], BA S. 5) wird dazu bemerkt: „Die beiden Beamten … hatten eine gute Erinnerung an die Verkehrskontrolle, weil der sich juristisch gebende Angeklagte mit dem PAG in der Hand völlig ungewöhnlich als erstes die Dienstausweise verlangte, …“. Non scholae, sed vitae discimus!

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Dagegen legte er Revision ein, mit der verschiedene Sach- und Verfahrensrügen erhoben wurden5. Nachdem ihm die Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft zugestellt wurde, beantragte er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur weiteren Begründung der Revision hinsichtlich schon geltend gemachter Verfahrensfehler. Der 2. Senat des Oberlandesgerichts Nürnberg6 lehnte den Antrag ab. Zudem wurde die Revision des X als offensichtlich unbegründet gemäß § 349 Abs. 2 StPO verworfen7. Die (Blankett-)Strafvorschrift des TKG verstoße nicht gegen Verfassungsrecht8. Auch habe das Landgericht auf der Grundlage seiner rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen einen Verbotsirrtum des X zutreffend verneint.

2. Das (in eine Gehörsrüge gekleidete) Ablehnungsverfahren Vier Tage nach Zustellung des Revisionsverwerfungsbeschlusses lehnte X mit Computerfax vom 18. September 2006 den an der Entscheidung beteiligten Richter im Nebenamt Prof. Dr. J „nach § 356a stpo (hilfsweise § 33a stpo)“ wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Ihm sei erst mit Zustellung der Entscheidung bekannt geworden, dass J, der im Hauptamt Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität E ist, „teil des 2. senates des olg-nbg. war, der jetzt über meine revision entschied.“ Er habe verschiedene Vorlesungen des J besucht, „so dass er mich persönlich kennt“. In den Worten des Senatsbeschlusses9 führte X zur Begründung weiter aus: „In einer Vorlesungspause habe er Fragen zum Unterrichtsstoff gestellt, woraufhin ihm der abgelehnte Richter gesagt habe, es sei ihm – dem Richter – aufgefallen, dass der Verurteilte das ein oder andere Mal in der Vorlesung Strafrecht BT II im Sommersemester 2006 eingeschlafen sei. Auch erinnere er sich an eine Äußerung des abgelehnten Richters in einer anderen Vorlesung, ihm – dem Richter – sei zu Ohren gekommen, dass jemand seine Vorlesung aufnehme und dass er denjenigen, wenn er ihm

In den vom Urkundsbeamten der Geschäftstelle protokollierten Ausführungen heißt es u.a.: „Ich lernte in Vorlesungen von Prof. S und Prof. K, dass nicht das gilt, was ‚man’ denkt, sondern das, was nach sauberer Subsumtion eines Tatbestandes unter einer Norm herauskommt.“ 6 NStZ-RR 2006, 380 (381). 7 OLG Nürnberg, Beschl. v. 6.9.2006 – 2 St OLG Ss 170/06, BA S. 4 ff. (insoweit in NStZRR 2006, 380 [381] nicht abgedruckt). 8 Unter Hinweis auf BVerfG (Kammer) NStZ-RR 2005, 119 (120) und BayObLG NStZ 1999, 308 m. zust. Anm. Bär NStZ 1999, 361. 9 OLG Nürnberg NJW 2007, 1013 = NStZ 2007, 237. Die konsequente Kleinschreibung in den Zuschriften wurde für den Abdruck bereinigt, die Rechtschreibung belassen. 5

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bekannt werde, ‚»vom Leben zum tot befördern werde« (eher scherzhaft)’ und erwäge, gegen diese Person ein Strafverfahren einzuleiten, da die §§ 201 ff. StGB tangiert seien. Ein solcher Richter könne ‚denken, wenn er einen Täter vor sich hat, der einer seiner Studenten ist und mit dem Vorwurf konfrontiert ist, den Polizeifunk abgehört zu haben und in seinen Vorlesungen eingeschlafen ist, dass ein solcher Täter eine Bestrafung eher verdient’. Auf jeden Fall genüge ein solcher Richter ‚nicht den Anforderungen des (Art.) 101 GG’.“ Auch dieses Begehren wurde vom Senat zurückgewiesen. Der Beschluss10 steckt das Feld für die nachfolgenden Erörterungen ab: „Die Begründung des Antrags beschäftigt sich nicht mit einer möglichen Gehörsverletzung, sondern mit der Ablehnung eines nach Auffassung des Verurteilten befangenen Richters. Deutlich wird dies auch darin, dass der Verurteilte, der als Student der Rechtswissenschaften über einige Rechtskenntnisse verfügt11, auf Art. 101 GG, nicht aber auf die grundrechtsgleiche Garantie rechtlichen Gehörs in Art. 103 Abs. 1 GG abstellt. Diese Begründung ist aber im Rahmen des § 356a StPO offensichtlich unbehelflich …“

3. Das Verfassungsbeschwerdeverfahren Schließlich scheiterte die gegen beide Beschlüsse des OLG Nürnberg eingelegte Verfassungsbeschwerde des X an nicht ausreichender Substantiierung. Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts12 begründet die Ablehnung der Annahme zur Entscheidung knapp wie folgt: „Dass der an der Revisionsentscheidung beteiligte Richter im Nebenamt, bei dem Beschwerdeführer an der Hochschule in E Vorlesungen in Rechtswissenschaften besucht, nicht die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten geboten habe …, weil er den Beschwerdeführer für einen ‚faulen Studenten’ gehalten haben könnte, stellt eine durch nichts belegte Mutmaßung dar.“

Ibid. Vgl. Fn. 5. 12 Beschl. v. 7.12.2006 – 2 BvR 2257/06 (n.v). Ob gegen diese Entscheidung Menschenrechtsbeschwerde zum EGMR eingelegt wurde, ist nicht bekannt. 10 11

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4. Die Fragestellung Wie aber, wenn ein tatsächlich befangener Richter über die Revision mitentschieden, sogar als Berichterstatter den Beschluss vorbereitet hätte? Man muss den Fall nur etwas variieren: Richter am OLG Professor Y hat Z, weil sich in der Ermittlungsakte ein Lichtbild befindet, als den Studenten wieder erkannt, auf den er maßlosen Hass verspürt, seit dem dieser in seiner Strafprozessrechtsvorlesung ostentativ eingeschlafen war. Schon damals hat er ihm (nur gespielt) scherzhaft mit dem Tode gedroht13. Nun sieht Y die Möglichkeit gekommen, Rache wegen verletzter professoraler Eitelkeit zu üben und bereitet mit dieser Maßgabe das Senatsvotum für die Entscheidung nach § 349 Abs. 2 StPO vor. Z bekommt erst mit Zustellung des Verwerfungsbeschlusses Kenntnis von der Zusammensetzung des Spruchkörpers. Hatte Z eine Möglichkeit, diese Entscheidung zu vermeiden, kann er sie zumindest korrigieren lassen? § 25 Abs. 1 StPO bestimmt, dass die Ablehnung eines erkennenden Richters wegen Besorgnis der Befangenheit in der Hauptverhandlung über die die Revision nur bis zum Beginn des Vortrags des Berichterstatters zulässig ist. Findet – wie aufgrund der Regelung in § 349 Abs. 2 StPO14 regelmäßig – keine Hauptverhandlung statt, wird die einfach-rechtliche Problematik der Regelung sofort deutlich. Zwar ist die Ablehnung außerhalb der Hauptverhandlung schon e contrario § 25 Abs. 1 StPO jederzeit statthaft. Doch erlischt nach § 25 Abs. 2 S. 2 StPO selbst in der (Revisions-)Hauptverhandlung das Ablehnungsrecht nach dem letzten Wort endgültig. Daraus kann man mit der allgemeinen Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum15 schließen, dass das Ablehnungsrecht im schriftlichen Revisionsverfahren jedenfalls mit dem Erlass der Entscheidung erlischt. Die Konsequenz: Weil dem Angeklagten die vom Gesetz vorgesehene Möglichkeit der rechtzeitigen Ablehnung in der Revisionshauptverhandlung durch die Praxis der

Vgl. BGHR StPO 24 II Befangenheit 3: Wer auf die im Ausland drohende Todesstrafe für die angelasteten Taten hinweist, weckt beim Angeklagten den Eindruck, der Richter halte das hiesige Sanktionssystem für nicht ausreichend und werde entsprechend abstrafen. 14 Diese Möglichkeit besteht (zunächst nur für das RG, später auch für die OLGe) seit dem Gesetz zur weiteren Entlastung der Gerichte vom 8.7.1922 (RGBl. I, S. 569, „Lex Lobe“), während § 25 Abs. 2 StPO bezüglich des Ablehnungszeitpunkts in der Revisionshauptverhandlung unverändert blieb. 15 BGH NStZ 1993, 600; BGH, NStZ 2008, 55; BGH b. Kusch NStZ-RR 2001, 129 (130) Nr. 4; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 25 Rn. 11; LR/Siolek, 26. Aufl. (2006), § 25 Rn. 12; Pfeiffer, StPO, 5. Aufl. (2005), § 25 Rn. 2 a.E.; KMR/Bockemühl, 46. Lfg. (2007), § 25 Rn. 12; AK-StPO/Wassermann, Bd. I (1988), § 25 Rn. 8; BVerfG (Kammer) NStZ 2007, 709 (710) macht keine verfassungsrechtlichen Bedenken geltend. 13

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Revisionsgerichte genommen wird, ist es für die Befangenheitsablehnung außerhalb der Hauptverhandlung mit der Zustellung des Verwertungsbeschlusses nach § 349 Abs. 2 StPO zu spät. Ist dies mit der Maxime vereinbar, dass der Rechtsuchende nicht mit einem Richter konfrontiert wird, „der aus bestimmten Gründen die gebotene Neutralität und Distanz vermissen lässt“16? Wird hier ausreichend Vorsorge dafür getroffen, „daß im Einzelfall ein Richter, der nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet, … abgelehnt werden kann“17?

III. Das Recht der Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen nach der Strafprozessordnung 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen Richter kann in der Bundesrepublik Deutschland nur ein im Rechtssinne unbeteiligter Dritter sein18. Dem Begriff des Richters im Sinne des Grundgesetzes (Art. 92, 97 Abs. 1 GG) ist diese Forderung immanent19. Wer sich in eine Sache selbst auch nur mittelbar verstrickt, kann nämlich aufgrund seiner Erwartungshaltung bereits den Sachverhalt nicht zutreffend erfassen (Redundanzprinzip)20. Darüber hinaus vermag ein solcher Richter auch nicht richtig zu werten. Deshalb droht durch sein Fehlurteil eine weitere Störung des Vertrauens der Gemeinschaft in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung und die Lauterkeit ihrer Durchsetzung. Der beteiligte taugt daher auch nicht zum gesetzlichen Richter. Die Fragen der Befangenheit stellen somit einen bedeutenden Teilaspekt des Gewährleistungsgehaltes von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG dar. Die Zuständigkeit des gesetzlichen Richters verwirklicht hier den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in einer speziellen Konstellation21. Die Vorschrift will dem Regime der Willkür vorbeugen22.

BVerfGE 30, 149 (153). BVerfGE 21, 139 (146), bestätigend BVerfG (Kammer) NJW 1998, 369 (370). 18 BVerfGE 3, 377 (381); 18, 241 (256). 19 Vgl. BVerfGE 4, 331 (346); 21, 139 (146); erläuternd Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren (2002), S. 183. 20 Grundlegend Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. (1998), § 9 Rn. 1; Krekeler NJW 1981, 1633 (1636); LR/Siolek (Fn. 15), Vor § 22 Rn. 4. 21 Riedel, Das Postulat der Unparteilichkeit des Richters (1980), S. 14. 22 Vgl. Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 46. Lfg. (2006), Art. 101 GG Rn. 14; Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz, 4. Aufl. (2007), Art. 101 GG Rn. 17. 16 17

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Diesem grundrechtsgleichen Recht (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG)23 soll auf verschiedenen Wegen zum Durchbruch verholfen werden. Den Richter trifft die unbedingte Pflicht, sich beim Vorliegen der Voraussetzungen selbst als befangen abzulehnen24. Die alleinige Möglichkeit einer Selbstablehnung genügt jedoch den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gesetzgebung nicht25. Vielmehr muss der Gesetzgeber auch einen Weg der Verfahrensbeteiligten für die Richterablehnung eröffnen. Hierbei ist er jedoch frei in der Ausgestaltung, solange die zur Verfügung gestellten Instrumente effektiv sind26. Obgleich der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts in der vorstehend nachgewiesenen Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1967 nur auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und nicht ausdrücklich auf Art. 19 Abs. 4 GG abstellt, wird man das Effektivitätspostulat heute zusätzlich auf jene Verfassungsbestimmung zu stützen haben. Trotz ihrer systematischen Stellung im Grundrechtsteil beansprucht Art. 19 Abs. 4 GG für grundrechtsgleiche subjektive Rechte ohne Weiteres Geltung. Der Grund für die seinerzeitige verfassungsgerichtliche Zurückhaltung ist wohl darin zu suchen, dass nach der überkommenen Doktrin Art. 19 Abs. 4 GG keinen Rechtsschutz gegen den Richter durch den Richter vermitteln soll27. Dieser Grundsatz ist aber spätestens mit der Grundsatzentscheidung zur prozessualen Überholung zweifelhaft geworden. Art. 19 Abs. 4 GG will „die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle“28 gewährleisten. Öffentliche Gewalt i.S. des Art. 19 Abs. 4 GG ist also angesichts des Bindungspostulats in Art. 1 Abs. 3 GG auch die Judikative29. Mit der Frage der Effektivität des Instituts der Befangenheitsablehnung ist somit der originäre verfassungsrechtliche Ansatzpunkt zur Kritik des geltenden Rechts benannt.

23 Zur uneinheitlichen Terminologie vgl. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 9. Aufl. (2007), Art. 101 GG Rn. 1 (Grundrecht); Maunz ( Fn. 22), Art. 101 GG Rn. 6. Anders Hänlein, in: Mitarbeiterkommentar Grundgesetz, Bd. 2 (2004), Art. 101 GG Rn. 11 (verfassungsbeschwerdefähiges Recht) und Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl. (2005), Art. 101 GG Rn. 5 a.E. (grundrechtsähnlich). 24 BVerfGE 46, 34 (42). 25 BVerfGE 21, 139 (146 f.); Tumeltshammer, Die Ablehnung des Strafrichters wegen Besorgnis der Befangenheit (2001), S. 24. 26 BVerfGE 21, 139 (146). 27 Statt vieler BVerfGE 49, 329 (340 ff.); Jarass, in: Jarass/Pieroth (Fn. 23), Art. 19 GG Rn. 45. 28 BVerfGE 96, 27 (39) – Hervorh. v. hier. Zum früheren Rechtszustand statt vieler Fezer Jura 1982, 18 ff. 29 So auch Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. (2004), Art. 19 Abs. 4 GG Rn. 48.

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2. Ablehnungsgründe der Strafprozessordnung Für den Bereich des Strafverfahrens regeln die §§ 22 ff. StPO vor dem Hintergrund der vom Bundesverfassungsgericht gewährten Einschätzungsprärogative das Befangenheitsrecht. Ein Richter kann danach entweder ausgeschlossen sein oder wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Mit den Ausschlussgründen hat der Gesetzgeber typische Konfliktsituationen mit einer unwiderleglichen Vermutung der Befangenheit belegt30. Im Gegensatz zur Ablehnung müssen sie nicht durch ein Ablehnungsgesuch geltend gemacht werden. Der Ausschluss tritt von Gesetzes wegen ein. Wegen Besorgnis der Befangenheit kann der Richter bereits dann abgelehnt werden, wenn der Angeklagte ihn aus nachvollziehbaren Gründen für befangen ansieht31. Entscheidend ist also gar nicht, ob der Richter tatsächlich befangen ist oder ob er sich selbst für befangen hält32.

3. Befangen, aber nicht abgelehnt Das Ablehnungsrecht bleibt hinter den verfassungsrechtlichen Postulaten zum gesetzlichen Richter33 zurück, denn nicht jeder befangene Richter wird ausgeschlossen oder abgelehnt. Dies ist dem Charakter der Befangenheit als innerer Tatsache geschuldet. Auf sie kann nur mit Hilfe von äußeren Tatsachen, wie etwa einem Verwandtschaftsverhältnis oder einer unbedachten Äußerungen eines Richters, geschlossen werden34. Dogmatisch handelt es sich dabei um den Ausdruck einer immanenten Schranke des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, der zwar keinen geschriebenen Schrankenvorbehalt, aber – wie alle dem Wortlaut nach vorbehaltlos gewährten Grundrechte – Schranken im Sinne konkurrierenden Verfassungsrechts und sonstiger Verfassungsgüter kennt35. Dieses konkurrierende Gut kann man hier in der Sicherung der Arbeitsfähigkeit der Gerichte sehen. Zur Wahrung eines Mindestmaßes an Rationalität der Entscheidung sind sie auf intersubjektiv nachprüfbare Kriterien für das Vorliegen innerer Tatsachen angewiesen.

Vgl. Riedel (Fn. 21), S. 201 m.w.N. SK-StPO/Rudolphi, 4. Lfg. (1990), § 24 Rn. 5. 32 LR/Siolek (Fn. 15), § 30 Rn. 8. Zur Auslegung der Befangenheitsvorschriften eingehend Sowada (Fn. 19), S. 197 ff. 33 Siehe o. III. 1. 34 KMR/Bockemühl (Fn. 15), § 24 Rn. 5. 35 Man kann also nicht sagen, dass sich die Frage nach kollidierendem Verfassungsrecht praktisch nicht stellt, so aber Pieroth (Fn. 23), Art. 101 GG Rn. 16. 30 31

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Probleme entstehen jedoch, wenn ein Richter weder ausgeschlossen ist noch das für die (Selbst-)Ablehnung erforderliche Gesuch gestellt hat, jedoch objektiv Grund zur Besorgnis der Befangenheit besteht. Zur Bewältigung dieser Konstellation existieren verschiedene Ansätze36. Die überzeugendste Konstruktion geht von dem Grundsatz aus, dass der befangene kein gesetzlicher Richter mehr ist. Verfassungsbeschwerdefähig ist dies jedoch nach dem Wortlaut des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nur, wenn der gesetzliche Richter auch noch „entzogen“ wurde. Einen Entzug des gesetzlichen Richters stellt jedoch nur die willkürliche Handhabung von Zuständigkeitsregeln dar. Im Gegensatz dazu steht der reine Verfahrensirrtum37. Die Vorschriften zum Befangenheitsrecht stellen solche Regeln dar, nämlich Ausnahmeregelungen von der abstrakten Zuständigkeit38. Hierzu gehört auch § 30 StPO, der zwar nicht die unmittelbare Selbstablehnung erlaubt, aber immerhin eine Anzeigepflicht für den Richter statuiert39. Entscheidend ist demnach, ob der Richter seine Pflicht zur Anzeige eines möglichen Ablehnungsgrundes willkürlich verletzt40. Das dürfte nur im Ausnahmefall tatsächlich eintreten.

4. Abgelehnt, aber nicht befangen Bleibt das Ablehnungsrecht einerseits, wie gerade dargestellt, hinter den verfassungsrechtlichen Postulaten zum gesetzlichen Richter zurück, geht es andererseits über den materiellen Gehalt des Begriffs hinaus. Denn es genügt, wenn der Gesetzgeber oder ein Verfahrensbeteiligter die Befangenheit des Richters vermuten und im zweitgenannten Fall auch geltend machen. Das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes ist dabei vom normativierten Standpunkt des verständigen Angeklagten aus zu beurteilen, vgl. § 24 Abs. 3 StPO41. Voraussetzung ist, dass er Grund zu der Annahme haben muss, der abzulehnende Richter nehme ihm gegenüber eine innere Haltung an, die dessen Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beein-

Überblick bei Riedel (Fn. 21), S. 258 ff. Seit BVerfGE 3, 359 (365): „Durch einen error in procedendo wird niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen“. 38 SK-StPO/Rudolphi (Fn. 31), Vor § 22 Rn. 1. 39 Vgl. LR/Siolek (Fn. 15), § 30 Rn. 2c; KK-StPO/Pfeiffer, 5. Aufl. (2003), § 30 Rn. 4. 40 Gieg/Widmaier NStZ 2001, 57 (62); KK-StPO/Pfeiffer (Fn. 39), § 30 Rn. 8; zurückhaltender LR/Siolek (Fn. 15), § 30 Rn. 17. 41 Statt aller Kindhäuser, Strafprozessrecht (2006), § 13 Rn. 15. 36 37

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flussen kann42. Hierdurch soll ein weiterer Zweck der Vorschriften über die Ablehnung von Gerichtspersonen erreicht werden: Das Urteil wird eher akzeptiert, wenn es den äußeren Umständen nach ordnungsgemäß zustande gekommen ist. Deshalb dürfen auch keine nur befangen erscheinende Richter mitwirken, denn sonst schweben die Vorwürfe der Voreingenommenheit und Unsachlichkeit im Raum. Es genügt schon der böse Anschein43. Flankiert wird dies durch die Hoffnung, dass auch der Verurteilte den Richterspruch so eher als ein gerechtes „Übel“ hinnehmen wird44. Es mag dahinstehen, wie berechtigt sie ist. Ein erfolgreich abgelehnter oder ausgeschlossener Richter ist jedenfalls dann kein gesetzlicher Richter mehr. Wirkt er an einer Entscheidung mit, so ist diese grundsätzlich nach § 338 Nrn. 2, 3 StPO aufzuheben. Auch eine Verfassungsbeschwerde ist in diesem Fall wegen Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG begründet45. Willkür muss grundsätzlich nicht vorliegen46.

5. Zeitpunkt der Ablehnung Ein Ablehnungsgrund kann, wie bereits angesprochen wurde47, nicht beliebig lange geltend gemacht werden. Ansonsten könnte der Beteiligte zuwarten, wie sich das Verfahren entwickelt, um dann mit der Richterablehnung den Abschluss des Verfahrens doch noch zu verhindern. Für eine Präklusionsvorschrift sprechen auch prozessökonomische Aspekte. Könnte der Richter regelmäßig erst nach dem Schlussvortrag erfolgreich abgelehnt werden, müsste man das gesamte Verfahren wiederholen. Dem beugt das Gesetz mit § 25 StPO vor. a) In § 25 Abs. 1 S. 1 StPO sind verschiedene Ablehnungszeitpunkte für die Hauptverhandlung ausdrücklich genannt. Sie greifen jeweils recht früh ein. Im erstinstanzlichen Verfahren muss die Ablehnung bereits bis zum Beginn der Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen Verhält-

42 Statt vieler BGH NJW 2006, 3290 (3295) Tz. 52 m. Bespr. Jahn JuS 2006, 1034 – Fall Wildmoser. Zur Kasuistik Fezer, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. (1995), 10/32 ff. 43 Vgl. BGHSt 31, 358 (359). 44 SK-StPO/Rudolphi (Fn. 31), Vor § 22 Rn. 5; BVerfGE 30, 149 (162) [Sondervotum Leibholz/Geiger/Rinck]. Verfahrenstheoretisch geht es also um Legitimation durch Verfahren im Sinne Luhmanns: Der Prozess erscheint nicht dem Recht, sondern das Recht dem Prozess unterworfen (vgl. LR/Lüderssen/Jahn, 26. Aufl. [2006], Einl. M Rn. 30). 45 BVerfGE 4, 412 (421). 46 BVerfGE 39, 165 (167); anders aber, wenn es um die Ablehnung eines begründeten Gesuchs geht, vgl. BVerfGE 11, 1 (6) m.w.N. 47 Siehe o. II. 4.

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nisse (§ 243 Abs. 2 S. 2 StPO) erfolgen, also noch vor Verlesung des Anklagesatzes (§ 243 Abs. 3 S. 1 StPO). Dem entspricht der Zeitpunkt in den Rechtsmittelinstanzen, nämlich vor dem Vortrag des Berichterstatters, also des Vorsitzenden im Berufungsrechtszug (§ 324 Abs. 1 S. 1 StPO) oder des Berichterstatters – regelmäßig also nicht des Vorsitzenden48 – im Revisionsrechtszug (§ 351 Abs. 1 StPO). Dazu tritt § 25 Abs. 2 StPO, der an die Geltendmachung später auftretender Gründe zwei Anforderungen stellt: Einmal muss der Ablehnungsgrund unverzüglich geltend gemacht werden. Zum zweiten ist dies nach dem letzten Wort des Angeklagten nicht mehr möglich (S. 2)49. Diese zeitliche Einschränkung des Rechts aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist als weiterer Ausdruck der immanenten Schranken der Vorschrift50 auch verfassungskonform. Es muss genügen, wenn der Richter dem gesamten Vorbringen aufgeschlossen gegenübertritt51. Danach folgt nur noch die Entscheidungsfindung. Der Richter hat jetzt auch innerlich Stellung zu beziehen. „Neutral“ kann er nicht mehr sein52. b) Keine ausdrückliche Regelung trifft die Vorschrift für Verfahren ohne mündliche Verhandlung. Entsprechend geht die herrschende Meinung53 vom gänzlichen Fehlen einer zeitlichen Beschränkung aus. Das trifft im Ergebnis zu, bedarf aber in der Begründung der Ergänzung. Wie bereits oben angedeutet, könnte man sich nämlich auch auf den Standpunkt stellen, die Wertung des § 25 Abs. 2 S. 2 StPO entsprechend heranzuziehen und die Ablehnung bereits nach dem Zeitpunkt nicht mehr zuzulassen, der im schriftlichen Verfahren dem letzten Wort des Angeklagten entspricht. Beispielsweise wäre dies für das Revisionsverfahren der Ablauf der nicht verlängerbaren Zwei-Wochen-Frist zur Gegenerklärung

Die Usancen sind hier allerdings nicht nur bei den Gerichten, sondern auch innerhalb der Senate unterschiedlich. Aus § 351 Abs. 1 StPO ergibt sich nur, dass der Vorsitzende einen Berichterstatter aus dem Kreis der mitwirkenden Richter zu bestellen hat. Er kann die Berichterstattung aber auch selbst übernehmen (LR/Hanack, 25. Aufl. [2004], § 351 Rn. 2 a.E.). Zweckmäßig dürfte das nicht sein, ist doch der Beisitzer in „sein“ Votum im Regelfall am besten eingearbeitet. 49 Der Wortwechsel – Angeklagter: „Ich bin unschuldig.“ Richter: „Das werden Sie gleich sehen.“ – soll also nicht mehr zur Ablehnung genutzt werden können, so LR/Siolek (Fn. 15), § 25 Rn. 31, auch wenn der Angeklagte dann nur das vorletzte Wort hatte. Das ist zweifelhaft, wenn man in der Bemerkung des Vorsitzenden einen Wiedereintritt in die Sachverhandlung sieht. Das ist nicht per se ausgeschlossen (vgl. BGH NStZ 1993, 551; LR/Gollwitzer, 25. Aufl. [2001], § 258 Rn. 5 a.E.). 50 Siehe bereits oben III. 3. 51 BVerfG (Kammer) NJW 1988, 477; OLG Nürnberg NStZ-RR 2008, 114 (115). 52 Überzeugend Riedel (Fn. 21), S. 13 m.w.N. 53 Vgl. Fn. 15. 48

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nach § 349 Abs. 3 S. 2 StPO. Das wäre allerdings nicht zu überzeugend. Methodisch würde es sich bei dieser „Heranziehung einer Wertung“ letztlich um eine unausgesprochene Analogie zu Lasten des Grundrechtsträgers handeln. Diese ist, unbeschadet der Frage der Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG im Strafverfahren, jedenfalls auch nach herrschender Meinung54 auf Grundlage der Geltung des allgemeinen Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes nach Art. 20 Abs. 3 GG unzulässig. Die äußerste Grenze zieht damit erst der Erlass der Entscheidung55. Dies ergibt sich aus dem dargestellten56 Sinn und Zweck des Befangenheitsablehnungsrechts: Es kann ein Fehlurteil wegen der Mitwirkung des befangenen Richters nicht mehr vermeiden, wenn dieses bereits vorliegt. Andererseits ist dies – wie gezeigt – nicht der einzige Zweck des Befangenheitsrechts. Denn die Akzeptanz des Urteils wird auch leiden, wenn erst nach Erlass der Entscheidung die Besorgnis der Befangenheit geweckt wird. Das jedoch ist hinzunehmen. Der angestrebte Rechtsfriede durch größtmögliche Urteilsakzeptanz steht stets in natürlicher Konkurrenz zur Rechtssicherheit, die als Teil des materiellen Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) den Schutzbereich des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ebenfalls innerhalb der Werteordnung des Grundgesetzes beschränkt. Dass der Gesetzgeber eine verhältnismäßige Einbuße an Rechtsfrieden zugunsten der Rechtssicherheit hinnimmt, zeigt bereits die Existenz der starren Rechtsmittelfristen. Das Gesetz entscheidet sich mit Recht zugunsten der Rechtssicherheit, wenn es auch das haltlose Urteil der Anfechtung entzieht, weil die Frist nur um jene wenigen Sekunden abgelaufen ist, um die im Recht der Wiedereinsetzung häufig verzweifelt gestritten wird. Irgendwann muss einmal Schluss sein57.

54 BVerfGE 25, 269 (286 f.); 112, 304 (315); BGHSt 46, 310 (318 f.). Weiterführend LR/Lüderssen/Jahn (Fn. 43), Einl. M Rn. 47. 55 Dies ist für vergleichbare Prozessordnungen allerdings umstritten. Jedenfalls soll dort die Ablehnung nach Rechtskraft nicht mehr möglich sein, vgl. Czybulka, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), VwGO, 2. Aufl. (2006), § 54 Rn. 99; Bork, in: Stein/Jonas (Hrsg.), ZPO, 22. Aufl. (2004), § 44 Rn. 14. 56 O. III. 1. 57 LR/Siolek (Fn. 15), § 25 Rn. 33; zutr. daher BVerfG (Kammer) NStZ 2007, 709 (710 Tz. 6 f.).

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IV. Die Besonderheiten der Ablehnung von Gerichtspersonen in der Revisionsinstanz 1. Die Ausnahme als Regelfall: Revisionsverwerfung ohne mündliche Verhandlung Unproblematisch ist nach dem vorstehend Gesagten die Richterablehnung in der Revisionshauptverhandlung nach Maßgabe des § 351 StPO. Dort gelten die dargestellten Grundsätze58. Ist von diesen Grundsätzen aber eine Ausnahme zu machen, weil die ausdrückliche Regelung in § 25 Abs. 1 S. 1 Var. 3 StPO – Ablehnung in der Revisionsinstanz bis zum Beginn des Berichterstattervortrags – heute bei Angeklagtenrevisionen nur noch einen eng begrenzten Anwendungsbereich hat? Durch die Rechtstatsachenforschung wissen wir, dass mit gewissen, vor allem durch die Geschäftsbelastung veranlassten Schwankungen etwa 80-90% der eingelegten BGH-Revisionen durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen werden59. Bei manchen Senaten der Oberlandesgerichte ist es (ohne dass dies hier mit Zahlen unterlegt werden könnte) auch wegen der Regelung in § 349 Abs. 4 StPO nicht unüblich, im Wesentlichen nur noch Revisionen der Staatsanwaltschaft mündlich zu verhandeln. In der Tendenz dürfte die Zahl der Beschlussverwerfungen hier noch über den für die BGH-Revisionen genannten Angaben liegen60. Welche Folgerungen sind daraus zu ziehen? Für einen weiteren Fall ohne mündliche Verhandlung, nämlich das Klageerzwingungsverfahren, hat das OLG Saarbrücken61 eine im Grundsatz vergleichbare Konstellation kritisch aufbereitet. Es ist – soweit ersichtlich – die letzte obergerichtliche Entscheidung, die ihr Ergebnis, das Gesuch auf Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit könne in Verfahren, die mit einer außerhalb einer Hauptverhandlung ergehenden Entscheidung abgeschlossen werden, auch noch nach

Soeben III. Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen (1999), S. 51 („84%“); ders. StraFo 1998, 325; Nack NStZ 1997, 153 (154); Gieg/Widmaier NStZ 2001, 57, Fn. 1. Von seinerzeit sogar „etwa 90%“ ging Fezer (Fn. 42), 20/37, aus. Nach den jüngsten Zahlen für 2005 wurden von insgesamt 2.907 erledigten Revisionsstrafsachen vor dem BGH nur 172 durch Urteil entschieden. Das sind weniger als 6%. Nur 2 % aller Verfahren, denen Angeklagtenrevisionen zugrunde lagen, wurden durch Urteil entschieden. Vgl. dazu Barton, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Strafprozessrechtspraxis und Rechtswissenschaft – getrennte Welten? (2008), S. 77 (78). 60 Vorsichtiger noch LR/Hanack (Fn. 48), § 349 Rn. 5. Über die Gründe für diesen Zustand – und damit den Sinn der Revisionshauptverhandlung – ist hier nicht zu sprechen; siehe dazu nur Fezer StV 2007, 40 (46 f., 48). 61 NJW 1975, 399 f. 58 59

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Erlass der Entscheidung angebracht werden, ausführlich begründet hat. Die Entscheidung hat sogleich Widerspruch62 erfahren. Auch das OLG Nürnberg63 hat sich ihr in dem Eingangs geschilderten Fall mehr als drei Jahrzehnte später nicht anzuschließen vermocht. Den Senat des Saarländischen Oberlandesgerichts leiteten dabei drei Überlegungen: a) Erstens bekomme der Antragsberechtigte im Beschlussverfahren mangels Hauptverhandlung seine Richter nicht zu Gesicht, sondern erfahre erst durch die Unterschriftenzeile, wer an der Entscheidung beteiligt war. Für eine Ablehnung sei es dann zu spät. Damit sei das Ablehnungsrecht faktisch ausgeschlossen. Dies befindet der Saarbrücker Senat als „unhaltbar“64. b) Zweitens könne der Ablehnungsberechtigte zwar die Namhaftmachung der Richter im Voraus auf Grundlage des § 24 Abs. 3 S. 2 StPO verlangen. Allerdings führe dies zu einem unverhältnismäßigen Aufwand im Vergleich zur Zahl der Ablehnungsfälle. c) Drittens regele § 33a StPO eine vergleichbare Situation. Für einen Beteiligten stellt sich die Tatsachengrundlage als ebenso fehlerhaft dar, wenn ein ablehnbarer Richter mitgesessen habe, als wenn er sich hierzu nicht habe äußern konnte. Es komme im Ergebnis „auf das gleiche hinaus“, ob die tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen möglicherweise deshalb unzutreffend gewürdigt worden seien, weil sie mangels einer Stellungnahme des Beteiligten unvollständig geblieben bzw. einseitig gewertet worden seien oder weil sie der Beurteilung eines Richters unterlegen hätten, dessen Unparteilichkeit anzweifelbar sei. Das OLG Saarbrücken65 will sein Ergebnis daher „aus dem Rechtsgedanken des § 33a StPO ableiten“. Weil sich der Gesetzgeber mittlerweile des letztgenannten Problems angenommen hat, sollen diese Argumente in umgekehrter Reihenfolge auf ihre Stichhaltigkeit geprüft werden.

In der Anmerkung von Meyer-Goßner NJW 1975, 1179. NJW 2007, 1013 m. zahlr. w.N. 64 OLG Saarbrücken NJW 1975, 399 (400). 65 Ibid. 62 63

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2. Neuerungen gegenüber der Analogie zu § 33a StPO durch § 356a StPO? Seinerzeit musste das OLG Saarbrücken noch § 33a StPO analog anwenden. Für die Revision stellt § 356a StPO seit dem Anhörungsrügengesetz66 die speziellere Vorschrift dar. Sie hat strengere Anforderungen als die allgemeine Vorschrift des § 33a StPO. Sie dürfen nach bislang unbestrittener Auffassung67 und im Einklang mit den Motiven des Gesetzgebers68 durch den Rückgriff auf die allgemeinere Vorschrift nicht unterlaufen werden. § 356a StPO wäre auf den Fall der Richterablehnung aber seinerseits nur dann analog anwendbar, wenn materielle Vergleichbarkeit und eine planwidrige Regelungslücke vorliegen würden. Bereits am Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke muss gezweifelt werden. Dem Gesetzgeber des Anhörungsrügengesetzes musste die Problematik des Ausschlusses der Befangenheitsablehnung nach Erlass der Sachentscheidung bekannt sein, wenn er sich mit der Rechtslage auch nur ansatzweise vertraut gemacht hat69. Dies gilt insbesondere auch für die Variante einer mit dem Ablehnungsgesuch verbundenen Gehörsrüge nach § 33a StPO70. Dagegen lässt sich – wie stets – einwenden, dass „der Gesetzgeber“ (besser: das die Vorlage erarbeitende Referat in der Abteilung Rechtspflege im Bundesministerium der Justiz und die befassten Mitglieder des Rechtsausschusses) nicht jedes Detail vor Augen gehabt haben könnten. Jedenfalls fehlt es an der inhaltlichen Vergleichbarkeit mit der Gehörsrüge. Das OLG Saarbrücken hatte vor allem auf die Gewinnung der Tatsachengrundlage abgestellt. Deren Richtigkeit wird durch die Gewährung rechtlichen Gehörs sichergestellt, weil der von einer Entscheidung Betroffene aufgrund seiner Nähe zum Geschehen viel zur Sachverhaltsklärung beitragen kann und im eigenen Interesse auch beitragen wird. Das ist auch ein Zweck der Richterablehnung, denn damit soll ja gerade auch einer fehlerhaften Beweiswürdigung aufgrund des Redundanzprinzips vorgebeugt werden. Beides dient also der Kommunikationsoptimierung71. Dieser Vergleich hinkt auch in der Revisionsinstanz nicht. Gerade mit der Darstel-

66 Vom 9.12.2004 (BGBl. I S. 3220). Kritisch zu der Vorschrift – mit allen weiteren Nachweisen – Widmaier, FS Böttcher (2007), S. 223 ff. 67 BGH NStZ 2007, 36; OLG Frankfurt NStZ-RR 2007, 211 (212); OLG Nürnberg NJW 2007, 1013; Meyer-Goßner (Fn. 15), § 356a Rn. 1; Kuckein, in: Jahn/Nack (Fn. 59), S. 68 (72). 68 BT-Drs. 15/3706, S. 18. 69 Vgl. nur BGH NStZ 1993, 600 und BGH NStZ-RR 1998, 51. Wie hier auch OLG Nürnberg NJW 2007, 1013 (1014). 70 Siehe dazu nunmehr BGH JR 2007, 172 mit Anm. Kretschmer. 71 Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. (2007), Rn. 733.

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lungsprüfung überlässt sie trotz aller Bekundungen in den Textbausteinen der Senatsbeschlüsse eben nicht dem Tatrichter die Würdigung der Beweise, obwohl dies, wie uns der Jubilar72 instruiert, der ursprünglichen Konzeption des Gesetzes nicht entspricht. Allerdings stolpert der Vergleich an den unterschiedlichen Schutzrichtungen beider Institute. Die Gehörsrüge stellt neben der Wiederaufnahme eine Möglichkeit zur Durchbrechung der Rechtskraft dar, betrifft also das schon Erreichte. Dagegen verhindert die Richterablehnung nur die weitere Mitwirkung des Richters am Verfahren, also das noch Zukünftige73. Ist aber das Verfahren zur Zeit der Ablehnung bereits durch eine Sachentscheidung beendet, kann die Ablehnung diesen Zweck nicht mehr erreichen. Daher ist auch die fehlerhafte Besetzung des Gerichts auch kein Grund für ein Wiederaufnahmeverfahren (argumentum e contrario § 359 Nr. 3 StPO)74. Durchbrechungen der Rechtskraft sind nur unter ganz besonderen Umständen zulässig. Die hier erfassten Fälle sind deshalb nicht analogiefähig75. Halten wir fest: Eine analoge Anwendung der Vorschrift des § 356a StPO auf Vorbringen, dass der Ablehnung von Gerichtspersonen wegen Besorgnis der Befangenheit dienen soll, ist abzulehnen76. Diese Lösung entspricht der schon vor Erlass des § 356a StPO auf die Nachholung rechtlichen Gehörs nach § 33a StPO bezogenen Rechtsprechung77.

3. Kein Anspruch auf Namhaftmachung der Gerichtsbesetzung? Im Folgenden geht es damit nur noch um Fälle, in denen der Beschluss des Revisionsgerichts noch nicht zugestellt wurde und ein Verfahrensbeteiligter verhindern möchte, dass in seiner Sache ein möglicherweise befangener Richter entscheidet. Wenden wir uns damit dem Argument zu, der Ablehnungsberechtigte könne zwar die Namhaftmachung der Richter im

Fezer StV 2007, 40 (41 ff.); ders., FS Hanack (1999), S. 336; ders., Die erweiterte Revision – Legitimierung der Rechtswirklichkeit? (1974). 73 O. III. 5. b. 74 Anders etwa die über § 580 Nr. 5 ZPO hinausgehenden Fälle der Nichtigkeitsklage nach § 579 Abs. 1 Nrn. 2, 3 ZPO; aber auch § 578 Abs. 1 Nr. 3 ZPO statuiert als Wiederaufnahmegrund nur, dass ein Ablehnungsgesuch gestellt und für begründet erachtet wurde. 75 LR/Frister/Deiters, 25. Aufl. (2003), § 359 Rn. 2. 76 Ebenso BGH JR 2007, 172 m. insoweit zust. Anm. Kretschmer; BGH NStZ 2007, 416 (417); OLG Nürnberg NJW 2007, 1013 und wohl auch bereits BGH NStZ 2005, 462 (463); offengelassen noch von BGH NStZ-RR 2005, 173 (174). 77 BGH NStZ 1993, 600; BGH b. Kusch NStZ-RR 2001, 129 (130); OLG Jena NStZ 1997, 510; KG NStZ 1983, 44 (45); a.A. OLG Saarbrücken NJW 1975, 399 f. 72

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Voraus auf Grundlage des § 24 Abs. 3 S. 2 StPO verlangen, dies führe aber zu einem unverhältnismäßigen Aufwand im Vergleich zur Zahl der Ablehnungsfälle. Doch wie hoch ist der Aufwand tatsächlich? Genügt nicht bereits ein einfacher Telefonanruf mit entsprechender Notiz in den Verfahrensakten und im Senatsheft oder der schriftliche Antrag auf Mitteilung der Gerichtsbesetzung? Wäre es ein zu großer Aufwand, wenn man nach dem Muster der automatisierten Aktenzeichenmitteilung bei den Staatsanwaltschaften nach Bestimmung der Spruchkörperzusammensetzung durch den Vorsitzenden eine Mitteilung durch die Geschäftsstelle an den oder die Rechtsmittelführer veranlassen würde? Hier muss differenziert werden: a) Gegen eine generelle Mitteilung der Gerichtsbesetzung ohne Antrag spricht schon der Wortlaut des § 24 Abs. 3 S. 2 StPO. Er setzt ein konkretes „Verlangen“ im Einzelfall voraus. Dazu treten praktische Erwägungen. Die Fälle, in denen tatsächlich die Befangenheit des Revisionsrichters ernstlich in Betracht kommt, sind zahlenmäßig zu vernachlässigen. Es müsste jedoch beim Bestehen einer antragsunabhängigen Mitteilungspflicht ein Aufwand für Personalmittel bei den Geschäftsstellen, Porti, Telekommunikationsgebühren u.Ä. getrieben werden, der zum möglichen Ertrag außer Verhältnis stünde. b) Gegen eine antragsabhängige Mitteilung der Gerichtsbesetzung im Einzelfall sprechen zwar keine durchgreifenden praktischen Erwägungen78. Hier muss dann wohl oder übel auch der im Revisionseinlegungsschriftsatz standardmäßig enthaltene Antrag auf Mitteilung der Gerichtsbesetzung genügen. Wohl steht dem aber die neuere Rechtsprechung des BGH entgegen. Er lehnt in mittlerweile schon ständiger Praxis79 einen Anspruch auf Namhaftmachung der zur Entscheidung berufenen Richter ab. § 24 Abs. 3 S. 2 StPO finde jedenfalls keine Anwendung, wenn das Ablehnungsgesuch ohne Ausscheiden der abgelehnten Richter (§ 26a Abs. 2 S. 1 StPO) gem. § 26a Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen werden könne. Denn § 24 Abs. 3 S. 2 StPO habe nur den Zweck, den Namen des Richters zu erfahren, der über das Ablehnungsgesuch entscheide. Die Bekanntgabe des Berichterstatters sei gesetzlich nicht vorgesehen. Im Übrigen könne jederzeit die senatsinterne Geschäftsverteilung eingesehen werden.

Ebenso bereits Meyer-Goßner NJW 1975, 1179 (1180). BGH, Beschl. v. 23.5.2007 – 5 StR 35/07, Tz. 5; BGH wistra 2007, 319; BGH NStZ 2007, 416 (417); BGHR StPO § 24 III S. 2 Besetzungsmitteilung 1. Zust. Meyer-Goßner (Fn. 15), § 25 Rn. 21. 78 79

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Da diese Rechtsprechung nicht nur auf die (in unserer Betrachtung bereits unter IV. 2. ausgeschiedenen) Fälle der Verspätung nach § 26a Abs. 1 Nr. 1 StPO, sondern offenbar auf alle Fälle des Absatzes 1 des § 26a StPO erstreckt werden soll, ist sie von erheblicher Reichweite. Ersichtlich motiviert ist diese Judikatur durch das Missbrauchs- und Verzögerungspotential der Namhaftmachung. Zwar können keine Auskünfte über die näheren Lebensumstände der Richter verlangt werden, so dass etwa Sicherheitsaspekte oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht einschlägig sind. Jedoch muss – und das ist der springende Punkt – mit der Entscheidung in der Sache zugewartet werden, bis der Ablehnungsberechtigte ermitteln kann, ob Ablehnungsgründe vorliegen80. aa) Diese BGH-Rechtsprechung muss trotzdem überraschen. Bislang war § 24 Abs. 3 S. 2 StPO wesentlich weiter verstanden worden. Danach sollte für jede Entscheidung die Namhaftmachung sämtlicher Gerichtspersonen verlangt werden können. Doch diese (vormals) ganz unbestrittene Gegenauffassung81 wird in den Beschlüssen der BGH-Senate nicht einmal erwähnt. Das erhöht nicht unbedingt deren Überzeugungskraft. Tatsächlich ist auch ihr Ergebnis nicht hinnehmbar. Schon die unspezifische Formulierung in § 24 Abs. 3 S. 2 StPO („zur Mitwirkung bei der Entscheidung berufene Gerichtspersonen“) spricht gegen die BGH-Linie. Dass Revisionsbeschlüsse ausgenommen sein könnten, liegt auf Ebene der Wortlautauslegung eher fern. Auch systematisch kommt diese Lösung einem fünften Absatz des § 27 StPO nahe. Wer sich die §§ 22 ff. StPO durchliest, wird das Wort „Entscheidung“ in § 24 Abs. 3 S. 2 StPO zudem auf § 23 Abs. 1 S. 1 StPO beziehen. Dort geht es aber um alle Arten richterlicher Tätigkeit. Ob dem OLG Koblenz82 zuzustimmen ist, das meint, zur Stützung dieses Auslegungsergebnisses auf einen das gesamte Strafverfahren beherrschenden, auf Art. 103 Abs. 1 GG beruhenden Rechtsgrundsatz abstellen zu können, nach dem die Namhaftmachung der zur Mitwirkung bei einer Entscheidung berufenen Gerichtspersonen grundsätzlich für jede richterliche Maßnahme verlangt werden kann, mag dahinstehen. Auf verfassungsrechtlicher Ebene wird jedenfalls auch Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, interpretiert im

BVerfG (Kammer) NJW 1991, 2758. In Schriftsatzmustern (z.B. bei KMR/Bockemühl [Fn. 15], § 24 Rn. 33) wird empfohlen, darauf ausdrücklich Bezug zu nehmen. 81 OLG Koblenz NStZ 1983, 470; KK-StPO/Pfeiffer (Fn. 39), § 24 Rn. 12; LR/Siolek (Fn. 15), § 24 Rn. 68; SK-StPO/Rudolphi (Fn. 31), § 24 Rn. 27. 82 NStZ 1983, 470. Offen auch BVerfG (Kammer), Beschl. v. 20.6.2007 – 2 BvR 746/07 (in NJW 2007, 3563 nur im Ls. veröffentlicht), BA S. 5 f. 80

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Lichte des Effektivitätspostulats des Art. 19 Abs. 4 GG83, berührt. Die Gerichte trifft zwar keine verfassungsrechtliche Pflicht, von sich aus über die Besetzung zu informieren. Allerdings müssen die Beteiligten sich in zumutbarer Weise hierüber Kenntnis verschaffen können84. Doch wem man eine Frage ermöglicht, wird man unter dem Gesichtspunkt der Effektivität des Rechtsschutzes auch einen Anspruch auf Antwort zubilligen müssen. Der geforderte Blick in die interne Geschäftsverteilung genügt zudem auch rein tatsächlich in einigen Fällen nicht, um festzustellen, welcher Richter zuständig ist. Ist etwa die Verhinderung (und damit ein Vertretungsfall) eines Richters absehbar, dann bringt der Blick in den Geschäftsverteilungsplan nichts. Ungeklärt ist zudem, wie es der BGH mit der Einsichtnahme auf der Geschäftsstelle im Fall des nicht in Freiheit befindlichen Revisionsführers halten möchte, der – um nur eine Konstellation zu nennen – in der ablehnungsträchtigen Sache keinen Verteidiger hat und in anderer Sache in UHaft einsitzt. bb) In einer unlängst ergangenen Entscheidung hat es auch das BVerfG85 als möglichen Verstoß gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren angesehen, wenn eine Sachentscheidung ergeht und dabei ein Richter mitwirkt, der wegen verspäteter oder unterlassener Namhaftmachung entgegen § 24 Abs. 3 S. 2 StPO nicht mehr abgelehnt werden konnte. Leider findet eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der neueren BGH-Rechtsprechung zu § 24 Abs. 3 S. 2 StPO nicht statt, weil es der Beschwerdeführer versäumt hatte mitzuteilen, welche Ablehnungsgründe er bei rechtzeitiger Mitteilung der Senatsbesetzung vorgebracht haben würde. Immerhin wird man dem Kammerbeschluss zu entnehmen haben, dass der BGH mit seiner jüngeren, den Anspruch auf Namhaftmachung aller Richter des Spruchkörpers rundweg versagenden Rechtsprechung Gefahr läuft, die verfassungsrechtlichen Mindestbedingungen des Richterablehnungsrechts zu verfehlen.

4. Lösungsmöglichkeiten de lege ferenda und de lege lata Es zeigt sich, dass diejenigen Fälle einer Lösung zugeführt werden müssen, in denen noch vor Erlass der schriftlichen Revisionsentscheidung ein Antrag des Angeklagten gestellt wird, ihm die Besetzung des Spruchkörpers

Siehe o. III. 1. BVerfG NJW 1998, 369 (370); Hänlein (Fn. 23), Art. 101 GG Rn. 58. 85 Beschl. v. 20.6.2007 – 2 BvR 746/07 (Fn. 82), BA S. 6 unter bb. Die Verfassungsbeschwerde griff BGH, Beschl. v. 9.5.2007 – 2 StR 530/06 (s. Fn. 79) an. 83 84

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mitzuteilen. Nachdem das Haus der Revision doch recht schief geworden ist, könnte dies ein weiterer Baustein der révision au fond sein86. a) Überzeugend erscheint es, die Lückenhaftigkeit der Regelung in § 25 StPO für den heutigen Regelfall des Revisionsverfahrens ohne Hauptverhandlung zu korrigieren. Dazu müsste zunächst Absatz 2 Satz 2 für den letztmöglichen Ablehnungszeitpunkt bei ausbleibender (Revisions-)Hauptverhandlung klargestellt werden. Zudem ist auf § 24 Abs. 3 S. 2 StPO Bedacht zu nehmen. Die Bedenken gegen einen Anspruch auf Namhaftmachung rühren vor allem aus der Gefahr unsachgemäßer Verfahrensverzögerung her. Dem kann man durch eine Fristbindung abhelfen87. Das würde nach § 35 Abs. 2 S. 1 StPO allerdings die fristauslösende Zustellung der Mitteilung notwendig machen. Für die Fristbemessung bietet sich die gesetzliche Wertung der Wochenfrist in § 222a Abs. 2 StPO an. Die Verfahrensverzögerung hielte sich also selbst dann in engen Grenzen, wenn bei Angeklagten- und Nebenklägerrevisionen schon aus Anwaltshaftungsgründen standardmäßig Anträge auf Namhaftmachung gestellt werden sollten. b) Die Vorschrift sollte daher insgesamt folgenden Wortlaut bekommen: § 25 [Letzter Ablehnungszeitpunkt] 1

(1) [bisheriger Wortlaut]. ²Erfolgt in den Fällen des § 24 Abs. 3 Satz 2 die Namhaftmachung, können Ablehnungsgesuche nur binnen einer Woche gestellt werden. ³[bisheriger Wortlaut]. (2) 1Nach diesem Zeitpunkt darf ein Richter nur abgelehnt werden, wenn … [bisheriger Wortlaut] ²Nach dem letzten Wort des Angeklagten, sonst spätestens nach Erlass der Entscheidung, ist die Ablehnung nicht mehr zulässig. c) Dieser Vorschlag dispensiert die Revisionsgerichte nicht davon, zu einer wortlautgetreuen Anwendung des § 24 Abs. 3 S. 2 StPO auch im schriftlichen Verfahren zurückzukehren. Die Vorsitzenden haben daher auf jeden Antrag eines ablehnungsberechtigten Verfahrensbeteiligten die Namen der Richter der konkreten Spruchgruppe so rechtzeitig namhaft zu

Vgl. Fezer StV 2007, 40 (48). Überlegungen, die Mitteilung der Besetzung zur Vereinfachung der Abläufe mit der Zustellung des Verwerfungsantrags der Staatsanwaltschaft zu verbinden, führen insbesondere wegen der Entscheidungsmöglichkeit nach § 349 Abs. 1 StPO nicht weiter. 86 87

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machen, dass das Ablehnungsgesuch noch vor Erlass der Entscheidung angebracht werden kann.

V. Zusammenfassung Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG verpflichten den Gesetzgeber, ein effektives Ablehnungsrecht zu schaffen. Das ist ihm in der Strafprozessordnung gelungen, soweit es um die Befangenheitsablehnung in der Tatsacheninstanz geht. In der Revisionsinstanz ist die analoge Anwendung der Vorschrift des § 356a StPO auf Vorbringen, dass der Ablehnung von Gerichtspersonen wegen Besorgnis der Befangenheit dienen soll, abzulehnen. Solange die Entscheidung noch nicht erlassen ist, hat ein ablehnungsberechtiger Verfahrensbeteiligter aber nach § 24 Abs. 3 S. 2 StPO auch im schriftlichen Revisionsverfahren einen Anspruch auf Namhaftmachung der Besetzung der Richterbank. Die dem entgegenstehende Rechtsprechung der BGH-Strafsenate ist abzulehnen. Der Gesetzgeber sollte dies durch eine Neufassung des § 25 StPO besiegeln.

Wie absolut sind die absoluten Revisionsgründe? HANS KUDLICH

I. Einleitung Der Jubilar gehört ohne Zweifel zu den herausragenden Kennern des deutschen Strafprozessrechts. Dabei beeindrucken insbesondere die Weite seines Blickes und seine Fähigkeit, Entwicklungen in größere Zusammenhänge zu stellen, wie sie nicht zuletzt durch die großen Rechtsprechungsberichte in der JZ hervortreten.1 Trotz der enormen Breite seiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Strafprozessrecht gehört ein besonderes Interesse von Gerhard Fezer offenbar dem Revisionsrecht, zu dem er nicht nur monographisch,2 sondern auch mit wichtigen Anmerkungen und Aufsätzen hervorgetreten ist.3 Dabei beschäftigen ihn immer wieder auch die absoluten Revisionsgründe,4 was an sich nicht weiter erstaunt – betreffen doch gerade diese einerseits zentrale Prinzipien und Garantien des geltenden Strafverfahrens, und beschreiben sie andererseits die Situation, in welcher das (aufgrund verschiedener Beurteilungsspielräume der Tatrichter5 und des so genannten Rekonstruktionsverbots6) mitunter „zahnlos“ wirkende Revisionsrecht seine volle Wirkmacht entfaltet. Nun ist nicht erstaunlich, dass im Einzelfall angesichts der weit reichenden Rechtsfolge – mangels Beruhensprüfung notwendige Aufhebung des Urteils – Tendenzen ersichtlich sind, den Anwendungsbereich der absoluten Revisionsgründe auf der Tatbestandsseite einzuschränken.7 Dieses Phäno-

Vgl. dazu Fezer JZ 2007, 665 ff. und 723 ff.; 1996, 602 ff. und 665 ff. Vgl. Fezer, Die erweiterte Revision – Legitimierung der Rechtswirklichkeit (1974); ders., Reform der Rechtsmittel in Strafsachen (1974). 3 Vgl. statt vieler nur die Beiträge Fezers StV 2007, 40 ff.; HRRS 2006, 239 f.; JR 2004, 211 f.; StV 1995, 263 ff.; StV 1989, 295 ff.; StV 1985, 403 f. 4 Vgl. etwa die Anmerkungen in StV 1989, 290 ff. sowie in StV 1985, 403 f. 5 Vgl. hierzu Fezer StV 1995, 95 ff. (zur freien richterlichen Beweiswürdigung). 6 Vgl. dazu Fezer JZ 1992, 107 f. 7 Vgl. zusammenfassend bereits vor fast 30 Jahren Mehle, Einschränkende Tendenzen im Bereich der absoluten Revisionsgründe (1981). 1 2

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men findet sich auch sonst (nicht nur) im Strafrecht immer wieder. Anschauliche Beispiele sind im materiellen Strafrecht etwa das Postulat einer restriktiven Auslegung der Mordmerkmale8 auf der Tatbestandsseite angesichts der eingriffsintensiven und zwingenden Rechtsfolgenanordnung oder aber aus dem Strafverfahrensrecht die einschränkende Auslegung von Tatbestandsmerkmalen des § 136a StPO9 angesichts der strikten Rechtsfolge eines absoluten Beweisverwertungsverbotes. Diese Tendenz führt gewissermaßen zu einer „Relativierung absoluter Revisionsgründe“10. Welcher Wege sich insbesondere die Rechtsprechung hierzu bedient und ob sich daraus allgemeine Grundsätze ableiten lassen (sowie ob diese Billigung verdienen und wie diese gegebenenfalls fortzuführen wären), soll Gegenstand der nachfolgenden Abhandlung sein.

II. Die absoluten Revisionsgründe: Wirkung und Wesen 1. § 337 StPO setzt für die Begründetheit einer Revision voraus, dass das Urteil auf der festgestellten Rechtsverletzung „beruht“. Gefordert wird mithin – jenseits der Details zum Beruhensbegriff im Einzelnen11 – eine Kausalität zwischen Rechtsverletzung und Urteil. Von diesem Erfordernis macht § 338 StPO in den in seinen Nummern 1 bis 8 genannten Fällen eine Ausnahme.12 Liegt einer der dort genannten Fehler vor, wird also das Beruhen des Urteils auf dieser Gesetzesverletzung grundsätzlich unwiderleglich vermutet (bzw. im Fall des § 338 Nr. 7 Alt. 2 StPO letztlich sogar fingiert, da ein Beruhen eines Urteils auf einem nicht fristgerechten Absetzen der Urteilsgründe von vornherein ausgeschlossen ist13). Auf diese Weise liegen Wesen und Bedeutung der absoluten Revisionsgründe in gewisser Hinsicht zwischen den „normalen“ (d.h. relativen) Revi-

Vgl. dazu nur BVerfGE 45, 187 ff.; Schönke-Schröder/Eser, StGB, 27. Aufl. (2006), § 211 Rn. 10a; Fischer, StGB, 55. Aufl. (2008), § 211 Rn. 2. 9 Insbesondere des Merkmals der Täuschung, vgl. dazu auch Fezer JZ 1989, 348 f. 10 So der Titel des Beitrags von Kuckein StraFo 2000, 397 ff. 11 Vgl. etwa Frisch, FS Rudolphi (2004), S. 609 ff.; Herdegen NStZ 1990, 513 ff.; Widmaier, FS Hanack (1999), S. 387 ff. 12 Streng genommen wird diese Ausnahme nur in den in den Nummern 1 bis 7 genannten Fällen gemacht, da weithin Einigkeit darüber besteht, dass § 338 Nr. 8 StPO keinen „echten“ absoluten Revisionsgrund enthält, vgl. nur KK-StPO/Kuckein, 5. Aufl. (2005), § 338 Rn. 99; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 338 Rn. 58; SK-StPO/Frisch, 42. Lfg. (2005), § 338 Rn. 152 jeweils m.w.N. 13 Zutreffend etwa Cramer, FS Peters (1974), S. 241. 8

Wie absolut sind die absoluten Revisionsgründe?

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sionsgründen und den Verfahrenshindernissen (bzw. dem Fehlen von Verfahrensvoraussetzungen).14 Anders als das Fehlen von Verfahrensvoraussetzungen wird das Vorliegen von absoluten Revisionsgründen zwar nicht von Amts wegen berücksichtigt, sondern muss gerügt werden; auch findet keine Einstellung des Verfahrens, sondern regelmäßig „nur“ eine Aufhebung des Urteils mit Zurückverweisung statt. Mit den Verfahrenshindernissen gemeinsam haben die absoluten Revisionsgründe aber den „Automatismus“, dass bei ihrem Vorliegen das Urteil ohne zusätzliche Voraussetzungen keinen Bestand hat. Damit wird den in § 338 StPO genannten Rechtsverletzungen eine besondere Bedeutung zugesprochen: Sie sind so gravierend, dass sie ein Urteil selbst dann zu Fall bringen sollen, wenn es materiell völlig zutreffend ist. 2. Misst der Gesetzgeber jedoch den in § 338 StPO genannten Verfahrensfehlern (bzw. den durch die Statuierung dieser Verfahrensfehler als absolute Revisionsgründe geschützten Prozessinstituten) eine so überragende und grundlegende Bedeutung zu, so stellt sich die Frage, ob die oben bereits angedeuteten und in der Rechtsprechung immer wieder zu findenden „Relativierungen“ der absoluten Revisionsgründe legitim sind. Um diese Frage zu beantworten, scheint es auf den ersten Blick natürlich reizvoll, gleichsam ein übergeordnetes – fast metaphysisches – Charakteristikum dieser absoluten Revisionsgründe „herauszudestillieren“, anhand dessen dann im Einzelfall geprüft werden kann, ob die konkrete Fallgestaltung diesem Charakteristikum entspricht oder nicht. Diesen Weg geht etwa Kuckein15, wenn er im Anschluss an Schünemann16 die in § 338 StPO genannten Verfahrensmängel als „so gravierend“ ansieht, dass „der davon betroffene Prozess insgesamt das Signum der Rechtsstaatlichkeit verliert“. Nun ist der „Verlust des Signums der Rechtsstaatlichkeit“ ohne Zweifel eine anschauliche Metapher, die auch einen wesentlichen Kern dessen treffend beschreibt, was die absoluten Revisionsgründe ausmacht. Als Grundlage einer Überprüfung eventueller Relativierungen ist diese Formel aber nur sehr bedingt tauglich. So ist das Merkmal „Verlust des Signums der Rechtsstaatlichkeit“ kaum wirklich operabel, und die Entscheidung über sein Vorliegen beziehungsweise Nichtvorliegen dürfte regelmäßig eher von einer gewissen Intuition als von harten Kriterien gespeist sein. Vor allem aber scheint der Katalog des § 338 StPO mit Blick auf das Kriterium des „Signums der Rechtsstaatlichkeit“ unvollständig und fast ein wenig willkür-

So zutreffend auch Kuckein StraFo 2000, 397. Vgl. StraFo 2000, 397 ff. 16 Vgl. JA 1982, 123 (128). 14 15

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lich zusammengestellt zu sein. Denn zum einen ist im Strafverfahren eine Reihe von Konstellationen denkbar, in welchen die Rechtsstaatlichkeit zumindest nicht weniger bedroht erscheint als bei den absoluten Revisionsgründen, die aber in § 338 StPO nicht genannt sind; vielmehr ziehen diese entweder über eine zumindest denkbare Einordnung als Verfahrenshindernis noch weiter gehende Folgen (insbesondere Berücksichtigung von Amts wegen) nach sich17 oder aber führen umgekehrt „nur“ zu einem Beweisverwertungsverbot.18 Zum anderen sind umgekehrt in § 338 StPO (besonders deutlich etwa in Nr. 7 Alt. 2) auch Verfahrensfehler genannt, die nicht ohne weiteres an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zweifeln lassen müssten. Anders formuliert: Der „Verlust des Signums der Rechtsstaatlichkeit“ ist zwar als deskriptives Merkmal gut geeignet, die meisten Konstellationen des § 338 StPO zu beschreiben. Da es letztlich aber zu abstrakt gehalten und damit nicht in der Lage ist, die Aufnahme oder Nichtaufnahme einzelner Verfahrensfehler in den Katalog des § 338 StPO trennscharf und stringent zu begründen, ist auch seine Eignung zweifelhaft, etwaige „Relativierungen von absoluten Revisionsgründen“ auf ihre Legitimität hin zu überprüfen.

III. Die verschiedenen Wege einer „Relativierung“ absoluter Revisionsgründe durch die Rechtsprechung – eine kurze Analyse Stattdessen soll hier ein bescheidenerer Ansatz gewählt und zunächst untersucht werden, welche Wege zur Relativierung absoluter Revisionsgründe die Rechtspraxis bisher gefunden hat, um gleichsam aus der tatsächlichen

17 Denkbar sind hier etwa die überlange Verfahrensdauer (vgl. dazu grundlegend Scheffler, Die überlange Verfahrensdauer von Strafverfahren [1991], passim; ferner Schuska, Die Rechtsfolgen von Verstößen gegen Art. 6 EMRK und ihre revisionsrechtliche Geltendmachung [2006]; Krehl/Eidam NStZ 2006, 1 ff.; Trurnit/Schroth StraFo 2005, 358 ff.) oder der Einsatz von Lockspitzeln (vgl. nur BGH NJW 2000, 1123 im Anschluss an EGMR NStZ 1999, 47 m. Anm. Kudlich JuS 2000, 951 ff.), bei denen die Lösung über ein Verfahrenshindernis jeweils zumindest ernsthaft diskutiert wird, andererseits jedoch von den Gegnern einer solchen Lösung gerade nur die wesentlich weniger weit reichende Kompensation auf der Ebene der Strafzumessung vorgeschlagen wird. 18 Besonders deutliches Beispiel sind hier die verbotenen Vernehmungsmethoden nach § 136a StPO, welche zumindest in manchen Varianten das Signum eines rechtsstaatlichen Prozesses gewiss mehr gefährden als ein einzelner (und sei es auch länger und fester, vgl. BGH NStZ 1982, 41; LR/Hanack, StPO, 25. Aufl. [1999], § 338 Rn. 44; Meyer-Goßner [Fn. 12], § 338 Rn. 14 f.; SK-StPO/Frisch [Fn. 12], § 338 Rn. 54.) schlafender Richter eines Kollegialgerichts.

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Anwendung des Rechts19 einzelne Parameter extrahieren zu können, auf welche Weise nach dem Verständnis des Gesetzgebers, insbesondere aber auch der Rechtsprechung einer überbordenden Aufhebung von Urteilen entgegen gewirkt werden kann. Diese Parameter werden dann selbstverständlich nicht die Eleganz einer einzelnen (quasi „monistischen“) Metapher nach Art des „Verlusts des Signums der Rechtsstaatlichkeit“ haben, werden möglicherweise aber leichter operabel sein, um mit ihrer Hilfe etwaige Konsistenzen bzw. Inkonsistenzen in der Rechtsprechung nachzuzeichnen oder gar Prognosen für die Behandlung zukünftiger Fälle abzugeben.

1. Vorüberlegungen Dabei sollte im Ausgangspunkt leicht Einigkeit darüber herzustellen sein, dass die Aufnahme von bestimmten Verfahrensfehlern als absolute Revisionsgründe in § 338 StPO zumeist und im Grundsatz auf zwei Elementen beruht:20 Zunächst handelt es sich zumindest grundsätzlich um zentrale Institutionen und Garantien des Strafverfahrensrechts, die vielfach mehr oder weniger eng mit den hergebrachten Prozessmaximen21 zusammenhängen. So betreffen § 338 Nr. 1 und 4 StPO das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf den gesetzlichen Richter; § 338 Nr. 2 und 3 StPO haben die Garantie eines „fairen“ und unvoreingenommenen Richters im Blick; § 338 Nr. 5 StPO korrespondiert mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit und § 338 Nr. 6 StPO mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit. Nur auf den ersten Blick erstaunlich ist schließlich die besondere Bedeutung der Entscheidungsbegründung in § 338 Nr. 7 StPO.22 Denn bei einer realistischen Einschätzung (in welcher der Gesetzgeber hier offenbar in gelungener Intuition über einen verbreiteten Stand im Rahmen der tradierten Methodenlehre hinausgegangen ist) der Entstehung von „Recht“ im Verfahren ist durchaus davon auszugehen, dass die Entscheidungsbegründung als Legitimations-

Auf mögliche Widersprüche zwischen Strafverfahrensnormen und Strafverfahrenspraxis weist auch der Jubilar etwa in StV 2007, 40 ff. in anderem Zusammenhang anschaulich hin. 20 Diese beiden Elemente könnte man metaphorisch als die tragenden Säulen des Umstandes bezeichnen, dass beim Vorliegen eines dieser Fehler dem Urteil das Signum der Rechtsstaatlichkeit fehlt. 21 Vgl. zu den Prozessmaximen im Strafverfahrensrecht Beulke, Strafprozessrecht, 8. Aufl. (2005), § 2; Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. (2007), 1. Kap., 2. Abschn.; KK-StPO/Pfeiffer, 5. Aufl. (2003), Einl. Rn. 3 ff.; Volk, Grundkurs StPO, 5. Aufl. (2006), § 18. 22 Wobei auf die Besonderheit bereits hingewiesen wurde, dass § 338 Nr. 2 Alt. 2 StPO keine Vermutung, sondern eine Fiktion begründet. 19

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transfer zwischen Rechtsnorm und Entscheidungsnorm von ausschlaggebender Bedeutung ist, um überhaupt von der „Richtigkeit“ eines Urteils sprechen zu können.23 Wie oben bereits angedeutet, ist aber die Aufzählung des § 338 StPO allein unter dem Gesichtspunkt der „Wichtigkeit“ und „Unverzichtbarkeit“ bestimmter strafprozessualer Institute nicht überzeugend zu erklären, weil nach diesem Maßstab auch noch weitere denkbare Verfahrensfehler aufgenommen sein müssten. Zum korrekten Verständnis des Katalogs des § 338 StPO muss deshalb noch ein weiteres Element hinzukommen: Die meisten in § 338 StPO genannten Verfahrensfehler sind dadurch geprägt, dass zwar einerseits die Möglichkeit eines Beruhens aus Sicht eines sensiblen Beobachters nicht wirklich ausgeschieden werden kann,24 dass aber andererseits der Beruhensnachweis für den Revisionsführer schwer zu führen ist. Nun könnte man sich zwar auf den ersten Blick damit beruhigen, dass die Rechtsprechung auch zu § 337 StPO vielfach genügen lässt, dass ein Beruhen nicht ausgeschlossen werden kann;25 indes kann sich der Revisionsführer kaum darauf verlassen, dass dem Gericht insoweit eine Hypothese in Gestalt eines „non liquet“ genügt. Exemplarisch: Wird im Sinne des § 338 Nr. 4 StPO ein unzuständiges Gericht tätig, so ist selbstverständlich nicht auszuschließen, dass das Urteil in dem Sinn auf diesem Fehler beruht, dass ein anderes (nämlich des zuständige) Gericht anders geurteilt hätte. Vielfach wird es dafür aber keine hinreichenden Anhaltspunkte (etwa in Gestalt einer „Sonderrechtsprechung“ des erkennenden bzw. abweichender Entscheidungen des eigentlich zuständigen Gerichts) geben, so dass die Annahme, das zuständige Gericht hätte „möglicherweise anders entschieden“ den Anforderungen des § 337 StPO wohl nicht genügen würde, jedenfalls aber für den Revisionsführer im Einzelfall nicht verlässlich genug wäre, um sein Rechtsmittel darauf zu stützen. Zusammengefasst geht es also um Rechtsfehler, die zwar zentrale Institutionen des Verfahrensrechts berühren, bei denen jedoch der Nachweis eines Beruhens nur schwer geführt werden kann, weshalb ohne § 338 StPO die Gefahr bestünde, dass gerade Fehler in diesen zentralen Bereichen nur selten erfolgreich mit der Revision gerügt werden können. Einschränkungen der absoluten Revisionsgründe im Sinne einer Relativierung können damit

23 Vgl. zu all dem ausführlich Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), passim, speziell auch zur Bedeutung von Begründungen für die Rechtsmittelinstanz S. 337 f. 24 Zur Ausnahme des § 338 Nr. 7 Alt. 2 StPO vgl. bereits oben. 25 Vgl. statt vieler nur BGHSt 1, 346 (350); 9, 77 (84); 20, 160 (164); 22, 278 (280).

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argumentativ insbesondere entweder bei der Bedeutsamkeit des betroffenen Rechtsinstitutes oder aber bei der ratio „Erleichterung des Nachweises eines möglichen, aber schwer greifbar zu machenden Beruhens“ anknüpfen:

2. Vorgelagerte Lösungen: Präklusionsvorschriften und allgemeine Zulässigkeitshürden Noch vor einer „Relativierung der absoluten Revisionsgründe“ i.S. eines einschränkenden Verständnisses speziell des § 338 StPO setzen Anforderungen an eine erfolgreiche Revision an, die entweder schon in der Tatsacheninstanz ein bestimmtes Verhalten voraussetzen (Präklusionsregelungen) oder die von der Rechtsprechung bereits an die Zulässigkeit entsprechender Rügen gestellt werden: a) Präklusionsregelungen aa) An die Notwendigkeit eines Tätigwerdens bereits in der Tatsacheninstanz könnte man zunächst beim Erfordernis eines Zwischenrechtsbehelfs nach § 238 Abs. 2 StPO denken, der zumindest für den verteidigten Angeklagten von der Rechtsprechung in verschiedenen Konstellationen als Voraussetzung für eine zulässige Revisionsrüge angesehen wird.26 Indes spielt diese Vorschrift speziell bei den Revisionsgründen des § 338 StPO keine große Rolle:27 Denn teilweise handelt es sich um Maßnahmen, die ohnehin nicht zur Sach- bzw. Verhandlungsleitung gehören (etwa § 338 Nr. 7 StPO), teilweise gibt es speziellere „Verfahren“ als den Zwischenrechtsbehelf des § 238 StPO (so insbesondere für die Ablehnung von Richtern, vgl. § 338 Nr. 3 StPO) oder aber es handelt sich um zwingende Regelungen des Verfahrensrechts ohne Handlungsspielraum des Tatgerichts, so dass nach h.M. der Weg über § 238 StPO keine Voraussetzung für eine zulässige Revision ist.28

Vgl. bereits BGHSt 1, 322 (325); BGH NStZ 1982, 432; aus jüngster Zeit BGH NStZ 2007, 230. 27 Nebenbei bemerkt: Im Anwendungsbereich des § 338 StPO ebenfalls keine Rolle spielt als weitere, gleichsam richterrechtlich entwickelte und zunehmend Bedeutung erlangende „Präklusionsregelung“ die sog. Widerspruchslösung des BGH, da die von ihr betroffenen Fallgruppen (insb. Verstöße gegen § 136 Abs. 1 S. 2 StPO und gegen Benachrichtigungs- und Vorlagepflichten, aber auch im Zusammenhang mit § 100a StPO [vgl. BGH StV 2001, 545] oder mit § 110a StPO [vgl. BGH StV 1996, 529; BGH bei Becker NStZ-RR 2001, 260]) alle keinen Zugang zu absoluten Revisionsgründen eröffnen. 28 Vgl. bereits BGHSt 3, 368 ff. 26

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bb) Ganz speziell mit § 338 StPO, und zwar mit seiner Nr. 1, zu tun hat dagegen die Einführung einer Rügepräklusion hinsichtlich der fehlerhaften Gerichtsbesetzung nach §§ 222a, 222b StPO durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 197929: Dabei mag weniger eine tatsächlich unerträglich große Zahl von Urteilsaufhebungen auf Grund der Besetzungsrüge im Vordergrund gestanden haben, sondern das nicht unerhebliche „Drohpotential“, das während der tatgerichtlichen Verhandlung insbesondere mit einem spät vorgebrachten Besetzungseinwand aufgebaut werden könnte. Nimmt das Gericht einen zweifelhaften, aber nicht völlig abseitigen Einwand ernst, steht es vor der Alternative, ein aufwendig durchgeführtes Verfahren nochmals neu durchführen oder aber dem Angeklagten in seinem Urteil so weit entgegen kommen zu müssen, dass eine spätere Anfechtung für ihn „unattraktiv“ ist. Dieses Potential wird dadurch erheblich verringert, dass zumindest regelmäßig nach einiger Zeit der Verhandlungsdauer eine Revision kaum noch erfolgversprechend auf den Besetzungseinwand gestützt werden kann. Mit Blick auf unsere Fragestellung nach der Relativierung absoluter Revisionsgründe kann man hierzu also konstatieren: Die Wirkmacht des § 338 Nr. 1 StPO ist stark beschnitten worden, obwohl sich durch Ablauf der Einwendungsfrist weder an der Intensität des Eingriffs in das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter noch an der Schwierigkeit des Beruhensnachweises etwas ändert. Vielmehr handelt es sich um eine gesetzgeberische Entscheidung, mit der letztlich aus rechtpolitischen Gründen der Maßstab der für einen absoluten Revisionsgrund gleichsam hinreichenden Schwere des Eingriffs „nach oben korrigiert“ worden ist. Freilich steht dies dem Gesetzgeber ebenso frei, wie er eben auch sonst nicht alle schwerwiegenden (und nicht einmal alle „das Signum der Rechtsstaatlichkeit“ berührenden) Verfahrensverstöße als absolute Revisionsgründe eingestuft hat. Methodisch ist festzuhalten, dass keine restriktive Lesart des § 338 StPO durch den Rechtsanwender betroffen ist. b) Zulässigkeitshürden Der (in der Begründetheitsprüfung verankerten) Auseinandersetzung mit dem Beruhen und damit mit der Reichweite der absoluten Revisionsgründe ebenfalls vorgelagert ist der in der Rechtsprechung mitunter eingeschlagene Weg, bereits aus Gründen, die zumindest scheinbar nichts mit § 338 StPO zu tun haben, die Zulässigkeit ausgesprochen restriktiv zu handhaben.

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BGBl. 1978 I S. 1645, 1647 f.

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aa) Als allgemeines Phänomen wird dies bei den hohen Anforderungen an die Begründung von Verfahrensrügen nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO deutlich,30 von denen zwar bei weitem nicht alle, aber doch immerhin eine ganze Reihe auch zu absoluten Revisionsgründen führen können. Ohne dies an dieser Stelle empirisch belegen zu können, spricht doch einiges dafür, dass diese hohen Hürden zumindest auch vielfach in solchen Fällen aufgestellt worden sind, in denen anderenfalls wegen § 338 StPO trotz materieller Richtigkeit der Entscheidung eine zwingende Aufhebung gedroht hätte. bb) In eine ähnliche Richtung weist die aktuelle Erosion des Hauptverhandlungsprotokolls31 durch die Zulassung der Rügeverkümmerung durch den Großen Strafsenat32 sowie durch den (hier nicht wirklich „passenden“) Rückgriff des 3. Strafsenats auf das allgemeine Missbrauchsverbot bei einer „unwahren Verfahrensrüge“.33 Ging es doch in der „Missbrauchsentscheidung“ um die angebliche Abwesenheit beider Verteidiger im Fall einer notwendigen Verteidigung und damit um einen absoluten Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO i.V.m. § 140 StPO und in der Entscheidung zur Rügepräklusion um die angeblich unterlassene Verlesung des Anklagesatzes, welche keinen absoluten Revisionsgrund, aber ein – insoweit eben vergleichbares, vgl. oben – Verfahrenshindernis darstellt. Ob der Große Senat ohne weiteres mit einer bis in die Frühzeit des Reichsgerichts zurückreichenden Rechtsprechungstradition34 gebrochen oder sich auf das unsichere Terrain der allgemeinen Missbrauchsdogmatik begeben hätte, wenn die Revision ohne weiteres unter Hinweis auf ein fehlendes Beruhen hätte zurückgewiesen werden können, darf zumindest bezweifelt werden. cc) Auch insoweit gilt ähnlich wie bei den Präklusionsvorschriften: Die Wirkmacht (nicht nur, aber durchaus auch und gerade) der absoluten Revisionsgründe wird zurückgeschnitten, wenn an die Verfahrensrüge, mit der diese prozessual geltend gemacht werden müssen, besonders hohe, mitunter als überzogen empfundene Anforderungen gestellt werden und wenn die zentrale Beweismöglichkeit für diese Verfahrensrügen in Gestalt des Hauptverhandlungsprotokolls (zugegebenermaßen nur in einer überschau-

Zusammenfassend zu diesen Anforderungen aus jüngerer Zeit Lips JA 2006, 719 ff. Vgl. hierzu (und auch zum Zusammenhang zwischen Rügepräklusion und Missbrauchsrechtsprechung) zusammenfassend Kudlich BLJ 2007, 125 ff. 32 Vgl. NJW 2007, 2419 ff. mit Anmerkung Kudlich JA 2007, 824. 33 Vgl. BGHSt 51, 88 ff. mit Anmerkung Kudlich HRRS 2007, 9 ff.; ders. JA 2007, 154; dem BGH aber zustimmend Fahl JR 2007, 34 ff. 34 Vgl. RGSt 2, 76, 77 f. Diese Rechtsprechung beruht ihrerseits auf der der preußischen Obergerichte (RGSt 43, 1 [10]). 30 31

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baren Zahl von Fällen) erheblich entwertet wird. Gleichzeitig handelt sich es aber um keinen speziellen Zugriff der Rechtsprechung auf die absoluten Revisionsgründe, durch welchen diese relativiert würden bzw. bei dem eine spezielle Auslegung des § 338 StPO erfolgt.

3. Einschränkungen des Anwendungsbereichsbereichs insbesondere in Bagatellfällen – zwischen teleologischer Reduktion und „heimlicher Rechtsprechung contra legem“ Eine „echte“ Fallgruppe von „Relativierungen“ ist die bei unterschiedlichen absoluten Revisionsgründen durchgeführte Beschränkung auf schwerwiegende Rechtsverletzungen, die teils als Rückzug auf ein „Willkürverbot“ auch „an sich“ als unrichtig bewertete tatgerichtliche Entscheidungen nicht dem Anwendungsbereich des § 338 StPO unterwirft, teils über objektive Rechtsverstöße hinaus auch subjektive Pflichtverletzungen voraussetzt und teils schlicht vom Wortlaut erfasste Fallgruppen als nicht einschlägig definiert. a) Beschränkung des § 338 Nr. 1 StPO auf Willkür bzw. unvertretbare Entscheidungen bei Besetzungsfehlern aa) Eine schon früh in der Rechtsprechung des BGH zu verzeichnende Einschränkung des absoluten Revisionsgrundes nach § 338 Nr. 1 StPO reduzierte dessen Anwendungsbereich auf Fälle, in denen die zur nicht vorschriftsgemäßen Besetzung des Gerichts führende Rechtsauffassung des Instanzgerichts „objektiv willkürlich“ war, oder anders gewendet: es wurden die Fälle ausgeschlossen, in denen diese Rechtsauffassung immerhin vertretbar erschien.35 Im Schrifttum hat diese Rechtsprechung – neben mehr oder weniger „teilnahmsloser“ Erwähnung in der Kommentarliteratur36 – auch immer wieder Kritik erfahren:37 Zum einen, weil die damit verbundene „Engführung“ zwischen einem § 338 Nr. 1 StPO „genügenden“ Verfahrensverstoß und einer (gleichsam fast finalen) „Entziehung“ aus der Zuständigkeit des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG letztlich dem BVerfG keinen eigenständigen Entscheidungsbereich überlasse, der

35 Vgl. BGHSt 12, 227 (234 f.); 12, 402 (405); 27, 105 (107); 34, 121 (123); 50, 132 (137); Nachweis über unveröffentlichte Entscheidungen bei Rieß GA 1976, 133 (134 [Fn. 4]). 36 Vgl. etwa KK-StPO/Kuckein (Fn. 12), § 338 Rn. 19, 22, 27. 37 Vgl. etwa Rieß GA 1976, 133 (136 ff.); Dahs GA 1976, 353 (357 ff.); LR/Hanack (Fn. 18), § 338 Rn. 11; Mehle (Fn. 7), S. 133 ff., 137; Husheer StV 2003, 658.

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enger und verfassungsspezifischer ausgestaltet ist als derjenige der Fachgerichte; zum anderen, weil § 338 Nr. 1 StPO (wie auch die übrigen absoluten Revisionsgründe) im Sinne eines objektiv-abstrakten Kriteriums zu verstehen sei.38 bb) Ein solcher Lösungsansatz führt – das hat Dahs bereits vor über 30 Jahren der Sache nach angedeutet39 – zu ganz grundsätzlichen Fragestellungen des Revisionsrechts, nämlich zur Frage nach einem „Vertretbarkeitsspielraum“ der Tatgerichte gegenüber der revisionsrichterlichen Überprüfung auf „Richtigkeit oder Rechtsirrigkeit“ einerseits, andererseits zum problematischen (und möglicherweise gerade zu Willkür und Manipulation einladenden) Signal zweier divergierender, aber zugleich aus Sicht des Revisionsgerichts „vertretbarer“ Auslegungen.40 Würde man die „Vertretbarkeit“ einer Entscheidung so verstehen, dass das Revisionsgericht zwar einer anderen Meinung zuneigen würde, die Auffassung des Tatgerichts aber nicht als „falsch“ kennzeichnen will, würde diese Lösung wieder fort von der Auslegung des § 338 StPO (und letztlich in die vorgelagerte Prüfungsstufe des § 337 StPO – liegt überhaupt eine Verletzung des Gesetzes vor?) führen. Dies würde aber nicht nur dem tradierten Methodenverständnis von der Bewertbarkeit juristischer Entscheidungen als richtig oder falsch widersprechen, sondern auch der BGH scheint das nicht zum Ausdruck bringen zu wollen. In diesem Sinne handelt es sich dann um eine „echte“ Relativierung des § 338 Nr. 1 StPO, die von den beiden o.g. Strukturmerkmalen der absoluten Revisionsgründe an demjenigen der „Schwere des Verstoßes“ („nur“ Fehler oder „schon“ Willkür?) ansetzt und insoweit auch auf andere Revisionsgründe übertragbar wäre.41 So verstanden, ist die Lösung dann aber auch Bedenken ausgesetzt: Zum einen ist systematisch wenig stimmig, wenn eine bestimmte Verfahrensposition einerseits so wichtig ist, dass seine Verletzung einen absoluten Revisionsgrund begründen soll, wenn aber anderer-

Vgl. Dahs GA 1976, 353 (358). Vgl. Dahs GA 1976, 353 (359), freilich nicht durchgehend mit den hier gezogenen Konsequenzen. 40 Zur Frage der „Vertretbarkeit“ im Rahmen der Entscheidung über ein Rechtsmittel und zur Aufgabe der Obergerichte, auf eine einheitliche Anwendung des Rechts hinzuwirken, vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. (2006), § 16 III = S. 99 ff. 41 Vgl. dazu auch Dahs GA 1976, 353 ff., der zu § 338 Nr. 3 StPO (Mitwirkung eines als befanden abgelehnten Richters) zu Recht darauf hinweist, dass hier schon das Tatbestandsmerkmal der in Bezug genommenen Vorschrift („Besorgnis der Befangenheit“) einen erheblichen Spielraum für Vertretbarkeitserwägungen eröffnet, so dass die Lösung hier dann eher in Richtung auf die Verneinung eines Rechtsfehlers verlaufen würde. 38 39

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seits eine Verletzung – denn die würde bei einer „vertretbaren, aber letztlich falschen Entscheidung“ ja vorliegen – in bestimmten Fällen dann als so unwichtig erachtet wird, dass die Revision doch unbegründet ist. Zum anderen und vor allem ist die Grenze einer „Vertretbarkeit“ innerhalb des Bereiches von „an sich unrichtigen“ Entscheidungen kaum trennscharf zu ziehen. b) Einschränkungen im Zusammenhang mit der Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes, § 338 Nr. 6 StPO aa) Einer gefestigten Rechtsprechung bzw. der h.M. entsprechen weiterhin zwei Einschränkungen der absoluten Revisibilität bei § 338 Nr. 6 StPO: So soll eine „Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens“ i.S. dieser Vorschrift zum einen nur vorliegen, wenn eine unzulässige Beschränkung, nicht dagegen, wenn eine unzulässige Erweiterung der Öffentlichkeit (vgl. § 169 S. 2 GVG) vorliegt.42 Zum anderen wird vom BGH verlangt, dass das Tatgericht (selbst) schuldhaft gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit verstoßen hat,43 so dass etwa die „versehentliche“ Schließung des Gerichtsgebäudes durch das Geschäftsstellenpersonal keinen revisiblen Rechtsfehler begründet. bb) Auch hier geht es der Sache nach um eine einschränkende Auslegung des § 338 StPO selbst (und nicht der in Bezug genommenen Normen, denn niemand behauptet etwa im Fall der unzulässigen Erweiterung, dass keine Verletzung von § 169 S. 2 StPO vorliegt) unter dem Gesichtspunkt der „Schwere des Verstoßes“. Diese Schwere des Verstoßes wird dabei einmal eher objektiv-teleologisch,44 das andere Mal nach dem Maßstab eines subjektiven Pflichtverstoßes bestimmt. Beide Anknüpfungspunkte sind nur bedingt überzeugend: Die Beschränkung auf unzulässige Verkürzungen der Öffentlichkeit sind dem Wortlaut des § 338 Nr. 6 StPO nirgends zu entnehmen, obwohl eine entsprechende klare Regelung durch den Gesetzgeber ohne weiteres möglich gewesen wäre; die „Schwereeinschätzung“ der Revisionsgerichte überspielt damit die im Gesetz Ausdruck gefundene „Schwe-

Vgl. nur LR/Hanack (Fn. 18), § 338 Rn. 107 m.w.N.; RGSt 3, 295 (297); 77, 186; BGHSt 10, 202 (206 f.); 23, 176 (178). 43 Vgl. BGHSt 21, 72 (74); 22, 297 (301 f.); BGH NStZ 1995, 143 f.; LR/Hanack (Fn. 18), § 338 Rn. 113 m.w.N. 44 Orientiert am Gedanken, dass Sinn und Zweck des Öffentlichkeitsgrundsatzes vorrangig die Vermeidung einer geheimen „Kabinettsjustiz“ sei und dass nur dieser Aspekt bedeutend genug für eine Aufnahme in § 338 StPO sei, vgl. RGSt 77, 186 (187), Kretzschmar DStZ 1992, 625. 42

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reeinschätzung“ des Gesetzgebers. Das Erfordernis eines (noch dazu zurückhaltend zu prüfenden45) Verschuldens findet letztlich im Gesetz auch keinen Anhaltspunkt, da im Revisionsrecht durchgehend nur von der „Verletzung des Gesetzes“, nicht von „pflichtwidrigen Verstößen“ o.ä. die Rede ist. Auf eine gewisse Weise wird damit sogar noch über die o.g. „Vertretbarkeitsrechtsprechung“ hinaus gegangen, da sogar „unvertretbares“ Handeln keine Revision begründet, wenn es (zwar in der Sphäre der Gerichtsbarkeit, aber) nicht unmittelbar durch das erkennende Gericht erfolgt. c) Beschränkung des § 338 Nr. 5 StPO auf das Fehlen während „wesentlicher Teile“ der Hauptverhandlung In einer Reihe von Entscheidungen wird der absolute Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO beim Fehlen einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, auf Fälle beschränkt, in denen die Person während eines „wesentlichen Teils“ der Hauptverhandlung fehlt.46 Als solche „wesentlichen Teile“ anerkannt sind etwa die Vernehmung des Angeklagten zur Person und zur Sache, die Feststellung der Vorstrafen, die Verlesung des Anklagesatzes und die meisten Teile der Beweisaufnahme.47 Unwesentlich sollen dagegen der bloße Aufruf von Zeugen, Belehrungen nach § 57 StPO oder die Bekanntmachung des Termins zur Urteilsverkündung sein.48 Obwohl die Aufrechterhaltung des Urteils in solchen Fällen auf den ersten Blick dem Gebot der Prozessökonomie klar geschuldet zu sein scheint, gelten bei dieser teleologisch restriktiven Auslegung des § 338 Nr. 5 StPO ähnliche Bedenken wie oben für die Einschränkung des § 338 Nr. 6 StPO: Der Normtext enthält – obwohl das ohne Weiteres möglich gewesen wäre49 – keinerlei Anhaltspunkte für diese Differenzierung, die darüber hinaus im Einzelfall schwer zu treffen ist.

45 Vgl. BGHSt 22, 297 (302): „die Anforderungen an die Aufsichtspflicht dürfen nicht überspannt werden.“ 46 Vgl. nur BGHSt 15, 263 (264 f.); BGH NStZ 1983, 36; aus der Literatur Gössel NStZ 2000, 181 (182); Pfeiffer, StPO, 5. Aufl. (2005), § 338 Rn. 17 ff.; kritisch LR/Hanack (Fn. 18), § 338 Rn. 84 m.w.N. 47 Vgl. Pfeiffer (Fn. 46), § 338 Rn. 18 mit zahlreichen einzelnen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 48 Vgl. Kuckein StraFo 2000, 397 (398). 49 So kennt etwa § 247 StPO eine solche Beschränkung auf „wesentliche Inhalte“.

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4. Einschränkungen der Revisibilität beim „denkgesetzlichen Ausschluss“ eines Beruhens Nicht bei dem (vermeintlich) fehlenden besonderen Gewicht des Fehlers, sondern bei der ratio der absoluten Revisionsgründe, dem Revisionsführer den Nachweis eines kaum ausschließbaren, aber im Einzelfall schwer plausibel zu machenden Beruhens zu ersparen, setzen andere Entscheidungen teilweise an: a) Einschränkung des § 338 Nr. 6 StPO bei anklagegemäßer Verurteilung nach richterlichem Hinweis aa) Im Jahre 1999 hatte der 1. Strafsenat die Anwendbarkeit des § 338 Nr. 6 StPO in einem Fall abgelehnt, in dem unzulässigerweise während der Dauer eines (als solchen zulässigen) Ausschlusses der Öffentlichkeit ein Hinweis nach § 265 StPO erfolgt war.50 Der Senat argumentierte damit, dass ein Beruhen auf diesem Verstoß „denkgesetzlich ausgeschlossen werden“ könne, weil die Verurteilung letztlich so erfolgte, wie auch angeklagt worden war, so dass der Hinweis schließlich keinerlei Einfluss auf das Verfahren hatte. bb) Dieser Argumentation ist zwar im Grundsatz zuzugestehen, dass der formale Charakter als absoluter Revisionsgrund nicht in Frage gestellt wird, wenn in qualitativ klar abzugrenzenden Fällen nicht nur eine „zwar mögliche, aber für den Beschwerdeführer kaum greifbar zu machende“, sondern eine von vorneherein ausgeschlossene Beeinflussung angenommen wird.51 Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu den unter 3. (S. 444 ff.) dargestellten Fällen, in denen gleichsam eine (vom Gesetzgeber nicht vorgesehene) quantitative Abschichtung bei der Säule „gravierende verfahrensrechtliche Position“ vorgenommen wird. Vorliegend geht es nicht um ein „mehr“ oder „weniger“ auf einer Skala, auf welcher der Gesetzgeber keine Messstriche eingezeichnet hat; vielmehr ist die „zweite Säule“ der absoluten Revisionsgründe „vollständig weg gebrochen“, oder anders gewendet: die betreffenden Sachverhalte weisen nicht etwa nur eine andere Quantität bei

BGH NStZ 1999, 371 = StV 2000, 248 m. Anm. Ventzke. Krit. zum Rückgriff auf das „denkgesetzliche“ Nichtberuhen-Können allerdings Ventzke StV 2000, 249 (250). 50 51

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der Intensität der Verletzung des Prozessrechts, sondern eine andere Qualität hinsichtlich der (Un-)Klarheit über das Beruhen auf.52 Im konkreten Fall aber verfängt dieses Argument nicht: Denn es ist ja nicht „denknotwendig ausgeschlossen“, dass der Hinweis in öffentlicher Sitzung anders ergangen und aufgenommen worden wäre, so dass die darauf bezogene Verteidigung sich dann auch auf den Ursprungsvorwurf ausgewirkt hätte. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, und genau das ist typisch für die absoluten Revisionsgründe. Der angeblich „denknotwendige Ausschluss“ des Beruhens ergibt sich vielmehr erst daraus, dass die Entscheidung letztlich nicht auf die im Hinweis genannte Norm zurückgegriffen hat; dies zu Ende gedacht, müsste § 338 Nr. 6 StPO immer dann ausscheiden, wenn die Öffentlichkeit etwa bei einer Beweisaufnahme fehlt, auf die das Urteil letztlich nicht gestützt wird. Dabei würde aber verkannt, dass in den Prozess der Entscheidungsfindung auch eine Berücksichtigung solcher Umstände einfließen muss, die letztlich als nicht erheblich erachtet werden. b) Einschränkung des § 338 Nr. 6 bei unterbliebener Begründung des Öffentlichkeitsausschlusses aa) Dagegen ist eine Begründung der Unanwendbarkeit des § 338 Nr. 6 StPO mit dem „denknotwendigen Ausschluss des Beruhens“ in einer anderen Konstellation möglich, in welcher der 1. Strafsenat einen Verstoß gegen die Begründungspflicht des § 174 Abs. 1 S. 3 GVG zu würdigen hatte.53 Die Öffentlichkeit war nach § 171b Abs. 1 S. 1 GVG während der Inaugenscheinnahme von Lichtbildern eines Sexualverbrechens ausgeschlossen worden, die nach § 174 Abs. 1 S. 3 GVG vorgeschriebene Begründung des Beschlusses dagegen unterblieben, woraufhin der Angeklagte die Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit rügte. Der BGH kam zum Ergebnis, auch ohne Begründung sei für das Revisionsgericht sicher auszuschließen, dass im konkreten Fall aus rechtlichen Gründen eine andere Entscheidung über die Ausschließung hätte ergehen können.54 Der Rechtsfehler wiege daher nicht so schwer, dass ein absoluter Revisions-

Dass dieses Argument nicht eingreifen kann, wo es um keine Beruhensvermutung, sondern um eine Fiktion geht (also namentlich bei § 338 Nr. 7 Alt. 2 StPO), liegt auf der Hand. 53 BGH NJW 1999, 3060 m. Anm. Gössel NStZ 2000, 181 = StV 2000, 244 m. Anm. Park. 54 Im speziellen Fall des § 171b Abs. 1 GVG muß dazu auch feststehen, daß nicht „die Personen, deren Lebensbereiche betroffen sind, in der Hauptverhandlung dem Ausschluß der Öffentlichkeit widersprechen“. 52

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grund anzunehmen sei, zumal es in der Sache auch zu keinem unberechtigten Ausschluss der Öffentlichkeit gekommen sei. bb) In der Literatur ist diese Entscheidung (mit der von einer seit dem ersten Band der amtlichen Sammlung feststehenden Rechtsprechung abgewichen wurde55) auf deutliche Kritik mit Blick auf Wortlaut und formalen Charakter der Norm gestoßen.56 Freilich liegt hier tatsächlich ein Fall vor, in dem das „Nachweis-Dilemma“, das die zweite Säule der absoluten Revisionsgründe ist, überhaupt nicht auftreten kann. Offenbar war vorliegend ganz korrekt, dass die Inaugenscheinnahme der Fotos unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgte. Ein Einfluss der fehlenden genauen Nennung des Grundes für den Ausschluss auf das Ergebnis war also nicht nur „schwer greifbar“, sondern notwendigerweise ausgeschlossen. c) Keine Beschränkung des § 338 Nr. 3 StPO bei inhaltlich zutreffender, aber formal fehlerhafter Behandlung eines Ablehnungsgesuchs aa) Ein ähnlicher Weg wäre auch in einer weiteren Konstellation gangbar gewesen, ist aber vom BGH letztlich nicht beschritten worden: Im zu Grunde liegenden Fall hatte der Angeklagte den Vorsitzenden der Strafkammer wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, da dieser in einem vorangegangenen Verfahren gegen einen anderen Angeklagten u.a. wegen Strafta-

55 Vgl. BGHSt 1, 334 (335) sowie in der Folgezeit statt vieler BGHSt 27, 117 (118); 41, 145 (146). Eine Vorlage an den Großen Senat nach § 132 Abs. 2 GVG war unterblieben, weil die übrigen Senate auf eine Anfrage hin jedenfalls im konkreten Fall keine Einwände hatten; krit. Gössel NStZ 2000, 181 (182). 56 Insoweit weitgehend übereinstimmend Gössel NStZ 2000, 181 (182), sowie Park StV 2000, 246 f. Ferner wird für den konkreten Fall bemängelt, dem BGH stehe als Revisionsgericht die zur Begründung und Voraussetzung der Ausnahme herangezogene Überprüfung gar nicht zu, ob „im konkreten Fall aus rechtlichen Gründen eine andere Entscheidung über die Ausschließung hätte ergehen“ können: Dies nicht nur, weil nach der ratio des § 174 Abs. 1 S. 3 GVG außerhalb der Begründung des Ausschließungsbeschlusses liegende Umstände nicht berücksichtigt werden dürften (vgl. Park StV 2000, 246 [247 f.]), sondern auch weil nach § 336 S. 2 StPO unanfechtbare Entscheidungen (wie der Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 174b Abs. 3 GVG) vom Revisionsgericht nicht mehr überprüft werden könnten (so Gössel NStZ 2000, 181 [182 f.]). Die Berechtigung dieses zweiten Einwands ist so eindeutig freilich nicht: Unterstellt, dem Revisionsgericht ist für eine solche Feststellung wirklich eine ausreichende Tatsachengrundlage bekannt (vgl. nochmals Gössel NStZ 2000, 181 [183]), geht bei dieser Inzidentprüfung ja gerade nicht um die durch § 336 S. 2 StPO zu vermeidende „Beseitigung einer einmal erzielten Klarheit“, sondern letztlich in gewisser Weise sogar um deren Perpetuierung.

Wie absolut sind die absoluten Revisionsgründe?

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ten gegen dasselbe Opfer mitgewirkt und dabei zu Angaben der Opferzeugin auch Feststellungen zu dem Vorwurf des jetzigen Verfahrens getroffen hatte, die im ersten Verfahren nicht zwingend erforderlich gewesen wären. Die Strafkammer hat das Ablehnungsgesuch unter Mitwirkung des abgelehnten Richters gemäß § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO als unzulässig verworfen, da die angegebene Begründung aus zwingenden rechtlichen Gründen zur Rechtfertigung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet sei, was dem Fehlen einer Begründung gleichstehe.57 Der BGH war der Ansicht, dass das Ablehnungsgesuch unbegründet war, allerdings nicht (als Ausnahme zu § 27 StPO) unter Mitwirkung des abgelehnten Richters nach § 26a Abs. 2 i.V.m Abs. 1 Nr. 2 StPO als unzulässig hätte verworfen werden dürfen. Zwar könne die Mitwirkung in einem früheren Strafverfahren zu denselben Vorgänge grundsätzlich keine Besorgnis der Befangenheit begründen58 und ein pauschales Abstellen darauf als völlig ungeeignet einer fehlenden Begründung i.S.d. § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO gleichgestellt werden;59 etwas Anderes gelte jedoch, wenn – wie vorliegend – das konkrete Verhalten des Richters in einem früheren Verfahren Anknüpfungspunkt des Befangenheitsantrags sei,60 da dann der Ablehnungsantrag eben nicht ohne nähere Prüfung und losgelöst von den konkreten Umständen des Einzelfalls behandelt werden könne. Als Konsequenz möchte der BGH hier – in Abweichung von seiner früheren Rechtsprechung61 – gerade nicht prüfen, ob das Ablehnungsgesuch in der Sache gerechtfertigt gewesen sei, sondern meint in einer an Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG orientierten Auslegung bei einer willkürlichen Verwerfung des Ablehnungsgesuches nach § 26a StPO jedenfalls § 338 Nr. 3 StPO annehmen zu müssen. bb) Zwingend ist das freilich nicht: Denn während der absolute Revisionsgrund nach § 338 Nr. 3 StPO eben auch auf der Säule ruht, dass der vom Revisionsführer zu erbringende Beruhensnachweis bei der Mitwirkung eines ausgeschlossenen bzw. befangenen Richters regelmäßig kaum zu erbringen sein wird, ist die Frage, ob der unrechtmäßige Rückgriff auf § 26a StPO bei Entscheidung über das Ablehnungsgesuch für das weitere Vorgehen ursächlich geworden ist, durchaus eindeutig zu beantworten: Er ist es dann (aber auch nur dann), wenn tatsächlich die Besorgnis der Befangenheit

Vgl. BGH NJW 2005, 3436 = StV 2005, 588 m. Anm. Kudlich JA 2006, 253 f. Vgl. nur BGHSt 21, 334 (341); zust. m.w.N. Meyer-Goßner (Fn. 12), § 24 Rn. 13. 59 Vgl. BGH NStZ 1999, 311; BGH NStZ-RR 2002, 66; BVerfG NJW 1995, 2912. 60 Zu solchen Fällen OLG Celle NJW 1990, 1308; LG Bremen StV 1990, 203; MeyerGoßner (Fn. 12), § 24 Rn. 13. 61 Vgl. nur BGHSt 18, 200 (203); 23, 265. 57 58

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nach § 24 Abs. 2 StPO bestanden hatte, was in anderen Fällen durchaus Prüfungsgegenstand revisionsgerichtlicher Entscheidungen ist. Die vorgebliche „Willkür“, die uns schon aus anderen Entscheidungen zu den absoluten Revisionsgründen bekannt ist (vgl. o. S. 444 f.) und hier – anders als oben – gerade für einen absoluten Revisionsgrund ins Feld geführt wird, ist insoweit kein geeigneter Entscheidungsparameter: Denn es geht hier ja gerade nicht (nur) um die Schwere des Verfahrensverstoßes, sondern um die Möglichkeit, „denkgesetzlich“ auszuschließen, dass sich der Fehler auf das Verfahrensergebnis ausgewirkt hat.

IV. Zusammenfassung und Fazit In der Rechtsprechung wird die Schlagkraft der absoluten Revisionsgründe auf unterschiedliche Weise relativiert: Große praktische Bedeutung haben dabei – freilich nicht spezifisch „gegen die absoluten Revisionsgründe gerichtet“ – bereits Zulässigkeitshürden und neuerdings auch Beweiserschwerungen für die Erhebung von Verfahrensrügen, mit denen gerade die absoluten Revisionsgründe regelmäßig geltend gemacht werden müssen. Keinen (jedenfalls keinen spezifisch revisionsrechtlichen) Bedenken begegnen dabei Auslegungen, die bereits bei der Frage nach dem Vorliegen eines Rechtsfehlers als solchem ansetzen: Was aus revisionsrechtlicher Sicht kein Fehler ist, kann schon nach der Grundregel des § 337 StPO keine Revision begründen. Problematisch sind demgegenüber – trotz eines nicht zu bestreitenden „Gerechtigkeitsgehalts“ auf den ersten Blick in manchen Fällen62 – die fallgruppenartigen Einschränkungen des § 338 StPO, nach denen trotz des konstatierten Vorliegens von Fehlern die Beruhensvermutung des § 338 StPO nicht eingreifen soll, weil (zusammenfassend) der Fehler nicht für gravierend genug erachtet wird. Eine solche quantitative Abschichtung ist innerhalb der grundsätzlich als absolut revisibel erachteten Bereiche nicht nur vom Gesetzgeber nicht vorgesehen, sondern auch nicht trennscharf vorzunehmen; entsprechende Relativierungen sind daher nach der gegenwärtigen lex lata nicht überzeugend und sollten nicht weiter ausgedehnt werden.

62 „Auf den ersten Blick“ deswegen, weil gerade im Prozessrecht auch der schützenden Kraft der Form ein Eigenwert zukommt, der nicht ohne weiteres hinter der materiellen Einzelfallgerechtigkeit zurückstehen muss.

Wie absolut sind die absoluten Revisionsgründe?

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Dagegen ist nach der ratio der Vorschrift grundsätzlich nichts gegen eine teleologische Reduktion des § 338 StPO einzuwenden, wenn feststeht, dass ein Beruhen auf dem Verfahrensfehler denknotwendig ausscheidet. Dies kann etwa beim Fehlen bzw. bei rein formellen Fehlern von Begründungen bei verfahrensleitenden Entscheidungen angenommen werden, wenn auch ohne diese nach den für das Revisionsgericht geltenden Prüfungsmaßstäben festgestellt werden kann, dass über die betreffende formelle Frage63 keine andere Entscheidung hätte getroffen werden können. Dem kann freilich nicht der Fall gleichgestellt werden, dass ein Fehler in einer Verfahrenssituation eintritt, die sich später für das Urteil als nicht entscheidungserheblich herausstellt;64 denn wenn die Beruhensvermutung des § 338 StPO konsequent weiter gedacht wird, muss sie auch die Möglichkeit einer anderen Beurteilung eben dieser Verfahrenssituation bei ordnungsgemäßem Prozessieren umfassen.

Also in den o.g. Beispielen: Über den Ausschluss der Öffentlichkeit, über den Befangenheitsantrag etc. – nicht: in der Hauptsache! 64 Etwa weil ein in dieser Situation herangezogenes Beweismittel nicht verwendet oder eine in einem Hinweis nach § 265 StPO genannte Norm nicht herangezogen wird. 63

Zum Verhältnis von Tatrichter und Revisionsrichter PETER RIESS

Vor mehr als drei Jahrzehnten hat Gerhard Fezer mit mehreren bahnbrechenden Arbeiten das Verständnis von der Wirkungsweise und Leistungsfähigkeit der Revision in Strafsachen auf eine neue, bis heute gültige Grundlage gestellt.1 Er hat gezeigt, dass dieses Rechtsmittel auch die tatsächlichen Feststellungen des Tatrichters in nicht unerheblichem Umfang zu erfassen in der Lage ist und auch in der Realität kontrolliert, was inzwischen verbreitet als „erweiterte Revision“ bezeichnet und akzeptiert wird. Diese Erkenntnis hat auch die weitere Reformdiskussion, und die legislatorischen Bemühungen, an denen auch Gerhard Fezer im Bundesministerium der Justiz vorübergehend mitgewirkt hat,2 intensiv beeinflusst. Die Forderung, die Revision als erstes Rechtsmittel durch eine Berufung zu ersetzen, die die Reformgeschichte fast ein Jahrhundert bestimmt hat, wird kaum noch vertreten, und um die Absicht einer gesetzlichen Erweiterung der Revision3 ist es still geworden. Diese Entwicklung, die in anderen Beiträgen dieser Festschrift ihren Niederschlag finden dürfte, soll nachfolgend nicht näher behandelt werden. Ich

Grundlegend Fezer, Möglichkeiten einer Reform der Revision in Strafsachen (1975); dem vorausgegangen „Die erweiterte Revision – Legitimierung der Rechtswirklichkeit?“ (1974); sowie die Hauptarbeit ergänzend, „Reform der Rechtsmittel in Strafsachen – Bericht über die Entstehung der gegenwärtigen Rechtsmittelvorschriften und die Bemühungen um ihre Reform“, 1974, erschienen in der Reihe „recht“ und herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz, wo die Autorschaft des Jubilars nur etwas versteckt erwähnt wird. Zur aktuellen Einschätzung durch den Jubilar vgl. etwa Fezer, FS Hanack (1999), S. 331 ff. 2 Er war Anfang der 70er Jahre für etwa ein Jahr an das Bundesministerium der Justiz abgeordnet und hat im Strafprozessreferat mit mir gemeinsam an den damals im Mittelpunkt stehenden Bemühungen zur Reform der Rechtsmittel gearbeitet und hierbei vor allem die Grundzüge des Konzepts eines neuen, erweiterten Revisionsrechts betreut. 3 So detailliert der Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Strafprozessreform“ (1975); zum Inhalt ausführlich Rieß DRiZ 1976, 3 ff. 1

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will auf der Grundlage der heutigen Revisionspraxis in Strafsachen – weitgehend unter Verzicht auf den Nachweis von Schrifttum und Rechtsprechung und eine Auseinandersetzung damit4 – einige Gedanken darüber zur Diskussion stellen, wie es um das Verhältnis von Tatrichter und Revisionsrichter bestellt ist. Es geht dabei vor allem um die Aufgabenverteilung, das Selbstverständnis und um die Möglichkeiten und Grenzen der Kommunikation zwischen ihnen.

I. Allgemeine Ausgangslage Zwischen dem Tatrichter und dem Revisionsrichter besteht notwendiger Weise ein Spannungsverhältnis. Es ergibt sich daraus, dass im Gesamtgefüge des Strafprozessrechts die Tatgerichte und die Revisionsgerichte unterschiedliche Funktionen zu erfüllen haben. Wäre der Tatrichter stets mit seinem Revisionsgericht zufrieden, so müsste sich dieses die Frage stellen, ob es sachgerecht judiziert. Überstiege umgekehrt die Beanstandungsquote des Revisionsgerichts ein hier nicht näher zu behandelndes und zu quantifizierendes Maß, das man als eine „optimale Aufhebungsrate“ bezeichnen mag, so könnte sich die Frage aufdrängen, ob der Revisionsrichter seine Befugnisse nicht zu exzessiv handhabt. Das gilt im Grundsatz für alle Verfahrensarten, weil der Instanzenzug durchgehend mit einem revisionsartig ausgestalteten Rechtsmittel endet.5 Es gewinnt aber im Strafverfahrensrecht durch mehrere Umstände eine besondere Bedeutung. Einmal ist es die Verfahrensstruktur, die nach den Maximen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit und unter Verwendung des Topos der freien Überzeugungsbildung die Tatsachenfeststellung dem Tatrichter anvertraut und die hierfür maßgebenden Entscheidungsgrundlagen dem Revisionsrichter vorenthält. Hinzu kommt, dass anders als im Zivilprozess6 die Revision in Strafsachen als einziges Rechtsmittel unmittelbar gegen erstinstanzliche tatrichterliche Urteile eröffnet ist.7 Schließlich ist in

Meine eigene Position zum gegenwärtigen Zustand der Revision findet sich namentlich bei Rieß, FS Hanack (1999), S. 397 ff. Hierauf ist wegen mancher Einzelheiten zu verweisen. 5 Mag es auch teilweise terminologisch als „Rechtsbeschwerde“ erscheinen. 6 Gleiches gilt in weitem Umfang bei den Verfahrensordnungen der besonderen Gerichtsbarkeiten. 7 Ich verkenne dabei nicht, dass dies nur für die erstinstanzliche landgerichtliche und oberlandesgerichtliche Zuständigkeit gilt, nicht aber für die – rein quantitativ gleich häufige – Revision gegen Berufungsurteile. Aber man wird annehmen können, dass die Revision durch 4

Zum Verhältnis von Tatrichter und Revisionsrichter

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der Rechtsentwicklung der letzten Jahrzehnte die revisionsrechtliche Kontrolldichte in Bezug auf die Feststellungen (und die Sanktionsbemessung) so intensiviert worden, dass von einem (grundsätzlich) unüberprüfbaren Freiraum des Tatrichters kaum noch gesprochen werden kann. Aber unverändert haben Tatgericht und Revisionsgericht im Gesamtgefüge des Weges zu einer richtigen Entscheidung unterschiedliche Funktionen zu erfüllen und bedienen sich hierbei verschiedener Mittel. Die Revision bleibt ein kontrollierendes Rechtsmittel und unterscheidet sich damit grundlegend von der den Beweiserhebungsvorgang und die Beweiswürdigung wiederholenden Berufung.8 Das abweichende Berufungsurteil kann und wird der Tatrichter aus diesen Gründen nicht selten als ein bloß abweichendes Ergebnis einer neuen Beurteilung und Beweisaufnahme interpretieren und akzeptieren können, während ihm das aufhebende Revisionsurteil in vielen Fällen als eine Kritik an seiner Arbeit erscheinen muss.

II. Revision als Leitlinie und Kontrolle Über das Wesen und den Zweck der Revision gibt es eine ausgedehnte und kontroverse Diskussion, auf deren Einzelheiten es für unser Thema nicht entscheidend ankommt. Als gesichert kann gelten, dass sie zwei unterschiedliche Funktionen wahrzunehmen hat, die sich freilich in der praktischen Rechtsanwendung vielfach überschneiden und miteinander verschlingen. Für den Tatrichter haben sie unterschiedliches Gewicht. 1. Die Revision hat einerseits dadurch Leitlinienfunktion, dass sie rechtliche Zweifelsfragen klärt und dadurch der Rechtsfortbildung und der Wahrung und Wiederherstellung von Rechtseinheit dient. Es ist vor allem dieser

den BGH in den schwerer wiegenden, bedeutenderen und die öffentliche Wahrnehmung stärker beeinflussenden Strafsachen auch die Handhabung der Oberlandesgerichte entscheidend prägt. 8 Die Beziehungen zwischen erstinstanzlichem und Berufungsrichter sind hier ebenso wenig weiter zu behandeln wie die Frage, wieweit und unter welchen Rahmenbedingungen die Berufung größere Entscheidungsrichtigkeit gewährleistet. Erinnert sei insoweit an die Bemerkung von Tröndle (GA 1967, 182 ff. bei Fn. 69; wieder abgedruckt bei Tröndle, Antworten auf Grundfragen [1999], S. 1 ff.), der Berufungsrichter gleiche einem Koch, der mit weniger Fleisch und geringeren und schlechteren Zutaten einen besseren Braten zubereiten solle. Die neuere Entwicklung, die in § 76 Abs. 1 GVG die berufsrichterliche Besetzung zwischen den amtsrichterlichen Spruchkörpern und der Berufungsstrafkammer eingeebnet und mit dem Institut der Annahmeberufung und ihrem Rückgriff auf sachlich verfehlte, dem Revisionsrecht entlehnte Beurteilungsmaßstäbe eine systemwidrige Typenmischung vorgenommen hat, kommt hinzu.

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Aspekt, der sich einigermaßen problemlos mit dem für die Revision kennzeichnenden Zentralbegriff der „Gesetzesverletzung“ (§ 337 StPO) in Verbindung bringen lässt, der den Schwerpunkt der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Revisionsrechtsprechung bildet und von dem her gesehen der Zugriff des Revisionsgerichts auf die tatrichterlichen Feststellungen jedenfalls nicht im Vordergrund steht und auf methodische Schwierigkeiten stößt. Ob sich die dem Revisionsgericht obliegende (reine) Subsumtionskontrolle, Auslegung oder Rechtsfortbildung auf der Basis von Feststellungen vollzieht, die sich so oder anders oder gar nicht zugetragen haben, ist letztlich nicht entscheidend, und gegen die mögliche Fehlerhaftigkeit der die Rechtsanwendung tragenden Feststellungen ist diese revisionsrechtliche Aufgabe einigermaßen resistent. Anders ist es – schon in diesem Zusammenhang – dann, wenn die vom Revisionsgericht zu entwickelnden oder zu präzisierenden allgemeinen Leitlinien die Anforderungen an die Tatsachenfeststellung betreffen. Für den Tatrichter werden revisionsrechtliche Beanstandungen, die diesen Funktionsbereich der Revision betreffen, sich nur dann als Kritik seiner Tätigkeit darstellen, wenn sie echte Subsumtions- oder andere Rechtsanwendungsfehler aufgrund einer gesicherten Rechtslage zu Inhalt haben. Im Übrigen wird er sie als Arbeitshilfen verstehen können. Die Auffassungen und Vorgaben des Revisionsgerichts entfalten für ihn Verbindlichkeit auch über die enge Bindung an die Aufhebungsansicht nach § 358 Abs. 1 StPO hinaus; sie sind geeignet, seine richterliche Unabhängigkeit im Ergebnis zu begrenzen, und zwar auch dann, wenn sie sich noch nicht – was eher selten ist – zu Richterrecht verdichtet haben. Diese These ist überspitzt und systematisch und dogmatisch angreifbar. Denn der Tatrichter braucht sich um die Vorgaben des Revisionsgerichts außerhalb der Reichweite des § 358 Abs. 1 StPO nicht zu kümmern. Er muss nur damit rechnen, dass die Ergebnisse seiner Arbeit keinen Bestand haben werden, wenn er sich nicht an die Maßstäbe hält, die die Revisionsrechtsprechung im Allgemeinen und sein Revisionsgericht im Besonderen ihm vorgeben. Dieses hat nun einmal nach der Ordnung unseres Verfahrensrechts – das Bundesverfassungsgericht einmal beiseite gelassen9 – das letzte Wort. Es wird dem Tatrichter nicht allzu schwer fallen, sich bei zweifelhaften Rechtsfragen auf eine höchstrichterli-

9 Wenn man dieses und die Rechtsprechung des EGMR mit einbezieht, so zeigt sich der vielfach beschworene „blaue Himmel“ über dem Revisionsgericht als deutlich „eingetrübt“. Dieses gerät aus verfassungsrechtlicher Perspektive unter eine sich intensivierende Kontrolle und damit unter einen spezifischen Rechtfertigungszwang. Das nicht immer spannungsfreie Verhältnis wäre einer besonderen Behandlung wert.

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che Rechtsprechung – wenn sie denn ausreichend klar ist – einzulassen. Ob hier der Gesetzgeber oder der Bundesgerichtshof die Maßstäbe vorgibt, ist für die tägliche Arbeit nicht selten gleichgültig. 2. Die Revision dient aber auch mindestens gleichrangig der Einzelfallgerechtigkeit. Sie soll mit den ihr strukturell zur Verfügung stehenden Mitteln die Richtigkeit des dem Revisionsgericht unterbreiteten Urteils überprüfen, also eine einzelfallbezogene Urteilskontrolle vornehmen, bei der die Leitlinienfunktion keine besondere Rolle spielt.10 Unter diesem Aspekt erscheint sie im Strafverfahren, überspitzt ausgedrückt, als eine Art „Fertigungsendkontrolle“. Das Revisionsgericht übt so etwas wie eine modifizierte und prozessspezifische Sachaufsicht über die Tätigkeit des Tatrichters aus. Es überprüft mit seinen Kontrollmaßstäben, ob das Produkt der tatrichterlichen Tätigkeit, nämlich das schriftlich begründete Urteil, akzeptiert werden kann. Die dies bejahende Entscheidung ist nach der gegenwärtigen Revisionspraxis in erster Linie die meist nicht näher begründete Beschlussverwerfung nach § 349 Abs. 2 StPO,11 die verneinende ist der in der Aufhebung und Zurückverweisung liegende Auftrag an den Tatrichter, sich unter korrekten Subsumtion der Mühe einer neuen Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung mit den allein ihm offen stehenden Mitteln des Strengbeweises und der freien Überzeugungsbildung zu unterziehen. Von dieser Aufgabe her, die quantitativ die Revision dominieren dürfte, ist es nun alles andere als gleichgültig, ob die den Urteilsspruch tragenden Feststellungen mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder nicht. Die Erweiterung des Kontrollbereichs der Revision ist in erster Linie dem Revisionszweck der Einzelfallgerechtigkeit geschuldet, und sie stößt an strukturelle Grenzen, auf die noch näher eingegangen werden wird. Denn insoweit geht es nicht nur – und nicht einmal in erster Linie – um die korrekte Subsumtion des festgestellten Sachverhalts unter die Strafnorm, sondern um die Verlässlichkeit dieses Sachverhalts und hierbei nicht nur um die Einhaltung des gesetzlich vorgeschriebenen Weges zu ihnen, der seit jeher mit der Verfahrensrüge der revisionsrechtlichen Überprüfung zugänglich gemacht werden kann, sondern um die Tragfähigkeit dieser Feststellungen selbst. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese den Schuldspruch tragen oder ob sie für die Rechtsfolgenfestsetzung, insbesondere die Strafe

10 Die Bedeutung dieser Aufgabe gerade im Strafprozess wird dadurch deutlich, dass der Gesetzgeber es – insoweit von der generellen Tendenz abweichend – bisher unterlassen hat, Kapazitätsprobleme in der Revisionsinstanz dadurch zu lösen, dass er den Zugang auf Verfahren von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung beschränkt hat. 11 Mit einem quantitativen Anteil von größenordnungsmäßig etwa 75% aller Revisionen.

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bestimmend sind. Das ist ohne einen wie auch immer ausgestalteten Zugriff auf sie nicht zu realisieren, dem vom Gesetzeswortlaut her die Voraussetzung entgegenstehen könnte, dass der Erfolg der Revision eine Verletzung des Gesetzes verlangt, und der in der Sache – was wichtiger sein dürfte – damit kollidieren kann, dass die normativen Vorgaben des Strafprozessrechts die Richtigkeitsgewährleistung der Tatsachenbasis an Voraussetzungen knüpfen, die dem Revisionsgericht nicht zur Verfügung stehen. Für den Tatrichters betreffen Beanstandungen einen Bereich, den er nach seinem Selbstverständnis als ihm vorbehalten verstehen könnte. Sie beziehen sich auf eine Tätigkeit, von der er nach dem Gesetzeswortlaut (§ 261 StPO) annehmen kann, dass sie, wenn er die Regeln des Verfahrensrechts einhält, allein ihm anvertraut ist; sie fordern mit der strengbeweislichen Klärung nach den die Hauptverhandlung prägenden Grundsätzen ein Verfahren, das nur ihm zur Verfügung steht, und sie verlangen von ihm die nähere Darlegung, warum er überzeugt war. Damit treten Fragen der Kommunikation zwischen Tatrichter und Revisionsrichter in den Vordergrund, auf die und deren Problematik noch näher einzugehen sein wird.12 Die Einhaltung des Gleichgewichts zwischen der zur Gewährleistung von Entscheidungsrichtigkeit notwendigen revisionsrechtlichen Kontrolle und der tatrichterlichen Verantwortung ist nicht nur ein – noch weiterer Diskussion bedürftiges – dogmatisches Problem, sondern betrifft auch die Frage der täglichen Handhabung in der Revisionspraxis und ihrer Akzeptanz durch den Tatrichter, der vor der Verlockung stehen kann, Vermeidungsstrategien zu nutzen.13

III. Möglichkeiten, Grenzen und Risiken der erweiterten Revision Die gegenwärtigen Möglichkeiten des Zugriffs des Revisionsrichters auf die tatsächlichen Feststellungen und ihre dogmatische Rechtfertigung lassen sich in knapper Form wie folgt beschreiben.14 1. Der Revisionsrichter kann nur das leisten, was die verfahrensrechtlichen Eigenarten der Revision ihm ermöglichen. Das neuere Schrifttum charakterisiert den revisiblen Bereich zunehmend, wenn auch nicht ohne

S. unten unter VI. S. unten unter VIII. 14 Eine zusammenfassende Darstellung aus neuester Zeit etwa bei Frisch, FS Eser (2005), S. 257 ff. 12 13

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Widerspruch, mit den Begriffen der „Leistungsmethode“ oder dem „Prinzip der Verantwortungsteilung“. Die Grenzen der Revisibilität sollen sich hiernach nach dem dem Revisionsrichter zugänglichen Kontrollinstrumentarium bestimmen, und es gebe einen Bereich, in dem der Tatrichter eine Verantwortung trage, die ihm das Revisionsgericht nicht abnehmen könne. Das mag man als Konkretisierung und Erläuterung oder Umschreibung des revisionsrechtlichen Zentralbegriffs der Gesetzesverletzung in § 337 StPO hinnehmen;15 es bleibt aber eine Leerformel, solange nicht erklärt wird, was denn nun die Leistungsgrenze der Revision ausmache. Die nur scheinbar einfache Antwort könnte lauten: Da dem Revisionsgericht eine Beweisaufnahme zur Schuld- und Straffrage in einer Hauptverhandlung nach den Regeln des Strengbeweises verschlossen ist, diese wiederum in ihrer Gesamtheit („Inbegriff“) die alleinige Grundlage für die Gewinnung der „freien“ Überzeugung bildet, auf der schließlich die Feststellungen beruhen sollen, die die Grundlage für die Rechtsanwendung darstellen, entziehen sich diese der Kontrolle der Revisionsgerichts. Das ist wohl – etwas vergröbernd – die Ausgangslage, von der der historische Gesetzgeber vor 130 Jahren ausgegangen ist und die lange Zeit weitgehend Bestand gehabt hat.16 Danach ist im materiellen Recht der Subsumtionsvorgang auf der Grundlage der Feststellungen der Letztverantwortung des Revisionsrichters überwiesen. Dagegen gehen ihn die Feststellungen und die Frage ihrer Richtigkeit grundsätzlich nichts an; sie betreffen den Verantwortungsbereich des Tatrichters. Überprüfbar ist hier nur die Beachtung des Verfahrensrechts, dessen Verletzung mit der Verfahrensrüge zum Thema der Revision gemacht werden kann. Dass das namentlich mit der die Richtigkeitsgewährleistung im Einzelnen betreffenden Revisionsaufgabe, die hier salopp als modifizierte Sachaufsicht und Fertigungsendkontrolle

Der Inhalt des Begriffs der Gesetzesverletzung auf der Grundlage der heutigen Revisionspraxis ist, wie etwa die ausführlichen Darstellungen bei SK-StPO/Frisch, 37. Lfg. (2004), § 337 Rn. 1–23 und LR/Hanack, 25. Aufl. (1998), § 333 Rn. 124 ff. zeigen, nach wie vor im Einzelnen ungeklärt. Es ließe sich wohl kritisch fragen, wieweit er für die Begrenzung der Überprüfbarkeit der Feststellungen noch eine mit dem Wortsinn vereinbare praktische Bedeutung hat. 16 S. als Beispiel die Erläuterungen in der 15. Aufl. (1922), bei Löwe/Rosenberg § 376 Anm. 2a; Beling, Deutsches Reichsstrafprozessrecht (1928), S. 412 f.; Gerland, Der deutsche Strafprozeß (1927), S. 415 f. Es mag dahingestellt bleiben, wieweit hierfür die Existenz des (bis 1923 vorhandenen) echten Schwurgerichts, bei dem sich der Wahrspruch der Geschworenen seiner Natur nach einer derartigen Kontrolle entzieht, als ein Leitbild für das ganze Strafverfahren diese Vorstellung mit geprägt hat. 15

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bezeichnet worden ist, nur schwer vereinbar ist, wurde bereits dargelegt und liegt auf der Hand.17 2. Die Revisionsrechtsprechung hat deshalb schon frühzeitig in zunächst engen (und nicht immer klaren) Grenzen fehlerhafte Feststellungen nicht akzeptiert.18 Sie hat sie beanstandet, wenn sie gegen zwingende Erfahrungsgesetze verstießen, in sich widersprüchlich waren oder auf der Verletzung von Denkgesetzen beruhten.19 Diese Grenzen sind, was spätestens seit den Untersuchungen von Fezer20 außer Streit steht, kontinuierlich erweitert worden und sind heute weit überschritten. Die Kontrolle der tatsächlichen Feststellungen und des Vorgangs der Überzeugungsbildung, die nach der überwiegenden Auffassung über die Sachrüge vorgenommen wird und für die die Bezeichnungen „Darstellungsrüge“ oder „Feststellungsrüge“ gebräuchlich sind, gehört zum Alltagsgeschäft des Revisionsrichters. Beanstandungen dieser Art betreffen etwa über das „klassische“ Instrumentarium hinaus (1) die Notwendigkeit einer vollständigen Darstellung des erwiesenen Sachverhalts, (2) die Unvollständigkeit der Beweiswürdigung, (3) die Nichterörterung sich aufdrängender oder auch nur nahe liegender Umstände, (4) die Anforderungen an die Überzeugung oder (5) den fehlerhaften Umgang mit Erfahrungssätzen. Die Grundlage, auf der sich diese Kontrolle vollzieht, ist in erster Linie die schriftliche Urteilsbegründung, was zugleich die Anforderungen erklärt, die revisionsrechtlich an diese gestellt werden.21 3. Freilich bleibt es auch bei dieser erweiterten Revision dabei, dass nach der Grundstruktur des deutschen Strafprozesses nur die Beweisaufnahme in einer Hauptverhandlung und die aus deren Inbegriff geschöpfte Überzeugung des Tatrichters die Richtigkeit der Feststellungen legitimiert. Dem Revisionsrichter, dem dieser Weg verschlossen ist, ist eine verbindliche Feststellung hierüber nicht möglich. Sie wird von ihm aber auch nicht ver-

17 Verfassungsrechtlich überhöht und mit der Rechtsprechung des BVerfG ließe sich vertreten, hier auch auf den Topos der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes zurückzugreifen. 18 Belege bei Fezer, Möglichkeiten (Fn. 1), S. 100 ff.; Frisch, FS Eser (2005), S. 264 f. 19 Beim Wahrspruch der Geschworenen im klassischen Schwurgericht, bei dem diese Möglichkeiten verschlossen waren, fand sich eine gewisse funktionelle Entsprechung in § 317 StPO a.F., nach dem die Berufsrichter den Spruch der Geschworenen zu Gunsten des Angeklagten kassieren konnten, wenn sie einstimmig der Auffassung waren, dass sich diese (auch in tatsächlicher Hinsicht) geirrt hatten. 20 S. Fn. 1. 21 Mit dem Gesetzeswortlaut des (unvollständigen und unübersichtlichen) § 267 StPO lassen sich diese Anforderungen nicht rechtfertigen. Eine Neufassung der Vorschrift, die ihnen besser Rechung trägt, bleibt ein Desiderat.

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langt. Dass der Tatrichter überzeugt – oder nicht überzeugt – war, bleibt in seiner Verantwortung, die ihm der Revisionsrichter nicht abnehmen kann. Er kann aber anhand der Urteilsgründe prüfen und entscheiden, ob der Tatrichter – der dies in ihnen darzulegen hat – nach Lage der Dinge überzeugt sein durfte oder (im Falle des Freispruchs) nicht überzeugt zu sein brauchte. Verneint er es, so liegt es noch innerhalb der strukturellen Leistungsgrenzen der Revision, durch Aufhebung und Zurückverweisung einem anderen Tatrichter aufzugeben, sich nochmals um tragfähige Feststellungen zu bemühen.22 Das setzt allerdings eine Interpretation des Begriffs der freien Überzeugung und des Beweismaßes für die Feststellungen voraus, die einen objektivierbaren und mitteilbaren Kern verlangt. Die Erweiterung der Revision entbehrte jeder Grundlage, wenn es allein auf das subjektive Fürwahrhalten des Tatrichters von der Richtigkeit der Feststellungen ankäme. Die Überzeugung des Tatrichters gründet sich demnach zunächst und in erster Linie auf eine argumentativ darstellbare, intersubjektiv vermittelbare (hohe) Wahrscheinlichkeit der Sachverhaltsannahmen. Sie ist ferner23 deren subjektive Nichtbezweiflung oder (im umgekehrten Fall) deren Bezweiflung. Das zweite geht den Revisionsrichter nichts an; er hat es zu respektieren. Das erste unterliegt seiner Prüfungskompetenz. Er ist der fachkundige Dritte, den die Argumente des Tatrichters jedenfalls insoweit überzeugen müssen, dass er die Sachverhaltsannahmen für so vertretbar hält, dass ihm eine neue tatrichterliche Verhandlung nicht erforderlich erscheint. 4. Diese die Kontrolle der Feststellungen mit einbeziehende Revision führt gegenüber der sozusagen „klassischen“, auf reine Gesetzesverletzung abstellenden zu einer Verschiebung der Gewichte und zu Veränderungen im Verhältnis von Tatrichter und Revisionsrichter. Mit dem neuen Prüfungsinstrumentarium, das nicht eindeutig begrifflich bestimmbar ist, sondern nur nach Fallgruppen phänomenologisch umschrieben werden kann, verschwimmen die Grenzen von Tatrichter und Revisionsrichter, und er hat wohl auch zur Folge, dass der Erfolg der Revision unberechenbarer wird. Wann der Revisionsrichter die argumentative Darstellung des Feststellungsvorgangs in den schriftlichen Urteilsgründen als Vermittlung der aus-

Mit erfasst wird der eher seltene, aber in der Praxis vorkommende Fall, dass solche Feststellungen nicht mehr zu erwarten sind, was (ausnahmsweise) eine abschließende Sachentscheidung des Revisionsgerichts (meist einen Freispruch) ermöglicht. 23 Worüber keine vollständige Einigkeit besteht (s. die Nachw. und ihre kritische Würdigung bei Erb, FS Rieß [2002], S. 77 ff.), was aber wohl dem Verfahrensmodell des deutschen Strafprozesses geschuldet ist. 22

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reichenden Wahrscheinlichkeit für genügend hält, entzieht sich einer begrifflich exakten Bestimmung. Überspitzt ausgedrückt verlagert sich (in kritischen Fällen) die unüberprüfbare Freiheit des Tatrichters bei der Überzeugungsbildung auf eine kaum überprüfbare Freiheit des Revisionsrichters bei der Akzeptanz dessen, was ihm die Darstellung des Tatrichters vermittelt.24

IV. Sanktionsbemessung Die Strafzumessung25 ist lange Zeit als der Kontrolle des Revisionsgerichts weitgehend entzogener Bereich, als die eigentliche Domäne des Tatrichters verstanden worden,26 mit der Folge, dass der für ihn hierfür erforderliche Feststellungs- und Begründungsaufwand sich in bescheidenen Grenzen hielt.27 Das hat seine Ursache vorwiegend darin, dass das materielle Strafrecht ursprünglich über die Strafrahmenbestimmung – und punktuell über Sonderstrafrahmen beim Vorliegen „mildernder Umstände“ – hinaus keine rechtlichen Vorgaben hierfür enthielt. Die damit dem Tatrichter zukommende Wertung wurde vielfach als tatrichterliches, und damit allenfalls auf die Einhaltung der hierbei einzuhaltenden Grenzen überprüfbares Ermessen interpretiert. Diese Auffassung ist heute nicht mehr haltbar und wird auch nicht mehr vertreten.28 Die Erweiterung der Revision hat auch hier das Verhältnis von Tatrichter und Revisionsrichter tief greifend verändert. Die Impulse hierfür hat namentlich das materielle Recht gesetzt. Der heutige Rechtszustand ist, soweit er die Strafzumessung betrifft, mit dem nicht

Man mag hierin, weil sich dadurch Bewertungsunterschiede novellieren können, ein zusätzliches Argument dafür sehen, das Revisionsgerichte Kollegialgerichte sein sollten. 25 Bei der Kontrolle der Verhängung von anderen Sanktionen, namentlich der Maßregeln, für die grundsätzlich das Gleiche gilt, bestehen einige hier nicht näher zu erörtende Besonderheiten. 26 Was die Revision angeht, so kommen allein die Strafzumessung betreffende Aufhebungen in den ersten Jahrzehnten nach der Schaffung der StPO (jedenfalls in den veröffentlichten Entscheidungen) so gut wie nicht vor, während gegenwärtig über 50% der Aufhebungsentscheidungen des BGH allein die Sanktionszumessung ausmachen. 27 Kennzeichnend hierfür mag etwa die früher nicht ungewöhnliche und nur durch wenige Zusätze ergänzte Begründungsformel sein, wonach die ausgesprochene Strafe „angemessen, aber auch ausreichend“ sei. 28 S. dazu m.w.N. die Übersichten bei LR/Hanack (Fn. 15), § 337 Rn. 180–204; SKStPO/Frisch (Fn. 15), § 337 Rn. 147–185; ferner zum gegenwärtigen Zustand (anschaulich) HK-StPO/Temming, 3. Aufl. (2001), § 337 Rn. 24 ff.; sowie (m.Rspr.Nachw.) KKStPO/Kuckein, 5. Aufl. (2003), § 337 Rn. 32. 24

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mehr vergleichbar, der die erste Hälfte der Geltung des Straf- und Strafprozessrechts gekennzeichnet hat; man wird die entscheidende legislatorische Zäsur in der großen Strafrechtsreform von 1970 bis 1975 sehen können. Das komplizierte und schwer überschaubare Geflecht des gesetzlichen Strafzumessungsrechts und die dies aufnehmende und weiter ausbauende revisionsgerichtliche Rechtsprechung machen den Vorgang der Strafzumessung für den Tatrichter fehleranfällig; Gesetzesverletzungen schon im klassischen Sinne des § 337 StPO liegen deshalb nicht fern oder lassen sich für das Revisionsgericht jedenfalls bei ungenauen oder zu pauschalen Strafzumessungsgründen nicht ausschließen. Das betrifft einmal die Strafzumessungserwägungen, andererseits die Feststellung der Strafzumessungstatsachen, die ihnen zu Grunde liegen müssen und die damit der gleichen Kontrollintensität ausgesetzt sind wie die den Schuldspruch tragenden Feststellungen. Dass insoweit nach der gesetzlichen Regelung (§ 267 Abs. 3 S. 1 StPO) lediglich die „bestimmenden“ Umstände und Tatsachen vom Tatrichter mitzuteilen sind, bedeutet keine erhebliche Entlastung für ihn.29 Revisionsrechtliche Beanstandungen schöpfen vorwiegend dieses Kontrollinstrumentarium aus. Schon damit sieht sich der Tatrichter einer von ihm teilweise als überkritisch empfundenen revisionsrechtlichen Kontrolle ausgesetzt. Diese wiederum kann ihre Legitimation daraus (möglicherweise) in Anspruch nehmen, dass ihr30 der größere Überblick über die Strafzumessungspraxis eröffnet sei, der eine Vergleichbarkeit ermögliche und entsprechende Beanstandungen (mit welchem revisionsrechtlichen Instrumentarium auch immer) gestatte. Urteilsaufhebungen, deren Begründung sich weitgehend darauf beschränkt, die Strafe sei zu hoch oder zu niedrig, kommen zwar gelegentlich vor, stehen aber nicht im Vordergrund, möglicherweise auch deshalb, weil die Revisionsgerichte die Beanstandung von Begründungfehlern als Ausweichkonstruktion verwenden.31

29 Welche Umstände (und damit auch Feststellungen) nach dem ausdifferenzierten Strafzumessungsrecht und nach den insgesamt das Urteil tragenden Feststellungen bestimmend sein müssen, unterliegt der Beurteilung der Revision, das damit auch Lücken und Unvollständigkeiten mit dem Topos der unzureichenden Berücksichtigung sich aufdrängender Umstände beanstanden kann. 30 Infolge des breiteren Zuflusses von tatrichterlichen Entscheidungen. 31 S. etwa LR/Hanack (Fn. 15), § 337 Rn. 197 ff.

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V. Kontrolle des tatrichterlichen Verfahrens Die – von der Erhebung der Verfahrensrüge abhängige – Kontrolle darüber, ob der Tatrichter die (verbindlichen) Vorschriften des Prozessrechts beachtet hat, gehört seit jeher zur Aufgabe des Revisionsrichters. In ihr vermischen sich in ausgeprägter Weise die Revisionsaufgaben der Gewährleistung von (prozessualer) Einzelfallgerechtigkeit und der Leitlinienbestimmung, weil der konkrete Inhalt der gesetzlichen Regelungen vielfach erst durch die Revisionsrechtsprechung bestimmt wird. Die dabei vom Tatrichter einzuhaltenden Grenzen, deren Einhaltung ihm bei einer ergebnisorientierten Entscheidungsfindung nicht immer leicht fallen dürfte, sind im Laufe der Entwicklung der Strafprozessordung einerseits enger geworden, weil sich das Prozessrecht in vielen Bereichen ausdifferenziert und die Revisionsrechtsprechung den Bereich des Rügbaren erweitert hat;32 dadurch ist die Fehlerwahrscheinlichkeit gestiegen. Andererseits lassen sich revisionsrechtliche – nicht immer unproblematische – Entwicklungen ausmachen, die dem entgegenzuwirken geeignet, wenn nicht bestimmt sind, so etwa die vielfach nicht zu Unrecht kritisierten hohen Zulässigkeitsanforderungen an die Begründung der Verfahrensrüge oder die von der Rechtsprechung entwickelte sog. Widerspruchslösung. Insgesamt macht der Anteil der erfolgreichen Verfahrensrügen einschließlich der wegen eines Verfahrenshindernisses weniger als 10% aller Aufhebungen aus. Der Tatrichter sieht sich in Bezug auf die Beachtung des Verfahrensrechts einer durchaus nicht überkritischen, wenn auch gelegentlich etwas unberechenbaren Sachaufsicht durch das Revisionsgericht ausgesetzt; er darf dies freilich nicht als Freibrief für einen großzügigen Umgang mit zwingenden Vorschriften missverstehen. Auch wenn der Bundesgerichtshof gelegentlich bemerkt hat, es sei nicht seine Aufgabe, den Tatrichter „zu disziplinieren“,33 liegt eine wichtige Aufgabe der Revision unverändert darin, dafür zu sorgen, dass sich der Tatrichter an das Verfahrensrecht hält und damit die rechtsstaatlich unverzichtbare Justizförmigkeit des Verfahrens gesichert bleibt. Das ist nur durch die Verfahrensrüge hinreichend effektiv zu erreichen. Sie wird mit ihrer „präventiven“ und „repressiven“

So etwa – als Beispiel – bei der Verletzung von Belehrungsvorschriften. BGH StV 2004, 196; NStZ-RR 2006, 114 r. Sp. unten, 115 l. Sp. oben im Anfragebeschluss zur sog. Rügeverkümmerung; ebenso im Vorlagebeschluss (NJW 2006, 3586, l. Sp. oben); der Große Senat hat in seiner Entscheidung hierzu (Fn. 39) diesen Hinweis (BGHSt 51, 298 [314]) nicht wiederholt. 32 33

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Komponente34 trotz des verbesserten Zugriffs auf die Kontrolle der tatsächlichen Feststellungen nicht entbehrlich. Es gehört zu den unvermeidbaren Konsequenzen einer revisionsrechtlichen Entscheidungskontrolle, dass sich der Tatrichter mit solchen Beanstandungen, die er vielfach durch korrekte Verhandlung vermeiden könnte, abfinden muss. Einigermaßen unbehelligt von revisionsrechtlicher Kontrolle konnte sich der Tatrichter lange Zeit in den Bereichen fühlen, in denen es um die Gestaltung vor allem des zeitlichen Ablaufs seiner Tätigkeit, namentlich die Terminierung und den Ablauf der Hauptverhandlung ging. Insoweit ist er neuerdings mehr indirekt einer verstärkten Dienstaufsicht ausgesetzt, die sich aus dem menschenrechtlich und verfassungsrechtlich verankerten Beschleunigungsgrundsatz und seiner materiell-rechtlichen Anerkennung als Strafzumessungsfaktor ergibt und aus der tatrichterlichen Perspektive mitunter auf nachvollziehbare Kritik stößt. Die (grundsätzlich rügeabhängige35) Beanstandung, im tatrichterlichen Verfahren sei das Beschleunigungsgebot nicht ausreichend beachtet worden, kann dem Revisionsgericht Veranlassung geben,36 der Frage nachzugehen, ob der Tatrichter u. a. zeitnah und eng genug terminiert und die Beweisaufnahme auch in ihrem äußeren Ablauf sachgerecht durchgeführt hat. Allerdings setzen die Revisionsgerichte hierbei nur – und keineswegs exzessiv – um, was die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorgeben hat und was auch bei der oberlandesgerichtlichen Haftkontrolle nach § 121 StPO wiederkehrt.

VI. Kommunikation Die Kommunikation zwischen Tatrichter und Revisionsrichter ist ungeachtet ihrer Wichtigkeit notwendiger Weise begrenzt und formalisiert, und dies vor allem dort, wo es um die mit der sachlich-rechtlichen Prüfung verbundene Kontrolle der Feststellungen geht.

34 Repressiv wirkt die erfolgreiche Verfahrensrüge insoweit, als sie die mögliche (oder im Falle des § 338 StPO fingierte) Auswirkung des Verfahrensfehlers auf das Urteil verhindert; ihre präventive Wirkung wird man darin sehen können, dass sie den Tatrichter veranlassen kann (und wird), künftig in ähnlichen Situationen um eine rechtsfehlerfreie Verfahrensweise bemüht zu sein. 35 Abgesehen von Verzögerungen erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist oder soweit es um die in Ausnahmefällen für möglich gehaltene Annahme eines Verfahrenshindernisses (s. BGHSt 46, 160) geht. 36 Und muss es, wenn es sich nicht seinerseits einer Beanstandung durch das BVerfG aussetzen und eine Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vermeiden will.

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Der Revisionsrichter kann vor seiner Entscheidung nicht in einen Dialog mit dem Tatrichter eintreten. Er kann, was den Inhalt des Urteils angeht, nicht Zweifel durch Rückfragen klären und sich davon überzeugen lassen, dass das scheinbar bedenkliche Urteil nur unzulänglich begründet ist. Der Tatrichter wiederum hat – mit einigen, den Verfahrensablauf betreffenden Ausnahmen – keine Möglichkeit, dem Revisionsgericht zu erklären, so sei es gar nicht gewesen oder so habe es nicht gemeint. Auf den Einzelfall bezogen findet – und daran ist nichts zu ändern – ein Dialog zwischen dem Tatrichter und dem Revisionsrichter nicht statt.37 Das Mittel der Kommunikation sind allein die schriftlichen Urteilsgründe, bei der Rüge der Verletzung des Verfahrensrechts daneben noch das Hauptverhandlungsprotokoll und die in der Hauptverhandlung zu treffenden und zu begründenden Entscheidungen des Tatrichters. Die gesteigerten und durch den Gesetzeswortlaut des § 267 StPO nicht voll gedeckten inhaltlichen Anforderungen an die schriftlichen Urteilsgründe hängen hiermit zusammen.38 Bei Lichte betrachtet ist – worauf bereits Fezer hingewiesen hat39 – bei der Kontrolle der Vertretbarkeit der Feststellungen Prüfungsgegenstand die Darstellung, nicht die Bildung des Überzeugungsvorgangs durch den Tatrichter. Bevor das kritisiert wird, ist freilich zu erwägen, ob nicht der tatrichterliche Erkenntnisakt überhaupt erst durch seinen sprachlichen Ausdruck und damit in der Darstellung existent wird. Jedenfalls indizieren Mängel in der Darstellung regelmäßig auch objektivierbare Bedenken gegen die Feststellungen selbst und rechtfertigen es, diese zu beanstanden. Bei der mit der Verfahrensrüge verbundenen Kontrolle des Verfahrensrechts wäre an sich ein nachfragender Dialog des Revisionsrichters mit dem Tatrichter40 strukturell nicht ausgeschlossen, weil Aufklärung insoweit durch den auch dem Revisionsgericht offen stehenden Freibeweis erreichbar wäre. Indessen versperrt insoweit einmal die lex lata in § 274 StPO durch

37 In einem weit verstandenen Sinne wird man als Kommunikation einerseits auch den ständigen Zufluss des in den in den einzelnen Fällen liegenden Anschauungsmaterials für das Revisionsgericht sehen können, durch den die Tatrichter diesen vermitteln, „wie es an der Front aussieht“, andererseits die von den Tatrichtern wahrgenommene veröffentlichte (und kommentierte) Revisionsrechtsprechung, die ihm Verhaltensanweisungen vermitteln kann und soll. 38 Eine Neufassung der Vorschrift könnte und sollte dem besser Rechnung tragen. 39 Fezer, Möglichkeiten (Fn. 1), S. 81 ff. Vergleichbares findet sich etwa – ins Methodische gewendet und auf die Auslegung bezogen – soeben etwa bei Hassemer, FS Heike Jung (2007), S. 253 f. 40 Der die übrigen Verfahrensbeteiligten mit einbeziehen könnte und müsste.

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die absolute Beweiskraft des Protokolls diese Möglichkeit,41 zum anderen die Rechtsprechung der Revisionsgerichte, die sich theoretisch denkbaren Aufklärungsmöglichkeiten, namentlich soweit sie den Gegenstand der Beweiserhebung betreffen, mit dem Argument widersetzen, dass dem „die Ordnung des Revisionsverfahrens“ widerspreche. Insgesamt besteht bei der Kommunikation eine strukturell vorgegebene Asymmetrie zu Lasten des Tatrichters, der dem Revisionsgericht die Richtigkeit seiner Feststellungen jedenfalls argumentativ plausibel machen muss. Für den Revisionsrichter gilt dies gegenüber dem Tatrichter in diesem Umfang nicht. Er entscheidet ex cathedra, was in der begründungslosen Beschlussverwerfung nach § 349 Abs. 2 StPO besonders deutlich wird. Bei aufhebenden Urteilen muss er allerdings – schon wegen der Bindungswirkung nach § 358 Abs. 2 StPO – dem Tatrichter mitteilen, was er beanstandet. Er braucht ihn aber nicht zu überzeugen, auch wenn dies wünschenswert ist und wohl auch dem Bestreben der Revisionsgerichte entspricht, die darüber hinaus oft – wenn auch nicht immer – bemüht sind, sich mit argumentativ ernst zu nehmenden Revisionsbegründungen auseinander zu setzen und dem Revisionsführer zu verdeutlichen, warum sie erfolglos bleiben mussten. Von einem anderen Blickwinkel her müssen sich Revisionsentscheidungen ohnehin überzeugend rechtfertigen, namentlich wegen ihrer Aufgabe, zur Auslegung des Rechts und zur Rechtsfortbildung beizutragen. In der in Deutschland ausgeprägten und wichtigen Diskussion zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung kommt ihnen eine Hauptrolle zu.42 Der Revisionsrichter nutzt über die tragenden Gründe hinaus seine Entscheidungsgründe zur Kommunikation mit dem Tatrichter. Das betrifft einmal die sog. obiter dicta, in denen das Revisionsgericht seine Rechtsauffassung ergänzt, Vorfragen erörtert oder etwas mit dem Zusatz, es könne dahingestellt bleiben, in Frage stellt und hierbei auch mögliche Rechtsänderungen andeutet. Hier geht es um einen Dialogversuch mit der Gesamtheit aller am Strafrecht beteiligten Personen und Institutionen. Vielfach in nicht veröffentlichten Entscheidungsteilen finden sich aber auch häufig einzelfallbezogene Kommunikationen mit dem (alten oder neuen) Tatrichter. Sie

Auf die aktuellen und äußerst umstrittenen Tendenzen zur Relativierung dieser Sperre, zu der sich auch der Jubilar kritisch geäußert hat (Fezer, FS Otto [2007], S. 901 ff.), ist hier nicht näher einzugehen. Zur revisionsrechtlichen Beachtlichkeit der nachträglichen Protokollberichtigung vgl. die Entscheidung des GSSt, BGHSt 51, 298 = NJW 2007, 2419 = JR 2007, 340 m. Anm. Fahl. Die Entwicklung ist vielleicht nicht untypisch als Korrelat einer sich verdichtenden Sachkontrolle durch das Revisionsgericht. 42 S. zu dieser Wechselwirkung zwischen Rechtsprechung und Wissenschaft etwa Erb ZStW 113 (2001), 1 ff.; Radtke ZStW 119 (2007), 69 ff. 41

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signalisieren diesem in sehr unterschiedlicher Form eine bestimmte Meinung von der Fehlerfreiheit oder Fehlerhaftigkeit seiner bisherigen Tätigkeit oder von dem von ihm erwarteten künftigen Verhalten, so etwa, wenn konkrete Handlungsanweisungen für den Fall gegeben werden, dass der neue Tatrichter zu bestimmten Feststellungen kommen werde.43

VII. Revisionsrichter als Tatrichter Seit 2004 hat der Gesetzgeber durch den neuen Absatz 1a des § 354 StPO44 für die Strafzumessungsentscheidung dem Revisionsgericht Befugnisse eingeräumt, die traditionell als dem Tatrichter vorbehaltene Aufgaben verstanden wurden. Die Vorschrift gestattet es ihm, trotz einer Gesetzesverletzung eine – aus seiner Sicht – angemessene Rechtsfolgenfestsetzung aufrecht zu erhalten oder die Rechtsfolgen angemessen herabzusetzen. Im Schrifttum ist diese Möglichkeit äußerst umstritten; von der Revisionsrechtsprechung ist sie alsbald aufgenommen und genutzt worden,45 und das Bundesverfassungsgericht hat sie aus verfassungsrechtlicher Sicht im Grundsatz gebilligt, aber ihren Anwendungsbereich deutlich begrenzt.46 Die Regelung, deren Anwendung vom Tatrichter in der Regel als Entlastung und weniger als Kritik empfunden werden dürfte, ist hier nicht im Einzelnen zu erörtern und zu würdigen. Auch sie macht aber deutlich, dass die Abgrenzung zwischen revisionsrichterlichen und tatrichterlichen Aufgaben nicht trennscharf und eindeutig möglich und dass die Frage nach dem „Revisionsrichter als Tatrichter“47 noch nicht vollständig geklärt ist. Dabei gibt es unbestreitbar Bereiche, in denen dem Revisionsgericht tatrichterliche Befugnisse in dem Sinne zukommen, dass ihm eine eigene Beweiserhebung und damit die Erarbeitung einer eigenen Entscheidungs-

43 Dazu ausführlich mit umfangreichen Einzelbeispielen Rieß, in: Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, Symposion für Ernst-Walter Hanack zum 60. Geburtstag (1990), S. 117– 142; als aktuelle Beispiele vgl. etwa BGH NJW 2007, 2566 (2567) sowie (besonders ausführlich) das „Mannesmann-Urteil“ des BGH NStZ 2006, 214 (217 f.) und BGHSt 49, 1 (5). 44 1. Justizmodernierungsgesetz v. 24.8.2004 (BGBl. I S. 2198). 45 S. die Nachw. bei Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 354 Rn. 28; SKStPO/Wohlers, 47. Lfg. (2006), § 354 Rn. 62 ff. 46 BVerfG v. 14.6.2007 – 2 BvR 1447/05 u. 136/05 – StV 2007, 393 = NJW 2007, 2977 zu Satz 1 der Vorschrift. Es bleibt abzuwarten, wieweit die hier postulierten verfahrensrechtlichen Voraussetzungen, insbes. die Pflicht zur vorherigen Anhörung und zur Entscheidungsbegründung den Revisionsgerichten Veranlassung geben, die Anwendungshäufigkeit zu reduzieren. 47 So der Aufsatztitel von Schmid ZStW 85 (1973), 360 ff., der freilich vorwiegend Phänomene behandelte, die heute der erweiterten Revision zugerechnet werden.

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grundlage möglich ist. Dies kommt grundsätzlich überall dort in Betracht, wo das Gesetz eine freibeweisliche Aufklärung genügen lässt und nicht durch spezielle Regelungen, wie etwa die Beweiskraft des Protokolls (§ 274 StPO) diesen Weg versperrt. Dies gilt etwa für die Aufklärung von Verfahrensfehlern oder bei zweifelhaften Verfahrensvoraussetzungen, aber auch – wofür die Revisionspraxis eindrucksvolle Beispiele liefert48 – für die in einer „Revisionshauptverhandlung“ stattfindende Klärung allgemeinen Erfahrungswissens. Man kann aber die Bezeichnung des Revisionsrichters als Tatrichter auch negativ und kritisch verstehen und es mag sein, dass der Tatrichter ihn oft in diesem Sinne wahrnimmt, nämlich dann, wenn mit ihm gemeint ist, dass der Revisionsrichter von seinem eigenen tatrichterlichen Vorverständnis her49 seine Entscheidung nicht nur danach trifft, ob es dem Tatrichter gelungen ist, dem Revisionsgericht zu vermitteln, dass er von seinen Feststellungen überzeugt sein durfte, sondern dass er seine eigene Überzeugung von der Richtigkeit der Feststellungen und der Sanktion zum Maßstab nimmt. Es geht hierbei um das subjektiv als „goldrichtig“ empfundene Urteil, das bestätigt oder das als „grottenschlecht“ bewertete, für das eine Beanstandung gefunden wird. Dass die Revisionsgerichte so verfahren, ist eine nicht ganz seltene Behauptung,50 die empirisch ungeklärt und wohl auch kaum klärbar ist und der hier nicht näher nachgegangen werden kann. Die neuere Entwicklung des Revisionsrechts kann aber hierfür ein Nährboden sein, und die sachgerechte Kontrolle mit Hilfe der „Darstellungsrüge“ setzt ein gewisses Maß an tatrichterlichem Vorverständnis voraus. Bedenklicher wäre es dagegen, das Schicksal von Verfahrensrügen hiervon abhängig zu machen.51

VIII. Vermeidungsstrategien Aus der Entwicklung und Veränderung der revisionsrechtlichen Kontrolldichte in den letzten Jahrzehnten erwächst für den Tatrichter ein gesteigerter Rechtfertigungsdruck gegenüber dem Revisionsrichter namentlich bei den

48 So etwa BGHSt 44, 308 zur Anwendung des Lügendektektors oder BGHSt 45, 164 zu den wissenschaftlichen Anforderungen an psychologische Glaubwürdigkeitsgutachten. 49 Da Revisionsrichter nicht vom Himmel fallen sondern in aller Regel eine erhebliche Berufserfahrung als Tatrichter mitbringen, ist ein solches Vorverständnis meist vorhanden. 50 S. etwa Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen (1999), S. 261 ff; ähnlich auch Fezer, FS Hanack (1999), S. 336. 51 S. dazu die kritischen Bemerkungen von Fezer, FS Otto (2007), S. 909 f.

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Feststellungen und in der Darstellung des Überzeugungsbildungsvorgangs; bei der Revision ließe sich wegen des verbesserten Zugriffs auf die Feststellungen eine erhöhte Aufhebungsquote erwarten. Letztere lässt sich nun allerdings in statistisch etwas überraschender Weise nicht belegen;52 so dass der Durchbruch zu einer erweiterten Revision keine bedeutsamen quantitativen Auswirkungen gehabt zu haben scheint. Offen und wohl kaum zuverlässig beantwortbar ist die Frage, ob und wieweit sich der Anteil der unter dem Aspekt der sachlichen „Entscheidungsrichtigkeit“ zu beanstandenden Urteile verändert und vergrößert hat. Man kann annehmen, dass mit den veränderten Revisionsmöglichkeiten Verhaltensweisen korrespondieren, die sich etwas salopp gesprochen als „Vermeidungsstrategien“ kennzeichnen lassen. Die Möglichkeiten, von denen hier nur einige skizziert werden können, sind etwas spekulativ und ihre rechtspolitische Bewertung fällt unterschiedlich aus. 1. Es liegt generell auf der Hand und erscheint grundsätzlich sachgerecht, dass der Tatrichter bei seiner Verhandlung und Entscheidung das revisionsrechtliche Aufhebungsrisiko mit bedenkt und berücksichtigt. Für die Revisibilität von Verfahrensvorschriften ist dies der tragende Grund. Es mag freilich auch vorkommen, dass er „vorsichtshalber“ und bei unklarer Rechtslage verfahrensverzögernden Anträgen stattgibt, die er auch ohne ein erhebliches Aufhebungsrisiko hätte ablehnen können. Bei der Feststellungsrüge kann es dazu kommen, dass er deren Anforderungen sozusagen im Vorgriff auf eine zu erwartende Beanstandung bei seinen Aufklärungsbemühungen und namentlich bei den schriftlichen Urteilsgründen durch deren ausführlichere und vollständigere Fassung vorwegnimmt und dabei über das hinausgeht, was ihm nach seinem subjektiven Selbstverständnis ohne diese Kontrollmöglichkeit zur Überzeugungsbildung ausreichen würde. Der Preis hierfür können längere Hauptverhandlungen und übermäßig breite schriftliche Urteilsgründe53 sein. Das alles liegt in der Konsequenz der Entwicklung und ist daher rechtspolitisch nur schwer kritisierbar.54

Die Quote der Revisionserfolge bei Revisionen zum BGH ist in einer Größenordnung von etwa 15–20 % der entschiedenen Revisionen seit vielen Jahren relativ konstant; vgl. dazu die Werte bei Barton (Fn. 50), S. 60; Rieß, in: Die revisionsgerichtliche Rechtssprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofs, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht, Bd. 3 (1997), S. 44 u. Tab. 23. 53 Was selbst in Revisionsentscheidungen zu gelegentlichen Belehrungen des Tatrichters darüber führt, was alles nicht in den schriftlichen Gründen ausgeführt werden sollte. 54 Dass die feststellbare Aufblähung kontrovers geführter Hauptverhandlungen und der Urteilsgründe auch (wenn auch wohl nicht allein) auf der revisionsrechtlichen Entwicklung beruht, ist eine plausible Annahme. 52

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Soweit es um den revisionsrechtlichen Zugriff auf die Überzeugungskraft der schriftlichen Urteilsgründe geht, lässt sich die Gefahr einer Diskrepanz zwischen dem Überzeugungsbildungsvorgang, namentlich bei der Beratung im Kollegialgericht unter Mitwirkung der Schöffen, und seiner nachträglichen glättenden und vervollständigenden Darstellung in den Gründen nicht gänzlich ausschließen. Vermeidbar ist das wohl nur durch einen Appell an das tatrichterliche Berufsethos. Besonders kritisch zu bewerten ist aber, dass eine ausufernde Praxis der Urteilsabsprache dem Tatrichter die Möglichkeit gibt, seine Entscheidung von einer revisionsrechtlichen Überprüfung weitgehend zu immunisieren.55 2. Beim Revisionsrichter gibt es ebenfalls Ansätze, die Beanstandungsintensität und die Auswirkungen auf den Tatrichter zu begrenzen. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Revisionsgerichte dazu neigen, Verfahrensrügen auf unterschiedlichen Wegen zu relativieren und ihrer Bedeutung zu entkleiden, was damit erklärt werden mag56, dass ihnen mit der Feststellungsrüge der direkte Zugriff auf die Ergebnisrichtigkeit in größerem Umfang ermöglicht worden ist. Instrumente dieser Vorgehensweise sind etwa eine vermehrtes Abstellen auf das Beruhenserfordernis, eine gewisse Relativierung der absoluten Revisionsgründe, eine zunehmende Anerkennung der Möglichkeit, missbräuchliche Verfahrensrügen nicht zu beachten57 und eine gezielte Begrenzung des Aufhebungsumfangs und damit eine Entlastung des neuen Tatrichters.

55 Dies gilt unabhängig davon, ob man (zu Recht) verneint, dass ein Rechtsmittelverzicht Gegenstand einer Absprache sein kann und ob die von der Rechtsprechung (BGHSt 50, 40) kreierte „qualifizierte Belehrung“ dem entgegenzuwirken vermag, weil bereits das bloße Zustandekommen einer Urteilsabsprache die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer revisionsrechtlichen Überprüfung kommt, auf ein für den Tatrichter kaum noch relevantes Minimum reduziert. Es ist eine bisher auch bei den legislatorischen Überlegungen kaum erörterte Frage, welche andersartigen Kontrollmöglichkeiten die revisionsrechtliche Kontrolle zu ersetzen geeignet sein könnten. 56 Womit nicht gesagt sein soll, dass es rechtsdogmatisch und rechtspolitisch Billigung verdient. Bedenkt man, dass der Vorgang der Beweisaufnahme dem Revisionsgericht ebenso verschlossen ist wie das richtige Verständnis der einzelnen Beweisaufnahmeakte, so verliert die Verfahrensrüge nicht ihre Bedeutung als Kontrollinstrument des Revisionsgerichts. 57 S. (nur als Beispiel aus neuester Zeit) BGHSt 51, 88 zur bewusst unwahren Verfahrensrüge. Auch die Entscheidung des Großen Senats zur nachträglichen Protokollberichtigung (Fn. 39) zieht diese Überlegung mit heran.

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IX. Zusammenfassung Meine Überlegungen können in folgenden Thesen zusammengefasst werden: –

Zwischen dem Tatrichter und dem Revisionsrichter besteht notwendiger Weise ein Spannungsverhältnis, das sich aus ihren unterschiedlichen Funktionen herleitet.



Aufgabe der Revision ist neben der Rechtsfortbildung und Wahrung der Rechtseinheit – vor allem und besonders ausgeprägt im Strafprozess – auch Gewährleistung der Entscheidungsrichtigkeit. Der Revisionsrichter nimmt gegenüber dem Tatrichter eine Art Sachaufsicht wahr; seine Funktion besteht auch in einer „Fertigungsendkontrolle“ der tatrichterlichen Urteile.



Für diese Aufgabe steht dem Revisionsrichter im Strafverfahrensrecht heute über die Kontrolle der richtigen Subsumtion, also die eigentliche Anwendung des materiellen Rechts, auch der Zugriff auf die tatrichterlichen Feststellungen insoweit offen, als er überprüfen kann, ob der Tatrichter, der dies in den Urteilsgründen darzulegen hat, von ihnen überzeugt sein durfte, weil sie ausreichend wahrscheinlich sind. Das führt zu verschwimmenden Grenzen zwischen den jeweiligen Verantwortungsbereichen.



Bei der tatrichterlichen Sanktionsbemessung ist die Kontrolldichte zusätzlich durch eine materiell-strafrechtliche Konkretisierung so erheblich verstärkt worden, dass sie nicht mehr als eine Domäne des Tatrichters bezeichnet werden kann.



In Bezug auf die Beachtung des Verfahrensrechts sieht sich der Tatrichter durch die Verfahrensrüge einer wirksamen, aber nicht überkritischen Sachaufsicht durch das Revisionsgericht ausgesetzt. Die damit verbundene „Disziplinierungsfunktion“ ist zur Gewährleistung eines justizförmigen Verfahrens unverzichtbar. Der Tatrichter muss sie hinnehmen.



Die Kommunikation zwischen Tatrichter und Revisionsrichter im konkreten Einzelfall ist zu Lasten des Tatrichters asymmetrisch und wird weitgehend allein durch die schriftlichen Urteilsgründe vermittelt. Die Revisionsrichter praktizieren unabhängig hiervon in größerem Umfang Kommunikation mit ihm durch nicht tragende Hinweise in ihren Entscheidungsgründen.

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Dem Revisionsrichter stehen teilweise auch tatrichterliche Erkenntnismöglichkeiten zur Verfügung. Ungeklärt ist, ob und wieweit ein tatrichterliches Vorverständnis auch seine revisionsrechtliche Tätigkeit beeinflusst und beeinflussen darf.



Gegen unerwünschte Konsequenzen der gegenwärtigen Reichweite der Revision werden Vermeidungsstrategien praktiziert, die rechtspolitisch unterschiedlich zu bewerten sind.

Verteidigung am revisionsgerichtlichen Pranger?1 KLAUS-ULRICH VENTZKE

Nur sieben Jahre ist es her, daß aus revisionsrichterlicher Sicht2 der von Verteidigern und Hochschullehrern vorgetragenen Besorgnis energisch entgegengetreten wurde, der Rechtsprechung – insbesondere derjenigen des Bundesgerichtshofs – könne etwa im Zusammenhang mit der richterrechtlichen Begründung verfahrensrechtlicher Mitwirkungsobliegenheiten ein eher negativ getöntes Verteidigerbild zugrundeliegen. Die Begründung dieser Einschätzung ergab sich auch aus den Besonderheiten des Revisionsverfahrens, insbesondere den deshalb eingeschränkten Möglichkeiten von Revisionsrichtern, den Ablauf tatgerichtlicher Hauptverhandlungen zu beurteilen: „Unbotmäßiges oder gar prozeßsabotierendes Verteidigerverhalten – was es im Einzelfall geben mag – können Bundesrichter im allgemeinen nur aus dem Aktenstudium entnehmen, nicht aber aufgrund eigenen Erlebens in der Revisionshauptverhandlung kennen. Vor dem Bundesgerichtshof treten selbst die bei den Tatgerichten als `Konfliktverteidiger` apostrophierten Rechtsanwälte mit äußerster Vornehmheit und Zurückhaltung auf, was vielleicht auch daran liegen mag, daß die Revisionshauptverhandlung nur wenig Konfliktpotential bietet.“3 Weniger als sieben Jahre scheinen genügt zu haben, um diese abgewogene, ausdrücklich auf die Akzeptanz revisionsgerichtlichen Prozedierens auch bei Verteidigern zielende Stellungnahme obsolet werden zu lassen. Die sich in Stil und Inhalt revisionsgerichtlicher Entscheidungen niederschlagende Stimmung hat sich gedreht: „Ergänzend bemerkt der Senat: Die von Rechtsanwalt B. aus B. auf seine unterlassene Bestellung als Pflichtverteidiger gestützte Aufklärungsrüge

1 Nachweise werden auf das Notwendigste beschränkt. Die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs werden mit Aktenzeichen und Datum zitiert und sind im Internet über www.bundesgerichtshof.de abrufbar. 2 Meyer-Goßner, FS 50 Jahre BGH (2000), S. 615 ff. (meine Hervorhebung). 3 Meyer-Goßner, FS 50 Jahre BGH (2000), S. 616.

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Klaus-Ulrich Ventzke

ist schon deswegen offensichtlich unbegründet, weil sich aus seinen Ausführungen zur Begründung der Revision (vgl. unter anderem zur Rüge der Verletzung des § 258 Abs. 2 StPO: Dem Angeklagten habe das letzte Wort nochmals gewährt werden müssen, weil er sich in seinem letzten Wort erstmals eingelassen habe) ergibt, daß seine Bestellung als Pflichtverteidiger zu einer weiteren Aufklärung nicht hätte beitragen können.“4 Wer allmorgendlich die Homepage des Bundesgerichtshofs aufruft, um sich über seine aktuelle Entscheidungspraxis zu informieren, stellt nicht nur einen stetig harscher werdenden Ton in der Auseinandersetzung mit Revisionsvorbringen fest5. Zunehmend wird er mit derartigen regelmäßig im Beschlußverwerfungsverfahren ergangenen Beschlüssen vor allem des 1. und 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs konfrontiert, in denen – trotz Anonymisierung durchaus entschlüsselbar – namentlich genannten (Revisions-)Verteidigern der Vorwurf anwaltlicher Schlechtleistung gemacht wird. Polemisch zugespitzt: Es trifft nicht mehr allein „Rechtsanwalt B. aus M.“6. Unklar ist, welche Bewandtnis es mit derartigen revisionsgerichtlichen Ausführungen hat: Handelt es sich hierbei um ad personam zielende Unmutsäußerungen, die allenfalls anhand der Maßstäbe eines noch zu schreibenden Knigge für die revisionsgerichtliche Praxis zu beurteilen sind? Oder kommt in diesen Beschlüssen eine Sichtweise auf den Verteidigeralltag in deutschen Gerichtssälen zum Ausdruck, die unterschwellig das Vorverständnis prägt, das in neuere Grundsatzentscheidungen des Bundesgerichtshofs zum Radius der Verteidigungsmöglichkeiten eingeflossen sein mag?

I. 1. Auffällig ist diese Begründungspraxis schon deshalb, weil es der Bundesgerichtshof bisher mit guten Gründen abgelehnt hatte, etwa auf entsprechende Verfahrensrügen hin in eine Kontrolle der Qualität der Verteidigungstätigkeit in der Tatsacheninstanz einzutreten7. Verteidigerverhalten

3 StR 467/05 vom 9.2.2006. Nur als Zufallsauswahl: 3 StR 251/06 vom 16.1.2007 (S. 4: „… ist dies abwegig.“); 1 StR 561/05 vom 24.1.2006 (Rn. 9: „Das gesamte Vorbringen geht ins Leere“). 6 3 StR 98/04 vom 30.3.2004, S. 2–4; 3 StR 237/06 vom 31.8.2006, S. 2–5. 7 1 StR 341/07 vom 15.8.2007, Rn. 9 ff. m.w.N.; vgl. aber für das Vergütungsrecht Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß (2003), S. 55 ff. 4 5

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schien der Revisionsgerichtsbarkeit bisher nur in bestimmten gesetzlich oder richterrechtlich geprägten Fallkonstellationen in den Blick zu geraten: a) Revisionsverfahrensrechtlich betraf dies vor allem die Frage, ob der Verteidiger die Form- und Fristvorschriften des Revisionsrechts beachtet hatte, also vor allem die Situation „der (nicht gerade seltenen) unzulänglichen Rüge von Verfahrensverstößen in der Revision“8. b) „Sonstige Versäumnisse in der Hauptverhandlung“9 spielten revisionsrechtlich vor allem dann eine Rolle, wenn der Verteidiger in der tatrichterlichen Hauptverhandlung gesetzlich vorgesehene oder richterrechtlich geschaffene Zwischenrechtsbehelfe nicht genutzt hatte10. c) Eine negative Bewertung, da als zumindest selbstwidersprüchlich empfundenes Verteidigerverhalten betreffend, klang allein in denjenigen Entscheidungen an, in denen – sei es bezogen auf die Schlüssigkeit des Verteidigerverhaltens in der tatrichterlichen Instanz, sei es bezogen auf Widersprüche zwischen Instanz- und Revisionsverteidigung – Rügen der Erfolg unter dem Blickwinkel der Verwirkung oder verwandter Rechtsinstitute versagt wurde11.

2. Bemerkenswert sind diese revisionsgerichtlichen Verrufserklärungen unter anderem an die Adresse namentlich genannter Verteidiger auch deshalb, weil § 349 Abs. 2 StPO Revisionsgerichten ohne weiteres die Möglichkeit einräumt, derartiges Vorbringen ungewürdigt zu lassen. Warum also wird „Rechtsanwalt B. aus B.“ explizit gemaßregelt? Zwar hat die Rechtsprechung nicht zu Unrecht den Anwendungsbereich des § 349 Abs. 2 StPO mit der Folge erweitert, daß die Amtliche Sammlung des Bundesgerichtshofs Beschlüsse enthält, die eine Revision eigentlich als „offensichtlich unbegründet“ erledigen12. Gleichwohl hat sie sich die prozessuale Möglichkeit, begründungslos Revisionen zu verwerfen, nie streitig machen lassen. Wenn es aber ein Anwendungsfeld für diese auch der Mißbrauchsabwehr dienende

So: Mosbacher JR 2007, 387/388. Ibid. 10 Prägnant hierzu: Mosbacher JR 2007, 387 ff.; Dahs, FS Nehm (2006), S. 247 ff. 11 Z.B. 1 StR 387/07 vom 29.8.2007, S. 2 f. (Zustimmung zu einer unzulässigen Verlesung); 3 StR 158/07 vom 13.6.2007 (Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 3 EMRK und Unterbleiben von Anträgen bei Einverständnis mit Schließung der Beweisaufnahme); 5 StR 1218/06 vom 26.4.2006, S. 2 (Nichtbeanstandung bei § 247 S. 4 StPO); umfassend die Hauptkapitel bei Fahl (Fn. 7), S. 235 ff., 607 ff. 12 Vgl. umfassend Fezer StV 2007, 40/41 ff. 8 9

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Norm13 gibt, dann doch Verteidigervorbringen, das dem Revisionsgericht gänzlich neben der Sach- und Rechtslage zu liegen scheint. Freilich – und hierauf hat der Jubilar unlängst hingewiesen14 – haben es sich die Revisionsgerichte seit jeher nicht nehmen lassen, in obiter dicta Erwägungen anzustellen, die ihnen aus übergeordneten Gründen unabhängig von den Erfordernissen des zu entscheidenden Einzelfalles mitteilenswert erschienen. –

Dem neu zur Entscheidung berufenen Tatrichter werden Hinweise zur aus Sicht des Revisionsgerichts sachgerechten weiteren Handhabung des Verfahrens sowohl in verfahrensrechtlicher als auch in materiellrechtlicher Hinsicht erteilt15.



Das Revisionsgericht teilt mit, es neige dazu, zukünftig eine bestimmte Rechtsfrage in einem bestimmten Sinne zu beantworten16.



Der Beschwerdeführer erfährt, das angefochtene Urteil weise allenfalls ihn begünstigende Rechtsfehler auf17.



Dem Tatrichter wird vor Augen geführt, sein Urteil sei unabhängig von im Einzelfall erheblichen Rechtsfehlern handwerklich mangelhaft begründet worden18.

Läßt sich die Maßregelung des „Rechtsanwaltes B. aus B.“ in diese revisionsgerichtlichen Argumentationsfiguren einreihen? Manifestiert sich in derartigen Entscheidungen das aktuelle revisionsgerichtliche Bild von um sich greifenden Mißständen in tatrichterlichen Hauptverhandlungen, das dann auch in anderen Fällen entscheidungsleitend wird? Presseerklärungen des Bundesgerichtshofs, die mit der Schlagzeile „Bundesgerichtshof tritt rechtsmißbräuchlichem Verteidigerverhalten entgegen“19 aufmachen, deuten ebenso in diese Richtung wie die Einschätzung Widmaiers20, revisionsgerichtliche Entscheidungen erweckten „den Eindruck eines von lügenhaf-

Vgl. Abdallah, Die Problematik des Rechtsmißbrauchs im Strafverfahren (2002), S. 163 f.; vgl. aber Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 5. Aufl. (1983), Rn. 463; abschwächend in der 6. Aufl. (1998), Rn. 1255. 14 Fezer, FS Küper (2007), S. 45 ff. 15 Z.B. 5 StR 587/05 vom 8.3.2006, Rn. 40 ff.; Rieß, in: Grundprobleme des Revisionsverfahrens (1991), S. 161 ff. 16 Fezer, FS Küper (2007), S. 45 ff. 17 3 StR 237/06 vom 31.8.2006, S. 3 zur tatrichterlich tolerierten angeblich rechtsstaatswidrigen Verteidigung. 18 Anschaulich 2 StR 470/06 vom 7.12.2006, Rn. 14 ff. 19 Nr. 115/2006 zu 3 StR 284/05 vom 11.8.2006. 20 NJW 2006, 3587 zur selben Entscheidung. 13

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ten Verfahrensrügen bedrängten Revisionsgerichts“, das sich deshalb genötigt sehe, „zur Keule des Rechtsmißbrauchs“ zu greifen.

II. Läßt man diese dem Normzweck des § 349 Abs. 2 StPO eigentlich entgegenlaufenden Entscheidungen Revue passieren (1.), so verdichtet sich die Hypothese zur Gewißheit, daß sie zumindest auch Aufschluß darüber geben, aus welchem Grunde es der Bundesgerichtshof unter virtuoser Handhabung der Schlagworte „Prozeßökonomie“, „Verfahrensbeschleunigung“, „Opferschutz“, „Wahrheitsfindung“ und „Rechtsmißbrauch“ in letzter Zeit unternommen hat, beispielsweise nicht nur beweisantragsrechtliche Verteidigungsmöglichkeiten, sondern auch das Revisionsverfahren beweistechnisch auf eine neue Grundlage zu stellen (2.). Diese Entwicklung ist vor allem Konsequenz einer zunehmenden Ergebnisorientierung des Revisionsverfahrens, aber auch der Vorstellung, rechtsmißbräuchliches Verhalten vollständig beseitigen zu können (3.).

1. Der Versuchung, sich mit offensichtlich Unbegründetem ungeachtet der revisionsrechtlichen Möglichkeit, derartiges schlicht mit Schweigen zu übergehen (§ 349 Abs. 2 StPO), explizit auseinanderzusetzen, erliegt der Bundesgerichtshof – idealtypisch betrachtet – entweder bei als bemerkenswert unprofessionell angesehenem Verteidigerverhalten (a)) oder bei Verteidigerverhalten, dem Symptomwert für den von ihm angenommenen Verfall des Strafverfahrens beigemessen wird (b)). a) Eine Vielzahl von Entscheidungen widmet sich teils lakonisch, teils mit Ingrimm Verteidigeraktivitäten, bei dem sich Außenstehende aufgrund des revisionsgerichtlich mitgeteilten Sachverhalts fragen, wie die Verteidiger jeweils zu der Auffassung gelangt sein konnten, mit derartigem Vorbringen in professioneller Weise das Interesse ihrer Mandanten zu befördern. Nur beispielhaft: –

21

Geltendmachung des Revisionsgrundes des § 338 Nr. 7 StPO, obwohl das Urteil in der Frist des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO zugestellt wurde21 oder aber die unterlassene Akteneinsichtnahme anhand des

5 StR 391/05 vom 11.10.2005, S. 2.

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Geschäftsstellenvermerks die Fristwahrung ohne weiteres belegt hätte22. –

Vortrag, der Verteidiger habe geschlafen, obwohl dienstliche Erklärungen zu erwarten waren, wonach „der Verteidiger gegenüber dem benannten Zeugen ohne Aufforderung intensiv von seinem Fragerecht Gebrauch (gemacht hatte)“23.



Nahezu einen Leitzordner füllende Revisionsbegründungen, die „eine Vielzahl – wenn auch weitgehend völlig unbehelflicher – Verfahrensrügen oder als Verfahrensrügen bezeichneter Sachrügen (tatsächlich reine Angriffe gegen die Beweiswürdigung) umfassen“24.



Rüge der Verletzung des § 244 StPO, weil „die Plädoyers ‚wohl in Vergessenheit geraten waren, zumal es sich um einen sehr warmen Tag handelte’“25.



Unvereinbarkeit sachlich-rechtlicher Beanstandungen mit dem Wortlaut nach eindeutigen Urteilsfeststellungen26.

Zum Teil knüpfen die Entscheidungen auch an das Verhalten der Verteidiger in der Instanz an: –

Beweisermittlungsantrag, der den „Gedanken aufdrängt, die Antragstellung solle nur dazu dienen, den Prozeß weiter zu verschleppen“27.



Beweisantrag, dessen zugrundeliegende „Spekulation der Verteidiger zu einer gesteigerten Schmerztoleranz der Geschädigten als zynisch (erscheint)“28.

Teilweise fallen auch Verteidiger namentlich nennende Entscheidungen in diese Kategorie: –

„Rechtsanwalt B. aus M.“ wird zur Last gelegt, sein Revisionsvorbringen sei „stillos, ungehörig, verstoße gegen den guten Ton und das Taktgefühl, sei zudem dem Ansehen des Anwaltstandes abträglich.“29

1 StR 402/07 vom 28.8.2007, S. 2 f. 1 StR 13/06 vom 8.2.2006, S. 3. 24 3 StR 412/06 vom 11.1.2007, S. 3 f. 25 3 StR 427/06 vom 21.12.2006, S. 2 f. 26 1 StR 584/05 vom 7.2.2006, S. 3. 27 1 StR 214/06 vom 9.8.2006, S. 4. 28 1 StR 271/05 vom 10.8.2005, S. 6. 22 23

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Beweisanregung, den „Verteidiger Herr(n) Rechtsanwalt Dr. S. am 58. Hauptverhandlungstag“ zu hören, als Indiz für eine „rechtsstaatswidrige Verteidigung des Angeklagten“30.



Inakzeptable Äußerungen „von Rechtsanwalt K. aus L.“, die „den Rahmen sachlicher Auseinandersetzung mit der – im übrigen in jeder Hinsicht zutreffenden – Stellungnahme des Generalbundesanwalts deutlich überschreite(n)“31.



Besorgnis, „Herr Rechtsanwalt K. aus O.“ habe „die Revision begründet, ohne den Inhalt des schriftlichen Urteils näher zur Kenntnis genommen zu haben“, so daß „der Senat nicht zu erkennen vermag, daß dieses Argument sich noch im Rahmen rationalen strafjuristischen Denkens hält“, wohingegen die von den Mitverteidigern „Herr Rechtsanwalt L. aus B.“ und „Herr Rechtsanwalt M. aus B.“ erhobenen zahlreichen Verfahrensrügen zu dem Hinweis nötigten, „daß der Zweck des Revisionsverfahrens verfehlt ist, wenn eine Vielzahl von formal-rechtlichen Beanstandungen vorgebracht wird, denen jede Erfolgsaussicht so offensichtlich fehlt, daß dies auch von der Verteidigung nicht verkannt werden kann.“32

29 3 StR 98/04 vom 30.3.2004, S. 3 (meine Hervorhebung) und mit dem Zusatz, der Antrag, „eine ‚Grundsatzentscheidung der vereinigten Senate des Bundesgerichtshofs’ herbeizuführen, (habe) dem Senat vorgelegen“ (a.a.O., S. 4). 30 1 StR 152/05 vom 16.6.2005, S. 3 f. 31 3 StR 302/06 vom 29.8.2006, S. 3. 32 3 StR 425/06 vom 14.12.2006, S. 2–4. Zugespitzt findet sich diese Argumentation nunmehr in einem Verwerfungsbeschluß des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofes vom 21.11.2007 (1 StR 539/07, Rn. 4, 6) zu einer Rüge gem. § 338 Nr. 8 StPO: „Dieser Vortrag ist unvollständig und daher – zumindest – irreführend. (…) Damit hat Rechtsanwalt S. wesentliche Umstände verschwiegen, die – was ihm bekannt sein mußte – zur Beurteilung der Begründetheit der Verfahrensrüge unerläßlich waren. (…). Ein vollständiger Vortrag dieses leicht überschaubaren Sachverhalts hätte – was unschwer zu erkennen ist – seiner Rüge den Boden entzogen. Eine Verfahrensrüge, die auf einem derart unvollständigen und irreführenden Vortrag gestützt wird, ist rechtsmissbräuchlich (vgl. EGMR NJW 2007, 2097 [betrifft nicht das Strafverfahren – meine Ergänzung]) und daher unzulässig.“ Derselbe Senat drückt in einem Beschluß vom 10.1.2008 (1 StR 617/07) sein Befremden darüber aus, daß Rechtsanwalt K. aus S. „Rügen durchgehend auf unwahren Tatsachenvortrag gestützt (hat)“ (S. 2). Schließlich hat er Rechtsanwalt D. aus M. attestiert, es erscheine fraglich, „ob es mit der Stellung eines Verteidigers noch vereinbar ist, wenn dieser sich an einer verfahrensbeendenden Absprache beteiligt und Anträge stellt, die er selbst (ausweislich seiner Revisionsbegründung – meine Ergänzung) für ‚in keiner Weise verhältnismäßig’ erachtet“ (1 StR 653/07 vom 19.2.2008, Rn. 11).

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Rüge der „Frau Rechtsanwältin A. (damals noch: Al-)“ belege nicht „eine willkürliche Richterentziehung, sondern nur einen bemerkenswerten Mangel an Verständnis für die Nöte der Mutter (als verhindert behandelte Hauptschöffin – meine Ergänzung) und die Bedürfnisse des Kindes“33.

Derartige Skurrilitäten gerade im eigentlich begründungslosen Beschlußverwerfungsverfahren aufgeregt zu erörtern, sollte sich jedenfalls schon deshalb verbieten, weil der als Verschwendung von Justizressourcen ausgemachte Mißstand hochwahrscheinlich dadurch relativiert wird, daß es eine Vielzahl von Verfahren geben dürfte, in denen Verteidigung deshalb mangelhaft war, weil nicht einmal die zur Wahrung der Mandanteninteressen unbedingt erforderlichen Verteidigungsaktivitäten entfaltet und dadurch Justizressourcen geschont wurden. b) In anderen Entscheidungen wird das inkriminierte Verteidigerverhalten hingegen zum Anknüpfungspunkt für weitergehende (auch rechtspolitische) Konsequenzen gewählt. Paradigmatisch dürfte hierfür bereits die abschlägige Behandlung von Verfahrensrügen sein, denen die Abwesenheit von Vertrauensverteidigern aufgrund von dem Tatrichter nicht Rechnung getragener Verhinderung zugrunde liegt, und die von dem Revisionsgericht mit Blick auf die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum Beschleunigungsgebot etwa mit dem Hinweis erledigt werden, „daß eine Kammer des Bundesverfassungsgerichts entschieden hat, es könne im Einzelfall von Verfassungs wegen geboten sein, zumindest an vier Werktagen je Woche (…) und unter besonderen Umständen – etwa im Fall des bevorstehenden Eintritts einer beisitzenden Richterin in den Mutterschutz – selbst am Wochenende (samstags) zu verhandeln (…)“.34 Als symptomatisch für den von ihm diagnostizierten Verfall der Strafverfahrenskultur – Senge35 spricht von „resignierenden Äußerungen“ – sieht vor allem der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs Verteidigerverhalten an, das sich seinem Selbstverständnis nach – so die zwischenzeitlich textbausteinähnliche Argumentation – von den Zielen des Strafprozesses verabschiedet habe. Zusammengefaßt findet sich diese Argumentationskette –

33 3 StR 149/07 vom 19.6.2007, Rn. 3; vgl. auch – „Rechtsanwalt S.“ und Rechtsanwalt Co.“ betreffend – 1 StR 432/07 vom 25.9.2007, Rn. 3 f. 34 1 StR 485/06 vom 29.8.2006, S. 5; vgl. auch 1 StR 409/05 vom 19.1.2006, S. 4 ff.; 1 StR 474/06 vom 9.11.2006, Rn. 11 ff.; 3 StR 465/06 vom 9.1.2007, S. 2. 35 FS Nehm (2006), S. 347.

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erstmals verbunden mit einem Appell an den Gesetzgeber – in einem Beschluß vom 21.08.2007: „Abschließend sieht der Senat Anlaß zu folgendem Bemerken: Auch vor dem Hintergrund, daß der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat, ist es angesichts der schon dargestellten erdrückenden Beweislage auf den ersten Blick nur schwer verständlich, daß bis zum Urteilsspruch sieben Hauptverhandlungstage durchgeführt werden mußten. Begreifbar wird dies erst, wenn man das Verhalten der Verteidigung und insbesondere den Inhalt einiger der von ihr gestellten zahlreichen Anträge berücksichtigt. Diese zeichnen sich dadurch aus, daß gewonnene Beweise durch Beweisanträge entwertet werden sollen, deren Beweisbehauptungen im Kern darauf hinauslaufen, mehrere Personen hätten sich in strafbarer Weise zu Lasten des Angeklagten geäußert (…). Es mag dahinstehen, inwieweit eine solche Prozessführung sich noch in den Grenzen des strafprozessual und berufsrechtlich Zulässigen bewegt. Dem berechtigten Anliegen der Strafverteidigung, den Angeklagten vor einer unzutreffenden Verurteilung oder zumindest vor einer prozessordnungswidrigen Verfahrensweise zu bewahren, fühlt sie sich jedenfalls ersichtlich nicht mehr verpflichtet. Ein solches Verhalten muß auf die Dauer zu einer Erschöpfung der Ressourcen der Strafjustiz führen, wenn diese selbst in einfachst gelagerten Sachen mehrere Hauptverhandlungstage aufwenden muß, nur um Anträge der Verteidigung zu verbescheiden, die allenfalls nach ihrer äußeren Gestalt, nicht aber nach ihrem tatsächlichen inhaltlichen Anliegen der Aufklärung des wahren Sachverhalts dienen. Bei einer weiteren Zunahme dieses nach Beobachtung des Senats immer mehr um sich greifenden Phänomens wird sich letztlich auch der Gesetzgeber zum Einschreiten veranlaßt sehen müssen“.36 Auf derselben Linie liegen die Vorgänger dieser Entscheidung: –

„Rechtsanwalt Dr. K. aus E.“ legt der Senat zur Last, eine völlig lebensfremde und schlechterdings nicht nachvollziehbare Einlassung zur Grundlage von Beweisanträgen sowie „zahlreichen, ersichtlich fernliegenden Verfahrens- und Sachrügen“ gewählt zu haben und da-

3 StR 238/07 vom 21.8.2007, Rn. 7 f. Eine wie auch immer geartete empirische Objektivierung erfährt diese Verfallsdiagnose nicht, sieht man einmal von dem gelegentlichen Hinweis auf „Nehm/Senge NStZ 1998, 377“ ab (so: Senge, FS Nehm [2006], S. 347). Das wiegt umso schwerer, als das zugrunde liegende Verteidigerbild dogmatisch nicht hergeleitet und zudem der Eindruck erweckt wird, gesündigt werde nur extra muros, also durch Verteidiger und Verfassungsgericht. 36

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durch für eine „auch mit Blick auf die Interessen des Angeklagten nicht veranlaßte Aufblähung des Verfahrens“ gesorgt zu haben37. –

Der Beweisantrag auf Vernehmung des Mitverteidigers „Rechtsanwalt Dr. J. aus K.“, „der jede Begründung für die Erheblichkeit der behaupteten,, offensichtlich bedeutungslosen Tatsachen schuldig bleibt“, läßt für den Senat nur den Schluß zu, „daß ihr ein Verständnis von Verteidigung zugrundeliegt, die sich dem traditionellen Ziel des Strafprozesses, der Wahrheitsfindung in einem prozeßordnungsgemäßen Verfahren, nicht mehr verpflichtet fühlt“38.



Gleiches muß sich „Rechtsanwalt B. aus M.“ im Hinblick auf die Vernehmung der Geschädigten in der Hauptverhandlung vorhalten lassen, dessen Revisionsbegründung im übrigen als im Ton „grob ungehörig und unakzeptabel“ beanstandet wird39.



Schließlich wird unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensbeschleunigung, „Frau Rechtsanwältin A.“ attestiert, ihr sei zu Recht von dem Kammervorsitzenden eine Frist zur Stellung von Beweisanträgen gestellt worden40.

2. Die in diesen dogmatisch eher unscheinbaren (zudem eigentlich folgenlosen) Entscheidungen verwendeten Topoi begegnen einem als argumentative Versatzstücke in Grundsatzentscheidungen des Bundesgerichtshofs, durch die er neuerdings den Kern des Strafverfahrens einschließlich des Revisionsverfahrens betreffende Vorschriften einem geänderten Verständnis zugeführt hat. a) Das Kriterium der objektiv einfachen und geklärten Beweislage, die weitere Aufklärungsbemühungen überflüssig erscheinen lasse, ist ein zentrales Argument in dem anspruchsvollen, aber mit dem revisionsrechtlichen Verbot der Rekonstruktion der tatrichterlichen Hauptverhandlung nicht ohne weiteres zu vereinbarenden Versuch des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs, beweisantragsrechtliche Beanstandungen unabhängig von Spe-

3 StR 445/04 vom 25.1.2005, S. 2 f. 3 StR 429/05 vom 25.4.2006, Rn. 14. 39 3 StR 237/06 vom 31.8.2006, S. 3 f.; dort auch zur Rüge, auf § 344 Abs. 2 S. 2 StPO gestützte Verwerfungsanträge beinhalteten einen Eingriff in von § 823 Abs. 2 BGB geschützte Rechtsgüter des Revisionsverteidigers. 40 3 StR 149/07 vom 19.6.2007, Rn. 4 ff. 37 38

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kulationen über die Motive der Verfahrensbeteiligten zu entkräften41. Diese Rechtsprechung, die durch einen Extremfall, das Verhalten des Rechtsanwaltes R. aus H., veranlaßt wurde, ist zwischenzeitlich unter anderem durch die „Rechtsanwältin A.“ betreffende Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs verallgemeinert worden und hat zudem den Versuch des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs bestimmt, den Anwendungsbereich des Ablehnungsgrundes der Prozeßverschleppungsabsicht im Hinblick auf den in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung betonten Beschleunigungsgrundsatz für Tatrichter einfacher handhabbar zu machen42. b) Der Einhegung unangemessenen Verteidigerverhaltens dient auch die Weiterentwicklung der sogenannten Widerspruchslösung, der schon immer entgegenzuhalten war, sie stelle letztlich eine revisionsgerichtliche Verpflichtung zu später tatrichterlich als Konfliktverteidigung gescholtenem Verhalten dar. Während sich der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs offenbar vorsichtig von seinem Geschöpf zu distanzieren beginnt43, hat sein 1. Strafsenat sie weiterentwickelt, indem er u.a. einen Fall eher querulatorischen Verteidigerverhaltens – „er könne auch anders“ als Erklärung des erhobenen Widerspruchs – zum Anlaß nahm, die Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO auf den Inhalt des Verwertungswiderspruchs zu übertragen, also dem Verteidiger aufzugeben, im Detail tatsächliche Grundlage und rechtliche Stoßrichtung des Widerspruchs als zwingende Voraussetzung der späteren revisionsrechtlichen Beanstandbarkeit (Art. 19 Abs. 4 GG) bereits innerhalb der Erklärungsfrist des § 257 Abs. 1 StPO aufzuzeigen44. c) Daß eine Aufhebung eines tatgerichtlichen Urteils im Revisionsrechtszug kein Anlaß sein kann, eine konventionswidrige Verfahrensverzögerung festzustellen und zu kompensieren, wird – wiederum vom 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs – auch mit anderenfalls zu erwartendem noch destruktiverem Verteidigerverhalten begründet: „All dies müßte zwangsläufig zu einem grundlegenden Wandel der Verteidigungsstrategie führen. In deren Mittelpunkt würde nicht mehr nur

BGH 5 StR 129/05 vom 14.6.2005, S. 8 ff.; vgl. zu den Vorgängerentscheidungen und zur Kritik Ventzke HRRS 2005, 233 ff. 42 1 StR 32/07 vom 9.5.2007, Rn. 32 ff.; zugrundelag u.a. die Erklärung des Verteidigers, „’er müsse jetzt Beweisanträge stellen, da er sich mit der Staatsanwaltschaft noch nicht ganz einig geworden sei’“ (a.a.O., Rn. 24). 43 Vgl. 5 StR 546/06 vom 18.4.2007, Rn. 31; 5 StR 116/01 vom 25.9.2007, Rn. 22; Roxin NStZ 2007, 616/617 f.; vgl. zur Entwicklung Fezer StV 1997, 57 ff.; Fahl (Fn. 7), S. 163 ff. 44 1 StR 534/05 vom 7.3.2006, Rn. 17, 30 ff.; 1 StR 273/07 vom 11.9.2007, Rn. 14 ff. 41

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stehen, den Angeklagten vor einer ungerechtfertigten Verurteilung oder zumindest vor prozessordnungswidrigem Verhandeln zu bewahren (…), sondern auch das Bemühungen, den Prozeß sowohl in verfahrens- wie in sachlichrechtlicher Hinsicht in der Hoffnung auf gerichtliche Fehler zu verkomplizieren, um im Falle einer im Ergebnis nicht vermeidbar erscheinenden Verurteilung des Angeklagten über das Revisionsverfahren wenigstens eine zweite Tatsachenverhandlung erzwingen zu können, mit dem Ziel, in dieser dann zumindest auf der Rechtsfolgenseite eine Kompensation für die ‚rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung’ zu erreichen. In amtsgerichtlichen Verfahren müßte hierzu tunlichst von der Möglichkeit der Sprungrevision Gebrauch gemacht werden, da die Korrektur eventueller Rechtsfehler in der Berufungsinstanz nicht – oder jedenfalls nicht in der ‚bestmöglichen’ Weise – zu der erstrebten Kompensation führen kann“45. d) Von zentraler Bedeutung waren schließlich Spekulationen über ein gewandeltes (berufsrechtliches) Selbstverständnis der Strafverteidigung für diejenigen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, die das fertiggestellte Hauptverhandlungsprotokoll als verläßliche Grundlage des Revisionsverfahrens beseitigten46. –

Das bedarf für die Rechtsmißbrauchslösung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs47 keiner näheren Darlegung, zweifelt er doch – etwa bezogen auf die Rollenverteilung zwischen Instanz- und Revisionsverteidiger – unter abfälligem Hinweis auf das Verteidigungshandbuch von Dahs an, „ob eine solche Umgehungsstrategie dem Bild der Strafverteidigung nach der Strafprozessordnung entspricht“48. Damit bedient er sich der hinlänglich bekannten Verfallstheorie seiner unter II. 1. referierten Beschlüsse.

45 3 StR 460/98 vom 7.2.2006, Rn. 39; vgl. auch Senge, FS Nehm (2006), S. 347 ff. Eine ähnliche Prognose nunmehr in BGH 1 StR 480/07 vom 24.10.2007, S. 3 (Kein Ausschluß des als Zeugen vernommenen Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft: „…könnte ohne weiteres darauf beruhen, dass ansonsten durch geschickte Beweisantragsstellung und in rechtsmissbräuchlicher Weise der mit der Sache befaßte und eingearbeitete Anklagevertreter aus dem Verfahren entfernt werden könnte, was letztlich nahezu immer zu einer nach Verfassungsgrundsätzen zu vermeidenden Verfahrensverzögerung führen würde.“). 46 Vgl. den Überblick von Lindemann/Reichling StV 2007, 152 ff. sowie die Stellungnahmen des Jubilars (Fezer StV 2006, 287 ff.; Fezer, FS Otto [2007], S. 901 ff.). 47 3 StR 284/05 vom 11.8.2006, Rn. 16 ff. 48 Ibid., Rn. 32.

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Nichts anders gilt aber auch für die von dem 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs veranlaßte Entscheidung seines Großen Senats vom 23.04.200749, die sich auf die angeblich „veränderte Einstellung auf Seiten der Strafverteidiger“, die Vergeblichkeit des revisionsgerichtlichen „Appelle an das Gewissen des die Revision begründenden Verteidigers“ sowie „die Änderung des anwaltlichen Ethos“ als weitere Argumente für die Änderung der Rechtsprechung bezieht50. Der Stellenwert dieser Argumentation im Selbstverständnis des Bundesgerichtshofs erhellt auch daraus, daß es in der im übrigen eher karg begründeten abschließenden Sachentscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs erneut aufgegriffen wird51. Rainer Hamm52 hat zu dieser Entscheidung alles Notwendige bemerkt und insbesondere aufgezeigt, daß neben allen anderen Begründungsmängeln die sie tragende rechtshistorisch gemeinte Theorie des Niedergangs der Kultur der Strafverteidigung empirisch verfehlt ist.

3. Stehen diese – zur Begründung jedenfalls rhetorisch hervorgehoben gerade auf Verteidigungsverhalten abhebenden – das Revisionsverfahren grundlegend umgestaltenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs aber im Kontext einer Vielzahl weiterer (die gleiche Stoßrichtung aufweisender) revisionsgerichtlicher Entscheidungen, so wäre die Anwaltschaft bereits deshalb schlecht beraten, diese auf sie zielenden Ausführungen mit Nicht(be)achtung zu strafen53. Die so begründeten revisionsgerichtlichen Grundsatzentscheidungen stehen aber auch für die von dem Jubilar54 wiederholt kritisch analysierte Entwicklung des Revisionsrechts weg von einem vorrangig die Einhaltung der Förmlichkeiten der tatrichterlichen Sachverhaltsermittlung garantierenden Rechtsmittel hin zu einer mit Belangen der „Wahrheitsorientierung“, des „Opferschutzes“ sowie der „Prozeßökonomie“ und „Verfahrensbeschleunigung“ begründeten, unvermittelten Kontrolle des Ergebnisses der tatrichterlichen Überzeugungsbildung. Ein derartiges „modernes“ Verständnis des

49 GSSt 1/06 vom 23.4.2007 als Folge von 1 StR 466/05 vom 23.8.2006; dort findet sich dieses Argument in eher abgeschwächter Form (a.a.O., Rn. 42). 50 Ibid., Rn. 53 f. 51 1 StR 466/05 vom 23.8.2007, Rn. 13 unter dem Blickwinkel der Verfahrensverzögerung 52 NJW 2007, 3166, vor allem S. 3169 ff. 53 So aber Schumann JZ 2007, 927/934 bei Fn. 82. 54 Fezer, FS Hanack (1999), S. 331 ff.; Fezer, FS Otto (2007), S. 901 ff.

490

Klaus-Ulrich Ventzke

Revisionsverfahrens interessiert sich fast zwangsläufig nicht vorrangig für die Wahrung der Form (z.B. der Partizipationsrechte des Beschuldigten) anläßlich der tatrichterlichen Entscheidung, sondern wendet sich statt dessen unmittelbar und kurzerhand der aus revisionsrichterlicher Perspektive beurteilten Plausibilität bzw. Angemessenheit des tatrichterlich gefundenen Ergebnisses (und damit auch des Verteidigungsvorbringens in der Instanz) zu. Diese Tendenz hat zwar die Rechtsschutzmöglichkeiten auch der Angeklagten erweitert, indem das „Tatsächliche“ nicht mehr prinzipiell dem revisionsgerichtlichen Zugriff entzogen, sondern nunmehr die im Urteil dokumentierte tatrichterliche Beweisführung – etwa bezogen auf typische Beweiskonstellationen (z.B. „Aussage gegen Aussage“) oder die spezifischen Schwächen bestimmter Beweismittel (z.B. psychowissenschaftliche Sachverständigengutachten) – der revisionsrichterlichen Kontrolle zugänglich ist. Für diesen nicht gering zu schätzenden Gewinn an (sachlichrechtlicher) Kontrolle des Tatrichters durch das Revisionsgericht wird aber ein zu hoher Preis gezahlt, wenn zugleich fast spiegelbildlich – und ein wenig als Ausdruck der Selbstüberschätzung revisionsrichterlicher Fähigkeiten, den eigentlichen Tatvorwurf, den Verfahrensgang und die Professionalität des Verhaltens der Beteiligten vor dem Tatgericht trotz des ehernen Verbots der Rekonstruktion der Hauptverhandlung im Revisionsrechtszug adäquat zu erfassen – eine Mentalität der „Vernachlässigung der Verfahrensvorschriften (und der) Verharmlosung von Verfahrensverstößen“ zugunsten der Bemühungen Einzug hält, den Bestand eines vom Revisionsgericht im Ergebnis ungeachtet aller formellen Beanstandungen als „goldrichtig“ empfundenen tatgerichtlichen Urteils nicht zu gefährden55. Diese Rechtsprechungstendenz wird zudem durch die von dem Jubilar56 erst kürzlich gewürdigte Vorstellung beeinflußt, möglicherweise durchaus mit plausiblen Gründen als rechtsmißbräuchlich empfundenes Prozeßverhalten lasse sich durch Rechtsprechung und/oder Gesetzgeber einfach abstellen, ohne daß die betroffene Verfahrensordnung als Ganze hierbei Schaden nehmen würde. Schon der kurze Weg von der einen Extremfall, das Verhalten des „Rechtsanwaltes R. aus H.“, betreffenden Entscheidung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs über die Inkriminierung der Rügen der „Rechtsanwältin A.“ sowie die Neufassung des beweisantragsrechtlichen Begriffs der Prozeßverschleppungsabsicht hin zur Forderung nach einem gesetzgeberischen Eingreifen durch den 1. und 3. Strafsenat des Bun-

55 56

Fezer, FS Otto (2007), S. 909 ff. m.w.N. Fezer, FS Weber (2004), S. 483 f.

Verteidigung am revisionsgerichtlichen Pranger?

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desgerichtshofs macht freilich beängstigend deutlich, daß es sich hierbei um eine gefährliche Illusion handelt.

V. Anderweitige strafprozessuale Fragen

Quo vadis, Strafverfahren? Zweckmäßigkeit versus Gerechtigkeit: Vom rechtsstaatlichen Strafprozess zum geheimen Willkürverfahren in der babylonischen Gefangenschaft der Justiz KARL HEINZ GÖSSEL

A. Die Fesselung der Judikative durch die Exekutive und die Folgen I. Die faktische Stellung der Judikative Treffender kann man es nicht sagen: „Die deutschen Richter sind unabhängig, aber die deutsche Justiz ist es nicht“1. Mit Recht begehrt die Richterschaft auf: „Die Unabhängigkeit der Justiz wird zunehmend durch den Einfluss der Exekutive eingeschränkt. Die Gerichte und Staatsanwaltschaften sind als ‚nachgeordnete Behörden’ hierarchisch dem Justizminister unterstellt. Sie, die Gerichte und Staatsanwaltschaften, befinden sich in vielfältiger Abhängigkeit, von der Einstellung und ‚Beförderung’ bis hin zur Zuweisung oder Streichung von Haushaltsmitteln. Andererseits gelingt es den Justizministern, die unter Kabinetts- und Parteizwängen stehen, nicht mehr, ausreichende Mittel zu beschaffen, damit der in der Verfassung verankerte Justizgewährungsanspruch umfassend erfüllt werden kann. Auch spielen justizielle Fragen in der politischen Diskussion nur eine untergeordnete Rolle, so dass die Belange der Justiz nicht ausreichend wahrgenommen werden. Daher ist es an der Zeit, dass die Justiz ihre Aufgaben in die eigenen Hände nimmt. Die Justiz ist selbst in der Lage, die zu deren Erfüllung er-

1

So Prantl in der „Süddeutschen Zeitung Nr. 213 v. 15./16.9.2007, S. 3.

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Karl Heinz Gössel

forderlichen Mittel festzustellen und gegenüber dem Parlament einzufordern. Die überwiegende Mehrheit der Mitglieder der Europäischen Union hat sich für eine selbstverwaltete Justiz entschieden. Neben Deutschland haben in Europa nur Österreich und Tschechien nicht einmal in Ansätzen eine Selbstverwaltung der Justiz verwirklicht“2. Die derzeitige Stellung der Dritten Gewalt läßt sich so kennzeichnen: Die Rechtsprechung selbst, als inhaltlicher Kernbereich der Judikative, ist frei von unmittelbarer Fremdbestimmung durch Politik und Exekutive; jedoch lassen sich Möglichkeiten zu mittelbaren, auch inhaltlichen, Einwirkungen nicht leugnen, wie sie in der soeben wiedergegebenen Stellungnahme des Deutschen Richterbundes deutlich werden. Durchgehend erscheint allerdings, wie in dieser Stellungnahme ebenfalls zutreffend aufgezeigt wird, die organisatorische Fremdbestimmung der Judikative durch Politik und Exekutive: Ohne eigene Verwaltung und Haushaltspläne sind ihre Angehörigen außerhalb der eigentlichen Rechtsprechung zwar den jeweiligen Fachministerien verantwortlich, nicht aber direkt den Repräsentanten des Volkssouveräns. Unmündigen Kindern gleich, werden sie vor den Parlamenten von der Exekutive vertreten: vom jeweiligen Minister oder Staatssekretär, häufig genug nur von Angehörigen der Ministerialbürokratie, etwa in den Haushaltsausschüssen. Das aber widerspricht der Würde jeder selbständigen Staatsgewalt3, deren Aufgabe nach dem verfassungsmäßigen Gewaltenteilungsprinzip darin besteht, die anderen Staatsgewalten zu kontrollieren und, dem berühmten Wort von Montesquieu zufolge, auch zu „bremsen“4. Aufgaben, Funktion und Würde einer selbständigen Staatsgewalt indes gebieten, den bisherigen übermächtigen Einfluß der Exekutive aufzugeben und der Judikative umfassende Selbstbestimmung zu gewähren, freilich ebenfalls unter Wahrung der Kontroll- und Bremsfunktion der anderen Staatsgewalten.

Grundsatzbeschluss der Bundesvertreterversammlung des Deutschen Richterbundes v. 27.4.2007, DRiZ 2007, 161. 3 Vgl. dazu schon Gössel, FS Böttcher (2007), S. 79 f. und JR 2007, 83 (85). 4 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (1748), Deutsche Ausgabe bei Philipp Reclam jun. (1965), XI. Buch, 4. Kapitel: „Damit die Macht nicht mißbraucht werden kann, ist es nötig, durch die Anordnung der Dinge zu bewirken, daß die Macht die Macht bremse“. 2

Quo vadis, Strafverfahren?

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II. Maximen exekutiven Handelns und die Absprachenpraxis im Strafprozess Mit der organisatorischen Beherrschung der Judikative durch Politik und Exekutive dringen exekutive Handlungsmaximen vor und verdrängen judikatives Ethos nicht nur, aber auch im Strafverfahren, wie hier am Beispiel der Absprachenpraxis aufgezeigt werden soll. a) Sind auch Exekutive und Judikative gleichermaßen an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG) und damit ebenso an die materielle Gerechtigkeit, so sind doch exekutives Handeln und Denken vornehmlich am Prinzip einer möglichst zweckmäßigen Gesetzesausführung orientiert, das der Judikative dagegen an dem der Gerechtigkeit. Zwar stellen Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit weder logische noch notwendige Gegensätze dar: Wie gerechte Entscheidungen der Judikative gerade deshalb zweckmäßig sind und sogar sein sollen, weil so das Vertrauen der Rechtsgemeinschaft in die Judikative erhalten wird und Rechtsfrieden gewahrt werden kann, so kann (und wird in der Regel) auch eine zweckmäßige Gesetzesausführung gerecht sein. Ein so mögliches harmonisches Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit setzt allerdings den Primat der Gerechtigkeit voraus: Die Zweckmäßigkeit eines Verhaltens muß vom Ziel eines gerechten Ergebnisses geleitet sein. Bedenkt man aber den Einfluß der Politik auf die Exekutive und die für politisches Handeln vorrangigen Ziele der Machtgewinnung und Machterhaltung, so zeigt sich, dass Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit durchaus in Gegensatz geraten und zu antinomischen Verhaltensmaximen werden können: ein wesentlicher Grund dafür, die Gewaltenteilung dem Rechtsstaatsprinzip zuzuordnen5. Wie sehr politische Zweckmäßigkeit, wie sehr zweckmäßige Gesetzesausführung sich gegensätzlich zur Gerechtigkeit verhalten können, ist zwar allgemein bekannt, sei aber gleichwohl in einem besonders empfindlichen Bereich aufgezeigt: Eine möglichst effektive Kriminalitätsbekämpfung kann in Gegensatz zu Gesetz und Gerechtigkeit geraten und zu der Forderung führen, den „Schutz der Gesellschaft“ als vorrangigen Zweck gegenüber der „Gerechtigkeit erstrebende(n) Strafverfolgung“ zu verstehen und für die Exekutivbehörde der Polizei einen „von Außenstehenden unangetastet“ bleibenden „Lebensraum“ zu verlangen, in dem der „Primat der Strafprozeßordnung gegenüber dem Polizeirecht fällt“6 und es deshalb selbstverständlich sei, „daß die zahlreichen Bestimmungen, die den Täter im Rahmen des

5 6

Vgl. dazu Gössel GA 1980, 325 (332 f.). Wolf Kriminalistik 1975, 389 (392 ff.).

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Strafverfahrens schützen, im taktischen Bereich nicht gelten können“7 – ein deutlicher Beweis für die Unerträglichkeit eines etwaigen Vorrangs der Zweckmäßigkeit in der Rechtsprechung, müßte die Judikative derartigen Forderungen8 in ihren Entscheidungen entsprechen. Mit anderen Worten: Bei der Ausübung von Staatsgewalt muß sich zweckmäßiges Handeln am Ziel der Gerechtigkeit orientieren. b) Indessen: Politisches, exekutives Zweckmäßigkeitsstreben ist nicht selten, wie das soeben erwähnte Beispiel zeigt, von anderen Zielen geleitet als dem der Gerechtigkeit – und solches, nicht an der Gerechtigkeit orientiertes Zweckmäßigkeitsstreben hat sich der Judikative bereits allzu weitgehend bemächtigt. 1. Die Verringerung der Haushaltsmittel und der damit verbundene Stellenabbau im Bereich der Judikative9 machen deutlich, dass Politik und Exekutive eine Rechtspflege zu den geringstmöglichen Kosten erstreben: Das jede rechtsstaatliche Rechtsprechung kennzeichnende Ziel möglichst gerechter Entscheidungen wird dem neuen Ziel eines möglichst geringen finanziellen Aufwandes nachgeordnet10. Und genau diese Zielverschiebung ist einer der wesentlichen Gründe für den als „Absprache“ bezeichneten gegenseitigen Vertrag, dessen wesentlicher Inhalt in dem Versprechen des Angeklagten zu einem verfahrensverkürzenden Verhalten durch ein Geständnis gegen eine vom Gericht zu gewährende Strafmilderung besteht11. Diese Praxis ermöglicht Durchführung und Abschluß von Strafverfahren in wesentlich kürzerer Zeit als in dem von der Strafprozessordnung vorgesehenen Verfahren12 – und so eine weit höhere Belastung der tatrichterlichen Spruchkörper. Dabei gerät das Ziel gerechter Rechtssprüche faktisch in den Hintergrund (s. dazu auch u. D II). Der Versuch, diese Praxis mit der aus dem Rechtsstaatsprinzip entfließenden Maxime der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege zu rechtfertigen, muß deshalb scheitern, weil diese Argumentation der Judikative eine neue Funktion zuweist: unter Denaturierung auch der Verteidigerfunktion die möglichst schnelle und reibungslose Erledigung

Wolf Kriminalistik 1975, 389 (390). Vgl. dazu Gössel GA 1980, 339. 9 Vgl. dazu Gnisa DRiZ 2006, 101; Pfister StraFo 2006, 349 (350). 10 Linden, FS zu Ehren des Strafrechtausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer (2006) [zit. als FS BRAK], S. 390. 11 Ignor, FS BRAK (2006), S. 322; Beulke/Swoboda JZ 2005, 67 (71); Linden, FS BRAK (2006), S. 385; Streng, FS Schwind (2006), S. 449. 12 Schulte-Kellinghaus DRiZ 2007, 141. 7 8

Quo vadis, Strafverfahren?

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von Strafsachen13, welcher die wahre Funktion jeder Rechtspflege nachgeordnet wird, Rechtsfrieden durch gerechte Entscheidungen zu schaffen (s.u. D II, IV). 2. Aber auch die in den Behörden der Strafrechtspflege tätigen Personen haben sich zu einem erheblichen Teil daran gewöhnt, die Zweckmäßigkeit ihres Verhaltens vorrangig an anderen Zielen als dem der Gerechtigkeit zu orientieren. Die in der Absprachenpraxis erstrebte möglichst schnelle Verfahrenserledigung ist wesentlich motiviert durch die damit verbundenen persönlichen Vorteile, die in einer rechtstatsächlichen Untersuchung über die Praxis der Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren von den beteiligten Richtern, Staatsanwälten und auch Strafverteidigern in ihrer Mehrheit als „‚eher groß’ bis ‚sehr groß’“ bezeichnet werden14 – damit erlangen jene Äußerungen eine nicht unerhebliche Überzeugungskraft, denen zufolge „Absprachen ein Erzeugnis sind aus tatsächlicher und vermeintlicher Arbeitslast, Bequemlichkeit, mangelnder Konfliktbereitschaft und schlichter Faulheit“15. 3. Selbst der Bundesgerichtshof nimmt den übermächtigen Einfluss von Politik und Exekutive hin, wie jüngst in der Entscheidung des Großen Strafsenats über die Zulässigkeit von Absprachen im Strafverfahren geschehen: Wegen der Überlastung der Organe der Strafrechtspflege stellt er zur Wahrung des Vertrauens der Bürger in die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege Regeln für eine neue Form des Strafverfahrens außerhalb der StPO auf16, welches entgegen dem Großen Strafsenat eben doch gegen den wesentlichen Grundsatz einer an der Wahrheitsfindung orientierten und Rechtsfrieden schaffenden gerechten Entscheidung verstößt (s. u. D II, VI). Verbunden wird dieser Schöpfungsakt mit der Aufforderung zu einer entsprechenden gesetzlichen Regelung, welcher die Exekutive schon deshalb gerne nachkommen wird, weil sie so Macht und Einfluss nicht nur wahren, sondern das ihrem Handeln gemäße Prinzip der nicht nur ökonomischen, sondern auch politischen Zweckmäßigkeit auf Kosten der Gerechtigkeit auch auf gerichtliche Entscheidungen ausdehnen kann.

Gatzweiler, FS Heike Jung (2007), S. 215 f. Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, Die Praxis der Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren (2007), S. 331. 15 Schmidt-Hieber DRiZ 1990, 321 (324); Wippfelder DRiZ 1990, 126 (129); Pfister StraFo 2006, 349 (350). 16 BGHSt 50, 40. 13 14

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III. Gründe für die Notwendigkeit von Absprachen Soll eine Form des Strafverfahrens außerhalb der StPO und in direktem Gegensatz zu deren maßgebenden Prinzipien geschaffen werden, so bedarf das einer überzeugenden, eingehenden Begründung. Indessen: Der Große Strafsenat erwähnt zwar Beschleunigungsgebot und Opferschutz als möglichen Grund der Absprachenpraxis, kapituliert aber im übrigen vor einem für unabänderlich gehaltenen Zustand und auch vor einer eingeschliffenen Praxis. a) Als wohl wichtigsten Grund benennt der Große Strafsenat „die knappen Justizressourcen“, welche „die Organe der Strafrechtsjustiz“ daran hindern, „die Funktionstüchtigkeit der Strafjustiz“ zu gewährleisten, „zumal unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes, der ein Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ist“17. Insoweit ist dem Großen Strafsenat zuzustimmen: Auch wenn eine zur Überlastung der Justiz führende Ressourcenknappheit bisher durch rechtstatsächliche Untersuchungen nicht nachgewiesen wurde, so kann doch nicht geleugnet werden, dass sie dennoch besteht. Zu Recht bestreitet niemand mehr, dass die personellen Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden erschöpft sind und die hoch belasteten Gerichte und Staatsanwaltschaften ohne Urteilsabsprachen nicht mehr in der Lage sind, Großverfahren „aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität, der Korruption und der Organisierten Kriminalität“ „zeitnah zu erledigen“18 (s. u. D VI c). Gleichwohl erscheint der Ausweg in die Absprachenpraxis als vermeidbare und damit unnötige Übernahme der exekutiven Handlungsmaxime zur vorrangigen Berücksichtigung einer Kostenersparnis. 1. Zunächst wäre schon zu bedenken gewesen, dass die derzeitige Ressourcenknappheit von Politik und Exekutive nicht nur geschaffen wurde (o. II b 1), sondern auch wieder beseitigt werden kann und sollte; überdies ist Abhilfe auch auf andere Weise möglich, wie Rieß treffend aufgezeigt hat: „Zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege stünden dem ‚echten’, parlamentarisch verantwortlichen Gesetzgeber19 mehrere unterschiedliche Möglichkeiten legislativer Gestaltung über Veränderungen im Prozeßrecht und im materiellen Strafrecht bis hin zu einer

BGHSt 50, 40 (53 f.). Linden, FS BRAK (2006), S. 389 f. 19 Anstelle des tatsächlich tätig gewordenen „Quasi-Gesetzgebers“ Bundesgerichtshof. 17 18

Quo vadis, Strafverfahren?

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Veränderung der Mittelzuweisung zu Gunsten der Strafjustiz zur Verfügung“20. Und zutreffend weist der Fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofs in einem der Entscheidung des Großen Strafsenats noch im gleichen Jahr (2005) nachfolgenden Urteil darauf hin: Dem „Anliegen des Gesetzgebers, das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit der Rechts vor einer Erschütterung … zu bewahren, kann … nur durch eine spürbare Stärkung der Justiz … Rechnung getragen werden“21. 2. Was der Fünfte Strafsenat im Dezember 2005 treffend bedacht hat, hätte der Große Strafsenat nur sechs Monate vorher nicht übersehen sollen. Wenn er schon der Ressourcenknappheit ein derartiges Gewicht einräumt, hätte er nicht versäumen dürfen, den Grund dieser Knappheit zu berücksichtigen: die staatliche Finanznot. So gewiß diese auch besteht, so sollten ihr Auswirkungen auf die Strafjustiz doch nur unter Berücksichtigung der Kosten zugestanden werden, welche die Rechtsprechung insgesamt und insbesondere im Bereich der Strafjustiz verursacht. Ohne den bisher nicht erbrachten Nachweis dieser Kosten dürfen derart schwerwiegende Konsequenzen, wie sie der Große Strafsenat für unausweichlich hält, nicht gezogen werden. Immerhin sind inoffizielle Schätzungen bekannt, denen zufolge die Einnahmen der Justiz weit über 90% ihrer Kosten decken: Treffen diese Schätzungen zu, so ließe sich die Ressourcenknappheit der Justiz mit der staatlichen Finanznot nicht mehr rechtfertigen. Deshalb hätte sich der Große Strafsenat mit diesen Schätzungen auseinandersetzen müssen, will er die Absprachenpraxis auf die Finanznot und die daraus hergeleitete Ressourcenknappheit entscheidend stützen. 3. Noch beklagenswerter aber erscheint es, dass der Große Strafsenat die Bevormundung der Dritten Staatsgewalt durch Politik und Exekutive (o. I) nicht problematisiert hat. Könnten alle Gerichtsbarkeiten in einem einheitlichen Gebäude der Judikative unter einem Dach mit den damit verbundenen erheblichen Kosteneinsparungen vereint werden und könnte die Judikative über einen eigenen, ihr ohne Einfluß der Exekutive direkt vom Parlament bewilligten Haushalt verfügen, wäre es möglich, die Strafjustiz mit den finanziellen wie personellen Mitteln auszustatten, deren sie zur Bewältigung ihrer Arbeit bedarf.

20 21

Treffend Rieß JR 2005, 437 in seiner Anm. zu BGHSt 50, 40. BGHSt 50, 299 (309).

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4. Nicht unerwähnt bleibe schließlich der Beitrag der Revisionsgerichte selbst zu einer nicht unerheblichen Mehrbelastung der Tatgerichte, auf den hier, angesichts seiner allgemeinen Bekanntheit, nur hingewiesen werden soll: durch exzessive Anforderungen an die Urteilsgründe und eine nicht selten unklare Rechtsprechung zur Anwendung des Prozeßrechts, insbesondere bei den Beweisverboten, zum Umfang der Amtsermittlungspflicht und zum Beweisantragsrecht22. Der Große Strafsenat wäre nicht schlecht beraten gewesen, hätte er auch Änderungen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erwogen, um die Belastung der Tatgerichte zu verringern und so die Flucht in die Absprachenpraxis weniger dringlich erscheinen zu lassen. b) Der Opferschutz ist ein unbezweifelbar berechtigtes Anliegen jeder gerechten Rechtsprechung. Gewiss lässt sich in einigen Verfahren durch Absprachen verhindern, die Opfer schwerwiegender, traumatisierender Straftaten auch vor Gericht zu vernehmen und damit erneut dem mit dem Erleiden der Straftat verbundenen Trauma auszusetzen. Indessen kann darin kein überzeugender Grund für die Zulässigkeit von Absprachen gefunden werden: Wird, wie regelmäßig, nur deshalb auf die Vernehmung derartiger Opfer verzichtet, um den mit den Absprachen verbundenen Strafrabatt (o. II b 1) zu erhalten, erscheint eine Strafmilderung durchaus verfehlt; gebietet aber die Pflicht zur Wahrheitserforschung, mangels eines überzeugenden Geständnisses, die (erneute) Vernehmung des Opfers, so ist das aus Gründen rechtsstaatlicher Verfahrensweise unverzichtbar, mindestens aber läßt sich darauf keine allgemeine Zulässigkeit der Absprachenpraxis stützen. Im übrigen aber werden Absprachen vor allem in solchen Verfahren praktiziert, in denen, wie z.B. in Wirtschaftsstrafsachen, des Opferschutzes bedürftige, durch die Straftat traumatisierte Personen gar nicht vorhanden sind. Insgesamt: Der Opferschutz ist kein ausreichender Grund für die Zulässigkeit der derzeit geübten allgemeinen Absprachepraxis. c) Wenn auch Absprachen zu einer erheblichen Verfahrensbeschleunigung führen, so darf doch das allgemeine Beschleunigungsgebot nicht verabsolutiert werden. Auch dieses Gebot muß sich dem Ziel einer gerechten und Rechtsfrieden schaffenden Entscheidung aufgrund eines um die Ermittlung des wahren Sachverhalts bemühten Verfahrens unterordnen und darf nicht um seiner selbst willen befolgt werden: Werden Absprachen, wie es allzu häufig geschieht, allein zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidiger ausgehandelt (zu der damit verbundenen Beeinträchtigung des Öffentlichkeitsprinzips s. u. D III a 2), so dass dem Angeklagten regelmäßig

22

Näheres Gössel, FS Böttcher (2007), S. 80.

Quo vadis, Strafverfahren?

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keine Möglichkeit bleibt, auf den Inhalt dieses „Handels“ Einfluss zu nehmen, so führt die Absprachepraxis zu einem rechtsstaatswidrigen „kurzen Prozess“ mit einem zum Verfahrensobjekt „denaturierten“ Angeklagten23. Zwar wird in einer rechtstatsächlichen Untersuchung dieser gegen alle beteiligten Berufsjuristen erhobene Vorwurf mit Hinweisen auf angebliche Erlebnisse mit Verteidigern „im persönlichen Interview“ zu widerlegen versucht24, jedoch in wenig überzeugender Weise: Die Berufung allein auf Interviews mit Verteidigern, deren Interessen an einem „kurzen Prozess“ doch offensichtlich sind, ist eine äußerst schmale Basis zur Widerlegung dieses immerhin von Praktikern erhobenen Vorwurfs: Ohne Interviews mit den jeweils beteiligten Angeklagten, die in der erwähnten Untersuchung zu Unrecht unterblieben ist, muss dieser Widerlegungsversuch notwendig scheitern. d) Die geradezu eingeschliffene praktische Übung eines besonderen Abspracheverfahrens vor allem vor den Großen Strafkammern25 (s. o. a) läßt sich ebensowenig als weiterer möglicher Grund für dessen Zulassung anführen26, auch wenn in der Entscheidung des Großen Strafsenats davon nicht ausdrücklich die Rede ist. Bereits Rieß hat treffend auf die geringe Tragfähigkeit dieses Arguments u.a. deshalb hingewiesen, weil auch eine faktisch weit verbreitete Praxis mit der Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege nicht ausreichend erklärt werden kann27. Vor allem aber dürfte diese Praxis sehr weitgehend durch die o. II b 2 erwähnten persönlichen Vorteile der an den Absprachen Beteiligten motiviert sein, durch Motive also, die als sachbezogene und tragfähige Grundlage für die Einführung einer neuen Verfahrensart offensichtlich ausscheiden, dies auch im Hinblick auf deren unüberwindliche Schwächen (dazu u. D). Im übrigen erscheint die Berufung auf die tatsächliche Praxis und deren faktische Akzeptanz deshalb als unzulässiges Argument, weil sie eine allgemein anerkannte Kantische Erkenntnis außer Acht lässt: Aus dem Sein folgt kein Sollen28 – auf die Existenz der Absprachenpraxis lässt sich deren

23

Dencker StV 1994, 503; Gatzweiler, FS Heike Jung (2007), S. 218; Weider StV 2000,

540. Altenhain et al. (Fn. 14), S. 338 f. Altenhain et al. (Fn. 14), S. 79; Linden, FS BRAK (2006), S. 384. 26 Vgl. dazu Rieß JR 2005, 435 (436). 27 Rieß wie Fn. 26. 28 Vgl. dazu Gössel, FS Miyazawa (1995), S. 317. 24 25

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Berechtigung ebensowenig gründen29 wie die Berechtigung von Straftaten (etwa des Diebstahls) auf deren massenhaftes Vorkommen.

B. Rechtsstaatlichen Anforderungen genügende Absprachen I. Ausgangspunkt Insgesamt: Die bisher für die Zulassung der Absprachenpraxis vorgebrachten Gründe sind nicht überzeugend. Gleichwohl: Unter der Voraussetzung seiner rechtsstaatlichen Unbedenklichkeit könnte der Einführung eines Abspracheverfahrens wohl doch zugestimmt werden. Der Große Strafsenat hat diese Voraussetzung unter Übernahme und teilweiser Fortentwicklung der schon früher vom Vierten Strafsenat aufgestellten Grundsätze30 bekanntlich dann bejaht31, wenn bestimmte, ausdrücklich benannte Regeln eingehalten werden; auf diese Regeln beziehen sich auch ein Gesetzesentwurf des Bundesrates (E-BR)32 und ein davon verschiedener Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz (E-BMJ)33. Wie o. A II aufgezeigt wurde, weist die Kontroverse um die Zulässigkeit von Absprachen im Strafverfahren eine erhebliche politische Dimension auf. Die Entscheidung des Großen Strafsenats muß daher auch unter diesem Gesichtspunkt im Lichte der Gesetzgebungsvorschläge in den genannten Entwürfen betrachtet werden; auf weitere beachtliche Gesetzesentwürfe, wie etwa diejenigen der Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte34 und der Bundesrechtsanwaltskammer35, kann hier schon aus Gründen der notwendigen Beschränkung dieser Überlegungen nur hingewiesen werden.

29 Das missachten die Fehlschlüsse von Linden, FS BRAK (2006), S. 384 und Altenhain/Hagemeier/Haimerl NStZ 2007, 71 f. 30 BGHSt 43, 195. 31 BGHSt 50, 40 (56 ff.). 32 Gesetzentwurf des Bundesrates v. 31.1.2007, BR-Drs. 16/4197. 33 Referentenentwurf v. 18.5.2006, veröffentlicht unter www.bmj.bund.de. 34 Eckpunkte GStAe, veröffentlicht unter www.thueringen.de. 35 Vorgelegt von dessen Strafrechtsausschuss, ZRP 2005, 235; krit. dazu Bittmann DRiZ 2007, 22; Landau/Bünger ZRP 2005, 268; Meyer-Goßner StV 2006, 485.

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II. Unbedenkliche Absprachen Rechtsgespräche zwischen den Prozeßsubjekten unter Berücksichtigung des bisherigen Ergebnisses der Hauptverhandlung und über deren voraussichtlichen weiteren Verlauf sind aus Gründen der Verfahrensfairness angebracht und schon deshalb mit der Strafprozessordnung und deren wesentlichen Grundlagen vereinbar; ebenso erscheint es möglich, sich im Rahmen solcher Rechtsgespräche darüber zu verständigen, dass durch eine Fortsetzung der Beweisaufnahme weitere Umstände des verfahrensgegenständlichen Sachverhalts nicht ermittelt werden können – wie dies der Sache nach schon vor dem Beginn der Diskussion um die Absprachen regelmäßig mit der Frage des Vorsitzenden nach weiteren Beweisanträgen geschah, mag auch in Einzelfällen die Verteidigung mit einem Verzicht auf weitere Beweisanträge auf einen Erfolg einer Aufklärungsrüge abgezielt haben. Dies erscheint wohl auch dem Großen Strafsenat selbstverständlich36 und hat auch seinen Niederschlag in den o.e. Entwürfen gefunden, wenngleich in wesentlich weitgehenderer Weise: § 257c Abs. 1 StPO i.d.F. von Art. 1 Nr. 7 E-BMJ sieht zudem eine Verständigung über „den weiteren Fortgang und das Ergebnis des Verfahrens“ vor, und Art. 1 Nr. 5 E-BR gibt in einem neuen § 243a Abs. 1 StPO diesem Rechtsgespräch das „Ziel einer verfahrensbeendenden Absprache“37.

III. Unzulässige Absprachen Die Grenzen von offensichtlich zulässigen Absprachen sind indessen auch dem Großen Strafsenat zufolge dann überschritten, verhindern sie Freisprechung oder eine schuldangemessene Strafe insbesondere durch eine mangelhafte Sachaufklärung38; jedoch fehlt diese Einschränkung in beiden o.e. Entwürfen, wenngleich die Begründung zum E-BR in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich verlangt, es müsse „in jedem Fall sichergestellt sein, dass Straftäter … einer gerechten Bestrafung zugeführt werden“39. Jedoch sei schon hier angemerkt, dass diese Einschränkungen in der Praxis des Abspracheverfahrens regelmäßig mißachtet werden (u. D II, III).

BGHSt 50, 40 (63). BR-Drs. 16/4197, S. 5. 38 BGHSt 50, 40 (48 f.) unter zutr. Berufung auf das von BVerfGE 57, 250 (275) aufgestellte „Gebot bestmöglicher Sachaufklärung“. 39 BR-Drs. 16/4197, S. 7; BVerfG NStZ 1987, 419. 36 37

506

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C. Grenzen eines zulässigen Abspracheverfahrens Die überwiegende Auffassung in der Literatur geht dahin: „die verfahrensbeendende ‚Absprache’ … im Strafverfahren gerät in Konflikt mit so gut wie allen Verfahrensgrundsätzen des deutschen Strafprozesses“40. Ob die vom Großen Strafsenat aufgestellten Regeln und die o.e. Gesetzesentwürfe diesen Vorwurf ausräumen können, sei im folgenden untersucht.

I. Die Vorgaben des Großen Strafsenats Die soeben (o. B III) erwähnte allgemeine Grenze zulässiger Absprachen ergibt sich direkt aus der in § 244 Abs. 2 StPO positivierten Pflicht des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit: Seine Tätigkeit muß also dem Ziel dienen, den wahren verfahrensgegenständlichen Sachverhalt zu ermitteln, soweit ihm dies möglich ist. Damit folgt das Gericht seiner rechtsstaatlichen Verpflichtung zu materiell gerechten Entscheidungen (Art. 20 Abs. 3 GG), die eine wahrheitsgemäße Sachverhaltsermittlung voraussetzt: „Ein zentrales Ziel des rechtsstaatlich geordneten Strafverfahrens ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts als der notwendigen Grundlage eines gerechten Urteils“, und diese Sachverhaltsermittlung „untersteht dem aus § 244 Abs. 2 StPO abzuleitenden und den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechenden ‚Gebot bestmöglicher Sachaufklärung’“41. Das Ergebnis der Beweisaufnahme ist „grundsätzlich“ in der „Urteilsberatung“ festzustellen, „denn die für das Urteil maßgeblichen Feststellungen muß der Tatrichter nach § 261 StPO aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gewinnen (BGHSt 43, 360). Die Strafe muß schuldangemessen sein“, wie es die Verfassung verlangt, „darf sich nicht – auch nicht nach unten – von ihrer Bestimmung als gerechter Schuldausgleich lösen“ und „muß in einem angemessenen Verhältnis zum Maß der persönlichen Schuld, zum Unrechtsgehalt und zur Gefährlichkeit der Tat stehen und muß sich auch im Rahmen des für vergleichbare Fälle Üblichen halten“. Insbesondere darf das Gericht „nicht vorschnell auf eine Urteilsabsprache ausweichen, ohne zuvor pflichtgemäß die Anklage tatsächlich anhand der Akten und insbesondere auch rechtlich überprüft zu haben“ und muß „das bei einer Urteilsabsprache in der Regel abgelegte Geständnis … auf seine

Fahl ZStW 117 (2005), 605; ähnlich Theile StraFo 2005, 409, auch Streng (FS Schwind [1993], S. 447) äußert beachtliche „Zweifel hinsichtlich der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit wie auch der Schuldadäquanz“ der Strafbemessung. 41 BGHSt 50, 40 (48). 40

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Zuverlässigkeit“ überprüfen. Schließlich darf „der Schuldspruch“, abgesehen von den „nicht unnötig restriktiv zu handhabenden … Regelungen aus §§ 154, 154a StPO … nicht Gegenstand einer Urteilsabsprache sein. Die Differenz zwischen der absprachegemäßen und der bei einem ‚streitigen Verfahren’ zu erwartenden Sanktion darf nicht so groß sein (‚Sanktionsschere’), daß sie strafzumessungsrechtlich unvertretbar und mit einer angemessenen Strafmilderung wegen eines Geständnisses nicht mehr erklärbar ist“42.

II. Die Vorgaben des Großen Strafsenats und die Gesetzesentwürfe a) Dieser Auffassung kann weitgehend zugestimmt werden, wenn auch bedenklich erscheint, dass das Ergebnis der Beweisaufnahme nur „grundsätzlich der Urteilsberatung vorbehalten“ bleiben soll43: Diese Formulierung lässt befürchten, dass der Große Strafsenat seine hier aufgestellte Zulässigkeitsbedingung für Absprachen nicht ganz ernst meint und dass Absprachen, wenn auch nur ausnahmsweise, eben doch das Ergebnis der Urteilsberatung ersetzen können. Ebenso bedenklich erscheint der Hinweis auf die „nicht unnötig restriktiv zu handhabenden Möglichkeiten“ zur Einstellung nach §§ 154, 154a StPO: kann er doch geradezu als eine Legitimierung der häufig geübten Praxis wirken, diese Vorschriften entgegen ihrem Wortlaut und Sinn auch dann anzuwenden, wenn wegen in Wahrheit weitaus schwerwiegenderer Straftaten eingestellt wird als derjenigen, die weiter verfolgt werden44. b) Erscheint schon die soeben aufgezeigte vorsichtige Lösung des Großen Strafsenats von seinen eigenen Regeln als kaum hinnehmbar, so können die in den o. B I erwähnten Entwürfen enthaltenen Normen für eine Abspracheregelung nur als unzureichend bezeichnet werden. 1. So begnügt sich § 257c Abs. 1 StPO i.d.F. von Art. 1 Nr. 7 E-BMJ mit der schlichten Feststellung, dass sich das Gericht „in geeigneten Fällen … mit den Verfahrensbeteiligten über den weiteren Fortgang des Verfahrens und das Ergebnis des Verfahrens verständigen“ könne. Abs. 2 befaßt sich mit dem zulässigen Gegenstand der Absprache: die möglichen Rechtsfolgen

BGHSt 50, 40 (48 ff.). BGHSt 50, 40 (48 f.). 44 Bertram Schmitt GA 2001, 411 (414 ff.). 42 43

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(Satz 1) und die dem Gericht eingeräumte Möglichkeit, „mit Zustimmung des Angeklagten unter freier Würdigung aller Umstände des Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen eine Ober- und Untergrenze der Strafe“ anzugeben (Satz 2). Die soeben (vor II) wiedergegebenen Grundsätze, die der Große Strafsenat für die Zulässigkeit von Absprachen aufgestellt hat, bleiben sehr weitgehend unbeachtet: weder wird verlangt, dass die Strafe gerechter Schuldausgleich sein muß und die Sanktionsschere nicht zu groß sein darf noch auch, dass, dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung folgend, der wahre Sachverhalt aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu gewinnen ist und auch nicht, dass vor einer Urteilsabsprache zunächst die Anklage sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht überprüft werden muss wie auch die Glaubwürdigkeit eines Geständnisses. Theoretisch wäre es zwar möglich, die Beachtung dieser Grundsätze gleichwohl durch die Revisionsgerichte dennoch zu ermöglichen: Jedoch wird dieser Weg durch einen neu einzuführenden Abs. 3 in § 337 StPO versperrt, der vorsieht, dass die Revision „nur auf eine Verletzung der bei der Verständigung zu beachtenden Vorschriften“ des E-BMJ, „der Grundsätze des fairen Verfahrens“ und der in § 338 StPO aufgeführten absoluten Revisionsgründe „gestützt werden“ können soll45. Dies aber lässt befürchten, dem E-BMJ sei an der Beachtung der vom Großen Strafsenat aufgestellten rechtsstaatlichen Grundsätze in Wahrheit nur wenig gelegen (s. dazu auch unten zum E-BR). 2. Die rechtsstaatlichen Grundsätze, denen der Große Strafsenat ausdrücklich zu entsprechen verlangt hat (o. vor II), werden vom E-BR noch weniger beachtet. Die Begründung zu diesem Entwurf will zwar sicherstellen, dass Straftäter „einer gerechten Bestrafung zugeführt werden“, auch ist davon die Rede, der Große Strafsenat habe „eindeutige Maßstäbe gesetzt“, weshalb eine „gesetzliche Regelung für Urteilsabsprachen“ zu schaffen sei, durch welche insbesondere „ein faires, rechtsstaatliches Verfahren, das Schuldprinzip und damit einhergehend das Gebot bestmöglicher Aufklärung zur Ermittlung des wahren Sachverhalts als notwendige Grundlagen eines gerechten Urteils zu gewährleisten“ seien46 – diese verlautbarte gesetzgeberische Absicht findet indessen im konkreten Gesetzestext keinen ausreichenden Niederschlag. In § 243a Abs. 1 i.d.F. von Art. 1 Nr. 5 E-BR ist lediglich davon die Rede, dass das Gericht „zu jedem Zeitpunkt den Stand des Verfahrens einschließlich einer vorläufigen Beurteilung des Verfah-

45 46

Art. 1 Nr. 11 E-BMJ. BR-Drs. 16/4197, S. 7.

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rensergebnisses mit dem Ziel einer verfahrensbeendenden Absprache erörtern“ könne: eine vorherige pflichtgemäße Überprüfung der Anklage wird nicht vorgeschrieben. Ähnlich dem E-BMJ (§ 257c Abs. 2 Satz 2 i.d.F. von Art. 1 Nr. 7), findet sich auch hier der Passus, dass das Gericht „in Erwartung eines das Verfahren verkürzenden oder beendenden Geständnisses … unter freier Würdigung sämtlicher Umstände des Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen einen Strafrahmen durch Mitteilung einer Strafunter- und einer Strafobergrenze angeben“ könne, wobei – nunmehr über den E-BMJ hinausgehend – „der mitgeteilte Strafrahmen … unter dem Vorbehalt eines der Nachprüfung zugänglichen und zur Überzeugung des Gerichts der Wahrheit entsprechenden Geständnisses“ stehe (§ 243a Abs. 3 Satz 1 i.d.F. von Art. 1 Nr. 5). Von einem gerechten Schuldausgleich und der Notwendigkeit der Vermeidung einer unangemessenen Sanktionsschere ist auch hier keine Rede, und im Gegensatz zum Sinn der vom Großen Strafsenat aufgestellten Regeln ist es der Begründung zufolge zulässig, dass die Mitteilung der Strafunter- und -obergrenze ohne entsprechende Feststellung eines der Wahrheit entsprechenden Sachverhalts erfolgen kann: Erst nach der Mitteilung des Strafrahmens soll das Gericht die endgültige Strafhöhe in der abschließenden Urteilsberatung „entsprechend der Schuld des Täters“ und „anhand der maßgeblichen Strafzumessungskriterien“ festsetzen47. Das aber bedeutet: Ohne irgendeine Überprüfung der Anklage und des verfahrensgegenständlichen Sachverhalts kann das Gericht in bindender Weise (§ 243a Abs. 5 Satz 1 i.d.F. von Art. 1 Nr. 5 E-BR) einen Strafrahmen mitteilen – jedoch sollen der wahre Sachverhalt und die Wahrheit eines Geständnisses erst bei der endgültigen Straffestsetzung im Bereich des mitgeteilten Strafrahmens berücksichtigt werden. Damit wird die Straffestsetzung faktisch von der Wahrheit des zugrundeliegenden Sachverhalts ebenso unabhängig wie von einem gerechten Schuldausgleich, und dies in klarem Gegensatz zur bereits erwähnten Begründung des Gesetzesentwurfs48. Wird nun bedacht, daß gegen Urteile, die auf einer Absprache beruhen, über den E-BMJ noch hinausgehend, schon die Berufung ausgeschlossen werden soll und die Revision nur noch „auf eine Verletzung der im Zusammenhang mit der Absprache zu beachtenden Verfahrensvorschriften (§ 243a)“ sowie auf die absoluten Revisionsgründe des § 338 StPO, „gestützt werden“ können solle, nicht aber mehr, wie es der E-BMJ vorsieht, auf die Grundsätze des fairen Verfahrens49, so lässt dies wegen des

BR-Drs. 16/4197, S. 9. BR-Drs. 16/4197, S. 7. 49 § 312 Satz 2 und § 337 Abs. 3 StPO in der Fassung des Art. 1 Nrn. 7 und 9 E-BR. 47 48

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faktischen Ausschlusses einer Überprüfung im gerichtlichen Instanzenzug die Absicht erkennen, in Wahrheit ein von rechtsstaatlichen Anforderungen nahezu freies Abspracheverfahren zu schaffen. 3. Beide Entwürfe erscheinen im Hinblick darauf verständlich, dass das Zustandekommen einer Absprache in einer der Exekutive willkommenen, kostensparenden Weise sehr erleichtert wird, unverständlich aber insoweit, als die vom Großen Strafsenat verlangte Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze weitgehend unterbleibt. Unübersehbar stimmen die Gesetzestexte beider Entwürfe mit ihren Begründungen nicht überein: Dem Wortlaut der Gesetzestexte zufolge ist ein dem Exekutivdenken entsprechendes kostensparendes, kurzes Verfahren beabsichtigt, welches die Beachtung der in den Begründungen jeweils genannten rechtsstaatlichen Grundsätze weder ausdrücklich verlangt noch auch nur erkennen lässt – den so entstehenden Anschein eines unaufrichtigen Verhaltens sollte der Gesetzgeber vermeiden.

D. Das Abspracheverfahren in der Praxis Indessen ist dem E-BR zugute zu halten, dass er weitgehend nur das tatsächlich geübte Abspracheverfahren widerspiegelt: bleiben doch in der Praxis die vom Vierten und auch die vom Großen Strafsenat des Bundesgerichtshofs aufgestellten Regeln bewußt weitgehend unbeachtet50.

I. Die Überprüfung der Anklage Schon die vom Großen Strafsenat geforderte Überprüfung der Anklage in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht, um ein vorzeitiges Ausweichen auf eine Absprache zu vermeiden, bleibt in der Praxis des Abspracheverfahrens praktisch unbeachtet. Hier wird nicht selten eine gleichsam „tarifäre“ gerichtliche Straffestsetzung geübt, welche die Höhe des „Strafrabatts“ von der durch den deal erreichbaren Arbeitsersparnis abhängig macht: Ein „Sondertarif“ bei sofortigem Abschluß einer Vereinbarung, ein „Kurzstreckentarif …, bei dem das Gericht nur die Anklage lesen muss und … dann ein anklagekongruentes Geständnis … abgelegt wird“, ein „Mittelstreckentarif …, bei dem „das Gericht die Anklage und sogar noch die Akten lesen muss und erst dann das Geständnis … abgelegt wird“ und endlich ein

50

Ignor, FS BRAK (2006), S. 328 hinsichtlich der Aufklärungsdefizite.

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„Langstreckentarif“ beim „Durchverhandeln“51 – ein geradezu klassischer Fall einer mit dem Schuldprinzip unvereinbaren sowohl unrechts- als auch schuldunabhängigen Strafbemessung52: Damit wird auch das rechtsstaatliche Gebot der schuldangemessenen Strafe mißachtet53, welches zu beachten der Große Strafsenat für unerläßlich hält. Als eklatantes Beispiel einer groben Verletzung dieses Gebots diene jener von Pfister mitgeteilte Fall, in dem „für die Begehung einer sog. Anlage-Untreue mit mehr als 100 Geschädigten und einem Gesamtschaden von ca. 23 Mio. DM“ nach einer vom Eintritt in die Beweisaufnahme an gerechneten Verhandlungsdauer von 18 Minuten eine Freiheitsstrafe von einem Jahr unter Strafaussetzung zur Bewährung verhängt wurde54; es fällt schwer, darin keine Verhöhnung der Tatopfer mit verheerenden Auswirkungen auf das Rechtsbewußtsein aller Bürger zu erblicken.

II. Die Amtsermittlungsmaxime Auch die vom Großen Strafsenat als ein zentrales Ziel des rechtsstaatlichen Strafverfahrens bezeichnete Ermittlung des wahren Sachverhalts als notwendiger Grundlage eines gerechten Urteils, die der zu bestmöglicher Sachaufklärung verpflichtete Tatrichter aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu gewinnen habe, bleibt in der Praxis deshalb unbeachtet, weil die Beachtung dieser unverzichtbaren rechtsstaatlichen Maxime eben jene Arbeitsersparnis verhindern würde, welche die Absprachepraxis bezweckt und auch erreicht55. Treffend stellt Linden hierzu fest: „Der Angeklagte gibt die von ihm erwarteten Erklärungen ab, weil ihm hierfür Strafnachlaß gewährt wird“56. Dabei aber wird „das wahre Ausmaß der Schuld … nicht festgestellt“, statt dessen „bemisst sich das Maß der Schuld … nach den Feststellungen, die das Gericht lediglich aufgrund der geständigen Einlassungen des Angeklagten und nach einer regelmäßig kupierten Beweisaufnahme getroffen hat“, so dass die Schuldfeststellung „der Prozessökonomie zum Opfer“ fällt und „durch eine Schuldannahme ersetzt“ wird57: Das Geständnis wird als eine dem Gericht für den zu gewährenden Strafrabatt geschuldete Gegenleistung ohne inhaltliche Überprüfung und damit unter

Weider StraFo 2003, 406 (408); Bertram Schmitt GA 2001, 411 (420). Vgl. dazu auch Pfister StraFo 2006, 349 (351). 53 Linden, FS BRAK (2006), S. 385; Pfister StraFo 2006, 349 (351). 54 Pfister StraFo 2006, 349 (351). 55 Linden, FS BRAK (2006), S. 385; vgl. auch Fahl ZStW 117 (2005), 605. 56 Linden, ibid.; ähnlich Ignor, FS BRAK (2006), S. 328. 57 Linden, ibid., S. 386. 51 52

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bewußter Missachtung des Gebots der bestmöglichen Sachaufklärung hingenommen. In der Literatur indessen finden sich Versuche, eben diese Praxis mit dem derzeitigen Recht für vereinbar zu halten. a) So wird vorgebracht, das Prinzip der materiellen Wahrheit sei nicht absolut zu verstehen und Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit geböten nur, „dass der Beschuldigte nicht zu Unrecht bestraft“ werde58, und dieses Gebot werde durch Absprachen nicht beeinträchtigt59. Das erscheint schon deshalb unvertretbar, weil dabei die Möglichkeit übersehen wird, auch den unschuldigen Beschuldigten zu einem unrichtigen Geständnis und zu einer dementsprechenden Absprache zu veranlassen (s. dazu auch u. VI b), wie z.B. in jenem Verfahren wegen § 227 StGB, in dem das Gericht dem Beschuldigten die Verhängung einer zur Bewährung auszusetzenden Freiheitsstrafe von zwei Jahren anbot, dann aber, nachdem der Angeklagte dieses Angebot unter Berufung auf seine angebliche Unschuld ablehnte, zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe verurteilte, die in der auf die erfolgreiche Revision folgenden Hauptverhandlung durch eine sechsmonatige Freiheitsstrafe wegen einfacher Körperverletzung ersetzt wurde, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde60. Darüber hinaus aber verkennt diese Argumentation gröblich, dass eine rechtsstaatliche Verfahrensweise nicht nur verlangt, dass Unschuldige nicht bestraft werden dürfen, sondern auch, dass Schuldige dem Maß ihrer Schuld entsprechend zu bestrafen sind: Zur Verwirklichung des Rechtsstaats ist es notwendig, dass „Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze … einer gerechten Bestrafung zugeführt werden“61. b) § 244 Abs. 2 StPO normiert die dem Rechtsstaatsprinzip entfließende Pflicht zur Ermittlung des verfahrensgegenständlichen Sachverhalts mit dem Ziel, diesen der Wahrheit entsprechend so umfassend und genau festzustellen, wie es dem Gericht möglich ist. Eine Beeinträchtigung dieser Verpflichtung durch Absprachen ist von vereinzelt gebliebenen Stimmen verneint worden, welche diese Verpflichtung der Disposition von Staatsanwaltschaft und Verteidigung (einschließlich des Angeklagten) unterwerfen oder aber im Sinne des Konsensprinzips deuten wollen. 1. Hier sei zunächst der Versuch von Frister erwähnt, die Kompetenz zur Beurteilung eines Beweisantrags als entscheidungsunerheblich und damit zur Antizipation der Verfahrensbedeutsamkeit den Beweisantragsberechtig-

Ignor, FS BRAK (2006), S. 329. Ibid., S. 330. 60 So das von Erb mitgeteilte Verfahren (FS Blomeyer [2004], S. 752 f). 61 BVerfG NStZ 1987, 419; BGHSt 50, 40 (53). 58 59

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ten zuzuweisen62 – und damit ebenso, den Umfang der Beweisaufnahme und damit auch den Verfahrensgegenstand in die Hände der Antragsberechtigten zu legen und damit die Absprachenpraxis zu legitimieren63. Dem kann jedoch schon deshalb nicht zugestimmt werden, weil sich Beweisanträge ausschließlich an das Gericht wenden und diesem in § 244 Abs. 6 StPO die ausschließliche Kompetenz zur positiven oder negativen Entscheidung über den Beweisantrag zuweisen – wer aber dem jeweiligen Antragsberechtigten die ausschließliche Kompetenz zur Beurteilung der Verfahrensbedeutsamkeit zuweist, bindet das Gericht an die diesbezügliche Auffassung des jeweiligen Antragsberechtigten, nimmt ihm entgegen § 244 Abs. 6 StPO jegliches Ablehnungsrecht und verpflichtet dieses dazu, dem jeweiligen Beweisbegehren unabhängig von dessen tatsächlicher Verfahrensbedeutsamkeit stattzugeben64. 2. Einen weiteren, wenn auch ähnlichen, Versuch hat Jahn unternommen, indem er die Disponibilität der Aufklärungspflicht bei verfahrensbeendenden Absprachen mit dem Konsensprinzip zu begründen versucht. Er verwirft die Möglichkeit korrespondenztheoretischer Wahrheitsvorstellungen, denen er schlicht Naivität bescheinigt und plädiert für ein diskurstheoretisches Wahrheitsverständnis65; von hier aus unterscheidet er zwischen der dem Gericht zugewiesenen Ermittlungskompetenz und der davon zu trennenden Kompetenz zur Beurteilung der Verfahrensbedeutsamkeit66. Dem kann nicht gefolgt werden. Eine eingehende Untersuchung des Wahrheitsproblems im Recht kann hier nicht geleistet werden67. Gleichwohl läßt sich Jahn schon die Kurzschlüssigkeit seiner Beweisführung entgegenhalten. Wenn er es auch zu Recht für unmöglich hält, dass der Mensch die Wahrheit umfassend erkennen kann, so berechtigt dies doch nicht dazu, etwa die Existenz der Wahrheit zu leugnen, deshalb die Suche nach der objektiven Wahrheit abzulehnen und statt dessen nur auf den Konsens darüber abzustellen, dass ein Geschehen wahrheitsgemäß festgestellt wurde: Wenn A dem B mit einem Messer schwere körperliche Verletzungen zufügt, so läßt sich dieses Geschehen ebensowenig leugnen wie jene unvorstellbaren Verbrechen, die im vorigen Jahrhundert von kriminellen Diktatoren begangen worden sind. Das

Frister ZStW 105 (1993), 340 (351). Gössel, Gollwitzer-Kolloquium (2004), S. 47 (63). 64 Gössel (Fn. 63), S. 58. 65 Jahn ZStW 118 (2006), 427 (454 ff.). 66 Jahn ZStW 118 (2006), 427 (444). 67 Vgl. dazu Gössel, Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit im Strafprozeß? (2000). 62 63

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tatsächliche Geschehen solcher Verbrechen ist das objektiv wahre Geschehen, welches das Gericht zu ermitteln hat, wenn es denn angeklagt wird. Ist es auch unmöglich, ein tatsächliches Geschehen umfassend und lückenlos zu ermitteln, so existiert es doch unabhängig von dieser Unmöglichkeit auch dann, wenn in einem Gerichtsverfahren ein Konsens über die Nichtexistenz eines Verbrechens (etwa des Holocaust) hergestellt wird68: Die objektive Wahrheit existiert also ebenso wie die Möglichkeit eines inhaltlich unrichtigen Konsenses über das, was wahr ist. In einem rechtsstaatlichen Strafverfahren kann es deshalb nur darum gehen, diese existierende objektive Wahrheit soweit wie nur irgend möglich herauszufinden – dass sich dabei alle Verfahrensbeteiligten je verschiedene Bilder vom wahrheitsgemäßen Geschehen machen, ist zwar unvermeidlich, berechtigt aber nicht dazu, einen Konsens aller Beteiligter für verbindlich zu erklären: stellt doch § 261 StPO eindeutig auf die Überzeugung des Gerichts ab und damit auf dessen Wahrheitsbild. Auch wenn dieses Wahrheitsbild nicht in allen Fällen überzeugen mag, so läßt es sich doch im weiteren gerichtlichen Instanzenzug auf seine Vereinbarkeit mit der historischen Wahrheit überprüfen – und damit erweist sich die Existenz der Wahrheit als Voraussetzung jeder Überprüfung von Urteilen durch Rechtsmittel: Würde statt dessen ein Konsens über den wahren Verlauf eines dem Verfahren zugrunde liegenden Geschehnisse für entscheidend gehalten, so wäre die Wahrheit schon in dem Verfahren gefunden, in dem die Beteiligten konsentieren – die Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit des Konsenses in Rechtsmittelverfahren wäre überflüssig. Wer korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriffe ablehnt, entzieht damit jeglicher Forschung die Grundlage: ist es doch erst die Existenz der Wahrheit, etwa über den Lauf der Gestirne, die Vorgänge in einem Atom und die Gesetze der Schwerkraft, die uns dazu bringt, dieser Wahrheit unabhängig davon näher zu kommen, dass wir sie jemals umfassend erfahren werden. Über die Wahrheit naturwissenschaftlicher Vorgänge entscheiden nicht irgendwelche konsentierenden Personen69, sondern allein diese Vorgänge selbst – und ein etwaiger Konsens kann sich nur darauf beziehen, dass diese Vorgänge in korrespondenztheoretischem Sinne zutreffend beschrieben wurden. Erst die Existenz der objektiven Wahrheit erlaubt dem Menschen, sich in der Umwelt zu orientieren und sein Leben sinnvoll zu

68 Hier führt auch die Diskurstheorie von Habermas (vgl. z.B. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns [1984]; ders., FS Schulz [1973], S. 273) deshalb nicht zu praktikablen Ergebnissen, weil sich die ideale Sprechsituation als notwendige Voraussetzung eines Konsenses nicht herstellen läßt. 69 Zur Diskurstheorie von Habermas vgl. Fn. 68.

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gestalten: es erscheint naiv kurzschlüssig, mit der Konsenstheorie aus der Unmöglichkeit einer umfassenden Wahrheitserkenntnis die Nichtexistenz objektiver Wahrheiten zu folgern und deshalb das Streben nach der Erkenntnis dieser Wahrheiten aufzugeben. Wer sich mit dem Konsens begnügt, hört auf, weiter zu forschen – und weiterzudenken. Damit erscheint Jahns konsenstheoretischer Wahrheitsbegriff als praktisch unbrauchbar und folglich schon deshalb als ungeeignet, die Zuweisung der Ermittlungskompetenz an das Gericht von der Kompetenz zur Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit zu trennen. Im übrigen aber verkennt Jahn Inhalt und Bedeutung des Begriffs „Beweis“ und damit auch den der Beweisaufnahme, die dem gesetzlichen Wortlaut allein dem Gericht zugewiesen ist. Bekanntlich können nur Tatsachen Gegenstand der Beweisaufnahme sein, also festgestellt werden. Die Feststellung von Tatsachen setzt zunächst deren sinnliche Wahrnehmung voraus, zugleich aber zudem auch deren rechtliche Würdigung als relevant im Hinblick auf das im jeweiligen Verfahrensstadium verfolgte Ziel: Nicht irgendwelche Tatsachen beliebiger Art soll das Gericht feststellen, sondern nur diejenigen, die ein Erreichen des jeweiligen Verfahrensziels (Einstellung, Anklage, Eröffnung des Hauptverfahrens, Urteil) erlauben70. Mit anderen Worten: Die Kompetenz zur Erforschung der Wahrheit in der Hauptverhandlung ist schon gesetzlich beschränkt auf verfahrensbedeutsame Tatsachen. Wenn Jahn ausführt, die „exklusive gerichtliche Zuständigkeit für die weitere Durchführung der Beweisaufnahme“ solle so verstanden werden, dass zuvor geklärt werden müsse, „ob eine Tatsache oder ein Beweismittel für das Ergebnis belangreich“ sei71, scheidet er die Bewertung von Tatsachen als verfahrensbedeutsam von der Tatsachenfeststellung als einem der Bewertung nachfolgenden Vorgang. Lassen sich auch Tatsachenbewertung und -feststellung durchaus unterscheiden, so sind aber beide doch untrennbar miteinander verwoben72, worauf schon Gerhard Fezer, dem diese Darlegungen in Verbundenheit gewidmet sind, hingewiesen hat73: wie schon die Feststellung von Tatsachen im Hinblick auf deren Verfahrensrelevanz erfolgt, so auch deren Beurteilung als verfahrensrelevant im Hinblick auf die je festzustellende Tatsache74. Damit aber ist es notwendig, Feststellung und Beurteilung von Tatsachen nur einem einzigen Kompetenzträger zuzuweisen: Wird nach

LR/Gössel, 26. Aufl. (2006), Einl. L Rn. 1 ff. Jahn ZStW 118 (2006), 427 (444). 72 Treffend Bertram Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß (1992), S. 394. 73 Fezer, FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 858. 74 LR/Gössel (Fn. 70), Einl. L Rn. 4. 70 71

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dem Vorschlag von Jahn die Feststellungskompetenz dem Gericht ohne Beurteilungskompetenz zugewiesen, wird die Feststellung ziellos, wird die Kompetenz zur Beurteilung als verfahrensrelevant ohne Feststellungskompetenz den Antragsberechtigten zugewiesen, so wird die Beurteilungskompetenz inhaltslos. Mit anderen Worten: Jahn verkennt Wesen und Bedeutung des Beweisens75 und übersieht zudem, dass sein Vorschlag mit § 261 nicht vereinbar ist: Über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung kann das Gericht nur entscheiden, wenn es damit auch über die Verfahrenserheblichkeit der den Gegenstand der Beweisaufnahme bildenden Tatsachen entscheiden kann – besitzen die Beweisantragsberechtigten und eben nicht das Gericht die Kompetenz zur Entscheidung über die Verfahrenserheblichkeit, so gerät dies in einen unauflöslichen Widerspruch zu dem in § 261 StPO normierten Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung.

III. Das Öffentlichkeitsprinzip a) „Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen ist ein Grundprinzip der demokratischen Gesellschaft“76; deshalb gehört auch „die Öffentlichkeit des Strafverfahrens zu den grundlegenden Einrichtungen des Rechtsstaats“. Sie soll „gewährleisten, daß sich die Rechtsprechung der Gerichte grundsätzlich … nicht hinter verschlossenen Türen abspielt“ und bezweckt die Erhaltung des öffentlichen Vertrauens „in die Unabhängigkeit der Gerichte“77 und ebenso in die Unabhängigkeit der Rechtsprechung der unabhängigen Gerichte78: soll doch so verhindert werden, „daß sachfremde, das Licht der Öffentlichkeit scheuende Umstände auf das Gericht und damit auf das Urteil Einfluß gewinnen“79; Mündlichkeit und Unmittelbarkeitsprinzipien sind notwendige Ergänzungen der Öffentlichkeitsmaxime, weil erst diese Grundsätze die Vorgänge im Gerichtssaal transparent werden lassen und damit die notwendige Kontrolle der Öffentlichkeit ermöglichen80, die freilich in einem

Gegen Jahn auch Weßlau StraFo 2007, 1 (4, Fn. 26): Verwischung der im geltenden Recht verankerten „Kompetenz- und Verantwortungszuweisung zugunsten einer höchst eigenwilligen Auslegung des § 244 Abs. 2 StPO“. 76 LR/Gollwitzer, 25. Aufl. (2005), Art. 6 MRK/14 IPBPR Rn. 86; Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. (2007), Rn. 695. 77 BGHSt 9, 280 (281). 78 RGSt 70, 109 (112); BGHSt 3, 386 (387); Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. (1998), § 45 Rn. 2. 79 BGHSt 9, 280 (282). 80 Vgl. dazu BGHSt 43, 195 (205). 75

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ausgewogenen Verhältnis zu den schutzbedürftigen Persönlichkeitsrechten des Angeklagten stehen muss und deshalb hinter diese zurücktreten kann81. Dieser überragenden Bedeutung wegen ist das Recht jeder Person auf eine öffentliche Verhandlung und auch Urteilsverkündung in Art. 6 Abs. 1 Satz EMRK als ein Menschenrecht ausgestaltet worden und ebenso in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 IPBPR als ein aus der Menschenwürde herzuleitendes Recht82. Vorschläge zur grundsätzlichen Einschränkung dieses Rechts außerhalb des notwendigen Persönlichkeitsschutzes von Verfahrensbeteiligten können deshalb nicht akzeptiert werden. 1. Insbesondere erscheinen so Behauptungen verfehlt, im Hinblick auf ein angeblich auf Sensationsprozesse beschränktes Interesse der Öffentlichkeit könne diesem Grundsatz etwa nur noch „eine eingeschränkte Reichweite“ zugebilligt werden83 – liegt dem doch eine schwerwiegende Verkennung der Öffentlichkeitsmaxime als eines rechtsstaatlichen, demokratischen Grundprinzips zugrunde, wie dies soeben näher ausgeführt wurde. 2. Ebenso verfehlt erscheinen vereinzelt erhobene Forderungen nach einer Zurückdrängung der öffentlichen Hauptverhandlung zugunsten einer sog. „Parteiöffentlichkeit“84. Das Menschenrecht (o. vor 1) aus Art. 6 Abs. 1 Satz 2 EMRK und Art. 14 Abs. 1 Satz 2 IPBPR versteht unter Öffentlichkeit „die Volksöffentlichkeit …, die bloße Parteiöffentlichkeit genügt hierfür nicht“85, wobei unter Volksöffentlichkeit „die Zugänglichkeit der Verhandlung für jedermann“ zu verstehen ist86. Das praktisch geübte Abspracheverfahren kann indessen in der Regel nicht einmal als „parteiöffentlich“ bezeichnet werden. Nicht selten wird der Inhalt der Absprache (Geständnis gegen Strafmilderung) allein zwischen Berufsrichtern, Staatsanwaltschaft und Verteidiger ausgehandelt und der Beschuldigte erst danach vom Ergebnis dieses Handels informiert, den er nur noch ablehnen oder akzeptieren, in aller Regel aber nicht mehr inhaltlich beeinflussen kann87. Selbst wenn man der Auffassung sein sollte, nur

Roxin (Fn. 78), § 45 Rn. 3. Präambel zum IPBPR, abgedruckt bei LR/Gollwitzer (Fn. 76), Bd. 8. 83 So aber unter Verkennung der soeben aufgezeigten Funktion des Öffentlichkeitsprinzips zu Unrecht LR/Kühne, 26. Aufl. (2006), Einl. I Rn. 70. 84 Satzger, Chancen und Risiken einer Reform des Ermittlungsverfahrens, Gutachen C für den 65. DJT, Bd. I (2004), S. C 95; abl. dazu Gössel JR 2004, 313 (316 ff.). 85 LR/Gollwitzer (Fn. 76), Art. 6 MRK/14 IPBPR Rn. 87 mit zahlr. Nachw. u.a. aus der Rechtsprechung des EGMR. 86 SK-StPO/Paeffgen, 35. Lfg. (2004), Art. 6 MRK Rn. 87. 87 Schünemann NJW 1989, 1895 (1901). Die Nichtbeteiligung des Beschuldigten wird zwar auch von der rechtstatsächlichen Untersuchung bestätigt von Altenhain et al. (Fn. 14), S. 338 f, 81 82

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auf diese Weise könne für den Beschuldigten das bestmögliche Ergebnis erzielt werden88, so kann dieser Gesichtspunkt unter dem Blickwinkel der im Sinne der Volksöffentlichkeit zu verstehenden Öffentlichkeitsmaxime doch keine Rolle spielen: geht es doch um die demokratische Kontrolle der Rechtsprechung und um die Wahrung des Vertrauens in eine gerechte Rechtsprechung – im übrigen bleibt bei der Beschränkung dieser Problematik auf die Interessen des Angeklagten die rechtsstaatliche Verpflichtung unbeachtet, „daß Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden“ müssen89. Schon die Parteiöffentlichkeit, die Volksöffentlichkeit erst recht, sind weiter dadurch als beeinträchtigt anzusehen, dass die Abreden regelmäßig auch ohne die Beteiligung der Schöffen90 und auch der Tatopfer91 (s. dazu u. VI a) vereinbart werden. b) Der Vierte Strafsenat ist dieser soeben aufgezeigten Bedeutung des Öffentlichkeitsprinzips insoweit gerecht worden, indem er entscheidend darauf abstellt, dass dieses Prinzip „das Informationsinteresse der Allgemeinheit und die Kontrolle der Justiz gewährleisten und somit das Vertrauen in die Rechtsprechung der Gerichte fördern“ wolle92. Deshalb verlangt dieser Senat, Absprachen dürften nicht „aus der öffentlichen Hauptverhandlung hinausverlagert“, müßten vielmehr in dieser „offengelegt“ werden, weil anders „die Hauptverhandlung zur bloßen Fassade“ werde, „die jeglichen Einblick der Öffentlichkeit in die dem Urteil zugrunde liegenden Umstände verschleiert“: Absprachen müssten deshalb „in öffentlicher Hauptverhandlung – nach Beratung des gesamten Spruchkörpers – erfolgen“, insbesondere dürften Absprachen „nicht unter dem Deckmantel der Heimlichkeit und der Unkontrollierbarkeit stattfinden“ und als „gleichsam … eigenständiges, informelles Verfahren neben der eigentlichen Hauptverhandlung geführt werden“, auch sei „das Ergebnis der Absprache“ in das Protokoll der

jedoch relativiert durch Zurückweisung eines angeblich unberechtigten Verdachts, dabei würde man „die Verteidiger unter den Generalverdacht stellen, bei der Suche nach einer konsensualen Lösung die Interessen notfalls zu opfern“ – indessen erscheint hier doch ein möglicher Konflikt zwischen den Interessen des Verteidigers (schnelle und kostengünstige Verfahrenserledigung) und denen des Beschuldigten (bestmögliche Verteidigung) sehr wahrscheinlich, was von Altenhain et al. nicht ausreichend berücksichtigt worden ist. 88 Altenhain et al. (Fn. 14), S. 337 f. 89 BGHSt 50, 40 (53) unter Bezugnahme auf BVerfG NJW 1987, 2662. 90 Altenhain et al. (Fn. 14), S. 89. 91 Vgl. dazu Gössel JR 2004, 313 (318). 92 BGHSt 43, 195 (205).

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Hauptverhandlung aufzunehmen93, was allerdings Vorgespräche nicht ausschließe, deren Ergebnis in der Hauptverhandlung offengelegt werde94. Indessen: Erkennt der Senat auch die Bedeutung des Öffentlichkeitsprinzips uneingeschränkt an, so verleugnet er doch dessen wahre Bedeutung, indem er Vorgespräche zuläßt. Auch wenn deren Inhalt in der Hauptverhandlung offengelegt werden muss, so wird doch gerade dadurch ermöglicht, was der Senat verhindern will: dass die Hauptverhandlung zur bloßen Fassade wird, in der der Vorgang der Verständigung gerade nicht unter der Kontrolle der „Volksöffentlichkeit“ (o. a 2) steht, sondern nur noch das Ergebnis des Verständigungsvorgangs verkündet wird95, wobei „die Hauptverhandlung entwertet“ und „im schlimmsten Fall zu einer unwürdigen Schau“ verkommt, „in der die Akteure das heimlich hinter den Kulissen längst ausgehandelte Ergebnis nur noch … abnicken“, um einer inhaltsleeren Form zu genügen96 – und überdies Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsprinzip der Hauptverhandlung hinsichtlich des Zustandekommens der Absprache auf der Strecke bleiben. c) Der Große Strafsenat übernimmt zwar formal die vom Vierten Strafsenat für die Zulässigkeit von Absprachen aufgestellte Voraussetzung einer Beachtung des Öffentlichkeitsprinzips97, dürfte diese aber doch insoweit wieder preisgeben, als er zwar erkennt, dass „sich die Verständigung zwischen den Prozeßbeteiligten zunehmend mit einem mit der Strafprozeßordnung problemlos zu vereinbarenden ‚offenen Verhandeln’ … entfernt“, dies aber anscheinend hinzunehmen bereit ist, jedoch ohne den Grundsatz der „Volksöffentlichkeit“ (o. a 2) ausreichend zu berücksichtigen98 und auch nicht die damit notwendig verbundene weitgehende Einschränkung des Mündlichkeits- und des Unmittelbarkeitsprinzips. Entsprechendes gilt für den E-BMJ, der in einem neu in § 273 StPO einzufügenden Abs. 1a vorsieht (Art. 1 Nr. 9), „den wesentlichen Ablauf und Inhalt sowie das Ergebnis einer Verständigung“ zu protokollieren – ebensowenig befriedigen die Vorschriften des § 243a Abs. 4 Satz 1 und 4 i.d.F. von Art. 1 Nr. 5 E-BR, die nur eine Protokollierung des, allerdings zu begründenden, gerichtlichen Strafrahmenvorschlags vorschreiben wie zudem die dazu Stellung nehmenden Erklärungen der Staatsanwaltschaft, des Angeklagten und seines Ver-

BGHSt 43, 195 (205 f.). BGHSt 43, 195 (206). 95 Bertram Schmitt GA 2001, 411 (423 f.). 96 Fahl ZStW 117 (2005), 605. 97 BGHSt 50, 40 (56). 98 BGHSt 50, 40 (63 f.). 93 94

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teidigers und auch des Nebenklägers. Die vom Öffentlichkeitsprinzip verlangte Transparenz des Zustandekommens von Absprachen unter der Kontrolle der Öffentlichkeit wird damit von den Entwürfen ebensowenig gewährt (Gleiches gilt für Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsprinzip) wie von der Entscheidung des Großen Strafsenats99. d) In der tatsächlich geübten Absprachenpraxis ist der rechtstatsächlichen Untersuchung von Altenhain et al. zufolge „die Einhaltung“ der diesbezüglich „vom BGH aufgestellten Regel … eindeutig die Ausnahme, und die dortige Ausnahme, wonach Vorgespräche vor oder außerhalb der der Hauptverhandlung nicht ausgeschlossen sind100, entspricht dem regelmäßigen Vorgehen der Praktiker“101: wird doch „in Gesprächen außerhalb der Hauptverhandlung … die gesamte Bandbreite möglicher Verständigungsinhalte erörtert, und das mögliche Strafmaß im Falle einer Absprache … von 96% der Befragten sogar als zentraler Inhalt bezeichnet“102. Insgesamt: In ihrem übermäßigen Streben nach einer arbeitsersparenden Absprache werden die Vorgaben des Vierten Strafsenats des Bundesgerichtshofs in der Praxis weitestgehend ignoriert und wohl auch deshalb von E-BMJ und EBR, wohl auch vom Großen Strafsenat, nur noch inhaltsleer rein formal berücksichtigt.

IV. „Sanktionsschere“ und Schuldspruch a) Soll das Geständnis des Angeklagten mit einem Strafrabatt honoriert werden (o. A II b 1), so kann die Absprache nur gelingen, wenn dem Angeklagten die Höhe der Strafmilderung bekannt ist, weshalb ihm zu eröffnen ist, welche Strafe er bei einem Geständnis zu erwarten hat und welche ihm ohne Geständnis droht: ihm ist die sog. „Sanktionsschere“ mitzuteilen103. Um die Schuldangemessenheit des Strafausspruchs zu wahren, setzt diese Mitteilung solche gerichtlichen Ermittlungen zu Schuld- und Schuldumfang

99 Ähnliches gilt auch für den Versuch von Ignor, FS BRAK (2006), S. 323 ff., die Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes zu retten: wenn diese Maxime der Kontrolle der Rechtsprechung durch die Öffentlichkeit dienen soll, wie Ignor zutreffend erkennt, dann ist es widersprüchlich, sich damit zu begnügen, dass „die Absprache in der Hauptverhandlung zustande kommt und deren tragende Gesichtspunkte dargelegt werden“: Die Verhandlung über den Inhalt der Absprache bleibt damit der Hauptverhandlung und der Kontrolle durch die Öffentlichkeit entzogen. 100 BGHSt 43, 195 (206). 101 Altenhain et al. (Fn. 14), S. 219; vgl. auch Altenhain/Haimerl GA 2005, 281 ff. 102 Altenhain/Hagemeier/Haimerl NStZ 2007, 71, 74. 103 Ignor, FS BRAK (2006), S. 325.

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voraus, die dem Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung genügen. Die Sanktionsschere selbst darf nicht zu weit geöffnet werden. Die Strafe darf den Rahmen einer noch schuldangemessenen Sanktion weder nach oben noch nach unten unterschreiten: Überschreitet „die ohne Absprache in Aussicht gestellte Sanktion das vertretbare Maß“, so wird „der Angeklagte inakzeptablem Druck ausgesetzt“104. Diesen Grundsätzen dürfte § 257c Abs. 2 StPO i.d.F. von Art. 1 Nr. 7 EBMJ in etwa genügen: Hiernach kann die Sanktionsschere „unter freier Würdigung aller Umstände des Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen“ angegeben werden. Gleiches gilt für § 243a Abs. 3 Satz 1 StPO i.d.F. von Art. 1 Nr. 5 E-BR. b) Das Verbot, den Schuldspruch zum Gegenstand einer Absprache zu machen, wird lediglich formal insoweit gewahrt, als nur eine Obergrenze für den Strafausspruch genannt wird, die nicht als die endgültig festzusetzende bezeichnet wird. Inhaltlich aber bleibt dieses Verbot auf mehrfache Weise unbeachtet105. 1. Die verfassungsrechtlich notwendige Schuldangemessenheit der Strafe setzt schon aus denkgesetzlichen Gründen die Feststellung des Schuldumfangs voraus: denkbare untere und obere Strafgrenzen können folglich erst aufgrund der gerichtlichen Überzeugung von der Schuld des Angeklagten und des Umfangs seiner Schuld beurteilt werden. Kann und darf diese Überzeugung aber erst aufgrund – damit nach – der endgültigen Urteilsberatung gebildet werden, so können vor dieser Beratung keine das Gericht bindenden Strafober- und -untergrenzen mitgeteilt werden, soll der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gewahrt bleiben106. Wer sich dieser logischen Konsequenz entziehen will, kann sich entgegen dem Vierten Strafsenat auch nicht darauf berufen, dass der Strafprozeßordnung ein Vorurteil über das mögliche Verfahrensergebnis nicht fremd sei und bereits dem Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens zugrun-

BGHSt 50, 40 (50). Die rechtstatsächlichen Untersuchungen von Altenhain et al. (Fn. 14) kommen zu dem lapidaren Ergebnis: „Auch der Schuldspruch ist Gegenstand von Verständigungsabsprachen“, S. 333 m.w.N. auf S. 129 ff. 106 Das übersehen Altenhain et al. (Fn. 14), S. 336 mit ihrer Bemerkung, dem Angeklagten bringe demgegenüber die Mitteilung „einer (verbindlichen) „Punktzusage“ keinen Gewinn“ (S. 336). Diese Argumentation betrachtet die Problematik einseitig unter dem Gesichtspunkt der Interessen eines schuldigen Angeklagten unter Vernachlässigung des Aspekts einer rechtsstaatlichen Verfahrensführung und damit des Prinzips der freien Beweiswürdigung, welches auch nicht zugunsten des Angeklagten außer acht gelassen werden darf; vgl. dazu auch die überzeugenden Ausführungen des Vierten Strafsenats in BGHSt 43, 195 (210 f.). 104 105

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de liege107: Dabei wird der grundlegende Unterschied zwischen gerichtlichen Entscheidungen über Schuld und Strafe einerseits und sonstigen gerichtlichen Prozesshandlungen in schwerwiegender Weise verkannt: Entscheidungen über Schuld und Strafe dürfen gerade nicht auf Vorurteile, etwa auf den zur Eröffnung des Hauptverfahrens ausreichenden hinreichenden Tatverdacht, sondern nur auf die wirkliche und endgültige Überzeugung des Gerichts gegründet werden – und dieser Unterschied zeigt sich auch darin, dass nach § 263 Abs. 1 StPO dem Angeklagten nachteilige Entscheidungen über Schuld- und Straffestsetzung einer Zweidrittelmehrheit des jeweiligen Spruchkörpers bedürfen, während sonstige Entscheidungen, damit auch die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens, nach § 196 Abs. 1 GVG mit einfacher Mehrheit getroffen werden. 2. Läßt sich so schon die sog. „Sanktionsschere“ nur unter Außerachtlassung der vom Großen Strafsenat selbst aufgestellten Voraussetzungen über die Überzeugungsbildung des Gerichts hinsichtlich Schuld und Schuldumfang mitteilen, so dient die „Sanktionsschere“ im Regelfall nur als Feigenblatt: tatsächlich wird die Existenz einer (angeblich auch unterschreitbaren) Strafobergrenze nur vorgetäuscht, die regelmäßig nichts anderes als die verbindliche Zusage des endgültigen Strafmaßes darstellt108 – und anders wird es im Regelfall wohl auch nicht zu Abspracheregelungen kommen, wird doch den Angeklagten weniger eine mögliche Strafobergrenze interessieren, sondern vor allem eine genau bestimmte Rechtsfolge. Kennt er diese nicht, wird er nur selten zu einem „deal“ bereit sein109. 3. Absprachen auch über den Schuldspruch werden der Sache nach110 auch durch vereinbarte Verfahrenseinstellungen nach §§ 154, 154a StPO getroffen111, obwohl deren Voraussetzungen nicht vorliegen: zur Vermeidung von mit Arbeitsaufwand verbundenen, aber behebbaren Problemen bei der Beweisaufnahme. In Wahrheit wird das Verfahren wegen erheblich gewichtigerer Straftaten eingestellt als derjenigen, derentwegen das Verfahren fortgeführt wird. Entsprechendes gilt für die Einstellung des Verfahrens nach den §§ 153a StPO, obwohl die Schwere der Schuld einer Einstellung durchaus entgegensteht oder das öffentliche Interesse an der Strafverfol-

BGHSt 43, 195 (207 f.). Ebenso Lie Lien GA 2006, 129 (131); vgl. dazu aber auch das Ergebnis der rechtstatsächlichen Untersuchungen von Altenhain et al. (Fn. 14), S. 174 f, 332. 109 Bertram Schmitt GA 2001, 411 (422 f.). 110 Zu diesem Ergebnis kommen auch die rechtstatsächlichen Untersuchungen von Altenhain et al. (Fn. 14), S. 129. 111 Bertram Schmitt GA 2001, 411 (414 ff.). 107 108

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gung auch durch die je erteilten Auflagen und Weisungen nicht beseitigt wird112. Auch Abreden zum Erlaß eines Strafbefehls sind hierher zu zählen, welche der Beschränkung auf die hier möglichen Rechtsfolgen dienen und zudem, um dem Beschuldigten die Bloßstellung in der Öffentlichkeit durch die Vermeidung einer Hauptverhandlung zu ersparen. c) Im Ergebnis zeigt sich: Die richtige Erkenntnis des Großen Strafsenats, eine Absprache über den Schuldspruch sei ausgeschlossen, weil dessen Grundlage der nach der Überzeugung des Gerichts tatsächlich gegebene Sachverhalt sei113, entzieht nahezu jeglicher relevanter Abredepraxis die Grundlage: kann doch diese Überzeugung des Gerichts erst nach lückenloser Erforschung des Sachverhalts in der abschließenden Urteilsberatung gebildet werden. Nun dienen aber Absprachen gerade umgekehrt dazu, dem Gericht diese umfassende Sachverhaltsermittlung und eine Vielzahl von Beweisanträgen zu ersparen und so die Schuld des Angeklagten gerade ohne die nach § 244 Abs. 2 StPO notwendige umfassende Untersuchung114 zu bejahen115, in der Regel nur auf ein Geständnis des Angeklagten zu stützen, dessen Glaubwürdigkeit das Gericht entgegen § 261 StPO de facto unterstellt und gerade nicht nachprüft116 – wäre tatsächlich ein inhaltlich über ein bloß formales Anerkenntnis oder eine bloße Unterwerfungserklärung hinausgehendes „Geständnis“ notwendig und müßte dieses wirklich einer Glaubwürdigkeitsprüfung unterzogen werden, so würde dies der erstrebten Verfahrenserleichterung in sehr vielen Fällen entgegenstehen117. In den meisten Fällen dürfte das Verlangen des Senats zudem deshalb „leerlaufen“, weil sich Geständnisse aufgrund einer Abrede erfahrungsgemäß ohnehin nur auf sicher nachweisbare Taten beziehen.

112 Vgl. hierzu die unvertretbare Entscheidung LG Bonn NJW 2001, 1736, in der die Einstellung auch damit begründet wird, weil unklar sei, ob die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage dem Angeklagten ein strafbares Verhalten vorwerfe, krit. dazu Hamm NJW 2001, 1694 f. und Wehnert StV 2002, 219. Hier ist ebenfalls die unhaltbare Einstellung im sog. Mannesmann-Verfahren zu erwähnen (LG Düsseldorf NJW 2004, 3275), die von Götz einer ebenso berechtigten wie vernichtenden Kritik unterzogen wird (NJW 2007, 419). 113 So schon der Vierte Strafsenat BGHSt 43, 195 (204); ebenso BGHSt 50, 40 (48). 114 Gössel, FS Böttcher (2007), S. 87 f. 115 So zutr. Theile StraFo 2005, 409 (410). 116 Vgl. Bertram Schmitt GA 2001, 411 (413). 117 Bertram Schmitt GA 2001, 411 (419 ff.).

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V. Rechtsmittelverzicht a) Schon der Vierte Strafsenat erklärte es für unzulässig, dass „sich das Gericht für das Inaussichtstellen einer milderen Strafe“ vom „Angeklagten versprechen läßt, daß dieser auf Rechtsmittel verzichten werde. Dies bedeutet … eine unzulässige Verknüpfung der Rechtsmittelbefugnis mit der Höhe der Strafe, auf die jene keinen Einfluß haben darf“118. Der Große Strafsenat hat diesen Grundsatz übernommen und erklärt „darüber hinausgehend … jedwedes Mitwirken des Gerichts an einem Rechtsmittelverzicht“ für „unzulässig“119 und erstreckt im Ergebnis „die Folge der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts“ grundsätzlich „auf alle Fälle, in denen überhaupt eine Urteilsabsprache erfolgt ist“, es sei denn, „dem Rechtsmittelberechtigten“ ist „über die Freiheit, unbeschadet der Absprache Rechtsmittel einlegen zu können, eine von der eigentlichen Rechtsmittelbelehrung abgehobene, qualifizierte Belehrung erteilt worden“120. Ist eine Absprache zustandegekommen, so wollen weder das Gericht, noch die Staatsanwaltschaft noch der Verteidiger die so erzielte erhebliche Arbeitserleichterung dadurch wieder aufs Spiel setzen, dass die auf die Absprache ergangene Entscheidung im Rechtsmittelverfahren aufgehoben wird; auch wird es dem Gericht entscheidend darauf ankommen, die Urteilsgründe i.S. des § 267 Abs. 4 Satz 1 StPO abgekürzt abfassen zu können. Deshalb wird in der Praxis von jeher ein Rechtsmittelverzicht des Angeklagten angestrebt, der regelmäßig als einziger ein Interesse daran haben kann, das mit der Absprache erreichte Ergebnis zunichte zu machen – und deshalb ist ein Rechtmittelverzicht entgegen den vom Bundesgerichtshof oben erwähnten Grundsätzen eben doch regelmäßig Gegenstand einer Absprache121. b) Erneut ist damit ein Widerspruch der vom Bundesgerichtshof für ein Abspracheverfahren aufgestellten Regeln zur Praxis der Absprachen festzustellen. Wenn auch der Bundesgerichtshof diese Regeln unzweifelhaft in der Absicht aufgestellt hat, auf diese Weise eine verwilderte Absprachenpraxis zu zähmen, dürften die erwähnten Gesetzesentwürfe trotz Übernahme der Regeln des Bundesgerichtshofs die gleichwohl die dagegen verstoßende Praxis auch weiterhin ermöglichen wollen.

BGHSt 43, 195 (204 f.). BGHSt 50, 40 (56). 120 BGHSt 50, 40 (60 f.); vgl. dazu auch BGH JR 2007, 83 mit krit. Anm. Gössel. 121 Beulke/Swoboda JZ 2005, 67 (70 f.); Fahl ZStW 117 (2005), 605 (619 f.); Leitner, FS BRAK (2006), S. 367: „tatrichterliche conditio sine qua non“; vgl. auch Weigend StV 2000, 63 (66). 118 119

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1. Zwar übernehmen beide Entwürfe die Forderung des Bundesgerichtshofs nach einer qualifizierten Belehrung des Angeklagten über seine Freiheit, unbeschadet der Absprache Rechtsmittel einlegen zu dürfen (§ 35a Satz 4 StPO i.d.F. von Art. 1 Nr. 1 E-BMJ; § 35a Satz 3 i.d.F. von Art. 1 Nr. 1 E-BR). Indessen fehlt in beiden Entwürfen eine Vorschrift über die grundsätzliche Unzulässigkeit eines Rechtsmittelverzichts gegen alle Urteile, die auf einer Absprache beruhen: lediglich der E-BMJ behandelt dieses Frage in unvollkommener Weise durch die Normierung der Unzulässigkeit eines Rechtsmittelverzichts, wenn es an der notwendigen qualifizierten Belehrung fehlt (§ 302 Abs. 1 Satz 2 i.d.F. von Art. 1 Nr. 10 E-BMJ). 2. Beide Entwürfe allerdings setzen die weitere Zulässigkeit der bisherigen und ständig geübten Praxis hinsichtlich des Rechtsmittelverzichts auf die Weise durch, dass die Statthaftigkeit der Rechtsmittel in einer Weise eingeschränkt wird, die den Rechtsmittelgerichten die Einhaltung der vom Bundesgerichtshof insoweit aufgestellten Regeln unmöglich macht. Am weitesten dürfte dabei der E-BR gehen, der schon die (allerdings gegen Urteile der Strafkammern ohnehin unstatthafte und deshalb bei Absprachen praktisch bedeutungslose, o. A III a) Berufung gegen solche Urteile für unstatthaft erklärt, die auf einer Absprache beruhen (§ 312 Satz 2 StPO i.d.F. von Art. 1 Nr. 7 E-BR). Auch die Zulässigkeit der Revision gegen Urteile, die auf einer Absprache beruhen, wird erheblich beschränkt: Sie kann nur noch auf eine Verletzung der im Zusammenhang mit der Absprache zu beachtenden Verfahrensvorschriften gestützt werden, immerhin aber auch noch auf die absoluten Revisionsgründe des § 338 StPO (§ 337 Abs. 3 StPO i.d.F. von Art. 1 Nr. 9 E-BR). Der E-BMJ sieht immerhin davon ab, schon die Berufung gegen auf einer Absprache beruhende Urteile für unzulässig zu erklären. Jedoch ist eine Beschränkung der Zulässigkeit der Revision in ähnlich weitem Umfang vorgesehen wie im E-BR. Allerdings wird die Revision gegen das auf einer Absprache beruhende Urteil zudem auch dann zugelassen, wenn sie auf die Verletzung der Grundsätze eines fairen Verfahrens gestützt wird (§ 337 Abs. 3 StPO i.d.F. von Art. 1 Nr. 11 E-BMJ). 3. Insgesamt: Beide Entwürfe schreiben nur teilweise die Beachtung der vom Bundesgerichtshof aufgestellten Regeln vor, verhindern aber deren Einhaltung durch die Beschränkung der Zulässigkeit von Rechtsmitteln.

VI. Beeinträchtigung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit Die dem Rechtsstaatsprinzip entfließende Notwendigkeit der Funktionstüchtigkeit der Rechtsprechung, insbesondere der Strafgerichtsbarkeit, verlangt unabdingbar die Herstellung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit;

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können diese Ziele auch nicht immer erreicht werden, so sind sie doch wenigstens anzustreben. In mehrfacher Weise verzichtet die Praxis des Abredeverfahrens indessen auf die Verwirklichung dieser Ziele, indem sie gar nicht erst angestrebt werden. a) Rechtsfrieden kann nur erreicht werden, werden die Opferinteressen angemessen berücksichtigt. Das erkennt und verlangt auch der Große Strafsenat: Aufgabe eines sozialen Rechtsstaats ist es „auch, daß die Belange des Opfers gewahrt werden“122, weshalb er mit Recht fordert: „Alle Verfahrensbeteiligten sind“ in das Zustandekommen einer Abrede „einzubeziehen“, und zwar in öffentlicher Hauptverhandlung123. 1. Im Widerspruch dazu hat das Opfer grundsätzlich keine Möglichkeit, das Zustandekommen einer Abrede mitzubestimmen. Die Zeugenstellung erlaubt offensichtlich keine derartige Mitbestimmung, und selbst der TäterOpfer-Ausgleich nach § 46a StGB begnügt sich lediglich mit tatsächlicher Schadenswiedergutmachung, ja sogar mit dem bloßen „Bemühen“ des Täters, „einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen“ (§ 46a Nr. 1 StGB); selbst als Nebenkläger ist ihm jede Mitbestimmung über das Zustandekommens einer Abrede verwehrt. Die mehrfach erwähnten beiden Gesetzesentwürfe sehen zwar eine formale Beteiligung des Nebenklägers vor, verweigern diesem jedoch eine aktive Beteiligung am Zustandekommen der Absprache. Sowohl § 257c Abs. 3 Satz 1 StPO i.d.F. von Art. 1 Nr. 7 EBMJ als auch § 243a Abs. 4 Satz 2 StPO i.d.F. von Art. 1 Nr. 5 E-BR räumen dem Nebenkläger zwar die „Gelegenheit zur Stellungnahme“ zu der von den anderen Verfahrensbeteiligten erarbeiteten Abrede vor, verzichten aber auf dessen Zustimmung als Voraussetzung des Zustandekommens der Abrede. Hier hilft auch die Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers (§§ 397, 400 StPO) nicht weiter: Die Revision kann im wesentlichen nur auf die Beachtung der in den Entwürfen vorgesehenen Regeln über das Zustandekommen der Absprache gestützt werden, nicht aber etwa auf etwaige materiell-rechtliche Fehler des auf die Absprache ergangenen Urteils, also weder auf einen fehlerhaften Schuldspruch noch auf eine fehlerhafte Strafzumessung – die absoluten Revisionsgründe werden dem Nebenkläger in der Regel ebensowenig weiterhelfen wie die Verletzung der Grundsätze eines fairen Verfahren (vgl. § 337 Abs. 3 StPO i.d.F. von Art. 1 Nr. 9 E-BR und § 337 Abs. 3 i.d.F. von Art. 1 Nr. 11 E-BMJ).

BGHSt 50, 40 (55). BGHSt 43, 195; von BGHSt 50, 40 (50) zu den „Mindestbedingungen“ von Absprachen gerechnet. 122 123

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2. Mit diesem weitgehenden Ausschluß des Opfers und Nebenklägers durch Praxis und Gesetzgebungsentwürfe sind erhebliche „negative(n) Wirkungen … auf die Öffentlichkeit und auf dass Rechtsbewußtsein unserer Gesellschaft“124, verbunden, wie zudem auf dasjenige des Opfers. Zudem werden Herkunft und Grund der Verstaatlichung der strafverfolgenden Tätigkeit missachtet: Wird die ursprünglich private Strafverfolgung dem Opfer aus der Hand genommen, darf der Staat die Opferinteressen nicht unberücksichtigt lassen. b) Rechtsfrieden kann auch nicht erreicht werden, wenn Abreden erzwungen werden (sog. Zwangsdeal). Zwang in der Anfangszeit der Abredepraxis zunächst überwiegend die Verteidigung das Gericht zu solchen Abreden mit einer Vielzahl von Anträgen, die das Verfahren bis zu dessen Verhinderung zu verzögern drohten125, so sind es nunmehr die Strafverfolgungsbehörden, die den Angeklagten mit der Androhung einer sonst drohenden weit höheren Strafe zu einer Absprache „Geständnis gegen Strafrabatt“ zu veranlassen suchen, insbesondere durch die Mitteilung der Sanktionsschere126. Zwangsabreden aber können offensichtlich nicht zum Rechtsfrieden führen. c) Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Geltung der Rechtsordnung und die Unabhängigkeit der Rechtsprechung (o. III a) und damit auch die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege werden massiv deshalb beeinträchtigt, weil die Abredepraxis de facto weit überwiegend nur in bestimmten Verfahren vor der Großen Strafkammer geübt wird: in BtM-Sachen, Wirtschafts- und Umweltstrafverfahren, Verfahren aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität (o. A III a), in denen nicht nur eine schwierige Sachaufklärung vermieden, sondern auch ebenso schwierige Rechtsfragen ungeklärt bleiben können127. De facto führt dies darüber hinaus dazu, in allen Verfahren, in denen die Sachverhaltsfeststellung und auch dessen rechtliche Beurteilung keinerlei Schwierigkeiten bereiten und die beteiligten Berufsjuristen sich folglich von einer Absprache keinerlei Vorteile versprechen, das Verfahren in einer dem Gesetz entsprechenden Weise durchzuführen und die bei Absprachen üblichen Strafrabatte nicht zu gewähren. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass auf diese Weise finanzkräftige Angeklagte bevorzugt werden, die finanziell in der Lage sind, sich die Dienste der Verteidiger zu

Terhorst GA 2002, 600 (607). Amelung StraFo 2001, 185; Weider StV 2002, 397. 126 Vgl. dazu z.B. Erb, FS Blomeyer (2004), S. 743; Weider StraFo 2003, 406 (408). 127 Vgl. dazu Landau/Eschelbach NJW 1999, 321; Linden, FS BRAK (2006), S. 384; Wehnert StV 2002, 219; vgl. auch Altenhain/Hagemeier/Haimerl NStZ 2007, 71, 72. 124 125

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sichern, welche Gericht und Staatsanwaltschaft das Ausmaß der in den jeweiligen Verfahren gegebenen tatsächlichen wie rechtlichen Schwierigkeiten verdeutlichen können: Der von Art. 3 GG verlangte gleiche Zugang aller Angeklagten zu Absprachen und den damit verbundenen Strafrabatten ist damit nicht mehr gewährleistet. So entsteht der Eindruck, das deutsche Strafverfahren führe zu einem „Zweiklassenstrafrecht“, in denen man finanzstarke Angeklagte in einer bis zur Verfahrenseinstellung gehenden Weise wegen der von ihnen begangenen auch schwerwiegenden Straftaten äußerst milde behandle, während wegen geringfügiger Straftaten Beschuldigte, die sich die Dienste der besten Verteidiger aus finanziellen Gründen nicht leisten können oder deshalb sogar unverteidigt bleiben, mit der ganzen Strenge des Gesetzes verfolgt würden: Eine für Rechtsbewusstsein und öffentliches Vertrauen in die Rechtsprechung verhängnisvolle Wiederkehr des Glaubens an das Sprichwort von den Großen, die man laufen lässt und den Kleinen, die man hängt128. d) Die mit der Zulassung de Absprachen verbundene Beschränkung der Öffentlichkeitsmaxime (o. III) führt in Verbindung mit der in den mehrfach erwähnten Gesetzesentwürfen vorgesehenen massiven Beschränkung einer möglichen Überprüfung der auf Abreden beruhenden Urteile im Rechtsmittelzug (o. V b) zu einer nicht hinnehmbaren Beeinträchtigung der Rechtssicherheit. Die fehlende Überprüfbarkeit ermöglicht die Außerachtlassung einmal schon aller Regeln des materiellen Rechts: Ob das Gericht das vom Angeklagten in einem Geständnis zugestandene Verhalten zu dessen Nachteil zu Recht als besonders schweren Fall des Betrugs (mit bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe bedroht) bewertet oder zu dessen Vorteil zu Unrecht nur als Kapitalanlagebetrug (Höchstgrenze drei Jahre Freiheitsstrafe), wird durch die Absprache jeglicher Nachprüfung entzogen und ermöglicht letztlich eine willkürliche Anwendung des materiellen Rechts, welche überdies eine sorgfältige Subsumtionsarbeit und eine ebenso sorgfältige Gesetzesauslegung der Gerichte derart verhindert, dass sogar der Verlust der Fähigkeit zu diesen Grundlagen jeder strafrichterlicher Tätigkeit befürchtet wird: Pfister begründet seine dahingehende Befürchtung mit der Erfahrung einer nachlassenden Qualität jener Strafurteile, die dem Bundesgerichtshof noch zur Überprüfung vorgelegt werden, was besonders auffällig bei den Kammern sei, „gegen deren Urteile nur selten Revision eingelegt“ werde, bei denen

128 Vgl. dazu Schmidt-Hieber NJW 1990, 1886 und DRiZ 1990, 320 (323 ff.); SchulteKellinghaus DRiZ 2007, 141; Terhorst GA 2002, 600 (608); Zachert NJW-Editorial zu Heft 7/2007.

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die Urteilsgründe eine nahezu uferlose Sachverhaltsdarstellung aufwiesen, die „aber in dem Maße, in dem sie sich den Tatbestandsmerkmalen nähert, an Genauigkeit“ verlören129. Damit zeigt sich: In dem Maße, in dem die Tatrichter wegen der Absprachepraxis ihre Fähigkeiten zu exakter Gesetzesauslegung und sauberer Subsumtionsarbeit nicht mehr üben und die Revisionsgerichte fehlerhafte Auslegung und Subsumtion nicht mehr durch Aufhebung der auf solchen Fehlern beruhenden Urteile sanktionieren können, geht die Rechtssicherheit verloren. Gleiches gilt aber auch für das Verfahrensrecht: selbst wenn die Regeln des Großen Strafsenats oder die der Gesetzesentwürfe oder eines künftigen Gesetzes zur Regelung der Absprachen eingehalten werden, so können die Absprachen selbst im übrigen doch ohne Beachtung der Regeln der StPO getroffen werden130, in einem Verfahren also, das zu Recht als „regellos“ bezeichnet wurde131.

E. Fazit I. Die vom Großen Strafsenat für die Einführung eines gesetzlich geregelten Abredeverfahrens vorgebrachten Gründe sind nicht überzeugend. Die angebliche Ressourcenknappheit der Justiz ist überwiegend von Politik und Exekutive verursacht. Der Große Strafsenat hätte dies offen legen und Abhilfe verlangen, insbesondere die notwendige Achtung vor der Dritten Staatsgewalt einfordern sollen, anstatt den von ökonomischer Zweckmäßigkeit geprägten Verhaltensmaximen von Politik und Exekutive zu erliegen. II. Der Große Strafsenat hat unter Überschreitung seiner eigenen in die Kompetenz der Legislative eingegriffen132. Mit § 132 Abs. 4 GVG läßt sich dieser Übergriff nicht rechtfertigen: Diese Norm überträgt der Judikative die Aufgabe der Rechtsfortbildung nur in Einzelfällen, nicht aber dazu, neue Verfahrensordnungen zu etablieren.

129 Pfister StraFo 2006, 349 (351) unter Berufung auf eine Wahlsche Formel: „Wer das ganze Jahr über Konservendosen aufmacht, kann zu Weihnachten kein Menü mehr kochen“. 130 Deshalb fordert Rieß zu Recht, dass dem Bundesgerichtshof „die Kontrolle über die sachgerechte Handhabung und gegebenenfalls Fortentwicklung“ etwaiger Normen über ein Abspracheverfahren „möglich ist“ (JR 2005, 437), die sich aber weitergehend auf alle das Verfahren regierenden Normen beziehen muss. 131 Weider StraFo 2003, 406 (407); vgl. auch Schulte-Kellinghaus DRiZ 2007, 141. 132 Treffend Rieß JR 2005, 438: „eine richterrechtliche Weiterentwicklung, die mehr unter rechtspolitischen, als unter dogmatischen Gesichtspunkten zu beurteilen ist“.

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Karl Heinz Gössel

III. Die vom Großen Strafsenat aufgestellten Regeln für ein Abspracheverfahren sind nicht geeignet, die Absprachenpraxis in eine rechtsstaatlich unbedenkliche Verfahrensform zu bringen. Die in den bisher vorliegenden Gesetzesentwürfen vorgesehenen Normen sind dazu noch weniger in der Lage. IV. Das Abredeverfahren ist seinem Wesen nach ein der notwendigen „Volksöffentlichkeit“ entzogenes regelloses Verfahren, das eben deshalb in der jetzigen Praxis keine Regeln anerkennt und auch gar nicht anerkennen kann133. Würden rechtsstaatliche Regeln anerkannt, würde es nicht mehr praktiziert werden. V. Es ist mindestens berechtigt, wenn nicht sogar notwendig, die Absprachen gerade deshalb als „deal“ zu bezeichnen, weil dieser Begriff eben nicht wertungsneutral134 ist, sondern zutreffend in negativer Weise zum Ausdruck bringt, dass Absprachen nicht anderes sind als ein unwürdiger „Handel mit der Gerechtigkeit“.

Vgl. dazu auch Schuller FAZ v. 7.8.2007, Nr. 181, S. 33: Geheimprozessordnung. Wenn Altenhain et al. (Fn. 14), S. 18, demgegenüber den Begriff „deal“ seiner fehlenden Wertungsneutralität wegen zurückweisen, so verschleiern sie damit die wahre Bedeutung der Absprachen. 133 134

„Regulierte Selbstregulierung“ in der Strafjustiz? Ein unorthodoxer Beitrag zur Frage der Legitimation der „Absprachen“ KLAUS LÜDERSSEN

Der apostrophierte Begriff kommt aus der allgemeinen Staatslehre und löst „das vorkonstitutionelle Regulierungsmuster“ ab. Es beruhte „auf der Überzeugung von Existenz und Erkennbarkeit des objektiven Gemeinwohls, das sowohl für die soziale Ordnung als auch für die individuelle Lebensführung bestimmend war und nicht nur das irdische Zusammenleben der Menschen betraf, sondern auf ihr ewiges Heil zielte. Mit diesem Gemeinwohlkonzept verband sich ein als naturgegeben betrachteter hierarchischer Aufbau der Gesellschaft“1. Das heißt, indem der Staat „mit der Jahrhunderte lang maßgeblichen Vorstellung eines material-definierten Gemeinwohls brach, das der Staat mit seiner überlegenen Einsicht zu formulieren, ohne Rücksicht auf individuelle Lebensentwürfe durchzusetzen hatte“, setzte sich ein Begriff des Gemeinwohls durch, das man „gerade umgekehrt aus der Freisetzung der Individuen zur Verfolgung ihrer eigenen Vorstellungen und Interessen, freilich im Rahmen der gleichen Freiheit jedes anderen, erwartete“2. Gegenwärtig ist es die „Governance-Forschung“3, die das anschaulich macht. „Die governance-bezogene Perspektive“, schreibt der Richter am Bundesverfassungsgericht, Hoffmann-Riem, „erlaubt insbesondere Neuvermessungen der Arbeits-, Funktionen- und Verantwortungsteilung zwischen staatlichen, staatlich-privaten (hybriden) und privaten Akteuren“4. Auf einer höheren Abstraktionsebene gleichsam geht es darum, „dass Regieren heute nicht mehr in einem durch das Paradigma der strikten Trennung von Staat

1 Grimm, Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates, Die Verwaltung, Bd. 4 (2001), S. 9 ff. 2 Grimm (Fn. 1), S. 10. 3 Vgl. den von Schuppert unter diesem Titel herausgegebenen Sammelband, 2. Aufl. (2006). 4 Hoffmann-Riem, in: Fn. 3, S. 195 ff. (196).

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und Gesellschaft … geprägten Verhältnis des Umgangs mit sozialen Problemen und Konflikten erfolgt“5. Das bedeutet, dass „für die Lösung sozialer Probleme … sich das Modell hierarchischer Über- und Unterordnung auf dem Rückzug“ befindet6. Substanziell ist das eine praktische Folge der „in der Politik und staatsrechtlichen Diskussion …“ schon seit längerer Zeit registrierten Entwicklung, „dass verständigungsorientierte Kommunikationen faktische Bedeutung im Prozess der Politikformulierung gewinnen“7. Diese Situationsbeschreibung findet ihre Bestätigung in einer breiten rechtstheoretischen und staatsrechtlichen Diskussion über das Vordringen „kooperativer und konsensualer Strukturen in der Normsetzung“. Dies ist der Titel einer Arbeit von Florian Becker8, die in größeren Arbeitszusammenhängen des Max-Planck-Instituts für Gemeinwohlforschung in Bonn entstanden ist. „Das Interesse gilt dabei“, heißt es in dieser Untersuchung, „der Vielfalt der real existierenden Steuerungsmodi. Aus der Perspektive des Staates geht es in neo-kooperativen Arrangements darum, organisierte soziale Gruppen dazu zu bewegen, sich aus eigenem Interesse heraus gemeinwohlverträglich selbst zu regulieren“9. „Dabei sind informelle und dezentrale interorganisatorische Beziehungen von Bedeutung“10. Mit anderen Worten, es geht darum, „ein enges Zusammenspiel zwischen privaten und öffentlichen Akteuren zu ermöglichen und durch diese Integration die Steuerungsressourcen auf eine größere Zahl von Akteuren zu verteilen“11. „Interessant ist, dass gesagt wird, der Staat übernehme in vielfacher Weise eine Organisationsleistung, die das Handeln der Akteure ermöglicht oder erleichtert. Zu diesen ‚Gatekeeper-Funktionen’ gehört die Bereitstellung öffentlicher Güter, insbesondere ein funktionierendes Justizwesen“12. Was ist das? Das ist ja die dritte Gewalt. Da gehen die Uhren doch anders, keine Rede von Enthierarchisierung und Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen. In der Tat wird die Justiz von den theoretischen Erörterungen über Deregulierung ausgenommen. Auch in dem Buch von Florian Becker gibt es nur diese eben zitierte Andeutung. Das Öffentliche Recht kümmert sich offenbar nicht gern um Justizprobleme, überläßt sie lieber den jeweiligen

Hoffmann-Riem (Fn. 4), S. 198. Hoffmann-Riem (Fn. 4), S. 201. 7 Schuppert, in: Fn. 3, S. 371 ff. (449). 8 Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung (2005). 9 Schuppert (Fn. 7), S. 379. 10 Ibid. 11 Ibid. 12 Schuppert (Fn. 7), S. 380. 5 6

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prozessualen Teildisziplinen, also dem Zivilprozessrecht, dem Strafprozessrecht, dem Verwaltungsprozessrecht, oder vielleicht auch einer allgemeinen Prozessrechtslehre. Aber eigentlich dürfte die dritte Staatsgewalt bei dem, was über den Staat allgemein gesagt wird, doch nicht ausgeklammert sein. Die Neugier beginnt mit der Frage nach der demokratischen Legitimation der Justiz. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, also auch die Justiz. Doch praktisch – jedenfalls – erscheint sie als ein Derivat der Exekutive, die persönliche, von Verfassung und Gerichtsverfassungsgesetz garantierte Unabhängigkeit der Richter ist ein isolierter Luxus, im übrigen auch gar nicht voll realisiert, wenn man daran denkt, wie Stellenzuweisung, Beförderung und ähnliches durchaus davon abhängen, in welchem Maße ein Richter eine gewisse Anpassungsfähigkeit an den Tag legt, beispielsweise nicht wünscht, „aufgehoben zu werden“, weil das nach oben hin nicht empfiehlt. Dabei wäre in einer parlamentarischen Demokratie die Lösung einfach. Die Richter sind sämtlich vom Parlament zu wählen, so wie auch die Regierung. Und so wie die Regierung sich selbst verwaltet, müsste auch die Justiz sich selbst, insbesondere die Beförderungen, verwalten. Theoretisch-modellhaft so vorbereitet überrascht es uns nicht, wenn wir auf einmal in der Tageszeitung lesen, dass der Deutsche Anwaltsverein und der Deutsche Richterbund das jetzt tatsächlich verlangen13. Der Anlass ist die aktuelle Diskussion um die „effektivere Bekämpfung der Jugendkriminalität durch schnellere Verurteilung jugendlicher Täter“. Hier könnte man, sagt der Vorsitzende des Richterbundes, schnelle Abhilfe schaffen, wenn man den Richtern, die den Bedarf „aus ihrer täglichen Arbeit kennen“, erlaubt, ihn dann auch selbst festzusetzen. So lange die Justiz aber „bei der Zuweisung von Stellen und Haushaltsmitteln, Einstellung und Beförderung vom Wohlwollen der Justizverwaltungen und der Finanzminister abhängig sei“, habe dieser Vorschlag keine Aussicht auf Erfolg. Wenn man nicht ernsthaft daran denkt, an die Stelle der nur mittelbar (durch die Zwischenschaltung der ihrerseits direkt parlamentarisch legitimierten Exekutive) parlamentarisch legitimierten Position der Justiz eine unmittelbare parlamentarische Legitimation zu setzen, wird sich an dieser Anomalie nichts ändern. Die Bedenken gegen eine von der Exekutive ganz unabhängige, also nur dem Parlament verantwortliche Justiz sind tief verwurzelt. Sie stammen überwiegend aus dem Arsenal jener Argumente, die auftauchen, wenn von der Gefahr des Missbrauchs einer Institution geredet wird. Hier ist es die demagogische Verführbarkeit des Richters, der gewählt werden will, vor der man warnt, und dann kommt der Verweis auf die USA,

13

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Januar 2008, S. 2.

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wo so etwas sogar für die Staatsanwälte gelte. Dass auch Verwaltungsbeamte und Regierungen für sich beanspruchen dürfen, unabhängig, das heißt sachlich zu entscheiden, scheint keine Rolle zu spielen. Da nicht jeder Beamte gewählt wird, sondern nur das Kabinett, entschärft sich das Problem wieder. Die nachgeordneten, von der Regierung selbst ernannten Beamten sind dem Wahlproblem nicht ausgesetzt. Aber diese Inkonsequenz im Rahmen der Organisation der demokratischen Legitimation von Regierungen bleibt nicht folgenlos. Vielmehr findet informell eine Annäherung an unmittelbare demokratische Legitimationen statt, wie die eingangs beschriebenen Entwicklungen zeigen. Dass dergleichen nicht auch in der Justiz passiert, ist daher eigentlich verwunderlich. Aber stimmt das denn? Passiert es nicht längst, und verifizieren wir es nur nicht? Denn was sind die Absprachen anderes als der Versuch, obrigkeitliche Hierarchien zu relativieren? Das habe ich mit Bezug auf die substanzielle Seite des Problems – die Gewissheitsverluste – bereits anderwärts mehrfach dargelegt14. An dieser Stelle geht es nurmehr um die strukturelle Seite. Wenn auch die Justiz an den Wandlungen unseres demokratischen Lebens Anteil nehmen soll, müssen jene kooperativen und konsensorientierten Strukturen, die für die Normsetzung nachgewiesen werden, auch bei ihr valutiert und reguliert15 werden. Dass das – jedenfalls intentional – bisher nicht geschehen ist, liegt an der Abkoppelung der Justiz von den Erörterungen über demokratische Legitimation und Gewaltenteilung. Macht man damit Schluss, so wird auf einmal sichtbar, wofür die Absprachen inoffiziell längst stehen. Soweit die konsensualen Elemente bei der „Norm s e t z u n g “ (Sperrung vom Verf.) entdeckt werden16, mag man vorerst nur an den Gesetzgeber denken. Aber auch in jeder Rechtsanwendung liegt eine Normsetzung17. Das ist in der Methodendiskussion immer klar gewesen und mehr oder weniger deutlich ausgesprochen worden, je nach dem, wie groß der semantische Spielraum der positiven Rechtsregeln war. Die Diskussionen darüber sind keineswegs abgeschlossen, wie die Kontroversen zeigen, die kürzlich über

Verständigung im Strafverfahren. Das Modell und seine Implikationen, in FS Hamm (2008), S. 423 f.; dort auch die genaue Lokalisierung: Absprachen über den Fortgang des Verfahrens, das orientierende, aufklärende Rechtsgespräch, die Verständigung über die Strafzumessung, über den Sachverhalt und auch die Schuldfrage (S. 427 ff.); vgl. auch schon Lüderssen StV 1990, 415 ff. 15 Über die vom Gesetzgeber dafür verbreiteten Modelle ebenfalls FS Hamm (2008), S. 421 14

ff. 16 17

Becker (Fn. 8), passim. Weber-Fas, Über die Staatsgewalt (2000), S. 13.

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die Forderung nach mehr richterlicher Freiheit entstanden sind18. Gleichwohl kann man ernstlich nicht mehr darüber streiten, dass jedenfalls bei der Rechtsanwendung durch die Justiz kreative Elemente eine Rolle spielen. Freilich kann es Verständigung im öffentlichen Leben nur geben, wenn dem autonome Handlungsstrukturen entsprechen. Die damit verbundene Etablierung dezentralisierter Steuerungsfähigkeiten mag aber auch auf Selbstreferenz deuten und damit systemtheoretischen Analysen Recht geben, die nachzuweisen versuchen, dass an die Stelle der zentralen Hierarchie nur eine Heterarchie von Teilsystemen getreten ist. Demgemäß behauptet „die autopoetische Systemtheorie die Unzugänglichkeit gesellschaftlicher Teilsysteme für gezielte und unmittelbare staatliche Steuerung“19. „Steuerung durch Recht als Eingriff in das zu steuernde System“ sei daher „überholt, das Recht soll nur noch Rahmenbedingungen für die Selbständigkeit des Systems schaffen“20. Dabei liegt es doch eigentlich auf der Hand, dass gerade auf der Basis dieser Annahme die „selbständige Anpassungs- Reaktions- und Problemlösungsfähigkeit gesellschaftlicher Akteure“ gefragt ist21. Deshalb entsteht inzwischen vor allem im Umkreis des schon erwähnten Max-Planck-Instituts für die Erforschung der Gemeingüter eine „akteurszentrierte Steuerungstheorie“22. Sie unterscheidet sich von der autopoetischen Systemtheorie, „die binäre systeminterne Kommunikation als Basis ihres theoretischen Konzepts wählt“23, indem sie nicht die Selbstorganisation der gesellschaftlichen Teilsysteme favorisiert24, sondern von vornherein von real handelnden, individuellen oder kooperativen Akteuren ausgeht. Sie konzipiert Steuerung „in den zwei idealtypischen Interaktionsmechanismen, Hierarchie und Verhandlung“25. Der Konfliktlösungsmodus Verhandlung aber beruht auf dem Prinzip der Einigung. „Nicht die Mehrheit, sondern die Gesamtheit aller Beteiligten an der Verhandlung entscheidet im allseitigen Einverständnis. Verhandlungen sind in zwei Konstellationen möglich: zum einen zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren; zum anderen nur zwischen gesellschaftlichen Akteuren. Im letztgenannten Fall wird eine Problemlösung vom staatlichen in den gesell-

Überblick bei Wenzel NJW 2008, 345 ff. Nachweise bei Becker (Fn. 8), S. 634. 20 Ibid., S. 22. 21 Ibid. 22 Becker (Fn. 8), S. 744. 23 Ibid. 24 Becker (Fn. 8), S. 29. 25 Ibid., S. 744. 18 19

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schaftlichen Bereich ausgelagert“26. Längst wählt der Staat „in der Realität (…) Interventions- und Interaktionsformen, die sich als Mischverhältnis von Hierarchie und Verhandlung beschreiben lassen“. Und das „wird in dem Konzept der regulierten Selbstregulierung abgebildet, das eine Brücke zwischen privaten Entscheidungen und hoheitlich wahrgenommenen Tätigkeiten des Staates schlägt. Es respektiert die Eigendynamik gesellschaftlicher Teilbereiche und nutzt sie zugleich. Ihre rechtstheoretische Entsprechung findet die regulierte Selbstregulierung in dem Konzept des prozeduralen Rechts“27. Dem entspricht der Forschungsansatz einer Arbeitsgruppe, die sich im Rahmen der Excellency Cluster-Wettbewerbe an der Johann Wolfgang Goethe-Universität gebildet hat. Es geht um „die Herausbildung normativer Ordnungen“. Dabei wird exemplifizierend „die Evolution der Normen“ behandelt, „die vor allem im Wirtschafts-, Arbeits- und Umweltrecht für das Konzept der regulierten Selbstregulierung stehen …“28. Weil „private, halbstaatliche und staatliche Akteure (…) an (…) formellen und informellen Prozessen beteiligt sind“, will die Projektinitiative untersuchen, „ob und wie weit diese heterogenen Prozesse der Rechtsentstehung diskursive Elemente enthalten, und ob diese sich zu einer Diskurstheorie verdichten lassen, die zugleich als kritischer Maßstab aktueller Entwicklungen taugen könnte“29. Es folgt eine Beschreibung der Hypothesen, die durchaus Ähnlichkeit mit dem aufweisen, was bei der Frage nach der Relevanz der „Anerkennungstheorien“ über die Kommunikationsverläufe sozusagen mittlerer Tragweite und Intensität gesagt worden ist30. „Ein wichtiges Thema“, heißt es weiter, „wird dabei sein, ob und wie weit eine diskursive Rechtsgenese als ein Prozess politischer Autonomie, wie er für die Diskurstheorie des Rechts zentral ist, verstanden werden kann, oder ob sich an der Herausbildung des internationalen und transnationalen Rechts gerade demonstrieren lässt, dass die Politik zu einem Teilsystem neben anderen, sich nunmehr selbst regulierenden Teilen im System wird. Insofern stellt diese Projektinitiative einen dialektischen Widerspruch zu derjenigen Projektinitiative“ dar, die sich vor allem auf die Systemtheorie beruft31.

Ibid. Becker (Fn. 8), S. 745. 28 Günther u.a., Die Herausbildung normativer Ordnungen (2007), S. 108. 29 Günther (Fn. 28), S. 106. 30 Vgl. dazu die Belege in FS Hamm (2008), S. 437; ausführliche kritische Würdigung jetzt bei Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2007), S. 565–575, der allerdings meine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von „Wahrheit“, „Richtigkeit“ und Konsens ignoriert. 31 Günther (Fn. 28), S. 107 ff. 26 27

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Damit ist erneut das Stichwort gegeben für die Absprachen. Sie haben in der Justiz die Rolle, subversiv das zur Geltung zu bringen, was im übrigen staatlich-gesellschaftlichen Leben längst akzeptierte Praxis ist. Dieses (vorläufige) Schattendasein hat vielleicht etwas damit zu tun, dass in der Reform des Inquisitionsprozesses Deutschland auf halbem Wege stehen geblieben ist und die obrigkeitliche Struktur des zugleich Beweise erhebenden und urteilenden Richters sich daher nicht geändert hat. Daraus folgt die selbstverständliche Abweisung aller Versuche, diese Hierarchie zu erschüttern. Es wird nicht möglich sein, in Deutschland diesen Teil der Abschaffung des Inquisitionsprozesses noch nachzuholen. Zu festgefahren sind die Verdikte über die Schwächen des adversatorischen Systems. Aber ein paar Andeutungen dürfen vielleicht gemacht werden. In der bemerkenswerten Untersuchung Langbeins über „The Origins of Adversary Criminal Trial“32 werden die Demokratieelemente der dritten Gewalt sehr deutlich. Die Wendung „it is the partys case“ signalisiert den Gesellschaftsbezug (matter of socierty). Deshalb ist es wohl besser statt von „adversary“ oder „adversitarial“ von „contradictional procedure“ zu sprechen. Sollte es wirklich zu einer in diese Richtung gehenden Reform des Strafprozesses auf dem Kontinent kommen, so wird es sich vor allem darum handeln müssen, das „adversary system“ nicht mit der Entscheidungsbefugnis der Laienjury zu identifizieren. Die Laienelemente sind sicher auch ein Teil der Demokratisierung der Justiz. Aber das dafür einschlägige Stichwort des 19. Jahrhunderts, „Der Kampf um die Schwurgerichte“, ist wegen der Medienöffentlichkeit aller Verfahren und der Selbstverständlichkeit demokratischen Denkens in Erziehung und Ausbildung der Richterschaft überholt. Das bedeutet freilich, dass an die Stelle der Jury, die über die Schuldfrage entscheidet, ein professionelles Gremium treten muss, das nicht identisch sein darf – andernfalls hätte man doch wieder den alten Inquisitionsprozess – mit dem die Beweisaufnahme leitenden Richter. Ansätze einer solchen Aufteilung lassen sich auch im geltenden System des Inquisitionsprozesses dort erkennen, wo vorgeschlagen wird, dass Eröffnungsbeschluss und Durchführung des Hauptverfahrens nicht mehr bei ein und demselben Gremium liegen dürfen. Aufgenommen werden müsste vielleicht die – gegenwärtig aus Kreisen des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag kommende – Anregung, die Beweisaufnahme nicht vollständig den Parteien zu überlassen, sondern auch den Richtern schon eine Beweiserhebungskompetenz zuzugestehen; anderenfalls bleibe aus politischen Gründen, über die sich die Parteien insgesamt

32

Oxford University Press, New York (2003).

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einig seien, zuviel unberücksichtigt. Die Beweiswürdigung hingegen liegt dann bereits bei dem anderen richterlichen Gremium. Das klingt kompliziert, aber man darf nicht vergessen, dass die Jury auch nicht gerade einfach und eindeutig ist in ihrem Verhältnis zu den Parteien einerseits, zum Richter andererseits. Der Unterschied zum reinen Parteiverfahren wäre dann nur der, dass der Richter, den es in diesem Verfahren ja als organisierende, auf die Fairness achtende Instanz gibt, eine zusätzliche Aufgabe bekäme. Sie würde allerdings eine Einschränkung des dialektischen Wahrheitsfindungsprinzips (wie sie mit der reinen kontradiktorischen Beweiserhebung verbunden ist) bedeuten. Prozesstheoretisch wäre das im einzelnen noch zu klären. Wenn man bedenkt, dass in Den Haag die Wendung „inquisitorial“ inzwischen durchaus pejorisierend benutzt wird, könnte unter dem Einfluss der allgemeinen europäischen Entwicklung die Ablehnung des adversatorischen Verfahrens in der deutschen Justiz am Ende doch zurück gehen. Neue Einsichten der Staatsrechtslehre könnten den Übergang zu einem den angelsächsischen Ländern angenäherten Strafjustizsystem erleichtern. Wenn es richtig ist, dass der höhere „Abstraktionsgrad des Staates gegenüber dem Demokratiebegriff“ sich umkehren lässt33, dann liegt die Diagnose nahe, dass „eine staatstheoretische Tradition wie die deutsche, die den Staat nicht selten als etwas der Gesellschaft Äußerliches versteht, Schwierigkeiten“ hat, … „demokratische Repräsentation zu konzipieren“34. „Der Zusammenfall von Staatlichkeit und Demokratie im Staat des Grundgesetzes“, heißt es, werde „immer wieder durch die Bedeutungsüberschüsse sowohl des Demokratie- wie auch des Staatsbegriffs überdeckt…. Das Problem der Rechtfertigung des Staats liegt quer zum Demokratieprinzip. Mit dem Staatsbegriff verknüpfte Rechtstheorien neigen … zu substanzhaftem, verfahrensfremdem Denken. Dies ist mit der prozeduralen Staatsform Demokratie schlecht zu vereinbaren“35. Dass nun Elemente des mit dem Demokratiebegriff verknüpften prozessualen Denkens bei uns längst eingedrungen sind, zeigen die ausdrücklich auf den Konsensgedanken sich beziehenden Reformbemühungen des Gesetzgebers zur Praxis der Absprachen36. Das mag noch mehr oder weniger eine Intuition sein. Sie zu einem Räsonnement zu machen, ist das Ziel dieses Beitrages.

Möllers, Staat als Argument (2000), S. 424. Ibid., S. 423. 35 Ibid. 36 Auch darüber im einzelnen FS Hamm (2008), S. 421 ff. 33 34

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Die Nivellierung der Justiz mit den übrigen Staatsgewalten scheint freilich die Funktion der Justiz, auch den Staat zu kontrollieren, zu paralysieren. In der Tat ist die Frage aufgeworfen worden, ob die Justiz „eigentlich Teil des Staates, den sie zugleich kontrollieren soll“, sei37. Interessanter Weise scheint das jetzt in Frankreich diskutiert zu werden38. „Das verwaltungsorientierte Frankreich“ weise insofern „Züge eines Paradigmawechsels“ auf. Sehr schnell ist dort die Idee der juristischen Kreativität, die lange als Problem gegolten hat39, übergegangen in eine Diskursorientierung, woraus sich ergeben habe, dass das „plaidoyer coupable“ (mit der Folge einer Absprache) schon gesetzlich sanktioniert sei40. Das heißt: Wenn eine sehr enge, im Grunde ja immer illusionäre Bindung an das Gesetz relativiert wird, ist der Schritt zur Anerkennung konsensualer Elemente bei der Entscheidungsfindung für eine Rechtsordnung, die aus grundsätzlicher Verweigerung die Kunstgriffe der Hermeneutik (die sozusagen auf eine Bindung ohne Bindung herausliefen) nicht mitgemacht hat, leichter als in einem Land, das nur die beiden Varianten „Richterkönigtum“ oder „Subsumtionsautomat“ vor Augen hatte41. Unabhängigkeit kann nicht heißen, dass es keine Einflüsse geben darf. Das wäre nicht nur weltfremd, sondern denkunmöglich. Aber der größere Spielraum, der durch konsensuale Elemente bei der Rechtsfindung gegeben ist, kann vielleicht den Begriff der Unabhängigkeit des Richters mit einem anderen Leben erfüllen als der, welcher als Teil der Dichotomie erscheint, die mit den Worten „und nur dem Gesetz unterworfen“ endet. Unabhängigkeit und Demokratie – diese konkretisiert durch die partizipatorischen Elemente, die im Absprachewesen liegen – erscheinen so nicht mehr als Gegensätze, ebenso wenig wie Rechtsstaat und Demokratie42. Die Idee, die Justiz müsse den Staat kontrollieren und die von ihr repräsentierte Staatsgewalt, die dritte Gewalt, sei etwas ganz Besonderes, ist mit diesem modernen Begriff von Unabhängigkeit nicht mehr zu vereinbaren. In Wahrheit geht es ja auch nicht um die Kontrolle des Staates, sondern um wechselseitige Abhängigkeit aller drei Staatsgewalten: Die Justiz kontrolliert die Legislative und die Exekutive; die Legislative liefert der Exekutive und der Judikative die Grundlagen, und die Exekutive sorgt für die Realisierungen,

Vgl. den Bericht bei Jung, Richterbilder – Ein interkultureller Vergleich (2006), S. 32. Jung (Fn. 37), S. 33 ff. 39 Ibid., S. 37. 40 Ibid., S. 80. 41 Hierzu schon Ogorek, Richterkönigtum oder Subsumtionsautomat? (1986). 42 Dazu FS Hamm (2008), S. 428 ff. 37 38

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die der Legislative erst ihren Sinn geben und der Judikative ihre Aufgaben verschaffen43. So gesehen, wäre eigentlich gar nichts Spezielles für die Richter zu fordern. Sie könnten durchaus abwählbar sein. Wenn man das aus Gründen der Beständigkeit nicht will, dann bedarf das angesichts dessen, dass auch Beamte der Verwaltung lebenslange Anstellungen bekommen, keiner Hervorhebung. Alles wird zur Niveau-Frage. In dem Maße wie Wahlen und Repräsentationen der Wähler durch die Gewählten ernst und verantwortungsvoll vor sich gehen, wozu Bildung und Ausbildung das Entscheidende beitragen, kann man für die Justiz genau so viel Vertrauen schaffen oder sogar vielleicht noch mehr als durch ein hierarchisches Beamtenrichtertum. Die unangefochtene Maxime – ein Richter darf in seinen Entscheidungen nicht von Vorgesetzten beeinflusst werden – scheint freilich als differenzia specifica übrig zu bleiben. Aber die Staatsanwälte, Teil der Exekutive44, fordern ja auch ihre Unabhängigkeit von internen Weisungen, und die tatsächlichen Freiheiten, die ein Verwaltungsbeamter gegenüber seinen Vorgesetzten hat, wachsen im Zuge des modernen, die Verantwortung aufteilenden Delegationswesens ebenfalls. Wenn die Unabhängigkeit der richterlichen Entscheidung von Weisungen so ernst genommen wird, so beruht das ja nicht darauf, dass dem einzelnen Richter die endgültigen Weisheiten zugebilligt werden; vielmehr ist das eine Vorkehrung gegen Macht. Dass diese Vorkehrung auch bei anderen Staatsgewalten nötig ist und dort deshalb auf Pluralität und Dezentralisation gesetzt wird, ist eine Praxis, die allmählich ins öffentliche Bewusstsein tritt. Der Prozess der Demokratisierung der Staatsgewalten erfolgt gewissermaßen unter wechselseitigem Einfluss: Die Konsenselemente werden in der Exekutive ausgebildet und wandern in die Justiz. Der Gedanke der Unabhängigkeit ist genuin für die Justiz und wandert in die Exekutive. Dazu gehört, was die Strafjustiz betrifft, vielleicht die endgültige substanzielle und nicht nur verbale Verabschiedung vom staatlichen „Strafanspruch“. In diesem Begriff steckt immer noch die Staatsräson, die man als Begriff vergessen sollte. Jedenfalls gilt das für die Strafjustiz, sie kann sich

Mit Recht sagt Becker: „Angesichts der vielfältigen Durchbrechungen des klassischen Musters der Gewaltenteilung durch das Grundgesetz erscheint es angemessener, von einem Ineinandergreifen, einer Verschränkung oder einer Verzahnung der verschiedenen Gewalten zu sprechen“, und beruft sich dabei weitgehend auf Judikate des Bundesverfassungsgerichts (Fn. 8), S. 352. 44 Zwar sehr umstritten; neuester Diskussionsstand bei Kelker ZStW 118 (2006), 389 ff. 43

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für das Recht zu Strafen nur auf das Gemeinwohl beziehen45. Vielleicht liegt die Hemmung, die Identifizierung von Rechtsordnung und Staat46 aufzugeben, darin, dass wir noch unter dem Eindruck stehen, den das im 19. Jahrhundert erreichte Staatsverständnis hinterlassen hat. Man glaubte, dass eine gewisse Perfektionierung des überall hin reichenden Staates endlich erreicht war. Als zweihundert Jahre vorher die Idee des in diesem Sinne zu verstehenden absoluten Staates entstand, war man weit von ihrer Realisierbarkeit entfernt. Es fehlten die modernen Mittel einer umspannenden Organisation. Der Staat war da, wo der Herrscher sich aufhielt und unmittelbar seine Macht ausüben konnte, der Rest verlief sehr heterogen mit von der Seite kommenden speziellen korporativen oder allgemein-gesellschaftlichen Einflüssen. Nachdem das endlich vorbei zu sein schien, verlor man den Blick dafür, dass die gesellschaftlichen Kräfte, die seinerzeit der Durchsetzung des absolutistischen Staatswillens entgegen standen, ihrerseits sich mehr oder weniger in festen feudalen Bindungen bewegt hatten. Das 19. Jahrhundert sah sich also vor einer zweifachen Aufgabe: Etablierung des modernen flächendeckenden Verwaltungsstaates, und Emanzipierung der Gesellschaft. Die zweite Aufgabe führte indessen zu einer so scharfen, als fortschrittlich empfundenen Vorstellung von der Trennung von Staat und Gesellschaft, dass lange übersehen wurde, in welchem Maße die gesellschaftliche, vom Staat zu unterscheidende Rechtsordnung subkutan weiter wirkte. Damit dieser Tatbestand wieder zum Vorschein kam, bedurfte es des Anstoßes durch die Rechtssoziologie.47 Aber sie konnte sich nicht durchsetzen, weil man zu sehr mit dem Staat beschäftigt war. Denn dieser war ja paradoxer Weise in dem Moment, in dem für eine allumfassende Staatlichkeit die technischen Voraussetzungen geschaffen waren, längst nicht mehr absolut, sondern durch Revolutionen und Aufklärung in seinem Anspruch stark relativiert. Der moderne Rechtsstaat entstand. Das war eine Sache der Juristen und nicht der Soziologen. Der „Zivilisationsbruch“ der nationalsozialistischen Diktatur warf diese Entwicklung zurück. Danach wurde sie zwar wieder aufgegriffen, aber die Soziologen blieben weiterhin ausgeblendet (trotz einer gewissen Renaissance in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts). Erst die aktuellen Relativierungen staatlicher Souveränität durch die Vorgänge der Globalisierung haben den Sinn wieder dafür

Lüderssen, in: Prittwitz/Manoledakis (Hrsg.), Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende (2000), S. 63 ff. 46 Kelsen, Nachweise bei Möllers (Fn. 33). 47 Beginnend mit Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913); zu Ehrlich umfassend Vogl, Soziale Gesetzgebungspolitik, freie Rechtsfindung und soziologische Rechtswissenschaft bei Eugen Ehrlich (2003). 45

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schärfen können, dass Staat und Gesellschaft nicht getrennt sind, sondern dass die Gesellschaft streckenweise den Staat ersetzt. Die Reflexe dieser internationalen Entwicklung auf die nationalen Verhältnisse werden noch kaum registriert, aber in dem Maße, wie sie zunehmen, wird das – jedenfalls in den westlich-demokratischen Gesellschaften – von Einfluss sein auf das, was man die alltägliche Demokratie im Staatsleben nennen könnte. Dass auch die Justiz als letzte der drei Staatsgewalten von dieser Strömung erfasst werden wird, ist gewiss. Der Versuch, in den Wildwuchs der Absprachen der Strafjustiz eine gewisse legitimierende Ordnung zu bringen, gehört in diesen Kontext, und es wäre zu wünschen, dass der Stellenwert, den die Absprachen im Gesamtgefüge staatlich-gesellschaftlicher Entwicklung einnehmen, im Rahmen der noch nicht abgeschlossenen Debatten über das Pro und Kontra erst einmal identifiziert würde, ehe man sich konzeptlos in den Details verliert.

Absehen von der Strafe und Absehen von der Strafverfolgung FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER

Gerhard Fezer hat sich in seinem grundlegenden deutschen Landesbericht über „Vereinfachte Verfahren im Strafprozeß“ für den XIV. Internationalen Kongress für Rechtsvergleichung 1994 eingehend mit den Einstellungsmöglichkeiten nach §§ 153, 153a und 153b StPO befasst.1 Hieran knüpfen die folgenden Ausführungen an.

I. Problemstellung In zahlreichen Fällen kann das Gericht nach den Vorschriften des Strafgesetzbuchs „von Strafe absehen“. Nach § 260 Abs. 4 S. 4 StPO ist dies in der Urteilsformel zum Ausdruck zu bringen. Dieser Form der Sanktionierung werden im Schrifttum eine eigenständige Bedeutung und ein deutlicher Effekt zugesprochen: „Zum anderen stellen auch die Durchführung des Strafverfahrens und der formelle Schuldspruch eine durchaus spürbare Reaktion des Staates auf die Tat dar – auch wenn von Strafe abgesehen wird, ist dem Täter ‚etwas geschehen’.“2 Dies erinnert an den österreichischen Spruch „Die technische Wirkung dieser Waffe ist zwar gering, aber die moralische Wirkung ist eine ungeheure“. Mit Überraschung muss man dann allerdings feststellen, dass in den Fällen, in denen das Gericht von Strafe absehen könnte, auch schon die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen kann (§ 153b StPO). Und wenn die Staatsanwaltschaft von dieser verlockenden Möglichkeit einmal keinen Gebrauch gemacht hat,

ZStW 106 (1994), 1 ff. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Aufl. (1996), S. 862. Näher Ruckdäschel, Das Verhältnis von Absehen von Strafe im materiellen Recht und Verfahrenseinstellung nach § 153b StPO (2006), S. 71 ff. 1 2

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kann sogar das Gericht selbst von einem Absehen von Strafe absehen und das Verfahren einstellen (§ 153b Abs. 2 StPO). Darüber hinaus liegen in den meisten Fällen, in denen das Gericht von Strafe absehen kann, Vergehen vor und ist die Schuld des Täters gering, so dass die Staatsanwaltschaft – und wiederum auch das Gericht – das Verfahren auch nach § 153 StPO einstellen können. Außerdem besteht noch die Möglichkeit der Einstellung gegen Auflagen und Weisungen nach § 153a StPO. Wie ist diese verwirrende Vielfalt von Reaktionsmöglichkeiten zu erklären und welche Hilfe kann den Staatsanwaltschaften und den Gerichten bei der Auswahl zwischen ihnen gegeben werden?

II. Die Entwicklung der beiden Absehensmöglichkeiten in ihrer Verschränkung Die Figur des Absehens von Strafe tauchte erstmals im Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch von 1909 auf (§ 83). Die Begründung des Entwurfs hatte Mühe, diese Regelung zu erläutern. Trotz aller Sorgfalt bei der Formulierung der Tatbestände der einzelnen Delikte lasse es sich nicht ausschließen, dass in außergewöhnlich gearteten Fällen zwar die Begriffsbestimmung, nicht aber der Gedanke und Zweck des Gesetzes zutreffe, so dass die im Gesetz vorgesehene Strafandrohung als eine Härte empfunden werde. Solche Fälle ergäben Verurteilungen, die als unbillig angesehen würden und die öffentliche Meinung gegen die Rechtspflege verstimmten. Die Begründung warnte vor der Gefahr einer Verschiebung der Aufgaben des Gesetzgebers und des Richteramts und der Zulassung einer richterlichen Willkür. Eine zu weit gehende Durchbrechung des Legalitätsprinzips könne nur durch eine Begrenzung auf Fälle vermieden werden, wo die besondere Art des gesetzlichen Tatbestandes es erfahrungsgemäß gestatte, weil unter ihn auch so geringfügige und entschuldbare Taten fallen könnten, dass eine Straflosigkeit vom Standpunkt der Prävention nicht schädlich erscheine. Dem entsprechend wurde die Möglichkeit des Absehens von Strafe auf bestimmte Tatbestände beschränkt und auch hierbei noch verlangt, dass ein besonders leichter Fall vorliege, nämlich die Folgen der Tat unbedeutend seien und der verbrecherische Wille des Täters nur gering und nach den Umständen entschuldbar erscheine. Darüber hinaus wurde das Absehen von Strafe nur in der schwachen Form einer Kann-Bestimmung (in dem damaligen autoritären Stil „darf“) und überdies neben der Alternative einer Strafmilderung gewährt, so dass offen blieb, welche Kriterien neben der fehlenden Bedeutung der Folgen und dem geringen verbrecherischen Willen des

Absehen von der Strafe und Absehen von der Strafverfolgung

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Täters maßgeblich sein sollten. Diese Ausgestaltung sollte für die Zukunft maßgeblich bleiben. Dabei ging der Entwurf davon aus, dass in diesen Fällen auch die Verfolgung unterbleiben dürfe, weil die Vorschrift sonst ihren Wert zum großen Teil verlieren würde.3 In den Entwürfen von 1913 und 1919 wurde die Möglichkeit des Absehens von Strafe noch erweitert, u. a. auf die Berichtigung einer uneidlichen Falschaussage (§ 225 E 1919), die erstmals unter Strafe gestellt werden sollte, und zwar nicht aus einer punitiven Tendenz heraus, sondern weil man schon damals den Gebrauch des Eides vor Gericht reduzieren wollte.4 Hier wurde erstmals das Absehen von Strafe bei einer tätigen Reue vorgesehen. Ob und unter welchen Umständen in diesen Fällen schon die Strafverfolgung unterbleiben dürfe oder müsse, sei eine strafprozessuale Frage, deren Lösung dem Einführungsgesetz oder einer Neuordnung des Strafverfahrens vorbehalten sei.5 Bemerkenswert erscheint noch, dass der Vorentwurf von 1909 in allen Fällen des besonders leichten Versuchs ein Absehen von Strafe zulassen wollte (§ 76 Abs. 3); dadurch werde eine besondere Bestimmung über die Straflosigkeit eines aus Unverstand begangenen oder abergläubischen Versuchs überflüssig!6 Durch die Emminger-Verordnung vom 4.1.1924 wurde dann in der Strafprozessordnung die Möglichkeit vorgesehen, dass die Staatsanwaltschaft in leichten Fällen von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen konnte (§ 153 StPO). Hierdurch wurde die in den Strafgesetzbuch-Entwürfen vorgesehene Regelung des Absehens von Strafe völlig überrollt, da die Voraussetzungen des Absehens von der Verfolgung fast genauso formuliert waren wie die des geplanten Absehens von Strafe: geringe Schuld des Täters und unbedeutende Folgen der Tat. Allerdings war eine Zustimmung des Gerichts erforderlich. Grund für diese Regelung war vor allem die durch die Reparationen und die Inflation bedingte finanzielle Not des Staates. Gleichwohl verfolgten die Strafgesetzbuchentwürfe die Figur des gerichtlichen Absehens von Strafe weiter und schoben das Verhältnis dieser Figur zu § 153 StPO dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch zu.7 Es lag eine Paradoxie der Geschichte darin, dass ausgerechnet der Nationalsozialismus mit seiner punitiven Tendenz das Absehen von Strafe in das

Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Begründung (1909), S. 321 ff. Denkschrift zu dem Entwurf von 1919, S. 171. 5 Ibid., S. 102. 6 Begründung, S. 297. 7 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1927 mit Begründung, S. 57. Eingehend zur Entwicklung des Absehens von Strafe in den Entwürfen Ruckdäschel (Fn. 2), S. 5 ff. 3 4

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deutsche Strafgesetzbuch einführte. Allerdings erfolgte dies zur Abmilderung der nationalsozialistischen Ausweitung des Strafrechts, nämlich der Ausweitung der Strafbarkeit der Homosexualität auf alle unzüchtigen Handlungen (§ 175 Abs. 2 StGB durch Gesetz vom 28.6.1935), der Ausweitung der Strafbarkeit der Nichtanzeige, auch wenn es nicht zu einem Versuch gekommen war (§ 139 StGB durch Gesetz vom 2.7.1936), der Einführung der Strafbarkeit der uneidlichen Falschaussage, allerdings nach dem Vorbild der vornationalsozialistischen Entwürfe (s. o.), und der versuchten Beihilfe (§ 49a Abs. 2 StGB durch die Strafrechtsangleichungsverordnung vom 29.5.1943). In den letzteren Fällen war die bisherige Basis des Absehens von Strafe insofern verlassen, als es auch bei Verbrechen möglich war. In den ersteren Fällen war eine besondere Regelung eigentlich gar nicht erforderlich, da § 153 StPO eine Einstellung ermöglichte. Dies galt auch für die Einführung der Möglichkeit des Absehens von Strafe beim Geschlechtsverkehr unter Verwandten, wenn die häusliche Gemeinschaft der Ehegatten zur Zeit der Tat nicht mehr bestand.8 Offensichtlich vertraute der nationalsozialistische Gesetzgeber angesichts seiner bekannten Punitivität dieser Befugnis nicht. Nachdem der nationalsozialistische Gesetzgeber den Damm gebrochen hatte, floss das Absehen von Strafe immer mehr in das Strafgesetzbuch ein, um dieses schließlich geradezu zu überfluten. Schon durch das Strafrechtsänderungsgesetz von 1951 wurden fünf neue Möglichkeiten des Absehens von Strafe eingeführt, und zwar drei bei geringer Schuld und untergeordneter Mitwirkung (§§ 90 Abs. 5, 129 Abs. 3, 129a Abs. 2 StGB). In allen diesen Fällen handelte es sich um Vergehen, so dass wiederum § 153 StPO ausgereicht hätte. Darüber hinaus war das Absehen von Strafe auch bei den Verbrechen der Vorbereitung des Hochverrats (§ 82 StGB) und der Anmaßung von Hoheitsbefugnissen (§ 89 Abs. 3 StGB) möglich. In beiden Fällen ging es um den Rücktritt von der Vorbereitung bzw. vom Versuch. Zugleich wurde in die Strafprozessordnung die Bestimmung eingefügt, dass in allen Fällen, in denen das Gericht von Strafe absehen könnte, auch die Staatsanwaltschaft von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen kann (§ 153a StPO). Zwar war eine Zustimmung des Gerichts vorgesehen, doch welches Gericht kann der Verlockung eines legalen Wegfalls von Arbeitsaufwand widerstehen? Der zuständige Referent des Bundesjustizministeriums begründete dies damit, dass an Straftaten der ersteren Gruppe regelmäßig eine größere Zahl von Personen beteiligt

DVO zum Gesetz über die Änderung und Ergänzung familienrechtlicher Vorschriften vom 23.4.1938. In das StGB eingefügt durch das 3. StÄG. 8

Absehen von der Strafe und Absehen von der Strafverfolgung

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sei; gegenüber Mitläufern solle die Möglichkeit eröffnet werden, Milde walten zu lassen. Zugleich werde damit eine unnötige Belastung der Gerichte vermieden. Die Erhebung der öffentlichen Klage würde diesem kriminalpolitischen Zweck zuwiderlaufen; dazu komme das Interesse der Vereinfachung. Die Überschneidung mit § 153 StPO wurde gesehen. Eine Einstellung nach dieser Vorschrift komme jedoch bei Verbrechen überhaupt nicht in Betracht und könne bei der ersteren Gruppe „weniger“ angewendet werden, weil die Bedeutung der Folgen einer Tat bei der Beteiligung mehrerer Personen wohl nicht nur nach dem Beitrag des einzelnen beurteilt werden könne.9 Das Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 19.12.1952 fügte den § 316a Abs. 2 StGB hinzu, in welchem für den vom Nationalsozialismus im Autofallengesetz vom 22.6.1938 als Unternehmensdelikt ausgestalteten und damit weit vorverlagerten Räuberischen Angriff auf Kraftfahrer ein Rücktritt vom Versuch berücksichtigt wurde. Bei den Vorarbeiten zur Großen Strafrechtsreform hielt Richard Lange ein flammendes Plädoyer gegen das Absehen von Strafe. „Die generalpräventive Wirkung eines Strafgesetzes wird empfindlich beeinträchtigt, wenn es selbst schon verheißt, dass es nur manchmal zur Anwendung kommt“.10 Ganz unverständlich sei das Absehen bei den Mitläufern nach dem 1. StÄG (s.o.); wenn überhaupt, komme es doch hier auf Generalprävention gegenüber den Labilen an. Das Absehen von Strafe sei daher neben § 153 StPO, der erforderlichenfalls auf leichte Verbrechensfälle zu erweitern wäre, unnötig, unrichtig und kriminalpolitisch bedenklich. Im E 1962 wurde daraufhin auf eine generelle Vorschrift für das Absehen von Strafe verzichtet. Jedoch wollte der Entwurf das Absehen von Strafe für die vom Nationalsozialismus eingeführten Fälle, nämlich die Homosexualität zwischen Männern unter 21 Jahren (§ 216 Abs. 2) und die Berichtigung einer Falschaussage (§ 442) beibehalten. Außerdem fügte er – in bemerkenswerter Einschränkung gegenüber dem Vorentwurf von 1909 (s.o.) – den abergläubischen Versuch hinzu (§ 27 Abs. 3). Das 7. StÄG von 1964 milderte im Anschluss an Sprengstoffattentate Westberliner Studenten auf die Berliner Mauer die Strafvorschriften gegen Sprengstoffdelikte ab und führte dabei erstmals für Gefährdungsdelikte bei tätiger Reue die Möglichkeit des Absehens von Strafe ein (§ 311b StGB).

9

Dallinger JZ 1951, 622 (624). Materialien zur Strafrechtsreform, 1. Band, Gutachten der Strafrechtslehrer (1954), S. 69,

10

80.

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Das Straßenverkehrssicherungsgesetz von 1964 vollzog das gleiche für die §§ 315, 315b StGB. Im 8. StÄG von 1968 wurde neben neuen Fällen der tätigen Reue (§§ 84 Abs. 5, 85 Abs. 6) und der geringen Schuld (§§ 86 Abs. 4, 86a Abs. 3, 89 Abs. 3) der Anwendungsbereich des Absehens von Strafe insofern grundsätzlich erweitert, als die bisherigen Regelungen über die Straffreiheit bei rechtzeitiger Mitteilung über das Bestehen einer kriminellen Vereinigung (§§ 129 Abs. 4, 129a Abs. 2 StGB) zu bloßen Möglichkeiten des Absehens von Strafe herabgestuft wurden (§§ 129 Abs. 6 Nr. 2, 129a Abs. 7 StGB). Dabei handelte es sich um eine verkappte Kronzeugenregelung.11 Eine solche Regelung wurde auch in das Betäubungsmittelgesetz eingefügt (§ 31). Im 1. StrRG von 1969 verzichtete der Gesetzgeber darauf, nach dem Vorbild des Alternativentwurfs für die Fälle der schweren Betroffenheit des Täters selbst durch die Folgen seiner Tat ein eigenes Rechtsinstitut des „Schuldspruchs unter Strafverzicht“ einzuführen, und begnügte sich mit der Möglichkeit des Absehens von Strafe (§ 16 n.F., seit dem 2. StrRG § 60 StGB). Damit erhielt das Absehen von Strafe abermals eine neue Funktion. Vor allem hier wurde die Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens nach § 153a (inzwischen § 153b) StPO lebhaft angegriffen; der Richter habe den objektiven Bedeutungsgehalt des Geschehenen ins allgemeine Bewusstsein zu heben.12 Andererseits erscheint es gerade hier aus humanitären Gründen angebracht, den Täter nicht nur von Strafe, sondern schon von einem Gerichtsverfahren zu verschonen. Das 2. StrRG übernahm aus dem E 1962 die Möglichkeit des Absehens von Strafe beim grob unverständigen Versuch (§ 23 Abs. 3 StGB). Das 3. StrRG von 1970 führte die Möglichkeit des Absehens von Strafe in einem weiteren Bereich ein, nämlich dem Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes (§§ 113 Abs. 4, 125 Abs. 2 StGB). Das 11. StÄG von 1971 sah für den neu eingeführten Tatbestand der Angriffe auf den Luft- und Seeverkehr als Absichts- und Unternehmensdelikt ebenfalls die Möglichkeit des Absehens von Strafe beim Rücktritt vor (§ 316c Abs. 4 StGB). Im 4. StrRG von 1973 wurde in § 174 Abs. 4 StGB eine erratische Bestimmung über die Möglichkeit des Absehens von Strafe eingefügt, wenn das Unrecht der Tat gering war. Vorausgegangen war eine rührselige Diskussion „tragischer Konfliktsituationen“ im Rechtsausschuss des Bundesta-

11 12

Bernsmann JZ 1988, 539 ff. Maiwald ZStW 83 (1971), 663 (694). S.a. Jescheck/Weigend (Fn. 2), S. 864.

Absehen von der Strafe und Absehen von der Strafverfolgung

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ges.13 Dass hierfür § 153 StPO völlig ausreichte, wurde nicht beachtet. Offensichtlich handelte es sich um eine Form der „symbolischen“, besser: „demonstrativen“ Gesetzgebung. Das EGStGB 1975 erweiterte die Möglichkeit des Absehens von Strafe auf die Strahlungsverbrechen (§ 311c StGB) und auf die Baugefährdung (§ 330 StGB). Außerdem brachte es eine erhebliche Konkurrenz für das Absehen von Strafe, indem es eine Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen und Weisungen einführte (§ 153a n.F. StPO). Eine solche erscheint – jedenfalls spezialpräventiv – wirkungsvoller als das vielbeschworene gerichtliche Absehen von Strafe. Außerdem wurde die Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens auf die Fälle der nicht schweren Schuld und damit auf die gesamte mittlere Kriminalität erweitert. Im 15. StrÄndG von 1976 kam es zu einer gesetzgeberischen Farce. Obwohl beim Schwangerschaftsabbruch für die Schwangere nur eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe angedroht war, wurde noch die Möglichkeit des Absehens von Strafe vorgesehen, wenn die Schwangere sich zur Zeit des Eingriffs in besonderer Bedrängnis befunden hat (§ 218 Abs. 3 S. 3 StGB). Diese Regelung wurde durch das SchwangerenFamilienhilfeänderungsgesetz von 1995 auch für das geltende Recht beibehalten (§ 218a Abs. 4 S. 2 StGB). Dieses Ergebnis hätte sich ohne weiteres mit § 153 StPO erzielen lassen; es handelte sich wiederum um eine demonstrative Gesetzgebung. Das 2. WiKG von 1986 sah für den neu eingeführten Tatbestand des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt die Möglichkeit des Absehens von Strafe bei Selbstanzeige vor (§ 266a Abs. 6 StGB). Das Gesetz zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität von 1992 sah für den neu eingeführten Tatbestand der Geldwäsche die Möglichkeit des Absehens von Strafe für die Mitwirkung bei der Verbrechensverfolgung vor (§ 261 Abs. 10 StGB). Das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege von 1993 ermöglichte der Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens nach den §§ 153, 153a StPO ohne Zustimmung des Gerichts und erweiterte ihre Möglichkeiten daher erheblich über § 153b StPO hinaus. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 führte für den Täter-OpferAusgleich die Möglichkeit des Absehens von Strafe ein (§ 46a StGB). Hiermit wurde dem Absehen von Strafe eine weitere Funktion aufgebürdet: nicht mehr Geringfügigkeit, tätige Reue oder Mitwirkung bei der Verbrechensbekämpfung, sondern Wiedergutmachung. Da § 153a StPO als Aufla-

13

BT-Drs. VI/3521, S. 21.

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ge eine Leistung zur Wiedergutmachung des durch die Tat verursachten Schadens vorsah (Abs. 1 Nr. 1), wurde die Überschneidung mit der Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens offensichtlich. Diese Überschneidung wurde noch verstärkt, als durch das Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs von 1999 in § 153a StPO die Weisung zur Bemühung um einen Täter-Opfer-Ausgleich und um Wiedergutmachung aufgenommen wurde (Abs. 1 S. 2 Nr. 5). Das 6. StrRG von 1998 schließlich führte die Möglichkeit des Absehens von Strafe bei der tätigen Reue bei der Verkehrsunfallflucht (§ 142 Abs. 4 StGB) und bei geringer Schuld beim Kinderhandel (§ 236 Abs. 5 StGB) ein. Die Vorschriften über die tätige Reue bei Gefährdungsdelikten wurden auf der Grundlage des bisherigen § 311e StGB vereinheitlicht14 (§§ 306e, 314a, 320, 330b StGB). Dabei wurde bemerkenswerterweise die bisherige Straflosigkeit bei der tätigen Reue bei der Brandstiftung (§ 310 StGB) zu der bloßen Möglichkeit des Absehens von Strafe abgeschwächt (§ 306e StGB). Neu eingeführt wurde die Möglichkeit des Absehens von Strafe für die Freisetzung ionisierender Strahlen (§ 311 StGB), die Überschwemmung (§ 313 StGB), die Gemeingefährliche Vergiftung (§ 314 StGB) und die Beschädigung wichtiger Anlagen (§ 318 StGB).

III. Fazit Seit ihrer Einführung durch die Nationalsozialisten hat sich die Möglichkeit des Absehens von Strafe im deutschen Strafrecht ungeheuer ausgebreitet. Eine Zählung ist schwierig, da die gesetzliche Anordnung z.T. mehrere Tatbestände erfasst (z.B. § 136 Abs. 4 StGB). Nach meiner Zählung beträgt die Zahl der Fälle der Möglichkeit des Absehens von Strafe derzeit 47. Das Absehen von Strafe trägt damit wesentlich zur Umwandlung des Strafgesetzbuchs in ein „Straf- und Straffreistellungsgesetzbuch“ bei.15 Dabei handelt es sich überwiegend um Fälle der Sanktionsmilderung. Allerdings ist diese – abgesehen von § 60 StGB – als bloße Kann-Bestimmung und zudem in den meisten Fällen als bloße Alternative neben der Möglichkeit der Strafmilderung sehr schwach ausgestaltet. In einigen Fällen ist die Möglichkeit des Absehens von Strafe aber auch eine Sanktionsverschärfung gegenüber der bisherigen Strafbefreiung (z.B. im 8. StÄG und bei der tätigen Reue bei der Brandstiftung, § 306e StGB). Dabei hat sich die Möglich-

14 15

BT-Drs. 13/8587, S. 52. Schroeder, FS Eser (2005), S. 181 ff.

Absehen von der Strafe und Absehen von der Strafverfolgung

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keit des Absehens von Strafe zum Allheilmittel für alle möglichen Fälle eines geminderten Sanktionsbedürfnisses entwickelt: –

geringes Unrecht und geringe Schuld



Rücktritt und tätige Reue bei Vorbereitungs-, Unternehmens- und Gefährdungsdelikten



Irrtum über rechtfertigende Umstände



Mitwirkung bei der Verbrechensbekämpfung („Kronzeuge“)



Selbstanzeige



Wiedergutmachung



Selbstschädigung.

IV. Absehen von Strafe oder Absehen von der Klageerhebung? Die Möglichkeit des Absehens von Strafe nach dem StGB steht in Konkurrenz zu der Möglichkeit des Absehens von der Anklageerhebung nach § 153b StPO. Nach den Ausführungen des Vertreters des Bundesjustizministeriums bei deren Einführung ging es dabei vor allem um politische Delikte mit einer größeren Zahl von Beteiligten (s.o.). Weder diese Begründung noch alle hochtrabenden Worte über die general- und spezialpräventive Wirkung des Richterspruchs über das Absehen von Strafe haben dessen fast völlige Verdrängung durch das Absehen von der Klageerhebung verhindert; seine praktische Anwendung ist marginal. Dabei erlaubt § 153b StPO trotz des abweichenden Wortlauts gegenüber den §§ 153, 153a StPO keine Nichtberücksichtigung des öffentlichen Interesses an einer gerichtlichen Verhandlung.16 Nach Weßlau soll wegen der Kontrollfunktion der Hauptverhandlung und des Grundsatzes der Öffentlichkeit bei so genannten Kronzeugen von § 153b StPO nur ausnahmsweise Gebrauch zu machen sein17. Allerdings erscheint gerade bei derartigen Personen wegen der Gefährdung durch ihre Mitarbeit ein Verzicht auf eine Hauptverhandlung geboten. Wenn die Staatsanwaltschaft in derartigen Fällen einmal Anklage erhebt, so wird meist nicht ein gerichtliches Absehen von Strafe, sondern nur eine Strafmilderung in Betracht kommen. Die praktische Ent-

16 17

Zutreffend Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 153b Rn. 1. SK-StPO, 31. Lfg. (2003), § 153b Rn. 1.

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wicklung der beiden Rechtsinstitute ist zugleich ein Lehrstück für den Gesetzgeber: eröffnet er eine verführerische Möglichkeit zur Arbeitsersparnis, verpuffen alle Appelle zu Gunsten eines Rechtsinstituts. Damit verblasst die Funktion der Möglichkeit des Absehens von Strafe im materiellen Recht zu einer Verweisung auf die Möglichkeit des Absehens von der Klageerhebung im Prozessrecht. Nachdem durch das Gesetz zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3.3.2004 vom 24.6.2005 erstmals Verweisungen auf die StPO in das StGB aufgenommen worden sind (§ 129 Abs. 4), stünde an sich nichts entgegen, an Stelle der Möglichkeit des Absehens von Strafe einen direkten Hinweis auf § 153b StPO in das StGB aufzunehmen. Die Erwähnung im StGB hat bei den Fällen des Rücktritts die Funktion, den Täter im Sinne einer „Generalstimulation“ zu einem Rücktritt zu motivieren. In anderen Fällen, so beim Schwangerschaftsabbruch und bei den Sexualstraftaten, ist die Anordnung der Möglichkeit des Absehens von Strafe im StGB eine Konzession an die öffentliche Meinung, weniger eine (nur) „symbolische“, als eine „demonstrative Gesetzgebung“.

V. § 153b oder §§ 153, 153a StPO? Sind wir somit bei der StPO angelangt, so stellt sich das Problem der Konkurrenz des § 153b zu den §§ 153, 153a. Einfach ist die Entscheidung bei den Verbrechen, da hier nur § 153b in Betracht kommt. Doch sind dies die Ausnahmefälle (§§ 60, 83a, 129a, 157, 158 [beide nur bezüglich des Meineids], 307, 308, 309, 313 StGB). In der großen Mehrzahl der Fälle sind daneben § 153, mindestens aber § 153a anwendbar. Die meisten Kommentatoren überlassen der Staatsanwaltschaft die freie Auswahl. Nach Schöch geht § 153b vor, da hier nicht erst das öffentliche Interesse beseitigt werden müsse.18 Dass jedoch auch bei Paragraph 153b StPO das öffentliche Interesse berücksichtigt werden muss, wurde bereits dargelegt. Nachdem die Praxis – wie dargelegt – auf die Möglichkeit eines gerichtlichen Schuldspruchs mit seiner general- und spezialpräventiven Wirkung weit gehend verzichtet hat, sind Auflagen und Weisungen nach § 153a geeignet, wenigstens noch einen Rest von Sanktion zu erhalten. Sofern keinerlei öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht, geht § 153 vor.19 Voraussetzung ist allerdings, dass ein Fall geringer Schuld und nicht ein Fall der sonstigen Gründe

18 19

AK-StPO, Bd. II, 1 (1992), § 153b Rn. 4. Zutreffend, wenn auch missverständlich, SK-StPO/Weßlau (Fn. 17), § 153b Rn. 7.

Absehen von der Strafe und Absehen von der Strafverfolgung

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für das Absehen von Strafe (s.o.) gegeben ist. Nach Weßlau beruht § 153b auf dem Prinzip der Vorleistung, so dass er anzuwenden sei, wenn die Vorleistung bereits erbracht sei.20 Diese Rechtsnatur lässt sich dem § 153b jedoch nicht entnehmen. Auf die komplizierten und umstrittenen Verhältnisse beim Täter-Opfer-Ausgleich kann hier nicht eingegangen werden. Werden die Voraussetzungen des Absehens von Strafe genau umschrieben, wie insbesondere beim grob unverständigen Versuch, bei der tätigen Reue und der Mitwirkung bei der Verbrechensbekämpfung („Kronzeuge“), so entfaltet § 153b eine Sperrwirkung gegenüber den §§ 153, 153a in der Richtung, dass nicht bei Fällen, in denen diese Voraussetzungen nicht erreicht sind, eine Einstellung nach den §§ 153, 153a erfolgen kann.

20

Vgl. Fn. 18.

Zur Kritik des amerikanischen Strafprozessmodells BERND SCHÜNEMANN

I. Als ich vor 16 Jahren auf Jornadas des spanischen Consejo General del Poder Judicial die Frage aufgeworfen habe, ob wir vor einem Triumphmarsch des amerikanischen Strafverfahrens in der Welt stehen1, muss ich prophetische Gaben besessen haben. Denn seitdem hat sich nicht nur die wichtigste Institution des amerikanischen Strafverfahrens, das plea bargaining, auf dem europäischen Kontinent immer weiter ausgebreitet, sondern auch die seit langem fällige Strafprozessreform in Lateinamerika ist stark in den Sog des Prozessmodells der USA geraten, und in China steht es ante portas. Wenn man nach den Gründen dafür fragt, so lässt sich zwar bei einem Vergleich des nordamerikanischen Parteiprozesses mit dem in Lateinamerika bis vor kurzem noch in Geltung befindlichen alten Inquisitionsprozess2 nicht bestreiten, dass der Parteiprozess wesentliche Vorteile aufweist und insbesondere dadurch, dass er die Subjektstellung des Beschuldigten maximal respektiert, dem Menschenbild einer modernen demokratischen Verfassung und dem rechtsstaatlichen Ideal des fair trial optimal entspricht. Die beiden fundamentalen Konstruktionsfehler des alten Inquisitionsprozesses, nämlich die Identität von Ermittlungsbehörde und Verurteilungsbehörde sowie die Leugnung der Subjektstellung des Beschuldigten3, sind auf dem europäischen Kontinent aber schon in der ersten

¿Crisis del procedimiento penal? – ¿Marcha triunfal del procedimiento penal americano en el mundo? (= Krise des Strafprozesses? – Siegeszug des amerikanischen Strafverfahrens in der Welt?), in: Jornadas sobre la „Reforma del Derecho Penal en Alemania“, Consejo General del Poder Judicial (comp.), Madrid (1992), S. 49–58. 2 Letzte Strafprozessreformen in Peru und Kolumbien in 2004. 3 Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. (1965), § 201; Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Aufl. (1968), § 9 IV 4, V (= S. 50 f.); Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. (1985), § 11 IV (= S. 67); Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. (1998), 1

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Bernd Schünemann

Hälfte des 19. Jahrhunderts im sog. reformierten Strafprozess beseitigt worden4. Und noch vor wenigen Jahrzehnten war in Europa deshalb die Meinung völlig herrschend, dass der auf diese Weise gefundene Kompromiss zwischen reinem Parteiprozess und altem Inquisitionsprozess dem nordamerikanischen Verfahren weitaus überlegen sei5. Für den aktuellen Triumphmarsch des nordamerikanischen Strafprozesses muss es deshalb andere Ursachen geben. Meiner Meinung nach liegen sie (was auf den ersten Blick paradox erscheint) gerade in den rechtsstaatlichen Defiziten des nordamerikanischen Modells, das hinter der glänzenden Fassade des idealen Parteiprozesses für über 90% der Fälle etwas ganz anderes praktiziert, nämlich eine ohne ernsthafte richterliche Kontrolle von den Ermittlungsbehörden durchgesetzte rasche Verurteilung. Nicht die rechtsstaatlichen Stärken, sondern genau umgekehrt dessen Schwächen machen also heutzutage das nordamerikanische System für die europäischen Strafverfolgungsorgane und die von ihnen beeinflusste Gesetzgebung so attraktiv. Aus dem gleichen Grunde trifft die von dem argentinischen Prozessualisten Binder am inquisitorischen System in zahllosen Veröffentlichungen artikulierte Fundamentalkritik6 nur den alten Inquisitionsprozess, nicht aber das heutige europäische Strafverfahren. Und es wäre meiner Meinung nach ein großer Irrtum, wenn man aus Binders Thesen für die weiterhin anstehenden Strafprozessreformen in China und Lateinamerika7 die Folgerung ableiten wollte, es müsse

§ 69 Rn. 6, 10; zum Inquisitionsprozess umfassend Eb. Schmidt, Inquisitionsprozess und Rezeption (1940); Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532–1846 (2002). 4 Roxin (Fn. 3), § 70 (= S. 526 ff.); Henkel (Fn. 3), § 10 (= S. 52 ff.); Peters (Fn. 3), § 11 IV (= S. 67); von Kries, Lehrbuch des deutschen Strafprozessrechts (1892), S. 60 ff.; Planck, Systematische Darstellung des deutschen Strafverfahrens (1857); Mittermaier, Die Gesetzgebung und Rechtsübung über Strafverfahren nach ihrer Fortbildung (1856); Heffter, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, 6. Aufl. (1857), S. 525 ff.; Zachariä, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens (1846). 5 Vgl. dazu etwa Bader NJW 1949, 738; Hartung ZStW 64 (1952), 110; ders. ZStW 73 (1961), 483; Schönke DRZ 1950, 436; Eb. Schmidt NJW 1963, 1088; ders. MDR 1967, 881; sowie Henkel (Fn. 3), S. 111, Fn. 15 m.z.w.N; vgl. auch die Nachweise bei Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens (1971), S. 114 ff. 6 Binder, Justicia penal y Estado de Derecho, Buenos Aires (1993), S. 180 ff., 204 ff.; ders., Ideas y materiales para la reforma de la Justicia Penal, Buenos Aires (2000), S. 26 ff., 73, 127 ff.; ders., La fuerza de la Inquisición y la debilidad de la República, in: Ciencias Penales, November 2005, San José, Costa Rica, S. 38 ff., u.a. 7 Für einen Überblick über die Reformen in Lateinamerika vgl. Gómez Colomer, in: ders./González Cussac (Hrsg.), La reforma de la justicia penal, Castellón (1997), S. 459 ff.; Maier/Ambos/Woischnik (Hrsg.), Las reformas procesales penales en América Latina, Buenos Aires (2000); Binder, Ideas y materiales (Fn. 6), S. 125, Fn. 2; Ambos/Woischnik ZStW 113

Zur Kritik des amerikanischen Strafprozessmodells

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das nordamerikanische System übernommen werden. Denn dieses System läuft hinter der bloßen Fassade des Schwurgerichtsverfahrens in der Praxis weitgehend auf den alten Inquisitionsprozess hinaus. Und auch seine theoretischen Grundlagen halten einer kritischen Überprüfung nicht stand. Das will ich nachfolgend in aller Kürze begründen.

II. Ich beginne mit der Fassade des nordamerikanischen Modells, die auf zwei Säulen ruht: auf der mündlichen Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht und deren Durchführung nach dem sog. adversatorischen Prinzip8. Die erste Säule, dass die Verurteilung ausschließlich aufgrund derjenigen Beweisaufnahme erfolgen kann, die in einer mündlichen und öffentlichen Hauptverhandlung durchgeführt wird, hat sich schon im 19. Jahrhundert auch auf dem europäischen Kontinent durchgesetzt9. Auf die deshalb fast paradox wirkende Entwicklung, dass gerade diese Säule in den letzten Jahren ins Wanken geraten und in den USA weitgehend umgestürzt worden ist, komme ich später zurück. Unabhängig von dieser Paradoxie kommt es für die Beantwortung der Frage nach der Vorzugswürdigkeit des nordamerikanischen Modells auf die zweite Säule an, also darauf, ob der adversatorische Aufbau der Hauptverhandlung dem in Europa vorherrschenden inquisitorischen Aufbau vorzuziehen ist. Beim inquisitorischen Aufbau bestimmt der Richter selbst die Beweisaufnahme und führt sie auch selbst durch, nachdem er sich das dafür notwendige Wissen durch die Lektüre der Ermittlungsakten verschafft hat, welche ihm von der Staatsanwaltschaft zusammen mit der Anklageschrift übersandt werden. Umgekehrt werden die

(2001), 334 ff.; Woischnik, Untersuchungsrichter und Beschuldigtenrechte in Argentinien (2001); Alvarez, Revista Sistemas Judiciales (2002), Nr. 3; Reyes Medina/Solanilla Chavarro/Solórzano Garavito, Sistemas procesales y oralidad, Bogotá (2003); Bernal Cuéllar/Montealegre Lynett, El Proceso penal, 5. Aufl. (2004); González Ruiz/Mendieta Jiménez/Buscaglia/Moreno Hernández, El sistema de justicia penal y su reforma, Mexiko (2005), S. 288 ff.; Reyna Alfaro, El proceso penal aplicado, Lima (2006). Zur Reform in der VR China vgl. Schünemann, Fudan Law Journal 2006, 65 ff.; Meijun Xu, Chinese Law Science 2003, 12; dies., Law Science and Social Development 2003, S. 138 ff.; Rongbing, Enhance the Judicial Reform and Insure the Implementation of the Criminal Procedure Law, in: China Legal Education – Striving for the World, Peking (2001), S. 670 ff. 8 Vgl. etwa Kamisar/LaFave/Israel, Modern Criminal Procedure, 7. Aufl., Minnesota (1990), S. 1048 ff., 1288 ff.; Whitebread/Slobogin, Criminal Procedure, 3. Aufl., New York (1990), S. 660 ff., 711 ff. 9 Nämlich im reformierten Strafprozeß, siehe bereits Fn. 4.

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Beweismittel beim adversatorischen Aufbau vom Staatsanwalt oder vom Verteidiger ausgesucht, die dann auch selbst die Beweiserhebung durchführen, d.h. die eigenen Zeugen befragen und die von der Gegenpartei präsentierten Zeugen ins Kreuzverhör nehmen. Das Gericht ist darauf beschränkt, diese Beweisaufnahme als Zuschauer und Zuhörer zu erleben, es kennt also weder die Ermittlungsakten, noch hat es die Möglichkeit, ergänzende Fragen zu stellen10. Welches der beiden Grundmodelle der adversatorischen oder der inquisitorischen Hauptverhandlung vorzugswürdig ist, hängt von der größeren oder geringeren Tauglichkeit zur Erreichung der Ziele des Strafverfahrens ab. Ihre Beantwortung stellt geradezu ein Musterbeispiel für die rechtswissenschaftliche Methode der Zweck-Mittel-Reduktion dar, mit deren Hilfe aus einer abstrakten Norm (wie derjenigen über das vom Strafprozess zu erreichende Ziel) auf konkrete Regelungen (hier: über die zur Zielerreichung am besten geeignete Verfahrensstruktur) geschlossen werden kann11. Damit tritt allerdings schon im Ausgangspunkt das Problem auf, dass die Verfahrensziele selbst auf der Ebene der einzelnen nationalen Strafprozessordnungen äußerst umstritten sind und dass es deshalb erst recht anmaßend und womöglich sogar töricht erscheinen könnte, ein quasi aus dem Naturrecht folgendes Ziel des Strafverfahrens für alle denkbaren Rechtsordnungen zu behaupten. Aber der Schein trügt, denn für alle Staaten westlicher Prägung, deren Rechtssystem auf die Prinzipien des demokratischen, liberalen und sozialen Rechtsstaats gegründet ist, lässt sich folgende stringente Ableitungskette zusammenfügen: Das materielle Strafrecht ist die ultima ratio zum Rechtsgüterschutz durch die generalpräventive Wirkung der Verhaltensnorm12; deren Missachtung muss zur Durchsetzung der Sanktions-

10 Ob es sich bei dem Gericht um vom Staat ernannte Berufsrichter oder um durch das Los bestimmte Geschworene handelt, bedeutet eine zusätzliche Alternative, die sich aber praktisch nur für das adversatorische Modell als Möglichkeit ergibt. Denn es ist kaum realisierbar, dass ein Geschworener als juristischer Laie die Akten vorher lesen, danach die Hauptverhandlung konzipieren und die Beweisaufnahme selbst leiten und durchführen würde. Die inquisitorische Hauptverhandlung kann deshalb nur von Berufsrichtern geleitet werden; bei der adversatorischen Hauptverhandlung gibt es dagegen die Alternativen des Schwurgerichts, der reinen Berufsrichter oder auch einer Mischung von Berufs- und Laienrichtern. 11 Ein weiteres Beispiel für das Zusammenspiel von ontologischen und normativen Gesichtspunkten bei Schünemann, FS Roxin (2001), S. 31. 12 Für die Ableitung dieses Grundsatzes aus den letzten Gründen von Staat und Recht kann ich in diesem Zusammenhang nur auf meine eigene Position in einer immer noch kontroversen Diskussion verweisen, s. Schünemann, FS Roxin (2001), S. 26 ff.; ders., in: Hefendehl u.a. (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie (2003), S. 133 ff.; ders., in: v. Hirsch u. a. (Hrsg.), Mediating Principles (2006), S. 18 ff. Im Übrigen ist für die im Text zu findende Deduktion des Prozess-

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norm im Strafprozess festgestellt und geahndet werden; das unverbrüchliche Primärziel des Strafverfahrens besteht also in der sicheren Feststellung, ob die Verhaltensnorm missachtet worden ist; jeder Strafprozess muss also so konstruiert werden, dass er zur Ermittlung der materiellen Wahrheit führt, d.h. zu einer sicheren Feststellung über die vermutete Tat13. Die Tauglichkeit zur Auffindung der materiellen Wahrheit bildet also nach wie vor den archimedischen Punkt für jede Konstruktion des Strafverfahrens, während alle anderen Zwecke entweder daraus abgeleitet werden oder lediglich zur Verhütung schädlicher Nebenfolgen ergänzend hinzutreten. Die in der Philosophie anhaltenden Grundsatzkontroversen um den Wahrheitsbegriff können hieran ebenso wenig etwas ändern wie die Einsicht, dass das menschliche Erkenntnisvermögen überhaupt und insbesondere im Strafverfahren niemals eine vollständige Übereinstimmung von Aussage und Wirklichkeit, sondern nur Annäherungslösungen erreichen wird. Denn die hiermit apostrophierte Korrespondenztheorie der Wahrheit entspricht exakt der in der Umgangssprache erfolgenden gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit und ist damit dem Strafverfahren als einem gesellschaftlichen Prozess völlig adäquat. Und die Einsicht in das begrenzte menschliche Erkenntnisvermögen und die spezifischen Schwierigkeiten der nachträglichen Aufklärung eines historischen Sachverhalts führt nicht etwa zu einer Unterminierung, sondern sogar zu einer Bekräftigung der Forderung nach einer auf die tunlichste Annäherung (genannt: Ermittlung) an die materielle Wahrheit gerichteten Verfahrensstruktur, weil der Strafprozess sonst ab ovo die präjudiziellen Forderungen des materiellen Rechts verfehlen müsste. Mit dieser Schlussfolge hätte ich noch vor wenigen Jahrzehnten weltweit auf uneingeschränkte Zustimmung rechnen können, aber mittlerweile gibt es drei einflussreiche Gegenpositionen, deren Ablehnung ich wenigstens kurz erläutern muss:

ziels nur die generalpräventive Aufgabe des Strafrechts als solche relevant. Selbst wenn man mit dem Beschluss des BVerfG v. 26.2.2008 (2 BvR 392/07) so gut wie jeden nicht gänzlich törichten Anlass für die strafrechtliche Intervention ausreichen lassen wollte (dazu krit. Schünemann, FS Amelung [2009]), müsste doch dieser Anlass wieder von Amts wegen festgestellt werden, so dass sich am Ziel des Strafverfahrens nichts ändern würde. 13 KK-StPO/Pfeiffer, 5. Aufl. (2003), Einl. Rn. 52; KMR/Eschelbach, 48. Lfg. (2007), Einl. Rn. 19 ff.; HK-StPO/Krehl, 3. Aufl. (2001), Einl. Rn. 5; LR/Kühne, 26. Aufl. (2006), Einl. Abschn. B, Rn. 20 ff. Wie zunächst das Reichsgericht und sodann der Gesetzgeber dieses im Kampf um die Schwurgerichte im 19. Jahrhundert ausgesprochen irrational (miss)verstandene Prinzip meisterhaft in ein dogmatisches Zwillingsinstitut in Gestalt der richterlichen Aufklärungspflicht und des elaborierten Beweisantragsrechts überführt haben, hat der verehrte Jubilar kongenial dargestellt, s. Fezer, FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 847 ff.

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1. Von Kritikern wird häufig behauptet, dass es „die“ materielle Wahrheit nicht geben würde, sondern vielmehr zahlreiche unterschiedliche Wahrheiten, je nach dem, aus welcher Perspektive man die Wirklichkeit betrachten würde14. Aber das ist ein kategorialer Irrtum, denn die damit gemeinte Frage, welcher Wirklichkeitsausschnitt für die gerichtliche Entscheidung relevant ist, ist keine Sache der Philosophie oder sozialen Ideologie, sondern eine Rechtsfrage, die von der anwendbaren Strafrechtsnorm entschieden wird. 2. Obwohl das adversatorische System, also der Parteiprozess, in den USA gerade als probates Mittel zur Wahrheitsfindung legitimiert wurde (worauf ich sogleich eingehen werde), könnte man es in weitaus stringenterer Weise auf die Idee der Autonomie der Parteien stützen, indem man die materielle Wahrheit als Basis des Strafverfahrens durch den Gedanken des Konsenses ersetzen würde. Genau diesen Versuch trifft man ja heute bei den Propagandisten der Urteilsabsprachen an15. Aber das verträgt sich weder mit dem materiellen Strafrecht noch mit den Fundamenten eines freiheitlichen Rechtsstaates. Wie ein Vergleich mit dem Zivilprozess zeigt, besteht die Grundlage des Parteiprozesses in der Privatautonomie der Bürger, die sich über ihre privatrechtlichen Verhältnisse nach Belieben einigen können, was konsequenterweise auch noch in den äußeren Formen eines Zivilprozesses möglich sein muss. Es steht im Belieben eines Bürgers, einem anderen Geld zu bezahlen, also kann er sich auch im Zivilprozess einer Pflicht zur Geldzahlung freiwillig unterwerfen. Es steht aber gerade nicht im Belieben des Bürgers, die staatliche Kriminalstrafe auszulösen – außer durch die Erfüllung des vom Gesetz festgelegten Straftatbestandes. Die Natur der Strafe als eines womöglich sogar die physische, mindestens aber die soziale Existenz zerstörenden oder zumindest schwer schädigenden, mit einem moralischen Tadel verbundenen Übels schließt es aus, dass der Staat diese schlimmste aller Rechtsfolgen zufügt, nur weil ein Bürger dies nach seinem Belieben möchte.

14 Volk, FS Salger (1995), S. 413 f.; Grasnick, FS Meyer-Goßner (2001), S. 208 f. u. 216; Krauß, FS Schaffstein (1975), S. 420; vgl. dazu auch Gössel, Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit im Strafprozeß (2000), S. 9 ff.; eingehende, letztlich unentschiedene Darstellung bei Stübinger, Das idealisierte Strafrecht (2008), S. 538 ff. 15 Herrmann JuS 1999, 1162 (1167); Gallandi NStZ 1987, 419 (420); ders. MDR 1987, 801 (802); Cramer, FS Rebmann (1989), S. 148; Grasnick GA 1990, 483 (491); Lüderssen StV 1990, 415 (419); ders. sowie Hassemer FS Hamm (2008), S. 171, 419; ähnlich auch Eser ZStW 104 (1992), 361 (383); Tscherwinka, Absprachen im Strafprozeß (1995), S. 46 f.; Jahn GA 2004, 415 (419); m. Kritik Lien GA 2006, 129 (143); ders. ZStW 118 (2006), 437.

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3. Die dritte und gegenwärtig in Lateinamerika einflussreichste Alternative stammt von Binder, der der Strafjustiz in erster Linie eine friedensstiftende Funktion16 zuschreibt und dies mit dem ultima-ratio-Prinzip begründet17. Aber darin steckt eine semantisch unklare Vermengung unterschiedlicher Aspekte: Das ultima-ratio-Prinzip ist prinzipiell bereits im materiellen Recht zu realisieren, so dass bei der Erfüllung eines Straftatbestandes die Notwendigkeit des staatlichen Einschreitens mit dem Mittel der Strafe im Kern bereits vorentschieden ist. Der Rückgriff auf das sozialphilosophische Ideal der Friedensstiftung führt deshalb an dieser Stelle in die Irre, weil die Rechtsordnung bereits die Entscheidung getroffen hat, dass die Rechtsgüterverletzung nicht auf sozialpolitischem Wege aus der Welt geschafft werden kann, sondern ein Einschreiten des Strafrechts verlangt. Ob ein derartiger zwingender Anlass besteht, der nach der Vorentscheidung des materiellen Rechts eine Konflikterledigung innerhalb der gesellschaftlichen Mechanismen nicht mehr zulässt, müssen die staatlichen Instanzen selbst beurteilen, nicht die Betroffenen. Das inquisitorische Prinzip, also die Aufgabe des Staates zur Aufklärung des Verdachts einer Straftat von Amts wegen, ist damit eine notwendige Konsequenz aus der Institution des staatlichen Strafrechts überhaupt, so dass die daran von Binder geübte Grundsatzkritik fehlgeht. Es kann lediglich Bereiche der Unsicherheit geben, in denen es nicht von den begrifflichen Voraussetzungen, sondern von dem konkreten Umfang einer Straftat abhängt, ob die Verhängung von Kriminalstrafe nach dem ultima-ratio-Prinzip erforderlich ist oder nicht. Und in diesem Übergangsbereich kann es auch eine Rolle spielen, ob der Konflikt innerhalb der Gesellschaft beigelegt werden kann, beispielsweise durch Wiedergutmachung seitens des mutmaßlichen Täters gegenüber dem mutmaßlichen Opfer18. Ob ein solcher Übergangsbereich vorliegt, muss aber wiederum vom Staat verantwortlich geprüft werden, so dass auch auf dieser Stufe das inquisitorische Prinzip unverzichtbar ist. Dies gilt nun erst recht (und damit komme ich zu meinem eigentlichen Thema) für die Haupt-

16 Was unter dem Topos des Rechtsfriedens auch in der deutschen Verfahrenszieldiskussion eine Rolle spielt, aber richtigerweise nur zur Legitimation des Instituts der Rechtskraft einschlägig ist, weil das präjudizielle Normprogramm des StGB auf den Rechtsfrieden als solchen nur ausnahmsweise wie etwa bei den Antragsdelikten Rücksicht nimmt. 17 Binder, Ideas y materiales (Fn. 6), S. 115 f., 130, 177; ders., Justicia penal y Estado de Derecho (Fn. 6), S. 61 ff. 18 Während der Gesetzgeber den Täter-Opfer-Ausgleich bei uns bisher vorsichtshalber im materiellen Recht nur als Strafmilderungsinstrument etabliert hat (§ 46a StGB), kann daraus im Prozess im gesamten Anwendungsbereich des Opportunitätsprinzips und damit für alle Vergehen über die Einstellung ein Instrument der Diversion gemacht werden, siehe § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 5.

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verhandlung im Strafverfahren, denn wenn der Prozess bis zu diesem Stadium gelangt ist, so muss vorher festgestellt worden sein, dass die Rechtsgutsverletzung so gravierend ist, dass die innergesellschaftlichen Mechanismen zur Konfliktlösung nicht mehr ausreichen und die Verhängung staatlicher Kriminalstrafe zu fordern ist. Weil die Verhängung selbst nun aber unverzichtbar voraussetzt, dass der für den Staat handelnde Richter von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist und überzeugt sein darf, ist das Prinzip der materiellen Wahrheit für die Hauptverhandlung unverzichtbar. Und daraus folgt, dass die Friedensstiftung im Sinne von Binder jedenfalls in der Hauptverhandlung hinter dem Prinzip der materiellen Wahrheit sekundär ist und nicht beanspruchen kann, das für die Hauptverhandlung maßgebliche Prozessmodell zu prägen. Alle Konsequenzen, die Binder hieraus für die Verwerfung einer inquisitorischen Struktur und für die Forderung einer adversatorischen Struktur ableitet, sind deshalb unschlüssig, weil die Prämisse nicht gebilligt werden kann.

III. Damit bleibt es aber dabei, dass das Prozessmodell der Hauptverhandlung in erster Linie anhand der Tauglichkeit zur materiellen Wahrheitsfindung ausgewählt werden muss. Und in dieser Hinsicht weist nun das nordamerikanische, rein adversatorische Modell tief sitzende Mängel auf, die durch die hinzukommende Alternative des Geschworenengerichts sozusagen festgeschrieben werden. 1. Zwar ist häufiger die These zu hören, dass gerade das adversatorische Modell mit seiner Institutionalisierung von These und Gegenthese am besten geeignet sei, als Synthese die Wahrheit hervortreten zu lassen19, aber das ist in informationstheoretischer und informationspsychologischer Hinsicht unrichtig, wobei sich diese Unrichtigkeit sogar auf drei verschiedenen Ebenen nachweisen lässt. a) Die erste Ursache der Desorientierung ist auf der Ebene der Parteien angesiedelt, die sowohl den Umfang als auch den Inhalt der Beweisaufnahme bestimmen und sich hierbei nicht von dem reinen Ziel der Wahrheitsfindung, sondern von strategischen Zielen leiten lassen. So mag etwa ein wichtiger, aber ambivalenter Zeuge existieren, den weder der Staatsanwalt noch

19

Etwa Herrmann (Fn. 5), S. 167 ff. mit vielen w.N.

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der Verteidiger aufruft, weil beide das Risiko scheuen, dass die Aussage letztlich zu ihren Lasten ausgeht. Eine unvollständige Beweisaufnahme kann aber niemals zum Ergebnis der materiellen Wahrheit führen, weil der Wahrheitsbegriff außerhalb exakt naturwissenschaftlich erklärbarer Zusammenhänge die Berücksichtigung sämtlicher Erkenntnisquellen voraussetzt20. Man könnte dieses erste, grundlegende Gebrechen der adversatorischen Hauptverhandlung das Dilemma zwischen Strategie und Wahrheitsfindung nennen. b) Auf der zweiten Ebene geht es um das – wie ich es nennen möchte – hermeneutische Dilemma. Der vollständige Sinn einer Frage ist nicht in den dafür benutzten Wörtern abschließend festgelegt, sondern hängt von dem Vorverständnis des Fragenden ab, der wiederum die Antworten im Bezugsrahmen dieses Vorverständnisses interpretiert. Daraus ergibt sich notwendig eine im Laufe der Hauptverhandlung immer mehr zunehmende Diskrepanz zwischen dem Verständnishorizont der Parteien und demjenigen des Richters21. Die einzige Möglichkeit, eine derartige Diskrepanz erkennbar und damit aufhebbar zu machen, besteht in einer Kommunikation zwischen den beteiligten Personen über den Inhalt der Beweisaufnahme und über ihr Verständnis davon. Ein Richter aber, der die Beweisaufnahme nur als stummer Zuhörer und Zuschauer erlebt, bleibt außerhalb dieses notwendigen Kommunikationskreises, so dass sein Verständnis mehr und mehr zu einem unkalkulierbaren Zufallsfaktor wird. c) Auf der dritten Ebene kommt das Lohengrin-Dilemma hinzu, wie ich es in Anspielung an die betreffende Sage und bekannte Oper von Richard Wagner nennen möchte. Es ist ganz unvermeidbar, dass sich einem um die Wahrheitsfindung ringenden Richter, der der Verhandlung als stummer Zuhörer folgen muss, eine ganze Reihe zusätzlicher Fragen aufdrängen, die er aber wegen des ihm auferlegten Frageverbots nicht stellen kann. Außerhalb naturwissenschaftlich exakt erklärbarer Verläufe kann jedoch abermals

Und zwar sowohl nach dem analytischen Prinzip der maximalen Bestimmtheit bei induktiv-statistischen Erklärungen (Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie I [1974], S. 664 ff.) als auch nach der mit der Konsensustheorie der Wahrheit intendierten idealen Kommunikationssituation (grundlegend Habermas, FS W. Schulz [1973], S. 220 ff.; ferner Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. [1990], S. 134 ff.); hierzu und zu der Bedrohung durch die anthropologischen Schranken objektiver Wahrheitsfindung eingehend Schünemann, ARSP-Beiheft Nr. 22 (Beiträge zur Rechtsanthropologie, hrsg. v. Lampe), 1985, S. 68, 73 ff. 21 Dazu eingehend Schünemann (Fn. 20); zu den sich daraus ableitenden Reformfragen ders. ZStW 114 (2002), 1 (52 f.); GA 1978, 161 (177 ff.). 20

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per definitionem keine Wahrheit gefunden werden, wenn derjenige, der über die Wahrheit befinden soll, Gesichtspunkte offen lassen muss, die er für relevant hält. Hieran wird auch letztlich nichts durch die Existenz des Berufsrichters geändert, der die Verhandlung lediglich leitet, die Entscheidung über die Schuldfrage aber der Jury überlassen muss. Zwar ist der die Verhandlung leitende Richter (judge) berechtigt, ergänzende Fragen zu stellen, aber da er ja wiederum die Schuldfrage nicht entscheiden kann, bleibt es dabei, dass das über die Schuldfrage entscheidende Gericht kein eigenes Fragerecht besitzt. 2. Das adversatorische Modell ist deshalb zur Wahrheitsfindung nur eingeschränkt geeignet und besitzt seine Vorzüge statt dessen genau dort, wo sie auch im Einklang mit einem für die USA typischen Gerechtigkeitsempfinden angesiedelt sind: Es geht um den fairen Wettstreit zweier Gegner, von denen der bessere gewinnen soll22. Wenn die Rechtsfolge darin bestünde, dass der Verlierer, also etwa der Verteidiger, die Kosten des Verfahrens tragen müsste oder mit einer Zurückstufung in der Rangliste der Verteidiger belegt würde, wäre dagegen auch gar nichts einzuwenden. Es geht aber um Verhängung von Kriminalstrafe nicht gegen einen der beiden Gegner, sondern gegen den Mandanten des Verteidigers, und die Tatsache, dass sein Verteidiger der schlechtere Kämpfer war, kann natürlich für die Bestrafung des Angeklagten keine ernsthafte Legitimation schaffen. Daraus ergibt sich, dass das adversatorische Modell die Hauptaufgabe der Hauptverhandlung, nämlich die Auffindung der Wahrheit, nicht befriedigend lösen kann. Weil das Gericht nicht die Vollständigkeit der Beweisaufnahme garantieren kann und weil es nicht in der Lage ist, Lücken der Vernehmungen durch eigene Fragen zu schließen, kann der „Wahrspruch“ (englisch verdict) in Wahrheit nicht die materielle Wahrheit der Tat, sondern nur den Sieg der einen oder anderen Prozesspartei feststellen und damit das zentrale Ziel des Strafverfahrens nicht optimal erreichen.

IV. Genau diese Reduzierung des Prozessziels der materiellen Wahrheit auf die mit dem Spruch des Schiedsrichters beim Boxkampf vergleichbare Feststellung, welcher Gegner gesiegt hat, wird in einer weiteren Besonderheit

Etwa Thibaut/Walker, Procedural Justice: A Psychological Analysis, Hilsdale (1975); dies. 66 Cal. L. Rev. 541 (1978); w.N. bei Herrmann (Fn. 5), S. 152 ff. 22

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des nordamerikanischen Strafverfahrens geradezu auf die Spitze getrieben: nämlich durch die Institution des guilty plea, das die Basis für die Entwicklung des heute den amerikanischen Prozess völlig dominierenden plea bargaining gebildet hat. 1. Zu einem Parteiprozess in seiner radikalen Form gehört die Möglichkeit jeder Partei, schon von vornherein die Richtigkeit des gegnerischen Rechtsstandpunktes anzuerkennen und dadurch eine gerichtliche Prüfung überflüssig zu machen. Das ist für einen Zivilprozess völlig normal, denn so wie sich kraft der Privatautonomie jeder Bürger zu jeder beliebigen Leistung durch einen Vertrag verpflichten kann, kann er auch durch Anerkenntnis der Klage in einem Zivilprozess den Anspruch des Klägers nach seiner freien Entscheidung akzeptieren und sich damit der weiteren Vollstreckung unterwerfen23. Genau das ist auch im nordamerikanischen Strafprozess möglich und geht auf frühe Einrichtungen des Verfahrens im common law zurück, wo letztlich zwischen Zivilprozess und Strafprozess gar nicht klar unterschieden worden war. Der Angeklagte kann sich danach zu Beginn des Verfahrens als schuldig bekennen und dadurch ohne weiteres die Verurteilung durch das Gericht auslösen, dem keine weitere Prüfung obliegt, als dass das Schuldbekenntnis ohne Täuschung oder unzulässige Zwangsausübung herbeigeführt worden ist24. Dieses so genannte guilty plea unterscheidet sich von dem Geständnis des Angeklagten im europäischen Strafverfahren in ganz entscheidender Weise, weil es eine Verfügung über den Prozessgegenstand enthält, eben die direkt zur Verurteilung führende Anerkennung der Richtigkeit der Anklage. Das Geständnis ist dagegen nur ein Beweismittel unter anderen und entbindet das Gericht nicht von der Pflicht, seine Glaubwürdigkeit durch weitere Beweismittel zu überprüfen25. Aus meinen eingangs angestellten Überlegungen zum Verhältnis von Strafrecht und Strafverfahren geht jedoch unmittelbar hervor, dass der Angeklagte im

Gemäß § 278 ZPO ist die „gütliche Beilegung des Rechtsstreits“ mittlerweile sogar als dominierendes Prozessziel etabliert worden – wogegen unter dem Aspekt der Privatautonomie der Parteien nichts einzuwenden wäre, wenn nicht der Pferdefuß des unverhüllten Vergleichszwanges seitens des Gerichts sichtbar wäre, der die auf weiten Strecken zu konstatierende Agonie des Zivilprozesses (dessen soziale Leistung im wesentlichen nur noch in der Durchsetzung von Lieferantenforderungen besteht, s. Röhl, Rechtssoziologie [1987], S. 500 ff.) mühsam verdeckt. 24 Denn die von der Rule 11 f der Federal Rules of Criminal Procedure verlangte sog. „factual basis“ eines guilty plea bedeutet kaum mehr, als dass der Angeklagte die Tat, die er gesteht, beschreiben kann, vgl. zum Ganzen Kamisar/LaFave/Israel (Fn. 8), S. 1268 ff.; Whitebread/Slobogin (Fn. 8), S. 646. 25 Dazu eingehend Hauer, Geständnis und Absprache (2007), S. 188 ff. 23

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Strafprozess nicht zur Verfügung über den Prozessgegenstand befugt sein darf, weil der Staat nur selbst zu entscheiden hat, ob Strafe verwirkt ist. Jemanden allein deshalb zu verurteilen, weil er dies wünscht, könnte dem Zweck der Strafe nicht entsprechen und wäre geradezu Unsinn. Das Institut des guilty plea zerschneidet also den Legitimationszusammenhang des Strafverfahrens mit dem materiellen Strafrecht und kann deshalb niemals die Basis einer gerechten Verurteilung zu einer Kriminalstrafe bilden. 2. Die Institution des guilty plea zerstört aber nicht nur bei einer theoretischen Analyse die Gerechtigkeit des nordamerikanischen Strafverfahrens, sondern hat auch in der Prozesspraxis zu einer radikalen Revolution des Strafprozesses geführt, indem die Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht weitestgehend abgeschafft und durch ein guilty plea des Angeklagten ersetzt wurde, welches mit einer zumindest behaupteten Strafmilderung von ihm erkauft wurde. Die dafür entwickelte Methode des plea bargaining ist ungefähr einhundert Jahre alt, galt dann aber über viele Jahrzehnte hinweg selbst in den USA als rechtlich sehr zweifelhaft, bis sie schließlich in den letzten 30 bis 40 Jahren vom Obersten Gerichtshof der USA mit dem in der Verfassung verankerten Prinzip des rechtsstaatlichen Verfahrens (due process of law) für vereinbar erklärt wurde26. Seitdem werden weit über 90 % der amerikanischen Strafverfahren in der Weise abgewickelt, dass zwischen dem Staatsanwalt und dem Verteidiger ein guilty plea verabredet wird, wobei die Zustimmung des Beschuldigten durch eine Strafmilderung erkauft wird. Der letzte Teil der Gesamtabsprache, also die Bewerkstelligung einer Strafmilderung, war übrigens technisch am schwierigsten zu realisieren, weil die Strafzumessung allein dem Gericht zusteht, das wiederum lange Zeit durch die Strafzumessungsrichtlinien weitgehend gebunden war27. Trotzdem gab es auch früher schon Mittel und Wege, um diese vom Gesetzgeber gewollte exakte Bindung bei der Strafzumessung zu umgehen, etwa indem das guilty plea nur für eine weniger schwerwiegende Straftat erklärt wurde, als sie dem Beschuldigten eigentlich vom Staatsanwalt vorgeworfen wurde. Vor kurzem hat der höchste Gerichtshof der USA die Bindungswirkung der Strafzumessungsrichtlinien aber überhaupt für verfas-

26 Eingehende Darstellung bei Schumann, Handel mit Gerechtigkeit (1977), S. 73 ff.; Trüg, Lösungskonvergenzen trotz Systemdivergenzen (2003), S. 146 ff.; Whitebread/Slobogin (Fn. 8), S. 625 ff.; Kamisar/LaFave/Israel (Fn. 8), S. 1204 ff.; Haddad/Meyer/Zagel/Starkman/Bauer, Criminal Procedure, 5. Aufl., New York (1998), S. 1059 ff. 27 Zu den Strafzumessungsrichtlinien etwa Weigend, FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zu Köln (1988), S. 579 ff.; Reichert, Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien. Eine Untersuchung mit Bezug auf die „sentencing guidelines“ in den USA (1999).

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sungswidrig und damit für unwirksam erklärt28, so dass der Richter wieder über einen größeren Spielraum bei der Strafzumessung verfügt, wodurch es ihm wieder leichter gemacht wird, ein guilty plea des Angeklagten mit einer geringeren Strafe zu honorieren. Die Einwände gegenüber dieser Verfahrensform des plea bargaining sind so gewichtig und so zahlreich, dass ich sie selbst in einem eigenen Beitrag nicht vollständig vortragen könnte. Entscheidend ist die Ungerechtigkeit im Verhältnis zu demjenigen Angeklagten, der um seine Unschuld kämpft, ferner die rechtsstaatlich unerträgliche Druckausübung auf den Angeklagten und schließlich das Dilemma entweder zwischen zu großer Milde gegenüber dem Angeklagten oder der bloßen Vorspiegelung einer drastischen Strafmilderung. a) Wenn das guilty plea mit einer Reduzierung des Strafmaßes honoriert wird, bedeutet dies, dass derjenige erheblich strenger bestraft wird, der von seinem Recht auf Durchführung des Strafverfahrens Gebrauch macht und um seine Unschuld kämpft. Denn die Kehrseite der Strafmilderung ist ja auf der anderen Seite die Strafschärfung im Falle einer Verurteilung nach längerer Hauptverhandlung. Das Recht des Angeklagten, zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu schweigen, wird deshalb strukturell ausgehöhlt29. b) Zugleich wird auf den Angeklagten ein rechtsstaatlich unerträglicher Druck ausgeübt, wenn er sich sagen muss, dass er dafür, dass er von seinem Recht auf Durchführung einer Hauptverhandlung Gebrauch macht, mit einer Strafschärfung quasi doppelt bestraft werden kann30. c) Damit der Angeklagte zu einem guilty plea bewogen wird, muss die zugesagte Strafmilderung gegenüber der Strafe, die er im Falle einer Verurteilung nach durchgeführter Hauptverhandlung zu erwarten hätte, erheblich sein. Das bedeutet dann aber praktisch, dass nicht diejenige Strafe verhängt wird, die zum Rechtsgüterschutz aus generalpräventiven Gründen erforderlich wäre, sondern eine weitaus niedrigere, womit langfristig die Schutzaufgabe des Strafrechts unterlaufen wird. Wenn aber – umgekehrt – dem Angeklagten nur vorgespiegelt wird, dass er eine enorme Strafmilderung bekommen würde, wenn er ein guilty plea erklärt, dann macht sich der Staat

Nämlich in den Entscheidungen United States v. Booker, No. 04-104 und United States v. Fanfan, No. 04-105 des U. S. Supreme Court von 2005. 29 Darauf ist schon oft und völlig zutreffend hingewiesen worden, eingehend etwa Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren – Leitidee für eine Gesamtreform? (2002), S. 240 ff.; Hauer (Fn. 25), S. 269 ff. 30 Eingehend und mit zahlreichen Nachweisen Hauer (Fn. 25), S. 319 ff. 28

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einer prinzipiellen Täuschung des Angeklagten schuldig, die in einem Rechtsstaat nicht vorkommen darf31. d) Zu guter Letzt hat das Institut des plea bargaining noch eine weitere rechtsstaatswidrige Konsequenz, nämlich die weitere Schwächung der Stellung eines schwachen Angeklagten, der über einen niedrigen sozialen Status verfügt. Es leuchtet nach der Lebenserfahrung ohne weiters ein und ist in den USA auch in vielen empirischen Untersuchungen bestätigt worden, dass der Ausgang eines plea bargaining ganz wesentlich davon abhängt, mit welcher Intensität der Verteidiger die Interessen seines Mandanten wahrnimmt. Die strukturelle Benachteiligung von Angehörigen der Unterschicht im Strafverfahren, die nur von einem für ihre Interessen wenig engagierten public defender verteidigt werden, wird auf diese Weise geradezu potenziert32. e) In letzter Konsequenz wird man sogar sagen müssen, dass über das plea bargaining die Subjektstellung des Angeklagten wieder zerstört wird, die zu den wesentlichen Errungenschaften des reformierten Strafprozesses in Europa gehört hat. Denn das plea bargaining findet grundsätzlich ohne Anwesenheit des Beschuldigten selbst statt, der hierbei also vollständig von seinem Rechtsanwalt mediatisiert wird33. Für den Verteidiger bedeutet das oft genug eine Überforderung seiner Rolle, weil ihm seitens der Staatsanwaltschaft die Aufgabe zugedacht wird, den Mandanten zur Annahme des Ergebnisses des plea bargaining zu bewegen, womit der Verteidiger gewissermaßen als Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft fungiert. 3. Ich habe damit nur die wichtigsten Einwände gegen die Vereinbarkeit des plea bargaining mit dem Rechtsstaatsprinzip angeführt, viele weitere könnten hinzugefügt werden. Der Grund für dessen Einführung lag dementsprechend auch keinesfalls in der Überzeugung seiner besonderen Rechtsstaatlichkeit, sondern in der reinen Not der Praxis, die mit dem schwerfälligen Schwurgerichtsverfahren die Zahl der Strafverfahren einfach nicht zu verarbeiten schafft. Daran zeigt sich ein weiterer Mangel des adversatorischen Verfahrens vor dem Schwurgericht, weil es in Folge seiner Umständ-

Zu diesem Dilemma eingehend Hauer (Fn. 25), S. 336 ff. Näher Schünemann, Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur (2005), S. 24 ff. 33 Diese Eigenheit im amerikanischen plea bargaining hat sich sogar bruchlos auf die deutschen Urteilsabsprachen hin verlängert, wie bereits die Ergebnisse meiner Repräsentativumfrage gezeigt haben, in: Schünemann, Absprachen im Strafverfahren? Gutachten B zum 58. DJT, Bd. I (1990), S. B 151. 31 32

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lichkeit aus der Sicht der Praxis nach einer Korrektur verlangte. Dass diese Korrektur dann zu einer weitestgehenden Abschaffung der Hauptverhandlung überhaupt geführt hat, läuft auf die Paradoxie hinaus, dass der nach Meinung vieler Autoren besonders rechtsstaatliche Parteiprozess infolge des enormen Anwachsens der Kriminalität in der modernen Industriegesellschaft mit den Anforderungen der Praxis nicht mehr fertig geworden ist und dadurch zu dem absoluten Gegenteil geführt hat, nämlich der weitgehenden Abschaffung der Hauptverhandlung durch das vom Angeklagten im Wege des plea bargaining akzeptierte Ergebnis des Ermittlungsverfahrens.

V. 1. Wie ich schon eingangs erwähnt habe, ist es ausgerechnet diese rechtsstaatlich zweifelhafte, aber verführerische Wirkung des plea bargaining, die die Attraktivität des nordamerikanischen Verfahrens in der gegenwärtigen Strafprozessreform in Europa begründet hat. Spanien hat die früher eng begrenzte Sonderform der conformidad in den letzten Jahren enorm ausgeweitet34. Dasselbe gilt für die italienische Form des pattegiamento35, wobei es erwähnt werden muss, dass der damit gleichzeitig eingeführte Parteiprozess nach nordamerikanischem Vorbild bis heute in Italien nicht richtig funktioniert. Frankreich hat ebenfalls durch Gesetz die – freilich stark eingeschränkte – Möglichkeit einer Absprache über das Verfahrensergebnis eingeführt36, und dasselbe ist in Polen geschehen, wo inzwischen durch eine Gesetzesnovelle die Anwendungsmöglichkeiten noch mehr ausgedehnt worden sind37. Auch in Deutschland haben die Gerichte die Urteilsabspra-

Vgl. Art. 801 Abs. 2 spanischer LECrim; Armenta Deu, Lecciones de Derecho Procesal Penal, 2. Aufl., Barcelona (2004), S. 261 ff., insbes. 264 ff.; vgl. ferner Barona Vilar, in: Gómez Colomer/González Cussac (Hrsg.), La reforma de la justicia penal, Castellón (1997), S. 285 ff. m.w.N. 35 Stile ZStW 104 (1992), 429 ff.; Honert ZStW 106 (1994), 427 ff.; Festa, Absprachen im deutschen und italienischen Strafprozess (2003); Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen – Zugleich ein Beitrag zur Reformdiskussion unter besonderer Berücksichtigung der italienischen Regelung einvernehmlicher Verfahrensbeendigung (2006), S. 189 ff. 36 Durch Gesetz Nr. 2004-204 vom 9.3.2004, dazu Céré, Composition pénale (2004); Céré/Remillieux AJ Pénale 2003, 45; Grunvald/Danet, La composition pénale (2004); Molins AJ Pénale 2003, 61; Papadopoulos, „Plaider coupable“ (2004). 37 Die Absprachen wurden erstmals 1997 förmlich in die Strafprozessordnung aufgenommen (Art. 335, 387 ff. poln. StPO) und sind in der Reform von 2003 nochmals erweitert worden (Art. 335, 343, 387), dazu eingehend Kardas, in: Szwarc (Hrsg.), Das dritte deutsch-japanisch34

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chen unter Missachtung des Gesetzes immer exzessiver praktiziert, wobei sogar eine eigenartige Vermischung der beiden Prozessmodelle herausgekommen ist. Denn während in den USA der Staatsanwalt Partner des plea bargaining ist, übernimmt diese Rolle in Deutschland zumeist der Richter selbst, der damit vier verschiedene Prozessfunktionen in seiner Hand vereinigt und geradezu zum übermächtigen Despoten des Strafverfahrens avanciert38: Er leitet die Hauptverhandlung und erhebt die Beweise, wozu ihn die Kenntnis der gesamten Verfahrenakten in den Stand setzt; er hat später über das Urteil zu entscheiden; und er hat nunmehr unter Missachtung des Gesetzes die Macht an sich gerissen, mit dem Verteidiger eine Urteilsabsprache auszuhandeln39. 2. Die europäische Transformation des ursprünglich amerikanischen plea bargaining lässt erkennen, wo die eigentliche Dynamik in der globalen Entwicklung des Strafprozesses liegt, nämlich in der Abschaffung der öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung als Entscheidungszentrum, das in den letzten 200 Jahren die alleinige Grundlage einer Verurteilung zu Kriminalstrafe gebildet hat. Die USA sind mit der in der Praxis dominierenden Abschaffung der Hauptverhandlung durch das plea bargaining schon vor vielen Jahrzehnten vorangegangen, weil ihr Modell des Parteiprozesses mit dem darin existierenden Institut des guilty plea hierfür die juristischen Instrumente verfügbar hatte und weil sich die Gruppe der Beschuldigten noch viel deutlicher als in Europa aus zumeist farbigen Angehörigen der Unterschicht zusammensetzte, deren Vertrauen in das Rechtssystem ebenso reduziert war wie ihre soziale Handlungskompetenz, so dass sie sich von der aufwendigen Zeremonie in der Hauptverhandlung vor der Jury keinen Nutzen versprachen. Dass sich dieses Modell in Europa die Praxis erobern konnte, ohne dass dafür im europäischen Prozessmodell eine Grundlage existierte, war eine Folge der enormen Überlastung der Strafjustiz, die sich in den letzten Jahrzehnten durch das sprunghafte Anwachsen der Kriminalität und vor allem durch die sog. Monster-Verfahren ergab, womit Wirtschaftsstrafprozesse gemeint sind, die oft viele Monate, manchmal sogar

polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung, Poznán (2006), S. 131 ff. 38 Vgl. nur aus meiner eigenen Kritik hierzu bereits Schünemann, Absprachen (Fn. 33), S. 55 f., 119 f.; zuletzt in: Wetterzeichen (Fn. 32), S. 24 f.; ZStW 119 (2007), 945 (952). 39 Der literarische Kampf um die Urteilsabsprachen im Strafverfahren ist kaum noch überschaubar, vgl. nur zuletzt die Referate von Ignor, Meyer-Goßner und Schünemann auf der Osnabrücker Strafrechtslehrertagung, erschienen in der ZStW 119 (2007), 927 ff., 938 ff. und 945 ff.; Fischer NStZ 2007, 433; ders. FS Hamm (2008), S. 63 (72).

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Jahre dauerten40. Aber natürlich darf das praktische Bedürfnis in einem Rechtsstaat nicht über das Gesetz triumphieren, und es macht einen besonders abstoßenden Eindruck, wenn dies bei Strafrichtern geschieht, die andere Personen, die das Gesetz brechen, deswegen womöglich für Jahre ins Gefängnis schicken. Bei der deutschen Praxis der Urteilsabsprachen, für die der Gesetzgeber bis heute keine Legalisierung zu schaffen vermocht hat41, handelt es sich deshalb ganz eindeutig um ein Beispiel für den Niedergang der deutschen Rechtskultur, dessen ungeschminkte Darstellung in dem Beitrag eines deutschen Rechtswissenschaftlers etwas beschämend ist, aber aus Gründen der wissenschaftlichen Aufrichtigkeit nicht unterbleiben darf. 3. Für die Reformdiskussion sollte damit aber klar geworden sein, dass es nicht viel weiter führt, wenn man nach wie vor die alten Gegensätze von inquisitorischer und adversatorischer Hauptverhandlung gegeneinander setzt und diskutiert, denn wenn in den meisten Fällen (in den USA über 90%, in Deutschland sicher weit über 50%42) eine eigentliche Hauptverhandlung gar nicht mehr stattfindet, muss sich die Reformdiskussion in erster Linie mit den Problemen beschäftigen, die den Alltag der Strafjustiz beherrschen. Die entscheidende Frage lautet deshalb: Wie kann man einen Strafprozess legitimieren, der im Grunde nur aus dem Ermittlungsverfahren besteht, an dessen Ende der Beschuldigte mit dem Angebot einer erheblichen Strafmilderung, welches ja die Androhung einer erheblichen Strafschärfung für den Fall der Hauptverhandlung zur Kehrseite hat, zum Verzicht auf eine echte Hauptverhandlung und zur Unterwerfung unter die vom Staatsanwalt oder Richter für richtig gehaltene Strafe gebracht wird? a) Als erstes scheint mir evident, dass man das nicht mit einem angeblichen Konsensprinzip erklären kann, auch wenn das von den Apologeten der Urteilsabsprachen immer wieder versucht wird43. Denn die in den USA

40 Zu diesem Grund im einzelnen Schünemann, FS Pfeiffer (1998), S. 461 ff.; zur Entstehung der Urteilsabsprachen in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Schünemann, FS Heldrich (2005), S. 1177 ff. 41 Und dies trotz der geradezu flehentlichen Aufforderung des Großen Strafsenats in BGHSt 50, 40 (50 ff.) wohl auch in dieser Legislaturperiode nicht mehr schaffen wird, nachdem es um den von der Bundesjustizministerin im Mai 2007 mit großem Aplomb vorgestellten Referentenentwurf in der Zwischenzeit recht still geworden ist und die schwachbrüstigen, auf minimale Korrekturen hinauslaufenden Vorschläge aus Anwaltschaft und Justizverwaltung keine besseren Perspektiven bieten, siehe Schünemann ZRP 2006, 63; ders. ZStW 119 (2007), 953 ff.; ders./Haver AnwBl. 2006, 439; Fischer NStZ 2007, 433. 42 Neueste Zahlen Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, Die Praxis der Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren (2007), S. 55 ff. 43 Vgl. dazu bereits die Nachweise in Fn. 15.

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übliche Bezeichnung als „plea agreement“ oder die deutsche Bezeichnung „Urteilsabsprache“ oder in Spanien als „conformidad“ ist ja in Wahrheit ein Euphemismus, hinter dem sich eine durch starken Druck seitens der Strafjustiz erreichte Unterwerfung des Beschuldigten unter das vom Staatsanwalt oder Richter als „Mindestergebnis“ angestrebte Strafmaß verbirgt. Das Konsensprinzip ist also in praktischer Hinsicht eine Fiktion, und in theoretischer Hinsicht führt es nur wieder zu der Zerstörung der Verbindungslinie zum materiellen Strafrecht, die allein eine Verurteilung auf Basis der materiellen Wahrheit und nicht auf Basis irgendeines Einverständnisses des Betroffenen erlaubt. b) Statt dessen muss meiner Meinung nach der Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der Praxis und den vom materiellen Recht vorgegebenen Legitimationsbedingungen in folgender Weise gesucht werden: Wenn in vielen oder sogar den meisten Strafverfahren das Endergebnis ohne echte Hauptverhandlung direkt aus dem Ermittlungsverfahren abgeleitet wird, dann muss schon dieser Verfahrenabschnitt genügende Garantien enthalten, um als ein Instrument zur Findung der materiellen Wahrheit qualifiziert werden zu können. Das gegenwärtige Ermittlungsverfahren in den USA nicht anders als in Europa oder Lateinamerika enthält diese Garantien nicht, weil es einseitig von der Polizei und allenfalls noch von der Staatsanwaltschaft geführt wird, während die Stellung der Verteidigung so schwach ist, dass man von einer Kontrolle der Richtigkeit der Ermittlungen und von einer Balance zwischen Belastungsversuchen und Entlastungsversuchen nicht sprechen kann. Das Ermittlungsverfahren ist im Grunde identisch mit dem alten Inquisitionsprozess und leidet damit an allen seinen Einseitigkeiten und Gebrechen, die vor 200 Jahren zur Reform des Strafverfahrens in Europa geführt haben. Man muss also die Kontrollmechanismen und Ausbalancierungen, die damals durch die Erfindung der öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung geschaffen wurden, schon in das Ermittlungsverfahren einbauen. c) Wie das zu geschehen hat, kann ich am Ende meines Beitrages nicht mehr im einzelnen darlegen. Ich muss mich stattdessen auf einige Andeutungen beschränken. In Deutschland wird gegenwärtig ein Modell diskutiert, welches man „partizipatorisches Ermittlungsverfahren“ nennt und das die Einführung der adversatorischen Struktur der nordamerikanischen Hauptverhandlung schon in die Zeugenvernehmungen im Ermittlungsver-

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fahren zum Ziel hat44. Polizei und Justiz haben in Deutschland diese Vorschläge jedoch klar zurückgewiesen, weil sie eine vollständige Paralysierung der polizeilichen Ermittlungen befürchten, wenn ein Verteidiger schon von Anfang an alle Maßnahmen begleitet und dadurch in die Lage versetzt wird, die strategischen Maßnahmen der Polizei von vornherein zu durchkreuzen45. Ich teile diese Auffassung, dass es in allen komplizierteren Fällen zunächst einmal ein geheimes Ermittlungsverfahren geben muss, wenn überhaupt ein Aufklärungserfolg erzielt werden soll; namentlich im Bereich der organisierten Kriminalität wäre sonst das Ende jeder Strafjustiz und damit das Ende des staatlichen Rechtsgüterschutzes sicher46. Stattdessen sehe ich drei andere Möglichkeiten, schon im Ermittlungsverfahren eine hinreichende Balance zwischen den Verfolgungsinteressen und der Kontrollierbarkeit durch die Verteidigung herzustellen. Als erstes müsste man für alle heimlichen Ermittlungsverfahren eine neue und zusätzliche Institution schaffen, die nicht mit Staatsanwalt oder Strafjustiz identisch ist, sondern ausschließlich die Aufgabe eines Schutzes der Verteidigungsinteressen verfolgt. In meinen Vorschlägen für die Reform des europäischen Strafrechts hab ich sie „Eurodefensor“ genannt47. Zum zweiten müssten sämtliche Zeugenvernehmungen von Anfang an per Video aufgezeichnet werden, weil nur auf diese Weise der Verteidiger später, wenn er volle Akteneinsicht bekommt, die Verlässlichkeit einer Zeugenaussage beurteilen kann. Die gegenwärtige Praxis, die Zeugenaussage nur schriftlich aufzuzeichnen, führt nämlich, wie zahlreiche empirische Untersuchungen bewiesen haben, zu einem künstlichen Produkt aus dem Wissen des Zeugen und den leitenden Hypothesen der Vernehmungsbeamten. Und es ist später nicht mehr zuverlässig feststellbar, was als eigenes Wissen des Zeugen und was als Mutmaßung und Formulierung des Vernehmungsbeamten in das schriftliche Protokoll eingeflossen ist. Allein die komplette Videoaufzeichnung ermöglicht es dann aber später dem Verteidiger, etwa in der Aussage eines Belastungszeugen dessen wirkliches Wissen von den von der Polizei hineingetragenen

Dazu etwa (z.T. kritisch) Jahn ZStW 115 (2003), 815 ff.; Schünemann, GS Vogler (2004), S. 81 ff.; Wohlers GA 2005, 11 ff.; Satzger, Chancen und Risiken einer Reform des Ermittlungsverfahrens, Gutachten C für den 65. DJT, Bd. I (2004) mit zahlr. w.N. 45 Weshalb das partizipatorische Ermittlungsverfahren auf dem Mainzer Juristentag auch sein Waterloo erlebt hat und von der Mehrheit der Justizrepräsentanten niedergestimmt worden ist, siehe Verhandlungen des 65. DJT, Bd. II/1 (2004), S. O 89 ff. 46 So bereits Schünemann, GS Vogler (2004), S. 81 ff. 47 Bereits Schünemann ZStW 116 (2004), 376 (388 ff.); ders., in: ders. (Hrsg.) Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung (2004), S. 3 ff., 14 ff.; ders., in: ders. (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege (2006), S. 49 ff., S. 166 ff. 44

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Vermutungen zu unterscheiden48. Drittens muss der Verteidiger, wie es heute unter gewissen Bedingungen nach dem Prozessrecht der USA schon möglich ist, ein gesichertes Recht zur eigenen Zeugenvernehmung bekommen. Derartige eigene Beweiserhebungen des Verteidigers sind zwar heute auch im europäischen Strafprozess möglich und in der italienischen Strafprozessordnung sogar detailliert geregelt. Es fehlt aber jede Pflicht eines Zeugen, zur Vernehmung vor dem Verteidiger zu erscheinen, so dass es völlig vom guten Willen des Zeugen abhängt, ob er aussagt oder nicht. Nur durch ein gesichertes Recht, selbst Zeugen vernehmen zu können, kann der Verteidiger aber eine Waffengleichheit im Ermittlungsverfahren erreichen, wodurch erst die Balance des Verfahrens hergestellt wird. Selbstverständlich müsste auch die Vernehmung durch den Verteidiger vollständig per Video aufgezeichnet werden, um etwaige Versuche des Verteidigers zur Zeugenbeeinflussung zu dokumentieren49. Wenn man diese dreifache Reform des Ermittlungsverfahrens durchführen würde, könnte man davon sprechen, dass die Verteidigung am Ende des Ermittlungsverfahrens zuverlässig beurteilen kann, ob dessen Ergebnisse die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage tragen und ob es deshalb zur Abkürzung des Verfahrens sinnvoll ist, das von der Staatsanwaltschaft oder von einem Richter vorgeschlagene Ergebnis ohne Hauptverhandlung zu akzeptieren. Damit das betreffende Angebot der Justiz nicht zu einem unzulässigen, praktisch die Entschlussfreiheit des Angeklagten zerstörenden Druck führt, muss freilich der Rabatt, der bei einem Verzicht auf die Hauptverhandlung möglich ist, eng begrenzt werden. Dies würde auch allein mit dem Strafzumessungsrecht in Übereinstimmung sein, denn danach könnte man die Abkürzung des Verfahrens als eine kleine Wiedergutmachung gegenüber der Rechtsordnung qualifizieren und daraus einen freilich vom Umfang sehr beschränkten Strafrabatt legitimieren50. In der Praxis würde das dann so aussehen, dass die Staatsanwaltschaft etwa mit der Anklage zwei Strafmaßvorschläge unterbreitet, einen für den Fall nach Durchführung einer vollständigen Hauptverhandlung und einen für den Fall des Verzichts des Angeklagten auf die Hauptverhandlung, wobei die Differenz nicht mehr als etwa 20–25% ausmachen dürfte. Wenn sich der Angeklagte aufgrund der verbesserten Garantien im Ermittlungsverfahren davon über-

48 So bereits Schünemann ZStW 114 (2002), 1 (45); ders. ZStW 119 (2007), 957. Dazu, dass derartige Einrichtungen in anderen Ländern problemlos funktionieren, siehe Park, Die Wahrheitsfindung im Ermittlungsverfahren (2003), S. 98 ff. 49 Siehe die Nachweise in Fn. 48. 50 Eingehend dazu Hauer (Fn. 25), S. 164 ff.

Zur Kritik des amerikanischen Strafprozessmodells

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zeugt hat, dass er ohnehin kaum reelle Freispruchschancen besitzt, wird er auf die Hauptverhandlung verzichten und sich der ermäßigten Strafe unterwerfen. Legitimierend wirkt hier dann aber nicht sein Konsens als solcher, sondern seine Einsicht darin, dass die Ermittlungen bereits zur Auffindung der materiellen Wahrheit geführt haben. Wählt er die Hauptverhandlung, so ist er durch den zweiten Strafmaßvorschlag der Staatsanwaltschaft davor geschützt, zur „Strafe“ für seine prozessuale Hartnäckigkeit mit einer exorbitant höheren Strafe belegt zu werden. Es muss also die höhere Strafmaßbenennung der Staatsanwaltschaft mit einem Verbot der reformatio in peius verbunden werden, wovon man Ausnahmen zulassen kann, wenn die Hauptverhandlung ganz entscheidend schwerere Delikte zutage fördert, etwa dass statt einer unerlaubten Schießerei ein Mord gegeben war. 4. Das sind natürlich alles nur Andeutungen, aber ich hoffe damit zumindest eines deutlich gemacht zu haben: Die globale Reform des Strafverfahrens muss bei der Ausbalancierung des Ermittlungsverfahrens ansetzen. Der alte Streit um die adversatorische oder inquisitorische Struktur der Hauptverhandlung spielt demgegenüber nur noch eine Nebenrolle. Der Verzicht auf die Hauptverhandlung, den das amerikanische Strafverfahren hinter der Fassade des Schwurgerichtsprozesses weitestgehend praktiziert, darf in einem Rechtsstaat nicht für ein Linsengericht erkauft werden51. Vielmehr muss umgekehrt der enorme rechtsstaatliche Schutz, den die Hauptverhandlung in den letzten zwei Jahrhunderten gewährleistet hat, durch andere schon das Ermittlungsverfahren ergreifende Schutzmechanismen substituiert werden, für die ich am Ende meines Beitrages einige Anregungen unterbreitet habe. Gerhard Fezer, der verehrte Jubilar, hat in seiner unnachahmlichen Verbindung von rechtsstaatlicher Gesinnung und pragmatischer Nüchternheit in der „Beibehaltung der Inquisitionsmaxime im reformierten Strafprozeß des 19. Jahrhunderts“ am „Ende des 20. Jahrhunderts“ eine „Sackgasse“ gesehen, „in der man auch nicht mehr zurückgehen kann“.52 Ob man nicht doch noch einen Ausgang aus dieser Gasse finden kann (wie ich glaube), kann ich hier nicht mehr ausdiskutieren. Aber eine These scheint mir zum Abschluss dieser Zeilen eindeutig: Von der Rezeption des amerikanischen Strafverfahrens wird man die Lösung der uns bedrängenden Probleme nicht erwarten dürfen.

So meine Warnung in StraFo 2004, 293. Genau darin besteht aber gegenwärtig die Verlockung für die Interessenvertreter der Strafverteidiger, die letzten Endes in unserer Gesellschaft die einzigen Vertreter für die Interessen des Beschuldigten sind. 52 In: FS 50 Jahre BGH, Bd. IV (2000), S. 881. 51

Neuere Fragen zur Privatklage und zum Adhäsionsverfahren HANS HILGER

I. Einleitung Dieser Beitrag behandelt „Fragen“, die man nicht als schwerwiegende Probleme der Privatklage bezeichnen kann. Denn es ist kaum zu erwarten, dass diese Fragen schon im Hinblick auf die geringe Zahl der Privatklagen jemals größere praktische Bedeutung und damit das gesteigerte Interesse z.B. eines Strafverteidigers oder Richters erlangen werden. Aber die Existenz dieser Fragen, die überwiegend im Zusammenhang mit der neueren Gesetzgebung zur StPO entstanden sind, kann auch nicht einfach übersehen werden, bedarf vielmehr einer systematisierenden bzw. dogmatischen Stellungnahme. Entsprechendes gilt für eine Neuregelung im Adhäsionsverfahren. Ich habe die Hoffnung, dass meine kurzen Überlegungen hierzu das wohlwollende wissenschaftliche Interesse des Jubilars, der diese Verfahren kommentiert hat, finden werden.

II. Die einzelnen Fragen: 1. Zwangsmaßnahmen im Privatklageverfahren: a) Ein erheblicher Teil der zu prüfenden Fragen stellt sich, weil der Gesetzgeber in den letzten Jahren aus verfassungsrechtlichen und strafprozessual-systematischen Gründen Regelungen zu grundrechtsrelevanten „Zwangsmaßnahmen“ in die StPO eingefügt hat, die einige Jahre davor im Wesentlichen aus technischen Gründen noch nicht oder in dieser Art nicht möglich waren.1 Die Anwendbarkeit dieser Regelungen/Maßnahmen im

1

Z.B. Rasterfahndung (§ 98a); Fahndung mit Hilfe des Fernsehens (§§ 131 ff.).

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Hans Hilger

Privatklageverfahren ist – soweit ersichtlich2 – bisher allenfalls punktuell, jedoch noch nicht in einem systematischen Überblick und näher untersucht worden. Will man dies versuchen, so ist zunächst zweierlei vorab klarzustellen. Erstens: die nachfolgend genannten Maßnahmen finden in der Regel im Ermittlungsverfahren statt. Dies gibt es bei der Privatklage nicht. Das bedeutet aber nicht, dass diese Maßnahmen schon deshalb unzulässig oder verfahrensgemäß nicht anwendbar sind. Theoretisch denkbar ist vielmehr jedenfalls für einen Teil der Maßnahmen, dass es im Einzelfall zweckmäßig sein könnte, sie als einzelne Beweiserhebungen gerichtlich z.B. mit dem Ziel der Vorbereitung der Verhandlung, der Aufenthaltsermittlung einer Person oder der Sachverhaltsklärung im Verfahren gemäß §§ 374, 383 Abs. 1 Satz 1, 202 Satz 1 oder im Hauptverfahren gemäß §§ 384, 386 – etwa kurz vor Beginn der Verhandlung oder während dieser, etwa während einer Unterbrechung – anzuordnen.3 Zweitens: Maßnahmen, deren Zulässigkeit allein an einen Deliktskatalog gebunden ist, scheiden für das Privatklageverfahren schon deshalb aus, weil diese Kataloge mit dem Katalog des § 374 nicht übereinstimmen.4 Die nächste Gruppe sind Maßnahmen, die nur bei Straftaten mit erheblicher Bedeutung5 zulässig sind.6 Auch die Anordnung einiger von diesen Maßnahmen könnte theoretisch mit der vorgenannten Zielrichtung in Betracht kommen. Dies gilt insbesondere für Maßnahmen, die eine Aufenthaltsermittlung7 des Beschuldigten ermöglichen könnten, damit diesem die

Vgl. z.B. SK-StPO/Velten, 28. Lfg. (2002), § 384 Rn. 5; LR/Hilger, 25. Aufl. (1999), § 384 Rn. 22; AnwK-StPO/Schwätzler (2007), § 384 Rn. 10. 3 S. dazu z.B. SK-StPO/Velten (Fn. 2), § 383 Rn. 14, 15 und § 384 Rn. 5; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. (2007), § 383 Rn. 4, § 384 Rn. 13 ff., § 386 Rn. 1. 4 Z.B. Telekommunikationsüberwachung (§ 100a), Akustische Wohnraumüberwachung (§ 100c) oder akustische Überwachung außerhalb von Wohnungen (§ 100f), sog. Netzfahndung (§ 163d). 5 Rasterfahndung (§ 98a), Erhebung von Verkehrsdaten (§ 100g Abs. 1 Nr. 1) – vgl. im übrigen Fn. 16, Einsatz technischer Observationsmittel (§ 100h Abs.1 Nr. 2), IMSI-Catching (§ 100i), Einsatz VE (§ 110a), Polizeiliche Beobachtung (§ 163e), längerfristige Observation (§ 163f). 6 Bei den weiteren Überlegungen wird unterstellt, dass sonstige erschwerende Anordnungsvoraussetzungen (z.B. angehobene Verdachtsschwelle, Subsidiaritätsklausel) erfüllt sind. 7 Also z.B. der Einsatz von Observationsmitteln (etwa Bewegungsmelder, Peilsender, Nachtsichtgeräte) und nicht nur kurze Observationen zur Verfolgung des Beschuldigten, um seine Wohnadresse zu ermitteln, aber auch zur weiteren Sachaufklärung im Eröffnungsverfahren oder später, etwa zur Klärung, zu welchen für das Verfahren wichtigen Personen (Zeugen?) der Beschuldigte Kontakt hat; entspr. gilt für die Erhebung von Verkehrsdaten. 2

Neuere Fragen zur Privatklage und zum Adhäsionsverfahren

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Privatklage (§ 382) und Ladungen (§§ 384, 213 ff.)8 durch das Gericht zugestellt werden können. Eine Anordnung solcher Maßnahmen ist im Privatklageverfahren grundsätzlich schon deshalb unzulässig, weil Privatklagedelikte in der Regel keine Straftaten von erheblicher Bedeutung sind9, die Durchführung solcher tief in das Privatleben Betroffener eingreifender grundrechtsrelevanter Maßnahmen nach Auffassung des Gesetzgebers bei Delikten unterhalb dieser Schwelle vielmehr unverhältnismäßig10 wäre. Kommt dem Privatklagedelikt ausnahmsweise im Einzelfall erhebliche Bedeutung11 zu, so sollte die Staatsanwaltschaft das Verfahren im Hinblick auf das öffentliche Interesse an der Verfolgung solcher Taten im Offizialverfahren übernehmen (§ 377).12 In diesem Verfahren nach Übernahme sind solche Maßnahmen grundsätzlich zulässig; allerdings dürfte auch dann häufig das praktische Bedürfnis für eine Anordnung einer solchen Maßnahme fehlen.13 Für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft eine Übernahme gemäß § 377 ablehnt, obwohl der Tat im Einzelfall erhebliche Bedeutung zukommt, würde sich die Frage stellen, ob dann ausnahmsweise auch im nun weiter betriebenen Privatklageverfahren solche Maßnahmen – ein praktisches Bedürfnis14 unterstellt – zulässig sind. Dies wird letztlich wohl – obwohl Zweifel bleiben – zu bejahen sein; wenn alle erschwerten Voraussetzungen erfüllt sind, die der Gesetzgeber als Voraussetzung der Zulässigkeit der Maßnahme festgelegt hat, wird die Maßnahme letztlich nicht daran scheitern können, dass die Straftat in einem dafür eigentlich nicht vorgesehenen Verfahren verhandelt werden soll. Es bleibt aber nicht zu übersehen,

Meyer-Goßner (Fn. 3), § 384 Rn. 2 und Vor § 213 Rn. 1 ff. Vgl. LR/Hilger (Fn. 2), § 384 Rn. 22; SK-StPO/Velten (Fn. 2), § 384 Rn. 5. 10 Durch den Einsatz solcher Maßnahmen können in erheblichem Umfang überschüssige rein privatbezogene Erkenntnisse anfallen, die für das Verfahren nicht benötigt werden; damit steht die Eingriffsintensität des Grundrechtseingriffs nicht mehr in einem angemessenem Verhältnis zu Bedeutung des Privatklagedelikts. 11 Denkbar z.B. bei den Delikten gemäß § 374 Abs. 1 Nr. 7 und 8, etwa gewerbsmäßig/ bandenmäßig organisiert begangener besonders schwerer Fall des Verrats von Betriebgeheimnissen gemäß § 17 UWG oder ebenso begangene unerlaubte Verwertung gemäß §§ 106 ff. des Urheberrechtsgesetzes. 12 LR/Hilger (Fn. 2), § 377 Rn. 13. 13 So ist z.B. nicht erkennbar, zu welchem Zweck/mit welchen Rastern eine Rasterfahndung (§ 98a) eingesetzt werden oder welchen Sinn eine Polizeiliche Beobachtung (§ 163e) haben sollte. 14 Denkbar wäre vielleicht der Einsatz eines VE gemäß §§ 202, 110a, um z.B. die bandenmäßige Struktur weiter aufzuhellen und nach Verflechtungen zu anderen Tätergruppen zu suchen oder aber zur schnellen Aufenthaltsermittlung – vgl. dazu Hilger NStZ 1992, 523, falls ein engagierter Richter bereit wäre, die Polizei um eine solche Maßnahme zu ersuchen – vgl. dazu auch Meyer-Goßner (Fn. 3), § 383 Rn. 4. 8 9

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Hans Hilger

dass die genannten Maßnahmen wohl nicht in das Privatklageverfahren passen, weil die Beteiligung der Staatsanwaltschaft fehlt, die grundsätzlich solche Ermittlungen leiten müßte. Die Zulässigkeit einer weiteren Gruppe von Maßnahmen15 ist an das Vorliegen eines Verdachts einer Straftat geknüpft. Dazu gehört auch die Erhebung von Telekommunikations-Verkehrsdaten, wenn die Straftat mittels Telekommunikation16 begangen wurde. Diese Maßnahmen dürften, wenn die weiteren Anordnungsvoraussetzungen erfüllt sind, grundsätzlich auch im Privatklageverfahren zulässig sein. Auch das praktische Bedürfnis könnte im Einzelfall bestehen, entweder zur Aufenthaltsermittlung oder zur näheren Klärung von Tat und Täterschaft – etwa bei Straftaten gemäß §§ 185 ff., 23817 oder den in § 374 Abs. 1 Nr. 7, 8 genannten Straftaten.18 Allerdings ist die Erhebung von Verkehrsdaten auch für den Fall, dass die Tat mittels Telekommunikation begangen wurde, ausdrücklich an eine Verhältnismäßigkeitsklausel geknüpft.19 Dadurch soll betont werden, dass diese Maßnahme bei leichteren Ehrdelikten ausscheidet20; dies ergibt sich allerdings ohnehin schon daraus, dass das Prinzip der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich und im Einzelfall immer zu beachten ist, also in diesem Fall und auch bei allen anderen „leichteren“ Delikten und auch bei anderen Maßnahmen. b) Auch die Anwendbarkeit der neuen Fahndungsregelungen (§§ 131 ff.) bedarf der Klärung. Fahndungen zur Klärung des Aufenthalts von Beschuldigten und Zeugen, um ihre Anwesenheit in der Hauptverhandlung sicherzustellen, kann erhebliche Bedeutung für den Privatkläger, aber auch das Gericht zukommen. Die Zulässigkeit von Fahndungsmaßnahmen ergibt sich weitgehend aus dem zuvor Gesagten. Fahndungen, die das Bestehen oder die Möglichkeit des Erlasses eines Haftbefehls voraussetzen (§ 131 Abs. 1 bis 3), sind unzulässig (s. auch II 3). Nicht erlaubt ist damit auch eine Durchsuchung mit dem Ziel der Ergreifung (vgl. §§ 102, 103) des Beschuldigten.21 Solche Maßnahmen, die auf die Festnahme des Beschuldigten abzielen, werden grundsätzlich erst zulässig, wenn die Staatsanwaltschaft

Datenabgleich (§ 98c), Bildaufnahmen (§ 100h Abs. 1 Nr. 1). § 100g Abs. 1 Nr. 2; 17 Z.B. zur Klärung von Inhalt, Umfang/Häufigkeit der Ehrverletzungen, Intensität des Stalking. 18 Vgl. auch Fn. 11 und 14. 19 § 100g Abs. 1 Satz 1. 20 Referentenentwurf des BMJ vom 27.11.2006 – 4104/11-R5 884/2006 – S. 112, 114. 21 Meyer-Goßner (Fn. 3), § 383 Rn. 8. 15 16

Neuere Fragen zur Privatklage und zum Adhäsionsverfahren

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das Verfahren übernommen hat. Außerdem sind Fahndungen unzulässig, die an den Verdacht der Begehung einer Straftat von erheblicher Bedeutung anknüpfen (§§ 131a, 131b). Dies bedeutet, dass ggf. auf die Vernehmung wichtiger Zeugen verzichtet werden muss (vgl. § 131a Abs. 3, § 131b Abs. 2), wenn die Tat nicht von erheblicher Bedeutung ist oder die Staatsanwaltschaft die Übernahme des Verfahrens ablehnt. Zulässig sind damit nur Fahndungen gemäß § 131a Abs. 1, also die Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung eines Beschuldigten oder Zeugen ohne Inanspruchnahme der Öffentlichkeit. Schließlich dürfte es unter Beachtung des Verhälnismäßigkeitsprinzips zulässig sein, dass der Richter die Polizei um Fahndungsmaßnahmen ersucht, die jetzt auf die §§ 161, 163 als Anordnungsgrundlage gestützt werden können.22 Demgemäß dürfte es auch zulässig sein, (als minus zu §§ 102, 103) eine Wohnung zu durchsuchen, um (nur) den Aufenthalt des Beschuldigten zu ermitteln. c) Aber auch ältere Regelungen zu Zwangsmaßnahmen können im Privatklageverfahren zu Schwierigkeiten führen. So ist allgemeine Meinung23, dass die Anordnung von Untersuchungshaft im Privatklageverfahren unzulässig ist. Dennoch wird darüber gestritten, ob eine vorläufige Festnahme gemäß § 127 Abs. 1 mit dem Ziel der Inhaftnahme zulässig ist. So wird vertreten,24 eine solche Festnahme25 sei zunächst zulässig, der Beschuldigte aber sofort zu entlassen (§ 128), wenn die Staatsanwaltschaft nicht sofort erklärt, sie übernehme die Verfolgung (§§ 376, 377). Mir ist nicht bekannt, wie oft dieses Problem in der Praxis virulent wird. Wahrscheinlich selten. Aber wenn es sich stellt, dann wohl nicht bei einem Rechtskundigen sondern einem Bürger, der nicht rechtskundig ist und eine verläßliche Antwort haben möchte. Und die kann eigentlich nur bei konsequenter dogmatischer Betrachtung gefunden werden: Ist Untersuchungshaft grundsätzlich unzulässig, dann sind es auch Maßnahmen, die Ihrer Vorbereitung/Durchsetzung dienen. Vor der Entscheidung der Staatsanwaltschaft zur Frage, ob das Verfahren gegen den Festgenommenen übernommen wird (§ 377), ist eben noch kein Offizialverfahren anhängig, auch kein „Vor-Verfahren“ insoweit,

Vgl. LR/Hilger, 26. Aufl. (2007), Vor § 131 Rn. 11 ff. mit Beispielen. Meyer-Goßner (Fn. 3), § 384 Rn. 5. 24 Meyer-Goßner (Fn. 3), § 127 Rn. 22 m.w.N.; ablehnend dagegen z.B. SK-StPO/Velten (Fn. 2), § 384 Rn. 2 m.w.N. 25 Die Festnahme nur zur Identitätsfeststellung wird – unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips – als zulässig angesehen – vgl. Meyer-Goßner (Fn. 3), § 127 Rn. 22; SKStPO/Velten (Fn. 2), § 384 Rn. 2. 22 23

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sondern ein „Verfahren“ wegen eines Privatklagedelikts, in dem grundsätzlich eine Privatklage zu erheben ist. Dies bedeutet, dass dann, wenn die Übernahme abgelehnt wird, die Festnahme rechtswidrig war.

2. Anerkenntnis im Adhäsionsverfahren: a) Die Belebung des Adhäsionsverfahrens ist ein altes Anliegen des Gesetzgebers, das er bislang ohne nennenswertes Ergebnis26 verfolgt hat. Zu den neueren Versuchen27 gehört nun die gesetzliche Zulassung des Anerkenntnisses – § 406 Abs. 2 – durch das OpferRRG gegen die hierzu in Praxis und Wissenschaft geäußerten Bedenken.28 Zu diesen gehört nach wie vor insbesondere, dass das Anerkenntnis im Strafverfahren zu besonderen Problemen führen könne, weil es mit dessen Prinzipien nicht vereinbar sei.29 Dies gilt für das Strafverfahren grundsätzlich; die Friktion zeigt sich im Privatklageverfahren aber besonders deutlich. Eine der Kernfragen insoweit ist: ist das Gericht im Strafverfahren an ein dort erklärtes Anerkenntnis gemäß § 406 Abs. 2 ungeachtet der strafprozessualen Erkenntnisse und Erkenntnismöglichkeiten gebunden? Gilt diese Bindung ggf. auch dann, wenn das Erkenntnis erkennbar oder möglicherweise falsch ist? In welchem Verhältnis stehen also § 406 Abs. 2 und § 406 Abs. 1 Satz 1 und 3 zueinander und inwieweit gelten zivilprozessuale Grundsätze insoweit? Geht man vom Wortlaut des § 406 Abs. 2 aus, sind Ausnahmen eigentlich nicht möglich: das Gericht ist verpflichtet, gemäß einem erklärten Anerkenntnis zu verurteilen. Absatz 2 könnte danach lex specialis zu Absatz 1 Satz 1 und 3 sein, wonach einem Adhäsionsantrag eigentlich nur stattgegeben werden darf, soweit der Anspruch wegen der Straftat begründet ist (Satz 1) und von der Entscheidung abzusehen ist, soweit der Antrag unbegründet erscheint (Satz 3). Für eine solche Lösung könnte sprechen, dass die Regelung des § 406 Abs. 2 dem § 307 Satz 1 ZPO entspricht und eine solche Interpretation (lex spez.) der zivilprozessualen Interpretation des Vorbildes: § 307 ZPO folgen würde. Zu diesem ist nämlich h.M., dass das Zivilgericht im Hinblick auf die im Zivilprozess geltende Parteiherrschaft ein Anerkenntnisur-

Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 3), Vor § 403 m.w.N. S. dazu Ferber NJW 2004, 2562; Kuhn JR 2004, 397; Loos GA 2006, 195; Neuhaus StV 2004, 626; Rieß, FS Dahs (2005), S. 425; Hilger GA 2004, 485; Feigen, FS Otto (2007), S. 879; Krey/Wilhelmi, FS Otto (2007), S. 933. 28 Vgl. z.B. BGHSt 37, 236 mit Anm. Wendisch JR 1991, 296 ff.; Loos GA 2006, 195; Rieß, FS Dahs (2005), S. 425; Meyer-Goßner (Fn. 3), Vor § 403 Rn. 2 m.w.N. 29 Eingehend dazu z.B. Loos GA 2006, 195; Rieß, FS Dahs (2005), S. 425; Feigen, FS Otto (2007), S. 879; Krey/Wilhelmi, FS Otto (2007), S. 933. 26 27

Neuere Fragen zur Privatklage und zum Adhäsionsverfahren

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teil selbst bei „unwahrem“ Anerkenntnis erlassen müsse, solange es nicht sittenwidrig sei; denn die Parteien seien berechtigt, über ihren prozessualen Anspruch frei zu verfügen, der Beklagte könne ja auch eine Nichtschuld bezahlen.30 Gerade im Privatklageverfahren könnte diese Argumentation zur Bejahung des „Vorrangs“ von § 406 Abs. 2 genutzt werden, weil es sich nicht um einen Offizialprozess handelt, sich Privatkläger und Beschuldigter vielmehr als „Parteien“ gegenüberstehen; der Privatkläger hat zwar manche Rechte und Pflichten der Staatsanwaltschaft, aber nur als Privatperson, nur, soweit sie nicht Ausfluss staatsanwaltschaftlicher Amtsgewalt sind.31 Andererseits gilt auch hier für das Gericht grundsätzlich die Pflicht zur Wahrheitsfindung (§ 244 Abs. 2).32 Demgegenüber könnte geltend gemacht werden, eine Lösung, die über § 406 Abs. 2 das Strafgericht zum Erlass eines Anerkenntnisurteils verpflichte, auch wenn der Adhäsionsantrag unbegründet erscheine oder das Anerkenntnis gar erkennbar falsch sei, sei mit strafprozessualen Prinzipien, insbesondere der Pflicht des Gerichts zur Erforschung des Sachverhalts, nicht unvereinbar33, weil es nicht darum gehe, dass das Strafgericht einen möglicherweise oder erkennbar falschen Sachverhalt „akzeptieren“ müsse. Denn es gehe nicht um Tatsachen, wie sich auch daraus ergebe, dass das Anerkenntnis kein „Geständnis“ sei und im Zivilprozess bei einem Anerkenntnis auch keine Schlüssigkeitsprüfung34 stattfinde. Eine Vereinbarkeit des § 406 Abs. 2 (als lex spez.) mit Absatz 1 Satz 1 und 3 sowie mit den §§ 244 Abs. 2, 261 ergebe sich vielmehr, weil das Anerkenntnis eine prozessuale Willenserklärung, nicht eine Wissenserklärung35 sei, dem Strafgericht also kein (möglicherweise) falscher Sachverhalt aufgezwungen werde, es vielmehr ungehindert alle für die Strafentscheidung bedeutsame Umstände aufklären könne und müsse. Eine solche Argumentation wäre m.E. jedoch zu sehr zivilprozessual geprägt. Auch wenn das Anerkenntnis nur eine „zivilprozessuale Willenserklärung“ ist, ist nicht zu übersehen, dass das Strafgericht über § 406 Abs. 2 (als lex spez.) zu einer Entscheidung verpflichtet wäre, die jedenfalls häufig im Widerspruch zu seiner strafprozessualen Entscheidung stünde oder ste-

30 Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 65. Aufl. (2007), § 307 Rn. 12, 13 und Grdz. § 128 Rn. 19; vgl. auch AK-ZPO/Fenge (1987), § 307 Rn. 11 ff. 31 Meyer-Goßner (Fn. 3), § 385 Rn. 1, 2; h.M. 32 Meyer-Goßner (Fn. 3), § 384 Rn. 13, 14; SK-StPO/Velten (Fn. 2), § 384 Rn. 7 ff. 33 A.A. Neuhaus StV 2004, 626 (Verstoß gegen §§ 244 Abs. 2, 261); vgl. auch SKStPO/Velten, 33. Lfg. (2003), § 404 Rn. 15. 34 Vgl. dazu Wieczorek, ZPO, 2. Aufl. (1976), § 307 Anm. AIb2; Zimmermann, ZPO, 7. Aufl. (2006), § 307 Rn. 6; Thomas/Putzo, ZPO, 27. Aufl. (2005), § 307 Rn. 10. 35 Vgl. dazu Wieczorek, ibid.

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hen könnte, müsste es auch dann ein Anerkenntnisurteil erlassen, wenn der Antrag unbegründet erscheint (§ 406 Abs. 1 Satz 3), etwa im Falle des Freispruchs wegen erwiesener Unschuld.36 Das Beispiel zeigt, dass es letztlich nicht um einen Widerspruch des § 406 Abs. 2 mit § 244 Abs. 2 geht, sondern um die – wohl im öffentlichen Interesse37 liegende – Vermeidung einer in sich widersprüchlich38 erscheinenden Entscheidung des Strafgerichts. Dies ist nur möglich, wenn § 406 Abs. 2 einschränkend dahin ausgelegt wird, dass ein Anerkenntnisurteil nur ergeht, wenn es nicht an § 406 Abs. 1 Satz 1 und 3 scheitert. Diese Lösung entspricht dem in § 406a Abs. 3 geregelten Grundsatz, dass die dem Adhäsionsantrag stattgebende Entscheidung aufzuheben ist, wenn der strafrechtliche Teil des Urteils aufgehoben und der Angeklagte weder schuldig gesprochen noch eine Maßregel gegen ihn angeordnet wird; dahinter steht wohl die grundsätzliche Überlegung des Gesetzgebers, dass zivil- und strafrechtliche Entscheidung sich nicht widersprechen sollen.39 b) Bisher ungeklärt ist auch die Frage, ob gemäß § 406 Abs. 2 ein beschränktes Anerkenntnis (z.B. eingeschränkt „nur dem Grunde nach“40 oder nur „Zug um Zug“) zulässig ist. Für den Zivilprozess wird vertreten, ein Anerkenntnisurteil dürfe nicht ergehen, wenn das Anerkenntnis des Anspruchs nur dem Grunde nach erklärt werde; das sei nicht nur ein „Weniger“ oder ein „Teil“ des geltend gemachten Anspruchs, sondern eine unzulässige Einschränkung. Gleiches gelte für ein „Anerkenntnis“, das aber auf eine „Zug um Zug“-Leistung eingeschränkt werde.41 Die Kernfrage dürfte sein, ob es richtig ist, mit solchen rein zivirechtlichen Problemen, dem Streit um sie, ein konkretes Strafverfahren zu belasten. Insbesondere im Hinblick auf die ohnehin schon schwierige Position (insbes. Verteidigungslage) des

36 Z.B. wenn sich herausstellt, dass ein Anderer der „Täter“ und nur dieser zivilrechtlich Schuldner ist. Gleiches dürfte gelten, wenn sich bei der Sachverhaltsaufklärung herausstellt, dass der Beschuldigte zwar zivilrechtlich grundsätzlich haftet, die Forderung aber offensichtlich überhöht ist, etwa weil in die Forderung gleichzeitig andere mit der Straftat nicht zusammenhängende Ansprüche eingerechnet wurden. 37 Auch in anderen Verfahrensarten ist u.a. im Hinblick auf öffentliche Interessen die Möglichkeit einer Anerkenntnisentscheidung eingeschränkt – vgl. dazu Baumbach/Lauterbach/Hartmann (Fn. 30), § 307 Rn. 10, 11. 38 Im Tenor oder zumindest in der Begründung. 39 Im Ergebnis ebenso, in der Begründung ähnlich (analoge Anwendung des § 406a Abs. 3) Neuhaus StV 2005, 626; vgl. auch Meyer-Goßner (Fn. 3), § 406 Rn. 4. 40 Zu unterscheiden von der grundsätzlichen Zulässigkeit eines Grundurteils – § 406 Abs. 1 Satz 1 StPO und §§ 301, 304 ZPO. 41 Baumbach/Lauterbach/Hartmann (Fn. 30), § 307 Rn. 4, 6; umstr.; vgl. auch HKZPO/Saenger (2005), § 307 Rn. 3; Musielak, ZPO, 5. Aufl. (2007), § 307 Rn. 5.

Neuere Fragen zur Privatklage und zum Adhäsionsverfahren

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Angeklagten im Verfahren dürfte es nahe liegen, dies zu verneinen. Der Weg dazu dürfte aber richtigerweise nicht sein, dass das Strafgericht sich einfach der zivilrechtlichen Auffassung anschließt, die in solchen Fällen das Vorliegen eines zulässigen (uneingeschränkten) Anerkenntnisses verneint. Die Lösung müsste strafprozessual gefunden werden, die zivilrechtliche Streitfrage offen lassend. Einen Ausweg bietet insoweit allerdings wohl nur eine entsprechende Anwendung von § 406 Abs. 1 Satz 4 („Nichteignung“), bezogen auf § 406 Abs. 2: Im Hinblick auf die zivilrechtliche Streitfrage der Zulässigkeit des Anerkenntnisurteils in einem solchen Fall ist der Antrag für eine Erledigung durch Anerkenntnisurteil nach Absatz 2 nicht geeignet, die Eignung fehlt, weil das Strafverfahren nicht (auch noch) mit zivilprozessualen Streitfragen belastet werden sollte42; es muss vielmehr im streitigen Adhäsionsverfahren (§ 406 Abs. 1) entschieden werden. c) Verneint man die Zulässigkeit eines Anerkenntnisurteils im Einzelfall (vgl. b), so bleibt die Frage, ob das „Anerkenntnis“ in ein „Geständnis“ umgedeutet oder als Beweisanzeichen genutzt werden darf. Beides ist zu verneinen, weil das „Anerkenntnis“ eine Willenserklärung, nicht aber eine „Wissenserklärung“ zu Tatsachen ist.43

III. Schlußbemerkung Dieser Beitrag kann und soll nicht alle Fragen und Probleme ansprechen, die sich durch gesetzliche Neuregelungen der letzten Jahre für Privatklage und Adhäsionsverfahren ergeben haben. Ich hoffe, dass ich mit der Auswahl und Beantwortung der hier erörterten Fragen vertretbare Lösungswege für den Fall aufgezeigt habe, dass sich eine solche Frage in der Praxis für Gericht und Verteidiger stellen sollte.

42 Die Vermeidung spezieller zivilprozessualer Risiken würde auch den besonderen Belangen des Antragstellers entsprechen – vgl. auch Meyer-Goßner (Fn. 3), § 406 Rn. 12. 43 S.a. Wieczorek (Fn. 34), § 306 Anm. AIb3; AK-ZPO/Fenge (Fn. 30), § 307 Rn. 13.

Strafrecht und Berufsrecht HINRICH RÜPING

I. Strafrechtliche und disziplinarrechtliche Ahndung „Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.“ In der Verfahrensgarantie des Art. 103 Abs. 3 GG liegt offenbar nicht nur das Verbot des ne bis in idem als primärer Regelungsgegenstand,1 sondern gleichzeitig eine Aussage zum Thema dieses Beitrags. Wenn die Ahndung derselben Tat nach allgemeinen und nach besonderen Gesetzen verfassungsrechtlich zulässig bleibt, beruht die prozessuale Lösung einer Konkurrenz auf der Annahme, in der Sache seien allgemeines Strafrecht und besonderes Recht wesensverschieden. Für den traditionellen Hauptanwendungsfall der Garantie, die Konkurrenz von Strafrecht und Disziplinarrecht, wird dies ausdrücklich behauptet und, da evident, nicht näher begründet.2 Die Frage ist nicht nur von sichtbarer praktischer Bedeutung für den Betroffenen, sondern entscheidet auch über die Legitimität des verfassungsrechtlichen Ausgangspunktes. Das Verhältnis von Strafrecht und Berufsrecht, im Folgenden verstanden als Oberbegriff für das Disziplinarrecht der Beamten wie das Standesrecht freier Berufe, stellt sich dabei nicht als zeitlose Aussage dar, sondern als Ergebnis einer wechselvollen Beziehung seit der frühen Neuzeit. Ohne zunächst auf inhaltliche Positionen des Berufsrechts einzugehen, bedarf dieses Verhältnis, beschränkt auf nur einzelne wesentliche Schritte, näherer Betrachtung.*

1 Der Jubilar, dem dieser Beitrag gewidmet ist, bescheinigt dem Grundsatz „eine lange rechtsgeschichtliche Tradition und eine unumstrittene höchstrichterliche Geltung“: Fezer, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. (1995), 17/80. 2 Claussen/Janzen, Bundesdisziplinarordnung, 8. Aufl. (1996), Einl. A Rn. 5a, 5b; in der Praxis z.B. 1960 EG Düsseldorf EGE 6, 243 und 1969 BGH, AnwSen, EGE 10, 108 (110). * Abgekürzt werden, mit einem angehängten E für Entscheidungssammlungen, AnwSen: Anwaltssenat [beim BGH], ArbRS: Arbeitsrechts-Sammlung I (RAG), II (Landesarbeits- und Arbeitsgerichte), BDH: Bundesdisziplinarhof, DStH: Dienststrafhof, DStK: Dienststrafkammer, DStSen: Dienststrafsenat, DtVw: Deutsche Verwaltung, DzH: Disziplinarhof, DzSen:

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Hinrich Rüping

Historisch gesehen, begegnen Strafrecht und Disziplinarrecht erst spät als gesonderte Gebiete. Im gemeinen Recht ist zunächst nur die Dualität weltlichen Strafrechts und kirchlichen Sonderrechts für Geistliche sichtbar, hier bemerkenswerterweise erstreckt auf das forum externum wie forum internum.3 Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts umfasst das Strafrecht eine als Disziplinarstrafgewalt verstandene Ordnungsmacht des Staates, seine Diener zur Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten.4 Noch im ALR von 1794 gehen die Tatbestände und Sanktionen ineinander über, wenn vorsätzliche Verletzungen von Amtspflichten zur sofortigen Kassation sowie zu Geldbzw. Freiheitsstrafen führen, dagegen bei leichten Versehen Warnungen, Verweise und Geldstrafen zur besseren Beachtung der Pflichten anhalten sollen.5 Angestoßen durch die danach einsetzende Diskussion um den Strafzweck, wird die Disziplinarstrafe in der Folgezeit durch ihren in Erziehung und Besserung liegenden Zweck von der generalpräventiven Vergeltungsstrafe geschieden.6 Als Ergebnis stehen sich Ende des Jahrhunderts eine klassische

Disziplinarsenat, EGE: Ehrengerichtliche Entscheidungen, EGH: Ehrengerichtshof für Deutsche Rechtsanwälte, GrDzSen: Großer Disziplinarsenat [beim KG], Entscheidungen in Disziplinarverfahren gegen preußische Richter und Notare (1927), KDzH: Kaiserlicher Disziplinarhof, Rspr. hg. v. Schulze (1914), LAG: Landesarbeitsgericht, LEHG: Landeserbhofgericht, MBliV: Ministerial-Blatt für die gesamte innere Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten, PrDStH: Preußischer Dienststrafhof, PrDzHnrB: Preußischer Disziplinarhof für nicht richterliche Beamte, RAG: Reichsarbeitsgericht, RDH: Reichsdisziplinarhof, I: Rspr. hg. von Schulze/Simons [bis 1925] (1926), II: [1925–1931] (1932), danach m. Jg., hg. v. Foerster/Simons, RdRN: Recht des Reichsnährstandes [Zs.], RDStH: Reichsdienststrafhof, RDStO: Reichsdienststrafordnung, REHG: Reichserbhofgericht, RKG: Reichskriegsgericht, RVwG: Reichsverwaltungsgericht, WDStH: Wehrmachtdienststrafhof. 3 Zur Jurisdiktionsgewalt Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts, Bd. 1 (1869), S. 163 ff. 4 Mit der Abberufung „untüglicher“ Beisitzer befassen sich die Ordnungen für das Reichskammergericht von 1521 und von 1555 (Aller deß Heiligen Römischen Reichs gehaltene Reichstäge/Abschiede und Satzunge/sambt andern Kayserlichen und Königlichen Constitutionen (1660), S. 124, 127 [Art. VII] und S. 522, 526 [Art. V]). 5 ALR Tl. 2 Tit. 20 §§ 333, 335, dazu Hubrich GS 75 (1910), 53 (75). Kennzeichnend für das gemeine Strafrecht, unterscheidet Augustin Leyser allgemeine und besondere, mit dem Amt zusammenhängende Delikte: Meditationes ad Pandectas, Bd. VIII (1746), Specimen 570 § 3 (S. 685, 687) und 571 § 2 (S. 740, 742); zu ihm Stock, Entwicklung und Wesen der Amtsverbrechen (1932), S. 93; zur Diskussion um Feuerbachs Gesetzesentwurf: Wunder, Privilegierung und Disziplinierung: Die Entstehung des Berufsbeamtentums in Bayern und Württemberg (1978), S. 219 f.; zum Aspekt der Standesehre Frevert, Ehrenmänner (1991), S. 167 (171 f.). 6 Heffter, Neues Archiv des Criminalrechts 13 (1833), 48 (74 ff.) und 155 (176 f.); dazu Stock (Fn. 5), S. 170 sowie m.w.N. Hochstedter, Die rechtliche Natur der Disziplinarstrafe (1896), S. 15 f. Als Beispiel nur die Trennung von Amtsverbrechen und Dienstvergehen in der

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Sicht, die Kriminal- und Disziplinarstrafe nur durch den Grad der Pflichtwidrigkeit unterschieden sieht, und eine moderne Sicht gegenüber, die von einer qualitativen Scheidung ausgeht und im Interesse der Verwaltung für spezifische dienstinterne Reaktionsmittel plädiert.7 Ergibt damit der Versuch einer theoretischen Abgrenzung kein eindeutiges Resultat für das Verhältnis von Straf- und Berufsrecht, kann eher eine inhaltliche Analyse des Berufsrechts im 20. Jahrhundert aufschlussreich werden.8

II. Disziplinarrecht 1. Die Beeinträchtigung des Ansehens Das Disziplinarrecht wird beherrscht von der 1873 im Reichsbeamtengesetz verwirklichten Generalklausel, der Beamte habe „durch sein Verhalten in und außer dem Amte der Achtung, die sein Beruf erfordert, sich würdig zu zeigen.“9 Schon früh sieht die Praxis keine Pflicht, tatsächlich eine Beeinträchtigung des Vertrauens festzustellen, auch wenn privates und vor allem intimes Verhalten erst relevant werden kann, soweit es in die Öffentlichkeit dringt.10 Über die Konkretisierung entscheidet daher nicht die Öffentlichkeit, sondern der Disziplinarrichter.11

VO v. 10.7.1849, betr. die Dienstvergehen der Richter, §§ 2, 4 (PrGS 1849, 253 f.); Einzelpflichten entwickelt v. Rheinbaben, Die preußischen Disziplinargesetze, 2. Aufl. (1911), S. 70 ff., darunter insbes. auch S. 74 f. die „Pflicht zu einem sittlichen Lebenswandel“. 7 Z.B. einerseits Wahlberg, in: v. Holtzendorff (Hrsg.), Handbuch des deutschen Strafrechts, Bd. 2 (1871), S. 429 (533 ff.); Zorn, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1 (1895), S. 328 f.; Meyer, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes, 5. Aufl. (1899), S. 473; andererseits Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. 1 (1885), S. 274; zur Diskussion m.w.N. Hochstedter (Fn. 6), S. 21 ff.; bzgl. des strafrechtlichen Rechtsguts Wagner, Amtsverbrechen (1975), S. 29 ff. 8 Wegen des zum Teil entlegenen und bisher nicht zusammenhängend ausgewerteten Quellenmaterials muss dieses breiter als sonst üblich nachgewiesen werden. Die zersplitterte Organisation der Berufsgerichtsbarkeit kann dabei keine nähere Erörterung finden. 9 Gesetz v. 31.3.1873, betr. die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten, § 10 (RGBl 1873, 61, 62); zur Reichweite Perels/Spilling, Das Reichsbeamtengesetz (1890), S. 21 ff. (zu § 10). 10 Die Praxis stellt z.B. darauf ab, ein Beamter habe sich in weiten Kreisen den Ruf eines Trinkers zugezogen (1899 RDH I, 233); sein Ehebruch sei in der Öffentlichkeit bekannt geworden (1881, 1900 und 1908 KDzH, Rspr. S. 263 f., 96 f., 88, 89, 1912 PrOVGE 64, 561 [562], 1929 RDH II, 146, RDH, ZBR 3 [1931], 35 f.); zwei Lehrpersonen hätten im Landschulheim miteinander Verkehr gehabt (PrDStH, RuPrVwBl 53 [1932], 876); zu unsittlichem Verhalten in der Öffentlichkeit 1904 KDzH, Rspr. S. 93 (95); zu nächtlichen Besuchen einer Beamtin bei einem Juden in einer Kleinstadt RDH 1934, 70 f. (ähnlich RDH 1937, 45 [46]); zu Exhibitionismus im Dienst gegenüber weiblichem Publikum RDH 1931/32, 39 (40); zu homo-

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Der normative Maßstab wird deutlich, wenn die Praxis für die politische Betätigung der Beamten aus der Generalklausel Pflichten zur Zurückhaltung und zur Mäßigung in politischen Angelegenheiten ableitet.12 Bezogen auf die Sozialdemokratie, gilt die Betätigung als staats- und verfassungsfeindlich und kann die Entlassung des Beamten zur Folge haben.13 In der Weimarer Zeit betont die Praxis die Grenzen freier Meinungsäußerung durch einen Beamten, ist er doch „niemals nur Privatmann“14 und hat aus seiner Pflicht zu Treue und Gehorsam „diejenige Mäßigung und vorsichtige Zurückhaltung sich aufzuerlegen, die durch seine Stellung als ‚Diener der Gesamtheit‘, durch das Ansehen seines Amtes bedingt ist“.15 Nach den wenigen überlieferten Entscheidungen des Großen Disziplinarsenats

sexuellem Verhalten in der Öffentlichkeit 1908 RDH I, 262 (264) und zu einem Richter, der in einer Kleinstadt täglich 3 Stunden beim Früh- und Dämmerschoppen verbringt, 1926 KG, GrDzSen, Entscheidungen S. 161 (164); genügen soll auch die öffentliche Verhandlung in einem vorangegangenen Strafverfahren (zweifelhaft 1925 PrOVGE 80, 426 (429) sowie im Ehrengerichtsverfahren 1971 EG Kassel EGE 12, 140 [142]); und RDStH, RVwBl 60 (1939), 174 hält den Ehebruch unabhängig von seinem Bekanntwerden für ein Dienstvergehen. 11 Grds. 1909 PrOVGE 55, 467 (476) sowie 1886 KDzH, Rspr. S. 62 f., über die Wertung deutschfeindlicher Äußerungen eines elsässischen Beamten entschieden nicht Sympathie und Langmut einzelner Klassen des örtlichen Publikums, sondern ein strenger objektiver Maßstab. Deshalb können auch, was die notwendig einwandfreie Führung eines Beamten im Kirchendienst angeht, weitherzige Moralanschauungen der Zeit keinen Einfluss haben: 1924 RDH I, 305; ebenso wenig 1930 die „Entsittlichung weiter Volkskreise“, als ein Beamter seine Frau verkuppelte und die Akte fotografierte: RDH 1936, 79. 12 1886 bezieht PrOVGE 14, 404 (408) diese Aussage unterschiedslos auf sämtliche politischen Parteien und auf das jeweilige politische System; angewandt auf eine publizistische Tätigkeit 1909 in PrOVGE 55, 467 (475) und auf den Aufruf zu Gewalttätigkeiten 1910 in KDzH, Rspr. S. 52 f. 13 Vgl. bereits 1899 und 1904 KDzH, Rspr. S. 50 ff. und 49 f., zur Unvereinbarkeit mit dem Diensteid 1914 PrOVGE 66, 437 (439 f.); zur Entlassung, weil der Betroffene einem „Agitator“ nach dessen Rede die Hand gibt, PrOVG, MiBliV 1897, 92 f.; und weil er eine Wohnung an eine „Agitatorin“ vermietet, PrOVG, MiBliV 1899, 84; unabhängig von einem gesetzlichen Verbot wie bei der SPD für die Unterstützung einer polnischen Partei, die einen polnischen Gesamtstaat wiederherstellen will, PrOVG, MiBliV 1888, 33 (35 ff.). 14 Bemerkenswert aus der Zeit bleibt der Entwurf einer Reichsdienststrafordnung von 1925 (Verh. d. Reichstags, III. Wahl-Per., Anl. Bd. 404, Drs. Nr. 1474); im Bericht des Ausschusses werden u.a. auch die Bespitzelung des Privatlebens kritisiert sowie Disziplinaruntersuchungen wegen Wahrnehmung staatsbürgerlicher und religiöser Rechte (für die SPD Abg. Steinkopf und die KP Abg. Torgler in Drs. Nr. 3630, S. 2 [8]). 15 Preußisches Staatsministerium, PrVwBl 47 (1925/26), 481; unter Bezug auf die Praxis des RDH (vgl. bereits 1890 RDH I, 214 [215]) und des PrOVG PrDzHnrB, PrVwBl 47 (1925/26), 69, zu Einzelfällen sowie zur fünffach aufgeteilten disziplinarrechtlichen Zuständigkeit in Preußen Herrnstadt PrVwBl 47 (1925/26), 509 ff.

Strafrecht und Berufsrecht

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beim KG in Disziplinarverfahren gegen preußische Richter und Notare gelten für sie dieselben Grundsätze.16 Das Bekenntnis zu nicht-republikanischen Staatsformen, seien sie monarchisch oder kommunistisch, bleibt mit Rücksicht auf die Freiheit der politischen Überzeugung in Art. 130 Abs. 2 WRV unangetastet, dagegen die Förderung des Umsturzes17 oder das Beschimpfen republikanischer Symbole18 ein Dienstvergehen. Kontrovers wird die Zugehörigkeit von Beamten zur NSDAP beurteilt. Auffassungen in der Praxis, darin ein Dienstvergehen zu sehen, berufen sich auf das ungeachtet einer Legalitätstaktik unveränderte Ziel der Partei, einen gewaltsamen Umsturz vorzubereiten, und entnehmen der Verfassung kein Recht, sie selbst zu beseitigen.19

Zur notwendigen Zurückhaltung bei politischen Äußerungen von Richtern KG, GrDzSen, 1923 und 1926 (Entscheidungen, S. 100 ff., 157 f. für die Rede auf einem Festkommers, 169 ff.); weiter 1922 zur Pflicht eines Notars, den Eid auf die Verfassung zu leisten (Entscheidungen, S. 82 ff.). 17 Bezogen auf die Restitution der Monarchie 1924 RDH I, 207 (211); PrOVG, RuPrVwBl 49 (1928/29), 1021 f.; 1930 PrOVGE 85, 451 (455); PrOVG, RuPrVwBl 53 (1932), 652 f.; andererseits auf eine kommunistische Revolution 1921 PrOVGE 77, 493 (494 f.); 1923 PrOVGE 78, 445 (447 f.); PrDzHnrB bei Meyer DJZ 1924, Sp. 832; DStH Thüringen, ZBR 3 (1931), 280, RDH 1931/32, 54; weitergehend hält OVG Thüringen, ZBR 3 (1931), 280 bereits den Beitritt zur KPD für unzulässig. Abl. zu DzH Hamburg, ein Beamter aus der Zeit vor 1918 könne mit Rücksicht auf seine wohlerworbenen Rechte den späteren Eid auf die Reichsverfassung verweigern, Hachenburg DJZ 1921, Sp. 406, 409. 18 1926 RDH II, 124; 1930 RDH II, 125 f.; 1931 RDH II, 128 f.; 1929 PrOVGE 85, 458 (460 f.); 1930 PrOVGE 86, 452 (461); PrOVG, RuPrVwBl 53 (1932), 652; PrDzHnrB, RuPrVwBl 49 (1928/29), 464 f. und bei Meyer DJZ 1930, Sp. 633, KG, ZBR 1 (1929), 156. Bezogen auf Taten von Nationalsozialisten 1931 RDH II, 132 ff.; bzgl. des überhandnehmenden Bruchs des Telegrafengeheimnisses RDH 1931/32, 27 f. und judenfeindlicher Propaganda RDH, ZBR 4 (1932), 142 f. Einzelpflichten, für die republikanische Staatsgewalt einzutreten, schaffen das Gesetz v. 21.7.1922 in § 10a RBG (RGBl 1922 I, 590 [591]) und in Preußen das Gesetz v. 31.7.1922 in § 1 Abs. 2 des Gesetzes von 1851 (PrGS 1922, 207). 19 Im Erg. so 1930 das Preußische Staatsministerium und, gestützt auf ein Gutachten von Anschütz, das Badische Kultusministerium, dazu Häntzschel RuPrVwBl 51 (1930), 509 ff.; OLG Frankfurt/M., DzSen, ZBR 3 (1931), 279; PrDzHnrB RuPrVwBl 52 (1931), 397 ff. sowie bei Berlowit, Der Beamte 1931, 144; abw. 1932 PrOVGE 89, 391 ff.; 1932 PrDStH, RuPrVwBl 54 (1933), 16 f. sowie zur kontroversen Diskussion Deist Der Beamte 1932, 7 ff.; kritisch zur formalen Rechtsstaatsauffassung des PrOVG Hempfer, Die nationalsozialistische Staatsauffassung in der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts (1974), S. 177. 16

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2. Inpflichtnahme für den Nationalsozialismus Im Nationalsozialismus hat die Disziplinarrechtsprechung ein unpolitisches Gesicht, wenn es etwa um den Missbrauch des Alkohols geht.20 In anderen Bereichen trägt sie die politischen Ziele mit und setzt sie für den Alltag um. Die neue „Freiheit“ des Beamten beschränkt sich darauf, „den Geboten des Sittengesetzes und der Pflichten gegenüber seinem Volke ohne Zwang zu folgen“.21 Die umfassend betriebene Disziplinierung des beruflichen wie außerberuflichen Verhaltens dient der ideologischen Gleichschaltung des Beamtencorps’. Programmatisch heißt es im Deutschen Beamtengesetz von 1937, der Beamte habe sich stets seiner erhöhten Pflichten bewusst zu sein, „dem Führer, der ihm seinen besonderen Schutz zusichert, … Treue bis zum Tode zu halten“ und „jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat einzutreten“.22 Im Alltag wird ein Verhalten geahndet, sobald es auf eine kritische oder gemeinschaftswidrige Haltung schließen lässt,23 dem Staat nicht im „deutschen Gruß“ die nötige Reverenz erweist24 und erst Recht, soweit es auf politischer Gegnerschaft beruht.25

20 Bereits 1889 KDzH, Rspr. S. 85 ff.; 1899 RDH I, 233 f. und RDH 1937, 34 f.; wegen der Jagd nach „Schnaps und Geld“ unter dem Aspekt schuldhafter Dienstunfähigkeit 1908 PrOVGE 53, 436 (437 f.); 1914 RDH I, 235 (237); 1925 RDH II, 137 (138); RDH 1933, 73 f.; 1939 RDStHE 2, 68 f.; weiter 1928 RDH II, 136 (137); RDH 1933, 109 ff.; 1934, 93 f.; 1937, 32 ff.; 1941 WDStH in RKGE 2, 125 (127); 1942 in RKGE 2, 188 ff. Einem Beamten, den der Sachverständige als „geistig minderwertig, stumpf und gleichgültig“ charakterisiert, lastet RDH 1931/32, 59 (62) an, sich wegen seiner herabgesetzten Widerstandskraft nicht von Anfang an enthalten zu haben. 21 RDH 1937, 26 (27); unter den wenigen Untersuchungen zur Geschichte des Disziplinarrechts weist Fachet für Württemberg die geringe Toleranz in politischen Sachen nach (Verwaltungsgerichtshof, Kompetenzgerichtshof und Disziplinargerichte in Württemberg unter dem Nationalsozialismus [1989]), S. 253, 284). Zum – hier nicht behandelten – Verfahrensrecht nach der RDStO v. 26.1.1937 (RGBl 1937 I, 71 ff.) Brand, Die Reichsdienststrafordnung (1937), und Wittland, Reichsdienststrafordnung, 2. Aufl. (1941). 22 DBG v. 27.1.1937, § 3 Abs. 1 S. 1 und 4, Abs. 2 S. 1 (RGBl 1937 I S. 41); zur zeitgenössischen Entfaltung einzelner Pflichten Nadler/Wittland/Ruppert, Deutsches Beamtengesetz, Tl. 1 (1938), S. 172 ff. (zu § 3). Zur Entstehung des Gesetzes Hattenhauer, Geschichte des Beamtentums (1980), S. 402 ff. 23 Z.B. durch die Weigerung, ein Führerbild aufzuhängen (RDH 1936, 29 ff.); sich an Sammlungen zu beteiligen (RDH 1936, 36 [40 und 41 f.]; RG, DStSen, ZBR 8 [1937/38], 37); durch Abreißen eines von der Partei befestigten Plakats (RDH 1936, 42 f.); durch „hetzerische“, abfällige Äußerungen (RDH 1934, 29 f., 65 und 66 ff.; 1935, 29 f.; 1936, 78 f.; Einzelheiten bei Knoll, DtVw 1940, 354 [355]). 24 Wer ihn fortgesetzt verweigert, schließt sich nach RDH 1936, 73 f. selbst aus der Beamtenschaft aus; zu Internationalen Bibelforschern RDH 1935, 81 (82); PrOVG, RVwBl 58

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Rigoros ist von Anfang an die Ahndung sittlich anstößigen, moralischen Anschauungen der Allgemeinheit zuwiderlaufenden Verhaltens. Soweit es allgemein wahrgenommen werden kann, vermag es der Praxis zufolge die für die Berufsausübung notwendige allgemeine Achtung zu beeinträchtigen.26 Für derartige Wertungen in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft werden „im Interesse der Sauberkeit und Reinhaltung des Beamtenstandes“ noch strengere Maßstäbe angesetzt,27 gerade was den Verkehr mit Juden28 und in der Tradition der Praxis den Ehebruch angeht.29 Ebenso sieht

(1937), 245 (246); RDStH, DtVw 1941, 184; weiter RDH 1936, 74 ff.; 1939 RDStHE 3, 1 (6) und zur Praxis in Württemberg Fachet (Fn. 21), S. 236. Sieht etwa RDH, ZBR 7 (1936/37), 104 f. darin eine staatsfeindliche Einstellung manifestiert (als Negativbeispiel bei einem Kommunisten RDH 1935, 78 (79); einem Sozialdemokraten 1937 RDStHE 1, 129 [131]), verzichtet bereits RG, DStSen, ZBR 10 (1940/41) auf den Nachweis und lässt einen entsprechenden Eindruck genügen; so wie 1942 nach RVwGE 2, 213 (215) dolus eventualis genügt. In diesen Sachzusammenhang gehört auch die Weigerung, zu flaggen: 1939 RDStHE 2, 29 (32 f.); 1940 3 (21 ff.). 25 Für das Abhören feindlicher Sender 1940 RDStHE 3, 44 ff.; DStK Stuttgart, RVwBl 62 (1941), 685 und das Aufreizen zum Streik gegen die Nationalsozialisten im Jahre 1932 RDH 1934, 17 (19). Bezogen auf Kommunisten RDH 1934, 26 f. und 69 f.; 1935, 75 ff. und 86; 1936, 33 ff.; zum inneren Widerstreit, als Jude mit dem Gruß „Heil Moskau!“ gegen Misshandlungen von Juden Stimmung zu machen, RDH 1935, 30 (32). Zum Verschweigen früherer Zugehörigkeit zu einer demokratischen Partei 1934 PrOVGE 94, 250 ff.; zur SPD RDH 1934, 29 ff.; 1935, 84 ff.; PrOVG, RVwBl 57 (1936), 926 f.; zur KPD RDH 1935, 86. 26 Zur Methode 1901 RDH I, 253 (255); 1908 RDH I, 252 und 262 (264) sowie PrDStH, RuPrVwBl 53 (1932), 876; zu Einzelfällen RDH bei Schwalb DJZ 1927, Sp. 1698; 1931 RDH II, 138 f.; RDH 1931/32, 39 (40). 27 RDH 1936, 80 f., bezogen auf die Anstiftung zu Abtreibungen RDH 1936, 83 ff. und auf homosexuelles Verhalten RDH 1934, 91 f.; 1935, 40 f.; 1935, 41 f.; 1938 RDStHE 1, 100 f.; weiter RDH 1936, 46 f.; 1937, 31 f. und 47 f. sowie 1938 RDStHE 1, 93 ff. für einen unzüchtigen Briefwechsel. Allgemein für einen richterlichen normativen Maßstab unabhängig von laxen Auffassungen in der Gesellschaft 1924 RDH I, 305; 1926 RDH II, 195 f. für die Ausplünderung einer Genossenschaft in der Inflationszeit; 1930 für einen Exhibitionisten RDH II, 197; dagegen mildernd RDH 1935, 111 (112) für einen fremdnützigen Betrug wegen der verbreiteten Auffassung, man könne Fürsorgeeinrichtungen ausnutzen; methodisch gegen Beschränkungen, die aus einem Kodex folgen könnten, Ernst DtVw 1941, 341 (342). 28 RDH 1934, 70 ff. aberkennt einer Postbeamtin auf diese Weise noch nach ihrer Entlassung Amtsbezeichnung und Pension; zu Einzelfällen RDH 1934, 92 f.; 1936, 79 f.; 1937, 44 f.; 1937, 45 ff. für die Unterstützung des außerehelichen Verkehrs der Tochter mit einem Juden in einer Kleinstadt, 1940 RDStHE 3, 51 (55). Dienstvergehen bilden auch das Borgen bei Juden (RDH 1935, 116 ff.); der private Umgang (OLG Frankfurt/M., DStK, ZBR 8 [1937/38], 156 f.) und der Geschäftsverkehr (zu dieser ungeschriebenen, selbstverständlichen Pflicht Badischer VGH DtVw 1937, 286; weiter 1939 RDStHE 2, 69 f.). 1931 hält RDH II, 138 f. einem Beamten wegen der Äußerung: „Die Juden gehören verkehrt aufgehängt, daß … sie langsam verrecken, die Plattfußindianer“ zugute, sie sei 1930 in der allgemeinen größeren Erregung nach der Reichstagswahl gefallen.

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die Praxis den Beamten von jeher verpflichtet, seine Frau zu einem ihm würdigen, sittlich einwandfreien Verhalten zu erziehen, auch zu zwingen, und sich letztlich von ihr zu trennen, wenn er seine Beamtenstellung behalten will.30

3. Parallelwertungen im Arbeitsrecht und im Bauernrecht Als Exkurse zeigt das Arbeitsrecht wie das Bauernrecht im Nationalsozialismus parallele Wertungen, wenn aus ideologischen Gründen Angestellte gekündigt werden bzw. Bauern die „Ehrbarkeit“ abgesprochen wird. Angestellte können „aus wichtigem Grund“ gemäß § 626 BGB gekündigt werden, wenn ihre jüdische Abstammung oder ihre staatsfeindliche Gesinnung eine Weiterbeschäftigung unzumutbar macht. Die Praxis nimmt nach dem Sieg der „nationalen Revolution“ Juden zunächst gegen Säuberungsprogramme in Schutz, sieht in der Abstammung allein keinen „wichtigen Grund“ und mahnt eine am Einzelfall orientierte, nicht „unter dem Eindruck politischer Ereignisse etwa überstürzt gewonnene“ Betrachtung an.31 Ein Wandel setzt ein mit den Nürnberger Gesetzen von 1935. Weil die Rassenideologie jetzt Allgemeingut sei, können jüdische Angestellte nicht mehr bei einer Gemeinde beschäftigt, jüdische Lehrlinge gekündigt und in einem städtischen Kindergarten arische Kinder nicht mehr von einer nichta-

29 Ist er zunächst schlechthin mit der „Beamtenwürde“ unvereinbar (bereits 1912 PrOVGE 64, 561 (562); 1925 PrOVGE 80, 426 (427); 1929 RDH II, 146, RDH bei Schwalb DJZ 1930, Sp. 235; RDH, ZBR 3 [1931], 35 f.; und RDH 1931/32, 63 ff.; dann RDH 1934, 72 ff.; 1935, 32 (34); 1936, 14 ff. und 81 ff.; 1937, 30 f.; RG, DStSen, DJ 1936, 1995 (1996) unter Berufung auf RDH, PrDStH und PrOVG), berücksichtigt die Praxis später häufiger den Einzelfall, wenn die Ehe durch Hysterie der Frau zerrüttet ist (RDH 1935, 34 ff.); sich die Eheleute versöhnt haben (RDH 1937, 28 [29]) oder die Frau einverstanden war (RDStH, RVwBl 60 [1939], 174 und RDStHE 3, 57 [60]); weiter 1937 RDStHE 1, 95 f.; 1938 1, 97 f.; 1939 2, 73 ff.; 1942 WDStH in RKGE 2, 182 (184). 30 Betr. unsittliches Verhalten 1936 PrOVGE 99, 253 ff. und bereits 1896 KDzH, Rspr. S. 97 f.; 1914 RDH I, 238 (239); 1928 RDH II, 145 (Überlassung der Frau an Dritte „zur geschlechtlichen Benützung“); 1930 RDH II, 143 ff. (Förderung des von der Frau geführten „Lokals mit Damenbedienung“); zur Wechselreiterei der Frau 1931 RDH II, 141 ff.; zu Luxusausgaben 1938 RDStHE 1, 60 (63); zur falschen Selbstbezichtigung des Mannes zum Schutz der Frau 1913 RDH I, 245 ff. Weiter sieht RDH 1935, 87 ff. einen elsässischen Beamten verpflichtet, „seinen Sohn zu einem guten Deutschen zu erziehen“ und ihn daher nicht auf Schulen im Ausland zu schicken; zu diesem Fall Fachet (Fn. 21), S. 233 f. 31 1933 LAG Dortmund, ArbRS 19 II, 3 (9) und RAGE 13, 185 (187 f.); 13, 174 (184) = ArbRS 19 I, 207 ff. m. zust. Anm. Hueck, S. 209 f.

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rischen Jugendleiterin betreut werden.32 Ebenso verschärft sich die politische Disziplinierung und weitet sich aus zur Bekämpfung jeder nonkonformen Gesinnung. Das gilt für eine Tätigkeit in der KPD als einer „gemeingefährlichen Verbrecherorganisation“, für gehässige Äußerungen gegen den Führer und die nationale Regierung sowie für eine auf Gegnerschaft beruhende Verweigerung gegenüber dem Winterhilfswerk oder der NSVolkswohlfahrt.33 Im Bauernrecht des Erbhofgesetzes bedeutet die Verklärung zu einem Stand mit eigener bäuerlicher Ehre die konsequente Ausrichtung an nationalsozialistischer Politik. „Unehrbar“ machen unter rassischem Vorzeichen Geschäftsbeziehungen zu Juden,34 unter politischem eine kommunistische Vergangenheit,35 und unter sittlichem Ehebruch.36 Maßstab ist nicht abstrakt die Auffassung der Standesgenossen, sondern wertend die „ehrbarer Standesgenossen“, eines „gesunden Bauernstandes“ bzw. „sittlich denkender Mitmenschen“.37

4. Neuorientierung nach 1945 Die Nachkriegsrechtsprechung hält die Generalklausel pflichtgemäßen Verhaltens für verfassungsgemäß, bezieht sie auf die geltende Moralauffas-

32 In der Reihung des Textes 1937 RAGE 18, 132 (138); 1939 unter Anwendung von § 242 BGB RAGE 21, 283 (285 ff.); 1935 LAG Krefeld-Uerdingen ArbRS 25 II, 200 (204). Ein „alter Kämpfer“, der deswegen bei der Stadt angestellt war, kann wegen des Einkaufs in jüdischen Geschäften entlassen werden: RAG DJ 1937, 1989 (1991) m. zust. Anm. Friedrich, S. 1992 f. 33 In der Reihung des Textes 1933 LAG Frankfurt/M., ArbRS 19 II, 207 (208 f.) zur Verletzung auch der vertraglichen Treuepflicht; 1936 RAGE 16, 319 (322 ff.); zum Nachweis einer gegnerischen Einstellung in Einzelfällen 1938 RAG, ArbRS 33 I, 97 (102 ff.) und 34 I, 205 (208, 211) sowie 1942 RAGE 27, 53 (58); dazu Linder, The Supreme Labor Court in Nazi Germany: A Jurisprudential Analysis (1987), S. 226 ff. 34 Für den Handel mit Viehjuden LEHG Celle, RdRN 1938, 250 ff. Nr. 113, für die Beschäftigung von Juden, um höhere Kosten für die von Ariern zu umgehen, LEHG Celle, RdRN 1936, 119 f. Nr. 68, zum fehlenden Bemühen, einen arischen Tierarzt zu beauftragen, LEHG Celle, RdRN 1938, 842 ff. Nr. 355. 35 Zur aktiven Betätigung für die KPD LEHG Celle JW 1934, 2858 f. 36 Zur Wertung des Ehebruchs im Einzelfall LEHG Celle, RdRN 1937, 543 f. Nr. 218 und 1937 REHGE 4, 461 (470 f.); zur wilden Ehe einer Kriegswitwe mit einem Wirtschaftsgehilfen LEHG Celle, RdRN 1937, 1041 Nr. 450. 37 Entsprechende Umschreibungen 1939 in REHGE 6, 319 (325); 1934 in 1, 137 (140); 1936 in 3, 286 (293) und LEHG Celle JW 1934, 2626 (2627) sowie in RdRN 1936, 259 Nr. 170 zur „gesund empfindenden Landbevölkerung“; deutlich zur nationalsozialistischen Gesamtpersönlichkeit Wöhrmann, Das Reichserbhofrecht, 3. Aufl. o.J. [1939], Anm. 1, 3 zu § 15 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes v. 29.9.1933 (RGBl 1933 I, 685, 687).

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sung der Allgemeinheit und entnimmt ihr z.B. weiterhin die Sittenwidrigkeit des Ehebruchs wie des homosexuellen Verhaltens.38 Als weitere Kontinuität soll der Beamte aus der Pflicht zu Treue, Gehorsam und achtungswürdigem Verhalten im Disziplinarverfahren zu wahrheitsgemäßen Aussagen verpflichtet sein, soweit er nicht von der Alternative zu schweigen Gebrauch macht.39 Erst die Zurücknahme des Strafrechts in den 60er Jahren wird Anlass, diese Wertung auf den Bereich „unsittlichen“, achtungswidrigen Verhaltens zu erstrecken.40 Vor allem erzwingen massenhafte, oft leichte Verstöße im Straßenverkehr eine Beschränkung der Ahndung: das Disziplinarrecht nähme sonst Maß an einem „realitätsfernen Ideal“ und soll nicht „einen Beamten in moralischer und ethischer Hinsicht zu einem Mustermenschen … erziehen.“41 Verstöße im Straßenverkehr beherrschen auch die aktuelle Praxis des Disziplinarrechts42 und führen nur noch bei besonderen Umständen zur Ahndung, wie Flucht oder Wiederholung als Indizien charakterlicher Unzuverlässigkeit.43

38 Zur Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG 1956 BDHE 2, 59 (75 ff.); zum Maßstab 1953 BDHE 1, 24 (25); 1954 1, 55 (60, 64) mit Betonung der Selbständigkeit des Disziplinarrechts sowie 1, 67 (68); zum Ehebruch 1955 BDHE 2, 184 (186) und 2, 186 ff.; 1956 3, 155 (159) und BayDStH in BDHE 3, 315 (317) als Bestätigung einer Entscheidung des RDH von 1938; 1958 BDHE 5, 29 (33); zur Entlassung wegen homosexueller Handlungen 1959 BDHE 4, 136 f.; 1964 BDHE 7, 200 f. 39 Vgl. bereits 1927 PrDzHnrB, ZBR 2 (1930), 44: RDH 1936, 7 f.; RG, DStSen, ZBR 11 (1941/42), 86; dann 1955 BDHE 2, 111 (115) und BayDStH in BDHE 3, 285 f.; 1958 in BDHE 4, 214; 1959 in BDHE 4, 215; 1963 BDHE 7, 125 (127). 40 Bevor das 1. StRG 1969 die Strafbarkeit des Ehebruchs beseitigt, erscheint er 1961 in BDHE 6, 139 (142) nur noch ahndungswürdig, wenn er den dienstlichen Bereich berührt oder besonders verwerflich erscheint, und homosexuelles wie exhibitionistisches Verhalten führt nicht allein wegen abstrakter Gefahren zur Entlassung (1966 BDHE 7, 111 f. und 202 f.). Hinsichtlich des Verhaltens seiner Ehefrau hält 1955 BayDStH in BDHE 3, 288 (290) den Beamten mit Rücksicht auf Art. 6 GG zumindest nicht mehr für verpflichtet, sich notfalls scheiden zu lassen, und die Straflosigkeit des Selbstmordversuchs lässt auch keine Wertung als Dienstvergehen zu: 1962 BDHE 6, 150 (151). 41 Grds. 1965 BDHE 7, 94 (96) für leicht fahrlässige Verstöße; einschr. z.B. 1956 BDHE 3, 160 (162); 1962 BDHE 6, 62 (63 f.); 1965 BDHE 7, 94 (96 f.); weitgehend seinerzeit selbst für eine fahrlässige Tötung SächsDzH, ZBR 5 (1933), 95. 42 Neben Fällen von Trunkenheit (1967 BVerwGE 33, 12 [15]; 1978 BVerwGE 63, 148 f.; 1986 BVerwGE 83, 202 [205]; 1987 BVerwGE 83, 295 [297]), dagegen kaum mehr von „Unsittlichkeit“ (dazu 1975 BVerwGE 53, 47 ff.; 1989 BVerwGE 86, 136 ff.; 1999 BVerwGE 113, 340 ff.). 43 1967 BVerwGE 33, 113 (115 f.); 1968 BVerwGE 33, 58 f.; 1985 BVerwGE 76, 366 ff. und 371 ff.; 1989 BVerwGE 86, 236 ff.; 1990 BVerwGE 86, 357 ff.; 2001 BVerwGE 114, 212 (216 ff.); restriktiv bzgl. alkoholbedingter außerdienstlicher Verkehrsdelikte 1983 Hinweise

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III. Ehrengerichtsbarkeit der Rechtsanwälte In der Weimarer Republik scheitern von der materiellen Not der Anwaltschaft inspirierte Initiativen, das System obrigkeitlicher Vergeltung durch ein solches genossenschaftlicher Prävention zu ersetzen, noch an der traditionellen Standesauffassung.44 Sie ermöglicht gegen Ende der Republik, unter Berufung auf die Stellung des Anwalts als Organ der Rechtspflege im Ergebnis wie bei Beamten eine parteipolitische Agitation berufsrechtlich zu ahnden, sei sie von Links gegen die „Klassenjustiz“ gerichtet oder von Rechts gegen Juden und die republikanische Staatsform.45 Für die Zeit des Nationalsozialismus fallen zunächst Kontinuitäten ins Auge. Die bei den Kammern gebildeten Ehrengerichte behandeln, so lässt sich vermuten, im Schwerpunkt Sachen ohne politischen Hintergrund; nach der Auswertung der Jahresberichte für den Bezirk Celle stehen unzulässiges Verhalten im Prozess und falsche Abrechnungen im Vordergrund.46 Auch die Praxis des beim RG gebildeten EGH befasst sich zunächst in herkömmlicher Weise mit berufstypischen Verstößen wie der Veruntreuung von Geld oder Gebührenüberhebungen.47 Ein grundsätzlicher Wandel setzt ein mit der Neuorganisation von 1934. Der EGH wird Exekutivorgan der Reichsrechtsanwaltskammer und orientiert sich maßgeblich an den von der Kammer erlassenen, 1938 neu gefassten „Richtlinien für die Ausübung des Anwaltsberufs“. Wenn der Rechtsanwalt den Richtlinien zufolge keine volks- und staatsfeindlichen Bestrebungen fördern und keine „undeutschen Rechtsauffassungen“ vertreten darf,48 benutzt die Praxis die traditionelle Stellung als „Organ der Rechtspflege“ für eine weitreichende Inpflichtnahme im Dienst der Ge-

des Beauftragten für das Disziplinarwesen in Niedersachsen (bei Bieler/Lukat, Niedersächsische Disziplinarordnung [Stand: 1998], § 14 Rn. 1). 44 Zur Reform Bendix Die Justiz 2, 318; Feuchtwanger, FS Pinner (1932), S. 123, 136, 187 f.; Bauer-Mengelberg, Standesgefühl und Solidaritätsgefühl (1929), S. 37, 43 f.; für die traditionelle Auffassung der Anwaltstag 1920 (vgl. Fischer, JW 1920, 808 [809]) und Rumpf, Anwalt und Anwaltstand (1916), S. 64 f., 171. 45 Bezogen auf die Sozialdemokratie 1923 unter Bezug auf eine ständige Praxis EGHE 18, 122 (123); Angriffe auf die Staatsform und auf Juden ahndet 1929 EGHE 23, 89 (92); 1930 EGHE 24, 149 (152) und die Ausrichtung am Glaubensbekenntnis zum Nationalsozialismus 1932 EGHE 26, 180 (181 ff). 46 Nachw. bei Rüping, Rechtsanwälte im Bezirk Celle während des Nationalsozialismus (2007), S. 156. 47 1933 EGHE 27, 172 (173 f.); 1935 EGHE 29, 74 f.; 1937 EGHE 31, 120 f.; 1938 EGHE 32, 86 f.; bezogen auf Gebühren 1934 EGHE 28, 130 (132); 1935 EGHE 29, 137 (139). 48 Richtlinien i.d.F. von 1934 bei Noack, Kommentar zur Reichs-Rechtsanwaltsordnung (1934), S. 258 ff.

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meinschaft. Angefangen von Äußerlichkeiten im autoritären Gerichtsverfahren, wie der korrekten Amtstracht und dem vorschriftsgemäßen „deutschen Gruß“ zählen dazu die Verbote, einseitig Interessen des Mandanten zu vertreten, unangemessene Kritik an staatlichen Maßnahmen zu üben und Umgang mit Juden zu halten.49 Als Folge der umfassenden ständischen Gliederung im Nationalsozialismus können dabei Sanktionen des beruflichen Verhaltens in bisher unbekanntem Ausmaß konkurrieren. Der Vorwurf gegen einen Rechtsanwalt, einen Vertragspartner in gewissenloser Weise übervorteilt zu haben, führt zu strafrechtlichen Ermittlungen, im Ehrengerichtsverfahren und im Parteigerichtsverfahren zum Ausschluss, im standesrechtlichen Verfahren des NSRB zur Einstellung und im Disziplinarverfahren der SA zur Aussetzung.50 Die 1943 begonnene grundsätzliche „Neuordnung“ der Anwaltschaft zielt darauf, sie näher an den Staat zu rücken. In diesem Programm erscheinen die Abschaffung der Ehrengerichtsbarkeit im selben Jahr und die Unterwerfung unter die staatliche Disziplinargerichtsbarkeit konsequent.51 Nach 1945 knüpft die Praxis an die traditionelle Position an, der Anwalt sei zur Wahrnehmung seiner Rechte angewiesen auf Vertrauen und Achtung der Allgemeinheit, damit der Standessitte als der Überzeugung der Standesgenossen unterworfen und ihrer Konkretisierung in den von der BRAK erlassenen Richtlinien.52 Angesiedelt im Spannungsverhältnis zwi-

49 Vgl. die AV des RMJ vom 3.2.1939 betr. „Ordnung und Würde bei den Gerichtssitzungen“ (DJ 1939, 255); die unzulässige Solidarisierung mit einem Mandanten, der die Judenverfolgung kritisiert, 1934 in EGHE 28, 197 (200) und die Ahndung freundschaftlichen Umgangs mit Juden 1937 in EGHE 31, 61 f.; 1940 in EGHE 33, 122 (124). 50 Zur Prozessgeschichte Oberstes Parteigericht, Der Parteirichter 5, 34 ff. Bei einem Anwaltsnotar ahndet 1906 EGHE 13, 34 (35) neben der Disziplinarstrafe für die Berufspflichtverletzung als Notar auch ehrengerichtlich die darin liegende außerberufliche Pflichtverletzung als Rechtsanwalt; ebenso 1927 EGHE 21, 172 (175). 51 Die VO v. 1.3.1943, § 7 (RGBl 1943 I, 123, 124) mit AV RMJ v. 27.3.1943 (DJ 1943, 221) wird vorbereitet durch die Rede des RMJ Thierack vom Januar 1943 in Breslau (zu ihr die Erklärung des Präsidenten der RRAK in deren Mitteilungen 1943, 1). Zum Problem, an Hand der wenigen veröffentlichten Entscheidungen des DStSen des RG Aussagen zu seiner Praxis zu treffen, Rüping (Fn. 46), S. 156. 52 Zur Standessitte 1959 EGHBrZ EGE 5, 241 (242); zu dieser communis opinio, die „das „Regelmäßige zum Rechtmäßigen erhebt“, 1953 EGHBrZ EGE 1, 66 (68); 1954 BayEGH EGE 2, 150 (151) sowie methodisch Adolf und Max Friedlaender, Kommentar zur Rechtsanwaltsordnung, 3. Aufl. (1930), Exkurs II zu § 28, Rn. 1d; zur Aussagekraft der Richtlinien 1959 EGHBrZ EGE 5, 241 (243); 1962 BGH, AnwSen, BGHSt 18, 77 (78); 1966 EGH München EGE 9, 121; Lingenberg/Hummel/Zuck/Eich, Kommentar zu den Grundsätzen des anwalt-

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schen der Zugehörigkeit zu einem freien Beruf und gleichzeitig der Stellung als „Organ der Rechtspflege“,53 betrifft die Standesgerichtsbarkeit anwaltsspezifische Themen, wie die Zulässigkeit eines Erfolghonorars,54 und in der Ahndung „unsittlichen“ privaten Verhaltens55 wie von Verkehrsverstößen56 aus dem staatlichen Disziplinarrecht bekannte Positionen.

IV. Probleme der Gegenwart 1. Zurücknahme des Berufsrechts Das Berufsrecht der rechts- wie steuerberatenden Berufe arbeitet, was die normative Seite von Pflichtverletzungen angeht, traditionell mit einer Generalklausel, sich im Beruf wie außerhalb seiner des Vertrauens und der Achtung der Allgemeinheit als würdig zu erweisen. Der Konkretisierung dienen Richtlinien, die von den Berufskammern erlassen sind und sich nach falltypischen Konstellationen sowie den berufsrechtlichen Sanktionen an der Praxis der Berufsausübung orientieren. Die grundlegende Entscheidung des BVerfG aus dem Jahre 1987 über die Verfassungswidrigkeit dieses Zustandes zwingt zu einer grundsätzlichen Neuorientierung. Da die Auswirkungen für das frühere Standesrecht der Rechtsanwälte als rechtliche Diskussion in eigener Sache naturgemäß eine breite Erörterung erfahren haben,57 sollen sie im Folgenden an Hand der

lichen Standesrechts, 2. Aufl. (1988), Einl. Rn. 17; zur fingierten Kenntnis 1953 EGHBrZ EGE 1, 101 (104), 1956 EGE 5, 15 (16). 53 Zum Stereotyp der „freien Advokatur“ 1954 EGHBrZ EGE 1, 120 (121) und zum weiteren der Organstellung 1950 BayEGH EGE 2, 87 f.; 1951 EGE 2, 100 (102); 1953 EGE 2, 128 (131); 1955 EGE 2, 175 (177) und 177 (186); 1954 EGH Karlsruhe EGE 4, 239 (242). 54 Abl. 1950 BayEGH EGE 2, 56 ff.; 1953 EGHBrZ EGE 1, 10 ( 104); 1962 BGH, AnwSen, BGHSt 18, 110 f.; zu einem möglichen Verbotsirrtum jedoch 1964 EGH Berlin EGE 8, 124 ff. 55 Den Wandel belegen beim Ehebruch, wenn er das Ansehen des Standes beeinträchtigt, 1956 EGHBrZ EGE 1, 193 (196 f.) und EGE 5, 17 ff.; dagegen zurückhaltender 1965 EGH Celle EGE 9, 181 (183) und ihm folgend 1967 EGH Hamm EGE 9, 202 ff.; bei homosexuellem Verhalten 1958 EGHBrZ EGE 5, 222 ff.; restriktiv dann 1962 BGH, AnwSen, EGE 7, 74 (77). 56 Gilt 1956 noch Trunkenheit am Steuer als Verstoß gegen das „Sittengesetz“ (HessEGH EGE 4, 196 f.), werden später Verstöße nur bei verwerflichen Motiven geahndet (1965 EGH Hamm EGE 9, 175 f.): bei Flucht (1975 EG Kassel EGE 13, 218 f.) oder z.B. bei Wiederholung (1969 EG Köln EGE 10, 199 (200); 1973 EG Hamburg EGE 13, 202). 57 Zu der durch BVerfGE 76, 171 (187 ff.) ausgelösten Reform der BRAO wie der Berufsordnung Koch, in: Henssler/Prütting (Hrsg.), BRAO, 2. Aufl. (2004), Einl. Rn. 20 ff.

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stets in ihrem Schatten stehenden Veränderungen im Berufsrecht der Steuerberater behandelt werden. Für das berufliche Verhalten treten an die Stelle der Generalklausel wie im Recht der Anwälte (§§ 43 ff. BRAO) auch in dem der Steuerberater einzeln normierte Berufspflichten (§§ 57 ff. StBerG), und nur das außerberufliche Verhalten muss sich noch an den Anforderungen gemäß der tradierten Generalklausel messen lassen (§ 57 Abs. 2 S. 2 StBerG). Die Zuordnung zu beiden Bereichen bemisst sich als Folge danach, ob einzeln normierte Berufspflichten verletzt sind oder weitere, nur der Generalklausel zu entnehmende Verhaltensanforderungen.58 Eine eigene empirische Untersuchung von Aufsichtsverfahren der Steuerberaterkammer Niedersachsen aus den Jahren 2000 bis 200359 sowie Sammlungen berufsgerichtlicher Entscheidungen60 zeigen die weitgehende Zurücknahme des Berufsrechts in der Gegenwart. Für das berufliche Verhalten spielen nur noch drei Bereiche in der Praxis eine nennenswerte Rolle: wie bei allen freien Berufen Fragen zulässiger Werbung, weiter die oft schwierige und auch im Vergleich zu Rechtsanwälten strengere Beurteilung von Übergängen zu einer gewerblichen Tätigkeit, und schließlich als Appendix zu vorangegangenen berufsgerichtlichen Verfahren die ordnungsgemäße Erfüllung dort verhängter Sanktionen.61 Am sichtbarsten ist der Wandel im außerberuflichen Verhalten. Die so lange das Disziplinarrecht beherrschende Einforderung einer bürgerlichen Sittlichkeit gehört der Vergangenheit an, und die private Lebensführung hat sich aus der Bevormundung durch eine staatliche Disziplinierung befreit. Für Steuerberater spielen berufstypisch eine Rolle die Pflicht zu ordnungsgemäßem Wirtschaften und zur ordnungsgemäßen Erfüllung eigener steuer-

58 Maxl, in: Kuhls u.a., Steuerberatungsgesetz, 2. Aufl. (2004), § 57 Rn. 336; Ziegenhagen, Die Berufsgerichtsbarkeit der freien Berufe (1998), S. 215. 59 Rüping, Der Steuerberater 2007, 20 (26 f.); dabei sind von den jährlich etwa 300 Aufsichtsverfahren der Kammer im Mittel 15% an die Generalstaatsanwaltschaft Celle abgegeben worden. 60 Vgl. bei Späth, Bonner Handbuch der Steuerberatung (Stand: 2003), die unter Nr. R 733 ff. zu § 57 Abs. 2 StBerG wiedergegebenen Entscheidungen sowie die von der BStBK an die Landeskammern seit den 70er Jahren in Umlauf gebrachten Entscheidungen der sog. „Rosa Liste“. 61 Zur Nichtzahlung von Geldbußen vgl. die Entscheidungen bei Späth (Fn. 60), § 57 StBerG Nr. R 733/10, 12, 14, 15, 17, 18.

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licher Pflichten,62 sowie ohne berufstypische Einkleidung die gesetzeskonforme Teilnahme am Straßenverkehr. Symptomatisch erscheint auch in diesem Bereich die als Zurückdrängung zu wertende Zurücknahme des Berufsrechts. Nach der exzessiven Auffassung, wie sie die Praxis der Ehrengerichte Mitte des 20. Jahrhunderts beherrschte, konnte für einen Rechtsanwalt jeder Verstoß relevant werden: als Verstoß gegen die umfassende Pflicht, Normen überhaupt zu beachten.63 Inzwischen ist eine in der Einzelbewertung nicht immer übereinstimmende, jedoch in der restriktiven Tendenz einhellige Praxis Allgemeingut. Verkehrsverstöße werden erst in gravierenden Fällen berufsrechtlich relevant, d.h. wenn sie sich wiederholen, wenn sie zu schweren Folgen geführt haben oder wie bei Trunkenheit im Verkehr und Unfallflucht auf charakterlichen Mängeln beruhen, nämlich Verantwortungs- oder Rücksichtslosigkeit.64

2. Beschränkung der doppelten Ahndung Damit stehen gegenwärtig auch Fragen des sog. disziplinären Überhangs unter anderem Vorzeichen. Methodisch nicht problematisch stellen sich Fälle dar, in denen das gegenüber einer berufsgerichtlichen Ahndung vorrangige Strafverfahren keinen strafrechtlichen Schuldvorwurf ergibt, jedoch im Vorfeld des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes die Verhängung einer berufsrechtlichen Maßnahme legitimiert ist (vgl. § 109 Abs. 2 StBerG).65 Aufwendiger wird die Begründung für eine zusätzliche Sanktionierung, wenn das Verhalten bereits zu einer strafrechtlichen Reaktion geführt hat. Vergleichbar Regelungen im Recht anderer Berufe verlangt § 92 S. 1 StBerG, die berufsgerichtliche Maßnahme müsse erforderlich sein, um sowohl den Berater zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten als auch um das Ansehen des Standes zu wahren. Die Garantie des Art. 103 Abs. 3 GG läuft in dieser Konstellation nicht leer, weil hier straf- und berufsgerichtli-

62 Von den in die „Rosa Liste“ (Fn. 60) aufgenommenen 28 Entscheidungen (nach dem Stand von 2007) betreffen je 6 Fälle die Hinterziehung und das nicht ordnungsgemäße Wirtschaften, 5 weitere die Nichtzahlung von Geldbußen. 63 Z.B. 1958 EGHBrZ EGE 5, 134: „Die Beachtung der Verkehrsvorschriften ist, wie die Beachtung aller Rechtssätze, Standespflicht des Rechtsanwalts“, bezogen auf Steuergesetze ebenso 1958 in EGE 5, 112 (120). 64 Nachw. Fn. 43 sowie bei Rüping, SteuerConsultant 2007, 41 (42). 65 Z.B. kann das Zurückbehalten von Fremdgeld berufsrechtlich relevant sein, auch wenn mangels Zueignung eine Unterschlagung ausscheidet (RDH 1934, 129 [131]); dasselbe kommt in Betracht für eine BAK, selbst wenn sie strafrechtlich noch keine Fahruntüchtigkeit begründet (vgl. 1989 BVerwGE 86, 184 [185 f.]).

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che Ahndung konkurrieren können. Sie entfaltet sich in einer zweiten Stufe als Schutz vor einer faktischen Doppelbestrafung. Die Praxis trägt dem Rechnung, wenn aus den zuerst genannten spezialpräventiven Erwägungen keine Ahndung erforderlich erscheint, weil sich der Pflichtverstoß bei einem sonst integren Berufsangehörigen als einmalige Entgleisung darstellt.66 Eine Ahndung aus dem generalpräventiven Aspekt, das Ansehen des Standes zu wahren, entfällt, wenn der Verstoß – z.B. als bloße Missachtung eines Parkverbots – nicht geeignet ist, die Erwartungen der Öffentlichkeit an die fachliche und persönliche Qualifikation der Berufsangehörigen zu beeinträchtigen.67 Damit bleibt noch die Konstellation zu diskutieren, dass ein Überhang existiert und eine Ahndung erfordert, wie in der Praxis bei der Hinterziehung eigener Steuern durch den Steuerberater.68 Ist die Verhängung einer strafrechtlichen und zusätzlich einer berufsgerichtlichen Sanktion formal verfassungskonform, bleiben doch materiell die Wirkungen auszugleichen. Der Reichweite der Verfassungsgarantie entspricht dabei nicht, eine Geldstrafe nur bei der Bemessung der berufsrechtlichen Geldbuße zu berücksichtigen. Sie darüber hinaus bei wesensgleichen finanziellen Sanktionen in vollem Umfang anzurechnen, stellt sich mit der Auffassung des BVerfG als ein Gebot der Gerechtigkeit dar.69

3. Subsidiarität des Berufsrechts Die herkömmliche Parallelität von Strafrecht und Berufsrecht besteht in der heutigen Wahrnehmung nur noch mit sichtbaren Einschränkungen. Nach den materiellen Voraussetzungen bleiben unterschiedliche Ausgangspunkte: im Strafrecht die Bindung an möglichst bestimmt umrissene Tatbestände und ihre schuldhafte Verwirklichung, im Berufsrecht eine Generalklausel pflichtwidrigen Verhaltens und die Entscheidung, ob der

66 Der Anwaltssenat stellte in BGHSt 26, 241 (242) zusätzlich darauf ab, dass der Betroffene sich zu seiner Tat bekannt und bereits eine Freiheitsstrafe verbüßt hatte. 67 Restriktiv zur Ahndung alkoholbedingter Verstöße 1996 Erlass des Nds. MI (bei Bieler/Lukat [Fn. 43], § 14 Rn. 2). Die Möglichkeit der Beeinträchtigung genügt (1965 BDHE 7, 94 (96); 1988 BVerwGE 86, 94 (95); 2001 BVerwGE 114, 212 [218]), sodass es auf den Nachweis einer tatsächlichen Minderung (z.B. auf Grund einer Pressenotiz, dazu 1968 BVerwGE 33, 49 [51]) nicht ankommt. 68 Zur Praxis vgl. Rüping, StB 2007, 26 sowie die Entscheidungen zu § 57 Abs. 2 StBerG bei Späth (Fn. 60), Nr. R 733/5, 9. 69 BVerfGE 21, 378 (388 ff.); abw. Ziegenhagen (Fn. 58), S. 50 f.; zur Diskussion BK/Rüping, GG (1998), Art. 103 III Rn. 78 ff.

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Berufsangehörige nach einer Gesamtbewertung seines Verhaltens als weiterhin tragbar für den Beruf erscheint.70 Die bisher kaum untersuchte Geschichte des Berufsrechts zeigt – etwa am Beispiel des Ehebruchs –, wie die Beurteilung strafrechtlichen Wertungen und ihren Veränderungen folgt, und tendiert in der gegenwärtigen Verwirklichung des Berufsrechts zur Normierung einzelner Pflichten. Auch im Verfahren dominiert die strafrechtliche Ahndung. Wegen der überlegenen Mittel, die das Strafgericht zur Aufklärung besitzt, ist das Disziplinargericht seit jeher an eine freisprechende Entscheidung des Strafgerichts gebunden.71 Aus demselben Sachgrund hat die Praxis die Bindung vor der späteren gesetzlichen Positivierung erweitert auch auf die Feststellungen des Strafgerichts zu einem Schuldspruch.72 Das Verfahrensrecht kennt die Bindung eines Gerichts an Feststellungen eines anderen, gerade wenn in beiden der Grundsatz freier Beweiswürdigung gilt, nur als Ausnahme und schafft damit zahlreiche dogmatische Zweifelsfragen.73 Der Strafrichter besitzt bereits nach geltendem Recht die Kompetenz, als Nebenfolge einer strafrechtlichen Verurteilung die Fähigkeit abzuerkennen,

Zur Gesamtwürdigung z.B. 1958 BayDStH in BDHE 4, 206 (209); 1961 BDHE 6, 131 (132); zur Auswirkung auf den Begriff der Tat, der Einzelhandlungen ohne Rücksicht auf ihren tatsächlichen und zeitlichen Zusammenhang umfasst, 1955 BayDStH in BDHE 3, 285 (286), auch soweit sie für sich genommen unerheblich sind, bereits 1913 KDzH, Rspr. 173, 174 (zu nahe liegenden methodischen Einwänden Fürst, Gesamtkommentar Öffentliches Dienstrecht, 1976 ff. [Stand: 1980], J 226 Rn. 15). Dass es nicht primär auf die individuelle Schuld ankommt und daher auch § 21 StGB eine Entfernung aus dem Dienst nicht hindert, belegt 1975 BVerwGE 53, 47 (50). 71 Bezeichnenderweise beseitigt § 4 Abs. 3 der preußischen BeamtenDStO i.d.F. v. 1934 die Bindung (zur Reichweite Wittland, Die Preußischen Dienststrafordnungen (1935), S. 143 ff.). Als problematisch gilt im Disziplinarverfahren die Pflicht des Angeschuldigten zur Wahrheit (dazu Fn. 39) und das zunächst verneinte Recht auf Akteneinsicht (1884 KDzH, Rspr. S. 106, 109 und noch 1908 Rspr. S. 304 f.; PrOVG, JW 1935, 2676; 1936, 2277 ff.). 72 Grds. 1891 PrOVGE 22, 428 (431 ff.); 1899 EGHE 9, 38 (43 f.); 1908 EGHE 14, 65 (75 ff.), KDzH DJZ 1902, 263 f.; abl. seinerzeit KG, DzSen für nicht richterliche Beamte, JW 1924, 1797; Ad. Friedlaender, JW 1925, 2714 f. 73 Das Berufsgericht ist im Verhältnis zum Strafgericht, nicht eines anderen Berufsgerichts (1906 EGHE 10, 34 [36]) an Sachentscheidungen gebunden (z.B. nicht an eine Einstellung wegen Verjährung, dazu 1909 KDzH, Rspr. S. 201, 204 ff.) hinsichtlich der tragenden Feststellungen zum Schuldspruch (1939 RDStHE 2, 88 ff.) einschließlich der Schuldfähigkeit (RG, DStSen, ZBR 11 [1941/42], 151) und des Unrechtsbewusstseins (1941 RDStHE 3, 83 [84]) sowie eines Strafaufhebungsgrundes (zum Rücktritt vom Versuch 1967 BVerwGE 33, 107 [108]); dagegen nicht an die Rechtsfolgenentscheidung (bzgl. einer Schuldminderung PrOVG, RuPrVwBl 51 (1930), 181 f.; RDH, ZBR 7 [1936/37], 173 f.; allgemein 1956 BDHE 3, 172 [176]). Zum Problem der Bindung an offensichtlich fehlerhafte Feststellungen 1929 RDH II, 249; RDH, ZBR 8 (1937/38), 36; RG, DStSen DJ 1936, 826; vgl. auch oben Fn. 71. 70

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öffentliche Ämter zu bekleiden (§§ 45–45b StGB), und er berücksichtigt im Rahmen des § 46 Abs. 2 StGB unter den persönlichen Verhältnissen die berufliche Stellung, soweit sie erhöhte Pflichten für das verletzte Rechtsgut begründet.74 Die Befunde zur Geschichte und zum gegenwärtigen Verhältnis des Berufsrechts zum Strafrecht75 legen nahe, wegen der Dominanz des Strafrechts berufsrechtliche Folgen mit vergleichbarem repressiven Charakter im Strafverfahren als Nebenfolgen mit zu erledigen.76 Eine Analyse des Berufsrechts hat gezeigt, wie es im 20. Jahrhundert unter wechselnden Vorzeichen politische und moralische Inhalte transportiert und nicht wertfrei der „Reinhaltung“ des Berufsstandes verpflichtet ist. Dem eigentlichen Berufsrecht verbleiben bei dieser Zweiteilung Überwachung und Durchsetzung interner Pflichten, wie sie – noch einmal am Beispiel der steuerberatenden Berufe – § 57 Abs. 1 StBerG mit der unabhängigen, eigenverantwortlichen, gewissenhaften, verschwiegenen Berufsausübung und nicht berufswidrigen Werbung konstituiert.

Nachw. bei Tröndle/Fischer, StGB, 54. Aufl. (2007), § 46 Rn. 44. Dass es sich um ein allgemeines Problem handelt, belegt die Diskussion in Frankreich um „Cumul et non-cumul de sanctions en droit disciplinaire“ mit einer restriktiven Praxis des Conseil national de l’Ordre und einer „klassischen“ des Conseil d’ӆtat (Kessal, Organisation der Anwaltschaft und berufsgerichtliche Ahndung anwaltlicher Pflichtverletzungen [2001], S. 142). 76 Ähnlich bereits Wittland DJ 1936, 1599 (1602 ff., 1607 f.) und DJ 1937, 238 ff. als Entgegnung auf den von Everling DJ 1937, 116 ff. (121) aus einer „Hypertrophie des Standesgedankens“ hergeleiteten Vorrang des Disziplinarverfahrens (zur zeitgenössischen Entfaltung der „Standesehre“ Rempe, in: Freisler u.a., Der Ehrenschutz im neuen deutschen Strafverfahren, o.J. [1937], S. 195, 197); unabhängig von dieser Einkleidung für eine Einbeziehung und damit Abgeltung einer vergeltenden Disziplinarstrafe im Strafverfahren, um der Zielsetzung des Art. 103 Abs. 3 GG Rechnung zu tragen, Baumann JZ 1964, 612 (615 f.). 74 75

Verzeichnis der Schriften von Gerhard Fezer Selbständige Schriften Die Funktion der mündlichen Verhandlung im Zivilprozeß und im Strafprozeß, Mohr, Tübingen 1970 (Dissertation). Beschleunigung des Zivilprozesses: eine Synopse d. Vorschläge mit krit. Anmerkungen (zusammen mit Jürgen Baumann), Mohr, Tübingen 1970. Reform der Rechtsmittel in Strafsachen: Bericht über die Entstehung der gegenwärtigen Rechtsmittelvorschriften und die Bemühungen um ihre Reform, Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Bonn-Bad Godesberg 1974. Die erweiterte Revision – Legitimierung der Rechtswirklichkeit? Inhaltsanalyse eines Jahrgangs unveröffentlichter Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Mohr, Tübingen 1974. Möglichkeiten einer Reform der Revision in Strafsachen. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der gegenwärtigen Vorschläge zur Rechtsmittelreform, Mohr, Tübingen 1975 (Habilitation). Grundfragen der Beweisverwertungsverbote [Vortrag vom 7.11.1994], Müller, Heidelberg 1995. Strafprozessrecht, 1. Teil, Schwerpunkte Ermittlungs- und Zwischenverfahren, Zwangsmassnahmen; 2. Teil Schwerpunkte Hauptverfahren, Rechtsmittel, C. H. Beck, München, 1986. – 2. völlig neubearb. Auflage 1995 (unter Mitarb. von Wolfgang Wohlers).

Beiträge zu Festschriften Richterliche Kontrolle der Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft vor Anklageerhebung? In: Walter Stree/Theodor Lenckner/Peter Cramer/Albin Eser (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Horst Schröder, C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1978, S. 407–423. Wolfgang Martens zum Gedächtnis. Rede, gehalten auf der Trauerfeier am 13. November 1985. In: Ingo von Münch/Peter Selmer (Hrsg.), Ge-

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Verzeichnis der Schriften von Gerhard Fezer

dächtnisschrift für Wolfgang Martens; Walter de Gruyter Berlin 1987, S. 1–3. Zur Problematik des gerichtlichen Rechtsschutzes bei Sperrerklärungen gemäß § 96 StPO. In: Karl Heinz Gössel/Hans Kauffmann (Hrsg.), Strafverfahren im Rechtsstaat. Festschrift für Theodor Kleinknecht; C. H. Beck, München 1985, S. 113–129. Zur Struktur des Ausschließungsverfahrens gemäß §§ 138a ff. StPO. In: Klaus Geppert/Diether Dehnicke (Hrsg.), Gedächtsnisschrift für Karlheinz Meyer, Walter de Gruyter, Berlin 1990, S. 81–92. Zur Zukunft des Strafbefehlsverfahrens. In: Gunther Arzt/Gerhard Fezer/Ulrich Weber/Ellen Schlüchter/Dieter Rössner (Hrsg.), Festschrift für Jürgen Baumann, Verlag Ernst und Werner Gieseking, Bielefeld 1992, S. 395–406. Hat der Beschuldigte ein „Recht auf Lüge“? In: Wilfries Küper/Jürgen Welp (Hrsg.), Festschrift für Walter Stree/Johannes Wessels, C. F. Müller, Heidelberg 1993, S. 663–684. Kronzeugenregelung und Amtsaufklärungsgrundsatz. In: Albin Eser/Ulrike Schittenhelm/Heribert Schumann (Hrsg.), Festschrift für Theodor Lenckner, C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1998, S. 681–697. Pragmatismus und Formalismus in der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung. In: Udo Ebert/Peter Rieß/Claus Roxin/Eberhard Wahle (Hrsg.), Festschrift für Ernst-Walter Hanack, Walter de Gruyter, Berlin 1999, S. 331–353. Amtsaufklärungsgrundsatz und Beweisantragsrecht. In: Claus Roxin/Gunter Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof. Festgabe aus der Wissenschaft. Band IV. Strafrecht, Strafprozessrecht, C. H. Beck, München 2000, S. 847–881. Die „Herabstufung“ eines Beweisantrags in der Revisionsinstanz. Zugleich eine Kritik am sog. Konnexitätsprinzip. In: Albin Eser/Jürgen Goydke/Kurt Rüdiger Maatz/Dieter Meurer (Hrsg.), Festschrift für Lutz Meyer-Goßner, C. H. Beck, München 2001, S. 629–643. Effektiver Rechtsschutz bei Verletzung der Anordnungsvoraussetzung „Gefahr im Verzug“. In: Ernst-Walter Hanack/Hans Hilger/Volkmar Mehle/ Gunter Widmaier (Hrsg.), Festschrift für Peter Rieß, Walter de Gruyter, Berlin 2002, S. 93–111.

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Wider die „Beweiswürdigungs-Lösung“ des BGH bei verfahrensfehlerhafter Beweiserhebung. In: Dieter Dölling/Volker Erb (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Gössel, C. F. Müller, Heidelberg 2002, S. 627–641. Verteidigerbestellung und Verteidigerwahl im Ermittlungsverfahren. In: Piotr HofmaĔski/Kazimierz Zgryzek (Hrsg.), Wspóáczesne problemy procesu karnego i wymiaru sprawiedliwoĞci. KsiĊga ku czci Profesora Kazimierza Marszaáa, Wydawn, Katowice 2003, S. 74–84. Zum „Missbrauch“ des Beweisantragsrechts in einem Extremfall. In: Bernd Heinrich/Eric Hilgendorf/Wolfgang Mitsch/Detlev Sternberg-Lieben (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Weber, Verlag Ernst und Werner Gieseking, Bielefeld 2004, S. 475–484. „Der Senat neigt der Auffassung zu…“ – Zum obiter dictum in Entscheidungen der BGH-Strafsenate. In: Michael Hettinger/Jan Zopfs/Thomas Hillenkamp/Michael Köhler/Jürgen Rath/Franz Streng/Jürgen Wolter (Hrsg.), Festschrift für Wilfried Küper, C. F. Müller Verlag Heidelberg 2007, S. 45–61. Zur fortschreitenden Relativierung der Verfahrensvorschriften durch den Bundesgerichtshof – § 274 StPO als Beispiel. In: Gerhard Dannecker/Winrich Langer/Otfried Ranft/Roland Schmitz/Joerg Brammsen (Hrsg.), Festschrift für Harro Otto, Carl Heymanns Verlag, Köln 2007, S. 901–912.

Beteiligung an Sammelwerken §§ 129, 129a StGB und der strafprozessuale Tatbegriff. Ein Beitrag zur Wehrlosigkeit der Dogmatik. In: Karsten Schmidt (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, Duncker & Humblot, Berlin 1990, S. 125–139. Grenzen der Beweisaufnahme durch das Revisionsgericht, In: Udo Ebert (Hrsg.), Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, Walter de Gruyter, Berlin 1991, S. 89–115. Die Rüge, daß das Tatgericht den (wesentlichen) Beweisstoff nicht aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpft, (wesentlichen) Beweisstoff übersehen oder übergangen habe. In: Rechtssicherheit versus Einzelfallgerechtigkeit. Kolloquium anläßlich des 65. Geburtstages von Herrn VRiBGH Gerhard Herdegen, Karlsruhe, 12. Oktober 1991., Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaften des Deutschen Anwaltvereins, Arbeitsgemeinschaft Strafrecht, Deutscher Anwaltverlag, Bonn 1992, S. 58–65.

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Verzeichnis der Schriften von Gerhard Fezer

Beteiligung an Kommentaren Kommentar zur Strafprozeßordnung: KMR, begr. von Th. Kleinknecht, H. Müller, L. Reitberger, Fortgef. von Hermann Müller, Walter Sax, Rainer Paulus, 8. Aufl., Luchterhand, Neuwied 1990 – 6. Lfg. (Januar 1990): §§ 374–406c – 9. Lfg. (Mai 1993): §§ 406d–406h, 407–412.

Aufsätze in Zeitschriften Kritische Anmerkungen zur Zivilprozeßbeschleunigungsnovelle, ZRP 1970, 127–129. Die persönliche Freiheit im System des Rechtsgüterschutzes. Zur Problematik eines allgemeinen Nötigungstatbestandes, JZ 1974, 599–606. Zum gegenwärtigen Stand der Reform des § 218 StGB, GA 1974, 65–77. Zur jüngsten Auseinandersetzung um das Rechtsgut des § 240 StGB, GA 1975, 353–362. Zur Rechtsgutsverletzung bei Drohungen – Neue Tatbestände zum Schutz der persönlichen Freiheit? –, JR 1976, 95–100. Grundfälle zum Verlesungs- und Verwertungsverbot im Strafprozeß. 1. Teil. Die Verlesungsverbote der §§ 250, 251, 253 u. 254, JuS 1977, 234–236. Grundfälle zum Verlesungs- und Verwertungsverbot im Strafprozeß. 2. Teil. Das Verlesungs- und Verwertungsverbot des § 252, JuS 1977, 669–673. Grundfälle zum Verlesungs- und Verwertungsverbot im Strafprozeß. 2. Teil. Das Verlesungs- und Verwertungsverbot des § 252, JuS 1977, 813–816. Grundfälle zum Verlesungs- und Verwertungsverbot im Strafprozeß. 3. Teil. Verwertungsverbote, JuS 1978, 104–108. Grundfälle zum Verlesungs- und Verwertungsverbot im Strafprozeß. 3. Teil. Verwertungsverbote, JuS 1979, 35–37. Grundfälle zum Verlesungs- und Verwertungsverbot im Strafprozeß. 3. Teil. Verwertungsverbote, JuS 1979, 186–191.

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Rechtsschutz gegen erledigte strafprozessuale Zwangsmaßnahmen (1.Teil) – Dargestellt an den Beispielen der Beschlagnahme und Durchsuchung, Jura 1982, 18–28. Rechtsschutz gegen erledigte strafprozessuale Zwangsmaßnahmen (Schluß), Jura 1982, 126–138. Anfechtung einer Sperrerklärung des Innenministers und Aussetzung der Hauptverhandlung – BGH, NStZ 1985, 466, JuS 1987, 358–363. Zur „Überleitung“ einer Berufungshauptverhandlung der Großen Strafkammer in eine erstinstanzliche Hauptverhandlung – Zugleich eine Besprechung des BGH-Beschlusses vom 18.09.1986 – 4 StR 461/86 (BGHSt. 34, 149) –, JR 1988, 89–93. Die Folgen der Sachverständigenablehnung für die Verwertung seiner Wahrnehmungen, JR 1990, 397–401. Vereinfachte Verfahren im Strafprozeß, ZStW (106) 1994, 1–59. Zum Verständnis der sog. Annahmeberufung (§ 313 StPO), NStZ 1995, 265–269. Tatrichterlicher Erkenntnisprozeß – „Freiheit“ der Beweiswürdigung –, StV 1995, 95–101. Reduktion von Beweiserfordernissen – Systemverändernde Tendenzen in der tatrichterlichen Praxis und der Gesetzgebung –, StV 1995, 263–270. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Strafverfahrensrecht – Teil 1, JZ 1996, 602–614. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Strafverfahrensrecht – Teil 2, JZ 1996, 655–668. Überwachung der Telekommunikation und Verwertung eines „Raumgesprächs“, NStZ 2003, 625–634. Die Rechtsprechung des BGH zum Strafverfahrensrecht seit 1995 – Teil 1, JZ 2007, 665–676. Die Rechtsprechung des BGH zum Strafverfahrensrecht seit 1995 – Teil 2, JZ 2007, 723–729. Revisionsurteil oder Revisionsbeschluß – Strafverfahrensnorm und Strafverfahrenspraxis in dauerhaftem Widerstreit?, StV 2007, 40–48.

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Anmerkungen BGH, Urteil v. 27.2.1975 – 5 StR 310/74 (LG Essen), JZ 1975, 609–611. OLG Köln, Urt. v. 28.2.1975 – Ss 294/74 (abgedruckt in NJW 1975, 987), NJW 1975, 1982–1983. OLG Hamm v. 27.3.1979 – 4 Ss 2376/78 –, JR 1980, 83–85. Beschluß des HansOLG Hamburg v. 20.8.1981 – 3 Ws 39–44/81, JR 1982, 302–304. BGH, Urteil v. 3.11.1982 – 2 StR 434/82 (LG Frankfurt a.M.), JZ 1983, 355–356. BVerfG, Beschluß v. 10.5.1983 – 1 BvR 385/81, JZ 1983, 797–800. BGH Urt. v. 2.11.1982 – 5 StR 622/82 (StrK bei dem AG Celle), NStZ 1983, 278–279. Beschluß des BGH v. 7.6.1983 – 5 StR 409/81 (BGHSt. 31, 395), JR 1984, 341–344. OLG Köln, Urt. v. 19.10.1983 – 3 Ss 600/83, StV 1984, 277–278. BGH, Beschluß v. 17.10.1983 – GSSt 1/83 (LG Frankfurt/M.), JZ 1984, 433–435. BGH, Urteil v. 5.12.1984 – 2 StR 526/84 (LG Gießen), JZ 1985, 496–498. BGH, Urt. v. 19.12.1984 – 2 StR 438/84 (LG Köln), StV 1985, 403–404. Beschluß des BGH v. 10.7.1984 – 1 StR 13/84 (BGHSt. 32, 394), JR 1986, 40–42. BGH, Urt. v. 23.5.1984 – 3 StR 102/84 (LG Kleve), NStZ 1986, 29–30. BGH, Urt. v. 4.12.1985 – 2 StR 848/84 (LG Frankfurt/M.), StV 1986, 372– 373. Beschluß des BGH v. 10.12.1985 – 1 StR 506/85 (BGHSt. 33, 394), JR 1987, 84–85. BGH, Urt. v. 28. April 1987 – 5 StR 666/86 (LG Hannover), JZ 1987, 937– 939. BGH, Urt. v. 27.11.1986 – 4 StR 536/86 (SchwurGer. Landau), NStZ 1987, 335–336. BGH, Urt. v. 26.11.1986 – 3 StR 390/86 (LG Lübeck), StV 1987, 234–235.

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BGH, Beschl. v. 1.9.1987 – 5 StR 140/86 (AG Hamburg, LG Hamburg, OLG Hamburg), NStZ 1988, 177–178. BGH, Urt. v. 17.12.1987 – 4 StR 440/87 (LG Kaiserslautern), NStZ 1988, 375–375. BGH, Urteil v. 24.8.1988 – 3 StR 129/88 (LG Kleve), JZ 1989, 348–349. BGH, Urt. v. 17.2.1989 – 2 StR 402/88 (SchwG Fulda), StV 1989, 290– 295. Beschluß des BGH v. 3.3.1989 – 2 Ars 54/89 (BGHSt. 36, 133), JR 1990, 79–81. BGH, Urteil v. 20.3.1990 – 1 StR 693/89 (LG Mannheim), JZ 1990, 875– 876. BGH, Urt. v. 27.9.1989 – 3 StR 188/89 (LG Lübeck), StV 1990, 195–196. Urteil des BGH v. 17.11.1989 – 2 StR 418/89, JR 1991, 85–88. Urteil des BGH v. 30.8.1990 – 3 StR 459/87 (BGHSt. 37, 169), JR 1992, 36–37. Beschluß des BGH v. 27.2.1992 – 5 StR 190/91 (BGHSt 38, 214), JR 1992, 385–387. BGH, Urteil v. 3.7.1991 – 2 StR 45/91 (LG Mainz), JZ 1992, 107–108. Urteil des BGH v. 1.4.1992 – 5 StR 457/91 (BGHSt. 38, 263), JR 1993, 427–428. OLG Stuttgart, Beschl. v. 23.3.1992 – 2 StE 5/91 – 5, StV 1993, 255–256. BGH, Urteil v. 12.10.1993 – 1 StR 475/93 (LG München II), JZ 1994, 686– 687. BGH, Urteil v. 22.2.1995 – 3 StR 552/94 (LG Kiel), JZ 1995, 972–972. BGH, Urt. v. 25.1.1995 – 3 StR 448/94 (LG Lübeck), NStZ 1995, 297–298. Beschluß des BGH v. 25.1.1995 – 2 StR 456/94 (BGHSt. 40, 395), JR 1996, 38–39. BGH, Vorlagebeschl. v. 10.12.1995 – 5 StR 680/94 (Abgedruckt mit Sachverhalt und Gründen in NStZ 1996, 200), NStZ 1996, 289–290. BGH, Urt. v. 21.6.1995 – 2 StR 758/949 (LG Bad Kreuznach), StV 1996, 77–79.

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BGH, Urt. v. 20.2.1997 – 4 StR 598/96 (LG Bielefeld), JZ 1997, 1019– 1020. LG Neuruppin, Beschluß v. 11.7.1997 – 14 Qs 59 Js 315/96 (155/97), JZ 1997, 1062–1064. BGH, Beschl. v. 22.8.1996 – 5 StR 240/96 (Abgedruckt mit Sachverhalt und Gründen in NStZ 1997, 200), NStZ 1997, 300–301. BGH, Beschl. v. 20.12.1995 – 5 StR 445/96 (LG Frankfurt/Oder), StV 1997, 57–59. BGH, Urteil v. 11.11.1998 – 3 StR 181/98 (LG Krefeld), JZ 1999, 526–528. BGH, Beschl. vom 5.8.1998 – 5 Ars (VS) 2/98, NStZ 1999, 151–152. Urteil des BGH v. 23.9.1999 – 4 StR 189/99 (BGHSt. 45, 203), JR 2000, 341–342. BGH, Urteil v. 25.7.2000 – 1 StR 169/00 (LG Ravensburg), JZ 2001, 363– 364. BGH, Urt. v. 8.8.2001 – 2 StR 504/00 (LG Darmstadt), NStZ 2002, 272– 273. Beschl. des BGH v. 3.12.2003 – 5 StR 249/03, JR 2004, 211–212. Urteil des BGH v. 24. April 2003 – 3 StR 181/02, JR 2004, 32–33. BGH 1 StR 534/05 – Beschluss vom 7. März 2006, HRRS 2006, 239–240. BGH, Beschluss v. 9.11.2005 – 1 StR 447/05 (LG Baden-Baden), JZ 2006, 474–476. BGH, Beschl. v. 12.1.2006 – 1 StR 466/05 (LG München I), StV 2006, 290–292. BGH 1 StR 349/06 – Beschluss vom 30. März 2007, HRRS 2007, 284–285. BGH, Beschl. v. 31.1.2007 – StB 18/06, NStZ 2007, 535–536.

Rezensionen Amelung, Knut, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe, Duncker & Humblot, Berlin 1976, NJW, 1977, 291. Geppert, Klaus, Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, de Gruyter, Berlin 1978, NJW, 1979, 1283.

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Rieß, Peter (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Großkommentar zur Strafprozeßordnung, Bearbeiter: Walter Gollwitzer, Verlag Walter de Gruyter, Berlin, 3. Lieferung, §§ 213–225a (1985), 5. Lieferung, §§ 226–243 (1985), 7. Lieferung, §§ 244–248 (1985), 11. Lieferung, §§ 267–196 (1986), 16. Lieferung, §§ 249–266 (1987), StV 1989, 180–181. Gomolla, Monika, Der Schutz des Zeugen im Strafprozeß, Frankfurt a. M., Peter Lang 1986, ZStW 1991, 209–211. Werner, Karin, Der Einfluß des Verletzten auf Verfahrenseinstellungen der Staatsanwaltschaft. Eine rechtsdogmatische und rechtstatsächliche Untersuchung über Beschwerdemöglichkeiten des Verletzten gegen staatsanwaltliche Verfahrenseinstellungen, München, Wilhelm Fink 1986, ZStW 1991, 211–216. Jäger, Christian, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozeß, C. H. Beck, München 2003, StV 2005, 467–469. Eisenberg, Ulrich, Beweisrecht der StPO. Spezialkommentar, 5. Auflage, München, C. H. Beck 2006, JZ 2007, 298.

Herausgeberschaft Beiträge zur Strafrechtsdogmatik. Allgemeiner Teil., Verlag Ernst und Werner Gieseking, Bielefeld 1987, Autor: Jürgen Baumann, (zusammen mit Gunther Arzt, Ulrich Weber, Ellen Schlüchter und Dieter Rössner).

Autorenverzeichnis STEPHAN BARTON, Dr., Professor an der Universität Bielefeld WERNER BEULKE, Dr., Professor an der Universität Passau FRIEDRICH DENCKER, Dr., em. Professor an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster ULRICH EISENBERG, Dr., Professor an der Freien Universität Berlin WOLFGANG FRISCH, Dr., Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg HELMUT FRISTER, Dr., Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf KARL HEINZ GÖSSEL, Dr., em. Professor an der Universität Erlangen, Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht a.D., München RAINER HAMM, Dr., Honorarprofessor an der Johann-Wolfgang-GoetheUniversität in Frankfurt am Main, Rechtsanwalt HANS HILGER, Dr., Ministerialdirektor a.D., Bad Honnef MATTHIAS JAHN, Dr., Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Richter am Oberlandesgericht Nürnberg RAINER KELLER, Dr., Professor an der Universität Hamburg DIETHELM KLESCZEWSKI, Dr., Professor an der Universität Leipzig HANS KUDLICH, Dr., Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg KLAUS LÜDERSSEN, Dr., em. Professor an der Johann-Wolfgang-GoetheUniversität in Frankfurt am Main LUTZ MEYER-GOSSNER, Dr., Vors. Richter am Bundesgerichtshof a.D., Honorarprofessor an der Universität Marburg EGON MÜLLER, Dr., Rechtsanwalt, Justizrat, Honorarprofessor an der Universität des Saarlandes

Autorenverzeichnis

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HANS-ULLRICH PAEFFGEN, Dr., Professor an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn RAINER PAULUS, Dr., apl. Professor an der Julius-Maximilans-Universität Würzburg, Richter am AG a.D. PETER RIESS, Dr., Ministerialdirektor a.D., Honorarprofessor an der Universität Göttingen KLAUS ROGALL, Dr., Professor an der Freien Universität Berlin HINRICH RÜPING, Dr., em. Professor an der Universität Hannover REINHOLD SCHLOTHAUER, Dr., Honorarprofessor an der Universität Bremen, Rechtsanwalt FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER, Dr. Dr. h.c., em. Professor an der Universität Regensburg BERND SCHÜNEMANN, Dr. Dres. h.c., Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München CHRISTOPH SOWADA, Dr., Professor an der Universität Rostock PETRA VELTEN, Dr., Professorin an der Universität Linz KLAUS-ULRICH VENTZKE, Rechtsanwalt, Hamburg EDDA WESSLAU, Dr., Professorin an der Universität Bremen WOLFGANG WOHLERS, Dr., Professor an der Universität Zürich