Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin: Geschichte, Gegenwart und Zukunft 9783899496307, 9783899496291

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Inhalt
I. Teil: Geschichte der Fakultät
Die Geschichte der Juristischen Fakultät zwischen 1810 und 1945
Wilhelm von Humboldt (1767–1835)
Friedrich Carl von Savigny (1779–1861)
August Wilhelm Heffter (1796–1880)
Friedrich Julius Stahl (1802–1861)
Georg Friedrich Puchta (1798–1846)
Rudolf von Gneist (1816–1895)
Albert Berner (1818–1907)
Theodor Mommsen (1817–1903)
Heinrich Brunner (1840–1915)
Levin Goldschmidt (1829–1897)
Otto von Gierke (1841–1921)
Josef Kohler (1849–1919)
Wilhelm Kahl (1849–1932)
Franz von Liszt (1851–1919)
Gerhard Anschütz (1867–1948)
James Goldschmidt (1874–1940)
Heinrich Triepel (1868–1946)
Eduard Kohlrausch (1874–1948)
Arthur Nußbaum (1877–1964)
Martin Wolff (1872–1953)
Rudolf Smend (1882–1975)
Ernst Rabel (1874–1955)
Max Rheinstein (1899–1977)
Max Alsberg (1877–1933)
Fritz Schulz (1879–1957)
Hugo Preuß (1860–1925)
Carl Schmitt (1888–1985)
Hans Peters (1896–1966)
Das Öffentliche Recht an der Berliner Juristischen Fakultät 1933–1945
Die juristische Fakultät in der DDR
Die juristische Fakultät in den Jahren 1990 bis 1993
II. Teil: Gegenwart und Perspektiven der Rechtswissenschaften Grundlagen
Die Bedeutung von Wilhelm von Humboldts Sprachdenken für die Rechtswissenschaft
Rechtssoziologisches Denken an der Berliner juristischen Fakultät
Interdisziplinäre Rechtsforschung. Was uns bewegt.
Privatrechtsmethodik: ökonomische und transnationale Ansätze
Rechtsphilosophische Forschung: Reminiszenz, Bilanz und Perspektive
Das Sozialmodell des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Wandel
Zukunft des Vertragsrechts
Die Zukunft des Europäischen Verbraucherrechts und seine Bedeutung für die Weiterentwicklung des Vertrags- und Wettbewerbsrechts
Zukunft des Gesellschaftsrechts: Orientierungen für die kapitalmarktorientierte Aktiengesellschaft
Gehalt und Zukunft des Kapitalmarktrechts
Josef Kohler und die Entwicklung des modernen Insolvenzrechts
Das Recht der Alternden Gesellschaft
Zukunft des Urheberrechts und eine monistisch geprägte Urheberrechtskonzeption – Entwicklungslinien seit Josef Kohler
Erfindungsschutz und Verkehrsfreiheit in Deutschland bis zum Reichspatentgesetz 1877 – Zwei frühe Parallelen zur neueren Geschichte des Patentrechts
Strafrecht nach der Überwindung zweierUnrechtsregime in Deutschland
Die Zukunft des Völkerstrafrechts
Künftige Entwicklungen des Medienstrafrechts im Bereich des investigativen Journalismus oder: Dürfen Journalisten mehr?
Strafrecht und Rechtsphilosophie: Traditionen und Perspektiven
Die Zukunft des Staatsrechts
Perspektiven der Verfassung
Die Zukunft des Verwaltungsrechts
Contract Governance – Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft vor neuen Herausforderungen
Zukunft des Europarechts – Zwischen Revolution und Alltag
Vom Weltfrieden zur menschlichen Sicherheit? Zu Anspruch, Leistung und Zukunft des Völkerrechts
Die Zukunft der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht – praktische und methodische Überlegungen
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Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin: Geschichte, Gegenwart und Zukunft
 9783899496307, 9783899496291

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Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin Geschichte, Gegenwart und Zukunft

Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin Geschichte, Gegenwart und Zukunft herausgegeben von

Stefan Grundmann Michael Kloepfer Christoph G. Paulus Rainer Schröder Gerhard Werle

De Gruyter

ISBN 978-3-89949-629-1 e-ISBN 978-3-89949-630-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Datenkonvertierung/Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin SUSANNE AUGENHOFER SUSANNE BAER ULRICH BATTIS ALEXANDER BLANKENAGEL THEO BODEWIG GERHARD DANNEMANN ULRICH DROBNIG AXEL FLESSNER CLAUDIO FRANZIUS KLAUS JOACHIM GRIGOLEIT DIETER GRIMM BERNHARD GROßFELD STEFAN GRUNDMANN HANS-PETER HAFERKAMP MARTIN HEGER BERND HEINRICH MICHAEL HETTINGER WERNER HEUN KLAUS J. HOPT TATJANA HÖRNLE ALEXANDER IGNOR FLORIAN JEßBERGER JENS KERSTEN CHRISTIAN KIRCHNER MICHAEL KLOEPFER STEFAN KORIOTH WILFRIED KÜPER OLE LANDO JOHANNES LIEBRECHT

KLAUS MARXEN HANS MEYER CHRISTOPH MÖLLERS CHRISTOPH MÜLLER FRANCISCO MUÑOZ CONDE VOLKER NEUMANN GEORG NOLTE CHRISTOPH G. PAULUS WALTER PAULY INGOLF PERNICE JENS PETERSEN J. MICHAEL RAINER THOMAS RAISER JOACHIM RÜCKERT MARTIN JOSEF SCHERMAIER KARSTEN SCHMIDT CHRISTOPH SCHÖNBERGER RAINER SCHRÖDER FOLKE SCHUPPERT EBERHARD SCHWARK HANS-PETER SCHWINTOWSKI REINHARD SINGER JAN THIESSEN CHRISTIAN TOMUSCHAT THOMAS VORMBAUM ARTUR-AXEL WANDTKE GERHARD WERLE ROSEMARIE WILL CHRISTINE WINDBICHLER

Vorwort

VII

Vorwort Vorwort

Vorwort Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin feiert im Jahre 2010 ihr 200-jähriges Bestehen. Als Teil der als „Alma Mater Berolinensis“ gegründeten Universität wurde die Fakultät fast über Nacht zu einer und bald der führenden Juristischen Fakultät im deutschen Sprachraum, nicht zuletzt ein Verdienst Friedrich Carl von Savignys. Zunächst im Machtzentrum Preußens, später in der Mitte der Hauptstadt des Deutschen Reiches gelegen, erlebte und beeinflusste die Fakultät die Entstehung zweier Verfassungen, von Strafgesetzbuch, Handelsgesetzbuch und Bürgerlichem Gesetzbuch sowie der ersten Sozialgesetze. Damit einher ging eine bemerkenswerte internationale Öffnung, und mit den Kaiser-Wilhelm-Instituten kam es zur Gründung herausragender Forschungsinstitute, der heutigen Max-Planck-Institute. So strahlend die Zeit bis 1933, so dunkel die folgenden Jahrzehnte. Eine zentrale Bildungs- und Forschungseinrichtung war die Fakultät auch unter zwei Unrechtsregimen. Nach 1989 erfolgte die Neugründung im wiedervereinigten Deutschland. Aus der Friedrichs-Wilhelm-Universität wurde über diese zwei Jahrhunderte die Berliner Universität und schließlich 1947/49 die Humboldt-Universität. Heute ist die Fakultät alt und jung zugleich, sie blickt auf eine glorreiche Vergangenheit ebenso zurück wie auf beinahe 60 Jahre problembehafteter Geschichte. Geschichte und der Schritt von der Gegenwart in die Zukunft – diese beiden Motive bilden die Eckpunkte der Festschrift. Die Geschichte der Fakultät ist Gemeingut. Das alte Erbe, insbesondere das Erbe aus der Zeit bis 1933, ist nämlich keines allein einer Fakultät. Daher luden wir für die wissenschaftlichen Biographien der herausragenden Rechtslehrer in der Geschichte der Fakultät Autoren aus dem gesamten deutschen Sprachraum ein und vor allem für die große internationalrechtliche Dimension auch darüber hinaus. Der Zeit seit 1933 wurden – neben einzelnen wenigen Einzelprofilen, die noch in diese Zeit hineinragen und die sich auch aus wissenschaftlicher Sicht rechtfertigten – drei gesonderte Abschnitte – namentlich zu den Zeiträumen 1933–45, 1946–90 und 1990–93 – gewidmet. Der Gesamtabriss behandelt die großen Linien, vor allem jedoch die Zeit bis 1933. Die Fakultät selbst richtet den Blick aus der Gegenwart in die Zukunft der Rechtswissenschaften. Im zweiten Teil der Festschrift widmen sich die Beiträge daher den Perspektiven der Grundlagenfächer, des Zivilrechts, des öffentlichen Rechts und des Strafrechts. Freilich kann ein Blick in die Zu-

VIII

Vorwort

kunft nicht mehr sein als eine Projektion der wegweisenden Linien der Gegenwart. Er bleibt ein Fragment, das so auch die Lücken in der Ausstattung mit Professuren widerspiegelt, die durch jahrelange Sparzwänge für die Fakultät entstanden sind. Für dieses Werk ist vielen Dank zu sagen. An erster Stelle den Autoren, vor allem den auswärtigen, die ein reiches Panorama ausgebreitet haben, zugleich jedoch Zusammenstellung und Redaktion zu einer leichten Aufgabe haben werden lassen. Die Struktur der Festschrift mit geprägt hat Klaus Marxen, der nach seiner Emeritierung auf eigenen Wunsch aus dem Herausgeberkreis ausschied. Gedankt sei sodann dem Verleger, der das Werk schön ausgestattet, den Entstehungsprozess umsichtig und maßvoll begleitet und das ganze Risiko übernommen hat. Wir freuen uns, dass wir den großen alten Berliner Verlag, selbst älter als unsere Fakultät, dafür gewinnen konnten, insbesondere in der Person von Herrn Dr. Michael Schremmer. Dank sei nicht zuletzt denjenigen, die die eigentliche Drucklegung begleitet haben: Frau Angela Huhn, die die Koordination übernommen hat, und Frau Corinna Jahns, die die Redaktion mit großer Akribie besorgt hat. Ihnen allen sei herzlich Dank. Die vier zuletzt Unterzeichnenden danken zugleich dem Kollegen Grundmann, der die Initiative ergriffen und die Gesamtredaktion übernommen hat. Berlin, Februar 2010

Stefan Grundmann/Michael Kloepfer/ Christoph Paulus/Rainer Schröder/ Gerhard Werle

IX

Inhalt Inhalt Inhalt

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV

I. Teil: Geschichte der Fakultät RAINER SCHRÖDER Die Geschichte der Juristischen Fakultät zwischen 1810 und 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

in Berlin ernannt JENS PETERSEN Wilhelm von Humboldt (1767–1835) Die rechts- und staatsphilosophischen Ideen Wilhelm von Humboldts als Grundlage seiner Bildungsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1810 . . . . . . . 115

JOACHIM RÜCKERT Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) Friedrich Carl von Savigny – ein Frankfurter in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1810 . . . . . . . 133

WILFRIED KÜPER August Wilhelm Heffter (1796–1880) Ein preußischer Kriminalist und Universaljurist im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1833 . . . . . . . 179

JENS KERSTEN Friedrich Julius Stahl (1802–1861) . . . . . . . . . .

1840 . . . . . . . 205

HANS-PETER HAFERKAMP Georg Friedrich Puchta (1798–1846) . . . . . . . . .

1842 . . . . . . . 229

CHRISTOPH SCHÖNBERGER Rudolf von Gneist (1816–1895) Die altenglische Selbstverwaltung als Vorbild für den preußischen Rechtsstaat . . . . . . . . . . . .

1844 . . . . . . . 241

X

Inhalt

FLORIAN JEßBERGER Albert Berner (1818–1907) Der „dreifache“ Berner – Skizze zu Albert Friedrich Berner als Strafrechtstheoretiker, Kriminalpolitiker und Strafrechtslehrer . . . . . . .

1848 . . . . . . . 261

J. MICHAEL RAINER Theodor Mommsen (1817–1903) . . . . . . . . . . .

1861 . . . . . . . 277

JOHANNES LIEBRECHT Heinrich Brunner (1840–1915) . . . . . . . . . . . . .

1872 . . . . . . . 305

KARSTEN SCHMIDT Levin Goldschmidt (1829–1897) Levin Goldschmidt in Berlin – Eine Skizze über die Berliner Universitätsjahre 1875–1897 . . .

1875 . . . . . . . 327

JAN THIESSEN Otto von Gierke (1841–1921) Rechtsgeschichte, Privatrecht und Genossenschaft in Briefen und Postkarten . . . . .

1887 . . . . . . . 343

BERNHARD GROßFELD Josef Kohler (1849–1919) . . . . . . . . . . . . . . . .

1888 . . . . . . . 375

MICHAEL HETTINGER Wilhelm Kahl (1849–1932) „. . . der Strafrechtsreform eigentliche Seele . . .“ . .

1895 . . . . . . . 405

FRANCISCO MUÑOZ CONDE Franz von Liszt (1851–1919) Franz von Liszt als Strafrechtsdogmatiker und Kriminalpolitiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1898 . . . . . . . 439

WERNER HEUN Gerhard Anschütz (1867–1948) Vom liberalen Konstitutionalismus zur demokratischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . .

1908 . . . . . . . 455

MARTIN HEGER James Goldschmidt (1874–1940) . . . . . . . . . . .

1908 . . . . . . . 477

Inhalt

XI

CHRISTIAN TOMUSCHAT Heinrich Triepel (1868–1946) . . . . . . . . . . . . .

1913 . . . . . . . 497

THOMAS VORMBAUM Eduard Kohlrausch (1874–1948) Opportunismus oder Kontinuität? . . . . . . . . . .

1919 . . . . . . . 523

KLAUS J. HOPT Arthur Nußbaum (1877–1964) . . . . . . . . . . . .

1920 . . . . . . . 545

GERHARD DANNEMANN Martin Wolff (1872–1953) . . . . . . . . . . . . . . .

1921 . . . . . . . 561

STEFAN KORIOTH Rudolf Smend (1882–1975) . . . . . . . . . . . . . . .

1922 . . . . . . . 583

OLE LANDO Ernst Rabel (1874–1955) . . . . . . . . . . . . . . . .

1926 . . . . . . . 605

ULRICH DROBNIG Max Rheinstein (1899–1977) . . . . . . . . . . . . . .

1926 . . . . . . . 627

CLAUDIO FRANZIUS Hermann Heller (1891–1933) Hermann Heller: Einstehen für den Staat von Weimar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1928 . . . . . . . 637

ALEXANDER IGNOR Max Alsberg (1877–1933) „Unter den wissenschaftlich arbeitenden strafrechtlichen Praktikern weitaus an erster Stelle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1931 . . . . . . . 655

MARTIN JOSEF SCHERMAIER Fritz Schulz (1879–1957) Fritz Schulz’ Prinzipien – Das Ende einer deutschen Universitätslaufbahn im Berlin der Dreißigerjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1931 . . . . . . . 683

CHRISTOPH MÜLLER Hugo Preuß (1860–1925) Privat-Dozent Dr. Hugo Preuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701

XII

Inhalt

VOLKER NEUMANN Carl Schmitt (1888–1985) Theoretiker staatlicher Dezision: Carl Schmitt . .

1933 . . . . . . . 733

KLAUS JOACHIM GRIGOLEIT Hans Peters (1896–1966) . . . . . . . . . . . . . . . .

1946 . . . . . . . 755

WALTER PAULY Das Öffentliche Recht an der Berliner Juristischen Fakultät 1933–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 ROSEMARIE WILL Die Juristische Fakultät in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797 HANS MEYER Die juristische Fakultät in den Jahren 1990 bis 1993 – Erinnerungen nach Aktenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849

II. Teil: Gegenwart und Perspektiven der Rechtswissenschaften Grundlagen AXEL FLESSNER Die Bedeutung von Wilhelm von Humboldts Sprachdenken für die Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 THOMAS RAISER Rechtssoziologisches Denken an der Berliner juristischen Fakultät . 899 SUSANNE BAER Interdisziplinäre Rechtsforschung. Was uns bewegt. . . . . . . . . . . . 917 CHRISTIAN KIRCHNER Privatrechtsmethodik: ökonomische und transnationale Ansätze . . . 937 CHRISTOPH MÖLLERS Rechtsphilosophische Forschung: Reminiszenz, Bilanz und Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 959

Inhalt

XIII

Zivilrecht REINHARD SINGER Das Sozialmodell des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Wandel . . . . . 0981 STEFAN GRUNDMANN Zukunft des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015 SUSANNE AUGENHOFER Die Zukunft des Europäischen Verbraucherrechts und seine Bedeutung für die Weiterentwicklung des Vertrags- und Wettbewerbsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1051 CHRISTINE WINDBICHLER Zukunft des Gesellschaftsrechts: Orientierungen für die kapitalmarktorientierte Aktiengesellschaft . . 1079 EBERHARD SCHWARK Gehalt und Zukunft des Kapitalmarktrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 1099 CHRISTOPH G. PAULUS Joseph Kohler und die Entwicklung des modernen Insolvenzrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1131 HANS-PETER SCHWINTOWSKI Das Recht der Alternden Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1149 ARTUR-AXEL WANDTKE Zukunft des Urheberrechts und eine monistisch geprägte Urheberrechtskonzeption – Entwicklungslinien seit Joseph Kohler . 1173 THEO BODEWIG Erfindungsschutz und Verkehrsfreiheit in Deutschland bis zum Reichspatentgesetz 1877 – Zwei frühe Parallelen zur neueren Geschichte des Patentrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185

Strafrecht KLAUS MARXEN Strafrecht nach der Überwindung zweier Unrechtsregime in Deutschland – Ein Plädoyer für eine zeithistorische Rechtsschule im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1201

XIV

Inhalt

GERHARD WERLE Die Zukunft des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1219 BERND HEINRICH Künftige Entwicklungen des Medienstrafrechts im Bereich des investigativen Journalismus oder: Dürfen Journalisten mehr? . . 1241 TATJANA HÖRNLE Strafrecht und Rechtsphilosophie: Traditionen und Perspektiven . . 1265

Öffentliches Recht DIETER GRIMM Die Zukunft des Staatsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1283 MICHAEL KLOEPFER Perspektiven der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1299 ULRICH BATTIS Die Zukunft des Verwaltungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1315 FOLKE SCHUPPERT Contract Governance – Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft vor neuen Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . 1333 INGOLF PERNICE Zukunft des Europarechts – Zwischen Revolution und Alltag . . . . . 1361 GEORG NOLTE Vom Weltfrieden zur menschlichen Sicherheit? Zu Anspruch, Leistung und Zukunft des Völkerrechts . . . . . . . . . 1377 ALEXANDER BLANKENAGEL Die Zukunft der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht – praktische und methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . 1401

Autorenverzeichnis

XV

Autorenverzeichnis Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis SUSANNE AUGENHOFER, Dr., LL. M. (Yale), LL. M. (FU Berlin), (Junior-) Professorin für Bürgerliches Recht und Europäisches Privatrecht mit besonderer Berücksichtigung des Verbraucher- und Wettbewerbsrechts an der Humboldt-Universität zu Berlin SUSANNE BAER, Dr. LL. M., Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt Universität zu Berlin ULRICH BATTIS, Dr., Dr. h. c., Professor für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Verwaltungswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin ALEXANDER BLANKENAGEL, Dr., Professor für Öffentliches Recht, Russisches Recht und Rechtsvergleichung an der Humboldt-Universität zu Berlin THEO BODEWIG, Dr., Professor für Bürgerliches Recht, Immaterialgüterrecht, insbesondere Patenrecht, Wirtschaftsrecht und Rechtsvergleichung an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin (Stiftungslehrstuhl der GRUR) GERHARD DANNEMANN, Dr., M. A. (Oxon), Professor am GroßbritannienZentrum, Chair for British Legal, Economic and Social Structures, an der Humboldt-Universität zu Berlin ULRICH DROBNIG, Dr., Dr. h. c. mult., em. Wissenschaftliches Mitglied und Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht AXEL FLESSNER, Dr., Professor im Ruhestand, ehem. Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Humboldt-Universität zu Berlin, Sprecher des Graduiertenkollegs »Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht« CLAUDIO FRANZIUS, Dr., Priv.-Doz. an der Humboldt-Universität zu Berlin

XVI

Autorenverzeichnis

KLAUS JOACHIM GRIGOLEIT, Dr., Privatdozent an der HumboldtUnversität zu Berlin DIETER GRIMM, Dr., Dr. hc. mult., LL. M. (Harvard), em. Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin, Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D., Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin a. D. BERNHARD GROßFELD, Dr., LL. M. (Yale), em. Professor für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster STEFAN GRUNDMANN, Dr. iur., Dr. phil., LL. M. (Berkeley), Professor für Bürgerliches Recht, Deutsches-, Europäisches- und Internationales Privat- und Wirtschaftsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin HANS-PETER HAFERKAMP, Dr., Professor für Bürgerliches Recht, Neuere Privatrechtsgeschichte und Deutsche Rechtsgeschichte an der Universität zu Köln MARTIN HEGER, Dr., Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, europäisches Strafrecht und neuere Rechtsgeschichte an der HumboldtUniversität zu Berlin BERND HEINRICH, Dr., Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Urheberrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, Dekan der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin MICHAEL HETTINGER, Dr., Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsgeschichte an der Johannes Gutenberg Universität Mainz WERNER HEUN, Dr., Dr. h. c., Professor für Allgemeine Staatslehre und Politische Wissenschaften der Georg-August-Universität Göttingen KLAUS J. HOPT, Prof. Dr. jur., Dr. phil., Dr. iur. h. c. mult., MCJ (NYU), ehem. Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg TATJANA HÖRNLE, Dr., Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an der Humboldt-Universität zu Berlin

Autorenverzeichnis

XVII

ALEXANDER IGNOR, Dr. iur., Dr. phil., Rechtsanwalt, (außerplanmäßiger) Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin FLORIAN JEßBERGER, Dr., Professor für Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung an der Humboldt-Universität zu Berlin JENS KERSTEN, Dr. Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München CHRISTIAN KIRCHNER, Dr. iur., Dr. rer. pol., Dr. h. c., LL. M. (Harvard), Professor für deutsches, europäisches und internationales Zivil- und Wirtschaftsrecht und Institutionenökonomik an der HumboldtUniversität zu Berlin MICHAEL KLOEPFER, Dr., Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht, Umweltrecht, Finanz- und Wirtschaftsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin STEFAN KORIOTH, Dr., Professor für Öffentliches Recht und Kirchenrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München WILFRIED KÜPER, Dr., em. Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg OLE LANDO, Dr., Dr. h. c. mult., em. Professor, Copenhagen Business School, President of the Commission on European Contract Law JOHANNES LIEBRECHT, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-PlankInstitut für ausländisches und internationales Privatrecht KLAUS MARXEN, Dr., Professor im Ruhestand, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Richter am Kammergericht a. D. HANS MEYER, Dr., Dr. h. c., em Professor für Staats-, Verwaltungs- und Finanzrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin CHRISTOPH MÖLLERS, Dr., Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin CHRISTOPH MÜLLER, Dr. iur., em. Professor für Staatsrecht und Politik an der Freien Universität Berlin

XVIII

Autorenverzeichnis

FRANCISCO MUÑOZ CONDE, Dr., Dr. h. c., Professor, Universidad Pablo de Olavide, Sevilla VOLKER NEUMANN, Dr., Professor für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Staatstheorie an der Humboldt-Universität zu Berlin GEORG NOLTE, Dr., Professor für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin CHRISTOPH G. PAULUS, Dr., LL. M. (Berkeley), Professor für Bürgerliches Recht, Zivilprozess- und Insolvenzrecht sowie Römisches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin WALTER PAULY, Dr., Professor für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie an der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena INGOLF PERNICE, Dr. iur., Dr. h. c. Professor für öffentliches Recht, Völker- und Europarecht der Humboldt-Universität zu Berlin, gf. Direktor des Walter Hallstein Instituts für Europäisches Verfassungsrecht der Humboldt-Universität zu Berlin (WHI) JENS PETERSEN, Dr., Professor für Bürgerliches Recht, Deutsches und Internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Potsdam J. MICHAEL RAINER, DDr., DDr. h. c., o. Universitätsprofessor am Fachbereich Privatrecht der Universität Salzburg THOMAS RAISER, Dr., em. Professor für Deutsches und Europäisches Unternehmens- und Wirtschaftsrecht, Rechtssoziologie und Bürgerliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin JOACHIM RÜCKERT, Dr., Professor für Neuere Rechtsgeschichte, Juristische Zeitgeschichte, Zivilrecht und Rechtsphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main MARTIN JOSEF SCHERMAIER, Dr. Universitätsprofessor, geschäftsführender Direktor des Instituts für Römisches Recht und vergleichende Rechtsgeschichte an der Universität Bonn KARSTEN SCHMIDT, Dr. Dres. h. c., Professor für Unternehmensrecht an der Bucerius Law School Hamburg

Autorenverzeichnis

XIX

CHRISTOPH SCHÖNBERGER, Dr., Professor für Öffentliches Recht, Europarecht, Vergleichende Staatslehre und Verfassungsgeschichte an der Universität Konstanz RAINER SCHRÖDER, Dr., Professor für Bürgerliches Recht, privates Bauund Immobilienrecht sowie Neuere und Neueste Rechtsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin FOLKE SCHUPPERT, Dr., Professor für Staats- und Verwaltungswissenschaft, insbesondere Staats- und Verwaltungsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, Forschungsprofessur „Neue Formen von Governance“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) EBERHARD SCHWARK, Dr., em. Professor für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Handels- und Wirtschaftsrecht an der HumboldtUniversität zu Berlin HANS-PETER SCHWINTOWSKI, Dr., Professor für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin REINHARD SINGER, Dr., Professor für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht, Anwaltsrecht, Familienrecht und Rechtssoziologie an der HumboldtUniversität zu Berlin JAN THIESSEN, Dr., Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin CHRISTIAN TOMUSCHAT, Dr., Dr. h. c., em. Professor für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin THOMAS VORMBAUM, Dr. iur., Dr. phil., Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Juristische Zeitgeschichte an der Fernuniversität in Hagen ARTUR-AXEL WANDTKE, Dr., Professor für Bürgerliches Recht, gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin GERHARD WERLE, Dr., Professor für deutsches und internationales Strafrecht, Strafprozessrecht und Juristische Zeitgeschichte an der HumboldtUniversität zu Berlin

XX

Autorenverzeichnis

ROSEMARIE WILL, Dr., Professorin für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin CHRISTINE WINDBICHLER, Dr., LL. M. (Berkeley), Professorin für Handels- und Wirtschaftsrecht, Arbeitsrecht und Rechtsvergleichung an der Humboldt-Universität zu Berlin

Die Geschichte der Juristischen Fakultät Die Geschichte der Juristischen Fakultät Rainer Schröder

I. Teil: Geschichte der Fakultät

1

2

Rainer Schröder

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Die Geschichte der Juristischen Fakultät

Die Geschichte der Juristischen Fakultät zwischen 1810 und 1945 RAINER SCHRÖDER1 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Was ist Fakultätsgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Was dieser Einleitungsaufsatz nicht bieten kann und will b) Was dieser Artikel bieten wird, sind Überblicke, Tendenzen, um Einordnungen zu ermöglichen . . . . . . c) Lehr- und Prüfungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zahl der Studenten, Professoren, Lehrbeauftragten . . . e) Fakultät und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Wissenschaft in Zeiten der Diktaturen . . . . . . . . . . . 2. Wissenschaftsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Was ist das wissenschaftliche Verdienst einer Fakultät? . b) Berufsausbildung, Praxis vs. Wissenschaft . . . . . . . . . c) Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Überschneidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Ursuppe der Fakultät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Savigny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gehälter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Nach der Etablierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kämpfe und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Promovieren an der Fakultät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Examen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Promotionsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Doktorarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Habilitationen an der Fakultät . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtliche Voraussetzung der Habilitationen . . . . . . . b) Nostrifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Liste aller Habilitierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Unter Mitarbeit von Angela Klopsch, Kristin Kleibert, Julius Everling, Cornelia Hähnel und Louisa-Catharina Muschik. Der Lehrstuhl hat aus Anlass des Jubiläums mehrere Seminare veranstaltet, ein Teil der Informationen wurde hier verwertet. Einige Studenten werden bei dem Folgeprojekt mitarbeiten: Schröder/Kleibert/Klopsch (Hrsg.) Die Berliner Juristische Fakultät und ihre Wissenschaftsgeschichte 1810–1990, im Erscheinen. Die Personen sind an den entsprechenden Stellen genannt.

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d) Wissenschaft als Promotions- und Habilitationsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Staatstreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Skurriles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fakultät als Spruchkollegium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Praktische Wende: Folgen für Wissenschaft und Lehre . . . a) Die 1850er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Beispiel Beseler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Beispiel Gneist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die 1870er Jahre: Beharren und Wandel . . . . . . . . . . . 7. Die Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Von der Rechtsgeschichte zum BGB . . . . . . . . . . . . . b) Strafrecht: Vom Vergeltungsdenken zum Zweck im Strafrecht bis zur Strafrechtsreform . . . . . . . . . . . . . c) Öffentliches Recht, Staatsrecht und Verwaltungsrecht . d) Die deutschen Mandarine und das Arbeitsrecht . . . . . . e) Der Deutsche Juristentag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Fakultät und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Erster Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Entstehung neuer Rechtsgebiete, Abschichtung alter Gebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Neues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sozialversicherungsrecht und Arbeitsrecht, Arbeiterrecht, Gewerberecht, Gesinderecht . . . . . . . . . . . . . . b) Wirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gewerblicher Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung . . . e) Rechtsprechung vs. Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hinweg mit Altem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtstatsachenforschung als Surrogat für Rechtsgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Weimar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Studenten und Karrierebedingungen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neue Probleme, alte Preisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das öffentliche Recht, besonders das Staatsrecht . . . . . . . 4. Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Drittes Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ideologie und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entlassene Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums c) Widerstand an der Fakultät . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammensetzung der Fakultät . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Zivilrechtler der Fakultät im Dritten Reich . . . . . . a) Ernst Heymann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Justus Wilhelm Hedemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verrat an der Rechtsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Dissertationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung 1. Was ist Fakultätsgeschichte? Ist sie die Geschichte der Institution und ihres Verhältnisses zu Staat und Gesellschaft? Die Geschichte der Professoren und Lehrstühle sowie der Studenten? Wie schreibt man eine solche Geschichte? Im Kontext wissenschaftlicher Entwicklungen, als Darstellung der Lebenswelt von Studenten und Lehrenden? Was treibt die Professoren einer Juristischen Fakultät dazu, die Geschichte ihrer Fakultät zu schreiben? Selbstvergewisserung, Teilnahme am rechtshistorischen Diskurs, Selbsterhöhung? Jeder Professor will gern Teil eines großen und bedeutenden Ganzen sein. Also stellt man sich in Berlin auf die Schultern des ‚Übervaters der deutschen Rechtswissenschaft‘. Zu der späteren Selbsteinschätzung/Selbsterhöhung tragen Äußerungen in jubiläumsbezogenen Fakultätsgeschichten bei. Smend meinte: „Von ihr sprach man gelegentlich als von der ‚großen Fakultät‘, (. . .)“.2 Vom Bruch konstatiert, ein Ruf nach Berlin habe „in der Regel den krönenden Höhepunkt“ einer jeden „akademischen Karriere gebildet.“3 Immer, wenn man aus Nekrologen, Geburtstags- und sonstigen Laudationes wie Festschriften zitiert, müsste man eigentlich diese Stilgattung einer separaten Würdigung unterziehen, auch die Darstellung von Smend von 2 Smend Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert (1960), in: ders. Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2., erweiterte Auflage, 1968, 527–546, 545. 3 vom Bruch Historiker und Nationalökonomen im Wilhelminischen Deutschland, in: Schwabe (Hrsg.) Deutsche Hochschullehrer als Elite, 1988, 105–150, 147.

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1960, die Heymanns Abhandlung von 1910 in Vielem fortsetzt.4 Die Wissenschaftswelt ist voller intrinsischer Motivation, aber auch von Narzissmus geprägt. Lob, Anerkennung und Beachtung ist die Münze, welche die beteiligten Wissenschaftler dafür zahlen, selbst beachtet, gelobt, geschätzt zu werden. Stark, nicht selten zu stark, ist das Lob. Der berechtigte Wunsch, verdiente Mitstreiter zu ehren, geht seit jeher mit der Versuchung einher, die Fakultät ‚hochzuschreiben‘: „Jeder von uns weiß, daß Sie auf allen Gebieten als Romanist, Kanonist und Feudist tiefer hinabgestiegen sind in die Quellenschächte als irgendeiner der jetzt Lebenden.“5 heißt es 1912 über Seckel, den allenfalls (noch) Spezialisten kennen. Dass gerade in Wilhelminischer Zeit ein entsprechender Sprachstil dominierte, macht es nicht leichter, stilistische Arabesken und realen Kern in früheren Laudationes zu trennen. Die Fortsetzung dieses Stils in Juristennekrologen und Festschriften6 dient nicht nur dazu, die Vorgänger zu ehren, sondern sich auch – sicher unbewusst – durch das Lob der Vorgänger zu erhöhen. Es ist wie ein Pfeifen im Walde, denn auch unsere Beiträge zur Rechtswissenschaft, wenn sie denn solche sind, werden mit Wahrscheinlichkeit dem Vergessen überantwortet. Die ‚drei berichtigenden Worte‘ schweben über den meisten unserer Publikationen zum geltenden Recht. a) Was dieser Einleitungsaufsatz nicht bieten kann und will Biographien von Personen, denn diese finden sich in den Einzelbeiträgen dieser Festschrift und in deren Vorgängerschriften. Nicht wenige Mitglieder der Fakultät wurden in wuchtigen Monographien gewürdigt7 und zu einigen Zeitabschnitten gibt es tiefgehende Untersuchungen.8 In diesem Einleitungsaufsatz die ‚weniger wichtigen‘ Professoren und ihr Werk zu beschreiben, wäre weder für diese noch für die Festschrift angemessen. 4

Heymann Hundert Jahre Berliner Juristenfakultät, DJZ 1910, Sp. 1103–1194. Sitzungs-Berichte der Berliner Akademie der Wissenschaften 1912 II 606, zit. nach Smend (Fn. 2), 530. 6 Unnachahmlich, amüsant und doch wahr hierzu: Treiber Juristische Lebensläufe. „Vergangenheit nach Maß und von der Stange“. Image und Imagepflege von Juristen in Laudationes und Nekrologen, Kritische Justiz 1 (1979) 22–44. 7 Hansen Martin Wolff (1872–1953). Ordnung und Klarheit als Lebensprinzip (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Band 60), 2008; Kraus Theodor Anton Heinrich Schmalz (1760–1831). Jurisprudenz, Universitätspolitik und Publizistik im Spannungsfeld von Revolution und Restauration (Ius Commune Sonderheft 124), 1999. 8 Klopsch Die Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität im Umbruch von Weimar (Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Band 44), 2009; von Lösch Der nackte Geist. Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933 (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Band 26), 1999; Kleibert Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin im Umbruch – Die Jahre 1948 bis 1951, Dissertation Berlin – im Erscheinen. 5

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Vollständigkeit kann nicht ansatzweise erreicht werden, denn die Geschichte der Fakultät spiegelt die Geschichte der Rechtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Die Geschichte der Wissenschaftler an der Berliner Fakultät müsste zudem immer ins Verhältnis gesetzt werden zur allgemeinen Geschichte der Rechtswissenschaft, um dann herauszufinden: Was war das Besondere, das die Fakultät vor anderen auszeichnete? In wissenschaftlicher Hinsicht natürlich schwer zu bestimmen, außer bei denen, die extrem deutlich herausragen wie Savigny und Liszt und . . .9 b) Was dieser Artikel bieten wird, sind Überblicke, Tendenzen, um Einordnungen zu ermöglichen Die notwendige Verkürzung zwingt zu pauschalen Einordnungen. Das ist bei Gesamtüberblicken nicht anders möglich. Die Gliederung folgt der Chronologie, die ergänzt und unterbrochen wird. Statistiken und Tabellen, beginnend mit Äußerlichem: Professoren: Zahl, Schwerpunkte, Vorlesungen, Status und Gehalt. Die Professoren der Berliner Fakultät hatten z.T. exorbitante Gehälter. Es begann mit Savigny10 und kam bei Martin Wolff zu einem Höhepunkt.11 Nicht nur die Wissenschaft(ler), sondern Studenten und Lehre gehören gleichfalls zur Fakultät. Deren Lebenswelt hat freilich in den Akten weniger Spuren hinterlassen. c) Lehr- und Prüfungsgeschichte Also muss etwas gesagt werden zur Lehr- und Prüfungsgeschichte des Rechts – also Ausbildungsgeschichte. Was wurde an der Fakultät unterrichtet, was stand im Zentrum, wie betrachtete man Repetitoren, wer hielt die zentralen Vorlesungen, welche mehr oder minder beachtlichen Nebenvorlesungen wurden gehalten? Was wurde geprüft, welche Ziele der Ausbildung verfolgt?12 Der durchschnittliche Student lernt damals wie heute nur das, was geprüft wird. Er geht auch nur in die Veranstaltungen, in denen Prüfungen abgenommen werden und die examensrelevant sind. Intrinsisch motivierte Stu9 Schröder Das Zivilrecht an der Juristischen Fakultät im Zeitraum 1850 bis 1945, in: vom Bruch/Tenorth (Hrsg.) Die Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Biographie einer Institution, Praxis ihrer Disziplinen, Band 5 – im Erscheinen; ders. Rechtswissenschaft, Rechtsstudium, Rechtspraxis, in: Tenorth (Hrsg.) ebenda, Band 4, 123–147. 10 Kraus (Fn. 7), 177; siehe dazu unten unter II 2. 11 Für die Bonner Zeit vgl. Hansen (Fn. 7), 45; für die Berliner Zeit vgl. Klopsch (Fn. 8), 167 f.; hierzu als Vergleich die Tabellen bei: Schröder Die Richterschaft am Ende des zweiten Kaiserreiches, in: Buschmann/Knemeyer/Otte/Schubert (Hrsg.) FS Gmür 1983, 201– 253, 240 ff. 12 Wesentliche Informationen darüber bei: Ebert Die Normierung der juristischen Staatsexamina und des juristischen Vorbereitungsdienstes in Preußen (1849–1934), 1995.

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dierende, solche die in der Rechtswissenschaft nach Wahrheit und Erkenntnis streben, gab es zu allen Zeiten, aber es waren nie viele. Die meisten wollten und wollen legitimerweise einen Beruf, Einkommen und Status. Es erscheint mir eine eher romantische, der Wirklichkeit des Studiums nicht (immer) gerecht werdende Vorstellung, vielleicht die Lebenslüge der Fakultäten, alle Studenten seien an der Wissenschaft interessiert. Schwierig zu ermitteln bleibt: Was wurde wirklich gelehrt, gelernt und geprüft? Wo lagen die Schwerpunkte der Vorlesungen?13 d) Zahl der Studenten, Professoren, Lehrbeauftragten Die Studentenzahlen, Examen und Examensergebnisse, Studien-, Prüfungs- und Lernbedingungen wären zunächst statistisch darzustellen. Die Gesamtstatistiken folgen in einem anderen Werk,14 weil sie den Umfang an dieser Stelle völlig sprengen würden.15 Anzahl Jura-Studierende Berlin-Preußen-Reich 25000

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e) Fakultät und Politik Wie war die Verbindung der Rechtswissenschaft zur Politik? Die Staatsnähe der Berliner Fakultät ist unübersehbar. Heißt Staatsnähe aber immer Verlust der wissenschaftlichen Unabhängigkeit im juristischen 13 Vieles Äußerliche bereits bei Kühn Die Reform des Rechtsstudiums zwischen 1848 und 1933 in Bayern und Preußen, 2000, freilich lässt er aufgrund der Quellenlage offen, was die ‚wirklichen’ Studienschwerpunkte waren. Ansätze bei Schröder Über das unpraktische Rechtsstudium – Ein nicht unpolemischer historischer Streifzug, in: Armbrüster (Hrsg.) FS Mock 2009, 263–278. 14 Dazu zukünftig: Schröder/Kleibert/Klopsch (Fn. 1). 15 Die Besetzung der Lehrstühle ergibt sich aus den Tabellen in den folgenden Kapiteln.

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Denken? Die Universität bezeichnete sich in einem viel zitierten Wort des Rektors von 1870 als „geistiges Leibregiment des Hauses Hohenzollern“16. Doch wodurch äußerte sich diese Staatsnähe? Gewiss, Savigny wurde 184217 Minister. Er bewegte sich im engen Umfeld des Kronprinzen und des Königs, doch blieb diese Intensität des Kontaktes zu den Mächtigen ein Einzelfall. Zu Recht hebt Smend18 hervor, die korporative Geschlossenheit der Fakultät sei durch den „Partner“, den Staat gegeben gewesen, dem die Fakultätsmitglieder als „Berater und Gutachter, gelegentlich auch Mitglieder seiner Zentralbehörden und höheren Gerichte“ zur Verfügung gestanden hätten.19 Auch begünstigte die Nähe zu Parlament und Ministerien die Mitarbeit und Kommentierung zu Gesetzgebungsprojekten – am augenfälligsten vielleicht bei der Strafrechtsreform.20 So war Heffter21 Kronsyndikus und Mitglied des Preußischen Herrenhauses und Gneist Zeit seines Lebens ein hochpolitischer Mensch, zudem Mitglied im Verein für Socialpolitik.22 Staatsnähe kann sich aber nicht nur in der amtlichen Mitwirkung äußern. So war die Mitwirkung von Kahl und Liszt an der Strafgesetzgebung (durch den Gegenentwurf) sicher nicht staatsnah im Sinn des Verlustes der Unabhängigkeit. Staatsnähe kann auch durch den Gegenstand der Lehre und Wissenschaft gegeben sein: Das Staatsrecht und das öffentliche Recht sind ohne gedankliche politische Bezüge nicht vorstellbar. Und mancher Professor wie Beseler und Gneist, wie Kahl23 und Liszt24 war zudem ein politischer Professor, der parlamentarisch und/oder parteipolitisch tätig war.

16 Du Bois-Reymond in seiner Rektoratsrede vom 3. August 1870 mit dem Titel „Der deutsche Krieg“, abgedruckt in: du Bois-Reymond (Hrsg.) Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden, Erster Band, 2. vervollständigte Auflage, 1912, 393–420, 418. 17 Vgl. z.B. Rückert Friedrich Carl von Savigny, the Legal Method, and the Modernity of Law, in: Juridicia international, Law Review University of Tartu, Estonia, XI/2006, 55– 67, 61. 18 Smend (Fn. 2), 528. 19 Richter, Hübler, Kahl, Hinschius im Kultusministerium, Richter und Stahl im Oberkirchenrat, Martitz im Oberverwaltungsgericht, vgl. Smend (Fn. 2); Smend und Bruns zählen gleichfalls dazu, vgl. Klopsch (Fn. 8), 302, dort Fn. 1121; ähnlich auch Gneist, Beseler, Heffter, vgl. unten unter III 8. 20 Kahl/Lilienthal/Liszt/Goldschmidt Gegenentwurf zum Vorentwurf eines deutschen Strafgesetzbuchs, Begründung, 1911; vgl. Klopsch (Fn. 8), z.B. 7, 65, 72 f. 21 Zu diesem auch unten unter III 8, vor allem Fn. 267. 22 Hahn Rudolf von Gneist 1816–1895. Ein politischer Jurist in der Bismarckzeit (Ius Commune Sonderheft 74), 1995, z.B. 10 ff. 23 Burghard Prof. Dr. Wilhelm Kahl – Leben zwischen Wissenschaft und Politik (Rechtshistorische Reihe, Band 320), 2005, passim. 24 Tätigkeit in der praktischen Politik: seit etwa 1900 bei der Fortschrittlichen Volkspartei, Mitglied der Stadtverordnetenversammlung von Charlottenburg, 1908 preußisches Abgeordnetenhaus, ab 1912 im Reichstag, Klopsch (Fn. 8), 65.

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f) Wissenschaft in Zeiten der Diktaturen War Wissenschaft im Verhältnis zur Politik autonom? Die Antwort ist nicht leicht, denn in einem praktischen Fach wie dem unseren werden ständig Themen, Tendenzen und politischer Zeitgeist aufgegriffen. Bei der Rechtspolitik, in der Mitarbeit an Gesetzesentwürfen kann sich der Rechtswissenschaftler gerade seine Unabhängigkeit bewahren wie Kahl, Liszt und James Goldschmidt beim Gegenentwurf 191125 oder nicht wie Hedemann beim Entwurf eines Volksgesetzbuchs.26 Sicher ist: Durch die Berufung von dezidierten Nationalsozialisten wie Carl Schmitt, Wenzel Graf Gleispach und Reinhard Höhn im Dritten Reich äußerte sich Nähe zur Diktatur deutlich. Deutlicher selbstverständlich durch die Entlassungen der Juden aus der Fakultät. Mit dem Versuch nach 1945 mit einem moderaten und dann einem stalinistischen Sozialismus neu anzufangen, ergab sich eine politisch offene Umstrukturierung der Fakultät in Richtung auf den neuen Sozialismus.27 Hier folgten ebensolche Anpassungen an die neue Ideologie wie im Dritten Reich. Welchen inhaltlichen Beitrag leistete die Fakultät zu den deutschen Diktaturen, also im Dritten Reich und in der DDR im Besonderen?28 Gab es ein richtiges wissenschaftliches Leben im Falschen? Gute und/oder ‚normale‘ Rechtswissenschaft in Zeiten der Judenverfolgung, des Krieges und der Judenmorde? Die Mehrzahl der Dissertationen auch im Dritten Reich war politisch unauffällig! Genau zu untersuchen bleibt: Wie war der Alltag einer Fakultät in der Diktatur, wie Ausbildung und Ausbildungsideal? 25 Kahl/Lilienthal/Liszt/Goldschmidt (Fn. 20); vgl. in diesem Zusammenhang die Rede Wilhelm Kahls: Über die Notwendigkeit einer Strafrechtsreform (aus einem Vortrag „Das neue Strafgesetzbuch“, gehalten in der Gehe-Stiftung am 9. Februar 1907), in: Alsberg Wilhelm Kahl, 1929, 95 ff. 26 Volksgesetzbuch, Grundregeln und Buch I, Entwurf und Erläuterungen. Vorgelegt von Justus Wilhelm Hedemann, Heinrich Lehmann und Wolfgang Siebert, 1942; Volksgesetzbuch. Teilentwürfe, Arbeitsberichte und sonstige Materialien, in: Schubert/Schmid/ Regge (Hrsg.) Akademie für Deutsches Recht 1933–1945. Protokolle der Ausschüsse, 1988; über Hedemann, vgl. Mohnhaupt Justus Wilhelm Hedemann als Rechtshistoriker und Zivilrechtler vor und während der Epoche des Nationalsozialismus, in: Stolleis/Simon (Hrsg.) Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Disziplin, 1989, 107–159. 27 Siehe dazu: Kleibert Die ersten neuberufenen Professoren an der Juristischen Fakultät der Berliner Universität nach 1945 – Ein Vergleich von Alfons Steiniger und Walther Neye, in: forum historiae iuris, Artikel vom 4.5.2009 (http://www.forhistiur.de/zitat/0905 kleibert.htm); Markovits Die Juristische Fakultät im Sozialismus, in: vom Bruch/Tenorth (Hrsg.) Die Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010, Band 6 – im Erscheinen. 28 Das ist die zentrale Frage: Welchen Beitrag leisteten Recht und Juristen zur Etablierung und Stabilisierung von Diktaturen? Vgl. Schröder Nationalsozialistisches Recht, in: Scheyhing (Hrsg.) Ergänzbares Lexikon des Rechts, Abteilung Rechtsgeschichte, 1992, Abschnitt 1/880.

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2. Wissenschaftsgeschichte Wissenschaftsgeschichte heißt – stärker als das in der allgemeinen Geschichte der Fall ist – die historischen Personen miteinander ins Gespräch zu bringen, den Kontext ihrer Wissenschaft und der Diskurse zu erarbeiten. Wenn Gierke 1914 in der Festschrift für Brunner die Entstehung des Arbeitsvertrages aus dem germanischen Treudienstvertrag herleitete, dann enthielt diese historische Forschung eine Stellungnahme zur bürgerlichen Reformbewegung, zum Anspruch von Gewerkschaften und Arbeitgebern, den Inhalt von Arbeitsverträgen zu definieren und zur Bedeutung der germanistischen Rechtsgeschichte.29 Mit einigem Anspruch auf Vollständigkeit ist eine solche Kontextrekonstruktion gar nicht möglich. Die Rechtsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts spiegelt sich in jeder juristischen Fakultät, besonders in der Geschichte der Berliner Fakultät. Es bleibt für den Einleitungsaufsatz die gänzlich unbefriedigende Möglichkeit, treffende Kurzbezeichnungen wissenschaftlicher Richtungen – Schlagworte – aneinanderzureihen und Namen hinzuzufügen, ein wissenschaftliches name dropping verbunden mit Kurzbiographien. Klären kann man allenfalls, welche Schwerpunkte es in Forschung und Lehre gab. Gab es Zeiten, in denen eines der Fächer im Vordergrund stand wie das Römische Recht in den ersten drei Vierteln des 19. Jahrhunderts oder das Bürgerliche Recht kurz vor und nach dem BGB im Jahr 1900? Wie und warum differenzierten sich Fächer aus? Die Etablierung des Arbeitsrechts mit eigenen Professuren in Berlin war eine kleine Sensation und geschah ohne den Willen der meisten Fakultäten. Noch in den Verhandlungen der deutschen Hochschullehrerkonferenz (Königswinter 1927) sprach man sich gegen Arbeitsrecht als Pflichtstoff und sehr deutlich gegen die Einrichtung arbeitsrechtlicher Ordinariate aus.30 a) Was ist das wissenschaftliche Verdienst einer Fakultät? Ist Rechtswissenschaft eine Wissenschaft? Was bleibt, gerade in der Rechtswissenschaft, deren Wissenschaftscharakter immer wieder bestritten wird?31 Welche herausragenden Entwicklungen in der Dogmatik und in den 29 Gierke Die Wurzeln des Dienstvertrages, in: Festschrift für Heinrich Brunner zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum am 8. April 1914, 1914, 37–68; vgl. Schröder Zur Arbeitsverfassung des Spätmittelalters. Eine Darstellung mittelalterlichen Arbeitsrechts aus der Zeit nach der großen Pest, 1984, 17 ff. 30 Sächsisches Hauptstaatsarchiv: 10200/41 Bl. 121 zit. nach Mikesic Sozialrecht als wissenschaftliche Disziplin. Die Anfänge 1918–1933 (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Band 36), 2002, 90; vgl. in diesem Zusammenhang auch Klopsch (Fn. 8), 183 ff. 31 Vgl. Schröder (Fn. 13); Kirchmann Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. Ein Vortrag, gehalten in der juristischen Gesellschaft zu Berlin von Staats-Anwalt von Kirchmann, 1848, hrsg. von Klenner 1990.

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Grundlagen der Rechtswissenschaft sind erwähnenswert, wie hat ‚die Fakultät‘ dazu beigetragen? Nicht alles, was früher erwähnenswert war, ist heute noch von Bedeutung. Die drei berichtigenden Worte des Gesetzgebers spielen eine große Rolle . . . BGB, HGB und die vielen Gesetze des ‚Gesetzespositivismus‘ wischten Massen von Studien zum gemeinen römischen Recht hinweg. Wurde der Beitrag zur Wissenschaft von der Fakultät oder einzelnen ihrer Mitglieder erbracht? Gab es ein spezifisch wissenschaftliches Klima in der und um die Fakultät? In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das sicher die Erforschung des klassischen römischen Rechts und seine Zurichtung für die Praxis in der pandektenwissenschaftlichen Zeit. Aber was war es in Weimar: die neuen Fächer, die Verfassungsdiskussion? b) Berufsausbildung, Praxis vs. Wissenschaft Der Zugang zur Anwaltschaft geht durch das Nadelöhr des ‚wissenschaftlichen‘ Studiums. Das ist eine deutsche Besonderheit, vielleicht eine der Länder des ius commune. In England gab und gibt es eine Möglichkeit, nach langjähriger praktischer Erfahrung als Anwalt zugelassen zu werden. Das Ziel der juristischen Ausbildung in den USA scheint ohnedies eher praktisch als theoretisch zu sein – was freilich die Kollegen von den dortigen Universitäten anders sehen könnten. Das ist der ganz alte Streit in Bezug auf das Studium des Rechts. Und er ist es bis heute geblieben: Bildet man aus, um (annähernd) praxisfertige Juristen zu produzieren oder um junge Menschen wissenschaftlich zu bilden, die dann die praktischen Fertigkeiten später gegebenenfalls nebenbei erwerben? Seitdem es moderne, also normengeleitete Staaten gibt, sind Juristen erforderlich. Man braucht Fachleute für die Produktion und Anwendung der Normen. Nicht nur für Richterpositionen, wo ‚nach des buches sage‘ geurteilt wurde. Seit der Rezeption des römischen Rechts war eine Richteroder Verwaltungsposition ohne Kenntnis des römischen Rechts kaum auszuüben.32 Die Ausbildung zu unterschiedlichen Zeiten folgte also dem Bedarf, und es entstand die Frage, wer den Bedarf definierte. Auch dieser Streit existiert bis heute, heruntergebrochen auf die Frage, ob der Richter oder der Anwalt das Leitbild der Juristenausbildung darstelle. Verzweifelt versucht die Universität unserer Tage die Wissenschaftlichkeit des Hochschulstudiums zu 32 Diese Bemerkung verkennt die Tatsache nicht, dass in Deutschland die meisten Gerichte, besonders die ländlichen Untergerichte, kein römisches Recht anwandten, vgl. dazu: Thauer Gerichtspraxis in der ländlichen Gesellschaft. Eine mikrohistorische Untersuchung am Beispiel eines altmärkischen Patrimonialgerichts um 1700 (Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Band 18), 2001, hier vor allem 220 ff.

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betonen – stets im Streit mit sich selbst um den eigenen Begriff von Rechtswissenschaft. Stets aber auch im Diskurs mit dem Markt, den Nachfragern von den staatlichen Behörden und den Anwälten. Gerade diese fragten, was denn die viel beschworene Wissenschaftlichkeit sei und was sie ‚nütze‘. Englische Juristen würden sich amüsieren, wenn man sie fragte, ob sie Wissenschaftler seien oder wissenschaftlich gebildet. Man muss dort, um Anwalt zu werden, nicht einmal Jura studiert haben!33 c) Wissenschaft Ein Überblick über die Forschungstätigkeit der Fakultätsmitglieder kann nur in Ansätzen gegeben werden. Inzident antwortet jede juristische Forschung auf die Frage, was das ‚Proprium der Rechtswissenschaft‘ sei.34 „Was macht Recht zur Wissenschaft? . . . Die Juristerei ist eine selbstbewusste Disziplin. Die offensichtliche praktische Bedeutung des Fachs bietet ihr Schutz vor Selbstzweifeln. Der Hunger der Praxis nach Heerscharen gut ausgebildeter Juristen tut ein Übriges. Doch im universitären Wettbewerb der Fächer sind beides eher schwache Argumente. Noch beunruhigender ist, dass viele dogmatische Argumente auf sozialwissenschaftlichen Konzepten gründen. Schon in der Rechtsanwendung führt dies zu Friktionen: Ein Gericht kann weder mit einem exakten mathematischen Modell etwas anfangen noch mit Regressionen, die so gut spezifiziert sind, dass der Fehlerterm normal verteilt ist. Wenn man die Juristerei für harte Sozialwissenschaften öffnet, kommt das Fach also nicht ohne Vermittler aus. Noch prekärer ist die Lage in der Rechtspolitik: Können Juristen den Gesetzgeber mit eigener wissenschaftlicher Autorität beraten oder lassen sich die Regelungsziele guter Gesetzgebung besser aus der Perspektive von Ökonomen, Psychologen oder Soziologen definieren? Die traditionell fraglose Einheit von Wissenschaft und Praxis wird zu einem voraussetzungsvollen Unterfangen. Nicht zuletzt mag manch ein juristischer Wissenschaftler versucht sein, sich ganz auf die Position des Beobachters zurückzuziehen. Dann ist das Recht bloß noch Forschungsgegenstand. Einen Beitrag zur Entwicklung der Dogmatik will solch ein Wissenschaftler nicht mehr leisten. Dies führt zu der Frage nach der Eigenständigkeit der Rechtslehre im Konzert der Wissenschaften – der Frage nach dem ‚Proprium der Rechtswissenschaft‘ “.35

33 Ranieri Juristenausbildung und Richterbild in der Europäischen Union, DRiZ 1998, 285–294, insbesondere 291–294; ders. Juristen für Europa. Voraussetzungen und Hindernisse für ein „europäisches“ juristisches Ausbildungsmodell (Münsteraner Studien zur Rechtsvergleichung. Muenster Studies in Comparative Law, Band 122), 2006, 28; ders. Juristen für Europa: Wahre und falsche Probleme in der derzeitigen Reformdiskussion zur deutschen Juristenausbildung, JZ 1997, 801–813, 803; Remmertz Die englische Anwaltschaft im Wandel, ZVglRWiss 93 (1994) 202–217. 34 Engel/Schön (Hrsg.) Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007. 35 Zitat entstammt der Seite: http://www.mohr.de/nc/rechtswissenschaft/schriften reihen/detail/buch/das-proprium-der-rechtswissenschaft.html.

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Windscheid hatte 1884 das Problem knapper umschrieben: Ethische, volkswirtschaftliche etc. Erwägungen seien nicht Sache des Juristen als solchem.36 Die üblichen Kriterien für die Frage, ob eine Wissenschaft vorliegt, sind bekannt: Streben nach Erkenntnis/Wahrheit, Rationalität, systematisches Erfassen des Gegenstandes, Verwenden von anerkannten Methoden. Die praktische Antwort auf die theoretisch schwer zu beantwortende Frage fällt m.E. leicht: Inhalt und Gegenstand der Rechtswissenschaft ist das, worüber Rechtswissenschaftler schreiben. Die Gemeinschaft entscheidet darüber, welche Leistungen als wissenschaftliche gelten. Auch dann, wenn es darum geht, Außenseiterleistungen anzuerkennen. Objektive Kriterien gibt es wenige. Steht in der Fakultät/für Studenten die angemessene Lösung von Konflikten mit Hilfe der juristischen Methoden im Zentrum oder die Reflexion der Praxis, die Erarbeitung von Grundbegriffen und Systemen und die Geschichte, die Herkunft des Fachs? Vielleicht handelt es sich ‚nur‘ um Rhetorik… Die Antwort auf solche Fragen muss hier dahinstehen. Was hielten die Fakultätsmitglieder für wissenschaftlich interessant? Um dem nahe zu kommen, bieten sich die Qualifikationsarbeiten an. Worüber arbeiteten die Nachwuchswissenschaftler?37 Oft lagen sicher die Motive der Promovenden primär in der eigenen Statuserhöhung, sie waren also nicht intrinsisch wissenschaftlich motiviert. Aber, die Themen wurden von den Professoren vergeben und beurteilt. Und bis zum Beweis des Gegenteils geht diese Untersuchung davon aus, dass Professoren nur die Themen vergeben, die sie wissenschaftlich interessieren. 3. Überschneidungen Die Geschichte dieser Reformuniversität und die der Fakultät ist oft erzählt worden,38 zum 100-jährigen Jubiläum,39 zum 150. Geburtstag,40 in der DDR aus sehr spezifischer Sicht41 und kurz nach der Wende.42 Hinzu kom36 Windscheid Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, Leipziger Rektoratsrede vom 31. Oktober 1884, in: Windscheid Gesammelte Reden und Abhandlungen, hrsg. von Oertmann 1904, 100–123. 37 Ein vollständiger Überblick dazu zukünftig bei Schröder/Kleibert/Klopsch (Fn. 1). 38 Wolff Die juristische Fakultät der Kgl. Friedrich-Wilhelms-Universität, in: Aus dem Berliner Rechtsleben, Festgabe zum XXVI. Deutschen Juristentage, 1902; Klopsch (Fn. 8); Lösch (Fn. 8). 39 Heymann Hundert Jahre Berliner Juristenfakultät. Ein Gedenkblatt, in: Liebmann (Hrsg.) Die Juristische Fakultät der Universität Berlin von ihrer Gründung bis zur Gegenwart in Wort u. Bild, in Urkunden u. Briefen. Mit 450 handschriftlichen Widmungen, 1910, 1–66; Lenz Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Vier Bände, 1910. 40 Smend (Fn. 2). 41 Zu den Anfangsjahren vgl. Kleibert (Fn. 8). 42 Schröder/Bär Zur Geschichte der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, KJ 1996, 447–465.

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men aus der bisherigen Literatur die Wissenschafts- und die Personengeschichten.43 Es ist in diesem Einleitungsaufsatz also wenig sinnvoll, das so oft Gesagte zu wiederholen, zumal sich in der Universitätsfestschrift sechs Überblicksartikel finden.44 Diese Beiträge konzentrieren sich nicht nur auf Personen, sondern sie geben gleichfalls Überblick über die behandelten Epochen. In Anbetracht dieses Literaturbefundes bleibt für eine Gesamtdarstellung wenig Raum. Diese Darstellung mäandert gewissermaßen um die weiteren Artikel in dieser und den anderen Festschriften. Denn in dieser FakultätsFakultätsfestschrift sind neben den 30 Personendarstellungen noch drei Artikel enthalten, die den Zeitraum nach 1933 betreffen; also beginnend mit der NS-Zeit, über die sowjetische Besatzungszeit bis zu den Wendejahren.

II. Die Ursuppe der Fakultät Gerade hier sind die Fakten bekannt. Napoléon hatte Preußen geschlagen und dessen Territorium dezimiert. Die preußische Staatsuniversität Halle drohte von Napoléon geschlossen zu werden. Praktisch stand ein Drängen der vertriebenen Professoren im Vordergrund, in Preußen weiterbeschäftigt zu werden. Daneben versuchten Intellektuelle die Geistesstätten Berlins (Akademien, Lehranstalten) in einer Institution, der neu zu gründenden Universität, zusammenzuführen.45 Idealistisches spielte eine Rolle: Was der Staat an Materiellem verloren habe, müsse er an geistigen Kräften gewinnen. Einer Gruppe von Reformern, Stein, Hardenberg, Humboldt, aber auch Altenstein, Schröter und anderen gelang es, Friedrich Wilhelm III. von der Notwendigkeit der Reformen im Hochschulbereich zu überzeugen.

43 Zur Geschichte der Wissenschaft(ler) vor allem: von Stintzing/Landsberg Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 3 Abteilungen in 4 Bänden, 2. Neudruck der Ausgabe München 1880–1884, 1978; Kleinheyer/Schröder (Hrsg.) Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten4, 1996; Stolleis (Hrsg.) Juristen. Ein Biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, 1995; Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.) Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993; Wieacker Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. unveränderter Nachdruck der 2. Auflage 1967, 1996. 44 Schröder Rechtswissenschaft, Rechtsstudium, Rechtspraxis (Fn. 9); ders. Zivilrecht 1850–1945 (Fn. 9); Steinke Die Begründung der Rechtswissenschaft seit 1810, in: Tenorth (Hrsg.) Die Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010, 2010, Band 4; Neumann Das öffentliche Recht 1871–1945, in: vom Bruch/Tenorth ebenda; Werle/Vormbaum Das Strafrecht an der Friedrich-Wilhlems-Universität zwischen 1871–1945, Tenorth (Hrsg.) ebenda, Band 5; Markovits (Fn. 27). 45 Klopsch (Fn. 8), 30.

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Was war an der Juristischen Fakultät neu? Das Jurastudium hatte erneuert werden müssen. Schon in der Aufklärung befriedigten die Absolventen der traditionellen Universitäten die Anforderungen des Preußischen Staates nicht mehr. Daher hatte man schon Ende der Aufklärung eine praktische Ausbildung, die Auskultatur und das Referendariat, mit staatlichen Eignungsprüfungen eingeführt. Eine statusbezogene Auswahl der Staatsbeamten und Richter wurde durch prüfbare Eignung ergänzt. Doch ging es nicht nur um praktische Ausbildung. Daneben stand ein veränderter Wissenschaftsbegriff. Wie genau die Kausalität war, was sich in den Köpfen abspielte, ist schwer zu ermitteln. Sicher ist, dass die französische Revolution einerseits und der neue Nationalismus in den Befreiungskriegen andererseits die Ordnung der Aufklärung und des Rokoko zerstörten. Ein neues Wissenschaftsideal tat sein Übriges . . . Der Versuch, Gustav Hugo aus Göttingen abzuwerben, scheiterte. Der Weggang Eichhorns dorthin im Frühjahr 1817 war ebenso ärgerlich.46 Die Berufung des Jungstars Savigny war nicht ohne Risiko. Mit dem erprobten Schmalz (aus Halle) setzte Altenstein 1809 auf einen renommierten, schriftstellerisch bestens ausgewiesenen Hallenser Juristen, der über Erfahrung in der Universitätsverwaltung verfügte. Savigny hat die darin liegende Zurücksetzung nicht gefallen. Das Verhältnis zu Schmalz, der nicht der historischen Richtung anhing und eher traditionelle Vorlesungen hielt, war von unterschiedlicher Qualität. 1. Savigny In unserer Fakultätsgeschichte muss für das 19. Jahrhundert ohne Zweifel Friedrich Carl von Savigny im Mittelpunkt stehen. Savigny also. Auch wenn dies Schlagworte sind: Er brachte den Historismus in die Fakultät und die Rechtswissenschaft (wie vor und neben ihm nur Hugo), er repräsentierte den romantischen Zeitgeist wie kaum ein anderer Jurist und entsprach in seinem politischem Profil den restaurativen Wünschen seiner Königlichen Herren. Der Olympier, der so viele bewundernde, ja hymnische Darstellungen erfahren hat. Der Begründer der historischen Schule der Rechtswissenschaft, der Sieger im Kodifikationsstreit, der glühende Verfechter des römischen Rechts, akademischer Lehrer vieler bedeutender Professoren, Gesprächspartner der Romantiker und Vertreter organischer Theorien der Rechtsentwicklung,47 Vertrauter Friedrich Wilhelms IV., dem er als Staats- und 46

Vgl. dazu: Lenz (Fn. 39), Erster Band: Gründung aus Ausbau, 565 f. Savignys Auffassung vom Recht als organisch Gewachsenem ist parallel zur Anfang des 19. Jahrhunderts in den Naturwissenschaften vertretenen Auffassung. Dazu etwa Gei47

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Justizminister ab 1842 diente und 1847 als Präsident des Staatsrates und Ministeriums. Mit dem Kronprinzen und König stimmte er in religiösen Dingen wie politischen Anschauungen stark überein. Eine gewisse politische Parallele findet sich in diesem Punkt zum Rechtsphilosophen Julius Stahl (1802–1861; ernannt in Berlin 1840),48 der im Umkreis von Friedrich Wilhelm IV. auf der sehr konservativen Seite tätig war. Seine historisch romantische Art,49 Rechtswissenschaft zu betreiben, prägte den Wissenschaftscharakter des Faches. Das hatte praktische Konsequenzen: Wer sich als Jurist in Deutschland habilitieren wollte, konnte das nur entweder romanistisch oder germanistisch. Bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, ja mancherorts bis heute,50 setzte die Promotion eine entweder deutschrechtliche oder romanistische Exegese (als Nachweis der Wissenschaftlichkeit) voraus. Die historische Richtung dominierte sehr klar. Fast alle – wissenschaftlich tätigen – Juristen setzten sich mit Hilfe der neuen Methode mit dem Rechtsstoff auseinander. Alles wurde – wie in anderen Bereichen und Wissenschaften auch – historisiert. „Politik, Recht, Wirtschaft, Moral und Religion, ja selbst Musik und Kunst wurden mit Hilfe dieser Erkenntnismethode historisch erforscht. Die Geschichtswissenschaft wurde zur Leitwissenschaft des Jahrhunderts.“51 Marx, der Savigny gehört hatte, wandte ein, es sei doch dem Schiffer nicht zuzumuten, auf der Quelle des Stromes zu fahren.52 Er traf mit diesem praktischen Einwand nicht den theoretischen Kern der Lehre, aber er zeigte – in seiner Zeit wohl wenig beachtet – einen Hauptmangel auf. Überhaupt: Savigny spaltete die Öffentlichkeit. Wissenschaftliche Gegner wie Gans waren seltener als politische Kritiker wie Heine sowie Kritiker des persönlichen er Die Brüder Humboldt, 2009, 168 mit Hinweis auf: Herder Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791). 48 Vgl. z.B. Füssl Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802–1861). Das monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis (Schriftenreihe der historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 33), 1988, 164 ff.; Ernennung zum Mitglied der Ersten Kammer, Tätigkeit im Oberkirchenrat. 49 Allgemein, aber auch mit Hinweisen auf Savigny: Safranski Romantik. Eine deutsche Affäre, 2007. 50 Die aktuell geltende Promotionsordnung des Fachbereichs Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz vom 26. Mai 1981 setzt in ihrem § 5 Abs. 1 Nr. 3 voraus: „Der Bewerber muß ein Semester lang an einer romanistischen, germanistischen oder kanonistischen Übung oder an einem rechtswissenschaftlichen Seminar am Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität teilgenommen haben und in der Lehrveranstaltung eine mindestens mit der Note „gut“ bewertete Hausarbeit (Referat) angefertigt haben.“ 51 Wittkau Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, 1992, 13. 52 Marx Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule‚ „Rheinische Zeitung“ Nr. 221 vom 9. August 1842.

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Auftretens wie Bismarck.53 Auch in der Fakultät bekämpfte er vermeintliche oder wirkliche Gegner wie Gans und den jungen Witte: „In der Tat sollte sich aus dem Unwillen Savignys darüber, dass ein junger Gelehrter beanspruchte, an seiner Seite an der Friedrich-Wilhelms Universität das römische Recht lehren zu wollen, ohne aus seiner Schule zu stammen, eines der Haupthindernisse für den jungen Witte entwickeln.“54 Der Kampf mit Thibaut, dem Heidelberger Granden der Rechtswissenschaft, ging wissenschaftlich klar zu seinen Gunsten aus. So jedenfalls die spätere Wahrnehmung, wiewohl die Differenzen nie so groß waren wie unterstellt. Seine Schrift „Über den Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtwissenschaft“ (1814) wurde nicht selten so verstanden als sei er ein uneingeschränkter Gegner der Gesetzgebung. Als sei er völlig anachronistisch, denn im Strafrecht lag der Praxis nicht selten die Carolina von 1532 zugrunde, im bürgerlichen Recht die Naturrechtsgesetze – sehr unterschiedlicher politischer Intention und Qualität. Aus praktischen Gründen kam niemand an Gesetzgebung vorbei. Savignys Intention galt vor allem dem bürgerlichen Recht seiner Zeit, bei dem er historisch das Abgestorbene vom Lebendigen sondern wollte; sozusagen in einer Art historisch empirischer Rechtssoziologie feststellen wollte, was sich bewährt hatte und wovon man besser Abschied nehmen sollte. Im Strafrecht stand er der Gesetzgebung positiv gegenüber. Später wurde er zu einem der ‚Väter‘ des Preußischen Strafgesetzbuchs von 1851, welches die Grundlage des RStGB von 1871 bilden sollte, kommentiert übrigens von Beseler.55 Auch wurde Gesetzgebung in seiner Ministerzeit ab 1842 zu seiner Hauptaufgabe. Die neue Art, Dogmatik zu betreiben – im Recht des Besitzes 1803, später auch im System ab 1840 – brachte einen Paradigmenwechsel herbei. Seine historische Darstellung des römischen Rechts im Mittelalter bildete die methodische Vorgabe für viele wissenschaftliche Nachfolger. Selbst eine praktische Wissenschaft wie die des Prozessrechts wurde durch seinen Schüler Bethmann-Hollweg historisiert.56 Seine unvollendete systematische Darstellung des römischen Rechts ab 1840 geriet zur Vorlage für seinen Nachfolger Puchta und die Pandektisten.57 Rechtswissenschaft existierte nicht ohne 53 Vgl. Schröder Rechtswissenschaft, Rechtsstudium, Rechtspraxis (Fn. 9); Rosenberg Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) im Urteil seiner Zeit (Rechtshistorische Reihe, Band 215), 2000, 144 f. 54 Kraus (Fn. 7), 252. 55 Beseler Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten und das Einführungsgesetz vom 14. April 1851, 1851, in: Schubert/Regge/Schmid/Schröder (Hrsg.) Kodifikationsgeschichte Strafrecht, Reprint 1991. 56 Bethmann-Hollweg Versuche über einzelne Theile der Theorie des Civilprozesses, 1827, Vorrede. 57 Zu seiner Methode vgl. Savigny System des heutigen Römischen Rechts, Band I, 1840, passim.

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Rechtsgeschichte und eigentlich war nur die geschichtliche Betrachtung des Rechts wissenschaftlich.58 Der theoretisch-philosophische Kampf wurde an einer anderen Front ausgetragen, nämlich in der Entgegensetzung der historischen und philosophischen Schule. Im Kontext des humboldtschen Bildungsideals ergaben sich zunehmende Spannungen in der Verknüpfung von Bildung und Ausbildung. Das System Savignys entsprach dem humboldtschen Bildungsideal insofern, als es sich konsequent der Nützlichkeit, so zum Beispiel der Lehre des Allgemeinen Landrechts, verweigerte. Während prinzipiell das neuhumanistische Bildungsideal vor den Herausforderungen einer diversifizierten Wissenschaftslandschaft kapitulierte, hielt Savigny mit seinem spezifischen Historismus an einer relativ zweckfreien Bildung fest.59 Die Dominanz der Schule setzte sich in weiteren Berufungen fort. Savigny zog Schüler und wissenschaftlich Gleichgesinnte heran.60 Das Preußische Recht wurde in der frühen Zeit der Fakultät eher selten gelesen. Es wurde nach der venia nur von zwei Ordinarien vertreten: Zunächst von Eduard Gans,61 der 1828 zum Ordinarius für Völkerrecht, Preußisches Recht und Kriminalrecht berufen wurde. Das ‚Problem‘ des Juden Gans, dessen Berufung Savigny zu verhindern suchte, lag in dessen anderem Wissenschaftsideal hegelscher Prägung, seinem Universalrechtsanspruch, und in erheblichen persönlichen Differenzen, die nicht allein, aber auch durch seine Religion hervorgerufen wurde. Im Grunde war jedoch Ludwig Heydemann62 als erster Professor ausschließlich für Preußisches zuständig. Als Nichtordinarien vertraten daneben auch Alexander von Daniels,63 Wilhelm Bornemann64 und Julius Baron65 dieses Rechtsgebiet.

58 Kaspers Altes erneuert! Neues veraltet? Rezension von: Meder Mißverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik, 2004, Rechtsgeschichte 10 (2007) 215–217. 59 Brandt Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, in: Schwinges (Hrsg.) Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, 2007, 625–706, 629. 60 Schröder Rechtswissenschaft, Rechtsstudium, Rechtspraxis (Fn. 9). 61 Eduard Gans wurde bereits 1826 außerordentlicher Professor an der Berliner Universität, vgl. Asen Gesamtverzeichnis des Lehrkörpers der Universität Berlin, Band I: 1810–1945, 1955, 55. 62 Ludwig Eduard Heydemann war ab 1840 zunächst als Privatdozent, ab 1841 dann als außerordentlicher Professor tätig, bis er 1845 Ordinarius wurde, vgl. Asen (Fn. 61), 79. 63 Alexander von Daniels wurde 1844 außerordentlicher Professor für Preußisches Recht und Lehnrecht, vgl. Asen (Fn. 61), 33. 64 Wilhelm Heinrich Paul Bornemann war von 1859 bis 1863 als Privatdozent für preußisches Recht tätig, vgl. Asen (Fn. 61), 21. 65 Julius Baron war ab 1860 Privatdozent und von 1869 bis 1880 außerordentlicher Professor für römisches und preußisches Recht, vgl. Asen (Fn. 61), 8.

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2. Gehälter Savigny war bei Eröffnung der Universität mit 2.500 Talern Jahresgehalt sogleich der höchstbezahlte Lehrer der Gesamtuniversität, dies vor Wolf mit 2.100 Talern und Fichte mit 2.000 Talern.66 Es handelte sich hierbei um ein durchaus stattliches Gehalt, gerade wenn man bedenkt, dass sein Fakultätskollege und erster Rektor der Universität Theodor Schmalz ein Jahresgehalt von „nur“ 1.400 Talern bezog.67 Beselers Anfangsgehalt in Berlin betrug 2.000 Reichsthaler.68 Im Jahr 1868 war es mit 6.000 Mark immer noch das höchste Gehalt, das an der Universität Berlin gezahlt wurde.69 Das höchste Gehalt im Wintersemester 1887/88 betrug in Berlin 9.000 Mark, während das Mindestgehalt auf 6.000 Mark angestiegen war.70 Die regelmäßige Gehaltszahlung eines Ordinarius ergab sich zunächst aus seiner Stellung als Staatsbeamter. Das sich aus der jeweils geltenden Besoldungsordnung ergebende Grundgehalt ergänzte sich zusätzlich durch die so genannten Vorlesungsgelder, Gebühren, die die Studenten für den Besuch der Privatvorlesungen zu entrichten hatten.71 Die Berliner ordentlichen Professoren sollen um die Jahrhundertwende „etwa ein fünftel aller Gehälter deutscher Universitätsordinarien“72 bezogen haben, in Berlin zahlte man also die höchsten Grundgehälter, insoweit noch weit angeführt von der Juristischen Fakultät: Ein Berliner Ordinarius verdiente in der Vorkriegszeit im Schnitt 7.650 Mark im Vergleich zu 6.000 Mark, die man durchschnittlich an anderen Universitäten erhielt; die Tätigkeit an der Juristischen Fakultät der Reichshauptstadt war sogar mit durchschnittlich 8.430 Mark vergütet, wobei man an anderen juristischen Fakultäten im Schnitt 6.296 Mark verdiente.73 Hinzu kam, dass in Berlin durch die sehr stattlichen Hörerzahlen gerade die Kolleggelder einen gewichtigen Anteil der Ordinarienvergütung ausmachten; dies umso mehr, als es ab einem bestimmten Renommee usus wurde, bei der Verhandlung über die Annahme eines Rufes nach Berlin bestimmte, fest zugesagte Kolleggeldgarantien auszuhandeln. 66 Kraus (Fn. 7), 177; zu Fichte vgl. auch Lenz (Fn. 46), 207; Rosenberg nennt für Savigny ein „Jahresgehalt von fast 3000 Talern“, vgl. Rosenberg (Fn. 53), 43. 67 Gehaltsliste der Berliner Professoren für den Etat 1811/12, vgl. Fuchs (Hrsg.) J.G. Fichte im Gespräch, Berichte der Zeitgenossen, Band IV (1806–1812), 335 f; Kraus (Fn. 7), 177. 68 Kern Georg Beseler – Leben und Werk, 1982, 207 und 221. 69 Ebenda, 221. 70 Preußische Statistik, 45 zit. nach Kern (Fn. 68), 221; vgl. zu allem auch: Lenz (Fn. 46), 532, Tabelle über die Ausgaben für die Gehälter der Dozenten zu Anfang eines jeden Jahrzehntes 1810 bis 1910. 71 Vgl. Klopsch (Fn. 8), 162. 72 vom Bruch (Fn. 3), 118. 73 Diese Zahlen nennt vom Bruch (Fn. 3), 109, dort auch Fn. 18, zit. nach Klopsch (Fn. 8), 164.

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So verhandelte z.B. Martin Wolff bei seiner Berufung nach Berlin im Jahre 1921 ein Grundgehalt von 23.000 Mark, eine allgemeine Zulage von 3.000 Mark sowie eine Kolleggeldgarantie von weiteren 20.000 Mark, erhielt also ein fest zugesagtes Jahresgehalt von 46.000 Mark.74 Gehaltseinschränkungen ergaben sich für die Professoren dann in der Zeit des Nationalsozialismus. Sparmaßnahmen, gesetzliche Kürzungen und vor allem das Ziel der nationalsozialistischen Führung, die Gehälter der Professoren zu „nivellieren“, führten ab 1933 zu wesentlich niedrigeren Höchstgrenzen des Grundgehaltes (15.000 Mark) sowie der Kolleggeldgarantien (7.000 Mark).75 Nur Carl Schmitt behielt sein ursprüngliches Grundgehalt in Höhe von 16.400 Mark, war also derjenige, der nun das „Spitzengehalt“ der Fakultät bezog.76

III. Nach der Etablierung 1. Kämpfe und Wissenschaft Die wissenschaftlichen Kämpfe (philosophisch gegen historisch) hörten nicht auf, aber die Historische Schule setzte sich wissenschaftlich durch. Berlin gewann an Attraktivität. Die Studentenzahlen stiegen. Der Schwan bekämpfte die/den Gans erfolgreich.77 Die Fakultät, das waren die Ordinarien, also wenige Professoren, folglich nicht die außerordentlichen Professoren, die Privatdozenten oder die Honorarprofessoren. Die Ordinarien allein bestimmten den Gang der Ereignisse in der Fakultät, beschlossen über Promotionen und Habilitationen, also über den Zugang zur Wissenschaft als Beruf; sie allein, aber unter wesentlicher Mitwirkung des Ministeriums. Nur einmal, in der 48er Revolution, kam die Forderung der Nichtordinarien, ja die von Studenten, nach Partizipation an den inneruniversitären Entscheidungsprozessen auf. Gneist ‚machte mit‘, um sich freilich später zu distanzieren.78 Es ging um die Befreiung von den Bestimmungen der Karlsbader Beschlüsse und um Mitbestimmung bei der Wahl von Senat, Rektor und Dekanen.79 74 So Klopsch (Fn. 8), 167 f.; auch Lösch bezeichnet Martin Wolff noch für das Jahr 1927 als absoluten „Spitzenverdiener“ der Fakultät, vgl. dies. (Fn. 8), 106; das höchste Grundgehalt der Fakultät bezog zu diesem Zeitpunkt Rabel, ebenda. 75 Lösch (Fn. 8), 154 ff. 76 Dies neben Graf Gleispach, vgl. Lösch (Fn. 8), 156. 77 Zum Wortspiel und zur Sachauseinandersetzung Braun „Schwan und Gans“. Zur Geschichte des Zerwürfnisses zwischen Friedrich Carl von Savigny und Eduard Gans, JZ 1979, 769–775. 78 Hahn The Junior Faculty in ‚Revolt‘: Reform Plans for Berlin University in 1848, American Historical Review 82 (1977), 875–895, 884 ff. 79 Lenz (Fn. 39), Zweiter Band, Zweite Hälfte, 1918, 260.

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Nun war der später hochberühmte Gneist so hervorgetreten, dass er mit seinen „Kränzchen“ in den 50er Jahren dem Berliner Polizeipräsidenten Hinckeldey auffiel. Diesem hatten Jurastudenten berichtet, es würden dort „Ereignisse des Tages und die gegenwärtigen Verhältnisse in einer Weise besprochen …, welche nur dazu geeignet sein könnte, bei den jungen Leuten Unzufriedenheit gegen die Regierung und die jetzigen Zustände zu erregen.“80 Wenn immer man über Wissenschaft und Lehre berichtet: Die polizeiliche Überwachung der Universität war (noch) Realität.81 Aber nicht jede Denunziation hatte noch ‚Erfolg‘. Die Lebenswelt der vormärzlichen Studenten wäre eine eigene Studie wert. Universität ist eben nicht nur wissenschaftliche Lehre und Forschung, sondern auch (vielleicht noch wichtiger) Ausbildung einer professionellen Elite, die standesspezifisch ausgewählt worden war, um deren Zugang zu statusmäßig hohen und finanziell ordentlichen Berufen zu erreichen. Gneist selbst, der mit Stipendien und unter Stundung der Hörergelder studieren musste, bildete eine Ausnahme von dieser Regel.82 Die biographischen Berichte speisen sich oft aus Erinnerungen an die ‚alte Burschenherrlichkeit‘. 1845 war Gneist zum Extraordinarius ernannt worden. Sein Lehrerfolg war beträchtlich, die Frequenz seiner Vorlesungen gleichfalls. Er hatte zwischen 1839 und 1859 vor insgesamt fast 13.000 Studenten gelesen.83 Die meisten Hörer saßen in Gneists Vorlesungen zum Kriminalprozess (insgesamt 2.375 Studenten), zum Zivilprozess (insgesamt 2.058 Studenten) und zum Kriminalrecht (insgesamt 1.902 Studenten). Diese Vorlesungen hatte Gneist in dem Zeitraum insgesamt 23-mal (bzw. 22- und 21-mal) gehalten. 80

Bericht Hinckeldey an Lehnert 13. Februar 1853, Staatsarchiv Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Polizei-Präsidium, Nr. 10093, zit. nach Hahn (Fn. 22), 48 Fn. 4; Eibich Polizei, „Gemeinwohl“ und Reaktion. Über Wohlfahrtspolizei als Sicherheitspolizei unter Carl Ludwig Friedrich von Hinckeldey, Berliner Polizeipräsident von 1848 bis 1856 (Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Band 28), 2004, 58 f.; zur ‚anderen Seite‘ Hinckeldeys vgl. ebenda, 63 passim. 81 Siemann „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung“. Die Anfänge der politischen Polizei 1806–1866, 1985, 73 ff., 340 ff. (wenig zu Berlin); Nolte Denunziation in der Demagogenverfolgung des frühen 19. Jahrhunderts, in: Schröter (Hrsg.) Der willkommene Verrat. Beiträge zur Denunziationsforschung, 2007, 115–138; ders. Demagogen und Denunzianten. Denunziation und Verrat als Methode polizeilicher Informationserhebung bei den politischen Verfolgungen im preußischen Vormärz, 2007, zur Situation an den Universitäten, z.B. 112 ff. 82 Hahn (Fn. 22), 2 ff., dort auch zur Vorlage eines „Bedürftigkeitszeugnis[ses]“, dass sein Vater, ein geschiedener Landgerichtsrat, ihn aufgrund seiner finanziellen Verhältnisse nicht unterhalten könne. Alle Professoren der Berliner Fakultät stundeten Gneist die Kolleggelder, die sich am Ende seines dreijährigen Studiums auf 120 Taler Gold beliefen, vgl. ebenda, 3 Fn. 4. 83 Hahn (Fn. 22), 260 mit Kopie des von Gneist selbst hergestellten Zuhörer-Verzeichnisses aus dem Jahr 1861.

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

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16-mal bot Gneist ‚Pandekten und Erbrecht‘ an und erreichte damit 1.549 Hörer. Hatte er im Wintersemester 1839/40 noch vor insgesamt 15 Studenten gelesen, erreichte er im Sommersemester 1853 mit allen Vorlesungen eine Hörerzahl von 514. Erst 1858 war in Verwaltung und Fakultät alles vergeben, nun wurde er zum Ordinarius mit sehr beträchtlichem Gehalt ernannt. 2. Promovieren an der Fakultät a) Examen Der Erwerb von Bildungspatenten bildete den „kalkulierbaren Versuch des sozialen Aufstiegs bzw. des Statuserhalts.“84 Das ist damals wie heute so.85 Wesentlich zutreffender und wesentlich präziser sind die Angaben bei Conrad.86 Auch Conrad geht von einer Flut von Juristen in Preußen aus (1828/29 [1.641] mit deutlich sinkender Tendenz bis 1860 [744] und Verdreifachung bis 1881/82 [2.366]).87 Berlin war von einigen kurzen Perioden abgesehen die größte deutsche Fakultät, dicht gefolgt von München und Leipzig, später Heidelberg. Die durchschnittliche Studienzeit betrug sechs Semester, stieg dann aber kontinuierlich auf sieben bis acht an.88 Wobei die Absolvierung der Militärzeit mindestens ein Semester kostete. Die Durchfallquoten der zweiten juristischen Staatsprüfung betrugen nach Conrad in der Dekade zwischen 1841 und 1850 25%, zwischen 1851 und 1855 36%, in den fünf Jahren zwischen 1871 und 1875 9.2% und 1881 15.6%.89 Über die Jurastudenten hieß es „… es ist eine allgemein anerkannte Thatsache, daß die Studenten keiner andern Fakultät die Vorlesungen so unregelmäßig besuchen und so viel Zeit verbummeln als die der in Rede stehen-

84

Lundgreen Promotionen und Professionen, in: Schwinges (Fn. 59), 353–368, 355. Gesamtüberblick über Promotionen Jura und Medizin zwischen 1880 und 2000 bei: Lundgreen (Fn. 84), 359. 86 Conrad Das Universitätsstudium in Deutschland während der letzten 50 Jahre. Statistische Untersuchungen unter besonderer Berücksichtigung Preußens, 1884, 105 ff., 120. Die in Fn. 85 genannte Tabelle von Lundgreen ist wohl problematisch, weil sie von einem Durchschnitt aller Hochschulen ausgeht. Da aber gerade in der Zeit bis 1914 die Promotionsquote extrem schwankte, kann diese Tabelle kaum als Grundlage genommen werden. Zudem gibt die Tabelle für die Hochschulprüfungen der Juristen nicht an, um welches Staatsexamen es sich handelt. 87 Conrad (Fn. 86), 105 f.; die Vergleichszahlen für Deutschland lauten: 1830/31 (4.551), SS 1860 (2.381), SS 1883 (5.426). 88 Conrad (Fn. 86), 111. 89 Conrad (Fn. 86), 112. 85

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den, schon durch die stärkere Beteiligung an den Korps, so daß ein größerer Prozentsatz die Normalstudienzeit zu überschreiten genötigt ist.“90 Conrad ist klar, „daß keineswegs alle Referendarien auf Staatsanstellung als Richter oder Verwaltungsbeamter reflektieren.“91 Die Zahl der studierenden Juristen in Preußen pro 100.000 der Einwohner stieg wie folgt:92 Zeitraum

studierende Juristen absolut (Altpreussen)

studierende Juristen pro 100.000 Einwohner

1841/50

1.100

6,8

1851/55

1.520

8,9

1856/60

1.145

5,8

1861/65

890

4,6

1866/70

1.093

5,5

1871/75

1.904

9,1

1876/80

2.400

10,8

1880/81

2.710

12,1

So ergibt sich ein ansteigender Satz von 1880/81 von 12,1 studierenden Juristen pro 100.000 der Bevölkerung. Bei diesen Studentenzahlen war schon damals – ähnlich wie es heute der Fall ist – klar, dass die Studenten nicht im Staatsdienst unterkommen konnten.93 Nach dem Staatshaushalt von 1880/81 fungierten im preußischen Justizdienst:94 Jurastudenten Altpreußen

Referendare und Auskultatoren

Etatmäßige Richter

3.900





Beamte der Staatsanwaltschaft

230





Rechtsanwälte und Notare

2.146





Assessoren

415





Summa

6.691

2.710

3.590

90

Conrad (Fn. 86), 112. Conrad (Fn. 86), 115; zum Ganzen: Kolbeck Juristenschwemmen. Untersuchungen über den juristischen Arbeitsmarkt im 19. und 20. Jahrhundert (Rechtshistorische Reihe, Band 3), 1978. 92 Die Tabelle entstammt dem Werk Conrads (Fn. 86), 114. 93 Schröder (Fn. 11). 94 Die Zahlen wieder nach Conrad (Fn. 86), 115 und 117. 91

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

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Die Schilderungen der Examen sind üblicherweise auf Skurrilitäten beschränkt.95 So z.B. die des preußischen Ministerialrats Herbert du Mesnil, ein ehemaliger Verbindungsstudent, der sein Referendarexamen mit der Bemerkung bestand, er habe erhebliche Lücken im positiven Wissen, jedoch ein ausreichendes juristisches Denken. Die Kenntnisse werde er sich in der Praxis nachträglich noch aneignen.96 Das erste Examen in Preußen war mit diesem häufigen Argument unschwer zu bestehen.97 b) Die Promotionsvoraussetzungen „Wer an einer Fakultät den Doktorgrad sucht, kann denselben nur durch feierliche Promotion erhalten.“98 Für diese Promotion setzten die allgemeinen Statuten der Universität vom 13. Oktober 1816 in § 5 des Abschnitts über die akademischen Würden voraus: „Jeder, der den Doktorgrad erlangen will, muß drei Jahre studirt haben, sich zuerst zum Examen stellen, und zugleich mit der Meldung dazu eine kurze Darstellung seines Lebenslaufes,99 besonders aber seiner bisherigen Studien, und, wenn er auf hiesiger Universität studirt hat, sein testimonium morum einreichen. Auch ist der Kandidat berechtigt, zugleich damit die Abhandlung, auf welche er promovirt werden will, einzugeben; sowie andererseits die Fakultät die Eingabe dieser Abhandlung vor dem Examen zu fordern (. . .). Nach dem Examen, dessen Art und Weise durch die Fakultäts-Reglements zu bestimmen ist, hat der Aspirant, wenn er bestanden, eine vorher von der Fakultät zu approbirende, in lateinischer Sprache verfaßte Dissertation drucken zu lassen, bei deren Einreichung er zugleich die schriftliche Versicherung geben muß, daß er allein der Verfasser derselben sei, insofern das Fakultäts-Reglement davon nicht eine Ausnahme verstattet. Diese Abhandlung muß von ihm in einer öffentlichen Disputation in lateinischer Sprache vertheidigt werden (. . .).“

95

Lutter Politiker ohne Partei. Erinnerungen, 1960, 33 f., zit. nach Brandt (Fn. 59), 642 Fn. 31, dort weitere Literatur, 638 Fn. 25, insbesondere Jessen Die Selbstzeugnisse der deutschen Juristen. Tagebücher und Briefe. Eine Bibliographie (Rechtshistorische Reihe, Band 27), 1983. 96 Brandt (Fn. 59), 648. 97 Vgl. Schröder (Fn. 13), 272 ff. 98 Abschnitt IX, § 4 der Statuten vom 13. Oktober 1816. Sämtliche Rechtsgrundlagen für Universität und Fakultät finden sich bei Daude Die Königl. Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin. Systematische Zusammenstellung der für dieselbe bestehenden gesetzlichen, statuarischen und reglementarischen Bestimmungen, 1887. 99 Zunächst auf lateinisch, erst ab einem Ministerialerlass vom 14. Juli 1876 war es gestattet alle schriftlichen und mündlichen Anforderungen auch auf deutsch zu erbringen.

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Die Statuten von 1838 bestimmten fakultätseigene Regelungen für die Promotion.100 Auch sie forderten zunächst ein dreijähriges Studium nach Erlangung des Reifezeugnisses (§ 88). Anzumelden war die Promotion mittels eines lateinischen Promotionsgesuches (§ 89), dem ein kurzer lateinischer Lebenslauf unter Angabe des Religionsbekenntnisses sowie Zeugnisse seines Fleißes, „seiner Kenntnisse, seines Lebenswandels und seiner früheren Lebensverhältnisse“ beizulegen waren. Besondere Regelungen zur Dissertation enthielt § 90: „das eingereichte Specimen“ wird im Umlauf darauf geprüft, „ob der Kandidat darauf zur Prüfung zuzulassen sei oder nicht. Der Fakultät ist gestattet, jedoch nur in denjenigen Fällen, wenn sie für dies Geschäft ihrer Ueberzeugung nach in dem Augenblick nicht genügend besetzt ist, einen zu ihr gehörigen Professor ordinarius designatus oder Professor extraordinarius, der nicht mehr blos designatus ist, zu der Prüfung der Probeschriften mit seiner Bewilligung zuzuziehen, wofür jedoch keine Remuneration gegeben wird.“ Also eine formelle Pflicht, ein Gutachten zu erstatten und/oder für die Schrift einen Betreuer zu haben oder nachzuweisen, bestand nicht. Nach Mehrheitsabstimmung in der Fakultät konnte man, nachdem das von dem Promovenden eingereichte Specimen für ausreichend erklärt worden war, „vor der Zulassung zum mündlichen Examen eine schriftliche Prüfung anstellen, welche in der Aufgabe lateinisch zu erklärender Texte besteht. Die Texte werden aus dem römischen, kanonischen und deutschen Rechte gewählt, und jedes Mitglied, welches einen derselben gegeben hat, hat der Fakultät ein schriftliches Votum über diese Ausarbeitung vorzulegen.“ (§ 93) Die mündliche Prüfung fand statt, nachdem der Dekan „sämmtliche Mitglieder der Fakultät“ eingeladen hatte und den Kandidaten angewiesen hatte, sich denselben vorher persönlich vorzustellen (§ 94). Kein ordentliches Mitglied der Fakultät durfte ohne genügende Entschuldigung in der Sitzung fehlen. Den Ablauf dieses Examens regelte § 95: „In dem mündlichen Examen wird der Kandidat von allen ordentlichen in die Fakultät eingeführten Professoren in lateinischer Sprache der Anciennität nach geprüft, jedoch so, daß der Dekan den Beschluß macht. Über Gegenstände des deutschen, Natur- und Völkerrechts kann auch in deutscher Sprache examiniert werden.“ Auf dieses bestandene Examen folgte die „öffentliche Disputation in lateinischer Sprache, mit welcher der feierliche Akt der Promotion unmittelbar verbunden“ war (§ 98).

100

116.

Die Statuten der Juristischen Fakultät vom 29. Januar 1838, in: Daude (Fn. 98), 83–

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

27

Erst vor der Disputation musste „der Kandidat der Doktorwürde eine lateinische von der Fakultät zuvor gebilligte Dissertation, welcher ein auch das Religionsbekenntnis des Doktoranden anzeigendes Curriculum vitae beizufügen ist, vor der Promotionsfeierlichkeit auf seine Kosten drucken und durch die Fakultät an die Mitglieder des Ministeriums, an die Professoren der Universität und die übrigen besonders berechtigten Personen sowie an seine Opponenten vertheilen lassen;“ zusätzlich hatte „der Kandidat 150 Exemplare an die Universitäts-Registratur abzuliefern (. . .). Er disputiert über die Dissertation oder die ihr anzuhängenden, von dem Dekan vorher gebilligten Thesen, oder über beide.“ (§ 99) c) Die Doktorarbeiten aa) Staatsexamen Alles begann mit der Einführung der Staatsexamen. Die Juristen von den Universitäten waren ‚dem Staat‘ nicht mehr gut genug ausgebildet, um die Aufgaben der frühneuzeitlichen normengeleiteten Staaten zu erfüllen. Man verlangte standardisierte Vorbildung für die Universität, ein Minimum an Leistungsnachweisen auf der Universität und eine Abschlussprüfung.101 Durch Einführung des Staats-Examens nahm also der Staat den Universitäten das Exklusivrecht darüber weg, wer in den Staatsdienst kommen konnte und somit in Einkommen, Beruf und Status höhere Chancen haben sollte. Dieser Prozess ist Teil der ‚Verbürgerlichung des Ausbildungswesens‘. So etablierte sich Chancengleichheit basierend auf Leistungen, wie sie in Frankreich besonders intensiv nach dem Konkursprinzip durchgeführt wurde. bb) Promotion Nun war also das Staatsexamen die wirkliche Prüfung und die Doktorprüfung geriet in jene Zweiteilung, unter der sie noch heute ‚leidet‘: – Sie wurde einerseits zum Ausweis für qualifizierte Forschung, – andererseits diente sie in der Tradition seit der Rezeption des römischen Rechts zur Statuserhöhung. Aus diesem Grund konnte im 19. Jahrhundert eine anständige Doktorarbeit ausreichen, um als Professor berufen zu werden. 101

Hammerstein Vom Interesse des Staates. Graduierungen und Berechtigungswesen im 19. Jahrhundert, in: Schwinges (Fn. 59), 169–194, 173 ff. unter Bezugnahme auf Bengeser Doktorpromotionen in Deutschland, 1964, 22 und den grundlegenden Nipperdey Deutsche Geschichte 1800–1860, 1983, 470 ff.

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In Berlin studierten im Wintersemester 1909/1910 insgesamt 8.783 Studenten, davon 2.398 Jura.102 Im gesamten Rechnungsjahr 1909 gab es nur acht juristische Promotionen (im Sommersemester 1909 fünf und im Wintersemester 1909/10 drei an der Zahl).103 Ein Problem aller statistischen Erfassungen ist deren Vergleichsbasis. Nach unserer aus den Akten geschöpften Statistik der Dissertationen gab es vom 1.1.1909 bis 31.12.1909 neun Dissertationen und vom 1.1.1910 bis 31.12.1910 drei Dissertationen.104 In der Grundaussage ändert das nichts, denn es gab in Berlin offenbar nur wenige Promotionen. Dies insbesondere im Verhältnis zu manch anderer deutscher Universität: So promovierten in Erlangen bei 239 Jurastudenten 125, in Heidelberg bei 491 Jurastudenten 222.105 Promotionen der preußischen juristischen Fakultäten:106 Berlin

Bonn

Breslau

Göttingen

Greifswald

1887/88

7

1

2

41

0

1888/89

11

0

2

31

1

1889/90

14

2

5

21

2

1890/91

7

2

3

31

0

1891/92

10

2

2

45

6

Halle

Kiel

Königsberg

Marburg

1887/88

2

0

1

0

1888/89

1

0

1

3

1889/90

6

0

1

0

1890/91

5

1

1

2

1891/92

1

0

0

0

Promotionen der nichtpreußischen juristischen Fakultäten des Deutschen Reiches:107

102 Vgl. Chronik der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin für das Rechnungsjahr 1909, Jahrgang XXIII, 1910, 26. 103 Ebenda, 35. 104 Vgl. dazu zukünftig: Schröder/Kleibert/Klopsch (Fn. 1). 105 Zahlen entnommen: Boehm Akademische Grade, in: Schwinges (Fn. 59), 11–54, 30, die jedoch als Erfassungszeitraum die Jahre 1909/10 zugrunde legt, was wiederum zu dem Problem der unterschiedlichen Vergleichsbasis führt. Das Verhältnis der Zahlen ist allerdings aussagekräftig genug; ein derart außergewöhnliches Verhältnis findet sich auch für den Zeitraum 1918–1923 bei Klopsch (Fn. 8), 276 ff. 106 Lexis (Hrsg.) Die deutschen Universitäten, Erster Band, 1893, 419. 107 Lexis (Fn. 106), 419.

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Die Geschichte der Juristischen Fakultät

Erlangen

Freiburg

Giessen

Heidelberg

Jena

1887/88

3

1

2

89

81

1888/89

1

3

0

85

61

1889/90

5

1

0

102

66

1890/91

19

1

1

73

62

1891/92

36

1

1

79

62

München

Rostock

Strassburg

Tübingen

Würzburg

1887/88

9

1

3

4

3

1888/89

8

3

6

3

0

1889/90

5

1

5

3

1

1890/91

2

5

7

1

4

1891/92

4

1

6

7

7

Diese Divergenzen in den Promotionsquoten und die sehr unterschiedlichen Qualifikationserfordernisse riefen Polemiken hervor, vor allem von Theodor Mommsen gegen die Pseudodoktoren im Jahr 1876. Er schrieb gegen die „unredliche Fabrikationen gelehrter Titel, die einen Makel auf die Nation selbst geworfen hat“. Dadurch wurde eine Reformdebatte losgetreten.108 Frauenpromotionen Die erste deutsche Juristin, die promovierte, war Anita Augspurg (1897/ 98),109 wenn auch in Zürich. Hanna Katz war die erste in Berlin promovierte Juristin (1921).110 Die Zunahme von Promotionen im 19. Jahrhundert besonders an anderen Universitäten hing mit der beruflichen Konkurrenz zusammen. Kandidaten versuchten damals – wie heute – über die Masse der Examinierten hinauszuragen, unabhängig davon, ob es um einen Wettbewerb für Stellen im Staats-

108 Mommsen Die Promotionsreform, Preußische Jahrbücher 37 (1876) 335–352; vgl. vor allem: Schwinges (Fn. 59); zur Promotion in Abwesenheit, der sog. „promotio in absentia“ vgl. darin: Boehm (Fn. 105), 11 und 30; diese bezieht sich u.a. auf: Oberbreyer Die Reform der Doktorpromotion. Statistische Beiträge3, 1878, 6 ff. 109 Augspurg Ueber die Entstehung und Praxis der Volksvertretung in England, 1898; vgl. Boehm (Fn. 105), 32. 110 Katz Lücken im Arbeitsvertrage. Ein Beitrag zur Frage des persönlichen Geltungsbereiches der Tarifnormen (Katz promovierte 1921 bei Rudolf Stammler), Dissertation hrsg. unter dem Titel: Lücken im Arbeitsvertrage. Ein Beitrag zur Lehre vom Wesen des Tarifvertrages unter Berücksichtigung der Tarifbewegung im In- und Auslande, 1922; zum Leben von Hanna Katz (1895–1982) vgl.: Bundesrechtsanwaltskammer (Hrsg.) Anwalt ohne Recht – Schicksale jüdischer Anwälte in Deutschland nach 1933, 2007, 390 f.

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dienst oder in der Advokatur ging, die freilich erst ab 1873 zur freien Advokatur wurde.111 Die Dissertation, die nicht pro venia, sondern pro statu geschrieben wurde, entwickelte sich an vielen Universitäten zu einer reinen Formalie. In manchen Universitäten konnte man sogar in absentia promovieren. Berühmt hierfür waren Jena und Göttingen, weil – wie Hammerstein schreibt – „deren Professoren in Ermangelung eines ausreichenden Unterhalts von solchen Einnahmen zum Teil leben mussten.“112 Die Universitäten wie München und Berlin, in denen die Professoren besser bezahlt wurden, lehnten derartige Praktiken ab und hielten bei den formlosen Promotionen dagegen. „Wichtiger Bestandteil des damit verbundenen Standesdenkens war eine elaborierte Hierarchie von Titeln, und zwar jetzt in der Gestalt von Amtsbezeichnungen mit den darauf bezogenen Anredeformen, deren Geltungsmacht sich an die älteren Bestände adeliger, höfischer und militärischer Ränge anschloss.“113 Das galt auch während des gesamten Zweiten Kaiserreichs, wo Bürger durch militärische Ränge, Orden und Ehrentitel an den unzeitgemäß adelsdominierten Staat herangezogen wurden. Die Promotion hob den Promovierten aus der Masse der Akademiker heraus. Sie war Ausweis eigener Leistung. „Die Verknüpfung von ‚Bildungspatent‘ und ‚Beruf‘ im ‚Berechtigungswesen‘ kann als soziale Innovation von großer Tragweite eingestuft werden.“114 Es ging darum, den Parameter Bildung berechenbar zu machen. Spätestens in der Mitte des 19. Jahrhunderts büßte der akademische Grad Dr. seine berufsqualifizierende Funktion fast vollständig ein.115 Das Promotionsrecht und das Promotionsverfahren gingen prinzipiell „ungeschmälert aus der Vormodernen in die moderne, das heißt etatistisch überformte Universität über“.116 Die Promotion war teuer.117 Die Gebühren flossen den Professoren zu. „Bei hohen Promotionszahlen bildeten diese Gebühren für die Ordinarien 111

Gneist Freie Advocatur. Die erste Forderung aller Justizreform in Preussen, 1867. Hammerstein (Fn. 101), 185. 113 Brandt (Fn. 59), 625, 627 f. 114 Lundgreen (Fn. 84), 354. 115 vom Bruch Akademische Abschlüsse im 20. Jahrhundert, in: Schwinges (Fn. 59), 195–210, 201; in abgeschwächter Form gab es diese Form noch in Österreich/Innsbruck, wo man gleichfalls lediglich durch mündliche Prüfung promovieren konnte; der alte Juristenscherz über die Zugansage im D-Zug von Deutschland nach Innsbruck lautete: „Innsbruck, alles aussteigen, Doktormachen, der Zug fährt in einer Viertelstunde wieder zurück.“ 116 Brandt (Fn. 59), 631. 117 Vgl. § 115 der Statuten der Juristischen Fakultät vom 29. Januar 1838, zit. nach Daude (Fn. 98): „Sonst werden an Gebühren für den Doktorgrad Einhundert Thaler in Golde 112

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

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einen ansehnlichen Nebenverdienst, der ihr Einkommen an kleineren Universitäten bei ihren oft dürftigen Gehältern und Hörgeldeinnahmen erheblich aufbesserte. In diesem Sachverhalt lag eine wesentliche institutionelle Ursache für Mißstände“ wie der Promotion in absentia.118 Es gab eben Universitäten wie Heidelberg, Leipzig, Erlangen, Gießen und Freiburg, welche neben Jena und Göttingen teilweise die Promotion in Abwesenheit und ohne Dissertation ermöglichten. Das führte zu einem erheblichen Anstieg der Promotionen an diesen Universitäten und zu dem, was man schon damals Promotionstourismus nannte. Heftige Kritik gegen die Promotion in absentia erfolgte 1876 auch durch Theodor Mommsen: „Die Mißwirthschaft, wie sie noch heutzutage in Jena, Heidelberg, Gießen, Freiburg besteht, hat es so weit gebracht, daß der German Doctor in England zum Beiwort geworden ist und die von nicht wenigen deutschen Universitäten betriebene unredliche Fabrikation gelehrter Titel einen Makel auf die Nation selbst geworfen hat, die ihre Nachbaren wohl halb spöttisch, halb neidisch als die gelehrte bezeichnen.“119 Auch damit wurde die gelehrte Berliner Anstalt zu einem Gegenentwurf zu den Leichtpromotionen. 3. Habilitationen an der Fakultät Das Profil der Habilitationsleistungen blieb letztlich im ganzen Jahrhundert unscharf. Es handelte sich am Anfang um ein Kooptationsverfahren mit Prüfungscharakter und später um den Zwang zu wissenschaftlichen Neuerungen und Neuerfindungen.120 a) Rechtliche Voraussetzung der Habilitationen Direkt nach der Gründung galt ein provisorisches Reglement, das „zur Erlangung der Lehrbefugnis nur zwei Leistungen vorsah: einen vor der Fakultät in lateinischer Sprache zu haltenden Vortrag und eine öffentlich, nunmehr in deutscher Sprache abzuhaltende, Probevorlesung – jeweils über zwei von der Fakultät gestellte Themen.“121 zu Händen des Dekans entrichtet (. . .), und außerdem 5 Rthlr. Cour. an die UniversitätsBibliothek. (. . .) Außerdem können die Kosten (. . .) nur mit Einwilligung aller Fakultätsmitglieder bei ausgewiesener Dürftigkeit des Kandidaten ermäßigt oder erlassen werden (. . .).“ 118 Brandt (Fn. 59), 632 unter Berufung auf Waentig Zur Reform der deutschen Universitäten, 1911. 119 Mommsen (Fn. 108), 350 f.; vgl. außerdem: Rasche Geschichte der Promotion in absentia. Eine Studie zum Modernisierungsprozess der deutschen Universität im 18. und 19. Jahrhundert, in: Schwinges (Fn. 59), 275–351. 120 Brandt (Fn. 59), 631. 121 Kraus (Fn. 7), 251.

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Die Nostrifizierung, wie der Vorläufer der Habilitation genannt wurde, regelten dann die Statuten der Universität vom 31. Oktober 1816.122 „Privatdozenten müssen sich in der Fakultät, in welcher sie lesen wollen, habilitieren, und haben hierbei zugleich mit der Meldung zur Habilitation die Fächer anzuzeigen, über welche sie Vorlesungen zu halten gesonnen sind. Nur in Bezug auf diese erhalten sie die Erlaubnis zu lesen. Zur Habilitation können sich nur solche melden, welche den Doktorgrad . . . haben. Die Habilitation geschieht durch eine öffentliche Vorlesung in freiem Vortrag über ein Thema, welches von der Fakultät aufgegeben oder mit Beistimmung derselben von dem Aspiranten gewählt wird, nachdem die Fakultät vorher auf die in den Reglements bestimmte Art sich von der Fähigkeit des Aspiranten vergewissert hat.“ Die Habilitationsvoraussetzungen wurden ab 1838 genauer festgelegt:123 „Wer bei der Fakultät als Privatdocent Vorlesungen halten will, muß sich bei derselben habilitieren (§ 43). Zur Habilitation wird niemand zugelassen, als wer den juristischen Doktorgrad auf einer inländischen Universität rite erworben hat.“ (§ 55) Nach § 56 musste der Nachsuchende in einem lateinischen Schreiben (ab 1876 auch in deutscher Sprache) bei der Fakultät um die Zulassung zur Habilitation anhalten. Es war beizufügen: 1. Der Nachweis der Promotion. 2. „Ein Curriculum vitae in lateinischer Sprache. 3. Eine geschriebene oder gedruckte Abhandlung aus jedem der Hauptfächer über welcher er zu lesen gedenkt in lateinischer oder auch in deutscher Sprache.“ Diese Schrift durfte nicht die Doktordissertation sein. Die Fakultät musste sich dann davon überzeugen, „daß dem genügt sei, was zur regelmäßigen Erlangung des Doktorgrades erforderlich ist.“ Es wurden zwei Kommissarien gewählt durch geheime Abstimmung mit absoluter Stimmenmehrheit, „denen die genaue Prüfung der eingereichten Probeschriften obliegt.“ (§ 57) Das sollten in der Regel Ordinarien sein, Extraordinarien nur ausnahmsweise. Die Prüfungsfrist für die Schriften betrug 14 Tage. Ein „motiviertes Urtheil“ über die Probeschriften war schriftlich abzugeben, „woraus erhält, in welchem Grade der Aspirant in RückAbschnitt VIII, § 4 der Statuten der Juristischen Fakultät vom 31. Oktober 1816, u.a. in: Daude (Fn. 98), 7–45. 123 Die Statuten der Juristischen Fakultät vom 29. Januar 1838 u.a. in: Daude (Fn. 98), 83–116. 122

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sicht auf Gelehrsamkeit sowohl als auf den Geist ausgezeichnet zu nennen ist.“ Sodann folgte der Fakultätsumlauf, und um nach dem Beschluss (§ 58) „den Ansuchenden zur Habilitation zuzulassen, (. . .) muß(te) derselbe eine Probevorlesung, in der Regel in deutscher Sprache, über ein von der Fakultät aufgegebenes oder von dem Ansuchenden mit ihrer Beistimmung gewähltes Thema vor der versammelten Fakultät halten.“ Der Gebrauch der lateinischen Sprache stand dem Aspiranten frei. Ab 1876 war die Vorlesung stets auf deutsch zu halten. Hierfür wurde eine Frist von 4 Wochen gewährt, nachdem das Thema mitgeteilt worden war. Nach der Probevorlesung wurde darüber „ein Colloquium gehalten, welches in der Regel der Professor, in dessen Hauptfach die Vorlesung gehört, anfängt, an welchem aber auch jedes andere Mitglied der Fakultät Theil nehmen kann.“ Nach Fakultätsbeschluss „so hat der angenommene Privatdocent eine öffentliche Vorlesung in lateinischer Sprache (1876 deutsch) über ein Thema“ welches die Fakultät bestimmte, zu halten. b) Nostrifizierung Die Habilitation sei „in Umrissen – und entsprechend unsicher – im Allgemeinen ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anzutreffen.“124 Allgemein wurde die Verleihung der venia legendi (docendi) statuarisch zunehmend an eine weitere Prüfung, eben die Habilitation gebunden.125 In der Berliner Universität und andernorts wurde diese Habilitation anfangs auch in den Akten „Nostrifizierung“ genannt. Man machte also einen promovierten Juristen – in der Regel ohne eine Habilschrift, manchmal sogar ohne eine Dissertationsschrift – zu einem der ‚unseren‘. Die Promotion war unabdingbare Voraussetzung für die Habilitation. In Berlin war weiter Voraussetzung erstens die Darstellung einer Aufgabe etwa aus dem Corpus Iuris vor der Fakultät durch Vortrag in lateinischer Sprache und zweitens ein öffentlicher deutscher Vortrag über ein gleichfalls von der Fakultät gestelltes Thema. Daher findet man zu Beginn der Fakultät auch keine Habilitationsschriften in den Akten. Üblicherweise genügte ja die Promotion aufgrund einer Dissertation, um – mit den genannten Zusatzqualifikationen – die Lehrtätigkeit an der hiesigen Fakultät zu erreichen. Da man an der FriedrichWilhelms-Universität – wie man an der geringen Zahl unschwer erkennt – den Nachwuchs für die Hochschullaufbahn aus den hier Promovierten rekrutierte, fanden sich hohe Voraussetzungen schon für die Promotion. Die Promotion sollte an dieser Universität also nicht pro gradu, sondern pro ve-

124 125

Hammerstein (Fn. 101), 176. Hammerstein (Fn. 101), 176.

34

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nia erfolgen. Es ist daher kein Zufall, dass ein erheblicher Teil der in frühen Zeiten Promovierten die Hochschullaufbahn – nicht selten an der Berliner Fakultät – einschlug. Dies taten dreizehn der fünfzehn Personen, die vor 1830 von der Fakultät promoviert wurden, darunter die späteren Berliner Ordinarien Johann Goeschen, Clemens Klenze, Karl Homeyer und Adolf Rudorff. Zusammen mit den späteren Privatdozenten August Barkow, Adolf Laspeyres und Friedrich Backe blieb also etwa die Hälfte der ersten Promovierten der Fakultät erhalten. Das Promotionsverfahren hatte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts – zumindest an der Berliner Fakultät – deutlich verändert. Im 18. Jahrhundert galt die Disputatio als das wichtigste. Es galt „die möglichst formvollendete Beherrschung eines je spezifischen Teils des gesicherten Wissenskosmos darzulegen“.126 „. . . Die Wissenschaft wurde handwerksmäßig gelernt und betrieben, und die wissenschaftliche Fertigkeit zeigte sich im Disputieren. Eine öffentliche Disputation gehörte also zum akademischen Gesellen- und Meisterstück.“127 Die Berliner Gründung und das neue Wissenschaftsideal eröffneten eine neue Phase des Wissenschaftsverständnisses. „Erst jetzt konnte der moderne Begriff der Forschung, des Forschens als integraler Teil wissenschaftlicher Tätigkeit entstehen und sich ausbilden.“128 Hammerstein führt überzeugend aus: Schon Schleiermacher habe die „scholastische Form der Disputationen“ kritisiert. Es sei die „am meisten veraltete(n) Partie unserer Universitäten“. Sie sei zu einem „leeren Spiegelgefecht geworden“, letztlich Satire. Hier spielten Humboldts neue Konzepte eine Rolle.129 Die sich einbürgernde Habilitation hängt mit dieser Doppelfunktion der Promotion zusammen, weil man eben nicht mehr sicher sein konnte, dass die Promotion den erfolgreichen Nachweis über wissenschaftliche Qualifikation erbracht hatte, besonders wenn es um auswärtige Doktoren ging. Daher ist der Begriff „Nostrifizierung“ nicht nur schön, sondern auch sprechend. Die zwei Berliner Prüfungsvorträge werden ausgereicht haben, um sich von der Qualität eines Doktors zu überzeugen. „Sie [die Habilitation, Anm. d. Verf.] hob ihren Träger über die anderen (examinierten) Akademiker hinaus, schien ein höheres Wissen und Können 126

Hammerstein (Fn. 101), 178. Horn Die Disputationen und Promotionen an den deutschen Universitäten, vornehmlich seit dem 16. Jahrhundert (11. Beiheft zum Centralblatt für Bibliothekswesen), 1893, 2; Hammerstein (Fn. 101) bezieht sich zentral auf diesen Gedanken. 128 Hammerstein (Fn. 101), 178. 129 Zum neuen Wissenschaftsideal: Humboldt Ueber die innere und äußere Organisation der Höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: Flitner/Giel (Hrsg.) Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden, Band IV, 1964, 255–266, 257 f. 127

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

35

anzuzeigen und konnte gelegentlich bessere Karriere- oder Berufschancen eröffnen.“130 c) Liste aller Habilitierten Die Gesamtschau der Habilitierten von 1810 bis 1945 zeigt die Zunahme der Habilitationen: Jahr

Habilitierte

Jahr

Habilitierte

1811

Karl Mehring, Friedrich Reinicke, Johann Goeschen

1879



1812



1880



1813



1881



1814



1882

Conrad Cosack

1815



1883

Hugo Sachsse

1816



1884

Karl Lepa

1817

August Barkow

1885

Otto Gradenwitz, Karl Lehmann

1818



1886

Friedrich Endemann

1819

Wilhelm Roßberger, Moritz von Bethmann-Hollweg, Karl von Lancizolle, Christian Steltzer

1887

Karl Zeumer, Konrad Bornhak

1820

Clemens Klenze

1889

Hugo Preuß

1821

Karl Caplick, Karl Homeyer

1889

Philipp Heck

1822



1890

Johannes Biermann, Karl Dickel

1823



1891

Paul Heilborn, Rudolf Hübner

1824



1892

Max Weber

1825

Adolf Laspeyres, Adolf Rudorff, Friedrich Backe

1892

Paul Oertmann

1826

George Phillips, Eduard Böcking

1893

Ludwig Laß

1827

Karl Pütter

1894

Johannes Burchard, Wilhelm Kaufmann

1828



1895

Emil Seckel

1829



1896

Gerhard Anschütz

130

Hammerstein (Fn. 101), 182.

36 Jahr

Rainer Schröder

Habilitierte

Jahr

Habilitierte

1830



1897

Walter Immerwahr

1831



1898

Johann Schwartz, Wilhelm Kaufmann

1832



1899



1833

Otto Göschen, Franz von Woringen

1900

Hermann Fürstenau, Ernst von Moeller, Martin Wolff

1834

Julius Kohlstock

1901

James Goldschmidt, KarlTheodor Kipp, Wilhelm von Seeler

1835



1902

Karl Neubecker

1836

Friedrich Eduard Schmidt, Carl Schneider

1903

August Egger

1837

Julius Collmann

1904



1838

Hermann Wasserschleben

1905

Otto Köbner, Herbert Krüger

1839

Karl Häberlin, Rudolf von Gneist

1906

Karl Klee

1840

Ludwig Heydemann

1907



1841



1908



1842

Karl von Richthofen

1909

Ernst Delaquis, Georg Kuttner

1843

Rudolf von Jhering

1910



1844

Albert Berner

1911

Harald Gutherz

1845



1912

Marshall Fritz von Bieberstein

1846



1913

Walter Kaskel, Karl Kormann, Ludwig Waldecker

1847



1914

Johannes Helfritz, Ernst Levy, Arthur Nußbaum

1848



1915



1849



1916



1850

Johannes Merkel

1917

Franz Sorbernheim

1851



1918



1852



1919



1853



1920

Gerhard Lassar, Eberhard Schmidt

1854



1921



Die Geschichte der Juristischen Fakultät

Jahr

Habilitierte

Jahr

37

Habilitierte

1855

(Wilhelm) Martens

1922

Erich Genzmer

1856

Herbert Pernice

1923

Hans Dölle, Friedrich Glum, Johannes Heckel

1857

Franz von Holtzendorff

1924

Hermann Mannheim

1858

Karl Wieding, Friedrich Kühns

1925



1859

Leonhard Jacobi, Wilhelm Bornemann, Richard Dove, Paul Hinschius

1926



1860

Julius Baron, Hermann Witte

1927

Friedrich Karl Kipp

1861

Karl Heinrich Degenkolb

1928

Gerhard Leibholz

1862

Alphons Rivier, Emil Friedberg

1929

Walter Hallstein, Helmut Rühl

1863



1930

Ulrich Scheuner

1864

William Lewis, Alfred Boretius, Paul Krüger, Jakob Behrend

1931

Siegfried Reicke, Max Rheinstein, Adolf Schüle

1865

Bernhard Hübler

1932

Eduard Wahl

1866

Ludwig von Meier, Richard Ryck, Ernst Eck

1933

Wilhelm Gallas, Reinhold Hornheffer

1867

Otto von Gierke

1934



1868



1935

Erich Schinnerer, Georg Maier, Herbert Meyer, Ludwig Raiser, Adolf Schönke

1869



1936

Friedrich Schack, Arwed Blomeyer, Herbert Krüger

1870

Ernst Rubo

1937

Hermann Raschhofer

1871



1938

Paul Bockelmann, Georg Daskalakis

1872



1939

Hans Franzen, Herbert Lemmel, Dieter Pleimes, Christian-Ulrich Freiherr von Ulmenstein

1873



1940

Walter Erbe

1874



1941



1875

Alexander Franken

1942

Hans Merkel

1876



1943

Roger Diener, Georg Hahn, Rudolf SuthoffGross

38

Rainer Schröder

Jahr

Habilitierte

Jahr

Habilitierte

1877



1944



1878

Karl Bernstein, Rudolf Leonhard

1945



d) Wissenschaft als Promotions- und Habilitationsvoraussetzung Während die Professionalisierung über die Staatsexamen erfolgte, lief die Statuserhöhung an den Universitäten für die staatsexaminierten Juristen über die Promotion. Während hingegen die Berufsqualifikation als Wissenschaftler zunächst über eine ‚anständige‘ Promotion, dann aber die Habilitation ging. Da die Habilitation also zunehmend der Ausweis wissenschaftlicher Qualifikation und nicht einer bloßen Beherrschung des Stoffes und einer Lehrbefähigung (wie in den zwei Prüfungen in Berlin im frühen 19. Jahrhundert) war, konnte etwa Wehler für die Universitätsreformen nach 1850 resümieren: „Die Tendenz, dass die anerkannte wissenschaftliche Leistung immer wichtiger wurde als der Lehrerfolg, nahm an Bedeutung zu (. . ). Der Imperativ origineller Forschung und die Akkumulation neuen Wissens verdrängte“ andere Kriterien. Die neuhumanistische Universität habe ihre wissenschaftlichen Ansprüche mit dem Gelehrtentypus des Privatdozenten verbunden und habe auf diese Art und Weise ihre bewunderte Leistungsfähigkeit gesteigert.131 „Im Gefolge der Industrialisierung wuchs indes die Spannung zwischen spezialisierender Theoriebildung von Universitäts-Disziplinen und Akademisierungs-Druck praktischer Berufszweige. Deren Verwissenschaftlichung, meist im Zusammenhang mit Fortschritten technischer und naturwissenschaftlicher Verfahren, wurde zur Herausforderung für die sogenannte Humboldt’sche Idee der ‚reinen Wissenschaft‘. Interdependenzen zwischen akademischer- und außer-akademischer Berufswelt erforderten wissenschaftsmethodische wie auch berufsständische Erweiterungen und Durchlässigkeit der Qualifikationssysteme.“132 Die Berliner Ordnung von 1816 galt also als stilbildend. Bindung an den Doktorvater Doktor- und Habilitationsväter gab es nicht. Man wollte personale Bindungen vermeiden, denn solche könnten zu sachfremden Erwägungen füh131 Wehler Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Zweiter Band, Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/49, 1987, 517 f.; Hammerstein (Fn. 101), 187. 132 Unter Bezugnahme auf vom Bruch Langsamer Abschied von Humboldt? Etappen deutscher Universitätsgeschichte 1810–1945, in: Ash (Hrsg.) Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, 1999, 29–57.

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

39

ren, wenn es um Zulassung oder Ablehnung von wissenschaftlichen Arbeiten ging. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts beriet der Hochschullehrertag besorgt darüber, ob die personale Bindung nicht die Selbständigkeit der Leistung gefährde.133 Das ist heute anders und in vielen Fächern umstritten. e) Staatstreue Die Privatdozenten mussten auf Staatstreue verpflichtet werden. „Privatdozenten werden auf den Universitäten nur zugelassen, wenn sie mindestens die für die Kandidaten des Öffentlichen Dienstes in dem erwählten Fache vorgeschriebene Prüfung, und diese mit Auszeichnung bestanden haben“.134 Die Wiener Ministerkonferenzen versuchten im Schlussprotokoll die Habilitanden auf Staatstreue zu verpflichten.135 Nach Karlsbad136 wollten die restaurativen Staaten sowohl Presse als auch Universitäten unter die Kontrolle des Staates stellen. In den Universitäten wurden außerordentliche Regierungsbevollmächtigte eingesetzt. Ihre Aufgabe bestand darin, „über die strengste Vollziehung der bestehenden Gesetze und Disziplinarvorschriften zu wachen“, insbesondere auch darin „den Geist in welchem die akademischen Lehrer bei ihren öffentlichen und Privatvorträgen verfahren, sorgfältig zu beobachten und demselben, jedoch ohne unmittelbare Einmischung in das Wissenschaftliche und die Lehrmethode, eine heilsame auf die künftige Bestimmung der Jugend berechnete Richtung zu geben.“137 Daneben sollten die Regierungsbevollmächtigten auch „den herrschenden Geist und den Ton der Studirenden fortwährend beobachten und selbst Einfluß darauf zu gewinnen suchen.“138 In Preußen hatte folglich der Kurator die Zulassung zu einer Habilitation zu genehmigen und zu erteilen.139 Die Angst vor politisch missliebigen akademischen Lehrern zeigte sich mehrfach. Am deutlichsten etwa bei Gans, aber auch bei Gneist und Beseler, die beide länger als zu ihrer Zeit üblich auf Professuren warten mussten.140 133 Hammerstein (Fn. 101), 190, unter Bezugnahme auf Schmeiser Akademischer Hasard. Das Berufsschicksal des Professors und das Schicksal der deutschen Universität 1870–1920, 1994, 37. 134 Art. 39 des Schlussprotokoll der Wiener Ministerkonferenzen, abgedruckt in: Huber (Hrsg.) Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Band 1, Deutsche Verfassungsdokumente 1803–1850, 1961, 130. 135 Hammerstein (Fn. 101), 189; Huber (Fn. 134). 136 Spranger Das Wesen der deutschen Universität, in: Doeberl u.a. (Hrsg.) Das akademische Deutschland, Band III, 1930, 1–38, 28; Nachweis darüber bei Klopsch (Fn. 8), 43. 137 Aus Art. 1 und Art. 2 der Preußischen Universitäts-Verordnung vom 18. November 1819, abgedruckt in: Huber (Fn. 134), 99–102. 138 Aus Art. 3 der in Fn. 137 genannten Verordnung. 139 Daude Die Rechtsverhältnisse der Privatdozenten, 1896, 7. 140 Vgl. Kern (Fn. 68), 33 und Hahn (Fn. 22), 9.

40

Rainer Schröder

Die Reichshabilitationsordnung von 1934 in der Neufassung von 1939 trennte zwischen der Fakultätsfeststellung der „Lehrbefähigung“ als Grad des Dr. habil. (habilitatus) und staatlicher Zuerkennung der „Lehrbefugnis“ (verbunden mit Diäten-Dozentur nach Zusatzleistungen wie öffentliche Lehrprobe und Teilnahme am Schulungskurs im Reichsdozentenlager). f) Skurriles Eine der schönsten Militär- eigentlich Anti-Militärkarikaturen des Simplizissimus zeigt einen Privatdozenten, der sich vertraulich zu einem Leutnant hinüberbeugt und mit diesem Gemeinsamkeiten in den Karrierehindernissen bzw. -chancen diskutiert:141 „Ja, Herr Leutnant, jeder Beruf hat seinen kitzligen Punkt! Sie haben die Majorsecke142 und wir Privatdozenten haben die Professorentöchter.“ Gneist heiratete 1847 Marie Boeckh, die Tochter des berühmten Berliner Altertumswissenschaftlers August Boeckh. Hübler heiratete die Tochter von Hinschius. Gierke heiratete 1873 Lili Loening, Schwester zweier bekannter Professoren der Jurisprudenz. Bekannt wurde Oertmann, der mit seiner Lehre von der Geschäftsgrundlage143 nicht nur Windscheids Lehre von der Voraussetzung144 fortsetzte, sondern der auch sein stolzer Schwiegersohn wurde. „Eine geborene Windscheid ist kein Weib.“145 4. Fakultät als Spruchkollegium In der Tradition der frühneuzeitlichen Fakultäten war auch die Berliner als Spruchkollegium tätig.146 Es wurden Akten von Gerichten an die Fakul141 Eduard Thöny im Simplicissimus 1910, abgedruckt in: Lentz Vom Kadetten zum General. Das Militär in der Karikatur, 1980, 63. 142 Es handelte sich um einen verbreiteten Begriff, der die kritische Zeit vor der Beförderung des Hauptmanns zum Major bezeichnete. Der Ausdruck stammt wahrscheinlich vom Abgeordneten Dr. Wilhelm Loewe, der einmal im preußischen Abgeordnetenhaus die Worte gebrauchte: „Es weht ein scharfer Wind an der preußischen Majorsecke“, weil nach seiner Meinung die Stellen im Heer vom Major aufwärts ausschließlich von Adeligen besetzt würden. Im 1873 erschienenen Lustspiel von Ernst Wichert „An der Majorsecke“ heißt es: „Der älteste Hauptmann steht immer an der Majorsecke, und da weht eben ein scharfer Wind, der manches umwirft.“ 143 Oertmann Die Geschäftsgrundlage. Ein neuer Rechtsbegriff, 1921. 144 Windscheid Die Lehre des römischen Rechts von der Voraussetzung, 1850. 145 In einer verschiedentlich mitgeteilten Anekdote soll ein Erlanger Fakultätskollege gefragt haben: „Nehmen wir die Weiber mit zum Fakultätsausflug?“ Und der wenig um Bonmots verlegene Oertmann soll so geantwortet haben. 146 Conring Artikel Spruchtätigkeit (der Fakultäten), in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, IV. Band, 1990, Sp. 1787–1791.

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

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täten abgegeben, die mit wissenschaftlicher Autorität in der Sache entschieden. Nach dem Verbot der Aktenversendung in Preußen 1746 verlor die Spruchtätigkeit zunehmend an Bedeutung. Unterschätzen darf man auch in der Anfangszeit des Spruchkollegiums147 den Arbeitsaufwand (und die erfreulichen Einnahmen) nicht. Im Vergleich zu z.B. Göttingen und Halle148 hielt sich der Aufwand aber in überschaubaren Grenzen. Die Jahre mit den meisten Neueingängen waren 1846 mit 84, 1849 mit 97 und 1850 mit 109 Eingängen.149 Die Materien, die hier verhandelt wurden, betrafen gemeines Privat- und Zivilprozessrecht, aber auch Privatfürstenrecht, eine Materie, bei der es durchaus politische Einflüsse gab. Nach Artikel 12 der Bundesakte von 1815 war die Aktenversendung (bis 1848) nur noch in Zivilsachen zulässig.150 Spruchkollegium der Juristischen Fakultät von – bis

anhängige Sachen

1811–1820

539

1821–1830

346

1831–1840

398

1841–1850

696

1851–1860

640

1861–1870

378

1871–1880

139

1881–1893

15

5. Lehre a) Rechtsregeln Nach § 40 der Statuten von 1838 war die Fakultät verpflichtet, „für die Vollständigkeit des Unterrichts in ihrem Gebiete“ in der Weise zu sorgen, „daß jeder, der drei volle aufeinander folgende Jahre dem Studium der 147 Dies hatte seine Arbeit am 11. Juli 1811 aufgenommen, vgl. Lenz (Fn. 39), Dritter Band, 1910, 452, 456. 148 In Göttingen gingen in den Jahren zwischen 1811 bis 1820 im Jahresdurchschnitt 160, in Halle 129 und in Berlin 54 Akten ein, vgl. dazu Jammers Die Heidelberger Juristenfakultät im neunzehnten Jahrhundert als Spruchkollegium, 1964, 179; einen kurzen Überblick über die Geschichte der Aktenversendung gibt Pätzold Die Marburger Juristenfakultät als Spruchkollegium, 1965, 11–15. 149 Lenz (Fn. 147), 465; Klugkist Die Göttinger Juristenfakultät als Spruchkollegium (mit einer Einführung von Hans Fehr und einem Abdruck des Fakultätsstatuten von 1737), 1951. 150 Mit § 16 GVG von 1877 wurden Sondergerichte verboten.

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Rechtswissenschaft auf der Universität obliegt, Gelegenheit haben muss, über alle Hauptdisciplinen derselben Vorlesungen wenigstens zu zweien Malen zu hören.“ Hauptdisziplinen waren: „Juristische Encyklopädie, Methodologie und Litterargeschichte, Naturrecht, römisches Recht, deutsches Privatrecht, Staatsrecht und Kirchenrecht, Kriminalrecht, preußisches Recht, europäisches Völkerrecht, Kriminal- und Zivilprozeß, und die Anleitungen zur Rechtspraxis.“151 Nach § 44 der Statuten bestanden für die Hauptfächer der Fakultät „sechs ordentliche Nominalprofessuren, und zwar: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

für die Institutionen des römischen Rechts, für die Pandekten, für das Kirchenrecht, für das europäische Staats- und Völkerrecht, für das deutsche Privatrecht und für das Kriminalrecht.“

Zum Status der Professoren: „Die Professuren, für die im § 40 als Hauptdisciplinen bezeichneten Fächer, sowie für Lehnrecht, Handelsrecht, deutsche und ausländische Partikularrechte, werden mit einem der nächst verwandten Fächer verbunden.“ § 45: „Ein jeder zu der Fakultät gehörige Professor ist berechtigt, über alle in das Gebiet derselben einschlagenden Fächer Vorlesungen zu halten.“ Nach § 47 gab es kein Exklusivrecht für bestimmte Fächer. b) Studium Die Titel der Vorlesungen kennen wir. Die Inhalte von Vorlesungen erschließen sich so nicht zuverlässig.152 Man weiß auch nicht sicher, ob und zu welchen Vorlesungen die Studenten gingen. Denn wer etwa aus dem heutigen überbordenden Programm der Fakultät darauf schließen würde, die Studenten hätten das alles gehört und gelernt, der täuscht sich gewaltig und so war es immer . . . Da das Examen der Juristen in den letzten 200 Jahren in Preußen ein Staatsexamen war,153 fand die Frage, wie wissenschaftlich man studieren müsse, ihre Erdung in der Prüfung: Wer prüfte dort welche Gegenstände (wie)? Die fehlende Einheit von Gelehrtem und Geprüftem bildet damals 151 152

Die Statuten der Juristischen Fakultät vom 29. Januar 1838. In den von Rückert hrsg. Savignyana finden sich Vorlesungsnachschriften des Meis-

ters. 153

Ebert (Fn. 12), z.B. 20 ff.

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

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wie heute ein Problem. Die modernen Repetitoren verdanken dieser Diskrepanz zum Teil ihre Existenz.154 Schon früh wurden ‚Übungen‘ angeboten: Im Sommersemester 1825 von Klenze, Roßberger und Laspeyres. Allein, sie fanden keine Hörer!155 Ob das an den Dozenten lag oder an der Terminierung, ist nicht sicher. Wahrscheinlich hielt man die Veranstaltung im Gegensatz zur heutigen Zeit für nicht ‚examensrelevant‘. Erst durch eine neue Prüfungsordnung vom Jahre 1897 änderte sich dies; denn drei erfolgreich abgelegte exegetische und praktische Übungen mit schriftlichen Arbeiten wurden seinerzeit zur Zulassungsvoraussetzung der ersten juristischen Staatsprüfung.156 Schon zum Wintersemester 1875 war allerdings das juristische Seminar gegründet worden, welches eher einen kleinen, besonders begabten Kreis von Studenten ansprechen wollte. Es verfolgte den Zweck, „Studierenden der Rechte durch exegetische, historische und dogmatische Übungen eine Anleitung zu eigenen Arbeiten zu geben und sie dadurch zu selbständigen wissenschaftlichen Forschungen vorzubereiten“.157 Es bestand aus drei Abteilungen, derjenigen für römisches, deutsches und kanonisches Recht. Das Arbeitsgebiet des römischen Rechts wurde zunächst von Bruns und Brunner geleitet, gefolgt von Pernice und Eck, diese wiederum abgelöst durch Kipp, Seckel und Hellwig. Ab 1878 war Beseler geschäftsführender Direktor der germanistischen Abteilung, welche ab diesem Zeitpunkt „besonderes Seminar für deutsches Recht“ hieß;158 Brunner und Gierke waren hier Mitdirektoren. Die kirchenrechtlichen Übungen hielten Hinschius und Hübler, seit dem Wintersemester 1900/01 ergänzt durch Kahl. Erst im Jahre 1908 wurde das juristische Seminar um eine Bibliothek für sämtliche Studierende mit festem Etat erweitert, so dass ab diesem Zeitpunkt die Ziele der „Förderung gelehrter Forschung“ sowie die „bessere Ausbildung von sämtlichen Studierenden der Rechte“ gleichberechtigt nebeneinander standen.159 154 Literatur dazu bei: Ebert (Fn. 12); Kühn (Fn. 13); Lueg Die Entstehung und Entwicklung des juristischen Privatunterrichts in den Repetitorien, 1994; Martin Juristische Repetitorien und staatliches Ausbildungsmonopol in der Bundesrepublik Deutschland, 1993; alle vier genannten passim. 155 Vgl. Virmond Die Vorlegungen der Berliner Universität 1810–1834 nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten, im Erscheinen: zur Leitung von Interpretations- und Disputir-Uebungen, Prof. Klenze; Repetitorien und Examinatorien, Dr. Roßberger; desgleichen, Dr. Laspeyres. 156 Wolff (Fn. 38), 126; Brunner/Kahl/Hellwig Das juristische Seminar, in: Lenz (Fn. 147), 28. 157 § 1 des Reglements betreffend die Gründung eines juristischen Seminars vom 22. April 1875, zit. nach Klopsch (Fn. 8), 117. 158 Kern (Fn. 68), 212 f. Brunner/Kahl/Hellwig (Fn. 156), 26. 159 Brunner/Kahl/Hellwig (Fn. 156), 28.

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Weitere seminaristische, auf einen relativ kleinen Kreis von Studenten begrenzte Übungen boten das von Liszt 1888 in Marburg gegründete und 1899 mit ihm nach Berlin übergesiedelte Kriminalistische Seminar, das von Ulrich Stutz im Jahre 1917 nach Berlin gebrachte Kirchenrechtliche Institut und ab 1921 das neugegründete, unter der Leitung von Ernst Heymann stehende Institut für Auslands- und Wirtschaftsrecht.160 Erwähnenswert ist weiter das russische Seminar für römisches Recht, das in den Jahren 1887–1896 in Berlin auf Initiative und auf Kosten des russischen Staates, genauer des Ministeriums für Volksaufklärung gegründet wurde, um russische Staatsangehörige zur Lehre des römischen Rechts an den Universitäten Russlands zu befähigen.161 Zwar war dieses Seminar eine „private. . . Einrichtung“, wurde aber dessen ungeachtet von seinen drei Berliner Direktoren Dernburg, Eck und Pernice geleitet.162 Lehrbücher im heutigen Sinne waren nicht bekannt.163 In der Bundesrepublik revolutionierte der Repetitor Josef Alpmann aus Münster die juristische Lehre mit seinen überaus erfolgreichen Skripten, die in der Methode inzwischen durch die universitäre Lehre kopiert werden.164 Ein früher Verfasser von „gedruckten Büchlein“, die das römische Recht für die Studierenden leicht verständlich erklärten, war der Bonner Professor Ferdinand Mackeldey (1784–1834). Sein „Lehrbuch des heutigen Römischen Rechts“ erhielt sich bis zur 12. Auflage, über seinen Tod hinaus.165 Trotz (oder gerade wegen?) der hohen Verbreitung des Buches – und des dazu verfassten Übungsbuches166 – wurde er von seinen Kollegen stark angegriffen. Man urteilte über sein Buch: „von irgendwelcher wissenschaftlichen Begründung dieses Erfolges kann nicht die Rede sein; es handelt sich vielmehr nur um ein umfangreich bequemes, trocken übersichtliches Werk [. . .,] methodologisch ist es unklar in 160

Vgl. Lösch (Fn. 8), 52 f.; Klopsch (Fn. 8), 120 ff. Kolbinger Im Schleppseil Europas? Das russische Seminar für römisches Recht bei der juristischen Fakultät der Universität Berlin in den Jahren 1887–1896, 2004, 9, 38 f., 58, 64; vgl. auch Brunner/Kahl/Hellwig (Fn. 156), 27, dort Fn. 1. 162 Kolbinger (Fn. 161), 58; dies allerdings erst nach Genehmigung durch den preußischen Unterrichtsminister, vgl. ebenda, 63 f. Es wurden nicht unbeträchtliche Vergütungen bezahlt. 163 Stammler Praktische Pandektenübung für Anfänger zum akademischen Gebrauche und zum Selbststudium, 1893. 164 Westermann 40 Jahre Lehre. Abschiedsvorlesung gehalten am 18. Juli 1974, 1979. 165 Klingelhöfer Die Marburger Juristenfakultät im 19. Jahrhundert, 1972, 73. 166 Sammlung der im Lehrbuche des heutigen Römischen Rechts, vom Herrn Geheimen Justizrathe und Professor Dr. Mackeldey, citierten Belegestellen, hg. von Hermann Zwei Theile, 1832; das Werk berief sich auf die „ (…) gute Aufnahme der beiden Fürstenthal’schen Chrestomathieen zu Thibaut’s und Wening-Ingenheim’s Lehrbüchern (. . .) als Beförderinn des Quellenstudiums (. . .)“, III. 161

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der Mitte zwischen Institutionen-Knappheit und Pandekten-Vollständigkeit stecken geblieben.“167 Landsberg kam somit knapp zwei Generationen später zum Ergebnis: Von der historischen Schule ausdrücklich ausgeschlossen sei nur „Ferdinand Mackeldey traurigen Angedenkens . . .“.168 Wurde das Büchlein des Göttinger Professors Rudolf von Jhering „Die Jurisprudenz des täglichen Lebens“ in Berlin „(z)um akademischen Gebrauch“169 verwendet? Lernten die Studenten danach?170 Die großen Monographien von Enneccerus, Kipp und Wolff folgten nach dem BGB; nicht konzipiert mit Beispielen, sondern als streng systematische Werke nach dem Vorbild der großen Pandekten-Darstellungen etwa von Windscheid und Dernburg. Der enorme Lehrerfolg Martin Wolffs wird überall beschrieben. Er bildete unter anderem den Grund für seine Rufe. Seine Beschreibung als ‚Meister der Klarheit‘171 deutet die Richtung an. Er war sicher nicht reißerisch, erzählte üblicherweise keine Anekdoten, ein feiner zurückhaltender Herr. 6. Praktische Wende: Folgen für Wissenschaft und Lehre a) Die 1850er Jahre M.E. folgte auf diese wissenschaftliche Revolution durch die historische Schule eine Spaltung der Juristentätigkeit in eine ‚höhere Jurisprudenz’172 und die niedere Form der Rechtsanwendung und Rechtsproduktion, die gelegentlich in Vorworten Historisches und Philosophisches wie eine Monstranz vor sich hertrug, aber im Kern praktische Arbeit leistete. Freilich war bei der dogmatisch-praktischen Durchdringung des Rechtsstoffes viel zu tun; und hier war das Feld der deutschen – auch der Berliner – Rechtswissenschaft.

167 Landsberg Geschichte der Rechtswissenschaft, Dritte Abteilung, Zweiter Halbband, Noten, 1910, 120. 168 Ebenda. 169 Eine Sammlung von leichten, an Vorfällen des täglichen Lebens anknüpfenden Rechtsfragen; wiederholte Auflagen, z.B. 5. Auflage 1883; Jhering war seit seinen ‚Civilrechtsfällen ohne Entscheidungen‘ gleichfalls in wiederholten Auflagen – etwa 2. Auflage 1870 (mit der ersterwähnten Fallsammlung als Anhang) und 6. Auflage 1892 – und in seinen Praktika sehr an der Lehre interessiert, wodurch er sich von vielen Kollegen unterschied. 170 Trotz des Titels gibt das Werk Kühn (Fn. 13) hierüber keine Auskunft. 171 Medicus Martin Wolff (1872–1953). Ein Meister an Klarheit, in: Heinrichs/Franzki/ Schmalz/Stolleis (Fn. 43), 543 ff. 172 Ein Begriff aus späterer Zeit von Jhering in den vertraulichen Briefen, ähnlich auch von Windscheid verwendet.

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b) Das Beispiel Beseler Fakultät ist durchaus nicht immer eine freundliche Veranstaltung. Das weiß man nicht erst seit den Affären de Witte, Schwan und Gans; auch die Berufung Beselers legt davon Zeugnis ab. Beseler hatte lange versucht, seine Versetzung nach Berlin zu erlangen.173 „Meine Collegen in der Juristischen Fakultät sind bis auf wenige Ausnahmen wüthend über meine Berufung. Sie mißgönnen mir theils mein hohes Gehalt (2000 Rthl),174 theils fürchten sie die Concurrenz, theils sehen sie sich in ihrem behaglichen Quietismus gefährdet, da ich nun einmal als Ketzer gelte und in dem Ruf stehe, bei der Durchführung meiner Ansichten auf die s.g. Collegialität wenig Rücksicht zu nehmen. Mir ist diese Stimmung ganz recht; ich hoffe die academische Jugend für mich zu gewinnen und meine Lehren und wirksamer, als es durch die Schrift geschehen konnte, in der lebendigen Einwirkung der Persönlichkeit geltend machen zu können.“175 Die größten Konkurrenten Heffter und Hohmeyer fühlten sich in ihrer Wirksamkeit sehr bedrängt. Hohmeyer reagierte extrem empfindlich. Persönliches mischte sich hier – wie auch heute so oft – mit Fachlichem. Der scheinbare Gegner der historischen Schule, der Bekämpfer der Ansichten Savignys in dem Werk „Volksrecht und Juristenrecht“ 1843 war nun noch vor dem Tode Savignys an die Fakultät berufen worden. Savigny hatte zuvor in den 40er Jahren dessen Berufung noch verhindern können. Beseler setzte sich freilich in der Fakultät durch und ihm gelang es, fachliche, kollegiale und freundliche persönliche Beziehungen zu knüpfen. Besonders gut wurden seine Kontakte zu Verwaltung und Regierung. „In der Konfliktszeit wurde Beseler der anerkannte Führer sowohl der Juristischen Fakultät als auch der ganzen Universität“.176 Der Konflikt drehte sich u.a. darum, dass der konservative Kultusminister von Mühler „Verfügungen am 26. März 1862 an die Professoren und Dozenten“ aller Fakultäten erließ, bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus für die Regierungskandidaten einzutreten. Beseler betrieb intensiv Fakultätspolitik. Diesem Punkt, nämlich der Fakultätspolitik, müssten eigentlich ganze Kapitel gewidmet werden, denn im Vorfeld von Berufungen ergaben sich regelmäßig erhebliche Streitigkeiten. So nahm Beseler erfolgreich für die Berufung Dernburgs 1872 nach Berlin Stellung.177 Beseler selbst war eher philosemitisch eingestellt und mit Gneist 173

Kern (Fn. 68), 205 ff. Siehe oben unter II 2. 175 Brief Beselers an Gervinius, ohne Ort und Datum, vermutlich vor dem März 1859 aus Greifswald, H. H.s. 2524 II, 31; Nr. 54, zit. nach Kern (Fn. 68), 206. 176 Lenz (Fn. 79), 327. 177 Lenz (Fn. 79), 355. 174

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

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und Goldschmidt befreundet, was ihn gegenüber dem dezidierten Antisemiten Treitschke in dem berühmten Antisemitismusstreit des Jahres 1880 in eine schwierige Lage brachte. Beselers Lehrerfolg war erheblich. Er las insgesamt 59 Semester, darunter 28 Mal deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte, 20 Mal deutsches und preußisches Privatrecht als Fortsetzung der Vorlesung über deutsches Bundesund Staatsrecht sowie in jedem Wintersemester von 1870/71 bis 1876/77 die Veranstaltung: Deutsches Privatrecht mit Einschluss des Lehen-, Handelsund Wechselrechts. Es folgten germanistische Übungen in vielen Semestern, vor allem Sachsenspiegelexegesen. Beseler las auch Völkerrecht und Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten von Nordamerika, nämlich vier Mal.178 Er bekleidete vier Mal das Amt des Dekans der Juristischen Fakultät (1860/ 61, 1866/67, 1872/73, 1881/82), drei Mal war er Rektor der Universität (1862/63, 1865/66, 1879/80).179 Zudem wurde er sogleich Mitglied des akademischen Senats (seit Wintersemester 1859/60) und war im Spruchkollegium (seit 1859) der Universität. Im Gegensatz zur Anfangszeit des Jahrhunderts war diese Tätigkeit freilich keine Ursache mehr für eine Überlastung der Mitglieder.180 Die großen Nachfolger in der Fakultät waren als Zivilisten nur noch formal Rechtshistoriker. Tatsächlich veränderte der Positivismus die gesamte Rechtsanschauung und vor allem die Bedeutung der Rechtswissenschaft, vornehmlich der historisch fundierten. Im 19. Jahrhundert war Wissenschaft – auch oder gerade historische – noch Rechtsquelle, doch mit den neuen Gesetzen veränderte sich Bedeutung und Funktion der Wissenschaft. c) Das Beispiel Gneist Als vortreffliches Beispiel nach der Historischen Schule und vor der Begriffsjurisprudenz kann die Edition einer Pandektenvorlesung von Gneist dienen.181 Gneist, der ‚eigentlich‘ als Vertreter des öffentlichen Rechts bekannt ist, begann seine Laufbahn ‚klassisch‘ im römischen Recht: mit einer Berliner romanistischen Dissertation von 1838 zum Obligationenrecht182 und einer Habilitation von 1839.183 Die ersten Vorlesungen fanden 1840 zum 178

Alles nach Kern (Fn. 68), 211 f. Kern (Fn. 68), 207. 180 Siehe oben unter III 4. 181 Eßer Gneist als Zivilrechtslehrer. Die Pandektenvorlesung des Wintersemesters 1854/55. Mit kommentierter Edition der Vorlesungsnachschrift von Robert Esser, 2004. 182 Gneist De recentiore litterarum obligatione observationes quaedam exegeticae, Dissertation Inauguralis Berolinae 1838, 58 Seiten. 183 Nach Eßer (Fn. 181), Fn. 9 sei die Habilitation aufgrund einer nicht veröffentlichten Arbeit erfolgt, die auch in den Akten des Universitätsarchivs nicht zu finden sei/ist; entsprechend dem Reglement von 1838 handelte es sich um eine Arbeit in deutscher Sprache über „Das Strafrecht des Sachsen- und Schwabenspiegels“; ob es sich dabei um eine um179

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Strafrecht statt, um sodann zum Zivilrecht und Zivilprozess überzugehen. Gneist wurde außerordentlicher Professor 1845; ordentlicher Professor 1858 für Römisches Recht, Bürgerliches Recht, Deutsches Recht und Rechtsgeschichte. Ab 1850 finden sich erste staatsrechtliche Vorlesungen „Über das constitutionelle Princip nach englischem Staatsrecht“, die zunächst gleichberechtigt neben das Zivilrecht traten, später aber dominierten. Seine Pandektenvorlesung hielt Gneist 24 Semester lang, nämlich zwischen 1844/45 und dem Wintersemester 1868/69, dies teilweise unter Einbeziehung des Erbrechts.184 In dieser Vorlesung zeigt sich vielleicht die neue Zeit, wenngleich „die Diskussion über die Begriffsjurisprudenz (. . .) Mitte der 50er Jahre noch nicht eingesetzt (hat). Gneist zählt aber bereits zu dieser Zeit nicht zu den Befürwortern ausgefeilter Begrifflichkeit, insbesondere nicht, wenn diese als Selbstzweck betrieben wird. Ihm geht es in erster Linie um Einfachheit und praktische Brauchbarkeit der Resultate.“185 Typisch sei auch, dass Gneist zu dem Kodifikationsstreit zwischen Thibaut und Savigny nicht Stellung nehme und dass er in seiner Vorlesung die überholten Stellen des römischen Rechts nur teilweise behandele, sie aber genau an anderen Stellen auslasse, sofern sie für das geltende nicht relevant seien.186 Das Vorlesungsprogramm stimme „mit der herrschenden Auffassung der Romanisten zum Gegenstand der Pandektenvorlesung überein. Zum anderen finden – wiederum nicht durchgängig – auch die Regelungen der Kodifikationen, insbesondere des ALR, Eingang in die Vorlesung. Hierbei ist hervorzuheben, dass Gneist die Regelungen des ALR, wo er sie darstellt, zumeist ausdrücklich lobt und sie als vorbildliche Lösung der Probleme darstellt, die die Rechtswissenschaft ohne Eingriff des Gesetzgebers nicht hat lösen können.“187 Man könne ihn daher hier noch als Vertreter der historischen Rechtsschule bezeichnen. Die am häufigsten zitierten Lehrbücher blieben die von Savigny, Puchta und Vangerow. Savigny wird als sein Lehrer bezeichnet.188 d) Die 1870er Jahre: Beharren und Wandel Im Grunde ist die Zeit des 2. Kaiserreiches durch eine seltsame Mischung aus Beharrung und Wandel gekennzeichnet: Beharren auf dem Vorrang des römischen Rechts und der Pandekten. Veranstaltungen über jene Materien blieben in der Meinung der Professoren Dreh- und Angelpunkt des Studi-

fangreiche Arbeit handelte und mit welchen Themen sich Probevortrag und Antrittsvorlesung befassten, konnte nicht festgestellt werden. 184 Eßer (Fn. 181), 30. 185 Eßer (Fn. 181), 124. 186 So Eßer (Fn. 181), 124 f. 187 Eßer (Fn. 181), 124. 188 So Eßer (Fn. 181), 124.

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ums, ein juristisches Bildungserlebnis, eine zunehmend praktisch werdende Wissenschaft, bis um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert die Pandektenvorlesung durch die BGB-Vorlesung ersetzt wurde. Römisches Recht wurde das, was deutsches Recht und teilweise Kirchenrecht schon länger waren: Ein historisches Fach ohne Geltungsanspruch. Diese Wende geht stark mit einem Bedeutungsverlust der Zivilrechtswissenschaft einher.189 Sehr vereinfacht kann man sagen, dass Wissenschaft für den Bereich des römischen Rechts die Rechtsquelle war. Was Wissenschaftler schrieben, wie sie eine Stelle des Corpus iuris interpretierten, wirkte nicht nur stil- und systembildend, sondern legte fest, was galt. Windscheids autoritatives Lehrbuch ist ein Beispiel. Diese Form von Wissenschaft, die zugleich Rechtsquelle war, verlor mit den vielen Gesetzen dramatisch an Bedeutung. Da die gesetzgebenden Instanzen sich in gesellschaftlich wichtigen Fragen blockierten (System umgangener Entscheidungen), kam der Rechtsprechung nunmehr eine immer größere Aufgabe und Bedeutung zu. So war es – entgegen der selbstbezogenen Meinung der Rechtsgeschichte – vor allem die Rechtsprechung, die im Bereich des Gewerbe-Arbeitsrechts, im kollektiven Arbeitsrecht und im Kartellrecht, dem Kernbereich des ‚Wirtschaftsrechts’, die Entwicklungen vorantrieb und diese Rechtsgebiete entwickelte. Die Fakultät sprang – wie noch zu zeigen sein wird – auf diesen Zug auf. Zusammensetzung der Fakultät in 10 Jahresschritten Jahr

1880

1890

1900

1910

Zahl der Ordinarien

11

10

13

8

Schwerpunkt der Lehre190 RömischesR

Bruns 1860– 1880 Heffter 18321880

DeutschesR

Beseler 1858– 1888

189 Schröder Die deutsche Methodendiskussion um die Jahrhundertwende. Wissenschaftstheoretische Präzisierungsversuche oder Antworten auf den Funktionswandel von Recht und Justiz, Rechtstheorie 19 (1988) 323–367; ders. Die Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, 1988. 190 Die venien lauteten nicht selten anders. Bei Gneist etwa: BürgerlR, RömR, Deutsches Recht und RG und nicht Öffentliches Recht, wofür er als ‚Politischer Professor’ berühmt wurde.

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Jahr

1880

1890

1900

ÖffentlR

Gneist 1857– 1895

Gneist

Kirchenrecht

Hübler 1879– 1907

Hübler

Hübler

RömischesR

Eck 1880– 1901

Eck

Eck

KirchenR

Hinschius 1871–1898

Hinschius

DeutscheRG

Brunner 1871–1915

Brunner

Brunner

RömischesR

Pernice 1880– 1901

Pernice

Pernice

PrivatR RömR PreußR

Dernburg 1871–1907

Dernburg

Dernburg

StrafR

Berner 1860– 1907

Berner

Berner

DeutschesR Deutsche RG

Gierke 1886–1921

Gierke

Rechtswissenschaft

Kohler 1887–1919

Kohler

1910

Brunner

Kohler

BürgerlR Prozess

Schollmeyer 1899–1905

StrafR

Liszt 1898– 1919

Liszt

StaatsR VerwR VölkerR

Martitz 1897– 1921

Martitz

BürgerlR

Kipp 1900– 1930

Kipp

StrafR

Kahl 1894– 1932

Kahl

RömischesR

Hellwig 1901–1913

ÖffR StaatsR VerwR

Anschütz 1907–1916

Rechtsgebiete RöR

4

2

1

1

DtRG Dt R

1

2

2

1

KiR

2

2

1

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Jahr

1880

1890

1900

1910

BüR

1

2

4

2

ÖffR

1

1

1

2

StrR

1

1

3

2

aa) Zivilrecht Spätestens in den 50er Jahren wurde auch das römische Recht praktisch. Windscheid und Jhering, die Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen Rechts legen davon Zeugnis ab. Die Kenntnis von den Landesprivatrechten vermittelten praktisch orientierte Bücher. Wissenschaftliche und systematische Werke folgten (Förster, Eccius, Dernburg).191 Was man sich heute, wenn man kein Rechtshistoriker ist, kaum vorstellen kann: Eine strenge Trennung zwischen der Rechtsgeschichte und der Rechtsdogmatik gab es nicht oder nur sehr eingeschränkt. Bei der Einordnung der Dissertationen, die in der Fakultät gefertigt wurden, wird das ebenso deutlich wie bei der Lektüre der wissenschaftlichen Werke. Im römischen Recht des 19. Jahrhunderts diskutierten die Autoren mit den Autoritäten über die Jahrhunderte. Der Gesetzgeber für Dernburg und Windscheid, für Brinz und Baron war vor allem Justinian. So heißt es bei Ludwig Arndts: „Unter Pandektenrecht verstehen wir das römische Privatrecht, insofern dasselbe als gemeines Recht in Deutschland Aufnahme gefunden hat.“192 Savigny sprach 1840 über „heutiges römisches Recht“,193 Sintenis 1844 über „gemeines Civilrecht“.194 Im Jahr 1900 definierte Windscheid in der Bearbeitung von Kipp: „Unter Pandektenrecht wird verstanden das gemeine deutsche Privatrecht römischen Ursprungs. Das gemeine deutsche Privatrecht ist dasjenige deutsche Privatrecht, welches für Deutschland als Deutschland, für Deutschland als Ganzes, gilt.“195 Es sei nur zum Teil einheimischen Ursprungs, sondern beruhe auf rezipierten fremden Rechten, vornehmlich dem römischen, aber auch dem kanonischen und langobardischen.196 191 In Bezug auf Dernburg, vgl. Luig Der Spätpandektist Heinrich Dernburg als Begründer der Wissenschaft vom preußischen Privatrecht, in: 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten. Wirkungsgeschichte und internationaler Kontext, hrsg. von Dölemeyer/Mohnhaupt 1995, 211–237. 192 Arndts Lehrbuch der Pandekten4, 1861, 1; das knappe Werk war weit verbreitet und bei Studenten wegen seiner Kürze anscheinend beliebt. 193 Savigny (Fn. 57), Erstes Buch, § 1, 1840. 194 Sintenis Das practische gemeine Civilrecht, Erster Band, dort vor allem: Erstes Buch, Erstes Capitel, 1844. 195 Windscheid Lehrbuch des Pandektenrechts, Erster Band, Achte Auflage, unter vergleichender Darstellung des deutschen bürgerlichen Rechts bearbeitet von Theodor Kipp, 1900, 1. 196 D.h. Lehensrecht.

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Einfach war die Frage der Einordnung und Geltung des römischen, gemeinen, heutigen römischen etc. Rechts nicht. Heute nur schwer nachvollziehbare Diskussionen um Grund und Folgen des Gewohnheitsrechts dominierten einen Teil der wissenschaftlichen Debatten.197 An anderer Stelle habe ich die Frage aufgeworfen, wie es sein konnte, dass man an einer preußischen Staatsuniversität römisches Recht lehrte.198 Die Tradition des römischen Rechts war doch spätestens seit dem Zeitpunkt gebrochen, in dem die einzelnen Staaten neue Gesetze machten, weite Teile des Deutschen Reiches mit diesen Gesetzen versehen waren und in Berlin natürlich Preußisches Landrecht galt. Schaut man also die Pandektenwerke genauer an, so muss man – obwohl hier keine Wissenschaftsgeschichte geplant ist – deutlich differenziertere Darstellungen erkennen, als die knappen Formulierungen des letzten Absatzes es wahrscheinlich machen. Keller199 etwa meinte: „Das römische Recht kommt für uns unter folgenden verschiedenen Gesichtspunkten in Betrachtung: a) als geltendes Zivilgesetz [es folgen Einschränkungen in Bezug auf neue Gesetze ALR, ABGB etc.] b) als Grundlage, Quelle und Wurzel der neueren Gesetzbücher“. Da wir „das römische Recht in ganz Deutschland ja in einem guten Theile von Europa noch zu dieser Stunde als die Grundlage und den Mittelpunkt alles juristischen Studiums und Unterrichts antreffen.“ „Wir haben also durch das römische Recht ein practisches und aus dem Leben herausgezogenes Buch der mehr oder weniger bei allen Völkern anerkannten Rechtswahrheiten, ein Corpus des gemeinsamen Menschenrechts, der raison écrite und der practischen Psychologie erhalten …“ mit einer vortrefflichen Technik, nämlich der „Fertigkeit, womit sie wenige einfache Principien mit sicherer logischer Konsequenz in ihren entfernten Folgen und Verzweigungen durchzuführen, mit ihren Begriffen zu rechnen‘, . . . und sodann die andere Fertigkeit, sich mit ihren Principien im Leben zurecht zu finden . . .“ Auch bei Windscheid/Kipp finden sich vorsichtige Äußerungen, warum man denn nun das römische Recht nehme. „Das römische Recht ist in Deutschland zur Geltung gelangt (…) durch die Übung der Juristen, welche das römische Recht ihren Rechtssprüchen und Rechtsgutachten zugrundelegten (. . .). Die Juristen wurden dabei hauptsäch197 Haferkamp Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte Band 71), 2004, 141 ff. 198 Vgl. hierzu Schröder (Fn. 13). 199 Keller Pandekten. Vorlesungen von Friedrich Ludwig von Keller. Aus dem Nachlasse des Verfassers, 2. Auflage besorgt von Dr. William Lewis, 1. Band, 1866.

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lich bestimmt durch die überwältigende geistige Macht, mit welcher das römische Recht ihnen entgegentrat. Das römische Recht war gegenüber dem einheimischen Recht nach Form und Inhalt so sehr das vollkommenere, daß es nicht mehr als e i n Recht, sondern als d a s Recht erschien. Die deutschen Juristen folgten, indem sie das römische Recht zur Anwendung brachten, dem gleichen Zug, welcher ihre ganze Zeit beherrschte, dem Zuge der widerstandslosen Hingabe an die der Vergessenheit wieder entrissene antike Kultur. Neben diesem Hauptgrunde wirkte als unterstützend mit die Idee, dass das römische Reich, dessen Krone der deutsche König trug, nur eine Fortsetzung des alten Reichs der römischen Imperatoren sei, daher den Justinianischen Rechtsbüchern die gleiche verbindende Kraft zukomme, wie einem Reichsgesetze.“200 Sodann folgen – wirklich erstaunlich – in § 2 Sätze über die Geltung des römischen Rechts in Deutschland. Es kommt freilich auch zu dem Punkt im Abschnitt „Bedeutung des Pandektenrechts“, wo die Dinge fast absurd werden: „Die Geltung des Pandektenrechts in Deutschland ist zwar seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts durch Erlass neuerer Gesetzbücher in erheblichem Maße eingeschränkt worden.“201 Schaut man das genauer an, so gilt in Preußen das ALR, in Österreich das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie, für das Königreich Sachsen das Bürgerliche Gesetzbuch. Links des Rheines sowie in Berg und Baden stand eine Übersetzung des Code Civil in Kraft und in Bayern galt der Codex Maximilianeus, der wie übrigens die anderen Gesetzbücher auch, relativ stark auf römischem Recht beruhte. Welche Gebiete Deutschlands blieben dann eigentlich noch für das ‚römische Recht‘? Jedenfalls nicht die wirtschaftlich bedeutenden. Zudem deckte das ADHGB im Handels – und Gesellschaftsrecht einen weiteren großen Konfliktbereich des bürgerlichen Rechts ab. Das heißt entgegen der Legende war das römische/gemeine Recht weit überwiegend kein geltendes Recht. Was aber allgemein und vielleicht abgesehen von diesen legitimatorischen Anstrengungen gilt, ist der Versuch in allen Pandektenbüchern, allgemeine Prinzipien des Rechts zu definieren. Hierbei wird im Wesentlichen auf das römische Recht Bezug genommen und in den Literaturangaben finden sich von den Glossatoren über die Autoren des Usus Modernus bis in das 19. Jahrhundert hinein fast alle juristischen Autoren, die sich über einen Rechtssatz oder über ein Prinzip Gedanken gemacht haben. 200

Windscheid Lehrbuch des Pandektenrechts, Erster Band, Neunte Auflage, unter vergleichender Darstellung des deutschen bürgerlichen Rechts bearbeitet von Theodor Kipp, 1906, 2 f. 201 Windscheid (Fn. 200), 18.

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Im Recht steht das ewig Gleiche neben dem permanenten Wandel: Ein Schiff segelt von Alexandria nach Ostia, ein Ochsenkarren rollt von Augsburg nach München, ein LKW fährt von Leipzig nach Frankfurt und die Ladung wird zerstört. Strukturell ist immer dasselbe Problem zu lösen, und es wurde gelöst. Das Risiko war angemessen zu verteilen. Im Kern, wenn man Pandektenrecht betrieb, blickte man durch die Jahrhunderte auf das corpus iuris, akzeptierte die Veränderungen, die man für sinnvoll hielt oder nicht und erblickte in dem so Gefundenen das überzeitliche Konzentrat, die Rechtsvernunft als Ergebnis des historischen Prozesses – wie in dem obigen Zitat war Pandektenrecht entweder als gemeines Recht geltendes Recht oder ratio scripta des bürgerlichen Rechts. Die Systematik, in die man das ganze brachte, stammte freilich nicht von den Römern, sondern sie war aus dem Naturrecht entlehnt, folgte der Logik (Rechte entstehen, sie bestehen und sie gehen unter) und eigenen Ideen der Romanisten seit Hugo, Heise und Savigny.202 Es geht hier nicht darum, die Privatrechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts erneut (kritisch) darzustellen („Wie hat sich das System etc. entwickelt?“), sondern darum, ob die Berliner Fakultät in ihrer historischen Fixierung die angemessene Antwort auf drängende Fragen gab – auch das übrigens nicht in dem Sinne, ob die Antwort („Zurück zum reinen römischen Recht!“) ‚richtig‘ war, sondern ob sie die Rechtswissenschaft angemessen voranbrachte und die Studenten angemessen ausbildete. Ob nicht auch eine Ausbildung im geltenden Recht sinnvoll gewesen wäre. Das zeigt sich vor allem an der zweiten Konstante der Wirklichkeit, dem ewigen Wandel: Neue Marktphänomene treten auf, die Vermachtung der Märkte, das Außerkraftsetzen der Märkte in Kriegszeiten, die Intervention wegen Marktungleichgewichten. bb) Anwendbares Recht 1896 Die Bevölkerung des Deutschen Reiches verteilte sich nach Rechtsgebieten 1896 wie folgt: Preußisches Landrecht Gemeines (röm.) Recht Französisches Recht Sächsisches Recht 202

21.053.000 14.416.000 8.199.000 5.382.000

Bertalan Schwarz Zur Entstehung des modernen Pandektensystems, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 42 (1921) 578–610; Björne Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert (Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung Band 59), 1984.

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Jütisch Low Dänisches Recht Friesisches Recht

55 354.000 16.000 9.000 49.429.000

Für die Gebiete des gemeinen Rechts sind zudem die Gebiete überwiegend, in denen die partikularen Rechte gelten und das gemeine Recht subsidiär gilt. Dem gemeinen Recht zugezählt wurde insbesondere das Württembergische Landrecht und das Bayerische Landrecht, so dass das tatsächliche Bild noch deutlich anders aussieht.203 7. Die Jahrhundertwende a) Von der Rechtsgeschichte zum BGB Es war nicht nur das BGB, das in Ausbildung und Wissenschaft einen Paradigmenwechsel erzwang. In der Fakultät, die bislang überwiegend von Historikern dominiert war, starben mit Seckel und Pernice 1901 zwei herausgehobene Vertreter des römischen Rechts. Zwar setzte der 1895 in Berlin habilitierte Seckel die romanistische Tradition so fort, dass Zeitgenossen und Nekrologe seine Tiefe rühmten als die eines der bedeutendsten Wissenschaftler seiner Zeit.204 Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik gerieten ähnlich wie heute in ein schwieriges Verhältnis.205 Aus Anlass der Besprechung des Werkes von Ulrich Stutz (1868–1938, 1917–1936) meint Smend, Stutz sei der einzige „reine Rechtshistoriker, der ihr in diesen Jahrzehnten angehört hat“. Alle anderen bezeichnet er mit einem hübschen Ausdruck als „produktive Rechtshistoriker“ und kritisiert mit Ernst Heymann an Stutz, er habe die Verselbständigung der kirchlichen Rechtsgeschichte vollzogen und damit „zugleich eine mit Recht kritisierte Trennung von Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik“ hervorgerufen.206 203 Zahlen nach: Deutsche Rechts- und Gerichtskarte. Mit einem Orientierungsheft neu herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Diethelm Klippel, 1996 (Nachdruck der Ausgabe, Kassel 1896). 204 Smend (Fn. 2), 529 f. 205 Zur ewigen Diskussion über die Bedeutung der Rechtsgeschichte vergleiche jüngst: Jansen „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“. Funktion, Methode und Ausgangspunkt historischer Fragestellungen in der Privatrechtsdogmatik, ZNR 27 (2005) 202–228; Grigoleit Das historische Argument in der geltendrechtlichen Privatrechtsdogmatik, ZNR 30 (2008) 259–271; Haferkamp „Wie weit sollte man als Rechtsdogmatiker in der Geschichte zurückgehen?“, ZNR 30 (2008) 272–281; Looschelders Zum Nutzen der Rechtsgeschichte für die Dogmatik, ZNR 30 (2008) 282–288; Schwintowski Praktische Rechtswissenschaft – entwurzelt?, ZNR 30 (2008) 289–293. 206 Smend (Fn. 2), 534; Heymann Ulrich Stutz, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, Band 51, 1. Hälfte, 1939, 152–167, 159.

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Mit Kipp (1862–1931; 1901–1930) betrat ein Schüler Jherings und Windscheids die Bühne, der sich als einen der letzten Pandektisten bezeichnete. Er leistete Beachtliches zum römischen Recht, lehrte und schrieb darüber. Schon in der letzten Auflage von Windscheids Pandekten von 1906, die er bearbeitete, bezog er vergleichend das neue bürgerliche Recht mit ein. Er verfasste große systematische Lehrwerke zum neuen BGB, die von bedeutenden Autoren mitbegründet oder fortgesetzt wurden und für die er noch heute bekannt ist (Enneccerus, Wolff, Nipperdey, Lehmann, Coing). Ihm folgte der unvergleichliche Martin Wolff. Das Studium änderte sich vollständig kurz vor Einführung des BGB. Auf einer Konferenz in Eisenach 1896, an der Berlins führende Hochschullehrer teilnahmen, wurde die Umstellung vom römischen Recht zum BGB empfohlen und in der Folge in ganz Deutschland durchgeführt.207 b) Strafrecht: Vom Vergeltungsdenken zum Zweck im Strafrecht bis zur Strafrechtsreform Berner, Liszt und Kahl waren die prägenden Gestalten. Alle werden in dieser Festschrift sehr ausführlich gewürdigt. In erster Linie war Kahl Kirchenrechtler,208 und erst nach der Jahrhundertwende – also an der Berliner Universität – begann er sich dem Strafrecht und seiner Reform zuzuwenden, nicht zuletzt in Regierungskommissionen. In Berlin war er somit am richtigen Ort, zumal es ihm gelang, für Zwecke der Reform den ‚Schulenstreit’ mit Liszt, seinem Berliner Fakultätskollegen, beizulegen, um die praktische Reformarbeit nicht scheitern zu lassen.209 Die praktische Reformtätigkeit nahm er als Politiker in der Weimarer Republik wieder auf. c) Öffentliches Recht, Staatsrecht und Verwaltungsrecht aa) Zu Beginn des 19. Jahrhunderts Eigentlich war das Recht des Staates ein ‚altes‘ Recht. Es wurde an der Fakultät immer gelesen. Schon zu Beginn häufig und regelmäßig von Schmalz, aber auch von Lancizolle,210 Röstell, Moosdorfer-Roßberger und Helwing.211 207

Zur Reform des Studiums vgl. Schröder (Fn. 13) mit vielen Nachweisen. Burghard (Fn. 23), 24 ff.; Achenbach Recht, Staat und Kirche bei Wilhelm Kahl, 1972; Klopsch (Fn. 8), 71 ff. und Abbildung auf 7. 209 Kahl Eine Vorfrage zur Revision des StGB, DJZ 1902, 301–303. 210 Karl Wilhelm Lancizolle wurde Privatdozent 1819, außerordentlicher Professor 1820 und war von 1823 bis 1866 ordentlicher Professor für deutsche Rechtsgeschichte, vgl. Asen (Fn. 61), 111. 211 Die Angaben zu den Vorlesungen sind entnommen aus dem Werk von Virmond (Fn. 155), das wesentlich genauer und aufschlussreicher ist als die reinen Vorlesungsverzeichnisse. Es sind folgende Informationen enthalten: 208

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Ebenso regelmäßig wurde auch Eichhorn tätig.212 Nicht selten bezog man sich auf die neue staatsrechtliche Situation nach 1815. Daneben findet sich erstaunlicherweise intensiv Völkerrecht213 und allgemein Öffentliches Recht, z.B. sehr erfolgreich vor vielen Hörern gelesen von Gans. Die Materie war sonst eine Domäne der ‚Germanisten‘. Diese lasen auch das Lehnrecht, das ja trotz der Abdankung des Kaisers weiter galt, aber m.E. sehr an Bedeutung verlor.214 Nicht selten fielen die Vorlesungen aus. Ob das eine Folge dieser Tatsache war oder an den Dozenten215 lag, kann nicht gesagt werden. Nicht selten waren diese Veranstaltungen mit historischen oder rechtsvergleichenden Ausführungen verquickt,216 im Grunde handelte es sich um Mischungen aus Politik, Staatsrecht und Geschichte.217

„1817ws Deutsches Staatsrecht und dessen neuste Umgestaltungen trägt Herr Prof. Sprickmann um 4 Uhr vor.{ca. 12 Hörer; «gesetzlich» bis 14.3.}, 1820ws Deutsches Staatsrecht lehrt sechsmal wöchentlich Hr. Prof. v. Lancizolle von 8–9 Uhr. | {29 Hörer; 30.10.– 30.3.}“. 212 Vgl. Virmond (Fn. 155): WS 1832: Staatsrecht der Deutschen Bundesstaaten, Prof. Eichhorn, fünfmal wöchentlich von 11–12 Uhr. 213 Vgl. Virmond (Fn. 155): WS 1810: Das europäische Völkerrecht, Prof. Schmalz, dreimal wöchentlich; SS 1812: Das praktische europäische Völkerrecht, Prof. Schmalz, von 12–1 Uhr; SS 1815: Positives Europäisches Völkerrecht, Prof. Schmalz, mittwochs und sonntags von 4–6 Uhr; SS 1819: Europäisches Völkerrecht, Prof. Schmalz, mittwochs und sonntags von 5–7 Uhr; WS 1831: Das Europäische Völkerrecht, Prof. Lancizolle, viermal mittwochs und sonntags von 4–6 Uhr; WS 1832: Europäisches Völkerrecht, Prof. Röstell viermal; SS 1833: Europäisches Völkerrecht, Prof. Lancizolle, fünfmal von 8–9 Uhr; Europäisches Völkerrecht, Prof. Röstell viermal von 5–6 Uhr; Positives Europäisches Völkerrecht, Dr. Helwing, viermal wöchentlich von 8–9 Uhr. 214 Vgl. Virmond (Fn. 155): WS 1825: Lehnrecht, fünfmal von 3–4 Uhr, Prof. Sprickmann, ausgefallen wegen Hörermangel; Lehnrecht, viermal wöchentlich von 4–5 Uhr, Dr. Homeyer, ausgefallen wegen Hörermangel; Lehnrecht, Prof. von Reibnitz; Lehnrecht, viermal von 10–11 Uhr, Dr. Laspeyres; SS 1821: Lehnrecht, fünfmal wöchentlich, Prof. Sprickmann um 4 Uhr, ausgefallen; WS 1823: Lehnrecht, Prof. Lancizolle, viermal wöchentlich um 12 Uhr; Lehnrecht, Prof. Sprickmann, fünfmal wöchentlich um 11 Uhr, ausgefallen wegen Hörermangel. 215 Anton Mathias Sprickmann war von 1817 bis 1829 ordentlicher Professor für deutsches Recht, vgl. Asen (Fn. 61), 191. 216 Vgl. Virmond (Fn. 155): WS 1817: Die Geschichte des Deutschen Reichs und Rechts, Prof. Sprickmann; WS 1825: Ueber die deutsche Reichsverfassung, Prof. Lancizolle; SS 1826: Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, Prof. Sprickmann; Deutsche Staatsund Rechtsgeschichte, Prof. Homeyer; Preußisches Staatsrecht, verbunden mit der Geschichte der Preußischen Monarchie, Prof. Jarcke; Ueber die Entstehung der Landeshoheit, Prof. Lancizolle. 217 Vgl. Virmond (Fn. 155): SS 1811: Das Staatsrecht Großbrittanniens, Prof. Schmalz; SS 1829: Die Geschichte der letztern Zeit seit 1814 – vorzüglich in Rücksicht des öffentlichen Rechts, Prof. Gans; WS 1831: Geschichte der neuesten Zeit vom Jahr 1814 an, mit besonderer Beziehung auf Staatsrecht, Prof. Gans; SS 1825: Die staatsrechtliche Geschichte der Bildung der Preußischen Monarchie seit dem großen Kurfürsten, Prof. Lancizolle.

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bb) Öffentliches Recht vor anderen Herausforderungen Während die genannten Vorlesungen sich auf den Staat und ein im Grunde vordemokratisches Staatsverständnis bezogen – die staatsrechtliche Situation des deutschen Bundes, das Verhältnis der europäischen Staaten untereinander – beginnt vielleicht um die Jahrhundertmitte etwas Neues. – Erstens: Der Staat wird Verfassungsstaat, spätestens nach der gescheiterten 48er Revolution. Grundrechte werden diskutiert. Spätestens Bismarck integriert die Liberalen nach einigen Jahrzehnten in Preußen und im Reich. Das Staatsrecht als Organisationsrecht war zu definieren. Anschütz, der ab 1896 an der Fakultät lehrte, wurde zum positivistischen Chronisten der Reichs- und später der Weimarer Verfassung.218 Grundrechte und Partizipation blieben – von der Ausnahme Gneist wird zu sprechen sein – außen vor. Positivistisch diffamierte Anschauungen machten also vieles handhabbar. – Zweitens: Daneben findet sich die Entstehung des Interventionsstaates.219 Zwar war der (preußische) Staat nie der Nachtwächterstaat Wilhelm von Humboldts, sondern einer der die Polizeitugenden des 18. Jahrhunderts stärker fortschrieb als unser Bild vom ungebremsten Kapitalismus das wahrhaben will.220 Die noch unpolitische Modernisierung forderte den Einsatz von Recht bei einer Masse von technischen Fragen und solchen der Normierung etc. Steuerung wurde verstärkt erforderlich, vom Eisenbahnbau (Enteignungen) zur Telegraphie bis hin zu Patenten und dem gewerblichen Rechtsschutz.221 – Drittens: Der Rechtsstaat im materiellen Sinne entsteht. Gneist kann als Vertreter genannt werden. cc) Völkerrecht Viele haben dieses Fach gelesen, nicht immer freilich mit dem Inhalt, welchen wir heute kennen – Recht der Völkerrechtssubjekte, internationales öffentliches Recht. Am Anfang des 19. Jahrhunderts standen Vorlesungen und Lehrwerke (in Berlin Schmalz) noch in der naturrechtlichen Tradition, die 218 Gerhard Anschütz war von 1896 bis 1898 als Privatdozent und von 1908 bis 1916 als ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Berliner Universität tätig, vgl. Asen (Fn. 61), 4. 219 Dazu Stolleis Die Entstehung des Interventionsstaates und das öffentliche Recht, ZNR 11 (1989) 129–147. 220 Vgl. dazu Eibich (Fn. 80), 58 f. 221 Dazu Schröder Lessons From the Past: Legal Transformation in Germany of the 19th Century, JITE 156 (2000) 180–206 sowie ders. Modernisierung im Zweiten Kaiserreich und technischer Wandel, in: Kloepfer (Hrsg.) Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung unter besonderer Berücksichtigung des Kommunikationsrechts (Schriften zum Technikrecht, Band 1), 2000, 27–43.

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von Grotius, Pufendorf und Wolff herkam. Gelegentlich wurde darunter zwischenstaatliches Recht der Völker verstanden. Das ius ad bellum und das ius in bello waren stets umstritten. Heffter (1796–1880) war bekannt.222 Mit den neuen Berliner Größen Martitz und Kohler bekam das Ganze eine neue Qualität.223 Fast unnötig zu bemerken, dass auch Martitz rechtshistorisch begonnen hatte.224 Das wirkmächtigste Lehrbuch in vielen Auflagen verfasste Liszt, den wir vor allem als Strafrechtler kennen.225 Die Hegung des Krieges und etwa die Haager Landkriegsordnung rückten in den Vordergrund. Deren Bedeutung trat dann leider im Ersten Weltkrieg hinter den Realitäten der Kriegsführung zurück. Das ganze war stets Forschungs-, nicht aber Prüfungsgegenstand. Am Ende des Dritten Reiches traten ja ohnedies Großraumphantasien, etwa bei Carl Schmitt, an die Stelle der humanitären Ansätze.226 Das Wirtschaftsverfassungs- und -verwaltungsrecht entstand in Ansätzen durch den Ersten Weltkrieg und wurde erst im Dritten Reich von Ernst Rudolf Huber auf den Begriff gebracht. Doch gab es Ansätze. So wurde zum Beispiel bei Anschütz folgende modern anmutende Dissertation verfasst: Iwan B. Goranow, Die rechtliche Natur der Eisenbahnkonzession, 1914. d) Die deutschen Mandarine und das Arbeitsrecht Es bestand ein enger Zusammenhang zwischen der Berliner Universität und dem Verein für Socialpolitik,227 freilich vor allem seitens der Professoren für Staatswirtschaft. Der Verein wurde im Jahr 1873 gegründet, Adolf Held228 war seitdem dessen Sekretär. Dem Verein gehörten Ökonomen wie Gustav von Schmoller 222

Heffter Das europäische Völkerrecht der Gegenwart, 1844; 8. Auflage 1888; auch übersetzt ins Französische: ders. Le droit international de l’Europe, 1873. 223 Nies „Die Geschichte ist weiter als wir“. Zur Entwicklung des politischen und völkerrechtlichen Denkens Josef Kohlers in der Wilhelminischen Ära, 2009; Martitz Völkerrecht, 1906–1913. 224 Martitz Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Band 1, 1888, Band 2, 1897; ders. Das eheliche Güterrecht des Sachsenspiegels und der verwandten Rechtsquellen, 1867. 225 Liszt Das Völkerrecht. Systematisch dargestellt, 1898, 12. Auflage 1925. 226 Schmoeckel Die Großraumtheorie. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, insbesondere der Kriegszeit (Schriften zum Völkerrecht Band 112), 1994. 227 Grundlegend zum Verein für Socialpolitik: Lindenlaub Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des „Neuen Kurses“ bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1890–1914), Teil I und II, 1967; Schröder Abschaffung oder Reform des Erbrechts. Die Begründung einer Entscheidung des BGB-Gesetzgebers im Kontext sozialer, ökonomischer und philosophischer Zeitströmungen (Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung Band 46), 1981, 356 ff. m.w.N. 228 Held war ab 1879 ordentlicher Professor für Nationalökonomie, vgl. Asen (Fn. 61), 74.

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(Vorsitzender 1890–1917)229 und Adolf Wagner230 an. Später folgte u.a. Werner Sombart.231 Er war der letzte Vorsitzende bis zu dessen (zeitweiliger) Selbstauflösung 1936. Mitbegründer und erster Präsident des Vereins war freilich der Berliner Juraprofessor Rudolf von Gneist, der gleichfalls Mitglied und langjähriger Vorsitzender des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen war und welcher – wie der Verein für Socialpolitik – als Organisation der bürgerlichen Sozialreform, allerdings bereits 1844 gegründet worden war. Als Jurist war Otto Gierke ab der Gründung Mitglied und ein weiterer Fakultätskollege, Heinrich Dernburg, stand dem Verein angeblich nahe.232 Die deutschen Mandarine233 nahmen gerade in ihren Vereinen für Socialpolitik und in der Gesellschaft für sociale Reform lebhaftesten Anteil an der Diskussion um die Arbeiterfrage.234 Zu dieser gehörte an wichtiger Stelle der Schutz der Arbeitnehmer (Kinder, Mütter, Gesundheitsschutz, Unfall- und Krankenversicherung), die kollektive Durchsetzung von Interessen235 – im engen Zusammenhang zur Frage, ob und wie die Arbeiterschaft in Staat und Gesellschaft des 2. Kaiserreichs zu integrieren sei.236 Es waren nicht selten an führender Stelle die Berliner Ökonomen wie Wagner, Schmoller, Herkner, welche die bürgerlichen Diskussionen dominierten.237 Wie im Verein für Socialpolitik üblich, begann man auch in der Arbeiterfrage zunächst mit einer 229 Schmoller war ab 1882 Professor für Nationalökonomie, vgl. Asen (Fn. 61), 175 sowie Ringer Die Gelehrten, Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, 1987, 134 ff. 230 Adolf Wagner war ab 1870 ordentlicher Professor für Staatswissenschaft in Berlin, vgl. Asen (Fn. 61), 208. 231 Werner Sombart war von 1917 bis 1931 ordentlicher Professor für Staatswissenschaft in Berlin, vgl. Asen (Fn. 61), 189. 232 Dazu Süß Heinrich Dernburg – Ein Spätpandektist im Kaiserreich. Leben und Werk, 1991, 103 f. 233 Schönberg Die gewerbliche Arbeiterfrage, in: ders. (Hrsg.) Handbuch der politischen Ökonomie, Volkswirtschaftslehre, Zweiter Band, Zweiter Halbband4, 1898, 1–188, insbesondere 15 ff.; Herkner Studien zur Fortbildung des Arbeitsvertrages, Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 4 (1891) 563–599; ders. Die Arbeiterfrage, 1. Auflage 1894, 2. Auflage 1897, 5. Auflage 1908; zu Heinrich Herkner (1863–1932): Becker Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland. Vom Beginn der Industrialisierung bis zum Ende des Kaiserreichs (Ius Commune Sonderheft 76), 1995, 209 ff. 234 Brentano Das Arbeitsverhältniss gemäss dem heutigen Recht. Geschichtliche und ökonomische Studien, 1877; vgl. auch Ringer (Fn. 229), 136 ff. 235 Schröder Entwicklung (Fn. 189). 236 Martiny Integration oder Konfrontation? Studien zur Geschichte der sozialdemokratischen Rechts- und Verfassungspolitik (Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung), 1976. 237 Spoerr Recht in Zeiten des Zusammenbruchs. Ökonomische Diskussionen im Kontext rechtlicher Entscheidungen (1917–1920), Dissertation Potsdam 2010 – im Erscheinen.

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empirischen Bestandsaufnahme, so dass gerade in den neuen Fächern der Weg zur Rechtssoziologie nicht weit war.238 Zum erheblichen Teil ist das ganze eine ‚Praktikerdiskussion‘,239 an der Gewerkschafter, SPD- und andere Abgeordnete,240 Richter von Kaufmannsund Gewerbegerichten teilnahmen, aber nur wenige Wissenschaftler wie Lotmar.241 Arbeitsrecht als wissenschaftliche Disziplin „Arbeitsrecht“ gab es vor der Jahrhundertwende ‚eigentlich‘ nicht,242 aber viele schrieben darüber, mehr in der Praxis, selten an Universitäten.243 Gewiss gab es – wie in vorindustrieller Zeit – Regelungen über Arbeitsverhältnisse, aber als selbständige Disziplin stand das Fach in allerersten Anfängen.244 Otto Gierkes berühmter Aufsatz über die „Wurzeln des Dienstvertrages“245 sieht die Wurzeln im germanischen Treudienstvertrag und das Wesen im personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis. Es kann hier dahinstehen, ob die historische Herleitung zutrifft und ob die personenrechtliche Seite im Verhältnis zum Austausch von Leistung und Gegenleistung nicht zu stark betont wird. Otto Gierke hatte sich schon früh mit Fragen der Arbeit befasst. Schon 1868 glaubte er, die moderne Fabrik habe für „Unternehmer und Arbeiter(n) eine neue Form des wirtschaftlichen Herrschaftsverbandes geschaffen . . . dem das heutige Recht principiell nur die Bedeutung einer Summe von 238 Loening Artikel Arbeitsvertrag, in: Conrad u.a. (Hrsg.) Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Erster Band, 1890, 742 ff.; ders. Das Vereins- und Koalitionsrecht der Arbeiter im Deutschen Reiche (Schriften des Vereins für Socialpolitik Band 76), 1898, 250– 310; in der Hauptsache war Loening Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, wofür er heute im Wesentlichen bekannt ist. Er habilitierte 1868, wurde 1872 außerordentlicher Professor in Strasburg, 1877 Dorpat, 1883 Rostock, 1886 Halle. 239 Zu Karl Flesch: Becker (Fn. 233), 245 sowie Seelig Heinz Potthof (1875–1945). Arbeitsrecht als volkswirtschaftliches und sozialpolitisches Gestaltungsinstrument (Berliner Juristische Universitätsschriften. Grundlagen des Rechts, Band 39), 2008, 127. 240 Stadthagen Das Arbeiterrecht. Rechte und Pflichten des Arbeiters in Deutschland aus dem gewerblichen Arbeitsvertrag der Unfall-, Kranken-, Invaliditäts- und AltersVersicherung. Mit Beispielen und Formularen für Klagen, Anträge, Beschwerden u.s.w. Erläutert von Arthur Stadthagen, früherem Rechtsanwalt, Mitglied des Deutschen Reichstages, 1895, 4. Auflage 1904. 241 Rückert „Frei und Sozial“. Arbeitsrechts-Konzeptionen um 1900, ZfA 1992, 225– 294, insbesondere 245 ff. 242 Seelig (Fn. 239), insbesondere 124 sowie Becker (Fn. 233) zu: Schmoller (1838– 1917), 162 ff., Brentano (1844–1931), 171 ff., Wagner (1835–1917), 195 ff., Schönberg (1839–1908), 198 ff. und Loening (1834–1919), 207 ff. 243 Becker (Fn. 233) zu: Stadthagen (1857–1917), 242 ff., Flesch (1853–1915), 245 ff., Lotmar (1850–1922), 249 ff., Gierke (1841–1921), 273 ff. und Sinzheimer (1875–1945), 282 ff. 244 Dazu im Allgemeinen Ramm Die Arbeitsverfassung des Kaiserreichs, in: Triffterer/ Zezschwitz (Hrsg.) FS Mallmann 1978, 191–211; sowie ders. Die Arbeitsverfassung der Weimarer Republik, in: Gamillscheg/de Givry/Hepple/Verdier (Hrsg.) In memoriam Sir Otto Kahn-Freund, 1980, 225–246. 245 Gierke (Fn. 29), 37–68.

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Privatrechten zwischen Einem und Vielen zugesteht.“246 Diese neue Organisationsform greife sowohl in die öffentliche als auch in die private Sphäre ein.247 Seine nächste Befassung mit Arbeit und Arbeitsrecht, freilich unter seinem Topos „Sozialrecht“248, fand sich in der BGB-Kritik zum ersten Entwurf249 und dann später in seinem historischen Aufsatz in der Festschrift Brunner. Er ist – so weit ich sehe – das einzige Mitglied der Fakultät, das sich substantiell, freilich von einem sehr speziellen genossenschaftsrechtlich-historischen Standpunkt aus, mit den aktuellen Fragen befasste. Gierke war bekanntlich Mitglied des Vereins für Socialpolitik und stand wie die anderen Sozialreformer den Fragen aufgeschlossen gegenüber.250 Als weiterer Teilnehmer an der zivilrechtlichen Diskussion von der Berliner Universität ist – wie bei allen ‚modernen’ Themen – Kohler zu nennen.251 Eine Befassung mit dem Arbeitsrecht schlägt sich im Vorlesungsverzeichnis der Universität nicht nieder, zumindest nicht in der Juristischen Fakultät. Ludwig Lass252 behandelte die „sozialpolitische Gesetzgebung“ ab dem 246 Gierke Das deutsche Genossenschaftsrecht, Erster Band. Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, 1868, 911. 247 Ebenda. 248 Mit Sozialrecht sind Interessengemeinschaften, soziale Verbände, Gesellschaften auf gesellschaftlicher und staatlicher Ebene gemeint. Dieser Begriff wird dem Individualrecht entgegengesetzt. Der Begriff hat nichts mit dem Sozialrecht im heutigen Sinne zu tun; Gierke Deutsches Privatrecht, Erster Band, Allgemeiner Teil und Personenrecht, 1895, 27. 249 Carl Grünberg, ein Schüler von Anton Menger (1861–1941), machte die Lebensabgewandtheit der „rechtshistorischen Schule“ für die Fassung der dienstvertraglichen Vorschriften im BGB verantwortlich; Kritik am zweiten Entwurf auch von Lotmar Der Dienstvertrag des zweiten Entwurfes eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, VIII (1895) 1–74, abgedruckt bei Rückert (Hrsg.) Philipp Lotmar. Schriften zu Arbeitsrecht, Zivilrecht und Rechtsphilosophie, 1992, 97–172. 250 Gierke (Fn. 248) sowie Dritter Band, Schuldrecht, 1917, 599; ders. Die Zukunft des Tarifvertrags, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 42 (1916/17) 815–841; ders. Das deutsche Genossenschaftsrecht, Erster Band (Fn. 246), Zweiter Band. Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs, 1873, Dritter Band. Die Staats- und Korporationslehre des Altertums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland, 1881, Vierter Band. Die Staats- und Korporationslehre der Neuzeit. Durchgeführt bis zur Mitte des siebzehnten, für das Naturrecht bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, 1913; ders. Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, 1889; ders. Die sociale Aufgabe des Privatrechts, 1889. 251 Kohler Beiträge zum Arbeitsvertrag des modernen Rechts, AcP 84 (1895) 1–31; ders. Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, Zweiter Band. Vermögensrecht. Erster Teil: Schuldrecht, 1906, 345, zu allem wieder Becker (Fn. 233), 240. 252 Ludwig Lass habilitierte sich 1893 in Berlin, zunächst als Privatdozent in Marburg tätig und ab 1919 ordentlicher Honorarprofessor der Berliner Universität, daneben war er

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Sommersemester 1894. Zu diesem frühen Zeitpunkt gab es keine Vorlesung „Arbeitsrecht“. In den üblichen Pandektenvorlesungen oder in denen zum bürgerlichen Recht fand das Arbeitsrecht im heutigen Sinne keinen Niederschlag. Gelegentliche Einzelbemerkungen waren nicht ausgeschlossen.253 Nach Gierke und auch Dernburg verknüpfe der heutige Dienstvertrag seinem Wesen nach den schuldrechtlichen Gehalt mit dem personenrechtlichen Gehalt.254 Die Arbeitsverhältnisse würden aber gänzlich durch freie Vereinbarung geschlossen und sie begründeten den sozialen Zustand der Parteien.255 Natürlich gilt Dernburg als Romanist und auch in der Darstellung des preußischen Rechts ging er von der locatio conductio operarum aus. e) Der Deutsche Juristentag Auch der Deutsche Juristentag wurde von Berliner Ordinarien beeinflusst, so war etwa Gneist insgesamt zwölf Mal Präsident der seit seiner Gründung 1860 jährlich, ab 1876 dann alle zwei Jahre stattfindenden Versammlung.256 Diese Position wurde später auch mehrfach von Brunner und Kahl bekleidet.257 Vor allem in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wirkten Berliner Professoren auch als Gutachter für den Deutschen Juristentag. Georg Beseler lieferte dabei das erste Gutachten, dies zur Frage, ob von der Gesetzgebung das Gewohnheitsrecht als gültige Rechtsquelle anerkannt werden solle.258 In den folgenden Jahren beteiligten sich neben anderen Josef Kohler,259 Otto

Regierungsrat im Reichsversicherungsamt und Präsident des Oberschiedsgerichts der Angestelltenversicherung, ferner war er auf diesem Gebiet schriftstellerisch tätig, vgl. Asen (Fn. 61), 112 sowie Klopsch (Fn. 8), 146. 253 Vorlesungsmitschrift aus dem WS 1886/87 von Fritz Kapff, 152 (Riedel, Seminararbeit, 10). 254 Gierke Deutsches Privatrecht (Fn. 250), Dritter Band, 599; Dernburg Lehrbuch des Preußischen Privatrechts, Zweiter Band, 1878, 487 ff. 255 Ebenda. 256 Gneist war Präsident der Juristentage: 7.–14. (1868–1878), 16.–18. (1882–1886), 20. (1889) und 22. (1893). 257 Brunner war Präsident der Juristentage: 26. (1902), 27. (1904) und 29.–31. (1908– 1912); Kahl war Präsident der Juristentage: 33.–35. (1924–1928). 258 Vgl. Verhandlungen des 5. Deutschen Juristentags, 1864, 102–110. 259 Zu den Fragen „Soll an Stelle der väterlichen Gewalt eine der Mutter subsidiär zustehende elterliche Gewalt im bürgerlichen Gesetzbuche aufgenommen werden? und mit welchen Modalitäten?“, vgl. Verhandlungen des 19. Deutschen Juristentages, Band II, 1888, 220–228 und „Ist die im Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches angenommene Behandlung der Pertinenzen zu billigen, oder eine Abänderung derselben wünschenswerth, und in welchem Sinne?“, vgl. Verhandlungen des 20. Deutschen Juristentages, Band III, 1889, 145–151.

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von Gierke260 und Franz von Liszt261 mehrmals mit Gutachten am Juristentag. Die vorgelegten Gutachten behandelten politisch relevante und meist sehr aktuelle Fragestellungen – etwa im Kontext der Entstehung des BGB. In ihrem Umfang unterschieden sie sich erheblich: Das mit neun Seiten kürzeste Gutachten eines Berliner Professors legte Ferdinand von Martitz vor,262 während Wilhelm Kahl ein 111-seitiges Gutachten über die „strafrechtliche Behandlung der geistig Minderwerten (sic)“ beisteuerte.263 Ein überdurchschnittlicher Anteil an Gutachten aus der Berliner Fakultät ist jedoch auf den ersten Blick feststellbar und bedürfte einer genaueren Untersuchung. 8. Fakultät und Politik Obwohl diese Darstellung nicht personenbezogen ist, soll Beseler noch einmal als Beispiel herangezogen werden. Diesmal wird er als Prototyp eines politischen Professors wenigstens kurz vorgestellt. Daneben – nie zu vergessen – war Beseler einer der Wissenschaftler, der ausgehend von Eichhorn und mit seinem Nachfolger Gierke den Ruhm der Germanistik in Berlin begründete. Georg Beseler war zeitlebens ein politischer Mensch.264 Er hatte mit seinen Schriften und Aktivitäten zum Beispiel im dänischen Schleswig-Holstein, auf den Germanistentagen in Kiel und Lübeck sein politisches Denken vorgestellt. Die Göttinger Sieben wurden von ihm literarisch verteidigt.265 Als Abgeordneter des Paulskirchenparlaments schloss er sich der Casino Frak260 Zu den Fragen „An welche rechtlichen Voraussetzungen kann die freie Corporationsbildung geknüpft werden?“, vgl. Verhandlungen des 19. Deutschen Juristentages, Band III, 1888, 259–311 und „Ist nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Verfolgung des dinglichen Rechts auch gegen den mittelbaren Besitz zulässig?“, vgl. Verhandlungen des 24. Deutschen Juristentages, Band III, 1898, 29–50 und „Empfiehlt sich eine einheitliche Regelung der Haftung des Staates und anderer juristischer Personen des öffentlichen Rechts für den von ihren Beamten bei Ausübung der diesen anvertrauten öffentlichen Gewalt zugefügten Schaden?“, vgl. Verhandlungen des 28. Deutschen Juristentages, Band III, 1906, 102–144. 261 Zu den Fragen „Wie ist im Strafprozeß der Gerichtsstand der begangenen That hinsichtlich der Vergehen der Presse zu regeln?“, vgl. Verhandlungen des 25. Deutschen Juristentages, Band II, 1900, 176–182 und „Nach welchen Grundsätzen ist die Revision des Strafgesetzbuchs in Aussicht zu nehmen?“, vgl. Verhandlungen des 26. Deutschen Juristentages, Band I, 1902, 259–302. 262 Zu der Frage „Empfiehlt es sich, das Universitätsstudium und den Vorbereitungsdienst des Juristen gemeinsam für das deutsche Reich zu ordnen?“, vgl. Verhandlungen des 25. Deutschen Juristentages, Band III, 1902, 2–11. 263 Vgl. Verhandlungen des 27. Deutschen Juristentages, Band I, 1904, 137–248. 264 Kern (Fn. 68), 38, 78, 82, 91 ff., 160 ff., 205 ff.; Artikel Beseler, in: Kleinheyer/ Schröder (Fn. 43), 52 ff. 265 Zur Verteidigung der Göttinger Sieben im Jahr 1838 vgl.: Kern (Fn. 68), 57.

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tion an.266 Trotz dieser Tatsache und des anfänglichen Widerstands Savignys kamen Fakultät und Ministerium an dem großen Germanisten nicht vorbei: Er wurde 1859 nach Berlin berufen. Dort setzte er seine politischen Aktivitäten im Reichstag (1874–1881 als Nationalliberaler Abgeordneter) und preußischen Herrenhaus (1875–1888 als dessen Vizepräsident 1882–1887) fort. Sein wissenschaftliches Werk lässt auf den ersten Blick keinen direkten politischen Bezug sehen. Es sei denn man unterstellt ‚den‘ Germanisten mit der Abwendung vom römischen Recht solche Tendenzen. Georg Beseler: – Die Lehre von den Erbverträgen, 3 Bände, 1835–1840, – Volksrecht und Juristenrecht, 1843, – System des gemeinen deutschen Privatrechts, 3 Bände, 1847–1855, 4. Auflage 1885. Wie der Germanist Mittermaier in Heidelberg kommentierte auch Beseler modernes Strafrecht: Commentar über das Strafgesetzbuch für die preußischen Staaten 1851. Für alle Germanisten gilt, dass die Hinwendung zu den modernen Materien, üblicherweise dem Handels-, Gesellschafts-, See-, Kredit- und Wechselrecht, einen politischen Aspekt hat. Dieses Auseinanderfallen des wissenschaftlich literarischen Werks und der politischen Tätigkeit kann man auch bei Heffter zeigen.267 Bei Franz von Liszt liegt eine Nähe zwischen dem Werk, der Kriminalpolitik und seinen Aktivitäten als Politiker der Fortschrittlichen Volkspartei und Abgeordnetem in diversen Parlamenten vor.

266 Siemann Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 zwischen demokratischem Liberalismus und konservativer Reform. Die Bedeutung der Juristendominanz des Paulskirchenparlaments, 1976, 119. 267 Lauchert August Wilhelm Heffter, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Band 11, 1880, 250–254; Ogris August Wilhelm Heffter, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Band 8, 1969, 202; Lebenslauf August Wilhelm Heffter (1796–1880) ist angelehnt an den Artikel in Wikipedia: Studium in Leipzig und Berlin; Assessor am Appellationsgericht Köln, Rat am Oberlandesgericht Düsseldorf; aufgrund seiner Schrift Athenäische Gerichtsverfassung, 1822, im Jahre 1823 Ruf nach Bonn, Halle (Saale) und 1833 nach Berlin. Dort Ordinarius des Spruchkollegiums, später Geheimer Obertribunalsrat, Kronsyndikus und Mitglied des Preußischen Herrenhauses; rein wissenschaftliche Schriften auf diversen Gebieten: Institutionen des römischen und teutschen Civilprozesses, 1825, 2. Auflage 1843; Herausgeber der Institutionen des Gaius, 1830; Lehrbuch des gemeinen deutschen Criminalrechts mit Rücksicht auf die nicht exclusiven Landesrechte, 1833; Die Erbfolgerechte der Mantelkinder, 1836; Das europäische Völkerrecht der Gegenwart, 1844, 7. Ausgabe 1881, auch französisch: 4. Auflage 1883; Civilprozeß oder das gerichtliche Verfahren bei bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten im Gebiete des Allgemeinen Landrechts für die Preussischen Staaten, 1856; hinzu kamen ganz oder teilweise politische Beiträge: Beiträge zum deutschen Staats- und Fürstenrecht, 1829; Der gegenwärtige Grenzstreit zwischen Staat und Kirche, 1839, worin es um die sogenannten Kölner Wirren ging; vgl. auch schon Fn. 222 und Asen (Fn. 61), 73.

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Die Fakultät hätte sich mit der Hochschulpolitik auseinandergesetzt und sei in enger Fühlungsnahme zur Berliner Juristenschaft einerseits, zur evangelischen Landeskirche268 andererseits und zur Gesetzgebung, vor allem im Strafrecht nach dem großen politischen Umbruch gewesen. „In diesen Begegnungen, vor allem mit Staat und Politik, fand die Fakultät ihre eigentliche Stärke (Hervorhebung durch d. Verf.) nicht in kluger Hochschul- und Fakultätspolitik oder in Verfassungsartikeln, sondern im Geltungsanspruch ihrer Aufgabe und ihrer Arbeit, wie sie sie verstand und leistete, und in mehr oder weniger bewußtem und ausdrücklichem korporativem Zusammenschluß in der Geltendmachung dieses Anspruchs.“269 Gab es Staatsnähe im Ersten Weltkrieg? Ohne Zweifel, denn die Rückgabe von Ehrendoktorwürden270 war ebenso an der Tagesordnung wie kriegsunterstützende Aufrufe und Artikel (Kahl, Liszt, Kohler).271 Auch beteiligte sich die Fakultät an der juristischen Mobilmachung durch Artikel zum bürgerlichen Recht und zum Wirtschaftsrecht im Kriege; immer wieder durch Kipp.272 In der Weimarer Republik waren die Auseinandersetzungen der Staatsrechtler u.a. von Smend mit seiner Integrationslehre legendär. Der Privatdozent Hugo Preuß habilitierte sich 1889 für Staatsrecht bei Otto Gierke, wurde indes aufgrund seines jüdischen Glaubens, vielleicht auch aufgrund seiner linksliberalen Einstellung273 erst 1906 Professor an der Handelshochschule in Berlin und verfasste 1919 einen weitgehend umgesetzten Entwurf zur Reichsverfassung.

IV. Erster Weltkrieg Die Fakultät im Krieg! Das hieß zunächst viel weniger Studenten, da sie im Felde standen und nicht wenige fielen. Die Durchfallquoten sanken. Die Zahl der Promotionen nahm ab. Wie sollte es auch anders gewesen sein. Nicht wenige Professoren waren kriegsbegeistert, was wir aus heutiger pazifistischer Sicht schwer nachvollziehen können. 268

Dies vor allem in Person ihres Ordinarius Wilhelm Kahl, der zahlreiche kirchliche Ämter innehatte, vgl. dazu Burghard (Fn. 23), 32. 269 Smend (Fn. 2), 528. 270 Vgl. dazu: Kellermann (Hrsg.) Der Krieg der Geister 1914. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege, 1915, 28 f. 271 Vgl. Klopsch (Fn. 8), 61 ff. 272 Klopsch (Fn. 8), 58 ff. m.w.N.; Eiffler Die „Feuertaufe“ des BGB. Das Vertragsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs und das Kriegswirtschaftsrecht des 1. Weltkriegs, ZNR 20 (1998) 238–255; Dörner Erster Weltkrieg und Privatrecht, Rechtstheorie 17 (1986) 385–401. 273 Gusy schreibt, obwohl Preuß „der am weitesten links gerichtete Staatsrechtler des damaligen Deutschland gewesen“ sei, „so war er doch ein bürgerlicher und kein sozialistischer Politiker.“, vgl. Gusy Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, 70.

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

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Pro patria wurden bereits im ersten Kriegsjahr unzählige ausländische Ehrendoktorwürden niedergelegt und man beteiligte sich außerordentlich zahlreich an mehr oder weniger bekannt gewordenen Aufrufen gegen den „Lügenkrieg unserer Feinde“274. So unterschrieben am 28. August 1914 Kahl, Kohler und Liszt einen Aufruf, der die „Wahrheit ins Ausland!“275 tragen sollte. Am 7. September 1914 erging die „Erklärung deutscher Universitätslehrer über die Niederlegung englischer Auszeichnungen“, Kohler, Rießer und Liszt verzichteten an diesem Tag auf jedwede englische Ehrung oder Anerkennung.276 Kipp und Liszt unterschrieben am 4. Oktober 1914 neben zahlreichen Vertretern der Wissenschaftslandschaft Deutschlands den allbekannten „Aufruf an die Kulturwelt“, dessen Endpassage lautet: „Wir können die vergiftete Waffe der Lüge unseren Feinden nicht entwinden. Wir können nur in alle Welt hinausrufen, daß sie falsches Zeugnis ablegen wider uns. Euch, die ihr uns kennt, die ihr bisher gemeinsam mit uns den höchsten Besitz der Menschheit gehütet habt, euch rufen wir zu: Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.“277 Mit der praktischen bzw. tatsächlichen Kriegsaufrüstung begann auch eine juristische Mobilisierung in der Wissenschaft und in der Lehre. So wurden in den Kriegsjahren folgende Vorlesungen neu angeboten: Im Wintersemester 1914/1915 „Praktische Übungen im Militärstrafrecht und -verfahren (einschließlich des Disziplinarstrafrechts) für Juristen und Offiziere“, von Schlayer.278 Im Sommersemester 1916 das „Bank- und Börsenrecht unter Berücksichtigung der Kriegsverhältnisse“, Nussbaum, „Militärrecht“ durch Waldecker und „Ausgewählte Lehren des Völkerrechts, insbesondere Seekriegsrecht“ von von Martitz.279 Ab dem Wintersemester 1916/17 las Köbner über „Die rechtliche Organisation der deutschen Kriegswirtschaft280 274

Kellermann (Fn. 270), 5. Kellermann (Fn. 270), 6. 276 Kellermann (Fn. 270), 29; vgl. in diesem Zusammenhang über Kohler: Gängel/ Schaumburg Josef Kohler, Rechtsgelehrter und Rechtslehrer an der Berliner Alma mater um die Jahrhundertwende, Archiv für Rechts- und Sozialpolitik (ARSP) 1989, 289–312, 310 f. 277 Kellermann (Fn. 270), 64–68. 278 Vorlesungsverzeichnis vom WS 1914/15, 20; erneut angeboten im WS 1915/16, vgl. Vorlesungsverzeichnis vom WS 1915/16, 20. 279 Vorlesungsverzeichnis vom SS 1915, 17, 19; Nussbaum wiederholte diese Vorlesung im SS 1916, vgl. Vorlesungsverzeichnis vom SS 1916, 16, und im SS 1918, vgl. Vorlesungsverzeichnis vom SS 1918, 17; von Martitz las dies erneut im SS 1916, vgl. Vorlesungsverzeichnis vom SS 1916, 19, im SS 1917, vgl. Vorlesungsverzeichnis vom SS 1917, 18 sowie im SS 1918, vgl. Vorlesungsverzeichnis vom SS 1918, 19. 280 Vorlesungsverzeichnis vom WS 1916/17, 18; und erneut im SS 1917, vgl. Vorlesungsverzeichnis vom SS 1917, 18. 275

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und im Wintersemester 1917/18 über „die staats- und verwaltungsrechtlichen Grundlagen der deutschen Kriegswirtschaft“.281 Im gleichen Semester kam die „staatliche Fürsorge für die Kriegsbeschädigten und ihre Hinterbliebenen“ hinzu.282 Kipps ‚praktische’ Kriegsaufsätze waren zahlreich.283 Nach dem Krieg scheiterte die Berufung von Walther Schücking (1875– 1935).284 Er wäre ein sehr bedeutender pazifistischer Staats- und Völkerrechtler an der Fakultät gewesen, wurde aber von ‚Berlin‘ abgelehnt.285

V. Entstehung neuer Rechtsgebiete, Abschichtung alter Gebiete 1. Neues Die Fakultät hatte sich den neuen Fragen im Weltkrieg gestellt, zuvor schon den neuen Gesetzen, dem Bedeutungsverlust der Rechtsgeschichte. Wie reagierte sie auf die neuen Herausforderungen? a) Sozialversicherungsrecht und Arbeitsrecht, Arbeiterrecht, Gewerberecht, Gesinderecht Einige Fakultätsmitglieder beteiligten sich an den in der Kapitelüberschrift genannten Diskussionen. Aber erst ab 1914 wurden folgende Veranstaltungen regelmäßig gelesen: – Lass: Die soziale Gesetzgebung des Deutschen Reiches (Das Recht der Arbeiter- und Angestelltenversicherung, Arbeiterschutzgesetzgebung), – Kaskel: Soziales Versicherungsrecht (Arbeiter- und Angestelltenversicherung), – Kaskel: Soziales Schutzrecht (Arbeits-, Hausarbeiter- und Angestelltenschutz). Die Themen variieren etwas, auch in der Begrifflichkeit, jedoch trug Lass zu der neuen Rechtsmaterie intensiv vor. Lass wurde ab dem Zwischensemester 1919 zum Honorarprofessor ernannt.286 Er las dann z.B. weiterhin 281

Vgl. Vorlesungsverzeichnis vom WS 1917/18, 19. Ebenda. 283 Nachweise bei Klopsch (Fn. 8), 54 ff.; außerdem war Kipp im WS 1914/15 Rektor der Berliner Universität, vgl. in diesem Zusammenhang seine Antrittsrede vom 15.10.1914 über die „Kriegsaufgaben der Rechtswissenschaft“, ebenda, Fn. 146. 284 Thier Walther Schücking, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Band 23, 2007, 631–633. 285 Näheres aus den Akten und zum Gutachten Erich Kaufmanns bei Klopsch (Fn. 8), 176. 286 Rückert Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Ruland (Hrsg.) Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, 1990, 1–50. 282

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

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die „Einführung in die soziale Gesetzgebung oder soziales Versicherungsrecht (Arbeiter- und Angestelltenversicherung)“, während hingegen Kaskel mit großer Kontinuität ab 1913 als Privatdozent und dann als außerordentlicher Professor ab 1920 gleichfalls Veranstaltungen zum Sozialversicherungsrecht anbot.287 Kaskel war in Berlin gelungen, wogegen sich die Universitäten eigentlich sträubten, er hatte eine Professur für Arbeitsrecht erhalten ohne klassische Fächerzuordnung.288 Die Veranstaltungen nahmen einen unterschiedlichen, insgesamt aber doch zunehmenden Umfang an. Beispielsweise wurde im Wintersemester 1918/19 gelesen: – Lass: Die sozialpolitische Gesetzgebung des Deutschen Reiches – Arbeiter- und Angestelltenversicherung, Arbeiterschutzgesetzgebung, – Lass: Einführung in die soziale Gesetzgebung, – Lass: Die Rechtsgrundlagen der sozialen Versicherungs-Medizin (Arztund soziale Versicherung), – Kaskel: Sozialrecht I. Teil: Soziales Versicherungsrecht (Arbeiter- und Angestelltenversicherung), – Kaskel: Sozialrecht II. Teil: Soziales Schutzrecht (Schutz der Arbeiter und Angestellten in Industrie- und Hausarbeit, Handel-, Landwirtschaft- und Seeschifffahrt), – Kaskel: Die staatliche Fürsorge für die Kriegsbeschädigten und ihre Hinterbliebenen. Hinzu kam beispielsweise im Sommersemester 1919 eine – Übung im Sozialrecht I und II. Und dann folgte zum ersten Mal eine Veranstaltung mit der Bezeichnung Arbeitsrecht: – Kaskel: Arbeitsrecht I. Teil: Soziales Versicherungsrecht (Arbeiter- und Angestelltenversicherung), – Kaskel: Arbeitsrecht II. Teil: Soziales Schutzrecht (Schutz der Arbeiter und Angestellten in Industrie- und Hausarbeit, Handel, Landwirtschaft und Seeschifffahrt), – Kaskel: Arbeitsrecht III. Teil: Soziales Vertragsrecht (Arbeitsvertrag der Arbeiter und Angestellten). 287 Mikesic (Fn. 30), zu Kaskel 90 ff.; Kaskel Begriff und Gegenstand des Sozialrechts als Rechtsdisziplin und als Lehrfach, DJZ 1918, Sp. 541–546; ders. Das neue Arbeitsrecht. Systematische Einführung, 1920; ders./Sitzler Grundriß des sozialen Rechts, Erster Band. Grundriß des sozialen Versicherungsrechts. Systematische Darstellung auf Grund der Reichsversicherungsordnung und des Versicherungsgesetzes für Angestellte, 1912; Kaskel war Stadtrat in Schöneberg. 288 Mikesic (Fn. 30), 90; HUB-UA Jur. Fak. 496, Bl. 247 ff., Bl. 333; HUB-UA UK K 45, Band 2, Bl. 4, zit. nach Klopsch (Fn. 8), 183 Fn. 701 und 186 Fn. 710.

70

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Im Sommersemester 1920 ergänzte Kaskel das um zwei Veranstaltungen, nämlich: – Kaskel: Recht der Arbeitsbeschaffung (einschließlich Arbeitsnachweis und Arbeitslosenfürsorge), – Kaskel: Arbeitsverfassungsrecht (Organisation der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Beruf und Betrieb).289 Der Umfang entsprechender Veranstaltungen nahm ab dem Sommersemester 1922 wieder ab, wurde dennoch ergänzt um ein – Juristisches Seminar: Wissenschaftliche Übungen im Arbeitsrecht bei Kaskel. Dieses Seminar fand bis zum Tode Kaskels am 9.10.1928 jeweils im Wintersemester statt. Kurzfristig wurden die Veranstaltungen teilweise übernommen von Prof. Tietze (1872–1945), der zwischen 1923 und 1938 an der Fakultät bürgerliches Recht und römisches Recht lehrte. Die Veranstaltungen zum Arbeitsrecht wurden ab dem Wintersemester 1929/30 von Dersch übernommen. Nach wie vor lasen nicht die Ordinarien: Zum Beispiel im Wintersemester 1929/30: Lass

Einführung Arbeitsrecht p290

ordentlicher Honorarprofessor

Dersch

Arbeitsrecht p

außerordentlicher Professor

Dersch

Wirtschaftsrecht p

außerordentlicher Professor

Dersch

Wissenschaftliche Übung im Arbeitsrecht pg

außerordentlicher Professor

Dersch setzte bis in das Dritte Reich und dann ab 1945 auch im Sozialismus die Professur fort. Ab 1931 sogar als Ordinariat.291 Die Fakultät wollte Kontinuität. Er übernahm auch einen Teil der sozialrechtlichen Veranstaltungen und veranstaltete ein arbeitsrechtliches Seminar etwa im Wintersemester 1932/33: – Dersch: Arbeitsrecht (mit Ausschluss des sozialen Versicherungsrechts). 289 Die Namen der Veranstaltungen wechselten. Die Veranstaltung nannte er später Arbeitsrecht IV. 290 p = privat/privatissime; pg = privatissime et gratis; publ = öffentlich. 291 Hermann Dersch war ab 1929 außerordentlicher und ab 1931 ordentlicher Professor für Arbeitsrecht, 1937 musste er die Universität verlassen und kehrte jedoch von 1946 bis 1950 wieder zurück, vgl. Asen (Fn. 61), 35 und Lösch (Fn. 8), 372 ff.

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Die Geschichte der Juristischen Fakultät

Nunmehr war das junge Fach so etabliert, dass nicht wenige Dissertationen vergeben wurden: Sortiert nach Betreuer

Jahr

Verfasser

Titel

Note

Umfang

Dersch

1931

Pleuß, Wilhelm

Schiedsspruch und Verbindlichkeitserklärung. Eine Untersuchung über die Gültigkeit der Staatsakte im behördlichen Schlichtungsverfahren.

cum laude

93

Dersch

1932

Indig, Edith

Der mehrgliedrige Tarifvertrag.

rite

195

Dersch

1933

Hildebrandt, Hans Ulrich

Der Arbeitsvertrag des Musikers.

cum laude

99

Dersch

1933

Jürges, Kurt

Das Beschäftigungsverhältnis im sozialen Recht.

cum laude

91

Dersch

1933

Zwiebler, Heinz

Der Urlaub im Arbeitsrecht (einschließlich Werksbeurlaubung).

cum laude

95

Kaskel

1927

Krause, Artur Bernhard

Die Einflussnahme der gesetzlichen Betriebsvertretungen auf die Betriebsleitung.

cum laude

306

Kipp

1929

Hoffmann, Alfons

Die arbeitsvertragliche Anrechnung.

rite

104

Stammler

1921

Katz, Hanna

Lücken im Arbeitsvertrage. Ein Beitrag zur Frage des persönlichen Geltungsbereichs der Tarifnormen.

cum laude

149

Titze

1930

Hennig, Franz

Die privatrechtliche Seite der Arbeitszeitverordnung.

cum laude

139

Eine Gruppe von Professoren befasste sich mit dem Recht im Kriege, nicht nur dem Völkerrecht, sondern den Veränderungen und den daraus folgenden Tendenzen. Zu nennen sind aus Berlin etwa Kipp292 und Nuss292 Vgl. z.B.: „Von der Macht des Rechts“, Rede am 30. Oktober 1914, in: Deutsche Reden in schwerer Zeit, Rede Nr. 8, hrsg. von der Zentralstelle für Volkswohlfahrt und dem Verein für volkstümliche Kurse; Kriegsaufgaben der Rechtswissenschaft, 1914.

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baum.293, 294 Es ist nicht verwunderlich, dass diese Vertreter der neuen Fächer wurden295 und wie Kaskel an aktuellen Diskussionen teilnahmen.296 Zum Teil befassten sich die wichtigen Autoren mit Kriegs-, Arbeits- und Wirtschaftsrecht. Das gilt auch für Hedemann,297 der freilich erst 1936 nach Berlin berufen wurde. b) Wirtschaftsrecht Der Abschnitt muss eigentlich mit Definitionen beginnen, denn darum, was Wirtschaftsrecht ist, ringen die Gelehrten noch heute.298 Das Recht des unlauteren Wettbewerbs gehört sicher dazu und auch das Kartellrecht.299 Fraglich ist, ob man traditionell anders zugeordnete Materien wie Handelsund Gesellschaftsrecht oder Wertpapierrecht, Börsen- und Bankenrecht hier zusammenfasst?300 Der Matador des Wirtschaftsrechts war m.E. Hedemann,301 der freilich in Jena mit seinem Verein für Recht und Wirtschaft und dem entsprechenden Institut wirkte. Erst 1936 wurde er nach Berlin berufen, auch hier im Wirt-

293 Vgl. z.B.: Bemerkungen über die Anwendung der Kriegsgesetze auf das Hypothekenwesen, JW 1915, 1177–1180; Die Kriegsprobleme des großstädtischen Realkredits, 1917. 294 Dies neben Rießer, Triepel und Waldecker, vgl.: Klopsch (Fn. 8), 79 f. 295 Zu den zivilrechtlichen Folgen des Krieges vgl. etwa Flechtheim Vergeltungsgesetz oder Selbsthilfe?, Recht und Wirtschaft 6 (1917) 20–24, wo dieser die Wirksamkeit internationaler Rückversicherungsverträge nach Ausbruch des Krieges und Beginn der Seeblockade und anderer Handelsbeschränkungen untersucht; Flechtheim, geb. 1876 und jüdischen Glaubens, war seit 1924 Honorarprofessor für Handelsrecht in Berlin; im September 1933 entzog man ihm aufgrund von § 3 BBG seine Lehrbefugnis, vgl. Lösch (Fn. 8), 214 und 487. 296 Kaskel Reichsschutzordnung, Reichsarbeitsvertragsgesetz und Arbeitsgerichte!, Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt XXVIII (1919) Sp. 379–381; ders. Die Universitäten und das Sozialrecht, Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt XXVIII (1919) Sp. 487–490; ders. Gewerbe- und Kaufmannsgerichte, Einigungsämter, Schiedsgerichte. Zur Organisation der Arbeitsgerichte, Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt XXIX (1920) Sp. 949–951. 297 Hedemann Zur Frage der Entlassung von Arbeitern und Angestellten, Recht und Wirtschaft 8 (1919) 188–193. 298 Nörr Zwischen den Mühlsteinen. Eine Privatrechtsgeschichte der Weimarer Republik (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts Band 1), 1988, 166 ff. 299 Zacher Die Entstehung des Wirtschaftsrechts in Deutschland. Wirtschaftsrecht, Wirtschaftsverwaltungsrecht und Wirtschaftsverfassung in der Rechtswissenschaft der Weimarer Republik, 2002. 300 Kaskel Gegenstand und systematischer Aufbau des Wirtschaftsrechts als Rechtsdisziplin und als Lehrfach, JW 1926, Heft 1, 11–13. 301 Über Hedemann: Vgl. Mohnhaupt (Fn. 26); Wegerich Die Flucht in die Grenzenlosigkeit. Justus Wilhelm Hedemann (1878–1963), (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts Band 44), 2004.

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Die Geschichte der Juristischen Fakultät

schaftsrecht in Vorlesungen und schriftstellerisch tätig,302 aber im NS-Kontext leider bekannt durch seine Mitarbeit am Volksgesetzbuch.303 An der Berliner Universität wurde das Fach seit dem Sommersemester 1914 von Ernst Heymann vertreten, der – wie Hedemann in Jena – ab 1921 ein Institut für Auslands- und Wirtschaftsrecht aufgebaut hatte.304 Zunächst hießen die Vorlesungen nicht „Wirtschaftsrecht“, sondern: Handelsrechtliche Übungen mit schriftlichen Arbeiten.305 Erster Dozent war allerdings Nussbaum, ab dem Wintersemester 1920 mit Vorlesungen zum „neuen deutschen Wirtschaftsrecht“.306 Heymann las hingegen „Handels- und Schifffahrtsrecht“ ab dem Wintersemester 1914/15. Im gleichen Semester hatte Nussbaum bereits mit „Bank- und Börsenrecht unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse“ begonnen.307 Welch große Bedeutung die neuen Fragen einnahmen, zeigen die Auszüge aus dem Vorlesungsverzeichnis:308 Wintersemester 1922/23 Lehrender

Veranstaltung

Status

Nussbaum

Wissenschaftliche Übung im bürgerlichen & Handelsrecht (Rechtstatsachenforschung) pg

außerordentlicher Professor

Heymann

Handels- & Schifffahrtsrecht p

ordentlicher Professor

Wolff

Wechsel- & Scheckrecht p

ordentlicher Professor

Wolff

Geistiges & gewerbliches Eigentum publ

ordentlicher Professor

Nussbaum

Neues deutsches Wirtschaftsrecht (Rechtsentwicklung seit 1914) als Ergänzung zum bürgerlichen & Handelsrecht p

außerordentlicher Professor

302

Hedemann Deutsches Wirtschaftsrecht. Ein Grundriß, 1939. Hedemann Das Volksgesetzbuch der Deutschen: ein Bericht, 1941; Das Volksgesetzbuch als Fundament großdeutschen Rechtslebens, 1942; Volksgesetzbuch (Fn. 26). 304 Vgl. Klopsch (Fn. 8), 122. Literatur von Heymann: http://bibliothek.bbaw.de/ kataloge/literaturnachweise/heymann/literatur.pdf. 305 Vorlesungsverzeichnis vom SS 1914, 17. 306 Vgl. Vorlesungsverzeichnis vom WS 1920, 17. 307 Ebenda. 308 Zusammengetragen von Mario Meusel in einer bei mir im Sommersemester 2009 geschriebenen Seminararbeit zum Wirtschaftsrecht von 1914–1933 an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. 303

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Rainer Schröder

Lehrender

Veranstaltung

Status

Kaskel

Wirtschaftsrecht (Recht des wirtschaftlichen Unternehmens) einschließlich Gewerbe- & Kartellrecht p

außerordentlicher Professor

Wolff

Handelsrechtspraktikum mit schriftlichen Arbeiten (Teilnehmerzahl beschränkt) p

außerordentlicher Professor

Nussbaum

Handelsrechtspraktikum mit schriftlichen Arbeiten ohne Teilnehmerzahlbeschränkung p

außerordentlicher Professor

Schlegelberger

Praktische Übung im modernen Wirtschaftsrecht, mit schriftlicher Arbeit für Vorgerückte (Teilnehmerzahl beschränkt) p

normaler Honorarprofessor

Partsch

Lehre vom Abschluss des Vertrages in den europäischen Rechten publ

ordentlicher Professor

Zwar wurden die meisten dieser Fächer nicht geprüft. Sie werden aber – wie heute – interessierten Studenten Gelegenheit zur Information geboten haben. Sommersemester 1923 Schlegelberger

Beteiligung des Auslandes an der deutschen Wirtschaft & der Schutz gegen Überfremdung publ

normaler Honorarprofessor

Wintersemester 1923/24 Nussbaum

Währungsfragen im deutschen & internationalen Recht publ

außerordentlicher Professor

Wintersemester 1924/25 Partsch

Privatrecht im Versailler Vertrag p

ordentlicher Professor

Sommersemester 1925 Nussbaum

Rechtsgrundlagen des deutschen Geldwesens publ

außerordentlicher Professor

Wolff

Handels- & Schifffahrtsrecht p

ordentlicher Professor

Nussbaum

Wechsel- & Scheckrecht p

außerordentlicher Professor

Flechtheim

Recht der Kartelle & Konzerne p

normaler Honorarprofessor

Glum

Wirtschaftsrecht p

Privatdozent Dr.

75

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

Sommersemester 1926 Glum

Wirtschaftsrecht, mit besonderer Berücksichtigung der Dawes-Gesetze p

Privatdozent Dr.

Wintersemester 1926/27 Kaskel

Wirtschaftsrecht (Gewerbe-, Agrar& Kartellrecht) p

außerordentlicher Professor

Sommersemester 1928 Flechtheim

Recht der Aktiengesellschaft & GmbH p

normaler Honorarprofessor

Nussbaum

Wechsel- & Scheckrecht p

außerordentlicher Professor

Kaskel

Urheber- & Erfinderrecht p

außerordentlicher Professor

Glum

Wirtschaftsrecht (einschließlich Gewerbe-, Agrar-, Kartellrecht, mit besonderer Berücksichtigung DawesGesetze p

Privatdozent Dr.

Heymann

Übung im Handelsrecht p

ordentlicher Professor

Nussbaum

Juristisches Seminar: Rechtstatsachenforschung (bürgerliches Handelsrecht) pg

außerordentlicher Professor

Auch hier zeigt ein Blick auf die frühen Dissertationen,309 wie stark das Fach im akademischen Betrieb angekommen war: Geordnet nach Betreuer

Jahr

Autor

Titel

Note

Dersch

1933

Sieradz, Edwin

Abhängige Unternehmungen als Mittel von Gesetzesumgehungen im vornationalsozialistischen öffentlichen Recht (unter Ausschluß des Steuerrechts).

cum laude

Heymann

1923

Koch, Walter

Der Rechtsschein im Handelsrecht.

cum laude

309 Nachfolgende Angaben zu den Dissertationen im Zeitraum von 1900 bis 1933 zusammengetragen in der Studienarbeit von Felix Kraushaar, in: Schröder/Kleibert/Klopsch (Fn. 1).

76

Rainer Schröder

Geordnet nach Betreuer

Jahr

Autor

Titel

Note

Heymann

1924

Crisolli, KarlAugust310

Der Aktionär und die Goldbilanz nach der Goldbilanzverordnung.

cum laude

Heymann

1928

Schmey, Fritz Ernst

Aktie und Aktionär im Recht der Vereinigten Staaten mit besonderer Berücksichtigung der Trustbildung.

rite

Heymann

1929

Bergmann, Artur

Die Einflußnahme öffentlicher Körperschaften auf den Aufsichtsrat. Ein Beitrag zur Frage der gemischtwirtschaftlichen Unternehmung.

magna cum laude

Heymann

1929

Goldschmidt, Robert

Die sofortige Verschmelzung (Fusion) von Aktiengesellschaften unter besonderer Berücksichtigung der Reformfragen.

magna cum laude

Heymann

1933

Schilling, ErnstBalduin

Grundfragen des Tonfilmrechts für Zwangsvollstreckung, Vergleich und Konkurs.

cum laude

Heymann

1933

Flechtheim, Ernst

Die kapitalistisch ausgestaltete Personalgesellschaft.

cum laude

Heymann

1933

Walther, Karl Albrecht

Die Kartellkündigung im deutschen, französischen und englischen Recht.

cum laude

Kahl

1909

Romberg, Kurt

Die rechtliche Natur der Konzessionen und Schutzbriefe in den deutschen Schutzgebieten.

cum laude

Kipp

1919

Crisolli, Julius

Natur und Recht der unselbständigen Stiftung.

cum laude

310

Vgl. dazu: Thiessen Karl-August Crisolli und sein „Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung, Bereinigung und Reinhaltung des Handelsregisters“ von 1934 im Lichte aktueller Reformprojekte, in: Battis (Hrsg.) Privatrecht gestern, heute und morgen. Festkolloquium für Rainer Schröder zum 60. Geburtstag, 2008, 35–65.

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Die Geschichte der Juristischen Fakultät

Geordnet nach Betreuer

Jahr

Autor

Titel

Note

Nussbaum

1931

Littmann, Georg

Das Bankguthaben.

cum laude

Partsch

1925

Rosenfeld, Ernst

Diktierte Verträge.

rite

Wolff

1930

Ktistakis, Evangelos

Die Reederhaftung. Eine rechtsvergleichende Studie unter Berücksichtigung der geschichtlichen Quellen.

rite

Wolff

1931

Mann, Fritz Alexander

Die Sachgründung im Aktienrecht.

cum laude

Auch andere moderne Themen wurden aufgegriffen: Goldschmidt

1930

Milch, Werner

Die Luftfahrzeughypothek.

rite

c) Gewerblicher Rechtsschutz Im gewerblichen Rechtsschutz verbindet sich viel mit dem Namen Kohler,311 der seit 1888 an der Fakultät und gerade wegen seiner modernen Fragen dorthin berufen worden war.312 In der Weimarer Republik finden sich ganz selbstverständlich Veranstaltungen dazu, z.B.: Wintersemester 1931/32 Heymann

Urheber- & Erfinderrecht p

ordentlicher Professor

Magnus

Warenzeichen & unlauterer Wettbewerb p

Dr.

Magnus

Übung Verfahrensrecht gewerblicher Rechtsschutz pg

Dr.

311 Gängel/Schaumburg (Fn. 276), 289 ff.; Spendel Josef Kohler. Bild eines Universaljuristen, Heidelberg 1983. 312 Dölemeyer „Das Urheberrecht ist ein Weltrecht“. Immaterialgüterrecht und Rechtsvergleichung bei Josef Kohler, in: Wadle (Hrsg.) Historische Studien zum Urheberrecht in Europa, 1993, 139–150.

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Wintersemester 1932/33 Magnus

Warenzeichen & unlauterer Wettbewerb p

Dr.

d) Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung Zwar wurde an der Fakultät schon seit langem Recht verglichen, aber mit den neu installierten Fächern Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung sowie dem Kaiser-Wilhelm-Institut nahm das Fach einen gewaltigen Aufschwung. Mit Rabel und Wolff waren die zwei herausragenden Vertreter der neuen Fächer hier vertreten.313 Wintersemester 1932/33 Institut für Auslands- & Wirtschaftsrecht Dir. Prof. Heymann Heymann

Grundzüge deutschen Privatrechts unter Berücksichtigung französischen & englischen Rechts p

ordentlicher Professor

Zaitzeff

Einführung Wirtschaftsrecht Sowjetrusslands mit Berücksichtigung seiner Auswirkungen im internationalen Rechtsverkehr p

Privatdozent Dr.

Kulischer

Einführung Recht der Randstaaten (Polen, Litauen, Lettland, Estland) mit Berücksichtigung Wirtschaftsrechts p

Privatdozent Professor Dr.

Rheinstein

Einführung Privatrecht Englands & Vereinigten Staaten von Amerika p

Privatdozent Dr.

Kahn

Englischer Zivilprozess & Konkursverfahren mit Berücksichtigung der Fragen der deutschen Zivilprozessreform p

Dr. Rechtsanwalt Barrister at Law

Balogh

Einführung in österreichisches Bürgerliches & Zivilprozessrecht II (ohne internationales Privatrecht) unter Berücksichtigung deutsch– schweizerischen Rechts p

Gastprofessor

Balogh

Einführung ungarisches Recht, insbesondere Privatrecht, unter besonderer Berücksichtigung des Rechts der durch den Trianonvertrag von Ungarn abgetretenen Gebiete publ

Gastprofessor

313 Die Literatur über beide ist sehr umfangreich und auch in dieser Festschrift wird über sie berichtet.

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

79

e) Rechtsprechung vs. Wissenschaft Das Profil der Fakultät zeigt sich in Veranstaltungen (Vorlesungen, Seminaren) und in der Forschung (Schriften der Professoren selbst, Habilitationen und Dissertationen). Aber wer war in Deutschland der Motor der Rechtsreform? Für die Zeit vor 1900 und auch danach bis zum Ersten Weltkrieg die bürgerliche Sozialreform mit den Ministerien, getrieben von der Politik, besonders den Sozialdemokraten, und der Angst vor der Revolution. Juristische Praktiker vereinigten sich etwa in der Berliner Juristischen Gesellschaft, die schon 1860/61 den Deutschen Juristentag aus der Taufe hob. Der Deutsche Juristenbund wurde 1920 gegründet und auf Initiative des Berliners Ulrich Stutz im selben Jahr der Bund Deutscher Rechtslehrer ins Leben gerufen, um darauffolgend im erstgenannten zu inkorporieren.314 Auf den Juristentagen wurden wichtige Themen etwa zum Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht diskutiert: Von der Erbrechtsreform bis zu den Kartellen waren fast alle wirtschaftlich und gesellschaftlich relevanten Themen vertreten. Professoren, auch solche der Berliner Universität, beteiligten sich zum Teil herausragend wie Gneist und Kahl. Doch die meisten und auch die aktivsten Teilnehmer waren Praktiker. Die Fakultäten trieben die Reformen nicht in allen Fällen voran. Einzelne herausragende Hochschullehrer nahmen freilich an den Reformprozessen maßgeblich teil, nicht als Vertreter der Institution, sondern als individuelle Wissenschaftler wie Liszt und Kahl im Strafrecht und Kohler im Urheberrecht und gewerblichen Rechtsschutz. Auch in den anderen neuen Gebieten begleiteten Professoren ihre Themenfelder, z.B. Heymann das Aktien- und Gesellschaftsrecht, wie man an den Dissertationen sehen kann. 2. Hinweg mit Altem Eines der größten Probleme des Rechts, der Rechtswissenschaft und der Lehre ist die Zunahme des Stoffes und die darauf bezogene Frage: Welchen Teil der ‚neuen Probleme‘ muss man lehren? Und was vom Alten kann oder muss man weglassen? Reicht das Lernen von Methoden der Textinterpretation, von Überblicken, Strukturen und an Beispielen oder sollen Gebiete, die in der Praxis wichtig sind, für die zukünftige berufliche Ausübung vermittelt werden? Das ist übrigens auch heute die Frage. Oder kommt anderes hinzu? So im 19. Jahrhundert die Rechtsgeschichte. a) Rechtsgeschichte Die Rechtsgeschichte erlitt einen extremen Bedeutungsverlust. Wie war die Fakultät auf diesem Felde bedeutend gewesen: 314

HUB-UA Jur. Fak. 4, Bl. 91 ff., zit. nach Klopsch (Fn. 8), 308.

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Savigny (1779–1861), Eichhorn (1781–1854), Homeyer (1795–1874), Puchta (1798–1846), Stahl (1802–1861), Beseler (1809–1888), Gierke (1841– 1921), Brunner (1840–1915), Stutz (1868–1938), Schulz (1879–1957). Das Fach wurde ‚historisch‘ und begann mit den Selbstzweifeln, die seitdem jede Generation von Rechtshistorikern erneut beschäftigt. Sinn und Funktion der Beschäftigung mit Rechtsgeschichte stehen seitdem auf dem Prüfstand. Da sind/waren zunächst die klassischen Fragen: – Warum noch römisches Recht, wenn doch das BGB vorhanden war? Braucht man dann außerhalb des historischen Interesses noch die Befassung mit der Mutter allen europäischen Zivilrechts? – Ist Geschichte nützlich für die Formulierung oder im Rahmen der historischen Interpretation von Gesetzen?315 Wenn Recht ein Kulturphänomen ist, muss man nicht seine Wurzeln kennen? Legitimiert sich Geschichte nicht aus sich selbst? Oder betreibt man Rechtsgeschichte aus dem gleichen Grund, aus dem man auf Berge steigt: Weil sie da sind? – Kann man aus der Geschichte lernen, um z.B. gefährliche diktatorische, menschenrechtswidrige Trends zu erfassen?316 Die heutigen Fragen der juristischen Zeitgeschichte nach den deutschen Diktaturen liegen auf der Hand: Die vertikale Rechtsvergleichung und die horizontale vermischen sich: Transitional justice ist ohne neueste Rechtsgeschichte nicht darstellbar.317 Geht es auch in der Rechtsgeschichte um Vergangenheitspolitik?318 b) Rechtstatsachenforschung als Surrogat für Rechtsgeschichte? Der Vater der Rechtstatsachenforschung, einer der Mitbegründer der Rechtssoziologie, Arthur Nussbaum lehrte seit 1914 – zunächst als Privatdozent – Handels-, Bank- und Börsenrecht, die letzteren beiden gleichfalls sehr neue Rechtsgebiete. Sein Interesse galt einer wirtschaftsbezogenen pra315 Dazu neue Publikationen in: Dilcher Vom Beitrag der Rechtsgeschichte zu einer zeitgemäßen Zivilrechtswissenschaft, AcP 184 (1984) 247–288. 316 Vgl. Schröder (Hrsg.) Zivilrechtskultur der DDR, Band I (Zeitgeschichtliche Forschungen, Band 2/1), 1999; Band II (Zeitgeschichtliche Forschungen, Band 2/2), 2000; Band III (Zeitgeschichtliche Forschungen, Band 2/3), 2001 mit abschließendem Band: ders. Zivilrechtskultur der DDR, Band IV (Zeitgeschichtliche Forschungen, Band 2/4), 2008. Vgl. außerdem die Dokumentationsreihe in 7 Bänden von Marxen/Werle (Hrsg.) Strafjustiz und DDR-Unrecht, 2000–2009. 317 Teitel Transitional Justice, 2000; Werle Transitional Justice – Der juristische Rahmen, in: Müller/Sander/Válková (Hrsg.) FS Eisenberg 2009, 791–806. 318 Schröder Die Bewältigung des Dritten Reiches durch die Rechtsgeschichte, in: Mohnhaupt (Hrsg.) Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988–1990). Beispiele, Parallelen, Positionen, 1991, 604–647; Frei Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit2, 1997.

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xisnahen Lehre,319 daneben immer wieder Geld und Kredit.320 Aus dem Interesse entwickelten sich Rechtstatsachenforschung321 und empirische Rechtssoziologie, die nach der erzwungenen Emigration des Extraordinarius (seit 1920) nach New York (School of Law/Columbia University) im Jahre 1933 letztlich erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen wurden. So hochspannend seine Forschungen zu Wirtschaftsrecht und Rechtstatsachen auch waren, mit den letzteren setzte er sich in seiner Zeit in Deutschland (noch) nicht durch. Trotz des Niedergangs der Rechtsgeschichte gelang es insbesondere nicht, mit der neuen Soziologie bzw. Rechtssoziologie die Lücke zu füllen. Nachdem der historische Rechtsvergleich nicht mehr fruchtbringend erschien, hätte die Stunde der Soziologen schlagen müssen, denn die Wechselwirkung von Rechtsordnung und sozialer Wirklichkeit war neben dem hermeneutischen wissenschaftlichen Ansatz eigentlich die neue Königsfrage der Rechtswissenschaft. Obwohl durch (den Berliner Habilitanden des römischen Rechts) Max Weber322 und Eugen Ehrlich323 schon wichtige Rechtssoziologien erschienen waren, konnte sich das neue Fach nicht durchsetzen.324 c) Naturrecht Ein weiterer Blick zurück: Naturrecht und Rechtsphilosophie waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts regelmäßig gelesen worden. So las vor allem Theodor Schmalz in jedem Winter bis zu seinem Tod 1831 ‚nach seinem Lehrbuche‘ und fand verhältnismäßig großen studentischen Zuspruch.325 Seltener und mit weitaus weniger Hörern lasen aber auch Jarcke,326 Steltzer327 und Moosdorfer-Roßberger.328 Eduard Gans verband das Naturrecht mit Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte und hatte damit großen Erfolg bei den Hörern.329 319

Vgl. HUB-UA, UK-Pers. N 103, Band 2, Bl. 17. Z.B. Nussbaum Das Geld in Theorie und Praxis des deutschen und ausländischen Rechts, 1925; ders. Vertraglicher Schutz gegen Schwankungen des Geldwertes, 1928; ders. Money in the law, 1939. 321 Nussbaum Rechtstatsachenforschung: ihre Bedeutung für Wissenschaft und Unterricht, 1914. 322 Weber Wirtschaft und Gesellschaft (1921), 5. Auflage 1980. 323 Ehrlich Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913. 324 Raiser Grundlagen der Rechtssoziologie4, 2007, 86 ff. 325 Schmalz hielt die Vorlesung durchgehend vom WS 1811/1812 bis zum WS 1830/ 1831, mit durchschnittlich ca. 57 Hörern, vgl. Virmond (Fn. 155). 326 Im SS 1831 mit 40 Hörern, vgl. Virmond (Fn. 155). 327 Im WS 1821 mit 6 Hörern, vgl. Virmond (Fn. 155). 328 Jeweils in den SS von 1828 bis 1833 mit durchschnittlich etwa 9 Hörern, vgl. Virmond (Fn. 155). 329 Ab 1827 jeweils im WS mit durchschnittlich ca. 152 Hörern, vgl. Virmond (Fn. 155). 320

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Zu Professoren für bzw. als Habilitanden mit venia für Naturrecht wurden nur wenige bestellt: – Privatdozent Wilhelm Rossberger-Moosdorfer, 1819, – Privatdozent Karl Kahle, 1839 (PD 1839–1845), – ordentlicher Prof. Ludwig Heydemann (Lehrtätigkeit 1840–1874; PD 1840; außerordentlicher Professor 1841; Professor 1845; Naturrecht, Preußisches Recht), – ordentlicher Prof. Friedrich Julius Stahl (Professor 1840–1861; Fürstenrecht, Kirchenrecht, Naturrecht, Staatsrecht), – außerordentlicher Prof. Alexander von Daniels (außerordentlicher Professor seit 1844; Lehnrecht, Preußisches Recht), – Privatdozent Wilhelm Bornemann (PD 1859–1863; Preußisches Recht). Klippel erklärt seit langem, das angeblich überwundene Naturrecht habe im 19. Jahrhundert weitergelebt, es sei durchgängig im Lehrbetrieb, in der Rechtswissenschaft und als literarische Gattung präsent gewesen.330 Das ist m.E. so richtig wie falsch, denn gelesen wurde Naturrecht zweifellos und Fachbücher gab es auch.331 Am Anfang an der Berliner Universität las vor allem Schmalz, der in seinen wissenschaftlichen Konzeptionen aus dem 18. Jahrhundert hinüberragte. Aber geprüft wurde es – wie heute – nicht, also war es, wenn nicht als Pflichtfach für das Staatsexamen Voraussetzung, für die Durchschnittsstudenten nicht interessant. Zu Recht fragt sich Klippel nach der Funktion der naturrechtlich-rechtsphilosophischen Vorlesung im Rahmen der Juristenausbildung des 19. Jahrhunderts oder generell zur Bedeutung des Naturrechts als Spezialdisziplin im Spektrum der Rechtswissenschaft. Seine immer wieder vertretene These vom „Fortleben“ ist m.E. aber zu bezweifeln. Naturrecht wurde nicht geprüft im Staatsexamen. Immer weniger Hochschullehrer hatten das Fach in ihrer Venia, so wie später am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Fach Rechtsphilosophie kaum in venien vertreten war. Richtig ist zweifellos, dass das Naturrecht (zu Unrecht) von der historischen Rechtsschule perhorresziert wurde.

330 Die Darstellung folgt sehr eng auch in der Literaturverwendung – bei einigen Abweichungen – Klippel Die Historisierung des Naturrechts. Rechtsphilosophie und Geschichte im 19. Jahrhundert, in: Kervégan/Mohnhaupt (Hrsg.) Recht zwischen Natur und Geschichte. Le droit entre nature et histoire. Deutsch-französisches Symposion vom 24.–26. November 1994 an der Universität Cergy-Pontoise (Ius Commune Sonderheft 100), 1997, 103–124; vgl. schon ders. Naturrecht und Rechtsphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Dann/Klippel (Hrsg.) Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution, 1995, 270–292. 331 Schröder/Pielemeier Naturrecht als Lehrfach an deutschen Universitäten des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Dann/Klippel (Fn. 330), 255–269.

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Die Rolle des Naturrechts als ‚Probierstein‘ des positiven Rechts war im 18. Jahrhundert m.E. unbestreitbar, im 19. Jahrhundert jedoch nicht mehr gegeben. Den Fragen kann im Einzelnen nicht nachgegangen werden. Ob an die Stelle des Naturrechts die „Philosophie des positiven Rechts“ (Gustav Hugo) getreten war, ob das Naturrecht ein Maßstab für das positive Recht war und sein konnte,332 soll dahinstehen. Alle Polemik gegen „die seichte Strömung einer lediglich positivistischen und materialistischen Richtung der Zeit“ 333 (gemeint war die historische Rechtsschule) nutzte letztlich nichts. Ein bedeutender (ethisierender) Naturrechtler dieser Zeit war Heinrich Ahrens, der viel veröffentlichte.334 Auch im politischen Kampf der Zeit, im ausgehenden Vormärz, spielte Naturrecht eine wichtige Rolle wie Klippel am Beispiel Rotteck zeigen kann. „Die gesamte Geschichte eines Volkes und aller anderen Völker kann mein natürliches Recht nicht aufheben.“335 An der Universität scheint mir als Einführung in das juristische Denken nicht mehr Naturrecht oder Rechtsphilosophie gedient zu haben, sondern die Encyclopädie. Encyclopädie (des positiven, des gemeinen, des positiven gemeinen oder gesamten) auch mit Methodologie oder mit Einführung in die Literatur las vor allem Schmalz ‚nach seinem Lehrbuche‘, aber auch die Romanisten und Savigny-Schüler wie Biener (nach Schmalz’ Lehrbuch), Rudorff, Klenze, daneben Pütter, Phillips und der Germanist Homeyer.336 Danach folgte wenig, geprüft davon wurde nichts. d) Rechtsphilosophie Der Begriff der Rechtsphilosophie bekam größere Bedeutung gegenüber dem des Naturrechts. Warnkönig meinte 1861: „Man darf es sagen, das Naturrecht starb, und ging nur noch in der Rechtsphilosophie als Geist umher! von a priori als Vernunftgesetz formulirten, ohne Staatssanction, geltenden Rechtssätzen konnten nach den übereinstimmenden Ansichten fast Aller nicht mehr die Rede seyn: das Naturrecht als Rechtsphilosophie war nur die Lehre de lege ferenda!“337 Klippel meint also zu Recht, Naturrecht und Rechtsphilosophie seien zunehmend rechtspolitische Disziplinen gewesen.338 Die Rolle des Naturrechts 332

Klippel (Fn. 330), 115. Röder Grundzüge des Naturrechts oder der Rechtsfilosofie, Band 12, 1860, XXII und XXVI f., zit. nach Klippel (Fn. 330), 118. 334 Schröder (Fn. 227), 395 ff. 335 Rotteck Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Band 1, Lehrbuch des natürlichen Privatrechts2, 1847, 64, zit. nach Klippel (Fn. 330), 119. 336 Belege bei Virmond (Fn. 155). 337 Warnkönig Die Wiederauferstehung des Naturrechts oder kritische Überschau der drei neuesten Lehrbücher, Kritische Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 3 (1861) 241 ff., 244 f., zit. nach Klippel (Fn. 330), 120. 338 Klippel (Fn. 330), 121. 333

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bei der konkreten Rechtsreform kann man an verschiedenen Beispielen (Erbrechtsreform) aufzeigen.339 Ob die Neu-Naturrechtler, unter denen m.E. Warnkönig,340 Ahrens341 und Trendelenburg342 die bedeutendsten waren, tatsächlich Wirkungen wissenschaftlicher oder praktischer Natur entfalteten, ist nicht sicher. Denn der Schwerpunkt der Entwicklung lag eher im Zivilrecht, der sog. Begriffsjurisprudenz, und in den ‚modernen‘ Fächern. Für Berlin war freilich Stahls Rechtsphilosophie bedeutend,343 und auch – natürlich – Hegel mit seiner Rechtsphilosophie, der aber außer Gans keinen herausragenden ‚Vertreter‘ in der Fakultät finden konnte. Es begann ein großes Ringen um die Funktion des Naturrechts (und der Rechtsphilosophie), so dass Klippel konstatiert: „Aber alle diese Versuche einer Historisierung des Naturrechts, so interessant sie methodisch und inhaltlich sind, vermochten den gegen Ende des 19. Jahrhunderts offen zu Tage liegenden Bedeutungsverlust der Rechtsphilosophie nicht aufzuhalten.“344 „Das Naturrecht wurde in der Rechtswissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend als wissenschaftlich überwunden angesehen; Richard Goldschmidt sprach 1886 von der ‚Alleinherrschaft‘ der historischen Rechtsschule“.345 Was andere, beispielsweise Kohler, nicht für zutreffend hielten. Dieser meinte, die Herrschaft der historischen Schule sei überwunden.346 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war man sich klar darüber, dass man weder vom Naturrecht, noch der Rechtsphilosophie, aber auch nicht von der Rechtsgeschichte eine „große Bereicherung unseres rechtswissenschaftlichen Wissens erwarten“ könne.347 339

Vgl. schon Schröder (Fn. 227), 387 passim. Warnkönig Die gegenwärtige Aufgabe der Rechtsphilosophie nach den Bedürfnissen des Lebens und der Wissenschaft, Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft 7 (1851) 219–281, 473–536, 622–665. 341 Ahrens Das Naturrecht oder die Rechtsphilosophie nach dem gegenwärtigen Zustande dieser Wissenschaft in Deutschland, 1846; ders. Naturrecht oder Philosophie des Rechts und des Staates auf dem Grunde des ethischen Zusammenhanges von Recht und Cultur6, 2 Bände 1870/71. 342 Trendelenburg Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, 1860, 2. ausgeführtere Auflage 1868. Trendelenburg war Ordinarius der Philosophischen (nicht der Juristischen) Fakultät ab 1837. 343 Stahl Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht. – Band 1: Genesis der gegenwärtigen Rechtsphilosophie. – Band 2 und 3: Christliche Rechts- und Staatslehre. Erste und zweite Abtheilung: 1830, 1833, 1837. 344 Klippel (Fn. 330), 123. 345 Ebenda, Goldschmidt Kritische Beleuchtung der Übergriffe der historischen Schule und der Philosophie in der Rechtswissenschaft, 1886, 2. 346 Kohler Recht und Persönlichkeit in der Kultur der Gegenwart, 1914, 21. 347 Schein Unsere Rechtsphilosophie und Jurisprudenz. Eine kritische Studie, 1889, 120; Klippel (Fn. 330), 123 f. 340

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Gegen Ende des Jahrhunderts lasen vor allem Kohler und Stammler die Rechtsphilosophie, ein Fach, für das sie berufen worden waren.348 Kohlers Position ist nur schwer zu bestimmen. Es mischen sich Elemente der Rechtsphilosophie Hegels mit Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte; insgesamt ein assoziativer weltrechtlicher Ansatz.349 Stammler hingegen war Mitbegründer der neukantianischen Richtung.350 „Die Materie des sozialen Lebens“ ist nach Stammler351 die Wirtschaft, die Form das Recht. Dieses ist in seiner Auffassung von der Rechtsphilosophie „richtig“ zu bestimmen. So stark die Spuren sind, die Kohler im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes und im Wirtschaftsrecht hinterlassen hat, auf dem Feld der Rechtsphilosophie waren seine Leistungen nicht ähnlich tiefgehend. Entsprechend der ‚Marginalisierung‘ des Faches waren rechtsphilosophische Dissertationen in der Fakultät selten.352

VI. Weimar Das Gesicht der Fakultät sah nun so aus:353 Jahr

1900

1910

1920

1930

1933

Zahl der Ordinarien

12

10

13

12

14

Schwerpunkt der Lehre354 348 Josef Kohler, Professor 1888–1919 für Handelsrecht, Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie, Strafrecht und Zivilprozess; Rudolf Stammler, Professor 1916–1921 für Deutsches Recht und Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie; über Venien verfügten später: Paul Ritterbusch, Professor 1941 für Rechtsphilosophie, Völkerrecht, Verwaltungsrecht, Verfassungsrecht; Heinrich Rogge, Lehrauftrag 1936, Honorarprofessor 1937–1942 für Rechtsphilosophie und Völkerrecht; Herbert Lemmel, Dozent 1940 für Rechtsphilosophie. 349 Gängel/Schaumburg (Fn. 276), 289–312, 292, 296 ff. 350 Stammler Lehrbuch der Rechtsphilosophie, dritte, vermehrte Auflage, 1928, unveränderter photomechanischer Nachdruck, 1970; ders. Die Lehre von dem richtigen Rechte. 1964, unveränderter Nachdruck der Auflage von 1926. 351 Stammler Die Lehre von dem richtigen Rechte (Fn. 350), z.B. 53, 57, 126, 168. 352 Z.B.: Leibholz Die Gleichheit vor dem Gesetz. Eine Studie auf rechtsvergleichender und rechtsphilosophischer Grundlage, 1924 (bei Triepel); Cohn Das objektiv Richtige. Eine transcendentalphilosophische Untersuchung der Aufgaben und Grenzen der Rechtsphilosophie, 1919 (bei Stammler); Brand(ts) Die Lehre von der Strafe bei Thomas Aquin. Ein Beitrag zur Rechtsphilosophie des Mittelalters, 1908 (bei Kohler); Antonescu Beziehungen zwischen Rechtswissenschaften und moderner Rechtsphilosophie, 1889 (Betreuer konnte nicht ermittelt werden); Sternberg Die Begnadigung bei den Naturrechtslehrern, 1899 (bei Kohler). 353 Klopsch (Fn. 8), 139 passim.

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Jahr

1900

1910

1920

DtRG, Dt R

Gierke

Gierke

Gierke 1886–1921

ÖffR

Martitz

Martitz

Martitz 1897–1921

KiR

Hübler

RömR

Eck

StrafR

Kahl

Kahl

Rechtswissenschaft

Kohler

Kohler

BüR

Schollmeyer

Dt RG

Brunner

RömR

Pernice

BüR, RömR

Dernburg

StrafR

Berner

StrafR

Liszt

1930

1933

Kahl

Kahl

Kahl

Kipp

Kipp

Brunner

Liszt

ÖffR

Anschütz

BüR

Kipp

RömR

Hellwig

RömR

Seckel

Seckel

BüR

Heymann

Heymann

Heymann

StrafR

Goldschmidt

Goldschmidt

Goldschmidt

ÖffR

Bruns

Bruns

Bruns

ÖffR

Kaufmann

ÖffR

Triepel

Triepel

Triepel

DtRG, Dt R, RPhil

Stammler

KiR, DtRG, Dt R

Stutz

Stutz

Stutz

354 Die venien lauteten nicht selten anders. Bei Gneist etwa Bürgerliches Recht, Römisches Recht, Deutsches Recht und Rechtsgeschichte und nicht Öffentliches Recht, wofür er berühmt wurde.

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Jahr StrafR

1900

1910

1920

1930

1933

Kohlrausch

Kohlrausch

Kohlrausch

BüR

Wolff

Wolff

Dt R, DtRG, RömR

Rabel

Rabel

ÖffR, KiR

Smend

Smend

BüR, RömR

Titze

Titze

RömR, BüR

Schulz

Dt R, DtRG, RömR

Lewald

ÖffR

Schmitt

1. Studenten und Karrierebedingungen Es studierten nun viel mehr Studenten als früher. War die Fakultät vor dem Ersten Weltkrieg eine der größten der Welt,355 so wuchs sie jetzt noch weiter. Viele Studenten erlangten durch äußere Veränderungen Zugang zum Studium. Jura war die Möglichkeit für tüchtige Abiturienten, Karriere zu machen. Die Referendarzeit wurde nicht gut, aber immerhin bezahlt. Damit fiel die extreme schichtspezifische Selektion weg. Die Schaltstellen in Regierung und Verwaltung, aber auch in den Privatunternehmen waren mit Juristen besetzt (Juristenmonopol). Die soziale Selektion fand über die Schule statt. Das Studium allein reichte freilich nicht, um gut bezahlte Stellen oder Stellen in der richterlichen oder Verwaltungshierarchie zu finden. Traditionen aus dem Kaiserreich, wenngleich abgeschwächt, setzten sich fort. Der Reserveoffizierskult war nicht mehr in dem Maße möglich wie im Kaiserreich, die Zugehörigkeit zu einer Studentenverbindung konnte dennoch Türen zur Karriere öffnen. Das Studium wurde wiederholt reformiert und modernisiert, Wirtschaftsund Arbeitsrecht stärker angeboten und verlangt.356 2. Neue Probleme, alte Preisfragen Die Weimarer Republik war von Wirtschaft, Politik und Recht her gesehen eine Abfolge von Katastrophen: 355

Vgl. Gängel/Schaumburg (Fn. 276), 295. Heymann Recht und Wirtschaft in ihrer Bedeutung für die Ausbildung der Juristen, Nationalökonomen und Techniker, in: Festgabe für Rudolf Stammler zum 70. Geburtstage am 19. Februar 1926, 1926, 205–230; Lubarsch zur Frage der Hochschulreform, 1919; Becker Gedanken zur Hochschulreform, 1919. 356

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• Der rechtlose Zustand am Ende der Monarchie, in dem die faktische Macht auf den Rat der Volksbeauftragten und das Demobilmachungsamt überging.357 Verfassungsrechtliche Fragen stellten sich schneller, als man Zeit hatte, sie zu analysieren und zu beantworten. • Zwei wirtschaftliche Extremsituationen folgten: Die Hyperinflation und die Weltwirtschaftskrise. • Der Parlamentarismus geriet durch die Extremisten von rechts und (!) links in die Defensive, bis die Republik sich spätestens ab Brüning in eine Präsidialdiktatur flüchtete. • Die Gerichte und das Recht gerieten in die Krise, als die Richter der Republik und den Bürgern den Schutz vor politisch motivierten Straftätern versagten. Die Blindheit auf dem rechten358 Auge schloss sich lückenlos an die Legitimationskrise an, die im späten Kaiserreich (leider zu Recht) als Klassenjustiz gebrandmarkt worden war. Nun geht es in dieser Darstellung einer Fakultät weder um eine politische Geschichte noch um eine allgemeine Rechts- oder Disziplingeschichte. Es gab natürlich keinen Zwang für Juraprofessoren, immer und an jeder aktuellen Diskussion teilzunehmen. Heute – darüber kann man sicher streiten – leidet die universitäre Rechtswissenschaft an einem Mangel an prinzipiellem Denken und befasst sich zu oft mit Aktuellem (vor allem mit Entscheidungen und Gesetzesprojekten). Im Gegenteil könnte man meinen, Aktuelles sei den Praktikern des jeweiligen Gebiets zu überlassen, vielleicht den Juristentagen oder ähnlichen Gremien. Doch löste jedes der erwähnten Geschehnisse so viele rechtliche Fragen aus, dass hierin – vielleicht noch stärker als im 2. Kaiserreich – eine Herausforderung lag. Symptomatisch ist vielleicht die Kontinuität der Preisfragen in der Fakultät: Ursprünglich waren Preisfragen von Akademien etc. gestellt worden, um aktuelle Probleme zu diskutieren, wie die Lösung der Arbeiterwohnungsfrage. In einer juristischen Fakultät mag der Schwerpunkt auf Fragen liegen, die stärker auf das Recht als z.B. auf die sozialen Probleme gerichtet sind. Doch stellte die Fakultät selbst in dieser schwierigen Zeit so weltabgewandte Preisaufgaben, dass die Presse dies aufgriff und heftig kommentierte. So schrieb das Berliner Tageblatt am 9. September 1919 etwa: „Die Berliner Universität hat ihre Preisaufgaben für das Jahr 1920 veröffentlicht. Im öffentlichen Recht hat der Krieg so viele neue Fragen des Völkerrechts aufgeworfen; im Staatsrecht hat uns die Revolution vor so mancherlei neue Probleme gestellt; im bürgerlichen Recht sind uns durch beide 357 Wachs Das Verordnungswerk des Reichsdemobilmachungsamtes. Stabilisierender Faktor zu Beginn der Weimarer Republik, 1991; Spoerr (Fn. 237). 358 Eigentlich dem linken, wenn man die Straftaten von rechts nicht sehen will, aber . . .

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Ereignisse ebenfalls eine Fülle von neuen Fragen entstanden – man denke, um zwei Beispiele herauszugreifen, nur an die Kriegsklausel bei Lieferungsverträgen, oder den Einfluss der Sozialisierung auf die Organisation der Aktiengesellschaft. Gespannt greife ich also nach den Preisausschreiben der Berliner Fakultät, um zu sehen, welche Fragen aus der Fülle dieser Probleme sie den heranwachsenden Juristen zur Verfügung gestellt hat, und ich finde folgende zwei Aufgaben. Die Begründung der Servituten durch Vertrag und Ersitzung im klassischen und nachklassischen römischen Recht soll unter Berücksichtigung der neueren Interpolationen- und Papyrusforschung einer Nachprüfung unterzogen werden. Die Gewedde im Sachsenspiegel soll unter Berücksichtigung der übrigen sächsischen Rechtsquellen des Mittelalters behandelt werden. Man traut seinen Augen nicht. Bei der Fülle neuer Aufgaben hat die juristische Fakultät der hauptstädtischen Universität ein altrömisches Rechtsinstitut und ein mittelalterliches deutsches als die geeigneten Probleme herausgefunden, in welche sich die fleißigsten und am besten befähigten unserer studierenden Jünglinge vertiefen sollen! Es ist, als ob die Universität nicht dazu da wäre, Juristen für die Praxis auszubilden, sondern Altphilologen mit juristischem Einschlag. Wenn diese beiden Preisarbeiten keine Bearbeiter finden, so möge sich die Fakultät nicht über mangelnden Fleiß und mangelndes Interesse ihrer Hörer beklagen. Von der Jugend, die den Krieg mitgeschlagen, die Revolution miterlebt hat, die also ganz anders im lebendigen Leben steht, als frühere Generationen, kann sie doch wahrlich nicht verlangen, dass sie sich in die römischen Servituten und die mittelalterlichen Gewedde viele Monate hindurch ausschließlich vertiefe, um eine Preisaufgabe befriedigend zu lösen. Uns aber sei die Frage gestattet: Welchen Hauch des Geistes der neuen Zeit haben wohl die juristischen Professoren verspürt, die fähig sind, für das Jahr 1920 solche Preisaufgaben zu stellen?“359 Selbst die „Münchener Neuesten Nachrichten“ spotteten am 17. September 1919: „Sollte das geschehen (dass niemand die Preisfrage beantworten werde, Anm. d. Verf.), dann muss vielleicht die hohe, sterile Fakultät selbst ihre Preisfrage beantworten. Als Zusatz empfehle ich, ihr noch folgende kleine Anfrage vorzulegen: ‚Ist es der juristischen Fakultät der Universität Berlin bekannt, dass Deutschland 1914/19 einen Krieg führen musste, dieser Krieg mit einer Revolution abschloss und als Folge beider in den deutschen Rechtsverhältnissen ungeheure Veränderungen eintraten?‘ “360

359 360

HUB-UA Jur.-Fak. 651, Bl. 52, zit. nach Klopsch (Fn. 8), 240 f. Ebenda, Bl. 54.

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Zwar schwieg die Fakultät gegenüber den verbalen Angriffen der Presse, jedoch änderten sich zwei Jahre später allmählich die Themen. Eine Arbeit betraf 1922 etwa staatskirchenrechtliche Aspekte der WRV und eine andere die Prozessordnungen der durch den Versailler Friedensvertrag eingesetzten gemischten Schiedsgerichte. 3. Das öffentliche Recht, besonders das Staatsrecht Die Fakultät war auch hier glänzend besetzt: Anfangs mit Anschütz, Martitz, Erich Kaufmann,361 Viktor Bruns und Heinrich Triepel, später dann Rudolf Smend bis 1935. In der Nähe der Fakultät (Handelshochschule) befand sich noch Hugo Preuß, Schüler von Gierke362 und Mitschöpfer der Weimarer Reichsverfassung. Die qualitativ bedeutende Besetzung der Fakultät entsprach der zunehmenden Bedeutung des öffentlichen Rechts, besonders des Staatsrechts. Anschütz, der von 1908 bis 1916 in Berlin gelehrt hatte, kommentierte diese Verfassung so lapidar und positivistisch wie er die Verfassung des Zweiten Kaiserreiches kommentiert hatte.363 Das tat einer Republik gut, die von vielen Seiten bekämpft wurde. Hier reichte die Spanne unter den Juristen von offener Ablehnung, ja Hass über den sogenannten Vernunftrepublikanismus bis zur sehr seltenen vollen Unterstützung. Unter den verfassungstreuen Hochschullehrern fanden sich auch Berliner, nämlich Kahl und Waldecker. Letzterer lehrte 1926 allerdings schon in Königsberg. Der Kampf wurde auch auf wissenschaftlicher Ebene ausgetragen: Legendär – wie bereits erwähnt – ist die Diskussion um die verfassungsrechtliche Integrationslehre Smends mit den Gegenpositionen des 1933 berufenen Carl Schmitt. Vieles ist hier bekannt, manches in den personenbezogenen Artikeln vertieft. 4. Strafrecht In Strafrecht und Strafprozess standen große Reformen an. Diese wurden in Parlament und Ministerien erkämpft. Nachdem zum Ende des Zweiten Kaiserreiches Kahl und Liszt führend tätig geworden waren und das StGB entschlackt hatten, vertraten nunmehr Kahl, Kohlrausch und Goldschmidt das Strafrecht in der Fakultät und in den Reformdiskussionen.364 361

Degenhardt Zwischen Machtstaat und Völkerbund. Erich Kaufmann (1880–1972),

2008. 362 Preuss Weltkrieg, Demokratie und Deutschlands Erneuerung, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 44 (1917/18) 242–264. 363 Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Mit Einleitung und Erläuterungen von Gerhard Anschütz. 364 Wobei Goldschmidt 1921 das planmäßige Ordinariat von Kahl übernahm, Kohlrausch 1919 dasjenige von Liszt (1919), vgl. Klopsch (Fn. 8), 139–144.

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Wilhelm Kahl (1849–1932): seit 1895 an der Fakultät als Ordinarius für Kirchenrecht, Staatsrecht, Strafrecht. Neben ihm Eduard Kohlrausch (1874– 1948): Ordinarius ab 1919; James Goldschmidt (1874–1940): Schüler von Liszt und Kohler, Privatdozent 1901, außerordentlicher Professor 1908, Ordinarius 1919–1934 für Strafrecht und Strafprozessrecht. Daneben lehrten und arbeiteten: Karl Klee (1876–1944): Privatdozent 1906, außerordentlicher Professor 1921, Honorarprofessor 1939; Max Alsberg (1877–1933): Honorarprofessor 1931, wurde ein Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung. Ein pauschales Urteil ist nicht leicht und verbietet sich aus Raumgründen hier wie im öffentlichen Recht. Kahl war – wie Liszt – ein politischer Professor. Er agierte intensiv in seiner Eigenschaft als Politiker und Mitglied des Reichstages, intensiver vielleicht denn als Wissenschaftler. Goldschmidt wurde 1919 nicht nur Professor, sondern auch Mitarbeiter im Reichsjustizministerium für die Reform des Strafprozesses. 5. Zivilrecht365 Auch hier war die Fakultät sehr gut besetzt mit Kipp, Heymann, Wolff, Rabel und Titze.366 Sie hatte nach und neben Kipp den ‚Meister der Klarheit‘ Martin Wolff (1872–1953) verpflichten können, der in Berlin promoviert wurde, 1900 habilitierte, zum außerordentlichen Professor von 1903-1914 und Ordinarius von 1921–1935 ernannt, bevor er als Jude außer Landes getrieben wurde. Mit Wolff und Rabel verfügte die Fakultät zudem über die herausragenden Vertreter des IPR und der Rechtsvergleichung. Ernst Heymann vertrat gleichfalls das IPR, war nicht nur ein bedeutender germanistischer Rechtshistoriker, sondern auch Handels- und Wirtschaftsrechtler von großer Schaffenskraft.367 Er war von 1899 bis 1902 außerordentlicher und von 1914 bis 1938 ordentlicher Professor für deutsches Recht, Handels- und Kirchenrecht. In seinem weit gespannten Forschungsprofil konnte man ihn vielleicht am ehesten mit Kohler vergleichen. Ein Blick auf die Dissertationen, die bei Heymann verfasst wurden, zeigt die Forschungsinteressen: Jahr

Autor

Titel

Note

1923

Friedlander, Kurt

Das sowjetrussische Eherecht in seiner Bedeutung für das in Deutschland geltende internationale Privatrecht.

magna cum laude

365

Dazu Nörr (Fn. 298). Schröder, Zivilrecht 1850 bis 1945 (Fn. 9). 367 Vgl. Asen (Fn. 61), 79. 366

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Rainer Schröder

Jahr

Autor

Titel

Note

1924

Crisolli, Karl-August

Der Aktionär und die Goldbilanz nach der Goldbilanzverordnung.

cum laude

1925

Hallstein, Walter

Der Lebensversicherungsvertrag im Versailler Vertrag.

magna cum laude

1928

Schmey, Fritz Ernst

Aktie und Aktionär im Recht der Vereinigten Staaten mit besonderer Berücksichtigung der Trustbildung.

rite

1929

Bergmann, Artur

Die Einflußnahme öffentlicher Körperschaften auf den Aufsichtsrat. Ein Beitrag zur Frage der gemischtwirtschaftlichen Unternehmung.

magna cum laude

1929

Goldschmidt, Robert

Die sofortige Verschmelzung (Fusion) von Aktiengesellschaften unter besonderer Berücksichtigung der Reformfragen.

magna cum laude

1930

Neumann, Siegfried

Die Kauferstattung des selbständig handelnden Minderjährigen im deutschen, englischen und französischen Privatrecht, insbesondere im Handelsverkehr.

rite

1933

Schubart, Gertrud

Das Eherecht im Brünner Schöffenbuch.

cum laude

1933

Schilling, ErnstBalduin

Grundfragen des Tonfilmrechts für Zwangsvollstreckung, Vergleich und Konkurs.

cum laude

1933

Spiegel, Hans Wilhelm

Der Pachtvertrag der Kleingartenvereine.

cum laude

1933

Flechtheim, Ernst

Die kapitalistisch ausgestaltete Personalgesellschaft.

cum laude

1933

Walther, Karl Albrecht

Die Kartellkündigung im deutschen, französischen und englischen Recht.

cum laude

Also vier Schriften zum Aktienrecht, eine zum Gesellschaftsrecht, zwei zur Rechtsvergleichung, zwei zum IPR, zwei zum Allgemeinen Zivilrecht sowie eine Arbeit zur Rechtsgeschichte. Einige eigene Schriften von Heymann sind z.B.: Wird nach römischem Recht die Verjährung von Amts wegen berücksichtigt?, 1894; Das Vorschützen der Verjährung, 1895; Die Grundzüge des gesetzlichen Verwandten-Erbrechts nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich (zur Reichstagsvorlage), 1896; Das ungarische Privatrecht und der Rechtsausgleich mit Ungarn, 1917; Die Rechtsformen der militärischen

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

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Kriegswirtschaft als Grundlage des neuen deutschen Industrierechts, 1921; Gutachten in Sachen der Kontokorrentgeschäfte der deutschen Sparkassen, 1926; Die Beziehungen des Handelsrechts zum Zivilrecht: Referat zum Haager Internationalen Kongress für Rechtsvergleichung, 1932; Bücherprivilegien und Zensur in ihrer Bedeutung für die Sozietätsgründung durch Leibniz im Jahr 1700, 1932; Handelsrecht mit Wertpapierrecht und Seerecht, 1938. Also hier wie in den betreuten Dissertationen wenig Auffälliges.

VII. Drittes Reich 1. Ideologie und Recht Man muss mit der sogenannten ‚Entjudung‘ der Fakultät beginnen.368 Der Ursünde für Juristen. Juristen sind etwa als Anwälte oft in der Situation eine ‚ungerechte‘, manchmal etwa bei Verteidigung von offenkundigen Kindsmördern auch eine sehr schmutzige Seite vertreten zu müssen. Es gibt auch keine Regel, dass speziell Juristen nicht bei Rot über die Ampel gehen dürfen. Aber dürfen sie den Primat der rassischen Ungleichheit akzeptieren? In Praxis und Theorie! Gibt es dann, nicht für jedermann, aber für die Spezialisten von Recht und Unrecht, eine Pflicht zum Widerstand und ab wann? Was muss ein Jurist tun, der die brennenden Synagogen sieht? Trifft Rechtswissenschaftler eine besondere Pflicht bei Kenntnisnahme besonders übler Schriften im Stile Schmitt („Der Führer schützt das Recht“), Höhn, Ritterbusch? Was muss der Dekan unternehmen, wenn die neuen Machthaber unter Mitwirkung der Universität die Kollegen aus dem Amt entfernen; und zwar aufgrund des offenkundig rechtswidrigen Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums? Kein heutiger Juraprofessor wird mit Sicherheit sagen können wie er oder sie in der entsprechenden Situation reagiert hätte . . . Den Druck der hoch gewaltbereiten SA und der rechtsradikalen Studenten darf man nicht unterschätzen. Historiker sollen in erster Linie beschreiben und nicht den ersten oder in diesem Falle den tausendsten Stein werfen, aber . . . Wenn sich bei diesen Ereignissen in einer auf das Recht verpflichteten Gruppe von Hochprofessionellen keine Stimme erhebt, macht das nicht nur traurig, sondern deutet auf persönliches Scheitern und Systemversagen hin.

368 Jasch Das preußische Kultusministerium und die „Ausschaltung“ von „nichtarischen“ und politisch mißliebigen Professoren an der Berliner Universität in den Jahren 1933 bis 1934 aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, in: forum historiae iuris, Artikel vom 25.8.2005 (http://www.forhistiur.de/ zitat/0508jasch.htm).

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a) Entlassene Juden An dieser Stelle sei an die lange Reihe von Rechtswissenschaftlern jüdischer Herkunft an unserer Fakultät erinnert, unter anderen an die Professoren:369 Eduard Gans, Friedrich Julius Stahl, Levin Goldschmidt, Heinrich Dernburg, Ernst Rabel, Martin Wolff, Arthur Nussbaum, Hermann Heller, James Goldschmidt, Fritz Schulz, Erich Kaufmann, Hermann Mannheim, Max Alsberg, Julius Flechtheim, Max Rheinstein, Julius Magnus, Hermann Dersch. Lösch hat die ‚Machtergreifung‘ an der Fakultät eindringlich geschildert. Die Entfernung jüdischer Kollegen, ohne dass eine Hand sich rührte, die Neubesetzung der Stellen mit dezidierten Nazis, die Umgestaltung der Lehre und den ‚Klimawechsel‘ an der Fakultät. Wie diese Aktionen abliefen, zeigt die folgende – überwiegend wörtlich übernommene – detaillierte Darstellung von Jasch.370 In den wilden Aktionen und dem verwaltungsförmigen Handeln in den Formen des Rechts zeigt sich die ‚Doppelstaatlichkeit‘ (Fraenkel). »Die Ausschaltung jüdischer und politisch unerwünschter Hochschullehrer hatte der preußische Wissenschaftsminister Rust in einer viel beachteten Rede an der Berliner Universität am 6. Mai 1933 unter starkem Beifall seiner Zuhörer angekündigt:371 ‚. . . Ich muß einen Teil der deutschen Hochschullehrer ausschalten, auf das die deutsche Hochschule wieder in der Synthese von Forschung und Führung ihre Aufgabe erfüllen kann. Die deutsche Jugend läßt sich heute nun einmal von fremdrassigen Professoren nicht führen . . .‘’.372 Hinsichtlich der „nichtarischen“ Dozenten stellte ein Studentenaufruf klar: ‚Juden können nicht Führer der Studenten sein. Der deutsche Student wehrt sich deshalb dagegen, die Grundlagen seines Denkens und Wissen von Juden übermittelt zu erhalten. Im kommenden Semester ist es Pflicht jedes deutschen Studenten, weder bei jüdischen Dozenten Vorlesungen zu hören noch zu belegen. Wer diese Verpflichtung nicht erkennt, stellt sich bewußt außerhalb der Reihen der deutschen Studentenschaft.‘373 Entsprechend kam es häufig zu Vorlesungsboykotten und zu Übergriffen gegen jüdische Studen369

Berliner Studien zum jüdischen Recht vgl. http://bsjr.rewi.hu-berlin.de/profil.htm. Bis einschließlich die Darstellung zum Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums unter b) (genauer: VII 1 b) vgl. Jasch (Fn. 368), ab Rn. 58. 371 Vgl. m.w.N. Lösch (Fn. 8), 167 ff. 372 Zit. nach Jasch (Fn. 368), Rn. 58 dort Fn. 126 m.w.N.; in seiner Rede anlässlich der 550-Jahr-Feier der Heidelberger Universität zum Thema „Nationalsozialismus und Wissenschaft“ am 23. Juni 1936 stellte Rust noch einmal heraus, dass die Entlassungen von Hochschullehrern nicht auf wissenschaftliche Gründe zurückgingen, sondern, dass man sie, wie er sich ausdrückte, „als Parteigänger einer politischen Lehre, die den Umsturz aller Ordnungen auf ihre Fahnen geschrieben hatte, beseitigt“ habe. 373 Schottländer (Hrsg.) Verfolgte Berliner Wissenschaft. Ein Gedenkwerk. Zusammengestellt von Rudolf Schottländer, 1988, zit. nach Jasch (Fn. 368), Rn. 58 dort Fn. 127. 370

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ten und Dozenten, auch in der juristischen Fakultät etwa gegen Wolff, den mit Abstand beliebtesten Dozenten des Bürgerlichen Rechts. b) Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums Parallel zu diesen wilden Aktionen begann die systematische Ausgrenzung der nichtarischen Dozenten aufgrund des GzWBB. „Alle Beamten . . . mußten im April 1933 einen Personalbogen . . . ausfüllen, in dem umfassende Angaben zur Herkunft und zur Konfession der Familie inklusive Eltern und Großeltern verlangt wurden sowie detaillierte Angaben zum Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg, zur Übernahme ins Beamtenverhältnis und Angaben zu einer eventuellen Mitgliedschaft in einer politischen Partei, beim ‚Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold‘, dem ‚Republikanischen Richterbund‘ oder der ‚Liga für Menschenrechte‘.“ Alles musste mit Urkunden belegt werden. Das Ministerium errichtete Kommissionen, eine eigene Abteilung prüfte und legte dem Staatssekretär Stuckart vor,374 der wiederum Minister Rust zur Entscheidung vorzulegen hatte. Nun folgte eine ‚streng juristische‘ Prüfung: War der Betroffene ‚geschützt‘ oder ‚ungeschützt‘ (§§ 3 f. GzWBB). Bei „Vorkriegsbeamten(,) musste für ein Verbleiben im Amt eine hervorragende Bewährung mit Hilfe von Empfehlungsschreiben aus dem Kollegenkreis nachgewiesen werden. Die Bejahung wurde jedoch restriktiv gehandhabt.“ Bei dem erheblichen Ermessen spielten politische Opportunitätserwägungen eine zentrale Rolle. Der Strafrechtler Goldschmidt war bereits am 23. August 1908 als planmäßiger Professor verbeamtet worden und fiel damit eindeutig unter die Regelung des § 3 Abs. 2 GzWBB („Hindenburgausnahmen“). Er sollte dem neuen – aus Österreich herbeigerufenen – Nazi-Dekan, Graf Gleispach weichen. Seiner drohenden Zwangsbeurlaubung kam er durch ein eigenes Urlaubsgesuch zuvor. Bei Fritz Schulz verhinderte dessen hohes Ansehen zunächst dessen zwangsweise Beurlaubung.375 Für das Wintersemester 1933/34 belegte das Kultusministerium beide Professoren zunächst mit einem Vorlesungsverbot. Am 10. April 1933 unterzeichnete Stuckart „i.V.“ und unter Bezugnahme auf § 5 GzWBB die Erlasse zur Zwangsversetzung der beiden jüdischen Rechtswissenschaftler nach Frankfurt/Main. Nach § 5 GzWBB musste sich „jeder Beamte, . . . die Versetzung in ein anderes Amt, . . . auch in ein solches von geringerem Rang und planmäßigen Diensteinkommen gefallen lassen, wenn es das dienstliche Bedürfnis erfordert.“ Da die Voraussetzungen des eigentlich einschlägigeren, 374 Zu Stuckart vgl. die im Erscheinen befindliche Dissertation von Jasch Die Rationalisierung des Rassenwahns. Der Staatssekretär im Reichsministeriums des Innern Dr. Wilhelm Stuckart (1902–1953) – eine biographische Skizze zur Mitwirkung der Innenverwaltung an der Entrechtung, Ausgrenzung und Vernichtung der Juden im Dritten Reich. 375 Zu allen genannten vgl. die Personenartikel in dieser Festschrift.

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Rainer Schröder

spezielleren § 3 Abs. 1 GzWBB jedenfalls bei Goldschmidt wegen § 3 Abs. 2 GzWBB nicht vorlagen, machten sich Stuckart und seine Mitarbeiter § 5 GzWBB zu Nutze. Das „dienstliche Bedürfnis“ diente hierbei als Einfallstor für rassistische Motive. Goldschmidt ersuchte schließlich am 23. Juni 1934 offiziell um die Entbindung von seinen amtlichen Verpflichtungen. Der konservative Staats- und Völkerrechtler Erich Kaufmann war Protestant, galt aber als Jude, da seine vier Großeltern jüdischer Religionszugehörigkeit waren.376 Als Frontkämpfer und Vorkriegsbeamter konnte auch Kaufmann nach dem GzWBB nicht ohne weiteres in den Ruhestand versetzt werden. Seine Vertreibung wurde jedoch aktiv von seinem Kollegen Carl Schmitt betrieben. Dessen Einfluss – er saß wie Stuckart im preußischen Staatsrat – war es u.a. geschuldet, dass Stuckart dem vertretenden Leiter der Universitätsabteilung Haupt in einem Vermerk vom 3. Januar 1934 mitteilte, dass Kaufmann „auf jeden Fall“ nach Bonn zurückversetzt werden sollte, „damit die Spannungen zwischen Schmitt und ihm beseitigt werden.“ Gegen den Privatdozenten Max Rheinstein konnten Stuckart und seine Mitarbeiter ebenfalls nicht nach § 3 GzWBB vorgehen, da Rheinstein seine Beteiligung an den Maikämpfen zur Abwehr der Rätespartakisten nachgewiesen hatte und damit gemäß § 3 Ziff. 3 der 3 DVO zum GzWBB vom 6. Mai 1933 einem Frontkämpfer gleichgestellt wurde. Stuckart billigte daher ein Vorgehen nach § 6 GzWBB, der eine Versetzung von Beamten in den Ruhestand „zur Vereinfachung der Verwaltung“ vorsah. Auch wenn in diesem Falle § 6 GzWBB weder vom Tatbestand noch von der Rechtsfolge her einschlägig war, bot er die Möglichkeit zur Umgehung des Frontkämpferprivilegs, weshalb Stuckart am 28. März 1934 „i.V.“ den Entzug der Lehrbefugnis Rheinsteins nach § 6 GzWBB unterzeichnete. Der Strafverteidiger und seit 1931 Honorarprofessor Max Alsberg genoss in der Weimarer Republik einen unangefochtenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Ruf. Er führte viele Aufsehen erregende Prozesse, engagierte sich für eine umfassende Strafrechtsreform, verfasste Abhandlungen zur Ethik und Philosophie der Verteidigung und zwei Theaterstücke. Politisch war er u.a. durch seine Verteidigung Carl von Ossietskys aufgefallen, der sich wegen seines Artikels zur verdeckten Aufrüstung des Reiches in der „Weltbühne“ wegen Landesverrates verantworten musste. Die Frage nach seiner Konfession beantwortete er mit „Dissident“. Dem preußischen Wissenschaftsministerium galt er – nach Auswertung seiner Fragebögen – jedoch als „100% nicht-arisch“. Er fiel unter keinen der Ausnahmetatbestände des GzWBB und war somit nach § 3 Abs. 1 GzWBB zu entlassen. Folgerichtig stellte Stuckart am 4. September 1933 die Entpflichtungsurkun376 Hanke Erich Kaufmann. Carl Schmitt und Erich Kaufmann – Gemeines in Bonn und Berlin, in: Schmoeckel (Hrsg.) Die Juristen der Universität Bonn im Dritten Reich, 2004, 388–407, 404.

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de für Alsberg aus. Umso erstaunlicher ist, dass Stuckart zwei Tage später Rust eine konträre Stellungnahme übermittelte, in der er um Erwägung einer Ausnahme bat: „Nach Ziff. 2 zu § 3 der 3. Durchführungsverordnung kann einem planmäßigen Beamten gleichgestellt werden, wer am 1.8.1914 sämtliche Voraussetzungen für die Erlangung seiner ersten planmäßigen Anstellung erfüllt, insbesondere die hierfür erforderliche letzte Prüfung abgelegt und sich während seiner Tätigkeit als Beamter in hervorragendem Maße bewährt hat. Die erste Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn man die Habilitation als erforderliche letzte Prüfung für die Laufbahn des Hochschulprofessors ansieht. Dagegen ist die Voraussetzung der hervorragenden Bewährung m.E. zweifelsfrei gegeben. Alsberg ist ein weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannter und anerkannter Strafrechtler und Strafprozessrechtler. Seine Entlassung würde ganz zweifelsfrei im In- und Ausland größtes Aufsehen erregen. Es ist daher m.E. zu erwägen, ob hier nicht eine Ausnahme gemacht werden kann, indem man die hervorragende Bewährung allein entscheiden läßt.“ Für eine Ausnahme war es jedoch schon zu spät. Der durch die Ereignisse tief gedemütigte Alsberg nahm sich am 11. September 1933 in der Schweiz das Leben, woraufhin seine Entpflichtung für unwirksam erklärt und die Vernichtung der Reinschrift angeordnet wurde. c) Widerstand an der Fakultät Widerstand an der Fakultät war sehr selten. Flume protestierte gegen die Drangsalierung von Wolff.377 Gelegentlich flammte Spott auf – etwa gegenüber dem NS-Dozentenlager. Die Dekane unternahmen nichts. Ernsthaft widerständig waren die Honorarprofessoren Johannes Popitz und Rüdiger Schleicher. Popitz wurde im Zusammenhang mit den Vorbereitungen des Attentats vom 20. Juli 1944 am 3. Oktober 1944 vom Volksgerichtshof unter dem Vorsitz von Roland Freisler zum Tode verurteilt und am 2. Februar 1945 umgebracht.378 Am gleichen Tag verhängte der Volksgerichtshof gegen Schleicher ein Todesurteil. Er gehörte verwandtschaftlich und freundschaftlich dem Dohnanyi-Kreis an.379 Unter seinen Mitgefangenen war neben Hans von Dohnanyi auch Klaus Bonhoeffer, sein Assistent Hans John und Friedrich Justus Perels. Schleicher war als Beamter im Reichsverkehrsministerium 1927 eingestellt worden. Er leitete 1935 als Ministerialrat die Rechtsabteilung des Reichsluftfahrtministeriums und trat für die Regeln des Völkerrechts, des Kellogg-Paktes und der Haager Landkriegsordnung ein. 377

Genaueres bei Lösch (Fn. 8), 229 ff., 338 ff. Vgl. HUB-UA UK P 158, Band 1, Bl. 11 und Einlage im Aktendeckel, zit. nach Klopsch (Fn. 8), 147, Fn. 541. 379 Eine Büste des seinerzeitigen Reichsgerichtsrats Hans von Dohnanyi, eines ehemaligen Studenten unserer Fakultät, ist der Fakultät durch seinen Sohn gestiftet worden und steht seit 2009 im Foyer Unter den Linden 9. 378

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Daher wurde er auf eine Referentenstelle im Allgemeinen Luftamt versetzt. An der Universität leitete er das Institut für Luftrecht. Dieses Institut wurde für konspirative Treffen des Widerstandes genutzt. Daneben war Hans Peters, Extraordinarius für Öffentliches Recht, Widerstandskämpfer der Fakultät (Mitglied im Kreisauer Kreis um Helmut James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg), während die übrigen ‚neutralen‘ Fakultätsmitglieder zwischen bestenfalls Distanz und Unwilligkeit schwankten, aber auch zu flinkem vorauseilendem Gehorsam tendierten. d) Zusammensetzung der Fakultät Wie setzte sich die Fakultät nunmehr zusammen? Jahr

1930

1933

1936

1945

Zahl der Ordinarien

12

14

12

12

Kahl

Kahl

Schwerpunkt der Lehre380 StrafR BüR

Kipp

BüR

Heymann

Heymann

StrafR

Goldschmidt

Goldschmidt

ÖffR

Bruns

Bruns

ÖffR

Triepel

Triepel

KiR, DtRG, Dt R

Stutz

Stutz

Stutz

StrafR

Kohlrausch

Kohlrausch

Kohlrausch

BüR

Wolff

Wolff

Dt R, DtRG, RömR

Rabel

Rabel

ÖffR, KiR

Smend

Smend

BüR, RömR

Titze

Titze

RömR, BüR

Schulz

Dt R, DtRG, RömR

Lewald

ÖffR

Schmitt

BüR, Dt R, DtRG

380

Die venien lauteten nicht selten anders.

Heymann Bruns

Kohlrausch

Titze

Schmitt Eckhardt

Schmitt

99

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Jahr

1930

1933

1936

StrafR

Gleispach

ArbeitsR

Dersch

1945

RPhil

Emge

Emge

BüR

Hedemann

Hedemann

RömR

Koschaker

BüR

Reicke

ÖffR

Höhn

ÖffR

Berber

ÖffR

Bilfinger

BüR

Gieseke

ArbeitsR, BüR

Siebert

RPhil, ÖffR

Ritterbusch

StrafR

Boldt

Nach wie vor waren es nur wenige Ordinarien, die dezidierten Nationalsozialisten im Fettdruck, die aus NS-Gründen Entlassenen kursiv. Die Zuordnungen sind außer bei den eindeutigen Fällen weder leicht noch eindeutig zu treffen. Der betagte Kirchenrechtler und Rechtshistoriker Stutz konnte die Rechtsgeschichte im Dritten Reich nicht mehr zur alten Größe führen. Rechtsgeschichte war längst antiquarisch geworden. Der ganz wichtige Romanist Schulz wurde entlassen. Koschaker, in teilweise unklarer Haltung zum Regime, wechselte 1941 nach Tübingen. Karl-August Eckhard erwies sich als herausragender Germanist und unvergleichlicher Volksrechteforscher, wechselte aber in großer NS-Verblendung in das Reichssicherheitshauptamt. Er prägte die NS-Studienreform von 1936.381 2. Die Zivilrechtler der Fakultät im Dritten Reich Das Zivilrecht war anfangs mit Rabel und Wolff sowie auch Heymann sehr stark besetzt. Da beide entlassen wurden, sank die wissenschaftliche Qualität der Fakultät. Auch der verdiente Arbeitsrechtler Dersch teilte kurz darauf ihr Schicksal und wurde nach 1945 wieder tätig. Hedemann, der 381 Eckhardt Das Studium der Rechtswissenschaft (Der deutsche Staat der Gegenwart, hrsg. von Carl Schmitt, Heft 11), 1935; zu Inhalt und Erfolg der Studienreform Nehlsen, Karl August Eckhardt †, ZRG GA 104 (1987) 497–536, 504 f.; zur Juristenausbildung im NS am Beispiel der Universität Tübingen: Pientka Juristenausbildung zur Zeit des Nationalsozialismus. Dargestellt am Beispiel der Universität Tübingen und des OLG-Bezirks Stuttgart, 1990.

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Heymann ersetzen sollte, war sicherlich einer der bedeutendsten Wirtschafts- und Zivilrechtler des Jahrhunderts, schlug sich aber in seiner Mitarbeit am Volksgesetzbuch sehr auf die Seite der Nationalsozialisten, so dass er sich selbst diskreditierte. Titze konnte neben diesen Größen wissenschaftlich nicht ebenso überzeugen; Paul Giesecke prägte das Gesicht der Fakultät gleichfalls nicht. Wolfgang Siebert kam spät hinzu. Seine Abhandlungen zum Arbeits- und Gesellschaftsrecht, die Theorien zur faktischen Gesellschaft und seine starke organisatorische wie persönliche Nähe zum System brachten ihn in das Zentrum des NS-Rechtsdenkens.382 Die Veränderungen des Zivilrechtsdenkens wurden von ihm übernommen und weitergedacht.383 Er vertrat ähnlich wie Hedemann und Larenz, dass eine bürgerliche Rechtsgleichheit der Personen nicht bestehe. a) Ernst Heymann Heymann war zwischen 1934 und 1935 Dekan und insofern mit allen organisatorischen Fragen beschäftigt, welche die Umstellung der Fakultät nach dem ‚BerufsbeamtenG‘ und der NS-Ideologie mit sich brachte.384 Seine Tätigkeit war sicher keine widerständige, doch scheint er – bei allen Beurteilungen muss man vorsichtig sein – kein glühender Nationalsozialist gewesen zu sein wie sein Nachfolger Graf Gleispach. Eine besondere Nähe zum System ist auch bei der Diskussion der Vertragsverlängerung nicht zu sehen.385 Aber sicher auch keine Systemferne, denn Heymann bekleidete hohe Ämter in der Wissenschaft, war Leiter der Abteilung Leges der MGH, Direktor des Instituts für Auslands- und Wirtschaftsrecht, Autor in einer Festschrift zum 50. Geburtstag des Führers386 und wirkte in der Akademie für Deutsches Recht mit, freilich ‚nur‘ im Ausschuss für Rechtsphilosophie. Bei den zunächst fehlgeschlagenen Habilitationen von Raiser und Krawielicki scheinen in den Akten eher rein funktionale Schreiben etc. vorhanden, weder scharfmacherische, noch verteidi-

382 Mies Wolfgang Siebert. Arbeitsverhältnis und Jugendarbeitsschutz im Dritten Reich und in der frühen Bundesrepublik, Universität Köln, Dissertation 2007. 383 Vgl. Haferkamp Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens? (Berliner Juristische Universitätsschriften. Reihe Zivilrecht, Band 1), 1995, 182–356. 384 Alles vorzüglich geschildert bei Lösch (Fn. 8); die folgende Darstellung beruht darauf. 385 Vgl. Lösch (Fn. 8), 381. 386 Deutsche Wissenschaft. Arbeit und Aufgabe. (Dem Führer und Reichskanzler legt die Deutsche Wissenschaft zu seinem 50. Geburtstag Rechenschaft ab über ihre Arbeit im Rahmen der ihr gestellten Aufgabe), 1939, 66 f. Der Beitrag enthält eine knappe Bilanz der Fortschritte des Wirtschaftsrechts, sachlich und neutral mit wenigen terminologischen Konzessionen.

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gende. Ähnliches gilt für Flume und Maier.387 Raiser war dann 1936 mit seiner Schrift über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen erfolgreich, Flume erst 1946 mit einer anderen Schrift als der, die er in Berlin einreichen wollte. Seine in Berlin beabsichtigte Habilitationsschrift „Eigenschaftsirrtum und Kauf“ wurde erst 1948 veröffentlicht und berühmt. Heymanns Schreiben an das Ministerium von 1934 mit dem Wunsch, die Promotion von neun nichtarischen Doktoranden zu genehmigen ist m.E. gleichfalls ebenso als Ausdruck einer formalen Amtsführung unter veränderten Bedingungen zu werten wie der Versuch, Rabel und Wolff zu Anträgen auf Beurlaubung zu drängen – so sagte sein Nachfolger Graf Gleispach.388 Aus welchen Motiven beides geschah, ist nicht sicher. Es gab gewisse Konflikte um seine Nachfolge in den MGH. Hier wurde Karl-August Eckhardt vorgesehen und durchgesetzt, der dem Nationalsozialismus viel näher stand als Heymann.389 Letzterer war Mitglied des Ausschusses für Rechtsphilosophie innerhalb der nationalsozialistischen Akademie für Deutsches Recht,390 der von seinem Fakultätskollegen Carl-August Emge als „zweitem Mann“ hinter Hans Frank geleitet wurde.391 Emge gehörte seit 1931 der Partei an392 und schrieb fast ausschließlich Rechtsphilosophisches.393 Er wurde 1934 Ordinarius für Rechtsphilosophie in Berlin.394 b) Justus Wilhelm Hedemann Heymanns zivilistischer ‚Nachfolger‘ wurde Justus Wilhelm Hedemann,395 der nach einer m.E. herausragenden Karriere als einer der bedeutendsten 387

Zum Ganzen Lösch (Fn. 8), 229 ff. und 338 ff. Vgl. Lösch (Fn. 8), 362 und 368, freilich ist Gleispach keine ‚neutrale‘ Quelle. 389 Karl August Eckhardt (1901–1979), 1936–1937 Professor für Deutsches Recht, Handelsrecht und Rechtsgeschichte in Berlin, zum Leben und Wirken vgl. Nehlsen (Fn. 381). 390 Zur Akademie für Deutsches Recht vgl. Hattenhauer Das NS-Volksgesetzbuch, in: Buschmann/Knemeyer/Otte/Schubert (Fn. 11), 255–279; Pichinot Die Akademie für Deutsches Recht. Aufbau und Entwicklung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft des Dritten Reichs, 1981. 391 Tilitzki Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Teil 2, 2002, 1032; eine ausführliche Beschreibung des Lebens und Wirkens von Emge (1886–1970) findet sich bei ders. ebenda, Teil 1, 2002, 179 ff. 392 Ein frühes Zeugnis seiner Anschauung findet sich in: Emge Geistiger Mensch und Nationalsozialismus, 1931. 393 Emge Ideen zu einer Philosophie des Führertums, 1936; dazu Rottleuthner Substantieller Dezisionismus, Zur Funktion der Rechtsphilosophie im Nationalsozialismus, in: ders. (Hrsg.) Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, ARSP Beiheft Nr. 18, 1983, 20 ff. 394 Vgl. Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, April 1932/März 1935, 13. 395 Justus Wilhelm Hedemann (1878–1963), 1936–1945 Professor für Bürgerliches Recht in Berlin, zum Leben und Wirken vgl. Wegerich (Fn. 301). 388

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Rainer Schröder

deutschen Zivilrechtler,396 Rechtshistoriker397 und Wirtschaftsrechtler398 sich viel intensiver mit dem System einließ als Heymann. Besonders bemerkenswert war seine Mitarbeit am Entwurf eines Volksgesetzbuchs, aus dem er 1940 seine Grundsätze des völkischen Gemeinschaftslebens ‚herauszog‘: „Deutsches Blut, deutsche Ehre und Erbgesundheit sind rein zu halten und zu wahren. Sie sind die Grundkräfte des deutschen Volksrechts.“399 Dennoch wird sein Weg allgemein viel zu sehr unter dem Paktieren mit dem Nationalsozialismus gesehen. Seine wichtigsten Werke begleiten das Zivilrecht in der Epoche, die Wieacker als die der „Materialisierung“400 bezeichnet hat, durchaus kritisch.401 Anders als Heymann402 verfasste Hedemann nicht wenige Schriften, welche die NS-Ideologie akzeptierten und weiterdachten. Die von Hans Frank gegründete NS-Akademie für Deutsches Recht bestimmte ihn zum Vorsitzenden des Ausschusses für Personen-, Vereins- und Schuldrecht.403 Für ihn wurde an der Berliner Universität ein Institut für Wirtschaftsrecht geschaffen, da er sein berühmtes Jenaer Institut nicht ‚mitnehmen‘ konnte.404 c) Verrat an der Rechtsidee Wir müssen ein nicht seltenes Phänomen beobachten, dass Personen als Wissenschaftler wie Heidegger prinzipiell erstklassig waren, aber mensch396 Vgl. z.B. Lehrbücher und Grundrisse der Rechtswissenschaft (hrsg. von Fehr/Oerland/Hedemann/Lehmann/Stier-Somlo): Hedemann Band II, Schuldrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches, 1931. 397 Mohnhaupt (Fn. 26). 398 Hedemann (Fn. 302); vgl. schon ders. Reichsgericht und Wirtschaftsrecht, 1929; ders. Grundzüge des Wirtschaftsrechts, 1922. 399 Volksgesetzbuch (Fn. 26), Regel 2, S. 11. 400 Wieacker (Fn. 43), 514 ff. 401 Vgl. Hedemann Werden und Wachsen im Bürgerlichen Recht, 1913; ders. Flucht in die Generalklauseln. Eine Gefahr für Recht und Staat, 1933; ders. Die Fortschritte des Zivilrechts im XIX. Jahrhundert. Ein Überblick über die Entfaltung des Privatrechts in Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz: Teil 1, Die Neuordnung des Verkehrslebens, 1910; Teil 2, Die Entwicklung des Bodenrechts von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, 1. Hälfte, Das materielle Bodenrecht, 1930, 2. Hälfte, Die Entwicklung des formellen Bodenrechts, mit einem Anhang Bodenrecht und neue Zeit, 1935. 402 Wie Thiessen zu Recht bemerkt, stehen sowohl eine Biographie zu Heymann als auch eine vollständige Bibliographie aus; vgl. Thiessen (Fn. 310) – so dass diese Äußerungen mit einem Vorbehalt zu versehen sind. Am vollständigsten scheint die Bibliographie der Bibliothek der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von 2002 zu sein. 403 Hedemann Fundament (Fn. 303); dazu Hattenhauer (Fn. 390), 255–279. 404 Zur Gründung des Instituts für Wirtschaftsrecht in Berlin siehe Wegerich (Fn. 301), 53.

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

103

lich versagten; die fachliche Klugheit ging nicht mit politischer Verstandeskraft einher. Das gilt auch für den grandiosen Germanisten Karl-August Eckhardt.405 Er hatte die NS-Studienordnung406 zu verantworten, war durch seine Anstellung als Hauptreferent in der Hochschulabteilung des Reichs- und Preussischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung verantwortlich für die Fächer Recht, Staat, Politik, Wirtschaft und Geschichte.407 Eckhardt stand persönlich seit 1933 als SS-Mann dem System sehr nahe, seit 1938 als SS-Sturmbannführer408 – aber als Rechtshistoriker publizierte er ein hochbeachtliches und umfangreiches Werk zu den Volksrechten und Rechtsbüchern des Mittelalters.409 Die Fakultät war nach den Entlassungen der Jahre 1933 bis 1936 und den NS-geprägten Neuberufungen eine erheblich NS-dominierte Fakultät geworden, stärker im öffentlichen Recht und Strafrecht als im Zivilrecht. Hier ragt unter den Ordinarien Hedemann heraus. Obwohl ‚das‘ Zivilrecht seinen Beitrag zur Ausgrenzung der Juden auf der Ebene der Wissenschaft,410 der Gesetzgebung411 wie der Urteile412 leistete, war das Zivilrecht nicht der schlimmste Ort für die Ausgrenzung und Bekämpfung der sogenannten Fremdvölkischen – dennoch keine Insel der Seeligen, beileibe nicht.413 Wichtiger in der ‚Doppelstaatlichkeit‘414 waren

405 Karl August Eckhardt (1901–1979) war bereits im Alter von 22 Jahren Privatdozent für Deutsches Recht in Göttingen; mit 31 Jahren hatte er über 70 Publikationen verfasst, war auf drei Ordinariate gerufen worden und war damit der erfolgreichste Germanist seiner Generation in der Weimarer Republik: Nehlsen (Fn. 389), 498, 502; er war soweit ersichtlich nicht zivilistisch, vgl. Eckhardt Werksverzeichnis Karl August Eckhardt, 1979. 406 Vgl. Frassek Steter Tropfen höhlt den Stein – Juristenausbildung im Nationalsozialismus und danach, ZRG GA 117 (2000) 294–361; vgl. auch den Ratgeber für das Jurastudium von Eckhardt: Eckhardt (Fn. 381) – der auch den neuen Studienplan beinhaltet. 407 Vgl. Nehlsen (Fn. 389), 503. 408 Vgl. Nehlsen (Fn. 389), 512. Der Rang entspricht militärisch dem eines Majors. 409 Vgl. Lösch (Fn. 8), 405–426; Niemann Karl August Eckhardt, in: Schmoeckel (Fn. 376), 160–184; Frassek Artikel Eckhardt, Karl August (1901–1979), in: Cordes/ Lück/Werkmüller/Schmidt-Wiegand (Hrsg.) Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte2, Band I, 2008, Sp. 1179–1180; Höpfner Die Universität Bonn im Dritten Reich. Akademische Biographien unter nationalsozialistischer Herrschaft, 1999, 222 ff. 410 Die folgende Literatur ist nur kursorisch: Rüthers Die unbegrenzte Auslegung6, 2005; Schröder Zur Rechtsgeschäftslehre in nationalsozialistischer Zeit, in: Salje (Hrsg.) Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, 1985, 8–44. 411 Otte Die zivilrechtliche Gesetzgebung im „Dritten Reich“, NJW 1988, 2836–2842. 412 Schröder „. . . aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben.“ Die Urteile des OLG Celle im Dritten Reich (Fundamenta Juridica – Hannoversche Beiträge zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung Band 5), 1988. 413 Vgl. Schröder Das BGB im Dritten Reich, in: Diederichsen/Sellert (Hrsg.) Das BGB im Wandel der Epochen, 2002, 109–126. 414 Zu diesem Begriff vgl. Fraenkel Der Doppelstaat: Recht und Justiz im „Dritten Reich“, 1984; zur Rolle des Rechts in Diktaturen siehe Schröder (Fn. 28).

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Rainer Schröder

Straf- und öffentliches Recht in Theorie und Praxis neben der unterschätzten blanken Gewalt.415 Die neue Aufgabe der Universität war es, Ideologie zu produzieren und durchzusetzen. Das charakterisiert übrigens das Bestreben aller diktatorischen Regimes. Dennoch wurde herausragender ‚Nachwuchs‘ ausgebildet. Folglich sehen wir eine Riege herausragender Privatdozenten, die noch in der Nachkriegszeit Bedeutendes leisteten: Hans Dölle, Walter Hallstein, Max Rheinstein, Ludwig Raiser, Konrad Zweigert. Manche Dinge, derer man sich schämen muss, sind zu erwähnen: So die fehlende Kontrolle ideologischen Denkens im Recht, der Verrat an der Rechtsidee. Dieser Verrat geschah zweifellos in der ersten deutschen Diktatur (Graf Gleispach, Reinhard Höhn mit dezidiert rassistischem Denken). Leider aber auch kurz darauf in der zweiten: John Lekschas mit seiner sozialistischen Kriminologie und seinem harten (politischen) Strafrecht ist zu erwähnen und Hilde Benjamin, die eher mit ihrer Praxis als Justizministerin und Richterin verachtenswert erscheint, denn als Wissenschaftlerin. Bezeichnenderweise finden sich in dieser Beziehung nur wenige Zivilisten. Für die Zeit der Ideologien muss man fragen: Welchen Beitrag spielte das Recht, in der Friedrich-Wilhelms-Universität aber die Rechtswissenschaft, um die Unrechtsregimes zu etablieren und zu stabilisieren? Hier sind die ‚eindeutigen‘ Zuordnungen sehr schwer, denn der NS-affine Schmitt ist eben nicht nur auf seine antisemitischen Ausfälle zu reduzieren und Hedemann war eben nicht nur der Redaktor übler Teile des Entwurfs eines Volksgesetzbuchs, sondern auch Miterfinder des Wirtschaftsrecht und wissenschaftlich-praktischer Jurist von hoher Qualität. Vorsichtig stellt sich daneben die Frage: Hat die Rechtswissenschaft – neben der ideologischen Verhaftung – einen ‚Fortschritt‘, eine interessante Erkenntnis gebracht? Wer Ludwig Raisers Berliner Habilitation von 1934416 über Allgemeine Geschäftsbedingungen liest, wird daran nicht zweifeln, auch Flume mit seiner in Berlin aus politischen Gründen gescheiterten Habilitation steht dafür.417 3. Vorlesungen In Diktaturen konnte die Einstellung der Studenten, nur das Examensnotwendige zu lernen, sich positiv auswirken. Vielleicht wurden Nebenfachvor415 Werle Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989; Marxen Das Volk und sein Gerichtshof, 1994. 416 Raiser Das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1935; zu Raisers Habilitationsverfahren vgl. Raiser Fünfzig Jahre Juristenleben (1973), in: Raiser (Hrsg.) Vom rechten Gebrauch der Freiheit: Aufsätze zu Politik, Recht, Wissenschaftspolitik und Kirche, 1982, 59–74, 63 f. und Lösch (Fn. 8), 338 f. 417 Vgl. Lösch (Fn. 8), 232 ff.

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Die Geschichte der Juristischen Fakultät

lesungen wie Rassenkunde ebenso wenig angenommen wie systemnahe Lehre zur Methode des Völkischen Rechtsdenkens.418 Und der sogenannte völkische Beobachter in den Prüfungen hat in der Praxis nicht so oft in Prüfungen gesessen, wie es nach den Verwaltungsvorgaben der Fall gewesen sein sollte.419 Die Studienordnung im Dritten Reich änderte sich erheblich. Die Vorlesungskonzepte wurden zum Teil durch Karl-August Eckhart an das völkische Gemeinschafts-Rechtsdenken angepasst.420 Im bürgerlichen Recht verschwanden die Vorlesungsbezeichnungen nach den Büchern des BGB. An die Stelle traten: Vertrag und Unrecht,421 Familie, Ware und Geld. Zu diesem Konzept entwickelten bedeutende Autoren kleine Lehrwerke. Aber wie sahen die strafrechtlichen und -prozessualen Vorlesungen aus, wie die zum Familienrecht nach den Nürnberger Gesetzen oder die staatsrechtlichen? Bei den fanatischen Nationalsozialisten im Straf- und öffentlichen Recht wurde sicher keine Neutralität gewahrt. Später in der DDR mussten die Studenten zwangsweise an Veranstaltungen und Prüfungen über Marxismus-Leninismus teilnehmen.422 4. Dissertationen Innerhalb weniger Jahre promovierten an der Fakultät – erstaunlicherweise – weit mehr Studenten als je zuvor, nämlich 322. Jahr

Anzahl der Promotionen

Jahr

Anzahl der Promotionen

1919

2

1932

14

1920

3

1933

24

1921

4

1934

13

1922

7

1935

19

418 Zur Rolle der Repetitoren im Dritten Reich vgl. z.B.: Kurt Georg Kiesinger, Privater Rechtslehrer von 1931–1945 in Berlin, in: Vogel/Simon/Podlech (Hrsg.) FS Hirsch 1981, 21–29; Westermann (Fn. 164), 11 ff. 419 Mayer Ein Deutscher auf Widerruf, Erinnerungen, Band 1, 1982, an Mayers zweitem Staatsexamen nahm als Beobachter Roland Freisler teil, ebenda, 162 und 126. 420 Frassek Weltanschaulich begründete Reformbestrebungen für das juristische Studium in den 30er und 40er Jahren, ZRG GA 111 (1994) 564–591; ders. (Fn. 406); ders. Juristenausbildung im Nationalsozialismus, KJ 37 (2004) 85–96. 421 Larenz Über Gegenstand und Methode völkischen Rechtsdenkens, 1938; Stoll Vertrag und Unrecht (Grundrisse des deutschen Rechts), 1936. 422 Liwinska Die juristische Ausbildung in der DDR – im Spannungsfeld von Parteilichkeit und Fachlichkeit (Akademische Abhandlungen zu den Rechtswissenschaften), 1997, zugleich Dissertation FU, 1997; Mierau Die juristischen Abschluß- und Diplomprüfungen in der SBZ/DDR. Ein Einblick in die Juristenausbildung im Sozialismus (Rechtshistorische Reihe Band 233), 2001; Gerber Zur Ausbildung von Diplomjuristen an der Hochschule des MfS (Juristische Hochschule Potsdam) (Berliner Juristische Universitätsschriften. Grundlagen des Rechts, Band 21), 2000.

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Rainer Schröder

Jahr

Anzahl der Promotionen

Jahr

Anzahl der Promotionen

1923

6

1936

26

1924

8

1937

15

1925

5

1938

31

1926

1

1939

57

1927

4

1940

50

1928

6

1941

34

1929

5

1942

24

1930

14

1943

18

1931

11

1944

11

Die Studentenzahlen sanken zwischen 1933 und 1945 deutlich ab.423 Die Häufung kurz nach Beginn des Krieges und die entsprechenden Befreiungen vom Rigorosum deuten darauf hin, dass Promovenden mit Rücksicht auf ihr (bevorstehendes) „Soldat-Sein“ die Arbeiten schnell beendeten, aber auch darauf, dass die Doktorväter schnell und die Fakultät möglicherweise großzügig agierten. Auch bei Dissertationen gibt es keine Pflicht zum Widerstand und auch hier finden sich überwiegend Arbeiten, die denen aus der Weimarer Republik bei demselben Doktorvater vergleichbar waren. Das war natürlich bei den Vertretern der NS-Rechtswissenschaft anders: Höhn,424 der hohe SS-Funktionär, der direkt unter Heydrich im Reichssicherheitshauptamt arbeitete, verfügte über ein großes Institut für Staatsforschung, das von der SS finanziert wurde, und betreute 36 Arbeiten, von denen eine große Zahl ideologisch eindeutig war.425 Autor

Datum

Titel

Kessler

24.1.1939

Die rechtliche Stellung des Reichsfinanzministers im Vergleich zur Stellung des Reichsschatzmeisters.

stark nsgeprägt

423 Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band 1914–1945, 1999, Zahlen für Deutschland, 254, dort vor allem Fn. 47; vgl. für Berlin Lösch (Fn. 8), 481 ff. 424 Zu diesem vgl. Stolleis (Fn. 423), 257 Fn. 65; Rüthers Reinhard Höhn, Carl Schmitt und andere – Geschichten und Legenden aus der NS-Zeit, NJW 2000, 2866–2871. 425 Die Tabellen wurden übernommen aus der Studienarbeit von Jaron Aßmann zu den Dissertationen im Dritten Reich. Seine Einstufungen erfolgen nach den Titeln und ggf. einem flüchtigen Blick auf einen Teil der Arbeiten, geben aber Tendenzen m.E. richtig wieder. Ausführliche Darstellungen zu Dissertationen etc. alsbald bei Schröder/Kleibert/ Klopsch (Fn. 1).

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Die Geschichte der Juristischen Fakultät

Autor

Datum

Titel

Beuster

28.2.1939

Reichsbürger und Staatsangehöriger.

stark nsgeprägt

Sossidi

26.7.1939

Die staatsrechtliche Stellung des Offiziers im absoluten Staat und ihre Abwandlungen im 19. Jahrhundert.

nsgeprägt

Schmid

26.7.1939

§ 10 II 17 ALR und Polizeibegriff im Dritten Reich.

stark nsgeprägt

Leske

2.10.1939

Der Steuerbegriff des Absolutismus im 13., 17. und 18. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Staatsbegriffs.

neutral

Kuhne

6.11.1939

Polizei und Eigentum.426

ohne Einschätzung

Dornbach

13.11.1939

Die Verwirkung im öffentlichen Recht.

ohne Einschätzung

Ruckhaeberle

12.2.1940

Die politischen und theoretischen Grundlangen der Verwaltungsorganisation in den USA.427

neutral

Drutschmann

20.3.1940

Die Parlamente Süddeutschlands und ihre Stellung zum Heer (1870–1914).

ohne Einschätzung

von Welczeck

20.3.1940

Die Überwindung der Lehre von der Gewaltenteilung durch die Grundsätze der Führung und Volksgemeinschaft.

stark nsgeprägt

Froböse

25.4.1940

Gewerbe und Gewerbefreiheit im bisherigen und im nationalsozialistischen Recht.

nsgeprägt

Wrede

25.4.1940

Der Weg zur öffentlichen Verantwortlichkeit der Presse.

ohne Einschätzung

Hahn

10.5.1940

Die Einschränkung des Polizeibegriffs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

ohne Einschätzung

426

Bei den folgenden Arbeiten lag in der Regel Thesenverteidigungsbefreiung wegen Wehrmacht und Promotion in absentia vor. 427 Gutachten zur wissenschaftlichen Befähigung vorhanden, da nur ausreichendes Examen.

108

Rainer Schröder

Autor

Datum

Titel

Heining

5.6.1940

Nation und Rechtslehre in Frankreich.

nsgeprägt

Schneider

10.7.1940

Der Boden im Staatsrecht.

nsgeprägt

Jürgel

22.7.1940

Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich und Deutschland.

ohne Einschätzung

Stollmann

9.1.1941

Die Ordnungsstrafe der Wirtschaft im System des Verwaltungsstrafrechts.

ohne Einschätzung

Goerke

12.2.1941

Der Heeresbeamte – die Besonderheiten seiner rechtlichen Stellung.

neutral

Elksnat

26.3.1941

Das Kolonialrecht des BismarckReiches unter besonderer Berücksichtigung der Auswahl und Ausbildung der Beamten.

neutral

Moysich

26.3.1941

Die Anstaltspolizei und der Nationalsozialismus.

nsgeprägt

Dunlop

28.5.1941

Grenzen des Liberalismus, dargestellt an Beispielen aus der öffentlichen Meinung Englands seit Kriegsanbruch.

nsgeprägt

Höcker

28.5.1941

Seekts Wehrsystem im Verfassungskampf.

nsgeprägt

Karehnke

28.5.1941

Wehrmacht und Verfassung – 9. November 1918 bis 30.1.1933.

neutral

Zimmermann

14.1.1942

Der Streit über die Verwaltungsgerichtsbarkeit.

ohne Einschätzung

von Bodungen

ohne Promotionstag

Der Kriegsminister in Preußen und im Reich.428

nsgeprägt

Beyer

25.2.1942

Die Ständeideologien der Systemzeit und ihre Überwindung.

nsgeprägt

von Stechow

25.2.1942

Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Polizeipflicht.

neutral

Stiller

25.2.1942

Gemeinde- und Verbandsrecht – im Spiegel neuer Rechtsauffassung.

nsgeprägt

428

OKH bezeichnet 4. Abschnitt als unerwünscht; gefallen vor Promotion.

109

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

Autor

Datum

Titel

SchmidtDumont

20.5.1942

Vom Wesen der Führeranordnungen.

stark nsgeprägt

Wemmer

16.12.1942

Der Kampf der Katholischen Kirche um die Schule in Baden.

neutral

Reemtsen

24.3.1943

Die absolutistischen Grundlagen der spanischen Verwaltung.

neutral

Königs

21.7.1943

Das Bild vom Kriege im Frühliberalismus.

nsgeprägt

Annecke

8.12.1943

Arbeitsverwaltung und innere Verwaltung – die Entwicklung bis 1933.

neutral

Foldenhauer

17.5.1944

Heer und Verfassung in Bayern von 1870–1914.

neutral

Wille

17.5.1944

Die staatsrechtliche Stellung der Steuer in Preußen 1786 bis 1851.

neutral

Neben den stark ns-geprägten Themen ist die rechtshistorische Themenstellung bei zehn Arbeiten sehr auffällig, daneben finden sich drei rechtsvergleichende Arbeiten. Der zweite große staatsrechtliche Vertreter der NS-Rechtswissenschaft war Carl Schmitt.429 Die Literatur zu diesem ist unübersehbar, weil Schmitt ein wissenschaftliches Œuvre von großer Tiefe hinterließ, das in den Teilen, die nicht die Ideologie des Dritten Reiches begründeten, stützten oder vollzogen, höchst interessant und sehr diskussionswürdig ist. Zwei Publikationen seien herausgehoben, weil sie von heutigen Mitgliedern der Fakultät verfasst wurden: Hasso Hofmann und Volker Neumann.430 Autor

Datum

Titel

Krauss

1.2.1935

Der Rechtsbegriff des Rechts – eine Untersuchung des positivistischen Rechtsbegriffs im besonderen Hinblick auf das rechtswissenschaftliche Denken Rudolph Sohms.

ohne Einschätzung

Wagner

30.10.1935

Der Kampf der Justiz gegen die Verwaltung in Preußen dargelegt an der rechtsgeschichtlichen Entwicklung des Konfliktgesetzes von 1854.

nsgeprägt

429

Hofmann Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts (1964), Vierte Auflage mit einer neuen Einleitung, 2002. 430 Ebenda und Neumann Der Staat im Bürgerkrieg. Kontinuität und Wandlung des Staatsbegriffs in der politischen Theorie Carl Schmitts, 1980.

110

Rainer Schröder

Autor

Datum

Titel

Kölble

10.6.1936

Die Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zu § 10 II 17 ALR bzw. zu §§ 14, 41 PVG als Ausdruck verwaltungsfeindlichen Normendenkens.

neutral

Brenner

13.6.1936

Das Völkerbundsmandat unter besonderer Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte.

nsgeprägt

Farcasanu

7.12.1938

Über die geistesgeschichtliche Entwicklung des Begriffes der Monarchie.

neutral

Wolters

7.12.1938

Der Rechtsbegriff Soldat.

nsgeprägt

Schmidt

24.1.1939

Entwicklung und Wesen des Begriffs „mittelbarer Beamter“.

neutral

Kube

26.7.1939

Die geschichtliche Entwicklung der Stellung des preußischen Oberpräsidenten.

ohne Einschätzung

Schilling

26.7.1939

Ist das Königreich Jugoslawien mit dem früheren Königreich Serbien völkerrechtlich identisch?

nsgeprägt

Schwörbel

26.7.1939

Freiheit der Meere und Meistbegünstigung - ihre völkerrechtliche Geltung unter dem Gesichtspunkt des Rechts der Völker auf Existenz.

ohne Einschätzung

Siebenhaar

12.10.1939

Der Begriff des politischen Delikts im Auslieferungsrecht.

neutral

Gremmels

10.5.1940

Das Problem der Ämterverbindung und der Ämterunvereinbarkeit von Staats- und Kommunalämtern unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Landrat und Kreisleiter.

nsgeprägt

Klickovic

5.6.1940

Die Enteignung, ein dem Grundeigentum und der Bodenbeschaffung zugeordnetes Rechtsinstitut.

neutral

Förster

4.12.1940

Die Abtretbarkeit öffentlichrechtlicher Forderungen.

neutral

Bahrami

26.11.1941

Kapitulationen – ein Beitrag zur Lehre vom „ius inter potestates“.

neutral

111

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

Unter den 15 Dissertationen bei Schmitt fanden sich nur drei ‚historische‘ Arbeiten, dafür völkerrechtliche Arbeiten des Großraumtheoretikers.431 Ein erneuter Blick auf Heymann und die bei ihm verfertigten Dissertationen zeigt etwas anderes, nämlich nur ausnahmsweise eine ideologische Prägung, eher eine erhebliche Kontinuität zu den Themen, die vor 1933 vergeben worden waren. Autor

Datum

Titel

Walther

6.5.1933

Kartellkündigung im deutschen, französischen und englischen Recht.

neutral

SchubartFikentscher

23.6.1933

Das Eherecht im Brünner Schöffenbuch.

neutral

Flechtheim

17.7.1933

Die kapitalistisch ausgestaltete Personalgesellschaft.

neutral

Schilling

24.11.1933

Grundfragen des Tonfilmrechts für Zwangsvollstreckung, Vergleich und Konkurs.

neutral

Spiegel

15.12.1933

Der Pachtvertrag der Kleingartenvereine.

neutral

Nitter

16.3.1934

Die bergrechtliche Gesellschaft.

neutral

Hannay

20.1.1936

Die Scheinhypothek.

neutral

Kassel

20.1.1936

Das Recht auf fremdem Grund und Boden zu schürfen, nach dem Allgemeinen Berggesetz für die preußischen Staaten vom 24. Juni 1865.

neutral

Seraphim

7.1.1936

Die Entschuldung der Landwirtschaft.

neutral

Schön

25.2.1936

Geschichte und Wesen der eignen Aktie.

neutral

Funke

24.6.1936

Das Verfolgungsrecht in der deutschen Konkursordnung in seiner Bedeutung für das Handelsrecht.

neutral

Röhl

14.4.1938

Das Recht der Personenbeförderung.

neutral

Bahmann

15.6.1938

Die Statuten der Stadt Ölsnitz im Vogtland aus den Jahren 1604 und 1687.

neutral

431

Schmoeckel (Fn. 226); Stolleis (Fn. 423), 389 ff.

112

Rainer Schröder

Autor

Datum

Titel

Abderhalden

1.7.1938

Vormund und Mündel im englischen Recht, verglichen mit französischem und deutschem Recht.

neutral

Kleine

1.7.1938

Der Nebenbetrieb im Wirtschaftsrecht.

neutral

Piehler

1.7.1938

Zwangslizenz und Lizenzbereitschaft – § 15 und § 14 des Patentgesetzes vom 5. Mai 1936.

nsgeprägt

Mehring

7.12.1938

Das Miteigentum im gemeinen, deutschen, französischen und englischen Recht.

neutral

Kühne

26.7.1939

Die Vererbung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes der Altmark und Kurmark in geschichtlicher Entwicklung.

neutral

Schönberg

26.7.1939

Das abhängige Konzernunternehmen nach dem Aktiengesetz vom 30. Januar 1937.

neutral

Wurm

26.10.1939

Der Annahmeverzug des Käufers nach §§ 373, 374 HGB einschließlich Spezifikationskauf und Fixgeschäft, insbesondere an der Börse unter Mitberücksichtigung des französischen und englischen Rechtes.

ohne Einschätzung

Weiland

4.3.1940

Die geschichtliche Entwicklung des bäuerlichen Altenteils und seine Regelung nach dem Reichserbhofgesetz.

neutral

Li

10.7.1941

Die Mängelhaftung im chinesischen Kaufrecht, vergleichend dargestellt mit dem deutschen und schweizerischen Rechte.

neutral

Corinth

23.7.1941

Die offene Handelsgesellschaft im chinesischen Recht.

neutral

Macris

23.7.1941

Die stillschweigende Vollmachtserteilung – ein Beitrag zur Lehre von der Vollmachtserteilung.

neutral

Zweigert

26.11.1941

Die Einwirkung des Krieges auf Verträge in der französischen Rechtsprechung.

neutral

Die Geschichte der Juristischen Fakultät

113

Überwiegend also Arbeiten im Zivilrecht mit ein wenig Rechtsgeschichte oder Rechtsvergleichung. Nur in einem Fall von 24 Arbeiten (Piehler) zeigte sich eine NS-Prägung.

VIII. Schluss Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Kann man ernstlich, wie Macris, noch 1941 promovieren über „Die stillschweigende Vollmachtserteilung – ein Beitrag zur Lehre von der Vollmachtserteilung“? Lebensnäher war das Thema von Konrad Zweigert aus demselben Jahr: „Die Einwirkung des Krieges auf Verträge in der französischen Rechtsprechung“.432 Die wissenschaftliche Qualität der Fakultät steht ebenso außer Zweifel wie ihre Nähe zum Staat und zu den Ideologien: Herausragend im Historischen, flexibel in Bezug auf neue Entwicklungen im Arbeits- und Wirtschaftsrecht, mit glänzenden Dozenten und Studenten, von hoher Qualität in Wissenschaft und Politikberatung auf allen Rechtsgebieten, aber auch tief verstrickt in das NS-Denken und in die sozialistische Diktatur. So banal der Satz auch sein mag: Im Guten wie im Schlechten spiegelt sich in unserer Fakultätsgeschichte die allgemeine und die Wissenschaftsgeschichte der letzten 200 Jahre; und zwar vom grandiosen romanistischen historischen Anfang über den Verrat an der Rechtsidee hin zum demokratischen Neustart vor 20 Jahren.

432

Veröffentlicht und nachgedruckt unter dem Titel „Die Einwirkung des Krieges auf Verträge in der Rechtsprechung Deutschlands, Frankreichs, Englands und der Vereinigten Staaten von Amerika“ von Kegel/Rupp/Zweigert (Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht Band 17), 1941.

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Rainer Schröder

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Wilhelm von Humboldt (1767–1835) Wilhelm von Humboldt (1767–1835) Jens Petersen

Wilhelm von Humboldt (1767–1835) Die rechts- und staatsphilosophischen Ideen Wilhelm von Humboldts als Grundlage seiner Bildungsreform JENS PETERSEN

I. Die Niederschrift der „Ideen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bildung als Konkretisierung der Freiheit . . . . . . . . . . . . 1. Freiheit als Möglichkeit einer unbestimmt mannigfaltigen Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheit und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sicherheit als Gewissheit der gesetzmäßigen Freiheit . . b) Folgerungen für den Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . c) Komplementaritätsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Folter als Verletzung der Würde des Staates . . . . . . . . . . 4. Zweck der Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Funktionale Beziehung zwischen Freiheit und Bildung . . . III. Kantische Prägung der Humboldtschen Rechtsphilosophie IV. Humboldt und das Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Individualität und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Individualität und Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ablehnung staatlicher Einmischung . . . . . . . . . . . . . b) Eigentümlichkeit der „eigengebildeten Menschen“ . . . . 2. Gebot des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Kontinuität der Bildungsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Man macht sich im Allgemeinen nicht klar, dass die Zeitspanne, während derer Wilhelm von Humboldt für die preußische Bildungspolitik verantwortlich zeichnete und in der er die Berliner Universität gründete, kaum länger als ein Jahr währte: Am 20. Februar 1809 erfolgte Humboldts Ernennung zum Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Innern; das Entlassungsgesuch Humboldts datiert vom 29. April 1810.1 1 Berglar Wilhelm von Humboldt, 1970, 160. Näher zu Humboldts Ausscheiden aus dem Ministerium der gleichlautende Aufsatz von Gebhardt Historische Zeitschrift 74 (1895) 44 ff.

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Ein wesentlicher Grund dafür, dass diese epochale Leistung in einem so kurzen Zeitraum möglich war, dürfte nicht zuletzt in einer seinerzeit unveröffentlichten Jugendschrift zu finden sein, die erst 1851, also lange nach Humboldts Tod gedruckt wurde. Es spricht viel dafür, sich auf diese geistige Grundlage der Humboldtschen Bildungsreform in einer Zeit zu besinnen, da der Bologna-Prozess der deutschen Universität das zu nehmen droht,2 was ihr nicht zuletzt durch Humboldts Wirken weltweite Geltung verschafft hat. I. Die Niederschrift der „Ideen“ Humboldt verfasste als Fünfundzwanzigjähriger in kaum drei Monaten des Jahres 1792 seine „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen.“ Diese Schrift weist ungeachtet ihrer mitunter jugendlichen Impulsivität, die ihr den Vorwurf der Unreife eintrug,3 eine so abgeklärte Eigenständigkeit auf, dass es in besonderem Maße verwunderlich ist, dass sie gerade in ihrem Heimatland so vergleichsweise wenig beachtet geblieben ist. Möglicherweise trug dazu der Umstand bei, dass sie lange Zeit unveröffentlicht blieb. Dies war ursprünglich der Berliner Zensur geschuldet. Nur einer der beiden Zensoren sprach sich für die Drucklegung aus „allein nicht ohne Besorgnis, dass er deshalb noch künftig in Anspruch genommen werden könne“, wie Humboldt an Schiller im September 1792 schrieb. So gelangte es schließlich in seinen Nachlass und wurde erst postum im Jahre 1851 erstmals vollständig gedruckt. Einzelne Abschnitte wurden durch Schiller in der Thalia 17924 bzw. durch Biester in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Vollständig erschien das Werk im Breslauer Trewendtschen Verlag und hatte dann gerade im liberalen Lager nach der Revolution sogleich großen Erfolg.5 Aber auch die wechselvolle Geschichte der Ideen ist kein hinreichender Grund für das mangelnde Interesse und die zurückhaltende Rezeption,6 die erst in den letzten Jahren annäherungsweise in Gang kommt. Seither finden sich vereinzelte historische Monographien, die einiges Licht in die Dunkelheit der Rezeptionslosigkeit gebracht 2 Seibt Humboldts Vermächtnis. Nachruf auf eine Idee, in: Deutsche Erhebungen, 2008, 98 ff. 3 Von Rantzau Wilhelm von Humboldt. Der Weg seiner geistigen Entwicklung, 1939; ähnlich Wittichen Zur inneren Geschichte Preußens während der Französischen Revolution. Gentz und Humboldt, Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 19 (1906) 33. 4 Humboldt Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staats um das Wohl seiner Bürger erstrecken?, Neue Thalia, Band 2, Heft 5, 1792, 131 ff. 5 Berglar (Fn. 1), 57, bezeichnet es gar als eine „Art von Magna Charta“ in der damaligen Zeit. 6 Die Schrift wird im Folgenden aus der Ausgabe der Werke Wilhelm von Humboldts in fünf Bänden3, herausgegeben von Flitner/Giel, ab 1960, zitiert, allerdings ohne die originale Rechtschreibung Humboldts.

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haben.7 Gleichwohl sind die rechtsphilosophischen Fragen, welche die Jugendschrift aufwirft,8 bislang nur andeutungsweise gestellt worden. Das ist umso erstaunlicher, als dass die Idee der Begrenzung der Wirksamkeit des Staates an sich zeitlos ist.9 Das gilt umso mehr für die rechtsphilosophische Seite der Ideen. Die historischen bzw. theologischen Monographien haben freilich wichtige Vorarbeit geleistet.10 Die historische Forschung sieht Humboldts Schrift mit gutem Grund als prägend für den Rechtsstaat „als politisches Programm mit dem Ziel, den absolutistischen Bevormundungsstaat zurückzudrängen und ihn an die von allen Bürgern in freier Entscheidung gebilligten Regeln zu binden.“11 Karl Popper stellte die Ideen Humboldts gar Schillers Don Carlos an die Seite.12 Zumindest lässt sich wohl sagen, dass eine Schrift, die im Gedankenaustausch mit Friedrich Schiller entstand und John Stuart Mill bei seinem Essay über die Freiheit maßgeblich beeinflusste, bedeutsamer sein dürfte als ihr gegenwärtiger Bekanntheitsgrad.

II. Bildung als Konkretisierung der Freiheit Mit der Akzentuierung der Begrenzung der Wirksamkeit des Staates ist dasjenige implizit vorausgesetzt, was Humboldt im Folgenden explizit, wenngleich zunächst eher andeutungsweise, in den Mittelpunkt stellt, nämlich die Freiheit. 1. Freiheit als Möglichkeit einer unbestimmt mannigfaltigen Tätigkeit Die Freiheit wird zum Schlüsselbegriff der Ideen, allerdings nicht notwendigerweise zum Endzweck des Staates.13 Dabei ist aufschlussreich, wie 7 Zuletzt Spitta Die Staatsidee Wilhelm von Humboldts, 2004; ders. bereits in seiner Dissertation ‚Wilhelm von Humboldts Ideen von den Grenzen der Wirksamkeit des Staats‘ (1962). 8 Vgl. auch Klenner Humboldts Staat als Rechtsinstitut des Menschen, in: Wilhelm von Humboldt. Menschenbild und Staatsverfassung, Texte zur Rechtsphilosophie, 1994, 315. 9 Vgl. Flitner/Giel in den Kommentaren und Anmerkungen zu Band I–V der Werke Humboldts, Band 5, 287 (siehe Fn. 6). 10 Sauter Wilhelm von Humboldt und die deutsche Aufklärung, 1989; Battisti Freiheit und Bindung, Wilhelm von Humboldts ‚Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen‘ und das Subsidiaritätsprinzip, 1986. 11 Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band I, 1988, 326 mit Fußnote 193; ähnlich Battisti (Fn. 10), 28 f. Etwas anders Schaumkell Wilhelm von Humboldt und der Preußische Staatsgedanke, 1935. 12 Popper Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 1945 (deutsch: 1. Auflage 1958), Band 2, 361. 13 Zur zugrunde liegenden Freiheitsauffassung di Fabio Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, 17; siehe auch Herz Die wohlerwogene Republik. Das konstitutionelle Denken des politisch-philosophischen Liberalismus, 1999.

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die Freiheit in den Gedankengang eingeführt wird. Humboldt geht nämlich zunächst „von dem Ideale des Menschen“ aus. Seine in Erfahrungssätze gekleideten Annahmen münden in eine idealistisch gefärbte Definition: „Wie folglich (. . .) den Eroberer der Sieg höher freut als das errungene Land, wie den Reformator die gefahrvolle Unruhe der Reformation höher als der ruhige Genuss ihrer Früchte, so ist dem Menschen überhaupt Herrschaft reizender als Freiheit oder wenigstens Sorge für Erhaltung der Freiheit reizender als Genuss derselben. Freiheit ist gleichsam nur die Möglichkeit einer unbestimmt mannigfaltigen Tätigkeit.“14 Zwei unscheinbare Worte charakterisieren diese Freiheitsdefinition: die Unbestimmtheit im Sinne der Freiheit von staatlicher Einmischung und die Mannigfaltigkeit. Was die Freiheit von staatlicher Einflussnahme betrifft, ist damit andeutungsweise die später so genannte negative Freiheit angesprochen.15 So spiegeln sich in diesen beiden Worten der Unbestimmtheit und Mannigfaltigkeit negative und positive Freiheit, Freiheit von und Freiheit zu, wie sie oft verkürzend erklärt werden.16 Allerdings ist das, was aus Sicht der praktischen Vernunft wie eine Paradoxie anmutet – die Präferenz der Herrschaft vor der Freiheit – zugleich noch ein Anklang Hobbes’schen Gedankenguts.17 Deshalb ist die daraus hervorgehende erste Freiheitsdefinition auch eher eine vorläufige. Die Grenze der Wirksamkeit des Staates betrifft nun „gleichsam den letzten Zweck aller Politik“, und ihre Untersuchung „muss (. . .) auf höhere Freiheit der Kräfte und größere Mannigfaltigkeit der Situationen führen.“18 2. Freiheit und Sicherheit Der zweite große Pfeiler des Humboldtschen Gedankenwerks ist der Begriff der Sicherheit, die der Staat zu gewährleisten hat. Die Sicherheit ist die zentrale Konstante des Humboldtschen Staatsverständnisses, wobei für ihn die Freiheit das Wichtigste ist.19 Ohne Sicherheit ist letztlich keine Freiheit 14

Vgl. Humboldt (Fn. 6), 14 f., 58 f., Hervorhebung auch dort. Vgl. nur Berlin Four Essays on Liberty, 1969; weitergehend Skinner Third Concept of Liberty, 2002. 16 Näher Böckenförde Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 1991, 46. 17 Zutreffend Herzog Über die Grenzen der Wirksamkeit des Strafrechts – Eine Hommage an Wilhelm von Humboldt, Humboldt Universität Berlin, Öffentliche Vorlesungen Heft 11, 1993, 5 (= Kritische Vierteljahreszeitschrift für Gesetzgebung und Wissenschaft, 1993, 247), dem zu Folge man Humboldts Staatsidee „als Gegenposition zum Hobbes’schen ‚Leviathan‘ ansehen“ kann. 18 Humboldt (Fn. 6), 58 f. 19 Statt aller Pannwitz Die Schrift über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates, in: Dem Andenken Humboldts. Herausgegeben vom deutschen Seminar an der Pekinger Reichsuniversität Tientsin-Peiping, 1935, 2 ff. 15

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denkbar. Sicherheit ist für ihn Garant und Gradmesser der Freiheit.20 Deshalb muss staatliche Einflussnahme durch einen Zugewinn an Sicherheit legitimiert werden. Ist dieser konkret nicht erforderlich und läuft womöglich sogar auf eine Bevormundung des Bürgers hinaus, verbietet sich staatliche Einmischung. a) Sicherheit als Gewissheit der gesetzmäßigen Freiheit Allerdings ist bezeichnend, dass die von Humboldt geprägte Kurzformel, auf die er die Sicherheit bringt, nicht mehr ohne den Begriff der Freiheit auskommt und das Recht nurmehr zu einem Attribut der Freiheit macht.21 Sicherheit ist für ihn nämlich gleichbedeutend mit der Gewissheit der gesetzmäßigen Freiheit.22 Scheinbar selbstverständlich ist das Attribut der Gesetzmäßigkeit der Freiheit, doch lehrt ein vom frühen Schiller formulierter Gegenstandpunkt, dass sich dies, zumal zu seiner Zeit, nicht von selbst versteht: „Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus.“23 Die Prägnanz der Wendung von der gesetzmäßigen Freiheit kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Begründung dafür aussteht, welchem Gesetz gemäß die Freiheit bestehen soll. Allerdings bleibt Humboldt seiner einmal gewählten Terminologie auch später unausgesprochen treu; so verwendet er im Abschnitt über die Kriminalgesetze im Rahmen der Behandlung der präventiven Eingriffe des Staats zum Zweck der Sicherheit die Definition der gesetzmäßigen Freiheit gleichbedeutend mit der Sicherheit.24 b) Folgerungen für den Rechtsbegriff Wie sich der Rechtsbegriff Humboldts allmählich herausbildet, ohne von ihm definiert worden zu sein, zeigt sich an der den Begriff der Sicherheit einleitenden verengten Befugnis des Staats: „Der Staat wird nämlich allein sich auf Handlungen, welche unmittelbar und geradezu in fremdes Recht eingreifen, ausbreiten, nur das streitige Recht entscheiden, das verletzte wieder herstellen und die Verletzer bestrafen dürfen.“25 Diese punktuelle Eingriffsbefugnis kann nur dann sinnvoll gedacht werden, wenn zugleich und auf diese Weise kontinuierlich für Sicherheit gesorgt ist. Die möglichen Rechtsverstöße korrespondieren mit den Schwankungen und Abstufungen der Sicherheit. Es ist im Übrigen auch sprachlich und syntaktisch bemer20 Klenner ARSP (95) 2009, 440; Petersen Wilhelm von Humboldts Rechtsphilosophie2, 2007, 33. 21 Ratzinger Glaube – Wahrheit – Toleranz4, 2005, 201. 22 Humboldt (Fn. 6), 148, Hervorhebung auch dort. 23 Schiller Die Räuber, I. Akt, 2. Szene. 24 Humboldt (Fn. 6), 94. 25 Humboldt (Fn. 6), 146.

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kenswert, wie er hier – wie an vielen anderen Stellen seiner Abhandlungen – derartige Wechselbezüglichkeiten in einem spannungsvollen Satz ausdrückt: „Denn so verschieden auf der einen Seite die Nuancen von dem bloß Überzeugung beabsichtigenden Rat zur zudringlichen Empfehlung und von da zum nötigenden Zwange, und ebenso verschieden und vielfach die Grade der Unbilligkeit und Ungerechtigkeit von der innerhalb der Schranken des eigenen Rechts ausgeübten, aber dem andren möglicherweise schädlichen Handlung bis zu der gleichfalls sich nicht aus jenen Schranken entfernenden, aber den andren im Genusse seines Eigentums sehr leicht oder immer störenden und von da bis zu einem wirklichen Eingriff in fremdes Eigentum sind, ebenso verschieden ist auch der Umfang des Begriffs der Sicherheit, indem man darunter Sicherheit vor einem solchen oder solchen Grade des Zwanges oder einer so nah oder so ferne das Recht kränkenden Handlung verstehen kann.“26 Vieles davon ist auch aus moderner grundrechtsdogmatischer Sicht noch bemerkenswert.27 c) Komplementaritätsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit Humboldt kommt nicht umhin, den Begriff der Sicherheit mit Inhalt zu füllen, zumal er andernfalls zum schrankenlosen Rechtfertigungsgrund für staatliches Eingreifen pervertieren könnte. Auch wenn Humboldt dies nicht so klar und ausdrücklich sagt, wie es aus leidvoller geschichtlicher Erfahrung urteilend heute gesehen werden kann, ist doch bei allen Vorbehalten, die man gegenüber Humboldts vergleichsweise engem Staatsverständnis haben darf, überaus bemerkenswert, wie er den Begriff der Bestimmtheit mit dem staatlichen Eingreifen zur Gewährleistung der Sicherheit in Verbindung gebracht hat: „Ohne eine genaue Bestimmung jenes Umfangs also ist an eine Berichtigung dieser Grenzen nicht zu denken. Dann müssen auch die Mittel, deren sich der Staat bedienen darf oder nicht, noch bei weitem genauer auseinandergesetzt und geprüft werden. Denn wenngleich ein auf die wirkliche Umformung der Sitten gerichtetes Bemühen des Staats, nach dem Vorigen nicht ratsam erscheint, so ist hier doch noch für die Wirksamkeit des Staats ein viel zu unbestimmter Spielraum gelassen und z.B. die Frage noch sehr wenig erörtert, wie weit die einschränkenden Gesetze des Staats sich von der unmittelbar das Recht anderer beleidigenden Handlung entfernen.“28 Sicherheit und Freiheit stehen also in einem Komplementaritätsverhältnis zueinander.29

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Humboldt (Fn. 6), 146. Vgl. di Fabio (Fn. 13), 29 mit weiteren Gründen und Beispielen, unter Hinweis auf Lerche Übermaß und Verfassungsrecht2, 1999. 28 Humboldt (Fn. 6), 147. 29 Petersen (Fn. 20), 342. 27

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3. Folter als Verletzung der Würde des Staates Von besonderer Aktualität ist Humboldts Blick auf Zweck und Mittel der Sicherheit des Staates: „Bei der Untersuchung begangener Verbrechen darf der Staat zwar jedes dem Endzweck angemessene Mittel anwenden, hingegen keines (. . .), das den Staat einer unmoralischen Handlung schuldig machen würde.“30 Die Rede ist von der strikten Ablehnung der Folter, die neuerdings auch im juristischen Schrifttum in erstaunlicher Weise partiell aufgeweicht wird, und bei Humboldt einer geradezu exemplarischen Behandlung zugeführt wird, in der sich auch seine humane Grundhaltung spiegelt.31 Sie ist nämlich „der Würde des Staats, welchen der Richter vorstellt, allemal unangemessen.“32 Dem ist – zumal in dieser kategorischen Haltung – nichts hinzuzufügen.33 Es ist interessant, dass Humboldt bei der Würde des Staats und nicht derjenigen des Menschen ansetzt. Das scheint nicht zu seiner sonstigen Anthropozentrierung zu passen,34 wonach der Endzweck des Staates mit dem Mittel der Freiheit in der Bildung des Menschen liegt. Es lässt sich aber gleichwohl rechtfertigen. Denn indem sich die Menschen zum Staat zusammenschließen und damit, wie Humboldt an anderer Stelle folgert, von der Privatrache Abschied nehmen und das Gewaltmonopol dem Staat überantworten, kommt es bei der Bestrafung nurmehr auf ihn an, so dass der Staat somit auch für die moralische Bewertung zum Bezugspunkt wird. Man kann daher schwerlich von der Würde der zum Staat zusammengeschlossenen Individuen sprechen, sondern dieser erhält nach Humboldt mit der Übertragung der Gewalt- und Strafbefugnisse selbst eine Würde, das heißt auch eine Verantwortung gegenüber den seiner Gewalt Unterworfenen, die auch und gerade dann zum Tragen kommt, wenn der Staat zu freiheitshemmenden Mitteln greift und so in den Rechtskreis der Bürger eingreift. 4. Zweck der Gesetze Humboldt selbst hat die Frage aufgeworfen, welchem Zweck die Gesetze letztlich zu dienen bestimmt sind: „Oft aber sorgten auch die älteren Gesetzgeber und immer die alten Philosophen im eigentlichsten Verstande für den Menschen, und da am Menschen der moralische Wert ihnen das Höchste erschien, so ist z.B. Platos Republik, nach Rousseaus äußerst wahrer Bemerkung, mehr eine Erziehungs- als eine Staatsschrift.“35 Es ist bezeichnend 30 31 32 33 34 35

Humboldt (Fn. 6), 198, Hervorhebung nur hier. Petersen (Fn. 20), 170 f.; zustimmend Jäger FS Herzberg 2008, 539, 547. Humboldt (Fn. 6), 187. Zutreffend Wesel myops 3 (2008) 18, 21 f. Zum Ursprung dieser Sichtweise Sauter (Fn. 10), 222 f. Humboldt (Fn. 6), 60.

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für Humboldts Staatsidee, dass ihn Rousseau eher als Erzieher denn als Staatsphilosoph interessiert. Entsprechendes kann man über Humboldts Ideen sagen, womit zugleich die oben über das Verhältnis von Freiheit und Bildung angestellten Überlegungen neue Nahrung erhielten. Deutlicher wird der Rekurs auf die Antike im Hinblick auf dieses Verhältnis aber noch in folgender Feststellung: „Die alten sorgten für die Kraft und Bildung des Menschen als Menschen; die neueren für seinen Wohlstand, seine Habe und seine Erwerbsfähigkeit. Die alten suchten Tugend, die neueren Glückseligkeit.“36 Die antithetische Darstellung legt einen Kontrast frei, der zugleich illustriert, wie sehr sich Humboldt auf dem Scheidewege zwischen idealistischer Freiheitsverwirklichung um des Menschen willen und merkantilistischer Freiheitsbetonung befand und sich dessen bewusst war: „Die Freiheit erhöht die Kraft und führt, wie immer die größere Stärke, allemal eine Art der Liberalität mit sich.“37 5. Funktionale Beziehung zwischen Freiheit und Bildung Im bisherigen Schrifttum ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass die Bildungsidee schon in dieser frühen Schrift Humboldts zutage tritt.38 Der Begriff der Bildung wird dem der Freiheit zwar nicht unbedingt gleichgesetzt, doch wird zumindest eine funktionale Beziehung zwischen Freiheit und Bildung vorausgesetzt. Demgemäß heißt es an späterer Stelle im Abschnitt über die öffentliche Erziehung:39 „Daher müsste, meiner Meinung zufolge, die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen40 überall vorangehen.“41 Bildung ist sonach für Humboldt ohne Freiheit nicht denkbar. Indem die Freiheit hier zu einem Attribut der Bildung wird, erscheint zugleich die Bildung als eine Konkretisierung der Freiheit.42 Insofern ist es nicht unproblematisch, wenn „der Bürger von seiner Kindheit an schon zum Bürger gebildet wird“,43 weil er dann Gefahr läuft als Mensch an Eigentümlichkeit zu verlieren. Mensch und Bürger sind also nicht notwendigerweise gleichbedeutend, auch wenn es „wohltätig ist, wenn die Verhältnisse des Menschen und des Bürgers soviel als möglich zusam-

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Humboldt (Fn. 6), 61, Hervorhebung nur hier. Humboldt (Fn. 6), 143. 38 Menze Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen, 1965, 3. 39 Vergleichend Krautkrämer Staat und Erziehung. Begründung öffentlicher Erziehung bei Humboldt, Kant, Fichte, Hegel und Schleiermacher, 1979. 40 Vgl. auch das nicht datierte Fragment Humboldt Theorie der Bildung des Menschen, bei: Flitner/Giel (Fn. 6) Band 1, 234. 41 Humboldt (Fn. 6), 106 f. 42 Petersen (Fn. 20), 25. 43 Humboldt (Fn. 6), 106. 37

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menfallen.“44 Es ist interessant, dass Kant in seinem Staatsrecht denjenigen, „der das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung“ hat (d.h. dem von ihm so genannten „Grundgesetz, das nur aus dem allgemeinen vereinigten Volkswillen entspringen kann“) bezeichnet als „Bürger (citoyen, d.i. Staatsbürger, nicht Stadtbürger, bourgeois)“.45 Keinesfalls aber darf nach Humboldt „der Mensch dem Bürger geopfert werden“,46 da dann der Staatszweck verfehlt werde, denn „es verliert der Mensch dasjenige, welches er gerade durch die Vereinigung in einem Staat zu sichern bemüht war.“47 Ergänzt wird dies durch die an späterer Stelle geäußerte Überlegung, dass „doch die Staatsverbindung immer nur als ein Mittel anzusehen ist.“48 Die Staatsverbindung ist demnach niemals der Zweck, welcher nach Humboldt vielmehr in der Sicherheitsgewährung liegt, die wiederum dem Menschen zur Bildung und Ausprägung seiner Kräfte und Individualität verhilft. Bildung und Zusammenschluss der Menschen zum Staat hängen also untrennbar miteinander zusammen. Konnte bisher gesagt werden, dass Humboldt die Frage der Staatsgründung im Ausgangspunkt offen lässt und erst allmählich entwickelt, so entwickelt er auf dieser Grundlage die und idealistisch zu nennende Vorstellung eines Beitritts des Menschen zum Staat: „Der so gebildete Mensch müsste dann in den Staat treten und die Verfassung des Staats sich gleichsam an ihm prüfen.“49

III. Kantische Prägung der Humboldtschen Rechtsphilosophie Man kann den rechtsphilosophischen Gehalt der Ideen nur dann angemessen würdigen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viel kantische Rechts- und Moralphilosophie in ihnen enthalten ist.50 Am Rande sei erwähnt, dass Humboldt sich bereits während seiner Studienzeit in Frankfurt an der Oder und mehr noch in Göttingen im Jahre 1787 sehr für Kants Metaphysik interessierte.51 Ob diese erste Beschäftigung Früchte getragen hat, ist schwerlich zu rekonstruieren.52 Zumindest war sich bereits der junge Humboldt der überragenden Gestalt Kants bewusst gewesen, in dem er daher einen philosophischen Leitstern erblickt haben dürfte. Sein Bruder Ale-

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Humboldt (Fn. 6), 106. Kant Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Band IX der von Weischedel herausgegebenen Ausgabe, 151. 46 Humboldt (Fn. 6), 106. 47 Humboldt (Fn. 6), 106. 48 Humboldt (Fn. 6), 107. 49 Humboldt (Fn. 6), 107. 50 Kühl FS Spendel 1992, 75 ff. 51 Scurla Wilhelm von Humboldt, Reformator – Wissenschaftler – Philosoph, 1976, 36. 52 Sauter (Fn. 10), 122, freilich mit anderer Akzentsetzung als hier. 45

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xander bemerkt dazu: „Er hat jetzt alle Werke von Kant studiert und lebt und webt in seinem Systeme.“53 Ein Jahr später las er – für unseren Zusammenhang bedeutsam – die just erschienene Kritik der praktischen Vernunft und kommentierte die Lektüre brieflich gegenüber einem Freund mit den Worten: „Ich habe mir vorgenommen, ihn recht sorgfältig zu studieren. Ich schreibe mir jedesmal das, was ich gelesen habe, wieder auf. (. . .) Es ist doch besser, dass man ein Dutzend neue Wörter lernt, als dass man die alten braucht, die oft durch ihre unbestimmte Bedeutung eine große Verwirrung anrichten.“54 Explizit wird dies nur an einer Stelle der Einleitung; implizit durchzieht Kant die gesamte Abhandlung.55 Deutlich wird dies an einer bereits behandelten Stelle,56 an der es in einer Parenthese heißt „weil, was Neigung oder Achtung für das Gesetz wirkt, schöner und erhebender ist, als was Not und Bedürfnis erpresst“. Auch wenn hier Neigung und Pflicht durch das Oder alternativ gleich geordnet werden und dies der auf dem beherrschenden Pflichtbegriff der kantischen Moralphilosophie nachgerade zuwider laufen zu scheint, so ist es doch gerade dieser, der den unmissverständlichen Anklang an Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bewirkt. Denn danach ist Pflicht die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung für das Gesetz.57 Mag man dies – was aber angesichts der oben zitierten Briefstelle, in der sich Humboldt ausdrücklich zum kantischen Wortschatz bekennt, schwerlich vertretbar ist – noch als mehr oder weniger zufällige Wortverdopplung ohne einen über die philologische Auffälligkeit hinausreichenden Gehalt ansehen, so ist die nachfolgende Andeutung auf die kantische Moralphilosophie unabweislich,58 weil sie von Humboldt selbst in einer seiner vergleichsweise wenigen Fußnoten explizit gemacht worden ist. Bei der Behandlung der Glückseligkeit, am Beispiel derer Humboldt abermals – gleichsam auf moralphilosophischer Ebene – antike Philosophie und zeitgemäße Anschauung miteinander kontrastiert, findet sich eine aufschlussreiche Abgrenzung zu Kant: „und der selbst, welcher die Moralität in ihrer höchsten Reinheit sah und darstellte, glaubt, durch eine sehr künstliche Maschinerie seinem Ideal des Menschen die Glückseligkeit, wahrlich mehr wie eine fremde Belohnung als wie ein eigen errungenes Gut, zuführen zu müssen.“ Sein Verständnis des kantischen Freiheitsbegriffs ist freilich nicht unkritisch, wie folgende briefliche Äußerung verrät: „Allein die Gründe, worauf Kant die Freiheit baut, überzeugen mich nicht. Er bildet a priori einen 53

Alexander von Humboldt schreibt dies am 27. Februar 1789 an W.G. Wegener. Brief an den Studienfreund Beer vom 15. Juni 1788. 55 Petersen (Fn. 20), 37 ff., 44 ff., 67 ff. und öfter. 56 Humboldt (Fn. 6), 16. 57 Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Band VI der von Weischedel herausgegebenen Ausgabe (Fn. 45), 26. 58 Kühl (Fn. 50), 75, 78. 54

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Begriff von allgemein geltenden praktischen Grundsätzen, bringt heraus, dass diese Grundsätze nur formell sein können, und weil solche Grundsätze, ohne Freiheit, nicht zureichender Bestimmungsgrund des Willens sein könnten; so postuliert er endlich diese Freiheit.“59 Auch wenn dies, wie gesagt, eher abgrenzenden Charakter hat, so kann man aus dieser skeptischen Erwähnung auch die Hypothese ableiten, dass die gesamten Ideen letztlich eine auf das Verhältnis des Staats zum Individuum konzentrierte Anwendung des kantischen Freiheits- und Autonomiebegriffs darstellen.60

IV. Humboldt und das Naturrecht Humboldt ist ungeachtet seiner kantischen Prägung einem naturrechtlichen Rechtsbegriff verpflichtet.61 Er trennt Legalität und Moralität nicht zuletzt deshalb, weil der von Gesetzeszwängen freie Bürger kraft seiner Autonomie erst das Gute wollen kann. Auch mit der Hervorhebung des Autonomiegedankens bewegt sich Humboldt in kantischen Fahrwassern. Dieses sehr idealistische Verständnis von Legalität und Moralität läuft freilich Gefahr, sich selbst zu karikieren: „Das lebendige Bild der einfachsten Erhabenheit, der ungestörtesten Ordnung und der mildesten Güte bildet die Seelen einfach, groß, sanft und der Sitte und dem Gesetz froh unterworfen.“62 Ähnlich – und damit letztlich leerlaufend – formuliert er seine Vision in einem Brief:63 „Wäre es allen Menschen völlig eigen, nur ihre Individualität ausbilden zu wollen, nichts so heilig zu ehren, als die Individualität des andren; wollte jeder nie mehr in andre übertragen, nie mehr aus andren nehmen, als von selbst aus ihm andre, und aus andren in ihn übergeht; so wäre es die höchste Moral, die konsequenteste Theorie des Naturrechts, der Erziehung und der Gesetzgebung den Herzen der Menschen einverleibt.“ Diese bukolische Überzeichnung veranschaulicht, warum Humboldts Staatsidee immer wieder ein utopischer Zug nachgesagt wurde.64 Versteht man das Naturrecht als Summe von Gerechtigkeitssätzen, die letztlich im Sittlichen gründen und in bestimmten Grundüberzeugungen wurzeln,65 so kommt man schwerlich umhin, Humboldts Rechtsverständnis

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Briefstelle an F.H. Jacobi vom 7. Februar 1789. Wie hier Spranger Wilhelm von Humboldt und Kant, Kant-Studien 13, 1908, 57 ff., 89 ff.; a.A. Sauter (Fn. 10), 299 ff. Siehe auch Papageorgiou ARSP 1990, 324, 329 Fußnote 20. 61 Vgl. auch Battisti (Fn. 10), 96. 62 Humboldt (Fn. 6), 77, Hervorhebung nur hier. 63 An Forster vom 8. Februar 1790. 64 Siehe nur Scurla (Fn. 51), 110 f. 65 Differenzierter Dreier Naturrecht und Rechtspositivismus. Pauschalurteile, Fehlurteile, Vorurteile, in: Härle/Vogel (Hrsg.) Vom Rechte, das mit uns geboren ist, 2007, 127. 60

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als naturrechtlich anzusehen. Allerdings entsprach es einer Tendenz seiner Zeit, das Naturrecht von der Moralphilosophie abzugrenzen66 und so einen gleichsam vom Staat freien Bereich der Gesellschaft zu konstituieren.67 Humboldt geht davon aus, „dass bei einem nicht geringen Teil der Nation die Gesetze und Einrichtungen des Staates gleichsam den Umfang der Moralität abzeichnen.“68 Die dort vorausgesetzte Übereinstimmung von Naturrecht und positivem Recht entspricht etwa dem aristotelischen Gedanken, dass das Naturrecht geradezu im gesetzten Recht wirkt.69 Einen auf den ersten Blick bestechenden Erklärungsversuch von Humboldts Naturrechtsdenken hat Sauter vor dem Hintergrund der historischen Nachzeichnung von Humboldts Naturrechtsstudien vorgelegt.70 Ihres Erachtens hat Humboldt seit seiner Studienzeit fortwährend mit dem Naturrecht gerungen und das Fehlen eines obersten Prinzips oder Kriteriums vermisst, das letztlich darüber Auskunft gibt, was Recht und Pflicht des Menschen ist. Dieses oberste Prinzip habe er in der freien Entfaltung der Individualität des Menschen erblickt und diese sonach in den Ideen zum obersten Leitgedanken erhoben und von daher die Grenzen der Wirksamkeit des Staates bestimmt.71 Die historisch exakte und quellentheoretisch fundierte Herleitung der zeitgenössischen Naturrechtsvorstellungen ist in der Tat ein besonderes Verdienst.72 Zudem vermag dieser Ansatz entstehungsgeschichtlich einiges zu erklären. So lässt sich damit begründen, warum Humboldt das Recht nicht näher definiert und, wie noch im weiteren Verlauf der Untersuchung zu zeigen sein wird, alles als sanktionsbedürftige Störung der Entfaltung der Individualität ansieht, was in fremdes Recht eingreift.73 Damit widerspricht dieses Verständnis dem naturrechtlichen Konzept Humboldts, das weiter oben behandelt wurde, im Kern nicht. Nur ist sein Erklärungswert auf der anderen Seite auch nicht weitergehend, weil die Entfaltung und Bildung der Individualität zwar durchaus eine Richtschnur sein kann, zumal wenn die Grenzen der Wirksamkeit des Staates im Vordergrund stehen. Jedoch eignet sie sich damit noch nicht ohne weiteres als oberstes Prinzip,74 das in materialer 66

Sauter (Fn. 10), 99. Garber Vom ‚ius connatum‘ zum ‚Menschenrecht‘. Deutsche Menschenrechtstheorien der Spätaufklärung, in: Brandt (Hrsg.) Rechtsphilosophie der Aufklärung, 1982, 107 ff. 68 Humboldt (Fn. 6), 75. 69 Aristoteles Nikomachische Ethik, V 10. 70 Sauter (Fn. 10), 115 und öfter. 71 Von Rantzau (Fn. 3), 15. 72 Siehe auch Nipkow Die Individualitätsentfaltung als pädagogisches Problem bei Pestalozzi, Humboldt und Schleiermacher, 1960. 73 Menze Die Individualität als Ausgangs- und Endpunkt des Humboldtschen Denkens, in: Hammacher (Hrsg.) Universalismus und Wissenschaft im Werk und Wirken der Brüder Humboldt, 1976, 160. 74 Sauter (Fn. 10), 105. 67

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Weise über die Rechte und Pflichten des Menschen entscheidet. Dieses Defizit war offenbar auch Humboldt bewusst, wenn er etwa schrieb: „Wende ich mich aber ganz von diesen materialen Prinzipien zu Kants formalen hinweg, so find’ ich auch da sehr viel Schwierigkeiten, nur von andrer Art.“75 Gerade dort, wo der Gedankengang Humboldts auch mit dieser Leitidee womöglich unzureichend ist, veranschaulicht er ungewollt den Stand vor-kantischen Naturrechtsdenkens und sucht zugleich nach einem eigentümlichen Ausweg.

V. Individualität und Bildung Die Hervorhebung der Individualität ist für Humboldt geradezu systemprägend.76 In der Einleitung der Ideen spricht er davon, dass „man die Individuen beinahe zu vergessen scheint, oder wenigstens nicht ihr inneres Wesen, sondern ihre Ruhe, ihr Wohlstand, ihre Glückseligkeit“ im Blickpunkt stehen.77 Diese Individualität steht in einem inneren Kausalund Verweisungszusammenhang mit der Bildung, wie der Anfangssatz der Ideen ankündigt: „Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung.“78 1. Individualität und Gemeinwohl Obwohl Humboldt durchgängig vom Einzelnen ausgeht und die Individualität in den Mittelpunkt stellt,79 kommt er nicht umhin, das Wohl der Gesellschaft zum Maßstab für den Umfang der Wirksamkeit des Staates zu erheben.80 Allerdings ist die Gesellschaft bei Humboldt eine seltsam blasse Größe;81 ihn interessiert auch dort letztlich nur der Einzelne, wo er von den 75

An F.H. Jacobi am 7. Februar 1789. Näher zum Begriff der Individualität Nörr Savignys philosophische Lehrjahre, 1994, 57. Speziell bei Humboldt: Buck Rückwege aus der Entfremdung, 1984, 218 ff. Aus dem früheren Schrifttum Hübner Die Bedeutung der Individualität in Wilhelm von Humboldts Lebensauffassung, 1910. 77 Humboldt (Fn. 6), 62. 78 Vgl. auch Sauter (Fn. 10), 363. 79 Schultz Das Erlebnis der Individualität bei Wilhelm von Humboldt, Deutsche Vierteljahreszeitschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7 (1929) 665. 80 Humboldt (Fn. 6), 64. 81 Dass er sie gleichwohl schon als solche begreift, ist rechtssoziologisch bemerkenswert; Petersen Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 2008. 76

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Bürgern im Plural spricht. An späterer Stelle präzisiert er dies dahingehend, dass die Verbindung der Menschen untereinander geschieht, „nicht um an Eigentümlichkeit, aber an ausschließendem Isoliertsein zu verlieren.“82 a) Ablehnung staatlicher Einmischung Es ist daher folgerichtig, dass Humboldt das Wohl der Gesellschaft entsprechend dem von ihm postulierten idealisierten Naturzustand dahingehend präzisiert, dass „jedes Bemühen des Staates verwerflich sei, sich in die Privatangelegenheiten des Bürgers überall da einzumischen, wo dieselben nicht unmittelbaren Bezug auf die Kränkung der Rechte des einen durch den andren haben.“83 Das läuft ersichtlich auf eine massive Beschneidung staatlicher Befugnisse hinaus.84 Der Staat dürfte demnach nur mehr Gesetzesverstöße ahnden und auch das nur soweit, als dadurch die Rechte anderer Bürger beeinträchtigt würden. Jede darüber hinausgehende Einmischung des Staates in die Belange der Bürger wird somit zur unbefugten Freiheitsbeschränkung. Dass dieser radikale Standpunkt – zumal in seiner Zeit – überaus begründungsbedürftig ist, hat Humboldt selbst eingestanden.85 Die Individualität ist also ein Zentralbegriff Humboldts.86 Sie rückt nun in den Mittelpunkt der Argumentation, weil Humboldt auch sie gefährdet sieht durch eine Einmischung des Staats: „Sie hindert die Entwicklung der Individualität und Eigentümlichkeit des Menschen in dem moralischen und praktischen Leben des Menschen, sofern er nur auch hier gleichsam die Regeln beobachtet – die sich aber vielleicht allein auf die Grundsätze des Rechts beschränken –, überall den höchsten Gesichtspunkt der eigentümlichsten Ausbildung seiner selbst und anderer vor Augen hat, überall von dieser reinen Absicht geleitet wird und vorzüglich jedes andere Interesse diesem ohne alle Beimischung sinnlicher Beweggründe erkannten Gesetze unterwirft.“87 Das Ungefähre an dieser Vorstellung spiegelt sich sprachlich („vielleicht“) wider. b) Eigentümlichkeit der „eigengebildeten Menschen“ Die Grundkonstanten des Humboldtschen Staates bleiben – mit wechselnden Begriffen – die Freiheit und Bildung des Einzelnen, seine Eigentümlichkeit und Originalität, und selbst wenn er von den Naturgesetzen spricht, 82

Humboldt (Fn. 6), 82. Humboldt (Fn. 6), 69. 84 Entsprechendes lässt sich bei Nietzsche, dem anderen großen Individualisten, nachweisen; vgl. Petersen Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008, 147 ff. 85 Humboldt (Fn. 6), 69. 86 Whitman The Two Western Cultures of Privacy: Dignity Versus Liberty, Yale Law Journal 2004 (113) 1151, 1180. 87 Humboldt (Fn. 6), 82. 83

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so erscheinen sie „dem eigengebildeten Menschen eigentümlicher“.88 So nimmt es nicht wunder, dass auch die Koexistenz der Individuen sich aus Humboldts Sicht weniger zu einem Staatsganzen formen und dessen Kraft bilden als vielmehr wiederum allein der Einzelne und seine Bildung und Freiheit sein Interesse beansprucht: „Das höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst und um seiner selbst willen sich entwickelte.“89 Daraus erklärt sich, warum der Idealstaat Humboldts als solcher bezeichnet wurde, in dem „lauter Humboldts“ zusammenleben.90 2. Gebot des Rechts Humboldt folgert, dass „die wahre Vernunft dem Menschen keinen andren Zustand als einen solchen wünschen kann, in welchem nicht nur jeder einzelne der ungebundensten Freiheit genießt, sich aus sich selbst in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln, sondern in welchem auch die physische Natur keine andere Gestalt von Menschenhänden empfängt, als ihr jeder Einzelne nach dem Maße seines Bedürfnisses und seiner Neigung, nur beschränkt durch die Grenzen seiner Kraft und seines Rechts, selbst und willkürlich gibt.“91 Man kann insofern von einer Art idealisiertem Naturzustand sprechen, eines Zustands also, in welchem der Staat am wenigsten in Erscheinung tritt, indem er die Bildung und Entwicklung des Individuums nicht stört und dessen Selbstbestimmung und Willensfreiheit achtet.92 Dieser Entwurf hat den Vorzug, dass ihm kein naturalistischer Fehlschluss unterläuft, indem von einem Sein auf ein Sollen geschlossen wird.93 Denn Humboldt interessiert von vornherein nicht so sehr, was der Mensch ist, als vielmehr, was er bei Bildung seiner Kräfte und Eigentümlichkeiten sein kann und folgert aus dieser Möglichkeit nur das Postulat unterbleibender Einmischung. Es ist zugleich erkennbar ein Gegenentwurf zum Staat Hegels, in dem es die höchste Pflicht des Einzelnen ist, Mitglied des Staats zu sein.94 In dieser Idealisierung wird der Naturzustand zugleich für Humboldt zu einem gleichsam negativen Regulativ, das er in den Worten zusammenfasst: „Kein Gesetz darf verbieten, wozu im Naturzustande nicht einmal eine unvollkommene Verbindlichkeit vorhanden war.“95 88

Humboldt (Fn. 6), 65. Humboldt (Fn. 6), 66 f. 90 Kaehler Wilhelm von Humboldt und der Staat, 1963, 150. 91 Humboldt (Fn. 6), 69, dort kursiv hervorgehoben. 92 Vgl. auch Sauter (Fn. 10), 336 f. 93 Battisti (Fn. 10), 65. 94 Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts, Dritter Abschnitt, § 258, Hervorhebung auch dort. Dazu Petersen Die Eule der Minerva in Hegels Rechtsphilosophie, 2010. 95 Humboldt Gesammelte Schriften, Band VII, 2, 503. 89

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Auf eine Formel gebracht ist es womöglich am ehesten das alte Postulat des neminem laedere,96 also insbesondere die Verbote der Tötung, körperlichen Verletzung etc.97 Das Gesetz, von dem er in aufschlussreicher Kontrastierung demgegenüber spricht, ist also letztlich die Gewährleistung der Ausprägung und Entfaltung der Individualität durch Reduzierung des staatlichen Einflusses. Das Ziel ist und bleibt aber die Entwicklung der Individualität.98 Wenn aber die Individualität das dem Menschen als Endzweck des Staates Gemäße ist, so gerät dieser Begriff in den Mittelpunkt des Interesses. Für dieses Verständnis streitet immerhin die Zentralität des Bildungsbegriffs bei Humboldt.99 Schließlich geht es ihm stets um Bildung des Einzelnen,100 d.h. die Anleitung zur individuellen Freiheit. Dieser idealistische Ausgangspunkt kann dafür ins Feld geführt werden, dass Individualität auch vom Begriff der Gattung her gedacht werden kann und dort nicht zwangsläufig seinen Gegenbegriff finden muss. So könnte auch Humboldts kryptisches Wort gedeutet werden:101 „Die Menschheit ist nichts anderes als ich selbst.“102 VI. Kontinuität der Bildungsidee Individualität und Eigentümlichkeit gehören für Humboldt also zusammen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass gerade der spätere Humboldt der nationalen Individualität das Wort redete und damit eine Art Mittlerinstanz zwischen dem Staat und dem Einzelnen anerkannte:103 „Es liegt in der Art, wie die Natur Individuen in Nationen vereinigt, und das Menschengeschlecht in Nationen absondert, ein überaus tiefes und geheimnisvolles Mittel, den Einzelnen, der für sich nichts ist, und das Geschlecht, das nur im Einzelnen gilt, in dem wahren Wege verhältnismäßiger und allmählicher Kraftentwicklung erhalten.“104 Dies kündigt sich in den Ideen freilich ungeachtet der genannten Passage schwerlich an, die daher nicht in vordergründig assoziativer Weise überinterpretiert werden darf.105 Daher ist hier auch 96

Sauter (Fn. 10), 102. Vgl. Coing Grundzüge der Rechtsphilosophie3, 1976, 211, 215. 98 Vgl. Humboldt (Fn. 6), 83. 99 Vgl. auch Nipperdey Deutsche Geschichte 1800–18662, 1984, 57 f. 100 Siehe auch Grube Die Idee und Struktur einer rein-menschlichen Bildung. Ein Beitrag zum Philanthropismus und Neuhumanismus, 1934, 160 ff. 101 An seinen Jugendfreund Karl Gustav von Brinkmann im Januar 1790 gerichtet. 102 Siehe dazu auch Rüdiger Wesen und Wandlung des Humanismus, 1937, 211; Battisti (Fn. 10), 71. 103 Kaehler (Fn. 90), 226 ff. 104 Vgl. Humboldt Denkschrift über die deutsche Verfassung an den Freiherrn vom Stein, 1813, bei: Flitner/Giel (Fn. 6), Band 5, 304. 105 So allerdings Meineke Weltbürgertum und Nationalstaat, 1928, 43 f.; dagegen Spitta (Fn. 7), 49. Vgl. ferner Meineke Wilhelm von Humboldt und der deutsche Staat, Neue Rundschau 31/2 (1920) 889. 97

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nicht der Ort, darüber zu entscheiden, ob sich insoweit eine Inkohärenz in Humboldts Denken ausmachen lässt.106 So kann darin keine Distanzierung Humboldts von seinen eigenen Gedanken gesehen werden,107 sondern eher dasjenige, was schon am Beispiel seines Bildungsverständnisses gesehen wurde, nämlich dass hier ungeachtet der Hinwendung zur gleichsam überindividuellen Mittlerinstanz der Nation eine Kontinuität in seinem Denken und späteren Handeln aufscheint.108 Das verrät auch eine späte Bemerkung aus seiner Denkschrift ‚Über die Behandlung der Angelegenheiten des Deutschen Bundes durch Preußen‘109: „Sieht man auf die besondere Natur des Bundes, so gibt es, meiner Meinung nach, die wichtigsten Gründe, alle Tätigkeit des Bundes, als eigenen Gesamtstaats, soviel nur immer möglich zu beschränken.“110 Mag also auch die äußerliche Betrachtung des Staatsverständnisses Humboldts eine Wendung zum hegelianischen Staat zu verraten scheinen111 und damit einer gewissen Diskontinuität im Hinblick auf die Staatsidee Ausdruck zu verleihen,112 so bedeutet dies nicht zwangsläufig einen Bruch in seinem Denken.113 Dies gilt zumindest dann, wenn man berücksichtigt, dass sich die aufgezeigte Kontinuität im Bildungsbegriff manifestiert.114 Die weitgehende Freiheit von staatlichen Zwecksetzungen vermag erst das Ideal einer Gemeinschaft von Lernenden und Lehrenden zu schaffen. Humboldt unterschied diese folgerichtig in selbstständig Forschende, also Dozenten, und unselbstständig Forschende, d.h. Studenten. Es ist im Schrifttum immer wieder darauf hingewiesen worden, dass Humboldt in seiner vergleichsweise kurzen Amtszeit als Reformer des Bildungswesens nur deshalb so effektiv wirken konnte, weil die Grundidee bereits in seinem Denken angelegt war.115 Nicht deutlich genug gesagt worden ist freilich, dass hieran die Ideen des Fünfundzwanzigjährigen einen maßgeblichen Anteil hatten.116 In ihnen liegt der Keim einer Vorstellung der Einsamkeit, die etwas substantiell anderes ist als „ausschließendes Isoliertsein“ und Freiheit, die ebenso Freiheit vom Staat wie damit auch Mittel zur Herausbildung der Individualität und so womög106

In diese Richtung Berglar (Fn. 1), 86. So die kontrastierende Charakteristik bei Nipperdey (Fn. 99), 304: „Humboldt, Repräsentant der klassisch-neuhumanistischen Bildungswelt und ursprünglich ausgesprochen antietatistischer und individulistischer Liberaler.“ 108 Petersen (Fn. 20), 185 ff. 109 Humboldt bei: Flitner/Giel (Fn. 6), Band 4, 391. 110 Siehe aber auch Berglar (Fn. 1), 121. 111 Rawls Geschichte der Moralphilosophie, 2004, 545. 112 Zur Geschichtsphilosophie Wilhelm von Humboldts und Hegels Menze Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 63 (1987) 179 ff. 113 Kaehler (Fn. 90), 432. 114 In diese Richtung auch Herzog (Fn. 17), 12. 115 Berglar (Fn. 1), 90 f. 116 Vgl. auch Nipperdey (Fn. 99), 61. 107

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lich unverhoffte und ohne unmittelbare Berechnung geförderte Keimzelle neuer Entdeckungen ist, die wiederum der Gesellschaft zugute kommen und damit bessere Ergebnisse versprechen, als durch staatliche Wohlfahrtmaßnahmen zu gewärtigen wären.117 Ohne die Radikalität seiner Ideen wäre womöglich der später gefeierte Reformator Humboldt gar nicht denkbar, was sie allein schon – trotz aller Überspitzungen – zu einer bleibenden geistigen Leistung macht. Nicht zuletzt in seiner Staatsschrift liegt der Keim seiner Idee der Einsamkeit und Freiheit.

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Nipperdey (Fn. 99), 57 f., betont demgegenüber eher die Diskontinuität.

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Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) Joachim Rückert

Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) Friedrich Carl von Savigny – ein Frankfurter in Berlin JOACHIM RÜCKERT

I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X.

Welcher Savigny? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wucht der Fakten 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was brachte er mit? Frankfurt, Trages, Wetzlar, Marburg, Studienreisen und Forschungsreisen . . . . . . . . . . . . . . . Die Wucht der Fakten 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was fand er vor, in Berlin 1810? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berliner Leben 1: Professor mit vielen Ämtern . . . . . . . . Berliner Leben 2: Minister, Staatsrat, Sondergutachter . . . Unsere Bilder heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . .

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Er kam aus Landshut. Die Reise ging über Wien und Prag und über das mit den Brentanos gemeinsame böhmische Gut Bukowan. Die Schwäger Achim (von Arnim) und Clemens (von Brentano) hatten ihn dort abgeholt, im Sommer 1810. Der Abschied von seinen Landshuter Studenten und Freunden hatte sich herzzerreißend hingezogen bis Salzburg. „Ein junger Schwabe, die personifizierte Volksromanze, war weit vorausgelaufen, um den Wagen noch einmal zu begegnen. Ich werde das nie vergessen“, schreibt Bettina von Brentano an Goethe, „wie er im Feld stand und sein kleines Schnupftüchelchen im Wind wehen ließ, und die Thränen ihn hinderten aufzusehen wie der Wagen an ihm vorbeirollte“.1

I. Welcher Savigny? Welcher Savigny wurde dann der Savigny? Der Berliner, oder schon der Frankfurter, der Marburger, der Landshuter? Der junge, der mittlere, der alte? Der historische, der systematische, der dogmatische, der philosophi1

Nach Stoll III 420. Alle verwendeten Titel sind am Ende zusammengestellt.

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sche, der symphilosophische? Der romantische, der klassische; der gelehrte, der praktische; der politische, der patriotische, der weltbürgerliche; der religiöse, der christliche; der höfische, der adelige, bürgerliche? Der Karl oder Carl oder „Fritz“, wie man ihn en famille rief? Irgendwie alle zugleich? Fülle und Reichtum der Bezüge beeindrucken immer aufs Neue. Noch eindrucksvoller aber zeigt sich die Wucht der Quellen. Umso deutlicher die normale Qual der historischen Wahl. Wir haben nicht nur die ca. 11.000 Seiten seiner Druckwerke, die Neuauflagen nicht eingerechnet. Daneben liegen vor uns die ca. 40.000 Blatt wissenschaftlicher Nachlass in Marburg mit Vorlesungen, weiteren Manuskripten, Briefen usw., der umfangreiche sogenannte Familiennachlass in Münster mit rund 3.000 Briefen des treuen Schreibers „Fritz“, ein erheblicher Streubesitz besonders an Briefen vielerorts, zusammen mindestens 9.000, rund 120 Vorlesungsnachschriften seiner Hörer in Marburg, Landshut und Berlin, 138 (freilich vermisste) Urteile als Mitglied der Spruchfakultät in Berlin, rund 70 Voten als Rat am Berliner Rheinischen Kassations-und Revisionsgerichtshof, rund 75 größere und kleinere Gutachten als Mitglied des preußischen Staatsrats seit 1817, etliche eigenhändige Voten als Mitglied der allgemeinen Gesetzkommission seit 1826, ein großer Amtsnachlass als Preußischer Minister für Gesetzrevision 1842–1846, ca. 50 eigenhändige Voten als gleichzeitiges Mitglied des Staatsministerium, d.h. Kabinetts, – um nur die größten Blöcke zu nennen. Ein Panorama, nicht mit einem oder zwei Blicken zu fassen. Trotz vielem sind davon nur Fragmente leicht zugänglich in Editionen, so vor allem ca. 700 Briefe und kleinere Biographika bei Stoll, daneben kleinere Briefsammlungen immer wieder und manche Gutachten, die Methodologien von 1802–1842, eine Nachschrift zur Pandektenvorlesung und zur Landrechtsvorlesung, der allgemeine Teil des Obligationenrechts aus seinem Pandektenvorlesungsmanuskript, Beiträge zur Gesetzrevision bei Schubert/ Regge. Und doch wissen wir nicht einmal, wie ein ‚Normal-Tag‘ Savignys aussah. Seine Arbeitstage sollen in der Regel von 5 Uhr bis 21 Uhr gedauert haben. Aber es gab auch viel Tee und Geselligkeit, Kunst und Literatur des Abends, Familienleben, Besuch, gemeinsame Reisen, Amtspflichten, Gremien usw. Ein Versuch, sich diesem langerfüllten Leben halbwegs zu stellen, lohnt, auch wenn man nie „das Ganze“ sehen kann. Die größte Fülle auf kleinstem Raum vereinigt eine tabellarische Verdichtung, eine Faktentabelle. So schematisch das zunächst erscheinen mag, es verdient lebendigste Lektüre. Nur so stellt man sich der Wucht der Fakten und begegnet dem Übergewicht der eingefahrenen Selektionen.

Friedrich Carl von Savigny (1779–1861)

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II. Die Wucht der Fakten 1: Jugend in Frankfurt, Trages und Wetzlar, 1779–1795 1779 21. Februar: Geburt in Frankfurt am Main als Sohn des nassauischen Regierungs- und Kreisrats Christian Carl von Savigny, reformiert getauft 1791 früher Tod des Vaters (8.9.) 1792 früher Tod der Mutter (26.7.) und vor 1790 schon seiner 12 Geschwister; nun unter Vormundschaft des Assessors am Reichskammergericht Constantin Neurath (1791 von) in Wetzlar, einem guten Vaterfreund; bei diesem Rechtsunterricht; zudem Hausunterricht bei Ph.Chr. Reinhardt (Philosoph) und Al.Th. Weinrich (Theologe); wenig glücklich, weil vom etwas älteren Neurath-Sohn Constantin oft schmerzlich „chicanirt“; Freundschaft mit Johann E.C. von Bostel, einem Freund Cl. Brentanos; nun einziger Erbe eines seit dem Vater reichen Adelshauses, finanziell stets unabhängig vom Beruf; immer wieder großzügig, wie schon die Eltern, auch mit Geldspenden, besonders an Schüler und Freunde 1793–95 in Wetzlar bei Neurath Studium und Professorenzeit in Marburg, 1795–1804 1795–99 Studium der Rechte an der Universität Marburg Sommer 1795Frühjahr 1799; besonders bei dem jungen Romanisten Ph.Fr. Weis (1766–1808), auch persönlich durch dessen warme Zuwendung auflebend; Symphilosophie und ethische „Geselligkeit“ mit L. und F. Creuzer, J.Chr. Bang, Cl. Brentano, H.Chr. Schwarz, K.Th. Hauff, L. Wachler, Fr. von Leonhardi u.a., auch B.W. Pfeiffer (bis ca. 1803/04); Begeisterung für Fr. Schlegel und Goethe; viel Philosophie, besonders Kant, Fichte, Schelling, Schleiermacher; sehr glaubenskritisch; öffentlicher KantUnterricht damals in Marburg verboten 1796/97 im Wintersemester Studium in Göttingen, Strafrecht bei Meister, begeistert von dem Kirchenhistoriker L.Th. Spittler; nicht auch bei G. Hugo 1799 von Weis die Professorenlaufbahn empfohlen, ca. März, damals fernliegend für einen Mann von Adel (daher Kritik von Neuraths und von Leonhardis); übliche ‚Kavaliersreise‘, sogenannte Sächsische Studienreise (Stoll) ab 24.7., über Weimar, Jena, Leipzig, Dresden, Prag; nähere Bekanntschaft mit Cl. von Brentano, J.F. Gries, A. Winckelmann, J.G. Heise, J.F. Fries, Hch. Lichtenstein, Karoline von Günderrode 1800 besonders in Leipzig und Jena (Hufeland, Feuerbach, Schelling, A.W. Schlegel); zurück in Trages 16.8., wohl im September nach Marburg; dort 31.10. Promotion mit der straf- und zivilrechtlichen Dissertation, Promotor Bucher, Thema De concursu delictorum formali, 125 Seiten (voll erschienen Frühjahr 1801) 1800/01 Vorlesung: Criminalrecht (erste Vorlesung, 6 stündig)

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1801/02 1802 1802/03

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Frühjahr Rheinreise mit Cl. Brentano; lernt in Frankfurt Clemens’ Schwester Kunigunde kennen (5. Juni), seine spätere Frau Adversaria Band 1 „angefangen im Sommer“ bis November 1802, eine Notizensammlung i.w. zu zivilistischen Fragen Vorlesung Pandekten Buch 41–50 (= Erbrecht nach Böhmer) Vorlesung Ulpian und Exegese Vorlesung Römische Rechtsgeschichte nach Hugo Vorlesung Erbrecht 1. Hälfte Im Sommer Crabb Robinson aus Jena in Marburg Adversaria Band 2 im Dezember „angefangen“, 477 Seiten bis 1808 Vorlesung Erbrecht 2. Hälfte Vorlesung Anleitung zu einem eigenen Studium der Jurisprudenz (Erste Methodologie) Über deutsche Universitäten, Januar (anonymer Aufsatz, für C. Robinson, gedruckt in London) Entwurf zur Gründung einer kritischen Zeitschrift mit Creuzers, Schwarz, Bang, Winckelmann, „nichts geworden“ Vorlesung Römische Rechtsgeschichte2 Das Recht des Besitzes „Anfang der Materialiensammlung Dec. 1802, Beendigung des Manuscripts 3. Mai 1803“, 1. Auflage, XXX und 495 Seiten; weitere Auflagen 1806, 1818, 1822, 1826, 1837, LXXII und 688 Seiten; 1865 hrsg. durch Rudorff; italienisch 1839, englisch 1848, französisch 1866. Außerordentlicher Professor in Marburg 13.5.; auf Wunsch Befreiung vom Spruchkolleg und ohne Gehalt, 31.5. Vertrag mit der führenden HALZ (Allgemeine Literaturzeitung) über Rezensionen (November); Aufforderung zur LeipzigerLitZ (aber „nichts geschrieben“) Vorlesung Obligationenrecht Vorlesung Institutionen Hörer und Schüler in Marburg besonders J. und W. Grimm, E. Bucher (später Professor in Erlangen), E. Löhr (später Professor in Giessen), von Canitz (später preußischer Minister) Plan einer Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter

Reisen für Forschungen zur mittelalterlichen Rechtsgeschichte 1804–1808 1804 in Göttingen für Forschungen zur Rechtsgeschichte, im März/ April für vier Wochen; im April Heirat mit Kunigunde (Gunda von) Brentano (17.4.), katholisch, Schwester des Dichters Clemens und der Bettina, später verheiratete von Arnim, aus reichem Frankfurter Handelshaus; im Sommer Ruf nach Heidelberg, später auch Greifswald, beide abgelehnt Denkschrift zur Reform der Universität Heidelberg 1804/05

Drei erste, anonyme Rezensionen (in der JenaerAllgLitZ, dem neuen Konkurrenzblatt zur Hallischen ALZ), zu Gourjon, Tableau historique (Ms. vom April) Glück, Intestaterbfolge

Friedrich Carl von Savigny (1779–1861)

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Gambsjäger, testamentum in genere (Ms. vom September 1804, gedruckt März 1805) Im Juni vier Beiträge für Hugos Magazin (siehe bei 1805) Forschungsreise nach Paris wegen Geschichte des römischen Rechts; 10.8. Abreise nach Süddeutschland, 20.10. von Heidelberg nach Paris über Straßburg, Metz und Nancy; 2.12. Ankunft in Paris; aber Verlust des Materialienkoffers in Paris: Hilfe von Jacob Grimm ab Februar, außerdem von seiner Frau Kunigunde; Geburt der Tochter Bettina; im September zurück nach Deutschland und Trages; im Herbst nach Marburg, aber ohne Vorlesungen; Achim von Arnim kennen gelernt Authenticae in den Institutionen (in Hugos CivMag III 3) Brenkmanns Papiere zu Göttingen (in CivMag III 3) Verbindung der Centurien mit den Tribus (in CivMag III 3) Zur Lebensgeschichte des Cujas (in CivMag III 3) Rezension zu B.W. Pfeiffer, Diss. de praelegatis; und Nettelbladt, Praelegate (in JALZ) Rezension zu Hugo, Geschichte des römischen Rechts, 2. und 3. Auflage (in HALZ; „geschrieben zu Nürnberg“ im Oktober, vorher Briefkontakt) Rezension zu von Lynden, Jurisprudentia Tulliana (in HALZ, Ms. April 05) Recht des Besitzes, 2. Auflage, XXXVI und 516 Seiten Ab April in Trages, dann süddeutsche Forschungsreise nach Nürnberg usw.; im April Gründung des Rheinbundes, im August Niederlegung der Reichs-Kaiserkrone durch Österreich, im Oktober vernichtender Sieg der Franzosen über Preußen in Jena und Auerstädt; Bayern wird erheblich vergrößertes Königreich Preußen verliert im Frieden zu Tilsit u.a. alle Gebiete westlich der Elbe; Geburt und Tod des ersten Sohnes; Forschungen in Augsburg, München, Wien, Salzburg und wieder München bis in den Oktober 1807; im März vermutlich Berufung nach Heidelberg; Ablehnung im Mai; im Oktober aus München über Weimar und Kassel zurück nach Trages Rezension zu Jupille, Droit de la possession, gedruckt erst in CivMag III 4, 1812 Ab Herbst 1807 Exzerpte zum Code Napoleon, bis ca. März 1809 (siehe Beruf 1814) Adversaria III „angefangen“ im Januar, 246 Seiten Rezension zu Griesinger, Suität (in HdbJbbJur, Ms. vom 16.1.08) Rezension zu Schleiermacher, Universitäten (HdbJbbLit., Ms. vom 11.7.08) Rezension zu Seidensticker, Pandektenrecht (in HdbJbbJur, Ms. vom 17.7.08) Großer Geburtstag im Februar bei den Brentanos in Frankfurt; Wechsel an die Universität Landshut beschlossen; 14.3.: Geburt des Sohnes Franz (gest. 1852); im Sommer in Trages und Schlangenbad; März offizieller Ruf nach München

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Joachim Rückert

Ruf nach Jena im Juli abgelehnt Mitte September nach Frankfurt, von dort nach Landshut Professor im bayerischen Landshut 1808–1810 1808/09 Professor in Landshut und Wirklicher Geheimer Rat; am 26. September Ankunft dort als Nachfolger Gottlieb Hufelands (ein „ganz herrlicher Mann“, Savigny 1799) auf dem Lehrstuhl für römisches Recht; unter Befreiung von „Geschäften“ (23.4.); Polemik von Gönner gegen die von Gönner nun sogenannte „historische Schule“ Vorlesungen Institutionen und Rechtsgeschichte 1809 Vorlesung Methodologie2 (nun als Einleitung der Pandecten) und Vorlesung Pandecten, erstmals voll Rezension zu F.A. Wolf, Milde Stiftung Trajans (in HdbJbb, Ms. April) Rezension zu van Doorn, De iure commercii Romanorum (in HdJbb, Ms. April) Krieg Frankreich – Österreich; im Oktober im Frieden zu Schönbrunn Reduktion auf einen relativ kleinen Binnenstaat; Kontakt Humboldt, Arnim, Savigny wegen Berlin, schon positiv im Juni 1809/10 Vorlesung Pandecten Fortsetzung Projekt „Geist der Gesetzgebung“ Notanda-Liste; Exzerpte dazu aus A. Müller, J. Möser u.a. ca. April: quellenmäßiges Studium der ganzen Pandekten durchgeführt; Landshut „immer einer der wichtigsten und merkwürdigsten Lebensabschnitte“ (Savigny 1859); Hörer in Landshut besonders Salvotti/später Wiener Reichsrat, von Freyberg, von Gumppenberg, von Schenk/später Minister, Rudhard, Graf Seinsheim, Fürst Ludwig von OettingenWallerstein; tiefe religiöse Anregung durch den katholischen Bischof J.M. Sailer; Freundschaft mit dem Mediziner J.N. Ringseis (später königlich bayerischer Leibarzt), den Professoren Tiedemann und Röschlaub, starke religiöse Erneuerung

III. Leben und Werk Man weiß: Sie gehören zusammen. Bewusst sind sie hier so stark verbunden.2 Die Irritation soll sein. Immer noch sind wir allerdings weit entfernt von einem quellentreu abgeschlossenen Bild zum ‚ganzen‘ Savigny. Haupthindernis ist das Fehlen einer klaren, sicher und leicht führenden Übersicht. Die Quellenfülle ist nur partiell durchgeordnet, einheitlich erschlossen und gar zusammenhängend registriert. Man kann leicht irgendwie passende ‚Stel2

Savignys gedruckte Schriften und Vorlesungen sind in der Tabelle jeweils gleichmäßig etwas eingerückt, können also leicht für sich verfolgt werden. Die Werktitel wurden teilweise leicht gekürzt; insbesondere die Daten der Akademievorträge und von deren Druck wurden chronologisch genauer geordnet.

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len‘ finden. Ohne auch über die Literatur zu reden, kann man daher nicht über Savigny reden. Die Literatur arbeitet entsprechend inhomogen, mit sich oft unklar überschneidenden Belegen von hier und dort, aus erster, zweiter oder nächster Hand, von nicht oder doch Gedrucktem, von teils unbeachtet Entlegenem, teils doch immer gleichen Kernzitaten und Hauptlinien. Auch das gedruckte Werk muss aber im Lichte des ganzen Lebens gelesen werden. Die Texte stecken voller Voraussetzungen, gerade in den bei Savigny oft eher vorsichtigen allgemeineren Aussagen, die nicht weniger interessieren als manches juristische Detail. Mehr Sicherheit lässt sich nur gewinnen im Ausgang von geklärten Teilproblemen, die kritisch und nicht zu isoliert bearbeitet wären, die die vielen seit ca. 1980 neuen Quellen einbeziehen und nicht, wie bisweilen, nur die alten Zitate neu mischen. Auch in diesem etwas strengeren Sinne ist seit ca. 1980 vergleichsweise viel geschehen, nämlich vor allem für: (1) einige Hauptabschnitte, den jungen Savigny in Marburg (D. Nörr 1994), die Landshuter Zeit (Rückert 1984), die Berliner Staatsratstätigkeit als Gutachter (van Hall 1981), die Richtertätigkeit am Revisionshof (Ebel 1987), die Gaius-Entdeckung (Vano 2008), die Ministerzeit im sogenannten Staatsministerium (Kiefner 2005), die Strafgesetzgebung als Minister (Arnswaldt 2003), die Gesetzrevision (Schubert/Regge 1981 ff.); (2) die Briefe mit Frankreich (Motte 1983), von und an Arnim (Härtl [Hrsg.] 1982), mit Winckelmann (Schnack [Hrsg.] 1984), mit Feuerbach (Jakobs 1991, Kadel 1990 und 1993), an Löhr (Strauch [Hrsg.] 1999), mit Heise (Braunewell 2000), mit Goeschen (Marburg 2000), mit der Tochter Bettine (Steffen [Hrsg.] 2002), mit dem Sohn Karl (Real 1991), von Capei (Labardi [Hrsg.] 2007); (3) ein erweitertes Verzeichnis der Vorlesungen und Nachschriften mit Stunden- und Hörerzahlen (Rückert und Schaefer demnächst) und der Portraitdarstellungen (Rückert demnächst); (4) die Vorlesungen, d.h. die Berliner Pandektenvorlesung 1824/25 (Hammen [Hrsg.] 1993), Savignys eigenes Manuskript zum Allgemeinen Schuldrecht (Avenarius [Hrsg.] 2008) und die Landrechtsvorlesungen (Wollschläger [Hrsg.] 1994 und 1998); (5) die Methode (Rückert 1984 und 1997, Mazzacane 1993 und 2004, Schröder 2001, Caroni 2003) und die Konzeption überhaupt (Rückert 1984, Jakobs 1983, 1989 und 1992, Behrends 1985, Coing 1989, Sandström 1990, Rückert 1991 und 1993, K.W. Nörr 1991, Jouanjan 2005 und 2008, Rückert 2010); (6) die juristische Methode (Rückert 2006), das Systemkonzept (Rückert 1987, Schröder 2001);

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(7) die philosophische Seite (Rückert 1984 und 1991, Jakobs 1989 und 1992, Coing 1989, K.W. Nörr 1991, Rückert 1997, Jouanjan 2005 und 2008, Haferkamp 2008, Unberath 2010) und den Freiheitsbegriff (Rückert 1997); (8) für eine Analyse der Hauptwerke, d.h. Besitz (Whitman 1990, Moriya 2003, Rückert 2009), Beruf (Akamatsu/Rückert [Hrsg.] 2000, Rückert 2001 zum Code civil, Caroni 2003), Geschichte (Rückert 1997) und System (Rückert 2007, auch Murakami/Nörr 2003); (9) einige juristische Grundlehren wie das Theorie-Praxis-Problem (Rückert 1984, Wollschläger 1998, Rückert 2010), das „Rechtsverhältnis“ (Kiefner 1982), den Privatrechtsbegriff (Hofer 2001), die Auslegungslehre und Hermeneutik (Meder 1999, Rückert 1997 und 2001, Meder 2004), das Verhältnis Recht-Sitte und den Rechtsbegriff (Rückert 1984, 1991, 1997); (11) den Gesetzgebungs- und Methodenstreit mit Thibaut und Gönner, aber auch mit Hegel, Gans und weiteren Hegelianern bis zu Marx (Kiefner 1982, Rückert 2002, Caroni 2003); (12) Teile der Dogmatik (Hammen 1983), besonders die Geldlehre (Ott 1998), die Vertragstheorie (Ikadatsu 2002), die Bona-Fides-Lehre (Meyer 1994), die Stellvertretungslehre (Hölzl 2002), die Irrtumslehre (Noda 1989), die Kondiktionslehre (Rückert 1987, Schaefer 2001, Jansen 2003), die Haftungslehre (Immenhauser 2006), die Besitzlehre (Schwake 1984, Moriya 2003), den dinglichen Vertrag (Jakobs 2002), das Urheberrecht (Wadle 1992), die Gefährdungshaftung (Baums 1987), das intertemporale Recht (Avenarius 1993); (13) die „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“ (Rückert 1999) und die Veränderungen in der Begegnung in den ‚Hegelschen‘ „Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik“ nach 1826 (Rückert 1994); (14) die politischen Urteile und den politischen Ort (Rückert 1984), für den Grundherrn (Günther 2000), die Frage eines Antijudaismus (Henne/ Kretschmann 2002) und die Wertungen der Zeitgenossen (von Rosenberg 2000); (15) die religiöse Seite (Rückert 2009); (16) den Einfluss Savignys im Common Law (Reimann 1993) und in Deutschland nach 1900 und in der NS-Zeit (Rückert 1986 und 1991). „Der unbekannte Savigny“ (Rückert 1981) ist viel bekannter geworden. Doch handelt es sich durchweg um Bausteine einer offenen Gesamtanalyse oder gar Biographie. Man kann daher in Wahrheit nur einigermaßen vorsichtig und etwas biographischer weiterkommen. Noch einmal: Nur so stellt man sich der Wucht der Fakten und dem Übergewicht der eingefahrenen Selektionen. Nur so wird der große Romanist weder zum modernen Römer, noch zum Politikus überall, sondern zur historisch verstandenen Hauptfi-

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gur für sich, in seiner Zeit und für uns. Diese Forderungen müssen zwar bewusst sein, können aber natürlich nicht im feiernden Vorbeigehen erfüllt werden. Immerhin lässt sich mit einer Perspektive, die Werk und Leben mehr verbindet, ein Anfang für einen etwas anderen Zugriff machen. Was brachte er also mit nach Berlin, 1810? Was fand er dort vor? Was machte er daraus in 51 Berliner Jahren? Welches Bild haben wir daraus gemacht?

IV. Was brachte er mit? Frankfurt, Trages, Wetzlar, Marburg, Studienreisen und Forschungsreisen . . . . . . das schier unglaublich erfahrungsreiche Leben eines gerade 31-jährigen. In gewiss zu kargen Stichworten heißt das: den recht alten Verwaltungs- und Dienstadel seiner Familie, zuletzt in hessischen Diensten; die ziemlich sichere Unabhängigkeit eines großen Vermögens und Grundbesitzes und eines ererbten Landgutes in Trages bei Hanau; ein gutes Stück vom deutschen Reichspatriotismus seiner Geburts- und Jugendstadt Frankfurt am Main, der Kaiserkrönungsstadt, dem „Nabel dieser Erde“ (Hölderlin); einigen ‚inneren‘ Einblick in den berühmt-berüchtigten Wetzlarer Justizbetrieb als Mündel eines Kammergerichtsassessors (1792–1795); eine starke Wertschätzung für warmherziges Familienleben, Freundschaft, „Geselligkeit“ und „Symphilosophie“ – als schmerzgeprüfter Vollwaise und letzter Savigny-Sproß; große Begeisterung für die Idee einer selbständigen Universität als freiheitliche und sozial offene Einrichtung für allgemeine Bildung und Bildungsfähigkeit; gegen „gewaltsame Revolution“ und für „stillere Reform . . . zwar langsamer, aber sicherer“ (1798/99); sehr wenig Begeisterung für Ämter und „Geschäfte“; genaue Vertrautheit mit der frischen romantischen Bewegung in Marburg (die Theologen Bang und Schwarz, der Philologe F. Creuzer, die Philosophen L. Creuzer und St. Winkelmann, die Dichter Cl. Brentano und Arnim, die Hörer und Schüler Grimm), Heidelberg und Landshut; eine ungewöhnlich breite philosophische und literarische Bildung; weltläufige Gewandtheit und Vertrautheit, etwa mit dem Pariser und Wiener, Münchener und Frankfurter, Heidelberger und Marburger Leben und überhaupt dem höfischen und politischen Leben; eine schon berühmte Büchersammlung; aber nur ein eigenes, juristisches Buch, das „Recht des Besitzes“ – freilich ein Musterbuch, in einem knappen halben Jahr geschrieben; einige ebenso anspruchsvolle wie dezidierte Rezensionen in führenden Blättern zu ersten Koryphäen nicht nur der Jurisprudenz (Glück, Hugo, F.A. Wolf, Schleiermacher); und einen festen Arbeitsplan für Geschichte, Dogmatik und Gesetzgebungstheorie; dazu eindringende methodische, d.h. wissenschaftstheoretische Überlegungen („Methodologien“); und einen großen „Apparat“ aus Pionierforschungen zur Geschichte des römischen

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Rechts im Mittelalter; und ein vollständiges Quellenstudium der Juristenbibel, der Pandekten (in Landshut 1808–1810); und ein tiefgehendes rechtstheoretisches Projekt zum „Geist der Gesetzgebung“, mit Materialien zu „Politik und neueren Legislationen“. Kurz, aber eindrücklich war er der bayrische, der Landshuter Savigny gewesen. Eine Zeit, die er stets zu seinen besten zählte. Auch vom neuen König Ludwig I. ließ er sich jedoch nicht, nun nach München, zurücklocken (1826). Was fand er vor, in Berlin 1810?

V. Die Wucht der Fakten 2: Professor 1810

1810/11

1811

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mit vielen Ämtern in Berlin 1810–1842 Ruf durch W. von Humboldt an die neu gegründete Universität Berlin (11.1.), vermittelt durch Arnim, Annahme am 9.4., Abreise am 2.5.; Professor in Berlin für römisches Recht, wieder unter Befreiung von „Geschäften“; Mitwirkung an der Gründungskommission, noch keine Vorlesungen; wichtige erste Bekanntschaften besonders mit B.G. Niebuhr und J.A. Eichhorn/Universitätssyndikus, später Minister; April 1810: Drei Projekte: Geschichte, System, Geist der Gesetzgebung ab 10. Oktober Vorlesungen, nun als „Berliner“ Institutionen, d.h. Dogmatik und Geschichte verbunden zu einer Vorlesung Vorlesung Institutionen, Geschichte und Alterthümer1, 46 Hörer, in 214 Stunden (Maximum) Vorlesung Pfandrecht, publice, 10 Stunden die Woche, über 50 Hörer Diesen Winter „wieder fast ganz von meinen Vorlesungen verschlungen, da ich die Rechtsgeschichte ganz von neuem ausgearbeitet . . . habe“ (9.4.11) 29.4. Mitglied der Akademie der Wissenschaften (bei zunächst 36, als einziger Jurist und erster Professor); November Mitglied im Spruchkollegium der Fakultät (bis 1826, 138 Relationen; 1811– 1815: 52; 1816–1818: 31; 1817–1826: 55); am 28.8. Sohn Max geboren, gestorben aber schon im Frühjahr 1812 Vorlesung Pandecten1, 43 Hörer, 253 Stunden Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte2, 65 Hörer, 154 Stunden Vorlesung Pandecten2, 78 Hörer, 214 Stunden Rezension zu Cramer, De verborum significatione (in HdbJbb, Ms. vom Frühjahr) Rezension zu Hugo, ed. Ulpian (in HALZ, Ms. vom Frühjahr) Rezension zu Jupille, Droit de la possession (in Hugos CivMag III 4, Ms. Oktober 1807) Über das Vaticanische Ms. des Ulpian (in Hugos CivMag IV 1. Ms. Nov.)

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1812/13 1813

1813/14 1814

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Exzerpte zum österreichischen ABGB im September (siehe Beruf 1814); Rektor der Universität, trotz Amtsbefreiung ernannt, 16.12., auf besonderen Wunsch des Königs (nach Fichtes Rücktritt), bis 18.10.1813 Über die Entstehung und Fortbildung derLatinität als eines eigenen Standes im Römischem Staate, Dezember (in AkdWiss; gedruckt 1816, ergänzt 1823) Aufsatz Hugos „Gesetze sind nicht die einzige Quelle juristischer Wahrheiten“; Juni 1812 Angriff auf Russland durch Frankreich und seine Verbündeten (auch Preußen und Österreich); Rückzug im Oktober unter größten Verlusten Herbstreise nach Schlesien und Töplitz Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte3, 88 Hörer, 154 Stunden Ernannt zum Landwehrausschuss 21.4.–4.7., i.w. allein aktiv mit Eichhorn, auch als Schütze zum Landsturm; Rektor bis 18.10., Militär in Berlin droht, Familie flieht Anfang Mai vor dem Krieg zum Gut Bukowan/Böhmen Vorlesung Pandecten3, „unvollständig wegen Krieg“, 10 Hörer Savigny reist im August der Familie nach, ist Anfang Oktober zurück in Berlin; im November Wiederaufnahme der Arbeit an der Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter Vorlesungsfolge nun in der Regel im Winter die Pandekten 10–12-stündig, im Sommer die Institutionen mit Rechtsgeschichte 8-stündig, und Spezielles bisweilen (z.B. Erbrecht, Eherecht, Gaius) Vorlesung Pandecten4, 14 Hörer, 228 Stunden Im Oktober grundlegende Niederlage der Franzosen und ihrer Noch-Verbündeten in Leipzig (Völkerschlacht) Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte4, 26 Hörer, 117 Stunden Vorlesung für den Kronprinzen angefangen (bis 1817) Im Frühjahr wieder Nervenfieber, mehr als 4 Wochen krank; Cl. Brentano wohnt zwei Jahre bei Savignys Über das ius Italicum (Januar in AkdWiss, gedruckt 1818) Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft; im Herbst erschienen (2. Auflage unverändert 1828, 3. Auflage unverändert 1840) 19.9. Geburt des Sohnes Karl Fr. (gestorben 1874); ab November immer wieder starke Initiative für die Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Geschichtsforschung“, der 1817 endlich gelungenen Monumenta Germaniae Historica Vorlesung Pandecten5, 51 Hörer, 253 Stunden (Maximum) Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte5, 40 Hörer, 132 Stunden Über die Unzialeinteilung der römischen Fundi (Februar in AkdWiss, gedruckt 1818) Über die erste Ehescheidung in Rom (Juli in AkdWiss, gedruckt 1818)

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1815/16 1816

1816/17 1817

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Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, Heft 1; zusammen mit Carl Fr. Eichhorn und Johann Fr. Ludwig Göschen Über den Zweck dieser Zeitschrift (in ZgeschRw I 1) Beitrag zur Geschichte der röm. Testamente (in ZgeschRw I 1) Über die D. 24.1.44 de donationibus (in ZgeschRw I 2) Über Duarens Handschrift des Ulpian (in ZgeschRw I 3) Rezension zu Gönner, Gesetzgebung (in ZgeschRw I 3) Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, Band 1, XXXII und 415 Seiten (bis Band 6, 1831, rund 3500 Seiten); englisch 1829, französisch 1830, 2. Auflage 1834–1850) Zur Geschichte des lateinischen Novellentextes (in ZgeschRw II 1) Erklärung einer Urkunde des 6. Jahrhunderts (November in AkdWiss, gedruckt 1818) Entwurf zur Gründung der deutschen Gesellschaft [Monumenta 1817] Reise nach Frankfurt und Kassel Vorlesung Pandecten6, 58 Hörer, 241 Stunden Vorlesung Kronprinz (Römisches Recht, Criminal- und Preußisches Recht) Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte6, 128 Hörer, 131 Stunden Ernennung zum Geheimen Justizrath Eisernes Kreuz II. Klasse, Juni (Notizen 1834) Sacra privata bei den Römern (in Zgeschw II 3) Stimmen für und wider neue Gesetzbücher (in ZgeschRw III 1) Neu entdeckte Quellen des Römischen Rechts (in ZgeschRw III 1) Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, Band 2, XXXII und 443 Seiten Über den Literalcontract der Römer (November in AkdWiss, gedruckt 1819) Herbstreise Harz und Göttingen mit Schwager Arnim Vorlesung Pandecten7, 130 Hörer, 236 Stunden 20.3., Mitglied des preußischen Staatsrats (bis 1848), als einziger Professor von zunächst 22 Mitgliedern, im Verfassungsausschuss und Sonderausschuss für rheinisches Recht und Mandatsprozess; 76 Gutachten (handschriftlich) gefertigt bis 1842, bis zu 150 Seiten, oft über Provinzialrechtsfragen; dann über Klassensteuer, Wertstempel, Kriminalkompetenz, Gebührenverjährung, Magdeburgische Fideikommisse (4x), Majorennitätstermine, Entschädigung für bannberechtigte Müller (3x), Lehnsbesitzer und Kriegsschäden, Kontumazialerkenntnisse, Erbpacht bei Lehngütern, Geltung des ALR in Westfalen (3x), Auflösung des Indults (2x), eheliche Gütergemeinschaft, Staatsschuldscheine, Wex’sche Stiftung (3x), Domänen in den neuen Provinzen, Gesetzsammlung und Amtsblätter in der Rheinprovinz, Zoll- und Steuerordnung, bäuerliche Verhältnisse (2x), Lehn- und Fideikommisse, Hypothekenordnung (5x), Real-

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1817/18

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1818/19 1819

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rechte auf Grundstücken, gutsherrliche und bäuerliche Verhältnisse (3x), Verträge über unbewegliche Güter, Wechselklagen, Schuldpapiere, Münzverbrechen, Ausländerrecht, Judenordnung in Posen, Entscheidungsgründe in Revisionssachen (2x), Beschleunigung in Revisionssachen (2x), Revisionserkenntnisse, Verschuldung von Fideikommissen, Geschlechtsvormundschaft, Einführung des ALR in Pommern und Rügen, Laudemialpflichten, Strafen für falsche Kassenanweisungen, unerlaubte Selbsthilfe, Kirchenvermögen, Gewohnheitsrecht, Mieträumungsfrist, Geldpapiere außer Kurs, Kirchenbaulasten, unerlaubte Studentenverbindungen, kürzere Verjährungsfristen, Konkursvorrang, Hypothekenrecht, Wechselrecht, Abgabenrückstände, Grundstückaustausch bei Gemengelage, Gemeinheitsteilungsordnung, Maklergeschäfte, Verfahrensbeschleunigung bei Revision, Baudienste, Heimfallrechte, Zwölf Gutachten als Staatsrat 30.3. Mitglied der Verfassungskommission des Staatsrats Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte7, 119 Hörer, 130 Stunden Zur Erläuterung der veronesischen Handschriften (in ZgschRw III 2) Zur Geschichte der Geschlechtstutel (in ZgeschRw III 3) Über die lis vindiciarum (in ZgeschRw III 3) Spenden wegen rheinischer Hungersnot, 4000 und 9000 Taler Herbstreise nach Rügen, Mecklenburg, Holstein, Hamburg, Lübeck Vorlesung Pandecten8, 148 Hörer, 206 Stunden „Diesen Winter in freien Stunden fast ausschließlich mit dem Gaius beschäftigt“. Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte8, 97 Hörer, 153 Stunden Über die lex cincia (in ZgeschRw IV 1) Recht des Besitzes, 3. Auflage, XXX und 602 Seiten Druck mehrerer Akademievorträge von 1814/15 Voten gegen ALR-Einführung in der Rheinprovinz (17. und 20.6.), sieben Gutachten als Staatsrat Herbstreise nach Frankfurt und den rheinischen Bädern, Köln, Holland, Aachen Vorlesung Pandecten9, 167 Hörer, 227 Stunden Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte9, 191 Hörer, 136 Stunden Vorlesung Gaius, publice, unvollständig 29.4./5.7. Geheimer Oberrevisionsrat am Rheinischen Kassationsund Revisionsgerichtshof, mit 17 Richtern (ca. 25x Referent bis 1823 und 45x bis 1836) sowie Mitglied der Gesetzgebungskommission des Staatsrats; sechs Gutachten als Staatsrat Über den Zinswucher das Marcus Brutus (März in AkdWiss, gedruckt 1820) Im März Ermordung Kotzebues durch den Studenten Sand; im Juli Attentat auf Staatsrat von Ibell/Nassau; im August sogenannte Karlsbader Beschlüsse zur Überwachung der Universitäten, Bur-

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1819/20 1820

1820/21

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schenschaften und Presse; Verhaftung F.L. Jahns und E.M. Arndts im preußischen Bonn; Savigny: „Es ist aber im Ganzen eine kalte, antheillose Zeit“, wegen der politischen Aufregung und Reaktion keine Herbstreise, Gunda krank Vorlesung Gaius2, 58 Hörer, Vorlesung Preußisches Allgemeines Landrecht1, 144 Hörer Geburt des Sohnes Leo Zwölf Gutachten als Staatsrat, besonders zu Agrargesetzen Vorlesung Pandecten10, 117 Hörer, 187 Stunden Rezension zu Themis/Paris, Teil 1/2 (in ZgeschRw IV 3) Über die Lex Voconia (November in AkdWiss, gedruckt 1822) Herbstreise nach Frankfurt Polemik des Kollegen Hegel für Gesetzgebung, in seinem „Naturrecht“, in Vorlesung und Buch Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte10, 148 Hörer, 162 Stunden Vorlesung Gaius3, 56 Hörer Vorlesung Preußisches Landrecht2, 88 Hörer Ein Gutachten als Staatsrat; seine allgemeine Lieblingslektüre sind nun die jahrhundertelang sehr verbreiteten religiösen Erbauungsbüchlein von Thomas a Kempis (De imitatione Christi, um 1470, neuübersetzt durch Sailer 1800) und Gerhard Tersteegen (Weg der Wahrheit, die da ist nach der Gottseligkeit, 1750), u.a. Herbstreise nach Frankfurt Vorlesung Pandecten11, 166 Hörer, 203 Stunden Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte11, 190 Hörer, 138 Stunden Recht des Besitzes, 4. Auflage, XXX und 539 Seiten Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, Band 3, XIV und 722 Seiten Zu Berriat-Saint-Prix, Histoire de Cujas (in Themis 4) Über den römischen Colonat (März in AkdWiss, gedruckt 1825, erneut in ZgschRw VI) 3, 1828) Sechs Gutachten als Staatsrat Vorlesung Pandecten12, 179 Hörer, 178 Stunden Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte12, 136 Hörer, 140 Stunden Über die römische Steuerverfassung (Februar in AkdWiss, gedruckt 1825, erneut in ZgeschRw VI 3, 1828) Über das Interdict Quorum bonorum (in ZgeschRw V 1, Fortsetzung in VI 1/2 1828) Über Cicero . . . und die Actio vi bonorum raptorum (in ZgschRw V 1) Latinität 1812, ergänzt in ZgschRw V 2 Ius Italicum 1814, ergänzt in ZgschRw V 2 Scharfe hegelianische und persönliche Polemik von Ed. Gans in seinem „Erbrecht“ Band 1; Reise nach Stralsund, im Herbst nach Schlangenbad und Eifel; arbeitsbefreit im Revisionshof bis 1828; Ehrenmitglied der Universität Wilna; fünf Gutachten als Staatsrat

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Vorlesung Pandecten13, 177 Hörer, 205 Stunden Vorlesung Preußisches Landrecht3, 138 Hörer Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte13, 210 Hörer (Maximum), 135 Stunden Zwei Gutachten als Staatsrat Vorlesung Pandecten14, 255 Hörer (Maximum), 189 Stunden Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte14, 193 Hörer, 126 Stunden im Herbst in Wiesbaden; Preußischer Roter Adlerorden III. Klasse; Mitglied der besonderen Gesetzes-Fassungskommision des Staatsrats; Mitglied der Gesetz-Revisionskommission des Justizministers (aufgelöst 1832), Votum zum Strafrecht (19.12.); Votum zum Revisionsvorgehen allgemein (24.1.26) Erste Ehescheidung 1818, ergänzt in ZgschRw V 3 Drei Gutachten als Staatsrat Vorlesung Pandecten15, 248 Hörer, 177 Stunden Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte15, 183 Hörer, 118 Stunden Recht des Besitzes, 5. Auflage, XXXXVIII und 623 Seiten Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, Band 4, XVI und 487 Seiten Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Kopenhagen Austritt aus dem Spruchkollegium wegen Überlastung; ab Sommer: beurlaubt in der Gesetz-Revisionskommission beurlaubt wegen „Nervenleiden“, d.h. Dauerkopfschmerzen insbesondere seit 1822, für „Erholungsreise nach Italien“ beurlaubt für Erholungsreise nach Italien, ab August Text zu Universitäten entworfen (siehe 1832) Ende Oktober zurück nach Berlin, Dr. phil. beim Jubiläum in Marburg, Mitglied der Accademia Ercolanese Vorlesung Pandecten16, 143 Hörer, 198 Stunden Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte16, 143 Hörer, 144 Stunden, Maximum Über den juristischen Unterricht in Italien (in ZgeschRw VI 1, 2) Colonat 1825, ergänzt in ZgschRw VI 3 Steuerverfassung 1825, ergänzt in ZgschRw VI 3 Vom Beruf, 2. Auflage (mit Zusätzen und Abdruck von Stimmen 1816) Redaktion der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft an Klenze übergeben Austritt aus der Fakultät und allen Universitätsgeschäften, 29.12., nach der Ernennung von Gans zum ordentlichen Professor Vorlesung Pandecten17, 155 Hörer, 202 Stunden Vorlesung Preußisches Landrecht4, 244 Hörer Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte17, 177 Hörer, 128 Stunden Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, Band 5, X und 574 Seiten

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1833/34 1834

Joachim Rückert

Tätig im Kassationshof mit ca. 45 Voten bis 1836; ein Gutachten als Staatsrat Vorlesung Pandecten18, 227 Hörer, 206 Stunden Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte18, 135 Hörer, 141 Stunden Vizepräsident des Kassationshofes; ein Gutachten als Staatsrat Vorlesung Pandecten19, 217 Hörer, 197 Stunden Vorlesung für den bayerischen Kronprinzen Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte19, 143 Hörer, 136 Stunden Tod des Freundes Niebuhr und des Schwagers Achim von Arnim (im Januar), Vormund für beide Kinder; zwei Gutachten als Staatsrat Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, Band 6, XIV und 760 Seiten Schutz der Minderjährigen im Römischen (Oktober in AkdWiss, und 1833 Mai, ergänzt 1840) Mitglied der Akademie in St. Petersburg (15.6.) Vorlesung für den bayerischen Kronprinzen Vorlesung Pandecten20, 132 Hörer, 191 Stunden Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte20, 119 Hörer, 120 Stunden Vorlesung Preußisches Landrecht5, 200 Hörer Zwei Aufsätze in Historisch-politische Zeitschrift, hrsg. von Leop. Ranke, Band 1: Die preußische Städteordnung Über Wesen und Werth der deutschen Universitäten Auswärtiges Mitglied des niederländischen Instituts in Amsterdam (Dezember); zwei Gutachten als Staatsrat Reise nach Dresden und Mitteldeutschland Vorlesung Pandecten21, 234 Hörer, 199 Stunden Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte21, 135 Hörer, 120 Stunden Über die Decretale Super Specula (in ZgschRw VIII 2) Über das altrömische Schuldrecht (November in AkdWiss., gedruckt 1833) Mitglied der Ehrenlegion; korrespondierendes Mitglied der Acad. des Sciences Morales et Politiques und der Acad. des Sciences in Turin Vorlesung Pandecten22, 224 Hörer, 182 Stunden Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte22, 120 Hörer, 147 Stunden Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, verm. und teilweise umgearbeitete 2. Auflage, Band 1 XX und 487 Seiten, Band 2 XVI und 523 Seiten, Band 3 XIV und 761 Seiten, zusammen rund 4000 Seiten, bis 1850) Tod Schleiermachers, Vormund für die Kinder zwei Gutachten als Staatsrat

Friedrich Carl von Savigny (1779–1861)

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Vorlesung Pandecten23, 169 Stunden (Minimum) (Ab jetzt sind die Hörerzahlen nicht mehr notiert in den Notizen von 1834.) Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte23, 130 Stunden Erschütterung durch den Tod der geliebten Tochter Bettina, als verheiratete Schinas in Griechenland. Beginn der Niederschrift des System des heutigen Römischen Rechts, geplant auf 3 Bände Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte24, 124 Stunden Neu entdeckte Fragmente des Ulpian (in ZgschRw IX 1) Erklärung der Lex 22 pr. ad municipalem (D. 50.1) (in ZgschRw IX 1) Zur Rechtsgeschichte des Adels im neueren Europa (in AkdWiss) Drei Gutachten als Staatsrat Vorlesung Pandecten25, 172 Stunden Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte25, 128 Stunden Recht des Besitzes, 6. Auflage LXII und 688 Seiten Arbeitsbefreit im Kassationshof (JR 154); in Staatsratskommission und -plenum intensive Mitarbeit am Urheberrechtsgesetz vom 11.6.; ein Gutachten als Staatsrat im Dezember Entlassung der „Göttinger Sieben“, darunter die Schüler und Freunde Jacob und Wilhelm Grimm Vorlesung Pandecten26, 173 Stunden Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte26, 120 Stunden Über die Gesta Senatus vom Jahre 438 (in ZgschRw IX 2) Über die handschriftliche Grundlage des Ulpian (in ZgschRw IX 2) Der römische Volksschluß der Tafel von Herakleia (in ZgschRw IX 3) Der zehente Mai 1788, zum 50. Doktorjubiläum G. Hugos (ZgschRw IX 3) Zwei Gutachten als Staatsrat; Votum pro Gefährdungshaftung im Eisenbahngesetz von 1838 Vorlesung Pandecten27, 170 Stunden Vorlesung Rechtsalterthümer, 48 Stunden Erinnerungen an Niebuhrs Wesen und Wirken (in: Lebensnachrichten über B. Niebuhr III) Ein Gutachten als Staatsrat Vorlesung Pandecten28, 181 Stunden Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte28, 107 Stunden (Minimum) Friedrich Wilhelm IV. wird König, er war Savignys Schüler als Kronprinz; gezielte Reformen und Berufungen gegen Hegels Erbe: F.J Stahl, Schelling 1841, Puchta 1842; Russischer Stanislaus-Orden II. Klasse für Savigny

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1840/41 1841

1841/42

Joachim Rückert

Minderjährige im Römische Recht 1835, ergänzt in ZgschRw X 2 Vom Beruf, 3. unveränderte Auflage System des heutigen Römischen Rechts Bände 1–3: nun L und 429 Seiten, VI und 473 Seiten, VI und 616 Seiten (bis Band 8, 1849, zusammen rund 4200 Seiten) drei Gutachten als Staatsrat; Roter Adlerorden II. Klasse Vorlesung Pandecten29, 161 Stunden (Minimum) Vorlesung Institutionen und Rechtsgeschichte29, 124 Stunden System des heutigen Römischen Rechts Band 4, VI und 616 Seiten zwei Gutachten als Staatsrat Vorlesung Pandecten30, 174 Stunden, letzte Vorlesung 25.10. amtsbefreit vom Kassationshof

Minister in Berlin 1842–1848 1842 Minister für Gesetzesrevision (28.2., bis 1848), als Nachfolger des konservativeren von Kamptz, und Mitglied des Staatsministeriums (Kabinett, mit rund 340 Sitzungen in 6 Jahren bis 1848, dabei ca. 50 eigene Voten), daneben viele Sitzungen im Staatsrat (Plenum und Kommissionen) und in der neuen allgemeinen Gesetzkommission, der Kommission für Zentralstände, dann im Vereinigten Landtag (Ausschuss und Plenum); Probleme der Verfahrens- und Kompetenzenhäufung, besonders mit dem Justizverwaltungsministerium, 8.1. Vorschläge zur Gesetz-Revision (17 Seiten), als Minister etliche Denkschriften, siehe unten; zahlreiche Beratungen und Voten, insbesondere Gutachten an König über Ehescheidungsrecht (21.1.), Gesetz-Kommission (ab September rund 25 Sitzungen bis Mai 1844), Staatsministerium (November/Dezember) Denkschrift zum Ehescheidungsrecht dazu Ein Gutachten als Staatsrat; Orden Pour le Mérite (31.5.), Friedensklasse 1843 Weiter besonders zu Ehescheidung in Staatsrat (Januar-Mai) und Gesetzkommission, Dezember neuer Entwurf; Relation zu Handelsgerichten (9.1.); Votum zur Allgemeinen Wegeordnung (21.2.); ab Januar insbesondere an der StGB-Revision, Stellungnahmen der acht Landtage und Behörden, im Juli Denkschrift dazu, November 1843 bis Mai 1845 neuer Entwurf; Votum zur Pressegesetzgebung (1.6.); Voten zur Einführung von Staatsanwaltschaften (bis 1847) Denkschrift zum Unehelichenrecht (24.11.) veranlaßt durch eine restriktive Inititative der schlesischen Landstände (Mai) Denkschrift zur Zivilprozeßreform (11.9.) Beratung in der Gesetzkommission bis März 1845 mit 39 Sitzungen, VO Juli 1846; Wechselrechtsentwurf März bis Juni 1843 in 13 Sitzungen; Mitwirkung am neuen Aktiengesetz 1844 Revision Entwurf zur Ehescheidung (April), ans Staatsministerium, nach Abspaltung des Verfahrensrechts an Staatsrat und Gesetzkommission (Mai/Juni), VO zum Verfahren (28.6.), im Juli

Friedrich Carl von Savigny (1779–1861)

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Darstellung der Preußischen Reform der Ehescheidung (anonym, rund 200 Seiten) Votum zur Revision der Zivilprozeßordnung (25.2.); Gutachten zu Verlagsrechten (Februar); neuer Entwurf zum Unehelichenrecht (März) Roter Adlerorden I. Klasse (18.1.) Unehelichenrecht im Staatsministerium (Juli–Dezember), Januar 1846 an den Staatsrat, Voten zum Gesetz Aktiengesellschaften, Mai 1845 – Dezember 1846 sogenannte Bergrechtskonferenz in 60 Sitzungen; November 1845 – November 1846 Revision Entwurf Strafgesetzbuch in Staatsratskommission, in 54 Sitzungen 1842– 1847 Votum pro Einführung einer Staatsanwaltschaft (17.12.) Mai–Juli Beratungen zur speziellen sogenannten Polen-ProzeßVO (für ein Verfahren gegen 254 Aufstandsbeteiligte) mit Staatsanwaltschaft, Mündlichkeit, Öffentlichkeit, Freibeweis, dazu allgemeine Denkschrift, 3.5.: Prinzipienfragen einer neuen Strafprozessordnung (217 Seiten) Gesetz zum Kriminalverfahren in Berlin (17.6.); Dezember erneut revidierter Entwurf des StGB, Beratung im Staatsministerium; Wechselrecht in Staatsrat und Kommission, Entwurf 1847 angenommen im Deutschen Bund. System des heutigen Römischen Rechts Band VI 1 Kritische Voten zu Strafen: Vermögenskonfiskation (11.1.), Tod, Züchtigung und unterlassene Desertionsanzeige (Juli); neuer Entwurf zum Wechselrecht, Januar bis März in 14 Sitzungen, weiter 1846/47; VO zum Zivilprozeß (21.7.) System des heutigen Römischen Rechts Band VI 2, zusammen XI und 535 Seiten 11.4. Eröffnung des Vereinigten Landtags; Savigny Regierungsvertreter am 29.5. und 2.6. zur Verfassungsfrage; 5.10. Präsident des Staatsrats und des Ministeriums und 17.10. Vorsitz im Staatsministerium; November: StGB im Staatsministerium; Unehelichenrecht im Staatsrat (Dezember, Januar 1848; aufgegeben im Juni 1848); Entwurf über Adelsgesetzgebung, vom Kronrat erbeten 6.1. endlich grundlegende Vereinfachung und Aufwertung für Staatsrat erreicht; Revolution, Verzicht auf alle Ämter, 18.3., mit gesamtem Ministerium; 20.3. Entlassung (Nachfolger Bornemann); „Den Tag nach seiner Abdankung fing er wieder an zu schreiben – und hierin liegt freilich seine Größe“ (Cr. Robinson 1851)

Ruhestand in Berlin 1848–1861 1848 System des heutigen Römischen Rechts Band 7, XV und 309 Seiten 1849 System des heutigen Römischen Rechts Band 8, XIV und 540 Seiten 1850 Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, 2. Auflage, Band 4 XVIII und 588 Seiten, Band 5 XII und 646 Seiten, Band 6 XVI und 528 Seiten

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1854 1855 1856–58 1859 1860 1861

Joachim Rückert

Vermischte Schriften in fünf Bänden, mit Nachträgen, zusammen ca. 2100 Seiten Sachen- und Quellenregister zum System hrsg. von O.L. Heuser (3. Auflage 1863) Das Obligationenrecht als Teil des heutigen Römischen Rechts, Band 1, VII und 520 Seiten (Band 2, 1853) Geschichte des Römischen Rechts, Band 7: Verbesserungen und Zusätze, Register, VIII und 419 Seiten Tod des Sohnes Franz Das Obligationenrecht, Band 2, IV und 331 Seiten (unvollendet, im allgemeinen Teil) Bewußte Beendigung der wissenschaftlichen Tätigkeit; Bayerischer Maximiliansorden ernannt zum Mitglied des Herrenhauses und Kronsyndikus (Ämter aber nicht angetreten) Schwarzer Adlerorden (18.1., höchster preußischer Orden) Kanzler des Ordens Pour le Merite 25.10.: Tod in Berlin; große Trauerfeier mit König, Prinzen und Trauerzug

Also 51 volle Lebensjahre Berlin, ein langes, fast ganzes Leben. Hier erfüllt Savigny, was früh angelegt war und entwickelt er, was neu hinzukam. Was fand er vor? Was machte er daraus in 51 Berliner Jahren? Welches Bild haben wir daraus gemacht? Drei große Fragen, drei Skizzen:

VI. Was fand er vor, in Berlin 1810? Freiheit der Universität, gebildete Geselligkeit und offene politische und religiöse Stimmung bestimmten Savignys Empfinden. Nur dabei fühlte er sich wohl und wurde gerne tätig. Berlin schuf die neue, deutsche Universität unter dem bedeutenden Humboldt und mit vielen selbständigen Köpfen wie Fichte, Schleiermacher, Reil, F.A. Wolf, Boeckh, Niebuhr u.a. Das war nicht so klar gewesen. „Ich gestehe Dir,“ antwortet Savigny im April 1809 auf Arnims erste Voranfrage, „dass ich vor einigen Jahren nicht geglaubt hätte, in Eurem Lande als Lehrer etwas thun zu können – aber jezt möchte ichs hoffen.“ (Härtl 183). So kam es: „Mit der Universität . . . läßt sichs gut an . . . In liberalerem Sinn und Geist ist wohl kaum je eine gestiftet worden. . . . [Man sei] ängstlich bemüht, der Universität die höchste Freyheit und Unabhängigkeit zu schaffen . . . Überhaupt kann der Stand des Gelehrten und des Lehrers schwerlich in irgend einer Stadt geehrter seyn als hier.“ (1.10.1810).3 Und darauf kam es Savigny 3 Im Folgenden so in Klammern die Belege für Briefe Savignys bei Stoll. Soweit Briefe dort außerhalb der Chronologie stehen, wird dann der Band von Stoll mit angegeben.

Friedrich Carl von Savigny (1779–1861)

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an. Mehr als anderswo wandte sich der Adel der bürgerlichen Bildungswelt zu und machte damit Epoche. Berlin wurde das deutsche Zentrum allgemeiner patriotischer Anstrengung: Unter den Gründern „keiner, der nicht die beste Gesinnung hätte.“ Und erwünscht schlicht: „Titel sollen die Professoren nicht bekommen“ (ebenda). Savigny hat „eine gute Zahl von Gelehrten gefunden, die sehr einfache und brave Menschen sind“ (9.4.1811). Er freut sich an einem „neuen Wesen . . . einfache, prunklose, häusliche Form . . ., dem deutschen Sinn natürlich und nothwendig.“ (24.7.1810). Es gebe nun wohl keinen „grelleren Contrast“ als den von „Berlin und Cassel“ (ebenda). Selbst die Minister seien „hier vertraulicher und weniger umständlich, als in München die Referendäre“ (ebenda). Von Anfang an lehrte er erfolgreich in den Vorlesungen. „In meinen Institutionen habe ich gegen 50 (fast alle Juristen, die hier sind), und in dem publicum über Pfandrecht noch mehrere, darunter über die Hälfte Obertribunalräthe, Kammergerichtsräthe und Referendäre. So splendid gehts hier zu.“ (13.12.1810). Niebuhrs Römische Geschichte wurde 1810/11 zum „Modecolleg“ (14.11.1810) der Spitzen der Berliner Gesellschaft. „Es ist herrlich zu sehen, wie unter seinen Händen jeder Punct der Verfassung durch Parallelen und Contraste aus den griechischen Verfassungen, wie aus denen des Mittelalters immer klarer und bestimmter wird.“ (7.4. 1811). Mit der Universität war Savigny daher “ausnehmend zufrieden“ (9.4. 1811). Politisch war Preußen immer noch der relativ stärkste selbständige Staat in Deutschland, Berlin die ‚moderne‘ deutsche Stadt der Zeit, die scharfe Alternative zu König Jeromes Kassel und Marburg und Göttingen, zum rheinbündischen München und Landshut mit Montgelas, Gönner und Feuerbach, wie auch zu Karlsruhe, „mit seiner von Intrigen umhüllten Regierung“, und Heidelberg mit dem nun „höchsten Grad der Parteyung unter den Professoren“ (16.7.1808 an Bang, ungedruckt). Dagegen Berlin: „Die Stadt ist ungeheuer groß . . . und theilweise außerordentlich schön, so schön und grandios, wie kaum eine Stadt in Europa. Der Sand zum Verzweifeln . . .“ (1.10.1810). Wohnungen waren eher günstig und „wohlfeil“ (2.4.1811). Das konnte, trotz Sand, 1810 sehr attraktiv sein und war es. Auch wenn die Stadt 1816 nur rund 200.000 Einwohner zählte, beeindruckte sie offenbar. 1840 lag die Zahl schon bei 330.000. Viel musste freilich auf Hoffnung gebaut werden. Die Universitätsgründung war ein ökonomisches wie ideelles Wagnis. Gewagt haben es nach den schweren Kriegsniederlagen die 1806 verantwortlich gewordenen ‚Reformbürokraten‘ unter vom Stein, dann Hardenberg und speziell Wilhelm von Humboldt. Nie habe man in „niederschlagenderen Zeiten gelebt“, schrieb Humboldt noch im Juni 1809 aus Königsberg, wohin sich der Hof geflüchtet hatte, an Arnim (9.6.1809, Stoll III). Napoleon beherrschte Europa und Deutschland mehr als je.

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Joachim Rückert

Der Boden für eine sehr neue Art von Rechtswissenschaft in Berlin war bereitet. Bereitet hatte ihn der Schwager, Freund und Kernpreuße von Arnim, der von Humboldt eingeschaltet worden war. Ein Blick in die Verhandlungen mit Humboldt zeigt, dass dieser Punkt beiderseits zentral war. Schon in einer frühen Reaktion war Savigny Humboldts eigene Haltung besonders wichtig gewesen, weil sie von so „wissenschaftlichem Geist und Sinn“ getragen sei (29.4.1809, Härtl 182 f.). Humboldt seinerseits empfahl dann Savigny dem König am 1.3.1810 mit den Worten, dieser zeichne „sich eben so sehr durch philosophische Behandlung seiner Wissenschaft als durch echte und seltene Sprachgelehrsamkeit“.4 Diese Worte fallen nur bei ihm.5 Arnim berichtete wiederum schon am 1.4.1809, Humboldt wünsche „nur eigentliches gelehrtes Studium der Jurisprudenz statt des bloßen nothbehelflichen“. (Härtl 43). F.A. Wolf (1759–1824), der große Philologe und Altertumswissenschaftler aus dem aufgelösten Halle, Humboldts Lehrer und nun Mitgestalter in Berlin, hatte Savigny schon seit September 1807 empfohlen (Lenz I 88, 162). Savigny wiederum hatte im April 1809 Wolf kongenial rezensierend gelobt für ein „Muster der Behandlung eines antiquarischen Gegenstandes für das größere Publicum . . . frei und leicht wie es dem Meister geziemt . . . ohne dem Ernst der historischen Betrachtung Eintrag zu thun“ (Rezension, nach Verm. Schr. V 58). Es drehte sich also alles um „Wissenschaft“, wirkliche „Gelehrtheit“ und „philosophische Behandlung“ – und hier trafen sich die Auffassungen glücklich. Die bloß „notbehelfliche“, handwerklich-praktische Seite der Jurisprudenz war auch Savigny erst Ergebnis richtiger Wissenschaft und Theorie, nicht eigenständiges Feld. Philologie und Sprachgelehrsamkeit zählten ihm zu den unentbehrlichen, kritisch-historischen Voraussetzungen der Jurisprudenz schon in seinen Methodologie-Vorlesungen, deren zweite er gerade in Landshut vorgetragen hatte. Mit „philosophischer Behandlung“ war die Methode gemeint, nicht irgendeine bestimmte Philosophie und auch nicht das rein philosophische Verfahren strenger, absoluter Beweise, das für die empirisch gebundene Jurisprudenz nicht in Frage kam. Gemeint war ein Zusammenführen, ein Ordnen und Systembilden, ein Vorgehen anhand von und auf der Suche nach Prinzipien. Savigny hatte in diesem Sinn eine „neue Ansicht von Rechtswissenschaft“ 1809 in der Methodologie beansprucht, er hatte sie 1803 praktiziert in seinem „Recht des Besitzes“, das in zweiter Auflage 1806 vorlag, und er hatte in drei wichtigen Rezensionen diese Grundsätze durchgeführt und beschrieben: 1806 zu Hugos Rechtsgeschichte, 1809 zu F.A. Wolf (wie erwähnt) und 1808 zu Schleiermachers Universitäts4 Gedruckt in W. von Humboldt Gesammelte Schriften, Band 10: Politische Denkschriften, 1903, 228 f. (teilweise auch bei Schaffstein Friedrich Carl von Savigny und Wilhelm von Humboldt, ZSGerm 72 (1955) 154–176, 163). 5 Man vergleiche ebenda Humboldts Anträge für Wolf, Schleiermacher, Reil, Becker, Gauss und Oltmann.

Friedrich Carl von Savigny (1779–1861)

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schrift. Auch abgesehen von allen persönlichen Informationen, über die Humboldt gewiss verfügte – wir wissen freilich nicht näher inwiefern und von wem –, konnte so ein sehr klares Bild von Savignys Positionen und Fähigkeiten entstehen, das Humboldts Universitätsvorstellung sehr entsprochen haben dürfte. Humboldt selbst hatte zum Beispiel 1793 eine „Philosophische Geschichte der Menschheit“ erwogen und dabei betont, „Ordnen und Benutzen des Vielfachgesammelten ist das große Bedürfnis unsrer Zeit“. Man müsse die Verhältnisse „erst empirisch-philosophisch betrachten“ und Philosophie und Erfahrung verbinden. „Die Kunst, aus Factis Philosophie zu ziehen“, sei freilich unendlich schwer, aber doch das Ideal (19.11.1793 an Körner, Werke V 171 f.). Zusammenführen war also die Devise und sie war allgemein verbreitet: Anschauung und Begriff mit Kant, Empirie und Theorie mit Hugo und Feuerbach, Wirklichkeit und Begriff mit Hegel, Gans, Kierulff, Faktum und Prinzip in der Geschichte mit Humboldt, Geschichte und System als ‚wahre Geschichte‘ mit Schelling und Savigny. Derart das geschichtlich Gegebene zusammenzuführen und zwar in Richtung auf ein inneres System, d.h. eine Einheit nicht nur der Form, sondern des Inhalts, das war eine gemeinsame Anstrengung bei Humboldt und Savigny. In diesem Geiste wurde Savigny nach Berlin berufen und dort empfangen. In diesem Geiste wollte er wirken und wirkte er. Das war die neue, teils neuhumanistisch-gelehrte, teils organologisch-romantische suchende, teils objektiv-idealistisch fundierte Wissenschaftshaltung, die Furore machen sollte. Empirie und Theorie sollten nicht mehr rational pragmatisch verbunden werden, Geschichte sollte nicht mehr Beispielsammlung sein, sondern Inbegriff einer Evolution von innerer Schlüssigkeit. Das mündete bald ganz kontinuierlich in brillant-berühmte Formeln Savignys: 1814 die vom „zweyfachen“, dem historischen und systematischen Sinn im Beruf, 1815 in die zwei Schulen, die wahrhaft geschichtliche und die „ungeschichtliche“, d.h. falsch philosophische, im Einleitungsaufsatz zur Zeitschrift. Von diesem neuen „geschichtlichen Standpunkt“ aus war dann Geschichte „nicht mehr bloße Beyspielsammlung, sondern der einzige Weg zur wahren Erkenntnis unsres eigenen Zustandes“ (Zeitschrift, 4). Auf den „sogenannten praktischen Zweck, d.h. auf die unmittelbare und mechanische Erleichterung der Rechtspflege, des Richteramtes, oder des Advokatengeschäftes“ (ebenda 14) konnte es daher in dieser Wissenschaft und in dieser Zeitschrift nicht primär ankommen. Savigny hatte damit nicht nur Gelegenheits- oder Programmsätze niedergeschrieben, auch wenn ihn politische Gelegenheiten zum Schreiben brachten, sondern seit längerem gefestigte grundlegende Auffassungen. Er gab sie nicht mehr auf. Darüber wurde unter großen Stichworten wie Neuhumanismus, Romantik, Klassik, Kantianer, Schellingianer, Fichteaner usw. viel verhandelt – aber unbestritten blieb dabei Savignys methodische und inhaltliche Doppelorientierung an System und Geschichte, kurz: an ‚wahrer‘ Geschichte. Dies

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unterschied seinen Zugriff ebenso von dem vorwiegend pragmatischen der Aufklärungshistorie noch bei Hugo und selbst Eichhorn wie vom vorwiegend empirisch-kritischen seit dem späten 19. Jahrhundert. So wie Savigny Hugos Geschichtsmethode 1806 in seinem eigenen Sinne gelobt hat, wird heute nicht selten sein rechtshistorisches Vermächtnis umgedeutet und beansprucht. Auf die genauere geistesgeschichtliche Zuordnung kommt es demgegenüber nicht an. Diese Perspektive hat ohnehin Zirkelschlüsse aus zu allgemeinen geistesgeschichtlichen Annahmen eher gefördert als verhindert. Savigny erreichte also in seinem jugendlich kraftvollen Alter von 31 Jahren die aufblühende wissenschaftliche Landschaft Berlin, wohlvorbereitet durch gründliche eigene Studien und tief eindringende historische und methodische Forschungen. Berlin eröffnete ihm auch den literarischen, gesellschaftlichen und patriotischen geselligen Verkehr, auf den er so viel Wert legte. Politisch-patriotisch trat er in Müllers und Arnims „Christlichdeutsche Tischgesellschaft“ (gegründet 18.1.1811) mit ein. Er übernahm nun doch ihm wichtig und aussichtsreich erscheinende Ämter und füllte sie voller Energie. Im Ganzen schien die angestrebte Lebensform als unabhängig forschender und wirkender Gelehrter mit gutem Einvernehmen zur breiteren gebildeten Geselligkeit, wie sie auch Humboldt vorlebte, im neupreußischen Sand am besten gesichert.

VII. Berliner Leben 1: Professor mit vielen Ämtern Die Universität blieb bis 1842 sein Zentrum. Spruchkolleg, Akademie, Rektorat, Staatsrat und Revisionshof kamen hinzu, zeitweise heftig. Savigny wurde doch zum Professor mit vielen Ämtern. Ein Blick in die Faktentabelle zeigt neun recht deutliche Phasen: (1) den erhebenden Aufbruch 1810–1812, in Lehre und Forschung und Geselligkeit, dann (2), kurz aber bedeutend, die Kriegsunruhe und -gefahr und die begeistert aktive Mitgestaltung in Landwehrausschuss und Landsturm 1813, dann (3) eine erste schöne Ernte 1814–1818 mit wichtigen größeren und etlichen kleinere Schriften und der Gründung der Zeitschrift, dann (4) 1817/19–1826 eine stark durch Staatsrat und Revisionshof (bis 1823) beanspruchte auch amtliche Arbeitsphase, fast ohne kleinere Schriften, mit wachsender Schmerzbelastung und Austritt aus dem Spruchkollegium (1826), (5) die einjährige Erholungsphase 1826/27 in Italien, (6) 1828–1842 die erneute Konzentration auf Lehre und Forschung, die Vollendung der Geschichte, den Rückzug aus der Zeitschrift 1828 und dem Revisionshof 1837, die große Ernte des System, (7) 1842–1848 die erschöpfend aktive Amtszeit als Minister, Staatsrat, Staatsministeriumsmitglied und häufiger Sondergutachter, schließlich (8) die kurze Forschungsphase zum Obligatio-

Friedrich Carl von Savigny (1779–1861)

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nenrecht 1848–1852 und (9) den ämter- und forschungsfreien Ruhestand bis 1861. Aufbruch und Mitgestaltung, erste Ernte, auch amtliche intensive Arbeit, Erholung und erneute wissenschaftliche Konzentration, zweite Ernte, erschöpfende Amtszeit als Minister und erneute Forschung und Ruhestand, sind also die Lebensabschnitte. Die Zahl der kleineren Schriften für Zeitschrift oder Akademie indiziert am klarsten die Belastungen über die Professur hinaus und die Verschlechterung der Arbeitstimmung durch die repressive Politik: 1812 sieben, 1813 keine, 1814 eine, 1815–1817 siebzehn, 1818–1825 nur zwölf, 1826–1830 keine, 1831–1833 fünf, 1834–1841 neun, nach 1842 keine. Nach 1818 trat diese Forschungsarbeit mehr und mehr zurück. Schon 1812 wurde klar: „Mit meinen Arbeiten gehts piano. Vorlesungen nehmen viel Zeit, dann auch jetzt Actenarbeiten [im Spruchkollegium], was mir große Freude macht, dann Familiengeschäfte [besonders mit Arnims Erbsache und Bukowan]“ (18.1. 1812 an Bang, ungedruckt). Etwa 1814–1817 beflügelte ihn der Schwung der „schweren und herrlichen Zeit“, des „allgemeinen und einstimmigen politischen Lebens“, der freien „Gemeinschaft der Gedanken“ (5.3.1814). Das half ihm nicht nur in die so berühmten Texte über die Theorie der Gesetzgebung, also zu Beruf, Gönner-Rezension und Stimmen-Aufsatz. Endlich nahm auch die seit 1803 langangelegte Geschichte mit ihrer weittragenden Beweisführung für eine Kontinuität des römischen Rechts Gestalt an. Zweierlei stand gar nicht zufällig, sondern ganz aktuell im Zentrum: „Erstens, wie Römisches Wesen (Sitte, Verfassung, Recht) in Italien und Frankreich unter Gothen, Lombarden, Franken dunkel fortgelebt hat, unter der Asche glimmend, bis im 11. und 12. sec. in Italien wieder die alten Verfassungen in heller Flamme hervorbrachen, Zweytens, die Entstehung und Entwicklung der Universitäten, vom 12. sec. an“ (5.3.1814) – so erklärte er es Fr. Creuzer. Darin steckte nicht nur ein großer europäischer Zugriff, eine unglaubliche, allein schon organisatorisch, planvolle Quellen- und Geschichtsleistung, sondern auch seine ganze breite Rechtstheorie eben für „Sitte, Verfassung“ und „Recht“, mit Volksbewusstsein als Basis, dann Arbeitsteilung mit dem Juristenstand und Gerichtsverfassung als wesentlichem realen Boden. Eine „innere Kontinuität“ erschien so plausibel, ein Fortleben durch „bloße Entwicklung und Verwandlung ohne Unterbrechung“ (Vorrede Band 1, 1815) bis in seine Gegenwart des heutigen römischen Rechts, wie er es in den PandectenVorlesungen nun dreißig mal in fast jedem Winter, kontinuierlich vortrug, im Recht des Besitzes analysierte und im System ab 1835 vorstellte, ‚gereinigt‘, erneuert und auf zugleich moderne Prinzipien gebracht. Und die säkulare Entdeckung der Gaius-Texte in Verona im September 1816 durch Niebuhr kam hinzu. Savigny zuerst identifizierte die Texte als Gaius, er und Hugo finanzierten die nötigen Reisen erheblich und begeisterten

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hochbegabte jüngere Forscher wie besonders Göschen, Hollweg, I. Bekker als Philologen, 1822 noch einmal Bluhme, dafür. Auch zum Codex Theodosianus wurde Clossius 1822 fündig (6.4.1822, 24.6.1823). 1818 steht Savigny fast übermütig im Bann der Gaiusfunde: „Wissenschaftlich ist jezt der herrliche in Verona neu entdeckte Gaius an der Reihe. In den Bibliotheken wird man künftig einen großen Theil des bisherigen Fachs der Rechtsgeschichte wegwerfen können, indem die Hauptbücher darin ganz neu geschrieben werden müssen.“ (27.2.1818 an den Philosophenfreund L. Creuzer). Der dritte Band der Geschichte erschien erst 1823, sieben Jahre nach dem zweiten. Gehemmt hatte die Arbeits- und Lebensfreude nicht zuletzt die getrübte Zeitstimmung nach 1819, nach den repressiven Karlsbader Bundesbeschlüssen und in der nun teils aufgeregten, teils planvoll unterdrückenden, teils gehässigen Reaktionszeit auch in Preußen. Die Entlassung des Theologieprofessors de Wette Ende 1819 wegen eines teilnehmenden Briefes an die Mutter des Attentäters Sand, gegen die einmütigen Vorstellungen des Universitätssenats, von Savigny sehr gestützt, die Verfolgung und Entlassung Turnvater Jahns und des Patrioten Arndt 1819 in Bonn, fast auch Mittermaiers, der vollständige Rückzug Humboldts Ende 1819, eine wieder engherzige Kirchenpolitik, die Überwachung auch Savignys als „Hauptumtriebler“ neben Gneisenau, Schleiermacher und Grolmann, der nachhaltige Versuch 1822/23 Schleiermacher zu entlassen, das alles trübte die Freude sehr. Der so sehr geschätzte Schul-Mitstreiter Eichhorn hatte auch aus solchen Gründen Berlin schon 1817 nach Göttingen verlassen. Savigny wurde gesundheitlich instabil bis Mitte 1828 und nahm öfter seine allgemeine Lieblingslektüre zur Hand, die religiösen Trostbüchlein. Um so wichtiger wurde Savigny das große Kapitel und Lob der neuen mittelalterlichen Universitäten seit Bologna in seinem dritten Geschichtsband – er kommt 1822 vielfach darauf zurück (31.3., 4.4., 6.4., 18.10, 16.12.). „Es ist aber im Ganzen eine kalte, antheillose Zeit“, klagte er Jacob Grimm (4.4.1819). Niebuhr hatte 1817 vermerkt, im Allgemeinen drücke ein „beklommenes Gefühl“, auch Savigny sage, „daß ihm dieses, wie die Ahndung eines unbestimmten Unglücks alle Arbeit verleide, wie sehr er sich auch dadurch gerade zu zerstreuen suche.“ (Stoll II 164). Arnim bestätigt dies rückblickend 1827, besonders für vermehrte Schwierigkeiten im Staatsrat (Stoll II 181, nach Steig III 563). Dennoch oder gerade deswegen stürzte sich Savigny geradezu heftig in neue Arbeit: vor allem im Staatsrat mit 1817 zwölf, 1818 sieben, 1819 sechs, 1820 zwölf, 1821 einem, 1822 sechs, 1823 fünf, 1824 zwei und 1825 drei Gutachten, ab 1829 dann auch wieder, aber weniger; im Revisionshof mit 25 Referaten bis 1823, und erneut 46 1829–1836; und vor allem in die Vorlesungen zum geltenden preußischen Landrecht. Er hielt sie fünfmal zwischen 1819/20 bis 1832, mit bis zu 244 Hörern, und in 64–67 Stunden nach Woll-

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schlägers Rechnung (Seite 967, 994). Mehr als 250 Hörer konnten die Hörsäle auch nicht fassen (23.4.1826). Das umfängliche Manuskript von rekonstruiert rund 500 Blatt (ebenda XXIV und 978) muss leider als einziges als vermisst oder verloren gelten. Aber die Vorlesung wurde von Wollschläger in einem Pionierverfahren aus drei Nachschriften sehr brauchbar rekonstruiert. Es handelte sich bei allen Mängeln dieses ersten systematischen Zugriffs keineswegs nur darum, das preußische am besseren römischen Recht zu messen. Es sollte besser verstanden und mehr auf Prinzipien gebracht werden. Im Frühjahr 1819 hatte sich Savigny dazu entschlossen, im Sommer die große Arbeit begonnen, nachdem er die persönliche ministerielle Erlaubnis zur Benutzung der „88 Folianten handschriftlicher Materialien“ (30.5.1819) erhalten hatte. Er hat dafür mit der ihm eigenen Konsequenz seine „Lebenseinrichtung“, d.h. seine Fächer und den Vorlesungsrythmus, „geändert . . . und alle andere Arbeit, auch meinen dritten Band [der Geschichte], weggelegt“ (ebenda). „Der Anfang war sehr sauer“ (an Eichhorn 7.6.1819), der Erfolg umso größer. Alsbald und stärker ab Mitte der 1820er Jahre entstand ein Kreis von habilitierten Berliner Schülern, so Hollweg, Klenze, Homeyer, Laspeyres, Rudorff, Böcking. Die große Tragweite seines lehrenden Wirkens zeigen vielleicht am besten einige Namen seiner durch besondere Aufgaben bzw. Arbeiten hervorgehobenen Hörer. Betine hat einige bis 1834 unter seiner Mitwirkung notiert, meist 4–6 Namen pro Vorlesung, ab 1825 aber weniger – warum weniger ist unklar. Man liest eine preußische Juristengalerie. Viele erreichten später bedeutende Stellungen. Ich kann sie hier nur teilweise kurz zuordnen, auch auf die Gefahr mancher Lücke und Ungenauigkeit besonders für die Praktiker: 1810/11 Göschen/Professor, Dirksen/Professor, Dieterici/Direktor des statistischen Büros, Rönne/wichtiger Autor zum ALR, L. Gerlach/hoher Beamter; 1811/12 Graf Alvensleben/später Minister, 1812/ 13 Rogge/Professor, 1814 Homeyer/Professor, 1815/16 Burchardi/Professor, Hollweg/Professor, Lancizolle/Professor, Lappenberg/Schwabenspiegeleditor?, 1816 Bornemann/Richter und Minister, 1816/17 Klenze/Professor, 1817 Gans/Professor, Macimiowski/Professor in Warschau, Zimmern/ Professor, 1817/18 Droste/Professor, 1818 Gaupp/Professor, Laspeyres/ Professor, Strampff/ALR-Autor, 1818/19 Bluhme/Professor, 1819 Keller/ Professor, Pernice/Professor, 1820 Abegg/Professor, Ribbentrop/Professor, 1821 Huschke/Professor, Puggé/Professor, Schmidtlein/Professor, 1821/22 Böcking/Professor, 1822 Phillips/Professor, 1823/24 Rudorff/ Professor, 1828 Bluntschli/Professor. Die vielen auch bekannt gewordenen Hörer ohne Übungsaufgaben fehlen zudem, etwa Gans, Windscheid, Pape. Zugleich begann seit 1823 die bekannte Affäre Gans. Nach außen endete sie mit dem Austritt Savignys aus den Geschäften der Fakultät, wie er es sich 1810 vorbehalten hatte. Die Urteile darüber sind recht gespalten. Die Lektü-

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re der Polemiken von Gans seit 1823 lässt Savignys persönliche Reaktion verständlich erscheinen. Zuletzt wurde darin nun zwar nicht Antisemitismus gefunden, aber doch Antijudaismus (Henne/Kretschmar 2003). Vorbereitet hatte sich der Ärger freilich schon durch Hegel selbst. Schon 1821 meldet Savigny dem Hegelfreund F. Creuzer: „Überhaupt wird mir die ganze Wirksamkeit von Hegel immer bedenklicher. Fichte hatte und erzeugte nicht weniger Anmaßung, aber es war doch in ihm und seinen Erzeugnissen mehr frischer lebendiger Geist, hier kommt es mir weit philisterhafter vor, was auch von der sonderbaren versöhnenden Weltklugheit gilt, womit er, wenn von den unangenehmen Ereignissen und Einrichtungen der neuern und neuesten Zeit die Rede ist, auftritt“ (6.2.1821) – gemeint waren die erwähnten repressiven Karlsbader Beschlüsse und preußischen Polizeiaktionen. Savigny hat sie offenbar deutlicher missbilligt als Hegel. Aber das Stichwort „Anmaßung“ oder „Dünkel“ wird ihm eine stehende Kritik (6.2.1821, 26.11.1821, 6.4.1822, ähnlich 16.12.1822, 6.4.1826). Im Zentrum blieb aber die Professur, d.h. vor allem die Vorlesungen. Immer gewissenhaft schloss sich Kolleg an Kolleg. Die Manuskripte dazu bezeugen große Kontinuität im Ganzen, aber auch immer neues Einfügen und Überarbeiten. Besonders die Einleitungen wurden öfter erneuert, also etwa die Methodologie als Einleitung der Pandekten, wie es jetzt die Edition Mazzacanes zeigt. Aber z.B. Puchtas erster Gewohnheitsrechtsband von 1828 wird dann 1829 umfassender eingearbeitet. 30mal trug er die Pandekten und die Institutionen mit Rechtsgeschichte vor. Die dogmatische Hauptvorlesung Pandecten las er, wie oben vermerkt, durchweg im Winter, meist ab Mitte Oktober, 10–12 stündig die Woche, zusammen um die 200 Stunden, im Maximum 253 Stunden, im Minimum 161, vor maximal 255 Hörern (1824/25). Die allgemeiner einführenden Institutionen folgten jeweils im Sommer ab Mitte April oder Mai bis in den Juli oder August, in wöchentlich 8, zusammen um die 140 Stunden, maximal 214 (1810/11), minimal 107 Stunden, vor maximal 210, anfangs minimal 46 Hörern (1810/11). Das Pensum war beachtlich und wurde peinlich eingehalten. Dreimal ab 1819 kam noch eine Gaius-Vorlesung hinzu, die fünf erwähnten Landrechtsvorlesungen nicht zu vergessen. „Einmal schon“, so schreibt er, sei er „genöthigt gewesen, eine Anzahl Hörer abzuweisen, weil ich nicht mehr als 250 Plätze zu vergeben hatte“ (23.4.1826). Seine Leidenschaft als Lehrer blieb. Wie immer sehr treulich berichtet er Pfarrer Bang: „Auch meine Lust und Kraft zum Dociren hat sich wohl erhalten, und wenn ich hier in der allerletzten Zeit eine Abnahme zu spüren glaube, so mag es wohl nur eine Nachwirkung meines allgemein geschwächten Zustandes sein.“ (23.4.1826) Er stellte und korrigierte die erwähnten Übungsaufgaben, auf Wunsch, vorlesungsbegleitend, wie schon den Grimms in Marburg. Die gute Resonanz spornte an: „Bei meinen Zuhörern eine Empfänglichkeit, wie ich sie nicht erwartet hatte, und daher mir selbst

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eine Freude und ein Muth zum Lesen, wie ich nie gehabt habe . . .“ (2.4.1811 an Bang, ungedruckt). 1815 verteidigt er sich an Bang: „Was Euch der Berliner Studiosus über meine Unzugänglichkeit und Prüfungsgrausamkeit erzählt hat, wundert mich. Ich fordere alle, die sich zu Collegien melden, namentlich auf, zu mir zu kommen, so oft sie Rath und Auskunft brauchen, das thun dann nicht viele, aber die kommen werden jederzeit sehr freundlich aufgenommen und ich unterhalte mich oft lange mit ihnen, mehrere sind mir auf diese Weise näher befreundet worden.“ (2.5.1815 an Bang, ungedruckt). Prüfungen habe er bisher nur drei gehabt, zwei glänzende und eine schwache anfangs mit Schmalz, „wo wir einen zum Dr. ganz untüchtigen Menschen davon abgemahnt und zu seinem größten Glück in die practische Laufbahn gebracht haben“ (ebenda). Dieses Bild von Zuwendung und Distanz kehrt bis 1842 in einigen Nuancierungen immer wieder. Offenbar musste man sich mutvoll nähern, wurde dann aber meist belohnt. Liest man die häufigen Berichte von mehreren Seiten über den seit 1822 immer wiederkehrenden heftigen Kopfschmerz, so erscheinen die Leistungen erstaunlich. Diese Belastung wird zu wenig wahrgenommen, so alles bestimmend sie gewesen sein muss. Etwas sarkastisch berichtet er Arnim 1823, „Oft kommt wieder Kopfweh (obgleich schwächer), und Kraft und Arbeitslust ist noch nicht wieder angelangt; ich habe mich daher einstweilen auf die Geduld gelegt. Fast das einzige, was ich so wie zu anderen Zeiten arbeiten kann, sind practisch juristische Sachen, eine Erfahrung, die ich schon mehr in ähnlichen Fällen gemacht habe, und woraus man fast schließen könnte, daß ich eigentlich Kammergerichtsrath hätte werden sollen.“ (3.3.1823). Dem Freund Creuzer schreibt er 1826: „Mit meiner Gesundheit geht es immer schlechter. Kopfschmerz ist mein treuer Begleiter, und daneben hat sich immer vollständiger eine Nervenschwäche entwickelt, die mir jede Geistesanstrengung entweder unmöglich oder doch zur Qual macht. Ich bin daher im Begriff in wenigen Tagen eine größeren Heilungsversuch zu machen: erst Carlsbad, dann Seebad in Genua, dann den ganzen Winter Geschäftsruhe und Aufenthalt in Italien (nicht in den Bibliotheken). Man macht mir Hoffnung, daß das helfen könne; bliebe ich in meinem gegenwärtigen kläglichen Zustand, so wird wohl kaum etwas anderes übrig bleiben, als mich aus allen Geschäften in eine stille Ecke zurückzuziehen.“ (12.7.1826). Italien half nicht entscheidend. Erst Anfang 1828 gelang dies dem Leibarzt des Herzogs von Lucca durch Homöopathie: „. . . seit 2 Monaten bin ich soweit, daß ich des Mittags nie mehr einen Schmerzanfall habe, anstatt daß ich vorher stets und oft viele Stunden liegen mußte. Ferner kann ich wieder mit Lust und Leichtigkeit arbeiten und habe wieder Heiterkeit und guten Mut.“ (an Ringseis, Stoll II 352). Ein Albtraum kam zu Ende, die Faktentabelle zeigt in der Tat ein Wiederaufblühen in Vorlesungen, Forschungen, Schriften und bald auch wieder praktischen Arbeiten.

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Von hohem Interesse waren an diesem ausgebreiteten, tätigen Leben stets seine politischen und religiösen Haltungen, Ansichten und Taten. Diese beiden Lebensbereiche stehen kaum trennbar neben dem geschilderten Juristenleben. Sehr bald nach 1810 geriet der immer tätigere berühmte Mann in mannigfache Beurteilungen. Eine Fülle von zeitgebundenen Polemiken entwickelte sich. Doch sind seine politischen Urteile und seine Theorie durchanalysiert (Rückert 1984), ebenso der sogenannte Kodifikationsstreit, der nicht nur ein Kodifikationstreit war (Kiefner 1983, Rückert 2002), und jüngst auch einige religiöse Zeugnisse (Rückert 2009). Man kann daher sagen: Die politische Seite lässt sich im zeitgenössischen Spektrum als „reformkonservativ“ fassen, eine Position der Vermittlung, recht offen, aber weniger initiativ. Für die Universitäten und das geistige Leben drängt er stets deutlich auf echte Freiheit. Zensur ist seine Lösung nicht. Schlechtes muss geduldet und ohne Gewalt überwunden werden. Die dazu erschließbare Theorie erscheint als konsequent objektiv-idealistisch fundiert, ebenso seine religiöse Haltung. Denn beides lebt u.a. aus einem starken Vertrauen in einen objektiven Sinn im Sein, in geschichtlich gegebene und erfassbare innere Notwendigkeiten wie „wahre Gemeinschaft“ und „geheime Kirche“, d.h. christlichen Glauben ohne konfessionelle Trennung. Die Art der Seinsund Sinnzuwendung ist nicht aufklärerisch-pragmatisch oder kantischrational und zurückhaltend in Sachen Religion und Wahrheit, sondern nachkantisch optimistisch, das zuvor getrennt Gedachte neu vereinigend.

VIII. Berliner Leben 2: Minister, Staatsrat, Sondergutachter Am 5. März 1842 hielt Savigny seine letzte Vorlesung. Es war die letzte Stunde seiner vielbesuchten Pandecten. Zum Abschluss widmete er den Studenten besondere Abschiedsworte, die in gedruckter und skizzierter Fassung überliefert sind (Kiefner 1999). „An meine Zuhörer“ sprach er sie an. Er betonte als wesentlich an der „Wirksamkeit eines tüchtigen Lehrers“ sei, dass immer der „edle Kern jugendlicher Freude an der Erforschung der Wahrheit noch in späteren Lebensjahren bewahrt bleibe.“ (Stoll III 88) Er schloss mit der „dankbaren Erinnerung an mein vieljähriges Lehramt“ und dem Bekenntnis, die „Trennung von dem geliebten Lehramt ist mir sehr schmerzlich geworden“. In der vermutlich mündlichen Fassung, die er sich in seinem Manuskript notiert hatte, schloss er mit einem Epigramm von Goethe: „Freunde treibet nur alles mit / Ernst und Liebe die beiden / Stehen den Deutschen so schön, / den ja so manches/entstellt.“ (Kiefner 1999; Faksimile bei Hölzl 2002, 47 f.). Schon im Juni 1840 hatte der Kronprinz an Savigny als Kultusminister nach Altensteins Tod gedacht (Stoll III 1). Kaum im Königsamt, veranlasste er Savigny zu einer programmatischen Denkschrift. Die „Vorschläge zu einer zweckmäßigen Einrichtung der Gesetzre-

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vision“ lagen am 8. Januar 1842 vor. Ganz stimmig zu seinen gesetzgebungstheoretischen Ausführungen im Beruf von 1814 schlug Savigny nicht Kodifikation vor, aber sehr wohl Einzelgesetzgebung und insbesondere zum Strafrecht und Prozess. Zum Strafrecht hatte er bekanntlich stets Kodifikation befürwortet, wie wir aus seinen Kronprinzenvorträgen von 1815– 1817 wissen. Das war ihm eine Frage möglichster Rechtssicherheit. Am 28. Februar wurde er ernannt zum Staats- und Justizminister für Gesetzesrevision. Das Vertrauen und der anfängliche Reformgeist seines Privatvorlesungsschülers Friedrich Wilhelm IV. hatte Savigny doch noch mit 63 Jahren voll in die an sich ungeliebten Geschäfte gebracht. Alle Bedenken guter Freunde, besonders der Grimms, und in Bezug auf die eigenen Pläne, die gerade erst zum fünften Band der großen System-Darstellung gereift waren, traten damit zurück. In Wahrheit ging es noch dazu nicht nur um ein Ministerium für Gesetzrevision, sondern zugleich um die erweiterte Tätigkeit im Staatsrat, zusätzlich die im Staatsministerium, d.h. Kabinett, und noch um eine Art Sondergutachtertätigkeit für den König sowie die Rolle als Kabinettschef ab 1847. Diese Lebensphase zu würdigen, fällt nicht leicht. Schwieriger zu entwirren als die vielen persönlichen und politischen Polemiken ist der Schleier des Halbwissens, der darüber liegt. Ein Blick in die Faktentabellen zeigt drastisch die erdrückende Fülle. Es gibt dazu keinen wirklich klärenden Gesamtüberblick. Aus Einzelstudien kann man freilich einige gesicherte Schlüsse ziehen (Ebel 1987, Kiefner 2005, Arnswaldt 2003). Jedenfalls von den Ressourcen als Minister darf man sich keine falschen Vorstellungen machen. Mehr als maximal zehn Mitarbeiter, und diese nicht in Vollzeit, hatte dieser Minister nicht (Stoll III 6, Fn.). Es war wesentlich ein ‚Minister-Ministerium‘. Sacharbeit und Durchsetzungsarbeit in vielen Gremien und Ausschüssen kumulierten auf ihm selbst. Gleich zu Beginn bedrückte ihn diese Arbeitslast sehr. Das Problem war nicht die ruhige Durchdringung schwieriger gesetzgebungspolitischer Fragen, was ihm leicht fiel, sondern die stete streitige Vertretung auf so vielen Kompetenzebenen. Gesetze waren auszuarbeiten, mit den eigenen Räten zu beraten, dann mit dem Justizverwaltungsministerium abzustimmen, in der allgemeinen Gesetzgebungskommission zu beraten, darauf im Staatsministerium und schließlich im Staatsrat und meist in dessen Ausschüssen. Später kamen noch die Diskussionen in den Ausschüssen des Vereinigten Landtags und dem Vereinigten Landtag selbst dazu. Dieses Verfahren betrachtete Savigny mit Recht als eine „Schraube ohne Ende“ (Stoll III 17). Eine Beschleunigung und Bereinigung des Verfahrens gelang erst Anfang 1848, als das endlich erreichte neue Prozedere durch die Revolution von 1848 alsbald überholt wurde. Es kann hier nicht der Ort sein, die sehr vielfältige, umfassende und tiefgehende Tätigkeit auch nur aufzulisten. Die Faktentabelle gibt dazu Anschauung in Fülle. Einige leitende Gesichtspunkte können herausgearbeitet

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werden. Es ist klar, dass auf der Ebene der Gesetzgebungspolitik in der Zeit nach 1842 ein überparteilicher Gesichtspunkt, wie ihn Savigny gerne beschwor, nicht mehr recht ausreichte, um sich durchzusetzen. Seine Charakteristik als „heftiger Moderado“ durch L. von Gerlach (Stoll III 9, Fn.) zeigt recht genau seine Begabung und Grenzen. Das wird bestätigt durch den guten Freund und Kenner Bethmann-Hollweg: „Seine technische Meisterschaft und seine loyale Beredsamkeit, mit der er die schiefen Gedanken der Gegner auf ihr wahres Fundament zurückzuführen und um so überzeugender zu widerlegen verstand, überwand alle diese Schwierigkeiten. Er blieb stets Sieger, wie seine Gegner selbst mit Bewunderung eingestanden. . . .“ (1866, 73). Das mag verehrungsvoll übertrieben sein, hat aber gewiss einen wahren Kern. Jedoch bezog es sich auf den Staatsrat, also ein weniger parteiorientiertes Gremium. Diese loyale Beredsamkeit verlor offenbar in den mehr parteipolitisch gefochtenen Kämpfen ihre Durchschlagskraft. Zum zweiten erschwerten die schon beschriebenen Verfahrensprobleme Erfolge sehr erheblich. Schließlich hing alles noch vom Vertrauen des Königs ab. Dieser „Romantiker auf dem Thron“, wie man gern vielsagend bedeutet, erwies sich jedoch als nicht so fest, wie es förderlich gewesen wäre. Exemplarisch zeigt sich jedenfalls am Beispiel der Ehegesetzgebung, die der König selbst veranlasst hatte, wie er zögerte und zurücksteckte und dadurch bessere Erfolge wohl verloren gingen. Es kam nur zu einem abgespaltenen Verfahrensgesetz. Im Blick auf die sehr wertenden Polemiken um Savignys Erfolg, Misserfolg oder Scheitern als Minister muss man sich vor allem die Maßstäbe klar machen. Zunächst sagt ein Misserfolg im Gesetzgebungsverfahren wenig über die Qualität der eingebrachten Arbeit. An mangelnder Qualität ist gewiss keiner der Savignyschen Entwürfe gescheitert. Das wird auch nirgends behauptet. Im Gegenteil sind politisch weniger brisante Gegenstände, wie etwa das Wechselrecht, sehr erfolgreich bearbeitet und zu Ende gebracht worden. Die derzeit greifbaren Denkschriften etwa zur Gesetzrevision überhaupt (1840), zur Ehescheidung (1842/1844), zum Strafprozess (1846), sind klar, bestimmt und eindrucksvoll. Nach dem Maßstab der Gesetzgebungstechnik ist sich auch die Kritik im positiven Urteil einig. Ein kleines Beispiel für seine viel bestätigte sprachliche und technische Sorgfalt ist folgende briefliche Nachfrage an die Sprachkenner Jacob und Wilhelm Grimm: „In einem mir eben vorliegenden Gesetzentwurf findet sich folgende Stelle: ‚Wir werden die Stände versammeln, um zu Letzterer (es war von einer Einführung die Rede gewesen) ihre Zustimmung zu gesinnen.‘ Ich glaube nun nicht, dass man gesinnen so gebrauchen kann, als völlig gleichbedeutend mit begehren, verlangen, erfordern. Ich glaube, man kann nur Einem etwas ansinnen oder an einen etwas gesinnen. Adelung hat auch noch: Einen zu etwas gesinnen. Wie denken Sie hierüber? Savigny“ (21.11.1846, Hervorhebungen original).

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Die Grimms hatten ebenfalls Bedenken. Wenig angebracht erscheint es schließlich, seine Gesetzgebungspolitik an einem angeblichen Fortschritt oder Rückschritt zu messen. Wenig überraschend lassen sich etliche Elemente von Fortschritt im eher politisch-liberalen Sinne, aber auch Elemente von Rückschritt im eher christlich-religiösen Sinne der Zeit benennen. Das zeigt aber nichts anderes als die Zeitgebundenheit eines Ministers und Gelehrten, der stets versucht hatte, loyal zu vermitteln und Extreme zu vermeiden. So wirbt Savigny 1831 den alten Freund Eichhorn für die von ihm sehr geförderte „Historisch-politische Zeitschrift“ Rankes mit den Worten, „Sie soll also einen natürlichen Gegensatz bilden gegen die Ultras beider Seiten, doch Polemik meist meidend . . .“ (6.12.1831, von Schulte 204). Es bestätigt dies jedenfalls seine im Zeitkontext – und nur der gilt – stets „reformkonservative“ Haltung und deren teilweise Überlagerung durch christliche Wertungen. Da er selbst das Christliche kaum betont nach außen getragen hat, wird man hier zudem den Einfluss des Königs selbst und des Mitarbeiters von Gerlach mit ansetzen müssen. Denn als Minister war Savigny natürlich viel weniger frei in seinem Handeln denn als Wissenschaftler und Professor und auch als bloßer Staatsrat. Das ändert nichts an den christlich-konservativen Elementen etwa zum Eherecht, die ja auch im System 1840 (I 346) aufscheinen. Savigny stand dabei übrigens merkwürdig parallel zu der Kritik von Karl Marx an Hugos freierer Meinung (Rückert 1991, 195). Jedenfalls geben die Bindungen der Ministerstellung Anlass zu differenzieren und nicht so leicht von dauerhaft eigenen politischen Haltungen Savignys auszugehen. Sie können mit einer wohlbegründeten historiographischen Kategorie nach wie vor als „reformkonservativ“ bezeichnet werden (Rückert 1984, Kiefner 1995). Anfangs sahen die Zeitgenossen sogar eine ziemlich „liberale“ Linie (Stoll III 7, Kiefner 2005, 164). Später fand man mehr Konservatives. Das mag irgendwie zutreffen. Doch verschoben sich zugleich vor 1848 die politischen Koordinaten selbst nach ,links‘ und schon deswegen erschien manches nun ,konservativer‘. Weniger glücklich als die am Ende doch tragfähigen Wirkungen etwa im Wechselrecht, aber auch der Strafgesetzgebung, die 1851 in das Preußische Strafgesetzbuch und 1871 in das Reichsstrafgesetzbuch mündete, waren die gesundheitlichen Folgen der Ministerzeit. Savigny hat offenbar seine Kräfte in dieser Zeit stark verbraucht. Als er 1848 sofort nach seinem Abschied wieder „zu schreiben“ (8.6.1851, III 290) begann, gelangen ihm zwar noch zwei Bände seines besonderen Teils zum System, also des sogenannten Obligationenrechts. Aber im Bewusstsein schwindender Kräfte brach er diese Arbeit 1853 ab (Stoll III 196). Er wollte nicht unter einem von ihm selbst als wirklich gut befundenen Niveau bleiben.

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IX. Unsere Bilder heute Nicht nur einmal wandelte sich das Savigny-Bild erheblich. Das gäbe viel Stoff für eine eigene Geschichte. Die älteren Perioden bis etwa 1980, also auch mit der Geburtstagswelle um 1979, wurden bereits thematisiert (Rückert 1984). Welches Bild malt die neuere Forschung seitdem? Ihre Themenbereiche und Autoren wurden oben (unter III.) benannt. Erforscht wurde und wird vor allem Savignys Wissenschaft. Mein eigenes Bild habe ich jüngst umrissen (Rückert 2010). Hier soll eine kurze Übersicht zu einigen Hauptlinien der Forschung versucht werden, auch auf die Gefahr vieler offener Flanken – lieber ein „friedlicher Streit . . . zu gemeinsamen löblichen Zwecken“ (Beruf 1814, 3) als Schweigen: 1. Die mehr biographische Forschung gewinnt langsam, aber stetig Terrain. Sie entwickelt sich Hand in Hand mit den Editionen ungedruckter Materialien und Briefe. Hierin liegt ein Hauptgewinn gegenüber der Zeit nach Stoll seit 1939. Seine sehr umfassende Sammlung, die auch vieles schon damals Gedruckte, leider nicht immer übersichtlich, erneut einbezog, konnte erst durch den Zugang zum Nachlass seit ca. 1979 nachhaltig ergänzt werden. Wir verfügen nun über viel genauere Kenntnismöglichkeiten für die wissenschaftliche Entwicklung und ihren Kontext, siehe oben die Titel in III. (1)–(4). Besonders intensiv wurde dem jungen Savigny (Nörr 1994) und dem Landshuter Savigny (Rückert 1984) nachgespürt. Es ging nicht nur, wie man ein kriminalistisches Kompliment abschätzig abwandelte, um „geistesgeschichtliche Spurensuche“ (Jakobs 1989). 2. Natürlich wird immer wieder nach einem Schlüssel für den ‚ganzen‘ Savigny gesucht. Das liegt im Zuge erklärender Reduktion durch Wissenschaft. Hier hat sich die Forschung sehr gehäuft, siehe unter III. (5)–(7). Als weittragendes Stichwort wurde „objektiver Idealismus“ angeboten und begründet (Rückert 1984 und öfter). Das meint einen erkenntnistheoretisch und ontologisch optimistischen Standpunkt jenseits von Kants kritischer Trennung von Sein und Sollen, in welcher fachphilosophischen Anlehnung auch immer. Dem wurde nicht umfassend, aber in Form verschiedener Begrenzungen, widersprochen. So wurde das Stichwort für den jungen Savigny relativiert, jedoch nicht ersetzt (Nörr 1994). Die Deutungen werden also ganz offengehalten. Oder es wurde der Kern von Savignys entwickelter Rechtswissenschaft für „geschichtlich“ im Sinne von unphilosophisch erklärt (Jakobs 1989). Diese Deutung hat viele wichtige Fragen aufgeworfen. Sie zwingt zu einer Entkoppelung des sehr jungen ‚noch‘ philosophischen Savigny bis etwa 1803 vom späteren ,bloß‘ geschichtlichen Savigny; sie setzt ein engeres stark empirisches, philologisches Geschichtsverständnis voraus und reduziert das philosophische Element der Forschung entsprechend auf

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Systematik, sie trennt Inhalt und Form; sie trennt damit aber zwei Zugänge, die Savigny immer zu verbinden aufforderte und die er selbst stets verband, in allen seinen Hauptwerken. Diese wurden inzwischen alle zusammenhängend analysiert, siehe die Titel unter III. (8), genereller auch der methodische Zugriff von 1802 bis 1842 anhand der Pandekteneinleitungen (Rückert 1993). Es gäbe dann keine methodische Doppelorientierung, kein ,Recht im Recht‘ bei Savigny, keine besondere Form von „Gewohnheitsrecht“ usw. 1840 hätten sich die Freunde ganz ohne philosophische Argumente über das „Wesen der Rechtsverhältnisse“ ausgetauscht, obwohl sie sie alle mitführen und benennen (Kiefner 1982), wie mehr noch die ungedruckten vollen Texte zeigen. Eine Edition in der Savignyana-Reihe ist in Vorbereitung. Die Stimmen, die auch Philosophie sehen, haben jedenfalls Zuwachs und weitere Begründung erhalten (siehe oben III. (5) die neben Jakobs Genannten). Eine andere Frage war und ist, wie weit das Stichwort trägt. Immer war klar, dass nicht jede juristische oder dogmatische Frage auf solche Basiszusammenhänge reagiert (siehe schon Rückert 1984, 1986; Kiefner 1995). Pauschale Antworten helfen hier nicht weiter. Für juristische Grundfragen wie Recht, Recht-Sitte, Rechtsquellenlehre, Auslegung, Rechtsfähigkeit, Personbegriff, Familienbegriff u.ä., liegt die Intensität höher, sonst niedriger. Hier finden sich inhaltliche Momente, die auch philosophisch geprägt sind und nicht einfach abhängig vom römischen Erbe. Intensiv wirken idealistische Denkfiguren auch immer dann, wenn Savigny mit Mitteln wie „innere“ Notwendigkeit, „natürlicher“ Verlauf, „Modification“ (nicht Unterbrechung), längere geschichtliche Linien oder sonstige Rechtfertigungen aufbaut. Dann geht es um eine methodische Struktur. Viele Felder für konkretere Untersuchungen stehen offen. Gewiss zu pauschal wäre es, sich mit der Trennung des Juristen Savigny vom Nicht-mehr-Philosophen zu begnügen. 3. Das führt auf die philosophischen Elemente als solche, sei es die des jungen oder des ganzen Savigny. Kaum begrenzbare Geistesgeschichte oder Einflusssuche wird kaum noch betrieben. Es geht um die Schärfung des Savignybildes im Vergleich. Biographische Einflusselemente können dabei natürlich helfen. Nach wie vor wird dafür eine große nachkantische Palette erwogen, vor allem Fichte (Jakobs 1989, Moriya 2003), aber auch Schelling (Rückert 1997). Die Argumente kommen, was wichtig ist, aus unterschiedlichen Bereichen. Mit Fichte geht es um Methode (Jakobs 1989; Rückert 1993, 76–78) bzw. um Eigentum und Besitz (Moriya). Mit Schelling werden der sehr idealistische Geschichtsbegriff, die davon geprägte Methode und der Aspekt einer, modern gesprochen, Vorstellung des Rechts als spontane Ordnung wie bei Sprache und Geldwert herangezogen. Caroni nennt das wieder „Historismus“ als „Erkenntnislehre“ und „philosophische Prämisse“ (2003, 250, 252). Die wenig klaren Großbegriffe „romantisch“ oder „klassisch“ haben ihre Anziehungskraft verloren. Andererseits wurde sehr differenziert

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eine „Marburger Frühromantik“ erörtert, freilich zu allgemein für Savigny selbst (Harder 2001). Für die Frage Recht-Sitte, Rechtsbegriff, Privatrecht als pars pro toto, kommt inhaltlich nach wie vor eher Kant in den Blick, der Ansatz beim Individuum also (zuletzt Unberath 2010). Aber die Einbettung der Lösung in einen historisch gegebenen, christlich-religiösen Bezug besteht daneben (Rückert 1991 und 2009). Das Verhältnis verdient Beachtung. Zu erwägen ist offenbar eine eigenständige Kombination inhaltlicher und methodischer Momente: inhaltlich ein Ansatz mit Kant, mit Modifikationen bei religiös empfindlichen Fragen; erkenntnistheoretisch und ontologisch dagegen ein Ansatz mit eher objektiven Positionen. Recht im Ganzen erscheint dann konsequent nicht als Instrument zur gemeinsamen Freiheit, sondern als ,innerlich‘ verankert. 4. Dass Savigny von einem „inneren“, materialen System ausgeht, einer Einheit im Gegenstand, wird jetzt allgemein angenommen, siehe III. (6). Dass dazu nur eine vereinigende, objektiv-idealistische Methode passt und nicht eine kantianische, müsste hinzugenommen werden. 5. Versucht man eine juristische Methode bei Savigny zu entdecken, so ist dies keine sogenannte Methode wie heute, also eine ganz auf Konflikt, Gesetz und Praxis eingestellte. Praxis und Theorie sind nicht geschieden, sondern entspringen der einen rechtwissenschaftlichen Erkenntnis des Rechts (Wollschläger 1998, Rückert 2004, 2006, 2010). Die Auslegungslehre wird daher zu einer allgemeinen Hermeneutik aller juristischen Verhältnisse, zu einer Jurisprudenz ohne Pathologie (Rückert 2001). 6. Der Gesetzgebungs- und Methodenstreit, siehe III. (11), bleibt von großem Interesse, zumal im Zeichen von globalem Recht ohne Staat. Er betrifft eigentlich sieben Themen (Rückert 1992), denn man muss außer Thibaut und Gönner mindestens Gans und Hegel dazu nehmen: die rechtswissenschaftliche Kodifikationsfrage, die politisch-praktische Frage, die Frage juristischer Schulen, den Streit um den Geschichtsbegriff, einen philosophischen Positivismus-Streit über den Hass gegen das Gesetz mit Hegel seit 1821 und einen Universalstreit mit Gans seit 1819. Es war keineswegs nur ein Juristenstreit. 7. Zur juristischen Dogmatik Savignys liegen sehr beachtliche Untersuchungen vor, die den dogmatischen Zugriff Savignys auch methodisch erklären. Drei Beispiele: Savignys Geldlehre musste auf ganz unrömischem, modernen Boden stehen. Auch und gerade hier erweist sich die „Begriffsjurisprudenz“ als eine sogenannte (Ott 1998). „Wirtschaftliche Rechtsfolgeüberlegungen“ spielen eine wesentliche Rolle, mit voller „Offenheit, Selbstverständlichkeit und Sachkunde“ (Ott 281). Auch eine ökonomischpolitische Typisierung der Geldwertvorstellungen gelingt. Das Wort Begriffsjurisprudenz sollte wieder werden, was es bei seinem Erfinder Jhering 1884 war: eine bloße Polemikflagge, ungeeignet für historisch plausible Aussagen. Beim schwierigen Thema Stellvertretung wurden minutiös und dicht

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an den neuen Quellen mehrere Entwicklungsstufen bei Savigny gefunden, die im Ergebnis eine dogmengeschichtlich „entscheidende Zäsur“ brachten (Hölzl 1999, 231). „Zäsur“ fand auch Immenhauser (2006, 257); „originell und weiterführend“ im Bereicherungsrecht ist ein Ergebnis (Jansen 2003, 159 f.); „obsolet“ wird durch ihn das Kondiktionsrecht der Gesetzeswerke um 1800 (Schäfer 2001, 111). Auch die Dogmatik wird nun eng mit Savignys neuer, zweifacher und grundsätzlicher, organisch deutender Methode verknüpft. So findet sich eine „organisch“ die Quellen entwickelnde Methode in der Stellvertretungs- (Hölzl 1999) und Bereicherungslehre (Jansen 2003, Schäfer 2001, 141 f., Rückert 1987), und eine ähnliche Struktur im Besitzbuch (Rückert 2009) und System (Rückert 2007). Im System spielen überall „Erkennen“ und „Anerkennen“ des je gegebenen, insofern positiven, Rechts eine überraschende, grundlegende Rolle. Daraus wird ein organischer Aufbau vom „Natürlichen“ her, „Genealogie“, nicht „Begriffspyramide“ (Larenz, aber das Wort kennt Savigny so wenig wie Puchta) und sogenannter Formalismus. Man kommt also davon ab, dogmatisch und juristisch und technisch auszuspielen gegen philosophisch, politisch und erkennt mehr und mehr die Bezüge auch im Konkreten. Gewiss passend handelt es sich um grundlegende Rechtsfiguren. Gewiss passend erscheint Savigny auch hier als ein als besonders um die Quellen bemühter und zugleich sehr innovativer Jurist. Er liest die Quellen als organisches System, keineswegs grob, aber doch entschieden. Nähe und Distanz kommen so zusammen, Geschichte erreicht die Gegenwart, römisches Recht wird „heutiges“ Recht oder verliert „von selbst“ sein Leben in neuen Organismen. 8. Die „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“ war lange kaum erforscht. Sie transportiert das wahrhaft historische Programm zunächst treu, aber in abnehmender Intensität. Die Entdeckung innerer Notwendigkeiten gerät immer mehr aus dem Blick zugunsten bloßer, rein historischer Arbeit ohne größere Linie. Der Gegensatz zu den Hegelianern wird andererseits besonders durch Klenze in Zusammenarbeit an den „Jahrbüchern“ seit 1827 schwächer, trotz Savignys Zäsur mit Gans 1828, siehe III. (13). 9. Für die politischen Urteile und Zuordnungen sind die Zeiten vorbei, in denen man mit wenigen Stellen wie Savignys angeblicher Revolutionsangst von 1831 oder seiner angeblich kapitalistischen Begeisterung über den vitalen Hamburger Hafen 1817 ganze Lebenshaltungen erledigte. Seine politischen Urteile sind durchgehend analysiert, die Theorie ebenfalls. Sie entsprechen seiner allgemeinen, vermittelnden Konzeption, jenseits von Revolution und Restauration und sprechen die Sprache des objektiven Idealismus (Rückert 1984). Für letzteres wurde die Probe an Exempeln gefordert (Kiefner 1995). Handelt es sich nur um allgemeine, folgenlos schwebende Reden? Die untersuchten Briefbelege behandeln immerhin konkrete politische Vorgänge. In der Zeit vergleichende Analysen seiner zahlreichen rechtspolitischen Gutachten könnten vieles genauer zeigen.

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Als geeignete historische Kategorie erscheint nach wie vor das von Epstein geprägte und begründete Stichwort ,reformkonservativ‘, siehe III. (14). Das schließt sehr deutliche Abgrenzungen gegen „das trostlose ABC von Liberalismus“ (18.12.1830) ebenso wenig aus wie einen Antijudaismus. In der causa Gans spielen jedoch ausweislich der Briefe Savignys auch andere Faktoren mit: die in der Tat persönlich aggressiven Texte von Gans seit 1823, dann sein und Hegels höchst „anmaßendes“ Auftreten, das Savigny wie erwähnt seit 1821 vermerkte. Beides spielt eine gleichmäßig wesentliche, wenn nicht entscheidende Rolle dafür, dass Savigny Kollegenschaft mit Gans ablehnt. Es geht nicht um eine allgemeine Verwerfung jüdischer Emanzipation. Diese verteidigt er etwa gegenüber seinem Sohn Karl 1845: „Die Judenemanzipation hat es [den neueren Indifferentismus] wahrhaftig nicht verschuldet. So weit sie bey uns besteht, nämlich ohne Zulassung zu Ämtern, mit bloßer Befreiung von Beschränkung in Gewerben, war sie gerechterweise nicht zu versagen. Wo sie uns über den Kopf wachsen, liegt es blos an den Schwächen, die wir, die Christen selbst darbieten“ (Kiefner 1995, 452 mit Katalog 639 Antiquariat Stargardt 1989, 147–151). Diese Quellen wurden leider in private Hand versteigert und sind verschlossen. Auch solche Forschungslücken bestehen nach wie vor. 10. Nie war zweifelhaft, wie sehr Savigny auch eine religiöse Seite pflegte. So emotional der Trost der Lieblings-Trostbücher barg, er nimmt auch dieses Thema zugleich durchaus rational. Die sonst grundlegenden Stichworte für seine Denkfiguren und Methode passen hier besonders gut (Rückert 2009).

X. Ausblick Wenn der Überblick einige Akzente auch für weniger diskutierte Felder geklärt hat, kann das genügen. Er kann nicht umfassend sein. Es ging vor allem um den „Frankfurter in Berlin“, um einen etwas biographischeren Zugang. Die Risiken dabei sind noch größer als in den mehr juristischen Feldern. Savignys Zeit, auch seine schöne Sprache, sind uns in Wahrheit ganz fern und fremd. Bewusst wurde nicht etwas wie der Savignysche Charakter gesucht, so reizvoll das wäre. Aber derart kühne Einfühlungen erfordern noch ganz andere Wege – wenn sie überhaupt wissenschaftlich überzeugen und gelingen können. Die Wucht der Fakten wird deutlich geworden sein. Sie zu überblicken, etwas zu ordnen und einige bestimmende Züge anschaulich hervorzuheben – das kann die Distanz mildern und unser Verständnis befördern. Savigny hat Berlin die Treue gehalten und tief beeindruckt. Nehmen wir am Ende die Trauerfeier im Hause am 28. Oktober und die größere am 29. November 1861 zum Zeugnis. Die Berliner „Deutsche Gerichtszeitung“ berichtete ausführlich über letztere (18.12.1861). Die Feier ging aus von der

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„Juristischen Gesellschaft zu Berlin“ und brachte auch schon die Gründung der Savigny-Stiftung, der König zeichnete als erster, Wien war gleichmäßig beteiligt. Eine selten große Galerie von gelehrten und praktischen Berühmtheiten erschien, auch die „Allerhöchsten Herrschaften“, d.h. Königspaar und Prinzen persönlich. Sie waren schon am 28.10.1861 erschienen und dazu die Professoren im Talar (Stoll III 95). Ein „Preußischer Kopf“, wie man in Berlin gemeint hat (Denneler 1985) war er damit nicht geworden. Seine Herkunft war die Reichsstadt, seine Bühne das ganze Deutschland, das gebildete Europa, seine Zeit die verlängerte Goethezeit, seine Botschaft „Geisteswissenschaft“, sein Beruf die Hebung von „Geist“ und Gesinnung des Juristenstandes: „Was uns im Großen und Ganzen am meisten helfen kann, ist allein ein wissenschaftlicher Geist, der das Geschäft des Juristen, auch das gewöhnliche praktische Geschäft, zu veredeln im Stande ist“ (Stimmen, 187). Das schrieb er 1816, es blieb ihm gültig und es gelang ihm, sehr viele sehr lange dafür zu begeistern. Literatur- und Quellennachweise Die Liste will nicht absolut vollständig sein und beschränkt sich auf die Zeit nach ca. 1980. Das ist natürlich kein Urteil über die ältere Forschung. Recht vollständige Nachweise ergibt eine Kombination der Artikel von D. Nörr Friedrich Carl von Savigny, Neue deutsche Biographie 22 (2005) 470–472, mit J. Schröder Friedrich Carl von Savigny, in: Kleinheyer/Schröder (Hrsg.) Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten5, 2008, und für die ältere Literatur Rückert 1993 und 1984 (siehe unten), sowie Luig/Dölemeyer Quad. fiorentini 8/1979 (1980) 501–558. Savignys eigene Titel stehen oben in der Faktentabelle. Die Quellen stehen unter den Herausgebernamen. Akamatsu/Rückert (Hrsg.) Friedrich Carl von Savigny. Politik und Neuere Legislationen. Materialien zum „Geist der Gesetzgebung“, 2000. von Arnswaldt Savigny als Strafrechtspraktiker. Ministerium für die Gesetzrevision (1842–1848), 2003 [mit Rezension Rückert, forum hist. iuris, 11.4.2006]. Avenarius Savignys Lehre vom intertemporalen Privatrecht, 1993. Ders. (Hrsg.) Friedrich Carl von Savigny, Pandekten. Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2008. Baums Die Einführung der Gefährdungshaftung durch Friedrich Carl von Savigny, ZRG GA 104 (1987) 277–282. Behrends Geschichte, Politik und Jurisprudenz in Savignys System des heutigen Römischen Rechts, in: Römisches Recht in der europäischen Tradition, 1985, 257–321. Bethmann-Hollweg Erinnerung an Friedrich Carl von Savigny als Rechtslehrer, Christ- und Staatsmann, ZsfRechtsgeschichte 5 (1866) 42–81.

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Wilfried Küper August Wilhelm Heffter (1796–1880)

August Wilhelm Heffter (1796–1880) Ein preußischer Kriminalist und Universaljurist im 19. Jahrhundert* WILFRIED KÜPER

I. August Wilhelm Heffter – ein Vergessener . . . . . . . . . . . . . II. Zur Biographie August Wilhelm Heffters . . . . . . . . . . . . . . 1. Generalia zu Heffters Vita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Biographisch-historische Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . a) Heffter und die „Judenfrage“ der Berliner Universität . . . b) Heffter als Richter – der „Prozess Twesten“ . . . . . . . . . . c) Heffter als preußischer Parlamentarier . . . . . . . . . . . . . . d) Heffter und die preußische „Gesetzrevision“ . . . . . . . . . e) Heffter und die Einführung des deutschen Schwurgerichts III. August Wilhelm Heffters monographisches Werk – eine Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vom römischen Recht zum praktischen Positivismus . . . . . . 2. Heffters Beiträge zum Fürstenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die letzte Monographie: „Non bis in idem“ . . . . . . . . . . . . IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. August Wilhelm Heffter – ein Vergessener In seinem Lebensrückblick berichtet Gustav Radbruch (1878–1949) über eine Begegnung, die er als junger Doktorand mit dem „alten Kriminalisten“ Albert Friedrich Berner (1818–1907) in Berlin hatte. Am Ende des Gesprächs soll Berner „mit bewegter Stimme“ gesagt haben: „Vergessen Sie mich nicht, wenn ich einmal tot bin.“1 Von August Wilhelm Heffter (1796– * Für ihre Unterstützung bei der Ermittlung des Materials danke ich Herrn Daniel Frauendorf (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Institut für geschichtliche Rechtswissenschaft) und Herrn Fabian Schellhaas (Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Lehrstuhl Prof. Dr. Gerhard Werle). 1 Radbruch Der innere Weg – Aufriß meines Lebens2, 1961, 56 f.; auch in: Kaufmann (Hrsg.) Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Band 16, Biographische Schriften, bearbeitet von Spendel, 1983, 167 (211).

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1880), bei dem Berner studiert hatte und dessen Berliner Fakultätskollege er später wurde,2 wissen wir nicht, ob auch er befürchtete, nach seinem Tod bald vergessen zu werden. Dieses Schicksal hat jedoch sein Lebenswerk noch deutlicher getroffen als dasjenige des um eine Generation jüngeren Berner. Freilich „vergisst“ die Wissenschaftsgeschichte niemanden ganz, der in seiner Disziplin zu seiner Zeit Bedeutung erlangt hat. Doch ist die Erinnerung an Heffters Werk heute so stark verblasst – hat gleichsam nur noch den einst berühmten Namen bewahrt –, dass man nachgerade von einem „Vergessensein“ sprechen darf. In der bekannten Darstellung der „deutschen und europäischen Juristen aus neun Jahrhunderten“ (2008), die auch „für die Gesamtentwicklung weniger repräsentative“ Vertreter der Jurisprudenz berücksichtigt,3 fehlt sogar sein Name; und schon Eberhard Schmidts „Geschichte der deutschen Strafrechtspflege“ (1965) erwähnt Heffter beim Überblick über die Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts nur flüchtig am Rande.4 Offenbar gilt die enthusiastische Beurteilung seines ersten (anonymen) Biographen längst nicht mehr, der 1880 kurz nach Heffters Tod schrieb:5 „Wie Heffter als Universitätslehrer und als praktischer Jurist Jahrzehnte hindurch als der Besten Einer tätig gewesen ist, so hat er auch durch seine schriftstellerischen Arbeiten, welche vielfach von geradezu grundlegender und epochemachender Bedeutung waren, seinem Namen eine hervorragende Stelle in der Literatur der Rechtswissenschaft gesichert.“

Seit Ernst Landsbergs Werkbiographie in dessen grundlegender „Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft“ (1910)6 hat sich mit Heffter – über kursorische biographische Ausführungen7 hinaus – ersichtlich niemand 2

Dazu näher Alda Albert Friedrich Berner – Eine Biographie, Diss. Münster 1980, 6 ff., 10. Heffter unterstützte Berners Bewerbung um eine Professur an der Juristischen Fakultät. Zu Berner vgl. die Hinweise bei Kleinheyer/Schröder (Hrsg.) Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten – Eine biographische Einführung in die Geschichte der Rechtswissenschaft5, 2008, 485; sowie namentlich Schild Nachwort, in: Berner Lehrbuch des Deutschen Strafrechts (Neudruck der 18. Auflage 1898), 1986/87, 753 ff. 3 Kleinheyer/Schröder (Fn. 2), Vorwort VI. 4 Eb. Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege3, 1965, 283. 5 L. ADB, Band 11, 1880, 250 (252) – Zitat geringfügig gekürzt; Hervorhebungen – wie in diesem Beitrag generell – nicht im Original. Wiedergabe wörtlicher Zitate aus der älteren Literatur – mit Ausnahme der Titel von Schriften und Personen – in orthographisch modernisierter Fassung. 6 Landsberg Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Abt. III, 2. Halbband, 1910, 298 ff., 392, 650 ff. und passim, Noten S. 132 ff., 186, 279 und passim. – Zu Landsberg vgl. Kleinheyer/Schröder (Fn. 2), 513, m.w.N. 7 Heymann Hundert Jahre Berliner Juristenfakultät, in: Liebmann (Hrsg.) Die Juristische Fakultät der Universität Berlin (usw.) – Festgabe der Deutschen Juristenzeitung zur Jahrhundertfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität, 1910, 3 (19, 37 f.), mit Porträt Heffters Tafel 12; Ogris NDB, Band 8, 1969, 202; Teichmann in: von Holtzendorff (Hrsg.)

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mehr gründlicher beschäftigt. Dies mag auch an seinem vielseitigen, nur schwer überschaubaren Werk liegen, von dem noch zu sprechen sein wird. Immerhin ist unlängst, wenngleich eher zufällig, wieder an August Wilhelm Heffter erinnert worden: in einer Dokumentation der „Briefe deutscher Strafrechtler an Karl Josef Anton Mittermaier“ (2005), die auch einige Briefe Heffters aus der Zeit von 1833 bis 1857 enthält.8 Die Herausgeberin des Briefbandes übernimmt darin Landsbergs respektvolles, aber eigentümlich distanziert-unfreundliches Urteil über Heffter als einen „in allen Sätteln gewandten Arbeiter“9 und resümiert, dass sein Werk „bleibende Spuren in der Wissenschaftsgeschichte“ nicht hinterlassen habe.10

II. Zur Biographie August Wilhelm Heffters 1. Generalia zu Heffters Vita Wer war August Wilhelm Heffter?11 Er wurde am 30.4.1796 in Schweinitz an der Schwarzen Elster geboren. Sein Vater Johann Christian (1746-1830) war dort „General-Akzise- und Geleits-Kommissar“ des damals sächsischen Kurkreises sowie Advokat und „Patrimonialgerichts-Direktor“ mehrerer adliger Gerichtsortschaften. Der Sohn wurde anfangs von Hauslehrern unterrichtet und besuchte sodann (1808-1813) die Fürstenschule in Grimma. Der Beginn seines Studiums fällt in die Zeit der deutschen Befreiungskriege. Heffter wollte zunächst Theologie studieren und ließ sich im Sommer 1813 an der Universität Wittenberg immatrikulieren. Weil Kriegsereignisse – Belagerung Wittenbergs durch französische Truppen – dort den Vorlesungsbeginn verhinderten, bezog Heffter, inzwischen zum Rechtsstudium entschlossen, im Herbst 1813 die Universität Leipzig und zum Winter 1815 die Berliner Universität, wo er namentlich bei Eichhorn und Savigny12 VorRechtslexikon, Band II3, 1881, 302; N.N. in: Killy/Vierhaus (Hrsg.) Deutsche Biographische Enzyklopädie, Band 4, 1996, 477. Vgl. auch die Hinweise unten Fn. 8. 8 Jelowik (Hrsg.) Briefe deutscher Strafrechtler an Karl Josef Anton Mittermaier 18321866, 2005, 211 ff. Der Band enthält auch einige biographische Angaben, Hinweise zu monographischen Schriften und zu Literatur über Heffter sowie in den Anmerkungen (zu den Briefen) Nachweise zu einzelnen Veröffentlichungen Heffters. – Eine kurz vor Abschluss des Manuskripts erschienene Dissertation befasst sich neuerdings näher mit Heffters letzter Monographie zum „Fürstenrecht“ (unten Fn. 175): Gottwald Fürstenrecht und Staatsrecht im 19. Jahrhundert, 2009, 177 ff. 9 Landsberg (Fn. 6), Noten S. 279 (Anm. 10 a.E.). 10 Jelowik (Fn. 8), 211 f. 11 Ausgangsbasis der folgenden biographischen Skizze ist die oben in Fn. 5, 7, 8 angegebene Literatur zur Biographie Heffters. 12 Zu Karl Friedrich Eichhorn (1781–1854) und Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) vgl. statt vieler die Hinweise bei Schröder in: Kleinheyer/Schröder (Fn. 2), 124 ff., 366 ff.

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lesungen hörte. 1816 bestand er beim Kammergericht in Berlin die erste juristische Staatsprüfung und wurde am Stadtgericht Jüterbog als „Auskultator“ beschäftigt;13 gleichzeitig leistete er als „einjährig Freiwilliger“ Wehrdienst bei einem „Schützen-Bataillon“. Nach bestandener zweiter juristischer Prüfung wurde Heffter 1817 zum Referendar ernannt. Während seines Referendariats beim Berliner Stadtgericht war er – offenbar aus finanziellen Gründen14 – zeitweise zugleich „Hilfsarbeiter“ im Justizministerium, bei einer Bank und bei „Justizkommissarien“. 1820 legte Heffter in Berlin die dritte juristische Staatsprüfung ab. Auf eigenen Wunsch, weil er die neuen preußischen Rheinprovinzen15 kennen lernen wollte, wurde er 1820 als Assessor beim „Rheinischen Appellationshof“ in Köln angestellt. Hier verfasste der „Königl. Preußische Appellazionsgerichts-Assessor“ – mit 25 Jahren – während der „geringen Muße neben Berufsarbeiten“ (Heffter) sein erstes wissenschaftliches Werk: ein 1822 erschienenes, 500 Seiten umfassendes Buch über die Gerichtsverfassung des antiken Athen,16 „das in der gelehrten Welt Aufsehen erregte“.17 Im November 1822 wurde er zum Landgerichtsrat in Düsseldorf ernannt. Schon im folgenden Jahr erhielt der junge Richter zwei ungewöhnliche Angebote: die Stelle eines Oberlandesgerichtsrates in Hamm und den Ruf auf eine ordentliche Professur an der Juristischen Fakultät der Universität Bonn, den er dem Erfolg seines Erstlingswerks zu verdanken hatte.18 In Bonn sollte er, entgegen seinen rechtshistorischen Neigungen, „die in der Prozessualistik und den praktischen Fächern empfundene Lücke ausfüllen“.19 Heffter, der nicht promoviert war, entschied sich für das akademische Lehramt und trat es 1823 an, nachdem die Bonner Fakultät dem 27-Jährigen beim Stiftungsfest der Universität den Titel eines „Doktors der Rechte honoris causa“ verliehen hatte.20 – 1824 13 Vgl. dazu auch die Personalakte im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, GStA PK I. HA Rep. 97 Obertribunal Nr. 236. 14 Angedeutet bei L. (Fn. 5), 251: „geringe Unterstützung aus der Heimat“. 15 Beim Wiener Kongress (1814/15) hatte Preußen für abgetretene Gebiete u.a. Kurtrier, Kurköln, Aachen, Jülich und Berg erhalten; dort galt weiterhin überwiegend französisches Recht. Zur territorialen Neuordnung Preußens vgl. etwa Mieck Preußen von 1807 bis 1850 – Reformen, Restauration, Revolution, in: Büsch (Hrsg.) Handbuch der preußischen Geschichte, Band II, 1992, 3 (75 ff.). 16 Heffter Die athenäische Gerichtsverfassung: ein Beytrag zur Geschichte des Rechts, insbesondere zur Entwickelung der Idee der Geschwornengerichte in alter Zeit, Köln 1822. Zitate aus Titelblatt und Vorwort. 17 L. (Fn. 5), 252. 18 Landsberg (Fn. 6), 299. 19 Von Bezold Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität von der Gründung bis zum Jahr 1870, 1920, 200. 20 N.N. in: Wenig (Hrsg.) Verzeichnis der Professoren und Dozenten der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818–1968, 1968, 110. Als „Fach“ ist angegeben: „Prozeßtheorie, Praktika, Geschichte der bestehenden Rechte und Rechtsverfassungen“.

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heiratete er Elise Müller (1801–1886), eine Tochter des „Geheimen OberJustizraths“ und späteren „Wirklichen Geheimen Cabinetsraths“ Carl Christian Müller (1773–1849).21 Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor.22 Ein Enkel August Wilhelm Heffters war der bedeutende Mathematiker Lothar Heffter (1862–1962).23 Die Bonner Universität wählte 1828 den 32-jährigen Heffter zum Rektor.24 Trotz der „für ihn angenehmen Verhältnisse“25 in Bonn blieb er dort aber nicht lange. Vor allem sein Wunsch, „der eigenen und seiner Ehegattin Geburtsheimat näher zu sein“ – so Heffters erster anonymer Biograph26 –, wahrscheinlich aber auch mit seiner Lehrtätigkeit zusammenhängende Gründe27 bewogen ihn, schon 1829 um die Versetzung an eine andere preußische Universität zu bitten. Dem Wunsch wurde durch die Berufung an die Universität Halle entsprochen, wo Heffter mit dem Sommersemester 1830 seine Lehrtätigkeit aufnahm.28 Nach dem frühen Tod Salchows (1829)29 war die strafrechtliche Lehre in Halle gänzlich verwaist;30 die dortige Fakultät befürchtete, dass sich deshalb die ohnehin geringe Zahl der Rechtsstudenten noch erheblich vermindern werde. Heffter konnte daher an seine Versetzung nach Halle, als sie ihm zugesagt war, „Bedingungen knüpfen“, zu denen ein Gehalt von „1200 Talern“ gehörte. Er war in Halle der erste Professor der Rechte, der namentlich für ein spezielles Fachgebiet („besonders für Criminalrecht“) berufen wurde. 1831/32 war er dort Rektor der Universität. In Halle, wo Heffters „Lehrbuch des gemeinen deutschen Criminalrechts“ (1833) entHeffters Antrittsrede (inhaltliche Ankündigung): Facta de antiquo iure gentium – prolusione ad audiendam orationem aditialem (usw.), 1823. 21 Vgl. auch unten Fn. 33. 22 Hinweise dazu und zu Nachfahren bei Ogris (Fn. 7), 202 l. Sp. 23 Zu ihm Gericke NDB (Fn. 7), 202 f.; N.N. (Fn. 20), 110, mit Nachweisen zur Literatur. Lothar Heffter hat ein schmales Buch mit Lebenserinnerungen geschrieben: Beglückte Rückschau auf neun Jahrzehnte – Ein Professorenleben, 1952, das einige – biographisch aber kaum bemerkenswerte – Erinnerungen an den Großvater enthält (6 ff., 17, 16). Vgl. auch unten Fn. 49. 24 Näheres zur Rektorwahl bei von Bezold (Fn. 19), 200 f., 283 f. – Die Rektoren waren damals formell nur „Prorektoren“ – „Rektor“ war der Landesherr. 25 So L. (Fn. 5), 251. 26 Wie Fn. 25. 27 Dazu Jelowik Tradition und Fortschritt – Die hallesche Juristenfakultät im 19. Jahrhundert, 1998, 29 mit Fn. 174 („nachteilige Konkurrenz“ mit anderen Dozenten). Zu Unstimmigkeiten bei der Rektorwahl, die noch nachwirken mochten, vgl. von Bezold (Fn. 19), 201, 283. 28 Zu Heffters Wechsel nach Halle – dem keine reguläre „Berufung“ zugrunde lag – und zu seiner dortigen Tätigkeit näher Jelowik (Fn. 27), 29, 146 und passim. 29 Zu Johann Christian Salchow (1782–1829), u.a. Verfasser eines Lehrbuchs des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (3. Auflage 1823), auch belletristischer Literatur, vgl. Brümmer ADB, Band 30, 1890, 211. 30 Zum Folgenden Jelowik (Fn. 27), 29 mit Fn. 172, 175, S. 146, 171.

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stand,31 hielt er auch Vorlesungen über preußisches Recht und Völkerrecht. Seine im Winter 1831/32 gehaltene Völkerrechtsvorlesung hatte 85 Hörer, eine Zahl, die in diesem Fach im 19. Jahrhundert kein zweites Mal erreicht wurde. Doch auch in Halle, wo er 1832 bei der Cholera-Epidemie ein Kind verlor und selbst schwer an Cholera erkrankt war,32 blieb Heffter nur kurze Zeit. Durch Vermittlung seines Schwiegervaters, des preußischen Kabinettsrats Müller, der vermutlich schon bei Heffters Berufung nach Halle mitgewirkt hatte,33 erreichte er seine Versetzung an die Universität Berlin. Bereits mit Ablauf des Wintersemesters 1832/33 verließ er Halle wieder.34 In Berlin wurde Heffter von der in den Universitätsstatuten vorgesehenen Verpflichtung befreit, sich mit einem „gedruckten Programm und einer öffentlichen Rede zu habilitieren;35 er erhielt eine „Gehaltszulage von 100 Talern“.36 Mit seinem Wechsel nach Berlin – schrieb Heffter im Februar 1833 aus Halle an Mittermaier – werde „ein Wunsch, ja nicht einer, sondern mehrere befriedigt; ich habe in Berlin viele Freunde, Gelegenheit zu mannigfacher Regsamkeit und vieles andere, was mir hier fehlte“.37 An der 1810 gegründeten Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin lehrte August Wilhelm Heffter bis ins hohe Alter (1879).38 Einige seiner Berliner 31

Heffter Lehrbuch des gemeinen deutschen Criminalrechts mit Rücksicht auf die nicht exclusiven Landesrechte, 1833; ab der 4. Auflage 1848: Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts mit Rücksicht auf ältere und neuere Landesrechte; 6. Auflage 1857. 32 Vgl. dazu auch den Brief an Mittermaier vom 9./14.2.1833, bei Jelowik (Fn. 8), 213. Zur Cholera-Epidemie in Halle, der damals etwa 1200 Menschen zum Opfer fielen, Jelowik (Fn. 27), 30 f.; zu den Epidemien in Preußen (1831/32, 1837, 1848/51) vgl. die Hinweise bei Mieck (Fn. 15), 89, 161. 33 Carl Christian Müller (1773–1849) war als Kabinettschef Friedrich Wilhelms III. und seines Nachfolgers einer der einflussreichsten Männer in Preußen. Vgl. Treitschke Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert (1879–1894), Nachdruck 1927 (Hendel), Teil IV, 709, Teil V, 165, 456 und passim. Erinnerungen an ihn bei L. Heffter (Fn. 23), 8 f. 34 Nach Jelowik (Fn. 27), 29. – Das Verzeichnis der Mitglieder des Berliner „Spruchkollegiums“ bei Seckel Geschichte der Berliner Fakultät als Spruchkollegium – Eine Skizze nach den Akten, in: Lenz Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Band 3, 1910, 448 (463), weist als Amtsbeginn in Berlin den 8.2.1833 aus. Andere Datierung bei L. (Fn. 5), 251, und bei Landsberg (Fn. 6), Noten S. 133. 35 Vgl. dazu die im Staatsarchiv (Fn. 13) befindliche Abschrift eines ausführlich begründeten Antragsschreibens Heffters vom 7.5.1833 an das zuständige Ministerium (GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Vf Personalakten, Lit. H Nr. 26) sowie das Schreiben des Ministeriums an die Juristische Fakultät vom 10.5.1833 (Archiv der HumboldtUniversität, Personalakte Heffter). 36 Vgl. Personalakte (Fn. 35) mit eingehend begründetem „Gesuch“ Heffters vom 8.12.1833, aus dem sich mittelbar der Wunsch nach einer Zulage von „400 Talern“ ergibt. 37 Brief vom 9./14.2.1833, bei Jelowik (Fn. 8), 213 (215). 38 Erinnerungen an ein Kolleg Heffters zum Völkerrecht im Sommer 1874 (!) bei Liebmann (Fn. 7), 506. In seinem Schreiben vom 8.12.1833 (Fn. 36) spricht Heffter von „dreibis vierstündigen täglichen Vorlesungen“.

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Vorlesungen, z.B. über „Rheinpreußisches Recht“, „Kriminalprozeß“ und „Preußischen Zivilprozeß“, sind in Mitschriften seiner Hörer überliefert39 und zeigen die Breite seiner Lehrtätigkeit. Im Amtsjahr 1836/37 war Heffter Rektor der Universität; insgesamt sechsmal – zuerst 1834/35, zuletzt 1871/72 – war er Dekan der Juristischen Fakultät.40 Als ordentlicher Professor gehörte er zugleich dem „Spruchkollegium“ der Fakultät an.41 1838 übernahm er in der Nachfolge Klenzes42 den Vorsitz des Kollegiums,43 ein Amt, das er erst 1875, als fast 80-Jähriger, niederlegte.44 Heffter war als Mitglied dieses Gremiums nicht nur an dessen Entscheidungen beteiligt, sondern – in manchem damals „berühmt gewordenen Rechtsstreit“45 – auch als Gutachter der Berliner Spruchfakultät tätig. So erstattete er u.a. ein Rechtsgutachten „in Sachen der Stadt Zürich gegen den Fiskus des Kantons“ (1854) und – in lateinischer Sprache – ein Gutachten „zugunsten des französischen Bürgers Dubois de Luchet wegen Bedrückung durch das höchste Mexikanische Gericht“ (1855).46 1873 konnte Heffter mit dem 50-jährigen Doktorjubiläum zugleich seine ebenso lange Tätigkeit als Universitätslehrer feiern, 1874 auch die goldene Hochzeit; anlässlich des Doktorjubiläums wurde er mit einer Festschrift geehrt.47 Mit vielen hohen Orden ausgezeichnet,48 starb August Wilhelm Heffter im 84. Lebensjahr am 5.1.1880 in Berlin. Nach den Erinnerungen seines Enkels Lothar Heffter, der auch die „feierliche Bestattung“ des Großvaters 39 Diese und weitere Mitschriften aus der Zeit von 1833 bis 1850 in der Bibliothek der Humboldt-Universität (Handschriftenabteilung, Signaturen Hdschr.Koll. 40, 80, 81, 82, 105, 127). 40 Vgl. die Statistische Übersicht bei Lenz (Fn. 34), 485 f. (Namen der Rektoren und Dekane). 41 Vgl. Seckel (Fn. 34), 463 (seit 21.5.1833). 42 Zu Klemens August Klenze (1795-1838) näher Landsberg (Fn. 6), Text S. 293 und passim, Noten S. 123 (Biographie und Werkübersicht). 43 Vgl. Seckel (Fn. 34), 463: Wahl Heffters zum Vorsitzenden („Ordinarius“) am 17.7.1838. 44 Seckel (Fn. 34), 462, mit Hinweis auf die „Kündigung“ Heffters am 18.6.1875 zum 1.10.1875. 45 Seckel (Fn. 34), 466. 46 Zu den von Heffter verfassten Gutachten der Spruchfakultät näher Seckel (Fn. 34), 466 ff. 47 Festgaben für August Wilhelm Heffter zum III. August MDCCCLXXIII, 1873, mit Beiträgen u.a. von Brunner und Dernburg. Vgl. auch die Glückwünsche der Berliner Fakultät bei Liebmann (Fn. 7), 121. Zur „Feier in Friedrichsfelde“ L. Heffter (Fn. 23), 17. 48 In Heffters Personalakten werden erwähnt: (preußischer) Roter Adler-Orden 2. Klasse mit Eichenlaub; Hannoverscher Welfenorden, Kommandeurkreuz 2. Klasse; Sächsischer Albrechtsorden, Ritterkreuz; Kurhessischer Hausorden vom Goldenen Löwen; (griechischer) Erlöserorden, Großkomturkreuz. Vgl. GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Vf Personalakten, Lit. H Nr. 26; Rep 97 Obertribunal Nr. 236; Rep. 169 A Herrenhaus, XLI Nr. 3 II J.

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geschildert hat, las er in arbeitsfreien Stunden noch im Alter die „griechischen und römischen Klassiker“.49 Heffters erster Biograph (1880), der ihn näher gekannt haben muss, kennzeichnet am Schluss seiner Lebensskizze die Persönlichkeit Heffters mit einem Pathos, aus dem Bewunderung und menschliche Sympathie sprechen: „Mit den ungewöhnlichen Geistesgaben, mit dem Reichtum und der Gediegenheit des Wissens, mit dem unermüdlichen Fleiß des gründlichen Forschers verband Heffter in seltenem Maße persönliche Bescheidenheit und Selbstlosigkeit, Schlichtheit des Wesens, Aufrichtigkeit und Lauterkeit des Charakters, Milde und Wohlwollen der Gesinnung, ein warmes Herz für Freude und Leid anderer und eine tief innerlich begründete, unerschütterliche, doch jeder Unduldsamkeit abgeneigte Festigkeit in seinem evangelisch-lutherischen Glauben. In der Hingabe an seinen Beruf und seine Studien fand er sein Glück und seine Befriedigung . . .“50

2. Biographisch-historische Besonderheiten a) Heffter und die „Judenfrage“ der Berliner Universität Aus der Geschichte der Berliner Juristischen Fakultät ist eine Episode überliefert, in der Heffter eine bemerkenswerte „Außenseiterrolle“ gespielt hat; sie betraf die „Judenfrage“.51 Um 1847 kam es in der Universität wieder zu einer Auseinandersetzung darüber, ob „jüdische Gelehrte“ zu akademischen Lehrämtern zugelassen oder, wie bisher, davon ausgeschlossen werden sollten. Die älteren preußischen Universitäten, etwa Halle und Königsberg, schlossen damals sogar Katholiken von Lehrstühlen grundsätzlich aus. Die Universität Berlin freilich, „deren Gründung in eine Epoche fiel, welche auf konfessionelle Unterschiede keinen Wert gelegt hatte, enthielt in ihren Statuten keine Zeile, die auf den Ausschluß der Juden gedeutet werden konnte“. Gleichwohl stellte sich die Juristische Fakultät nahezu einhellig weiterhin auf diesen Standpunkt. Sie begründete das insbesondere mit dem „entschieden christlichen Charakter des Rechts“, der „ähnlich wie bei der Theologie eine Trennung des Wissens von der Gesinnung verbiete“. Dabei gab es in der Fakultät nur eine Gegenstimme: die Stimme Heffters. – Einige Jahre zuvor (1840) hatte sich Heffter in einem ausführlichen „Separatvotum“ allerdings – erfolglos – gegen die Berufung 49 L. Heffter (Fn. 23), 7; zur Bestattung 26. Erinnerungen an das Arbeitszimmer im großväterlichen Haus „an der Ecke von Leipziger und Potsdamer Platz“ (mit „Pfeifengeruch“ und dem Blick durch eine Flügeltür in die Bibliothek) 6. 50 L. (Fn. 5), 254 (Zitat gekürzt). Vgl. auch Heymann (Fn. 7), 38: „ein bescheidener, schlichter, lauterer, wohlwollender Mensch“; L. Heffter (Fn. 23), 7: „große Herzensgüte“. 51 Dazu näher Lenz (Fn. 34), Band 2, 2. Hälfte, 1918, 166 ff., 171 (dort die folgenden Zitate).

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Stahls52 ausgesprochen, eines zur protestantischen Konfession konvertierten Juden. Dies jedoch nicht wegen dessen jüdischer Herkunft, sondern weil Heffter mit zentralen Gedanken zur „evangelischen Kirche“ in Stahls Schrift über die protestantische Kirchenverfassung53 nicht einverstanden war.54 b) Heffter als Richter – der „Prozess Twesten“ In Berlin war Heffter nicht nur ordentlicher Professor und Jahrzehnte lang Vorsitzender (Ordinarius) des „Spruchkollegiums“ der Juristischen Fakultät. Bereits 1837 – mit 41 Jahren – wurde er zugleich an den „Rheinischen Revisions- und Kassationshof“ berufen, das damals oberste Gericht für die französisch-rechtlichen Gebiete Preußens. Seit der Vereinigung dieses Gerichtshofs mit dem bisher für „altpreußische“ Rechtsgebiete zuständigen Obertribunal (1852)55 war Heffter Richter des nunmehr für ganz Preußen zuständigen höchsten Strafgerichts: des „Königlich Preußischen Obertribunals“ in Berlin. Er war hier – bis 1868 – als „Geheimer Obertribunalsrat“56 Mitglied eines Senats, der nach einer Mitteilung seines Richterkollegen Goltdammer57 „jährlich 2000 Kassationsurteile zu fällen“ hatte.58 Welches Ansehen und welchen Einfluss er in diesem Gremium hatte, deutet Goltdammers Bemerkung an, dass Heffter eine „große imponierende Autorität“ sei.59 Aus Heffters höchstrichterlicher Praxis ist eine Entscheidung des Preußischen Obertribunals in biographischer Erinnerung geblieben, die maßgeblich dieser „Autorität“ zugeschrieben wird.60 Sie erregte damals großes Aufsehen auch in der politischen Öffentlichkeit, fand in der Staatsrechtslehre scharfe Kritik und löste in der Presse heftige Angriffe gegen das Obertribu52 Zu Friedrich Julius Stahl (1802–1861) – ursprünglich Joël Golson – vgl. die Hinweise bei Pahlmann in: Kleinheyer/Schröder (Fn. 2), 397 ff.; zur Berufung Stahls nach Berlin näher Lenz (Fn. 51), 10 ff., 125 ff. 53 Stahl Die Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten, 1840. 54 Heffters Sondervotum mit dem Resümee, dass Stahls Auffassung „der Grundidee des Christentums geradezu widerspricht“, ist abgedruckt bei Lenz (Fn. 34), Band 4, 1910, 563 ff.; zum Mehrheitsvotum, das Heffter mit unterzeichnet hat, dort 557 ff. 55 Vgl. dazu Eb. Schmidt Rechtsentwicklung in Preußen2, 1929, 47; Sonnenschmidt Geschichte des Königlichen Ober-Tribunals zu Berlin, 1879, 308 f. 56 Zum Titel vgl. Sonnenschmidt (Fn. 55), 262; Personalakte (wie Fn. 48 a.E.). Verstreute Hinweise zu Heffter als Mitglied des Rheinischen Kassationshofs und des (neuen) Obertribunals bei Sonnenschmidt (Fn. 55), 262, 293, 303, 351, 367. – Die Bezeichnung des Gerichts als „Geheimes“ Obertribunal war bereits 1852 abgeschafft worden (Sonnenschmidt [Fn. 55], 309). 57 Zu Theodor Goltdammer (1801–1872), seit 1852 Obertribunalsrat, näher Küper GA 2003, 501 ff., ders. GA 2009, 1 ff. 58 Brief an Mittermaier vom 13.4.1854, bei Mußgnug (Hrsg.) Briefe Herrmann Theodor Goltdammers an Karl Josef Anton Mittermaier, 2007, 79, 82. 59 Brief an Mittermaier (Fn. 58), 81. Zum Kontext der Bemerkung Küper (Fn. 57, 2009), 12 mit Fn. 46. 60 Vgl. Heymann (Fn. 7), 38; L. (Fn. 5), 253.

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nal aus.61 Es handelte sich um den angeblich „unglücklichen Spruch“62 des Obertribunals vom 26.6.1867 im „Prozess Twesten“.63 Gegen einen preußischen Abgeordneten dieses Namens64 war Anklage erhoben worden, weil er in einer Parlamentsrede „verleumderische Beleidigungen“ geäußert habe. Twesten berief sich auf die „Immunitätsgarantie“ in Art. 84 I der preußischen Verfassung vom 31.1.1850. Darin war u.a. bestimmt, dass Abgeordnete wegen ihrer in dieser Funktion „ausgesprochenen Meinungen“ nur innerhalb des Parlaments, nach dessen Geschäftsordnung, „zur Rechenschaft gezogen“, nicht aber strafrechtlich verfolgt werden dürfen. Twesten wurde deshalb zunächst in zwei Instanzen mit der Begründung freigesprochen, dass der Begriff „Meinungen“ alle „Äußerungen“ umfasse, nicht allein „Resultate des Denkvermögens“, sondern ebenso die „Behauptung oder Verbreitung von Tatsachen“, also auch Verleumdungen.65 In seinem Beschluss vom 26.6.1867, dessen ausführliche Begründung von Heffter stammt, stellte sich das Obertribunal dagegen, in Anknüpfung an ein früheres Präjudiz,66 auf den Standpunkt, dass sich die Straffreiheit von Parlamentsabgeordneten lediglich auf „bloße Beleidigungen ohne verleumderischen Charakter“ erstrecke, nicht jedoch auf die „Behauptung unwahrer Tatsachen“.67 Diese damals viel angegriffene Differenzierung sollte sich – nach 80 Jahren – schließlich durchsetzen.68 Heffters eingehende Entscheidungsbegründung hat geradezu den Charakter einer wissenschaftlichen Abhandlung, in der bei der Auslegung des Verfassungsartikels entstehungsgeschichtlich, rechtsvergleichend und etymologisch argumentiert wird. Diese Argumentation führt zunächst zu dem Zwischenergebnis, dass die Verfassungsbestimmung mehrdeutig sei. Von hier aus wird sie dann aber nicht extensiv zugunsten der parlamentarischen 61 Näheres bei Sonnenschmidt (Fn. 55), 350 ff. mit Fn. 51 f.; vgl. auch Landsberg (Fn. 6), 644, 707, Noten S. 277. Kritisch namentlich Bär Die Redefreiheit der Volksvertretung und der Proceß Twesten, Preußische Jahrbücher, Band 21 (1868) 313 ff. 62 Heymann (Fn. 7), 38. Landsberg (Fn. 6), 707, spricht von einem als „traurig bekannten Beschluß“. 63 PrOT GA Band 15 (1867) 617 ff.; auch in Oppenhoff Die Rechtsprechung des Königlichen Ober-Tribunals in Straf-Sachen, Band 8, 1867, 411 ff. 64 Zu Karl Twesten (1820–1870), Mitbegründer der Nationalliberalen Partei (1866) und später Reichstagsmitglied des Norddeutschen Bundes (1867–1870), vgl. z.B. Bergsträsser Geschichte der politischen Parteien in Deutschland11, 1965 (hrsg. von Mommsen), 96, 124, 390; Renner Karl Twesten, Vorläufer der liberalen Rechtsstaatsidee – Studien zu seiner politischen Entwicklung, Diss., Freiburg i.Br. 1954. 65 Vgl. den Bericht in PrOT (Fn. 63), 618 ff., mit Hinweisen auf einen entsprechenden Beschluss des Obertribunals vom 12.12.1853 (622). 66 PrOT GA Band 14 (1866), 210 ff. (Beschluss vom 29.1.1866). 67 PrOT GA Band 15 (1867), 622 ff., 628. 68 Vgl. Art. 46 I 2 des Bonner Grundgesetzes vom 25.5.1949; anders noch Art. 30 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16.4.1871 und Art. 36 der Weimarer Verfassung vom 11.8.1919.

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Redefreiheit ausgelegt, sondern als ein die Strafbarkeit einschränkendes „Ausnahmegesetz“ restriktiv interpretiert, auf das zur Gewährleistung der Straffreiheit „Notwendige“ beschränkt. c) Heffter als preußischer Parlamentarier Im „Prozess Twesten“ war Heffter als Richter mit einem Artikel der preußischen Verfassung von 1850 konfrontiert worden, an der er in parlamentarischer Funktion früher selbst mitgewirkt hatte. Die vorangegangene, von Friedrich Wilhelm IV. nach Auflösung der preußischen Nationalversammlung69 „oktroyierte“ Verfassung vom 5.12.1848 hatte als Parlament zwei „Kammern“ eingeführt, die gemeinsam mit dem König die Gesetzgebungsgewalt ausüben sollten. Wer bei den Neuwahlen zur Kandidatur bereit war, erkannte die oktroyierte Verfassung, die zugleich eine „Revisionsklausel“ enthielt,70 grundsätzlich an. Zu den preußischen Konservativen, welche in Anerkennung der Verfassung, unter dem Vorbehalt späterer „Revision“, die Einführung einer „konstitutionellen Monarchie“ anstrebten, freilich „mit einem fest gegründeten Thron und einer starken Regierung“,71 gehörte auch Heffter. 1849 wurde er als Abgeordneter in die „Erste Kammer“72 gewählt,73 deren Mitglied er bis 1852 war.74 Die Hauptaufgabe der „Kammern“ bestand zunächst in der „Revision“ der vom König verfügten Verfassung. Heffter war intensiv an den Beratungen beteiligt, die alsbald zur „revidierten“ preußischen Verfassung vom 31.1.1850 führten. Er soll wesentlich dazu beigetragen haben, dass in der langen Nachtsitzung vom 30./ 31.1.1850 die neue Verfassung auch von der Ersten Kammer in der zuvor von der Zweiten Kammer beschlossenen Form angenommen wurde.75 69

Vgl. dazu und zum historischen Hintergrund allgemein etwa Mieck (Fn. 15), 272 ff. Art. 112 (i.V.m. Art. 60, 106); Text der Verfassung bei Huber Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Band 1, 1961, 385 ff. 71 Vgl. den Berliner „Wahlaufruf“ konservativer Kandidaten aus dem Januar 1849 („Was wir wollen“), abgedruckt bei Mußgnug (Fn. 58), 209; dazu auch Küper (Fn. 57, 2003), 509. 72 Zur Entstehungsgeschichte der Ersten Kammer und des späteren „Herrenhauses“ vgl. etwa Grünthal Parlamentarismus in Preußen 1848/49–1857/58 (usw.), 1982, 152 ff., 226 ff. und passim; Jordan Friedrich Wilhelm IV. und der preußische Adel (usw.), 1909, 57 ff.; Spenkuch Das preußische Herrenhaus – Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtags 1854–1918, 1998, 43 ff. 73 Vgl. Fischer Geschichte der preußischen Kammern (usw.), 1849, Verzeichnis der Mitglieder S. 507 (509): gewählt im Wahlkreis Wittenberg. – Zur Ersten Kammer als ursprünglich reiner „Wahlkammer“ vgl. die Hinweise bei Küper (Fn. 57, 2003), 510 mit Fn. 53. 74 Hinweise zu Heffters Beiträgen in der Ersten Kammer bei Fischer (Fn. 73), 25, 52, 181 sowie bei Stölzel Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung (usw.), Band 2, 1889, 658 ff., 671 ff. und passim (671 zur Wahl Heffters). Vgl. auch unten Fn. 77. 75 Vgl. Heymann (Fn. 7), 37; L. (Fn. 5), 251; Landsberg (Fn. 6), Noten S. 133; Stölzel (Fn. 74), 696 (zur Abstimmung). Vgl. auch unten Fn. 77 a.E. 70

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Heffter ist sodann als Abgeordneter der Ersten Kammer vor allem dadurch hervorgetreten, dass er sich – 1851/52 – in der sog. „Pairsfrage“ für eine Organisation der Kammer i.S. eines ohne Wahlelemente konstituierten Ober- oder Herrenhauses, einer reinen „Pairskammer“, eingesetzt hat.76 „Das System“ – so legte er in seiner veröffentlichten „Rede über die Pairiefrage“ dar – „ist sehr einfach: Der König ernennt, und zwar entweder erblich oder aber lebenslänglich.“77 Heffter hatte mit seiner Initiative, die als „Antrag Heffter“ in die Geschichte des preußischen Parlamentarismus eingegangen ist,78 in der Ersten Kammer Erfolg, doch verweigerte die Zweite Kammer die notwendige Zustimmung. 1854/55 kam es gleichwohl zur Etablierung eines „Preußischen Herrenhauses“, das grundsätzlich Heffters Vorstellungen entsprach. Als „Vertrauenspair“ des Königs – nunmehr Wilhelms I. – wurde er 1861 Mitglied dieses Hauses auf Lebenszeit79 und im gleichen Jahr zum „Kronsyndikus“ der preußischen Monarchie ernannt. In dieser Eigenschaft erstattete Heffter häufig Gutachten, namentlich zu dynastischen („fürstenrechtlichen“) Rechtsproblemen sowie u.a. über den Wilhelm I. als Oberhaupt des Deutschen Reiches zustehenden Kaisertitel („Deutscher Kaiser“).80 d) Heffter und die preußische „Gesetzrevision“ Außer der Verfassungsrevision hatte für Heffter noch eine „Revision“ anderer Art biographische Bedeutung: die preußische „Gesetzrevision“ – jenes weitläufig-komplexe Reformunternehmen Preußens, das sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts mit Unterbrechungen über mehrere Jahrzehnte erstreckte und auf dem Gebiet des Strafrechts schließlich zum „Strafge76

Näheres zu diesem Komplex, zum „Antrag Heffter“, seinen Modifikationen und seinem Schicksal sowie zur parlamentarischen Diskussion etwa bei Grünthal (Fn. 72), 282 ff. und passim; Jordan (Fn. 72), 175 ff., 219 ff. Vgl. auch Diwald (Hrsg.) Von der Revolution zum Norddeutschen Bund (usw.), Teil I (Tagebücher E.L. von Gerlach), 1970, 304 mit Fn. 81, 306. 77 Rede über die Pairiefrage, gehalten in der 40sten Sitzung der Ersten Kammer am 5. März 1852 – Von dem Abgeordneten August Wilhelm Heffter, 1852, 3. – Aus dieser Rede ergibt sich auch, dass Heffter die in Art. 65 vorgesehene Wahl der Ersten Kammer schon bei der Annahme der „revidierten“ Verfassung nicht gebilligt hatte; doch habe er damals „mit der Majorität gestimmt“, um einen „endlichen Verfassungsfrieden“ zu erreichen (S. 1). 78 Zu den Auswirkungen des Antrags auf den „Desintegrationsprozess“ im preußischen Parlamentarismus näher Grünthal (Fn. 72), 396 ff. 79 Bei der Auswahl der dem König zur Ernennung vorzuschlagenden Kandidaten war Heffter zunächst offenbar gescheitert; vgl. den Hinweis bei Spenkuch (Fn. 72), 371. 80 Vgl. dazu L. (Fn. 5), 252 f., mit Erwähnung weiterer Gutachten. – Zu dem Gutachten des Kronsyndikats in der schleswig-holsteinischen Erbfolgefrage (1864), bei dem Heffter Hauptberichterstatter war, aber mit seinem Votum in der Minderheit blieb, vgl. Huber Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band I, 1957, 501 f., mit positiver Bewertung des Votums.

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setzbuch für die Preußischen Staaten“ vom 14.4./1.7.1851 führte.81 Als der preußische Justizminister Danckelmann die Gesetzrevision 1825/26 wieder aufnahm,82 forderte er auch Heffter, der damals (1827) eine Schrift zur Einführung des preußischen Rechts in den bisher französisch-rechtlichen Rheinprovinzen vorlegte,83 zur Mitarbeit auf.84 Doch lehnte Heffter – zu dieser Zeit noch Professor in Bonn und Rektor der Universität – 1828 das Angebot Danckelmanns ab.85 Bei Heffters Wechsel von Halle nach Berlin war inzwischen, nach dem Tod Danckelmanns (1830), das preußische Justizministerium in zwei Ministerien geteilt86 geteilt und Kamptz zum Minister für die Gesetzrevision ernannt worden.87 Seit dieser Zeit war auch Heffter mit verschiedenen Arbeiten an den Reformen beteiligt.88 Unter den Mitgliedern der offiziellen Revisionskommissionen und ihrer „Deputationen“ sucht man seinen Namen allerdings vergeblich.89 Doch hatte Kamptz zugleich eine Art halbamtliches Revisionskollegium von „außerordentlichen Mitgliedern“ des Ministeriums gegründet – oder aus der Ära Danckelmann fortgeführt –, in dem er „eine große Summe bester Kräfte des Landes“ (Stölzel) vereinigen wollte: „Dazu gehörte der von Halle im Januar 1833 nach Berlin berufene Professor Heffter.“90 Kamptz selbst erwähnt ihn in seinem 81 Die wechselvolle Entwicklung ist im 19. Jahrhundert (für das Strafrecht) oft dargestellt worden; vgl. dazu die Hinweise bei Küper (Fn. 57, 2003), 511 mit Fn. 58. Zuletzt näher von Arnswaldt Savigny als Strafrechtspraktiker – Ministerium für die Gesetzrevision (1842–1848), 2003, 4 ff., 14 ff., 29 ff. Chronologische Übersicht bei Regge, in: Schubert/ Regge Gesetzrevision (1825-1848), I. Abteilung, Band 1, 1981, XXV ff. 82 Alexander Graf von Danckelmann (1768–1830), preußischer Justizminister 1825– 1830. Zur Gesetzrevision unter Danckelmann vgl. von Arnswaldt (Fn. 81), 14 ff. 83 Heffter Gedanken über die Einführung der allgemeinen preußischen Gesetzgebung in den preußischen Rhein-Provinzen, 1827. 84 Zur „Gesetz-Revisions-Kommission“ unter Danckelmann – der u.a. Savigny angehörte – und zu der für die Strafrechtsrevision zuständigen „besonderen Deputation“ vgl. Berner Die Strafgesetzgebung in Deutschland vom Jahre 1751 bis zur Gegenwart, 1867, 218 f.; Kamptz Aktenmäßige Darstellung der Preuszischen Gesetz-Revision, 1842, 72 ff. mit Fn. 30 f. – Nach Kamptz scheint noch eine weitere „Beratungskommission“ existiert zu haben, in der Heffter möglicherweise mitwirken sollte. 85 Dazu von Bezold (Fn. 19), 202 f. 86 Zur Teilung des Ministeriums Schmidt (Fn. 55), 40 mit Fn. 1; Stölzel (Fn. 74), 500 ff.; vgl. auch Küper (Fn. 57, 2003), 510. 87 Zur Gesetzrevision des Ministeriums Kamptz näher von Arnswaldt (Fn. 81), 29 ff., mit Quellenangaben. Zu Karl Albert von Kamptz (1769–1849) vgl. die Hinweise bei Kleinheyer/Schröder (Fn. 2), 508; Biographie bei Wippermann ADB, Band 15, 1882, 66 ff. 88 In seinem Schreiben vom 8.12.1833 (Fn. 35, 36) spricht Heffter davon, dass er „wöchentlich einer Sitzung für die Gesetzrevision beiwohne“ und „auch schriftliche Arbeiten dazu liefern“ müsse. Aus dem Schreiben ergibt sich ferner, dass er für seine Tätigkeit eine „außerordentliche Entschädigung von 400 Rth.“ erhielt. 89 Vgl. die bei Kamptz (Fn. 84), 87, 143, 146 genannten Kommissionsmitglieder und die Personalangaben bei Berner (Fn. 84), 229 f., 235; Stölzel (Fn. 74), 540 f. 90 Stölzel (Fn. 74), 505, der von einer „besonderen Ministerialkommission“ spricht (502).

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Rechenschaftsbericht unter den „ausgezeichneten Mitgliedern“ seines Ministeriums ausdrücklich.91 In dieser Funktion erarbeitete Heffter im Oktober 1833 eine Stellungnahme zu dem noch unter Danckelmanns Ägide entstandenen „Entwurf 1830“ des preußischen Strafgesetzbuchs,92 die zusammen mit anderen Gutachten dem Ministerium eine Weiterführung der zuvor unterbrochenen Revision ermöglichte.93 Auch unter Kamptz’ Nachfolger Savigny (Revisionsminister 1842– 1848),94 der Heffter „im Revisionskollegium schätzen gelernt hatte“ und ihn für den offiziellen Eintritt in das Justizministerium gewinnen wollte, arbeitete Heffter weiterhin an der Gesetzrevision mit.95 In seinem Werk über „Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung“ nennt Stölzel bei der „Zahl erster Größen“, die unter Savigny „zur Teilnahme an der Förderung der Gesetzgebung sich vereinigt hatte“, auch Heffter.96 Und in Treitschkes „Deutscher Geschichte“ gehört Heffter – beim kritischen Blick auf Savignys Ministerzeit – zu den „glänzenden wissenschaftlichen Namen, wie sie in solcher Fülle noch keinem modernen Gesetzgeber zu Gebote gestanden hatten“.97 Für Savignys Ministerium erstattete Heffter u.a. Gutachten zum Eherecht und zu „Grundzügen des Strafprozesses“.98 In einer kleinen, aber grundsätzlichen Schrift zur Fortführung der Strafrechtsrevision setzte er sich – ganz i.S. Savignys99 – für eine einheitliche, in Gesamtpreußen geltende Kodifikation des Strafrechts ein.100 Nach Savignys Rücktritt im Revolutionsjahr 1848 wurde die Strafrechtsrevision, für die seit 1838 hauptsächlich der preußische Staatsrat und dessen „Immediatkommission“ verantwortlich gewesen waren,101 zur zentralen 91

Kamptz (Fn. 84), 98. Zu diesem in der Literatur des 19. Jahrhunderts viel gelobten Entwurf näher Berner (Fn. 84), 220 f.; Beseler Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten (usw.), 1851, 5 f. 93 Dazu von Arnswaldt (Fn. 81), 35. 94 Zur Gesetzrevision unter Savigny zuletzt näher von Arnswaldt (Fn. 81), 36 ff. und passim. 95 Stölzel (Fn. 74), 537 ff. Vgl. auch Heffters Brief vom 20.4.1842 an Mittermaier, bei Jelowik (Fn. 8), 221. 96 Stölzel (Fn. 74), 625 f. 97 Treitschke (Fn. 33), Teil V, 586. 98 Vgl. dazu Stölzel (Fn. 74), 537 f., 544. 99 Zu Savignys Position in der Frage einer gesamtpreußischen Strafrechtskodifikation vgl. die Hinweise bei Küper (Fn. 57, 2003), 511 ff. mit Fn. 69 ff.; von Arnswaldt (Fn. 81), 42 ff. 100 Heffter Ueber die fernere Behandlung der Revision des Preußischen Strafrechtes – Sendbrief an Herrn Ober-Landesgerichts-Präsidenten von Gerlach, 1846 (anonym erschienen). Für eine „Einzelgesetzgebung“ in den verschiedenen preußischen Rechtsgebieten hatte sich Heffter dagegen noch 1827 in der oben Fn. 83 zitierten Schrift ausgesprochen (insbesondere S. 11). 101 Dazu und zu weiteren Gremien Berner (Fn. 84), 228 ff., 235 ff., 238 f.; Übersicht bei von Hippel Deutsches Strafrecht, Band I, Allgemeine Grundlagen, 1925, 319 ff. 92

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Aufgabe der neu geschaffenen parlamentarischen Kammern. Als Abgeordneter der Ersten Kammer gehörte Heffter zugleich deren „Kommission für Rechtspflege“ (Justizkommission) an, als im März/April 1851 in beiden Kammern der letzte, schließlich Gesetz gewordene „Entwurf eines Strafgesetzbuches für die Preußischen Staaten“ (1851) beraten wurde.102 In der Justizkommission der Kammer war er Berichterstatter für einen großen Teil des Entwurfs.103 Den umfangreichen „Bericht der Kommission für Rechtspflege“ vom 5./7.4.1851 hat Heffter mitverfasst.104 In der abschließenden Verhandlung der Ersten Kammer (12.4.1851) – die Zweite Kammer hatte den Entwurf bereits „im Ganzen“ angenommen – stimmte er mit der Mehrheit für das neue Strafgesetzbuch.105 So hat auch Heffter dazu beigetragen, dass endlich „ein bedeutendes Werk glücklich vollendet wurde, auf dessen Vorbereitung seit 25 Jahren so ausgezeichnete Kräfte verwandt worden waren“.106 e) Heffter und die Einführung des deutschen Schwurgerichts Zur Biographie Heffters gehört schließlich seine Beteiligung an der Einführung des Geschworenengerichts in Deutschland. Bereits in seiner frühen Schrift über die „athenäische Gerichtsverfassung“ (1822)107 stellte er – ein damals fast zur „Mode“ gewordenes Thema aufgreifend108 – nicht nur die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren des antiken Athen nach Art eines systematischen Lehrbuchs detailliert dar. Wie der Untertitel schon andeutet, verstand er seine Schrift auch als Beitrag zu einer der großen Auseinandersetzungen jener Zeit: dem „Kampf um die Schwurgerichte“. Heffters frühe Monographie gehört in den Kontext der zahlreichen Arbeiten zur „Genesis der Jury“,109 die zugleich das Ziel verfolgten, die rechtspolitisch hoch umstrittene Institution der Geschworenen historisch zu legitimieren, manchmal in der Weise, dass über das altgermanische Recht hinaus „bis zu den Griechen, Römern und Hebräern zurückgegangen“ wurde.110 Dabei steht Heffter der sog. „Urteilsfindertheorie“ nahe, die als Wesensmerkmal 102 Vgl. Verhandlungen der Ersten und Zweiten Kammer über den Entwurf des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten (usw.), 1851, 445 ff., 503, 508 ff., 515. 103 Vgl. Berner (Fn. 84), 240; Beseler (Fn. 92), 14 mit Anm. p (Bericht über die §§ 124– 197 des Entwurfs). 104 Verhandlungen (wie Fn. 102). 105 Verhandlungen (Fn. 102), 440 ff. – An der lebhaften Diskussion (418 ff.; dazu Küper [Fn. 57, 2003], 512 f.) hatte sich Heffter nicht beteiligt. 106 Beseler (Fn. 92), 15. 107 Vgl. oben Fn. 16. 108 Dazu und zu weiteren Schriften dieser „hellenistischen Richtung“ Landsberg (Fn. 6), Noten S. 133. 109 Hierzu näher Schwinge Der Kampf um die Schwurgerichte – bis zur Frankfurter Nationalversammlung, 1926 (Neudruck 1970), 38 ff. 110 Schwinge (Fn. 109), 39 (mit Erwähnung der Schrift Heffters in Fn. 3).

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des Schwurgerichts eine unmittelbare Beteiligung des „Volkes“ an der Rechtsfindung prononcierte.111 Heffter sieht in den antiken Dikasterien die – unvollkommene – Verwirklichung der Grundidee, dass das Volk als Gesetzgeber zugleich der „oberste und untrüglichste Richter sei“,112 und stellt diese Idee jedenfalls für „republikanische Staaten“ geradezu als vorbildlich heraus: „In dem Volke beruhte die gesetzgebende Gewalt; es war aber zugleich der oberste Richter . . . Wenn man dem Gewissen der Geschworenen alles überließ, wenn ihr Urteil von keinen Regeln und Formen abhängig gemacht und von aller Verantwortlichkeit entlastet war: so rechtfertigt sich dies von selbst mit der ihnen zustehenden gesetzgebenden Gewalt.“ In „republikanischen Staaten“ könne „Rechtsgleichheit“ nur gesichert werden „durch souveräne Volksgerichte mit möglichst weitem Jurisdiktionsbereich“.113

Einige Jahre später, in der Schrift des Bonner Professors Heffter über die Einführung der preußischen Gesetzgebung in den rheinischen Provinzen (1827),114 ist von dieser jugendlich-republikanischen Begeisterung nichts mehr zu spüren, und Heffter erwähnt sein früheres Buch nicht einmal.115 Der scharfen Kritik an dem im Rheinland geltenden französisch-rechtlichen Schwurgerichtsverfahren, in dem die „echte germanische [!] Idee eines Geschworenengerichts“ zu einem bloßen „Schattenbild“ geworden sei,116 folgt eine rhetorisch zwar nicht ganz vorbehaltlose, im Prinzip aber entschiedene Ablehnung des Schwurgerichts: „In einem monarchischen Staat, wie der unsrige ist, läßt sich kein Grund finden, warum einer Volksrepräsentation das Urteil über Schuld und Unschuld eines jeden peinlich Angeklagten übertragen werden sollte . . . Es ist eine abergläubische Behauptung, daß die Geschworenen . . . besser im Stande seien, über Schuld oder Unschuld zu entscheiden, als Richter, die studiert haben . . .“117

Das rechtshistorische Gedächtnis verbindet in der Schwurgerichtsfrage den Namen Heffters freilich weniger mit diesen Schriften als vielmehr mit seiner Aufsehen erregenden Rede bei der „Lübecker Germanistenversammlung“ 1847,118 einem Kongress, auf dem die Entscheidung der „Rechtswissenschaft“ für ein deutsches Geschworenengericht fiel.119 Heffter galt bis 111

Zu dieser Auffassung und anderen „Schwurgerichtstheorien“, z.B. der sog. „Beweismitteltheorie“, Schwinge (Fn. 109), 39 ff. 112 Heffter (Fn. 16), 481 f. 113 Heffter (Fn. 16), 482, 483. 114 Vgl. oben Fn. 83. 115 Landsberg (Fn. 6), Noten S. 133, vermutet „höhere Anordnungen“, denen Heffter sich in „ergebener Gesinnung“ gefügt habe. 116 Heffter (Fn. 83), 30 f., mit Kritik auch an der „Öffentlichkeit“ des Verfahrens. 117 Heffter (Fn. 83), 31 f. 118 Verhandlungen der Germanisten zu Lübeck am 27., 28. und 30. September 1847, 1848, 110 ff. 119 Schmidt (Fn. 4), 335 f.

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dahin als prominenter Gegner des Schwurgerichts oder doch als großer Zweifler. In der von der Frankfurter Versammlung des Vorjahres eingesetzten Kommission, die in Lübeck Bericht erstatten sollte, hatte er gravierende Bedenken gegen die Einführung von Geschworenengerichten geltend gemacht und war dafür vorgesehen, bei der Lübecker Tagung über die „Gebrechen“ des Schwurgerichts zu referieren.120 So berichtete in Lübeck denn auch Mittermaier, nachdem er selbst sich überraschend zum Schwurgericht bekannt hatte, dass alle Mitglieder der Frankfurter Kommission „mit Ausnahme des bekannten Berliner Kriminalisten Heffter“ ebenfalls für das Schwurgericht votiert hätten.121 Als daraufhin die erwartete Kritik Heffters am Schwurgericht ausblieb und „auch dieser angesehene Gelehrte seine Bekehrung verkündete, brach die ganze große Versammlung in begeisterte Bravorufe aus“.122 Heffter hatte schon zu Beginn seines Referats deutlich gemacht, dass er seine früheren Zweifel überwunden habe, und sich jetzt „für einen aufrichtigen Verteidiger des Geschworenengerichts“ erklärt, „dessen wir auch in Deutschland nicht allezeit entbehren können“.123 Die Motive der Begeisterung, die Heffters „Bekehrung“ in Lübeck auslöste, teilte er selbst allerdings nicht. Die Mehrheit der Versammlung verstand das Geschworenengericht als „Schrittmacher einer späteren Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung und als Ausdruck dafür, daß es einen höchsten Richter über die Regierung gebe: das zum Selbstbewußtsein gelangte Volk“.124 Im Unterschied zum „demokratischen Athen“ – wie er in versteckter Anspielung auf seine frühere Schrift bemerkte – wollte Heffter das Schwurgericht aber gerade nicht als „politisches Institut“ verstanden wissen, nicht als „Übergabe eines Teils der richterlichen Gewalt“ an das Volk. Ihm schwebte vielmehr, wie er es nannte, ein „Institut der Gerechtigkeit“ vor, welches in den Geschworenen, die „nach den im Volke gewöhnlichen sittlichen Vorstellungen“ urteilen sollten, die „menschliche Stimme“ zur Geltung bringe: „Männer aus dem Volke mit einfachen Vorstellungen, ohne durch Formeln, Traditionen und Rechtsregeln verwöhnt zu sein“, sollten hier nach 120 Bericht über die Verhandlungen der Germanisten zu Frankfurt a.M., 1847, 101 f.; Schwinge (Fn. 109), 146 f. mit Fn. 5. Vgl. auch Heffters Brief an Mittermaier vom 23.8. 1847, bei Jelowik (Fn. 8), 227. 121 Schwinge (Fn. 109), 149. Zur „Sinnesänderung“ Mittermaiers und ihren Gründen vgl. dort 147 f. sowie Verhandlungen (Fn. 118), 68 ff. Über Mittermaiers wechselnde Ansichten zum Schwurgericht näher Koch Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 22 (2000) 167 (171 ff.). 122 Schwinge (Fn. 109), 149. Das Protokoll verzeichnet nach Heffters Bekenntnis zum Schwurgericht „lebhafte Bravorufe in der Versammlung und auf den Tribünen“ (Verhandlungen [Fn. 118], 110). 123 Heffter in: Verhandlungen (Fn. 118), 110. 124 Radbruch/Stolterfoth Die Lübecker Germanistenversammlung (1931), hier zitiert nach der Radbruch-Gesamtausgabe (Fn. 1), Band 4, Kulturphilosophische und kulturhistorische Schriften, bearbeitet von Spendel, 2002, 246 (255).

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„innerer Überzeugung“ entscheiden und so das „Recht“ mit der „Billigkeit“ vermitteln.125 In dieser Richtung hat sich Heffter später (1849) auch in einem Aufsatz geäußert,126 in dem er die Geschworenen das „Gewissen des Landes“ nannte und hervorhob, dass sich deren Entscheidung nicht auf die „Tatfrage“ beschränken dürfe, vielmehr zugleich eine Subsumtion der Tatsachen unter das Gesetz „nach sittlicher Überzeugung“ umfassen müsse.

III. August Wilhelm Heffters monographisches Werk – eine Übersicht Wer als historisch interessierter Strafrechtler den Namen Heffters heute hauptsächlich – und vielleicht noch – mit dem „gemeinen deutschen Strafrecht“ assoziiert, mit Heffters Lehrbuch127 und seinen strafrechtlichen Beiträgen in Zeitschriften, insbesondere in dem von ihm seit 1833 mit herausgegebenen „Archiv des Criminalrechts“,128 ist überrascht vom Umfang und von der Vielfalt seines monographischen Werks. Es führt geradezu in ein „Dickicht“ von Büchern sehr unterschiedlichen Inhalts, die inzwischen – soweit sie noch ermittelt werden können – über viele Bibliotheken verstreut sind. Denn August Wilhelm Heffter war ein „Universaljurist“ und während seiner langen Lebenszeit einer der produktivsten juristischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, der offenbar über eine schier unerschöpfliche Arbeits125

Heffter in: Verhandlungen (Fn. 118), 110 ff.; Schwinge (Fn. 109), 151, 156. Heffter Die Zusammensetzung der Schwurgerichte – Ein Votum, Archiv des Criminalrechts, NF, 1849, 1 ff., mit Vorschlägen für die Besetzung der Geschworenenbank. 127 Vgl. oben Fn. 31. 128 Vgl. Heffters Abhandlungen im „Neuen Archiv des Criminalrechts“ bzw. im „Archiv des Criminalrechts, NF“: Die strafrechtliche Lehre von Ignorantia und Error im Zusammenhange (1830, 130 ff.; 1831, 253 ff.); Ueber Verbrechen und Disciplinar-Vergehungen der Staats- und Kirchendiener (1832, 48 ff., 155 ff.); Ueber die Anwendung von Haupteiden im deutschen und gemeinen Criminalproceß (1833, 39 ff.); Kurze Bemerkungen aus der Criminal-Prozeß-Praxis (1834, 384 ff.); Beiträge zur gemeinrechtlichen Lehre von der Befugniß eines Staats, die im Auslande von einem Ausländer begangenen Verbrechen zu strafen (1834, 546 ff.); Ueber das Bahrrecht (1835, 464 ff.); Ueber die Strafbarkeit der Proselytenmacherei (1836, 463 ff.); Ueber den Entwurf eines Strafgesetzbuchs für das Großherzogthum Baden (1837, 325 ff.); Die Begriffsverschiedenheit der römischen und deutschen Injurie (1839, 237 ff.); Ueber den Einfluß der Deutschen Bundesverfassung auf die Strafrechtspflege der Einzelstaaten (1840, 223 ff.); Votum über die Polizeigerichtsbarkeit in Strafsachen (1843, 113 ff.); Das Geständniß eines Mitbeschuldigten – ein qualificirtes und in wie weit? (1845, 89 ff.); Das ehemalige und zum Theil noch bestehende Fiscalat mit seinen Fehlern (1845, 595 ff.); Die Nichthinderung von Verbrechen gegen Personen und Eigenthum – in wiefern begründet sie einen Entschädigungsanspruch (usw.)? (1851, 445 ff.); Die Politik des Rechts und das Recht der Politik (1852, 1 ff.); Ueber den Begriff der Gewalt in den neuen Gesetzgebungen (1855, 526 ff.). – Vgl. ferner: Bemerkungen über die Anwendung und Auslegung des neuen Strafgesetzbuchs (GA 1853, 25 ff.); Ueber den Anfangspunkt der Strafverjährung (GA 1853, 307 ff.); Ueber die juristische Intelligenz, ihre Bedeutung und Repräsentanten in der Rechtsverwaltung, insbesondere über das Collegial-System (AcP 13 [1830], 48 ff.). 126

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kraft verfügte und ein Werk von geradezu enzyklopädischer Breite hinterlassen hat. Ein annähernd vollständiges Verzeichnis seiner Schriften ist nie zusammengestellt worden; auch die bisher reichhaltigsten Angaben zu Heffters Publikationen129 erfassen nur einen Teil des weitverzweigten Werks. 1. Vom römischen Recht zum praktischen Positivismus Einige von Heffters – romanistischen – Schriften sind noch in lateinischer Sprache verfasst: so die frühe Bonner Abhandlung über das antike Völkerrecht (1823),130 die dem Kölner Erstlingswerk über die Gerichtsverfassung Athens (1822) folgte, die Kommentare zu den „Institutionen des Gaius“ (1827–1841),131 die Schrift „De decemviris“ (1831)132 und die Beiträge zur Gemeinschaftsedition des „Corpus juris Romani Antejustiniani“ (1835– 1844).133 Ein Kernstück seines umfangreichen Werks sind jedoch Heffters große Lehrbücher. Die eindrucksvolle Reihe beginnt bereits 1825 mit den „Institutionen des römischen und teutschen Civil-Processes“,134 einem nach eigenem Bekenntnis noch „mit dem Leichtsinn der Jugend“ geschriebenen Buch,135 das Heffter später zu einem „System des römischen und deutschen Civil-Prozeß-Rechts“ (1843)136 umgearbeitet hat. 1833 erschien dann zum ersten Mal Heffters schon erwähntes „Lehrbuch des gemeinen deutschen Criminalrechts“,137 das in seinem letzten Teil auch ein „System des gemeinrechtlichen Strafverfahrens“ enthält: Ursprünglich als Fortführung des Lehrbuchs von Salchow geplant,138 erreichte das Werk bis 1857 sechs Auflagen und gehörte in der Spätphase des gemeinen Strafrechts zu den angesehensten Lehrbüchern,139 ohne freilich die Bedeutung und den Einfluss etwa des berühmten Feuerbach’schen Lehrbuchs zu erlangen, an dessen letzte noch von Feuerbach selbst bearbeitete 129

Landsberg (Fn. 6), 298 ff., Noten S. 133 f.; Teichmann (Fn. 7), 302. Vgl. oben Fn. 20. 131 Gaii Iurisconsulti Institutionum commentarius quartus (usw.), 1827, mit weiteren Ausgaben unter verschiedenen Titeln 1830, 1835, 1841. 132 De decemviris stlitibus judicandis, 1831. 133 Corpus juris Romani Antejustiniani – consilio professorum bonnensium (usw.), 1835–1844. 134 Institutionen des römischen und teutschen Civil-Processes, 1825. 135 Heffter im Brief an Mittermaier vom 20.4.1842, bei Jelowik (Fn. 8), 221. 136 System des römischen und deutschen Civil-Proceß-Rechts, 1843 (als „2. Ausgabe“ bezeichnet). 137 Vgl. oben Fn. 31. 138 Heffter (Fn. 31), 1. Auflage 1833, Vorwort. Zu Salchows Lehrbuch vgl. oben Fn. 29. 139 Erkennbar z.B. an dem umfangreichen Literaturbericht von Loening Über geschichtliche und ungeschichtliche Behandlung des deutschen Strafrechts, ZStW 3 (1883) 219 (335 ff., 338). Nach L. (Fn. 5), 253, soll es „von gemeinrechtlichen Gerichtshöfen als maßgebende Autorität behandelt worden“ sein. 130

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Auflage140 es zeitlich anschließt. Mit eindrucksvollem Kenntnisreichtum präsentiert Heffter darin in systematischer Ordnung und oft zugleich entwicklungsgeschichtlicher Darstellung den gewaltigen Quellen- und Literaturbestand des gemeinen Straf- und Strafprozessrechts. Der umfangreiche Stoff wird in einem durch reichhaltige Anmerkungen ergänzten „Haupttext“ größtenteils zu knappen, apodiktischen Lehrsätzen verdichtet.141 Umstrittene Fragen werden – dem Lehrbuchstil der Zeit entsprechend – in den Anmerkungsapparat verwiesen, in dem allerdings eine „Diskussion“ kaum stattfindet. In späteren Auflagen wird zudem beiläufig und „rechtsvergleichend“ auf neue Regelungen in den deutschen Einzelstaaten hingewiesen. Die Stärke des Lehrbuchs liegt in der umfassenden „historisch-positivistischen“142 Aufbereitung des vielfältigen Materials, die für den verlässlichen Zugang zu Quellen und Literatur des gemeinen Strafrechts noch heute wertvoll ist. Wo das Werk diese historische Linie verlässt und übergreifende theoretische Aussagen formuliert, wirkt es dagegen häufig eigentümlich blass, vage oder eklektisch.143 So wird etwa der detaillierte Bericht über die Vielfalt der „Straftheorien“, die Heffter in den Anmerkungen ohne nähere Erörterung referiert, im Lehrtext auf den – wohl hegelianisch inspirierten – Generalnenner gebracht: „Die Strafe ist Vernichtung der Schuld an dem Schuldigen. Das Vernunftgemäße dieses Begriffs lehrt die Philosophie.“ Mehr erfährt man dazu nicht. Das „Verletzende des Verbrechens“ sieht Heffter „in der Nichtachtung des gemeinen Willens an sich sowie in der damit verbundenen Kränkung des unmittelbar Betroffenen nebst der Beunruhigung oder dem Ärgernis der Mitbürger“, außerdem „in der Gefahr des bösen Beispiels und u.U. des fortgesetzten Ungehorsams gegen die Rechtsordnung“. Der Grundsatz „nulla poena sine lege“ wird einerseits – für das gemeine Recht (!) – anerkannt; andererseits wird in verklausulierter Form „Gesetzes-“ und sogar „Rechtsanalogie“ zugelassen. – Die „wissenschaftliche Behandlung des positiven Criminalrechts“ hat nach Heffter die Aufgabe, „die Grundwahrheiten des Strafrechts aus dem Begriff sowie aus dem menschlichen Sein zu entwickeln, damit die im Staat gegebenen, historisch zu ergründenden Rechtszustände in Verbindung zu bringen sowie die Lücken der gegebenen Rechtsnormen aus allgemeinen Erkenntnisgründen zu ergänzen“. Zu den „Quellen“ des überlieferten gemeinen Rechts gehören daher auch „die Grundsätze und Regeln, welche sich aus dem Inhalt des gegebe140

Feuerbach Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts11,

1832. 141 Von einer „kurzen und stofflichen Darstellung“ spricht – mit kritischem Unterton – Landsberg (Fn. 6), 392. 142 Landsberg (Fn. 6), 392: „praktisch gemeinrechtlicher Positivismus“; Loening (Fn. 139), 335: „gemäßigt positivistische Richtung“. 143 Zu den folgenden Zitaten vgl. Heffter (Fn. 31), 6. Auflage 1857, § 1 (S. 5), § 91 (S. 79), § 111 (S. 92), § 23 (S. 28), § 3 (S. 41), § 14 (S. 15).

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nen Rechtsstoffes, ja aus dem menschlichen Sein und Leben selbst durch Anschauung und Schlußfolgerungen gewinnen lassen“. 1844 legte Heffter sein im 19. Jahrhundert wohl berühmtestes und erfolgreichstes Lehrbuch vor: die Darstellung des „Europäischen Völkerrechts der Gegenwart“.144 Er selbst bearbeitete noch fünf weitere Ausgaben.145 Nach seinem Tod mit zwei neuen Auflagen fortgeführt146 und in viele Sprachen übersetzt – französisch, spanisch, griechisch, russisch, polnisch, ungarisch, japanisch –, erlangte das Werk hohe internationale Anerkennung. Als Robert (von) Mohl 1855 die „neue Literatur des Völkerrechts“ eingehend würdigte, bezeichnete dieser scharfe Kritiker Heffters Lehrbuch als „weitaus das beste, welches in irgend einer Sprache im Völkerrecht besteht“;147 heute ist es – jenseits einiger historischer Reminiszenzen – längst vergessen.148 Heffter sah im Völkerrecht weder „eine bloße Staatenmoral oder ein Aggregat politischer Maximen“ noch ein „fragmentarisches willkürliches Recht“, das „nur auf beliebigem Herkommen oder auf Verträgen beruht“. Den „tieferen Grund allen Völkerrechts“ fand er in dem „vernünftigen Willen der Menschen, sobald er in ein gemeinsames Bewußtsein tritt, welches sich nicht bloß im Einzelstaate als Satzung geltend zu machen sucht“, sondern in gleicher Weise „auch unter Nationen, die miteinander in ein gesellschaftliches Verhältnis treten“: „Wo eine Gesellschaft ist, da ist auch ein Recht; der Staat selbst ist der vernünftige Mensch der Gattung; treten mehrere isolierte Nationen zusammen, so können sie nur auf dieser Basis miteinander existieren.“149 Heffter schrieb ferner ein umfangreiches Lehrbuch zum zivilgerichtlichen Verfahren nach Preußischem Allgemeinem Landrecht (1856),150 gab ein Handbuch zur „Beweisführung im Civilprozeß“ neu heraus (1832/45)151 und verfasste einen Leitfaden zum „Verfahren in Steuer-Prozessen“ (1836).152 144 Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart, 1844 (mit einem Anhang: „Bruchstück eines politischen Testaments“, 401 ff.). 145 6. Ausgabe 1873 mit dem Titel: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart auf den bisherigen Grundlagen. 146 7. Ausgabe 1881, 8. Ausgabe 1888, jeweils bearbeitet von Geffken. 147 Mohl Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften (usw.), Band I, 1855, 394. 148 Knappe Reminiszenz zuletzt noch bei Kieselstein Eduard Gans und das Völkerrecht, 2009, XVII; Ziegler Völkerrechtsgeschichte2, 2007, § 43 II 3a (190); näher Nussbaum Geschichte des Völkerrechts (usw.), 1960, 270: „eine reife Arbeit von ausgewogenem Urteil und von einer präzisen und tiefschürfenden Darstellung“. 149 Heffter (Fn. 144), Vorrede V f. 150 Heffter Cicil-Proceß oder das gerichtliche Verfahren bei bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten im Gebiete des Allg. Landrechts für die Preußischen Staaten – Ein Leitfaden zum Selbstunterricht, 1856. 151 Weber Ueber die Verbindlichkeit zur Beweisführung im Civilprozeß, 2. Ausgabe 1832, 3. Ausgabe 1845 („Anmerkungen und Zusätze“ von Heffter). 152 Heffter Verfahren in Steuer-Prozessen – nach authentischen Quellen bearbeitet (usw.), 1836.

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Von ihm stammen weiterhin „Grundlinien des Verfassungsrechts in den deutschen Staaten“ (1860)153 sowie Grundrisse zum „deutschen Staatsrecht“ (1827)154 und „deutschen christlichen Kirchenrecht“ (1835).155 Er behandelte monographisch die „Rechtsverhältnisse der Staatsdiener“ (1829)156 und – aus Anlass des „Kölner Kirchenstreits“ zwischen Preußen und der katholischen Kirche – Fragen der Abgrenzung von kirchlichen und staatlichen Befugnissen (1839).157 2. Heffters Beiträge zum Fürstenrecht Ein Spezialgebiet Heffters – der auch den „Codex diplomaticus Brandenburgensis“ bearbeitet hat158 – war das sog. „Privatfürstenrecht“, das in seinem Werk durch zahlreiche, z.T. anonym erschienene und bisweilen umfangreiche Schriften vertreten ist. Sie geben dem heutigen Leser einen detaillierten Einblick in die „versunkene Welt“ der im kleinstaatlichen 19. Jahrhundert entstandenen Kontroversen um den staatsrechtlichen Status von „Fürstenhäusern“ und nicht zuletzt um streitige „Sukzessionsansprüche“.159 Heffters „Beiträge zum Staats- und Fürstenrecht“ (1829)160 versammeln Abhandlungen insbesondere über die für die Erbfolge wichtige „Ebenbürtigkeit“ von Nachkommen, über „deutsche Fürstenhäuser mit subordinierten landesherrlichen Rechten“ und über „Bundesausträge in Streitigkeiten der deutschen Souveräne“ (sog. „Austrägalrecht“). Heffter untersuchte im Auftrag des kurhessischen Prinzregenten dessen Ansprüche auf den Nachlass der erloschenen landgräflichen Nebenlinie „Hessen-Rotenburg“ (1835),161 befasste sich anlässlich eines „Streitfalls im Sayn-Wittgensteinschen Hause“ mit „standesgemäßen Ehen des hohen Adels“ (1845),162 prüfte die Rechte des Prinzen Friedrich Wilhelm von Hessen auf eine „Sukzession im Herzogtum Lauenburg“ 153

Heffter Grundlinien des Verfassungsrechts in den deutschen Staaten, 1860. Heffter Grundriß zu Vorlesungen über altes und neues deutsches Staatsrecht, 1827. 155 Heffter Grundriß zu Vorlesungen über das deutsche christliche Kirchenrecht, 1835. 156 Heffter Einige Bemerkungen über die Rechtsverhältnisse der Staatsdiener, 1829. 157 Heffter Der gegenwärtige Grenzstreit zwischen Staats- und Kirchen-Gewalt – aus dem staatskirchenrechtlichen und legislativen Gesichtspunkt erörtert (usw.), 1839. 158 Codex diplomaticus Brandenburgensis, 3 Bände 1868; Namenverzeichniß zu sämtlichen Bänden, 3 Bände, 1867, 1868. 159 Zur damals reichhaltigen Literatur auf diesem Gebiet vgl. z.B. Mohl (Fn. 147), Band II, 1856, 277; neuerdings Gottwald (Fn. 8), 53 ff., 97 ff., 205 ff. und passim. Allgemein zum „Privatfürstenrecht“ Willoweit Art. Privatfürstenrecht, in: HRG Band III, 1984, Sp. 1966 ff. 160 Heffter Beiträge zum deutschen Staats- und Fürstenrecht, 1829; die im Folgenden zitierten Abhandlungen dort 1 ff., 299 ff., 168 ff. 161 Die Rechte des Kurhauses Hessen an der Verlassenschaft Sr. Hochfürstlichen Durchlaucht des verewigten Landgrafen Victor Amadeus zu Hessen-Rotenburg (mit Nachtrag und Anlagen), 1835 (anonym erschienen). 162 Heffter Über standesmäßige Ehen des hohen Adels mit besonderer Berücksichtigung eines Streitfalls (usw.), 1845. 154

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(1864/65),163 erstattete für das preußische Kronsyndikat ein Gutachten über die „Ansprüche auf die Herzogtümer Schleswig und Holstein“ (1865)164 und befürwortete das Nachfolgerecht des Fürstenhauses „Löwenstein-Wertheim“ in den „Wittelsbacher Stammlanden“ (1838).165 1844 veröffentlichte er „Ergebnisse der neuesten Untersuchungen über den hohen Adel“.166 Eine stattliche Anzahl seiner fürstenrechtlichen Schriften galt dem berüchtigten „großen Bentinckschen Rechtsstreit“ um die „Reichsgräflich Aldenburg-Bentinckschen Fideikommißherrschaften“: dem langwierigen Kampf des Reichsgrafen von Bentinck mit dem Herzog von Oldenburg um die Rechte an den „Herrschaften Kniphausen und Varel“ sowie dem anschließenden, nicht minder langwierigen „Bentinckschen Erbstreit“ – einem „Rattenkönig juristischer Kontroversen“ (Treitschke)167 teils staats-, teils privatfürstlich-erbfolgerechtlicher Art, die zu den „Kuriosa der deutschen Bundesgeschichte“ im 19. Jahrhundert gehören.168 Heffter war daran u.a. mit zwei an den Deutschen Bundestag gerichteten „Denkschriften“ (1840/ 1843),169 einem Gutachten über die „gegenwärtige Lage des Rechtsstreits“ (1840)170 und einer „Revisionsschrift“ zugunsten des Reichsgrafen Wilhelm Bentinck (1843)171 beteiligt. In den Zusammenhang dieses Bentinck-Komplexes gehört auch bereits Heffters Buch über Erbansprüche sog. „Mantelkinder“ (1836),172 das in der fürstenrechtlichen Literatur eine kuriose Erwiderungsschrift provozierte,173 ferner die spätere Schrift zur Veräußerung 163 Votum eines norddeutschen Publicisten über die Ansprüche des Prinzen Friedrich Wilhelm von Hessen (usw.), 1864; mit ähnlichen Titel nochmals 1865. 164 Referat über die Ansprüche auf die Herzogthümer Schleswig und Holstein, 1865 (vgl. auch oben Fn. 80). 165 Votum eines norddeutschen Publicisten zu J.L. Klübers nachgelassener Schrift (usw.), 1838. 166 Heffter Die Ergebnisse der neusten Untersuchungen über den deutschen hohen Adel, sein Verhältniß zur Reichsstandschaft (usw.), 1844. 167 Treitschke (Fn. 33), Teil II, 473. 168 Huber (Fn. 80), 767, mit Darstellung der Streitkomplexe und ihrer Vorgeschichte 767 ff., 771 ff., 776 ff.; neuerdings eingehend Klee Das Ende einer Herrlichkeit – Kniphausen und Oldenburg vor 150 Jahren, Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte Band 77 (2005) 187 ff. 169 Denkschrift an die hohe deutsche Bundesversammlung (usw.), 1840; Nachtrag zu der Reichsgräflich Aldenburg-Bentinckschen . . . Denkschrift (usw.), 1843 (beides anonym erschienen). 170 Die gegenwärtige Lage des Reichsgräflich Aldenburg-Bentinckschen Rechtsstreits (usw.), 1840. 171 Revisionsschrift des Reichsgrafen Wilhelm Friedrich Christian Bentinck...wider Reichsgrafen Gustav Adolph Bentinck (usw.), 1843. 172 Heffter Die Erbfolgerechte der Mantelkinder, Kinder aus Gewissensehen, aus putativen Ehen (usw.), 1836. – Zum Begriff des „Mantelkindes“ vgl. Erler Art. Mantelkinder, in: HRG (Fn. 159), Sp. 255 ff., mit weiteren Nachweisen. 173 Morstadt Polemisch-humoristische Leuchtkugeln in das Privatfürstenrecht oder humoristische Bekämpfung von Heffter’s Irrlehren (usw.), 1847.

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„landesherrlicher Familien-Fideicommissgüter (1860).174 Heffters weit ausgreifende systematische Darstellung des Privatfürstenrechts in den „Sonderrechten souveräner und mediatisierter Häuser Deutschlands“ (1871)175 schließt dieses Kapitel seines Werks ab, das ihn über vierzig Jahre beschäftigt hatte. 3. Die letzte Monographie: „Non bis in idem“ Die letzte Monographie Heffters ist dem strafprozessualen Grundsatz „Ne bis in idem“ gewidmet (1873).176 Darin zieht der Autor noch einmal alle Register seiner umfassenden rechtshistorischen Bildung. Die Schrift gilt in erster Linie der wechselvollen Geschichte des „Brocardium“ genannten Prinzips, die Heffter bis in die griechische Antike hinein zurückverfolgt, mit einer Fülle lateinischer, griechischer, sogar hebräischer Quellenzitate. Die Studie führt vom griechischen und römischen Altertum über das mittelalterlich-kanonische Recht, das gemeine deutsche Strafrecht und die Partikulargesetze des 19. Jahrhunderts bis zur geplanten Reichsstrafprozeßordnung. Dabei wird u.a. auch die Entwicklung in Frankreich berücksichtigt. Für die positivrechtliche Lösung der „sehr heiklichen Identitätsfrage“ entwirft Heffter zwei detaillierte Kataloge von Kriterien, die darüber Auskunft geben sollen, wann grundsätzlich „Identität der Anklage“ anzunehmen ist und wann andererseits „einer weiteren Anklage nichts entgegenstehen kann“.177 Am Schluss empfiehlt er eine gesetzliche Regelung des „Ne bis in idem“ bei den Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens.178

IV. Ausblick Ernst Landsberg, der Heffter einen „in allen Sätteln gewandten Arbeiter“ nannte,179 hat noch auf der letzten Seite seiner „Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft“180 Einspruch gegen die Beurteilung erhoben, dass Heff174 Heffter Ueber die Rechte der Anwarter Veräusserung Landesherrlicher FamilienFideicommissgüter (usw.), 1860. 175 Heffter Die Sonderrechte der souveränen und der mediatisirten vormals reichsständischen Häuser Deutschlands (usw.), 1871. Dazu jetzt Gottwald (Fn. 8), 177 ff. 176 Heffter Non bis in idem im Hinblick auf den gedruckten Entwurf einer „Deutschen Strafprocess-Ordnung“, 1873. Heffter hat die Schrift, die auch einen kurzen autobiographischen Rückblick enthält (3 f.), aus Anlass des 50. Jahrestages seiner Ehrenpromotion („propter iuris antiqui scientiam, praesertim in Graecorum re iudiciaria scripto nuperrime comprobatam“) der Bonner Juristenfakultät gewidmet. 177 Heffter (Fn. 176), 20 ff. 178 Heffter (Fn. 176), 29 f. 179 Vgl. oben Fn. 9. 180 Landsberg (Fn. 6), Noten S. 414.

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ter als „praktisch und theoretisch tief eindringender Jurist einer der größten Meister seiner Wissenschaft“ gewesen sei.181 Ein „Meister“ in den zahlreichen juristischen Disziplinen, die er mit ungewöhnlicher Kennerschaft beherrschte, war der vielseitige Heffter gewiss, und mit Recht ist über ihn gesagt worden, dass er zur „geistigen Elite“ seines Jahrhunderts gehörte.182 Wer sein reiches Lebenswerk überblickt, kann es nur mit Bewunderung – auch der „riesigen Arbeitskraft“183 dieses Mannes – zur Kenntnis nehmen. Zu den „großen Rechtsdenkern“184 des 19. Jahrhunderts wird man Heffter gleichwohl nicht rechnen dürfen. Eher war er ein hochgebildeter, eminent sachkundiger „Verwalter“ der vielfachen Rechtsprobleme seiner Zeit, ein großer „Kompilator“ im positiven Sinn. In dieser Eigenschaft hat er – namentlich mit seinem „Europäischen Völkerrecht“185 – die Geschichte der Rechtswissenschaft durch Pionierleistungen bereichert. Mit weiterführenden, profilierten „Theorien“ oder anderen in die Zukunft weisenden Erkenntnissen ist Heffter, einer der letzten „Universalgelehrten“ des 19. Jahrhunderts,186 dagegen nicht hervorgetreten – ein Grund dafür, dass er heute nahezu vergessen ist. Eine historisch gerechte Würdigung seines umfangreichen Lebenswerks steht freilich noch aus. Sie würde eine genauere Analyse seiner zahlreichen Schriften und ihrer geschichtlichen Bezüge voraussetzen,187 die nicht das Ziel dieses Erinnerungsbeitrags sein konnte.

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So Heymann (Fn. 7), 38. Ogris (Fn. 7), 202. 183 Heymann (Fn. 7), 37. 184 Wolf Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte4, 1963 (der Heffter nirgends erwähnt). 185 Vgl. oben Fn. 144 ff. 186 Jelowik (Fn. 8), 211. 187 Die unlängst von Gottwald (Fn. 8), 177 ff., vorgelegte Untersuchung der letzten fürstenrechtlichen Schrift Heffters (vgl. oben Fn. 175) führt die Autorin zu einem Ergebnis, das vielleicht für seine Schriften überhaupt symptomatisch ist: „dass hier keine entschiedenen Aussagen . . . zu finden sind, die eine Auseinandersetzung angeregt hätten“ (181). – Abschluss des Manuskripts: Mai 2009. 182

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Friedrich Julius Stahl (1802–1861) JENS KERSTEN

I. Friedrich Julius Stahl in Bayern (1802–1839) . . 1. „Die Philosophie des Rechts“ . . . . . . . . . . . 2. Publizistik, Universität und Politik . . . . . . . II. Friedrich Julius Stahl in Preußen (1840–1861) . 1. Stahl an der Berliner Fakultät und Universität . 2. „Das Monarchische Princip“ . . . . . . . . . . . . 3. 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Preußische Verfassungsfragen . . . . . . . . . . . 5. Deutsche Verfassungsfragen . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Als Friedrich Julius Stahl 1840 auf den ausdrücklichen Wunsch des Preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. an die Juristische Fakultät der Berliner Universität berufen wurde, war er bereits ein berühmter Mann: Verfasser der Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht, konservativer Verteidiger des monarchischen Prinzips, erfahrener Parlamentarier im Bayerischen Landtag, politischer Protestant. Mit dieser Verbindung von Wissenschaft, Politik und Religion prägte Stahl auch die Friedrich-Wilhelm-Universität und darüber hinaus Berlin und Preußen: als wissenschaftlicher Lehrer, als Dekan der Juristischen Fakultät, als Universitätsrektor, als politischer Publizist der Kreuzzeitung, als programmatischer Kopf der konservativen Partei, als Fraktionsführer in der Ersten Preußischen Kammer und im Erfurter Unionsparlament, als Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrates und als persönlicher Berater des Preußischen Königs in Verfassungs- und Kirchenfragen.

I. Friedrich Julius Stahl in Bayern (1802–1839) Friedrich Julius Stahl wurde am 16. Januar 1802 – die einen meinen in München, die anderen glauben in Würzburg – als ältester Sohn von Babette und Valentin Jolson geboren.1 1819 konvertierte er vom Judentum zum Pro1 Vgl. hierzu und zum Folgenden Bluntschli Friedrich Julius Stahl, in: Bluntschli/Brater (Hrsg.) Deutsches Staats-Wörterbuch, 10. Band, 1867, 154 ff.; Heller Friedrich Julius Stahl

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testantismus und nahm bei seiner Taufe den wohl metaphorisch gemeinten Namen Stahl an. Er studierte Rechtswissenschaft in Würzburg, Heidelberg und Erlangen. Stahls Teilnahme am Streitberger Burschentag führte 1823 zu seiner unbefristeten Relegation, die jedoch nach einem väterlichen Gnadengesuch 1824 auf zwei Jahre beschränkt wurde. So konnte er 1826 Über die Kollision und den Vorzug des Besonderen vor dem Allgemeinen im Rechte promovieren. 1827 habilitierte sich Stahl mit einer Arbeit Über das ältere römische Klagerecht an der Universität München. In seinen Vorlesungen über Naturrecht und die Philosophie des positiven Rechts, die Stahl als Privatdozent in München hielt, kritisierte er Rationalismus und Liberalismus. Sie brachten ihn in Kontakt zu Jakob Christian Benjamin Mohr, der ab 1830 Stahls wissenschaftliches Hauptwerk Die Philosophie des Rechts verlegte. 1. „Die Philosophie des Rechts“ In seiner Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht entwirft Stahl als Anhänger der historischen Rechtsschule eine christlich fundierte Rechts- und Staatslehre.2 Das Werk erschien zwischen 1830 und 1837 in erster Auflage und wurde von Stahl in zwei weiteren Auflagen (1845–1847, 1854–1856) nicht zuletzt unter dem Einfluss der Revolution von 1848 erweitert. „Persönlichkeit“ ist der zentrale Grundbegriff der Philosophie des Rechts: Die Persönlichkeit Gottes ist das „Princip der Welt“.3 Der persönliche Gott verfügt über „schöpferische Freiheit“, die etwas hervorruft, „das nicht im (1802–1861), in: ders. Gesammelte Schriften, 3. Band2, 1992, 29 (31 ff.); Sinzheimer Jüdische Klassiker der Deutschen Rechtswissenschaft, 1953, 9 ff.; Schoeps Friedrich Julius Stahl und das Judentum, in: Lamm (Hrsg.) Juden in München, 1958, 99 ff.; Hollerbach Stahl, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.) Staatslexikon, 5. Band7, 1998/1995, Sp. 244 ff.; Pahlmann Friedrich Julius Stahl (1802–1861), in: Kleinheyer/Schröder (Hrsg.) Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten2, 1983, 255 ff.; Masur Friedrich Julius Stahl. Geschichte seines Lebens, Aufstieg und Entfaltung (1802–1840), 1930, 20 ff.; Grosser Grundlagen und Struktur der Staatslehre Friedrich Julius Stahls, 1963, 10 ff.; Wiegand Über Friedrich Julius Stahl (1801– 1862). Recht, Staat, Kirche, 1981, 11 ff.; Füßl Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802–1861), 1988, 13 ff., 52 ff.; Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Band, 1992, 152 ff.; Schönberger État de droit et État conservateur: Friedrich Julius Stahl, in: Institut de Recherches Carré de Malberg (Hrsg.) Figures de l’État de droit. Le Rechtsstaat dans l’histoire intellecutelle et constitutionelle de l’Allemagne, 1997, 177 ff. 2 Vgl. zum Verhältnis zu Friedrich Carl von Savigny und zur historischen Rechtsschule Sinzheimer (Fn. 1), 14 f.; Hollerbach (Fn. 1), Sp. 245; Grosser (Fn. 1), 16 f.; Friedrich Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, 172. 3 Stahl Die Philosophie des Rechts II/1 und II/25, 1870, 7; vgl. hierzu Heller (Fn. 1), 31 f.; Sinzheimer (Fn. 1), 22 ff.; Volz Christentum und Positivismus. Die Grundlagen der Rechts- und Staatsauffassung Friedrich Julius Stahls, 1951, 25 ff., 42 ff.; Grosser (Fn. 1), 46 ff.; Link Die Grundlagen der Kirchenverfassung im lutherischen Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts insbesondere bei Theodosius Harnack, 1966, 65; Wiegand (Fn. 1), 187 ff.

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Wesen des Schöpfers bereits gesetzt ist“.4 Damit ist diese freie göttliche „Urwahl“ keine willkürliche „Auswahl aus Vorhandenem“. Vielmehr ist Gottes freie Schöpfung als Ausdruck seiner Persönlichkeit „nach Zweck und Absicht geschaffen. Alles, was da ist, ist nicht bloß in seinem Grunde homogen, auf gleichmäßigem Gesetze beruhend, sondern auch in seiner Wirkung auf einander berechnet, mit um dieser Wirkung willen vorhanden.“ Dieser „göttliche Weltplan“ bildet nach Stahls Auffassung die christlich konservative Grundlage des Verhältnisses von Religion und Gemeinschaft:5 Der Mensch ist in die göttliche Schöpfung eingebettet. Gott hat ihn nach seinem Ebenbild und damit als eine Persönlichkeit geschaffen, die sich im Rahmen des göttlichen Weltplans frei entscheiden kann. Menschliche Freiheit ist damit ebenso wenig wie göttliche Freiheit willkürliche Wahlfreiheit, sondern die ethische Freiheit, im Rahmen der Schöpfungsordnung zu handeln. Obwohl auf diese Weise die Freiheit der menschlichen Person nur einen göttlichen Ursprung hat, sind in der empirischen Welt mit der Religion und der Sittlichkeit zwei ethische Sphären „aus ihrem einigenden Centrum gewichen und erscheinen daher in ihrer Trennung“: Die Religion ist das „Band des Menschen zu Gott“ – im individuellen Glauben wie in ihrer kollektiven Form als Gottesgemeinde und Kirche. Im Unterschied zur Religion ist die Sittlichkeit „die Vollendung des Menschen in sich selbst (natürlich hier von Seiten seines Willens) oder die Offenbarung des göttlichen Wesens im Menschen.“ Da der Mensch „aber im göttlichen Weltplane nicht als Einzelner und zur Vereinzelung“, sondern das „menschliche Geschlecht als Ganzes, als Einheit“ zu verstehen ist, hat das Sittliche „zwei Beziehungen, nämlich: das Urbild des Menschen als Einzelnen und den Plan Gottes für das menschliche Geschlecht, den die Menschen in ihrem Gemeinleben als Einheit zu erfüllen haben.“ Deshalb ist auch das „Daseyn der Gemeinschaft als solcher“ ein „Bereich sittlicher Gestaltung“. Vor diesem Hintergrund formuliert Stahl seine christliche Teleologie kollektiver und individueller Freiheit: Die menschliche Gemeinschaft soll sich „selbstständig ihre eigene Ordnung aufrichten“ und dabei „die Gedanken des Weltplanes, die an sich eine schöpferische Conception Gottes sind, selbst wieder mit schöpferischem Geiste“ nach ihrer Zeit und ihren Anlagen gestalten.6 Der Einzelne hat diese „sittliche Idee der Lebensverhältnisse, welche die Gemeinexistenz bilden [. . .] innerlich in sich aufzunehmen und

4 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stahl (Fn. 3), II/1, 27 f., 40 f., einschließlich der folgenden Zitate. 5 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stahl (Fn. 3), II/1, 70 ff., einschließlich der folgenden Zitate; dazu Grosser (Fn. 1), 48 ff. 6 Vgl. Stahl (Fn. 3), II/1, 191.

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als stete freie That zu verwirklichen, eben daher auch sie zu individualisieren und intensiv zu steigern.“7 Das Recht ist in dieser christlichen Teleologie der Freiheit „die Lebensordnung des Volkes“ zur „Erhaltung der Weltordnung Gottes, wiewohl in selbstständiger und freier menschlicher Ausführung.“ Es ist damit „eine menschliche Ordnung, aber zum Dienste der göttlichen, bestimmt durch Gottes Gebote, gegründet auf Gottes Ermächtigung.“8 Gegenstand des Rechts sind die „Einrichtungen (Institutionen) der Weltordnung Gottes“, zu denen Stahl den Schutz des Lebens, das Eigentum, die Ehe, das elterliche Ansehen und die Obrigkeit zählt.9 Der Staat ist in Stahls christlicher Teleologie der Freiheit – als „Institution der Institutionen“10 ein „sittliches Reich“11 – die „bewusste in sich einige Herrschaft nach sittlich-intellektuellen Motiven über bewusste frei gehorchende Wesen“ und folglich „Herrschaft von persönlichem Charakter nach jeder Beziehung, ein Reich der Persönlichkeit.“ Die Brücke von seinem Verständnis des Staats als einem „sittlichen Reich“ zur konstitutionellen Monarchie als Staatsform schlägt Stahl in einem sehr langen Satz, der aber seine ganze christliche Staatsphilosophie zusammenfasst: Der Begriff des sittlichen Reiches enthält „die Notwendigkeit einer über den Menschen schlechthin erhabenen Autorität, d.i. eines Anspruchs auf Gehorsam und Ehrfurcht, welcher nicht bloß dem Gesetze, sondern einer realen Macht außer ihnen, der Obrigkeit (Staatsgewalt), zukommt (Prinzip der Legitimität im Gegensatze zur Volkssouveränität), und zugleich die Notwendigkeit eines sittlich verständigen Inhaltes, welcher das unwandelbare Wollen, daher auch die Schranke dieser Autorität ist, d.i. die Notwendigkeit des Gesetzes des Staates, das durch die Geschichte überkommen über Fürst und Volk steht und nur nach seinen eigenen Bedingungen geändert werden kann (konstitutionelles Princip im wahrhaften Sinn), und endlich die Anerkennung der Nation (der Gehorchenden) als einer sittlichen Gemeinschaft, deshalb selbstständig, frei gehorchend, dem Gesetze nur als Ausdruck und Forderung ihres eigenen sittlichen Wesens unterworfen [. . .], in dem es ursprünglich durch Sitte und Herkommen hervorgeht, und an dem es bei spä7

Stahl (Fn. 3), II/1, 80 (Klammerzusatz durch den Verfasser); hierzu Heinrichs Menschenbild und Recht bei Friedrich Julius Stahl, 1969, 33 ff. 8 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stahl (Fn. 3), II/1, 191 ff., einschließlich der folgenden Zitate (Klammerzusatz durch den Verfasser). 9 Vgl. zur Bedeutung und Rezeption von Stahls institutionellem Rechtsverständnis Sinzheimer (Fn. 1), 26 ff.; Hollerbach (Fn. 1), Sp. 245; Pahlmann (Fn. 1), 256; Wiegand (Fn. 1), 145 ff., 225 ff. 10 Sinzheimer (Fn. 1), 34. 11 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stahl (Fn. 3), II/2, 1 ff., einschließlich der folgenden Zitate; dazu Sinzheimer (Fn. 1), 35 ff.; Hollerbach (Fn. 1), Sp. 245; Grosser (Fn. 1), 54 ff.; Füßl (Fn. 1), 25 ff.; Wiegand (Fn. 1), 241 ff.; zum holistischen Anspruch dieser Theorie Grimm Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, 102 f.

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terer Fortbildung mittelst der Zustimmung der Landesvertretung erprobt wird.“12 Stahls Staatsbegriff ist also spezifisch auf einen christlich fundierten, monarchischen Konstitutionalismus zugeschnitten und fällt insofern durch alle überkommenen staatstheoretischen Begriffsraster: Stahls Staat als sittliches Reich ist „eine göttliche Institution“,13 die nicht durch vernunftrechtlichen Herrschaftsvertrag begründet werden kann.14 Stahls Staat entwickelt sich historisch,15 sperrt sich jedoch aufgrund seines teleologischen Freiheits- und Persönlichkeitsbezugs gegen eine Einordnung als staatsphilosophische Organismustheorie.16 Stahls Staat ist keine juristische Person,17 wohl aber „die Personificierung der menschlichen Gemeinschaft“18 und als solche eine handlungsfähige „politische Person“.19 Aus zwei Gründen widerspricht Stahl aber ausdrücklich einer Zuordnung seines Staatsbegriffverständnisses zur patrimonialen Staatslehre:20 Erstens sei der Staat „vom Fürsten zu unterscheiden, in dem noch andere Organe außer dem Fürsten diese künstliche Person mit konstituieren; aber niemals vom Fürsten zu lösen und als ein selbstständiges Subjekt außer dem Fürsten anzuerkennen, indem seine Persönlichkeit eben im Fürsten ihr Centrum hat, daher nie ohne ihn besteht.“21 Und zweitens sei der Staat notwendig ein Rechtsstaat, den Stahl in seiner berühmten Definition wie folgt fasst: „Der Staat soll Rechtsstaat seyn, das ist die Losung und ist auch in Wahrheit der Entwicklungstrieb der neueren Zeit. Er soll die Bahnen und Gränzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbrüchlich sichern und soll die sittlichen Ideen von Staatswegen, also direkt, nicht weiter verwirklichen (erzwingen), als es der Rechtssphäre angehört, d.i. nur 12

Stahl (Fn. 3), II/2, 3 f. (Eckiger Klammerzusatz durch den Verfasser). Stahl (Fn. 3), II/2, 176 ff.; hierzu Link (Fn. 3), 67 f. 14 Stahl (Fn. 3), II/2, 174: „Die Vertragstheorie ist durchweg unhaltbar.“; vgl. hierzu Heller (Fn. 1), 31 f.; von Oertzen Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, 1974, 75 f. 15 Vgl. Stahl (Fn. 3), II/2, 169 ff. 16 Vgl. Stahl (Fn. 3), II/2, 9. 17 Vgl. Stahl (Fn. 3), II/2, 18; hierzu Friedrich (Fn. 2), 174 f.; Schönberger Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871-1918), 1997, 45, 57 f.; zum Kristallisationspunkt des Verständnisses des Staats als juristische Person in Albrechts Rezension über Maurenbrechers Grundsätze des heutigen Staatsrecht (Göttingischen gelehrten Anzeigen 1837, 1489 ff, 1508 ff.) ders. ebenda, 42 ff.; Kersten Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000, 34 ff. 18 Stahl (Fn. 3), II/2, 13; vgl. auch ders. ebenda, 20: „[. . .] daß die Gemeinschaft selbst zur Persönlichkeit wird.“ (Klammerzusatz durch den Verfasser). 19 Stahl (Fn. 3), II/2, 18. 20 Vgl. Stahl (Fn. 3), II/2, 17 f.; hierzu Pahlmann (Fn. 1), 256; von Oertzen (Fn. 14), 73 ff. 21 Stahl (Fn. 3), II/2, 19; hierzu Haverkate Verfassungslehre. Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, 1992, 73 f. 13

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bis zur nothendigsten Umzäumung. Dieß ist des Begriff des Rechtsstaates, nicht etwa daß der Staat bloß die Rechtsordnung handhabe ohne administrative Zweck, oder vollends bloß die Rechte der Einzelnen schütze, er bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt des Staates, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen.“22 Der allein rechtsstaatliche Modus der Herrschaftsausübung verhindert nach Stahl ebenso jede Form der Rückkehr zu einem patriarchalischen oder patrimonialen Staatsverständnis wie zum Polizey-Staat, in welchem die Obrigkeit die sittlichen Ideen schrankenlos realisiert.23 Dieser Rechtsstaatsbegriff schließt aber für Stahl auch jede Entwicklung zum Volksstaat aus, der im Sinn Jean-Jacques Rousseaus keine rechtsstaatlichen Bindungen kenne. Und schließlich grenzt sich Stahl mit seinem rechtsstaatlichen Verständnis auch von der Staatsphilosophie Georg Friedrich Wilhelm Hegels ab: Mit seinem Begriff des Staats als der „Wirklichkeit der sittlichen Idee“24 ignoriere Hegel den „bloß rechtlichen Charakter seiner Wirksamkeit“ und leiste auf diese Weise einer „Apotheose des Staates“ Vorschub.25 2. Publizistik, Universität und Politik Mit seinen rechts- und staatsphilosophischen Vorlesungen an der Universität München empfahl sich Stahl jedoch nicht nur Mohr für die Publikation seines wissenschaftlichen Hauptwerks, sondern auch der Bayerischen Regierung. Sie bestellte Stahl zum Herausgeber des Thron- und Volksfreunds – eines offiziellen Blattes, das die bayerische Regierungspolitik gegen Kritik und Angriffe der liberalen Opposition verteidigen sollte, jedoch aufgrund ministerieller Übersteuerung Stahl keine publizistische Freiheit ließ und deshalb insbesondere aufgrund mangelnder Originalität bald wieder eingestellt werden musste.26 Doch ungeachtet dieses publizistischen Misserfolgs 22 Stahl (Fn. 3), II/2, 137 f.; vgl. zu Stahls Paradigmenwechsel im Rechtsstaatsverständnis von einem staatrechtlichen Ziel zu einem staatsrechtlichen Modus Jesch Gesetz und Verwaltung2, 1968, 164 f.; Friedrich (Fn. 2), 172; grds. Schönberger (Fn. 1), 179 ff.; zur historischen Einordnung Habermas Theorie des kommunikativen Handelns, 2. Band, 1987, 527; Haverkate (Fn. 21), 74 f.; zur Rezeptionsperspektive im Hinblick auf den staatsrechtlichen Positivismus Schönberger (Fn. 17), 127 f. 23 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stahl (Fn. 3), II/2, 138; dazu Sinzheimer (Fn. 1), 46; von Oertzen (Fn. 14), 75. 24 Vgl. Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatsrecht im Grundrisse, in: ders. Werke, 7. Band2, 1989, § 257 (S. 398). 25 Vgl. Stahl (Fn. 3), II/2, 140; hierzu Hollerbach (Fn. 1), Sp. 245; Grosser (Fn. 1), 12 ff.; Wiegand (Fn. 1), 104 ff., 137 ff.; demgegenüber unterstreicht Hermann Heller die Nähe der Staatslehre Stahls zu Hegel – vgl. Heller Hegel und der Machtstaatsgedanke, in: ders. (Fn. 1), 1. Band, 21 (161, 220); ders. Volkshochschule und Parteischule, ebenda, 599 (602): der „hervorragende Hegel-Epigone jüdischer Abstammung, Friedrich Julius Stahl“. 26 Vgl. Heller (Fn. 1), 31; Masur (Fn. 1), 151 ff.; Wiegand (Fn. 1), 19; Füßl (Fn. 1), 52 ff.

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eröffnete sich für Stahl mit der sich wandelnden politischen Lage in Bayern die akademische Laufbahn:27 1832 wurde er zum außerordentlichen Professor in Erlangen ernannt, um im unmittelbaren Anschluss als ordentlicher Professor für römisches Recht nach Würzburg versetzt zu werden. Dies war insofern ein „hochpolitischer Akt“,28 als in Würzburg nur deshalb Lehrstühle besetzt werden konnten, weil ihre liberalen Inhaber aus politischen Gründen zwangsversetzt worden waren. Doch bereits 1834 wurde Stahl wieder nach Erlangen berufen, wo seine christlich geprägte Staatslehre mit der „Erlanger Theologie“ um Adolf Gottlieb Christoph von Harleß eine Verbindung einging.29 Als Vertreter der Universität Erlangen wurde Stahl 1837 in die Zweite Kammer des Bayerischen Landtags gewählt.30 Hier bewährte sich Stahl zum ersten Mal politisch als Verteidiger des monarchischen Prinzips: Er trat für eine enge Bestimmung der Gesetzgebungskompetenzen des Landtags ein, sprach sich gegen eine parlamentarische Spezialisierung des Budgetrechts aus und forderte die Zurückhaltung des Landtags in außenpolitischen Fragen wie der Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung im Königreich Hannover. Wo Stahl jedoch die Kompetenz des Landtags bejahte, übte er sie – wie im Fall seiner Kritik des Rechenschaftsberichts der Regierung – auch als selbstbewusster Standesvertreter politisch aus.31 Darüber hinaus kam es im Bayerischen Landtag vor dem Hintergrund der in den 1830er Jahren zunehmenden konfessionellen Spannungen zu einer protestantischen Fraktionsbildung um Stahl, die im Streit um das protestantische Ehescheidungsrecht eskalierte. Dem Bayerischen König Ludwig I. blieb Stahls Kritik des Rechenschaftsberichts und das Engagement der Fraktion Stahl für den politischen Protestantismus in Bayern in Erinnerung:32 Auf königliche Anordnung wurde Stahl deshalb in Erlangen die Vorlesung im Staatsrecht entzogen und die Lehre des Zivilrechts übertragen.

II. Friedrich Julius Stahl in Preußen (1840–1861) Ein Monarch hatte Stahls akademische Karriere beendet, ein Monarch brachte sie auch wieder in Gang: 1840 wurde Stahl auf ausdrücklichen 27 Vgl. hierzu und zum Folgenden Pahlmann (Fn. 1), 255; Masur (Fn. 1), 180; Wiegand (Fn. 1), 19 ff.; Füßl (Fn. 1), 69 ff. 28 Füßl (Fn. 1), 70. 29 Vgl. hierzu ausführlich Füßl (Fn. 1), 69 ff. 30 Vgl. hierzu und zum Folgenden Masur (Fn. 1), 268 ff.; Wiegand (Fn. 1), 20 f.; Füßl (Fn. 1), 82 ff. 31 Vgl. im Rückblick Stahl Die Revolution und die constitutionelle Monarchie, eine Reihe ineinandergreifender Abhandlungen, 1848, IV. 32 Vgl. hierzu und zum Folgenden Masur (Fn. 1), 292 ff.; Wiegand (Fn. 1), 21; Füßl (Fn. 1), 103.

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Wunsch Friedrich Wilhelms IV. an die Juristische Fakultät der Berliner Universität berufen.33 1. Stahl an der Berliner Fakultät und Universität Doch was in den Augen Friedrich Wilhelms IV. für Stahl sprach – Antirationalismus, Antiliberalismus, Antihegelinanismus – sprach in den Augen vieler seiner Kollegen und Studierenden an der Friedrich-Wilhelm-Universität gegen ihn.34 Die Studierenden protestierten in seiner ersten rechtsphilosophischen Vorlesung lautstark gegen Stahl. Mappen, Bücher und Regenschirme sollen gegen den Katheter geflogen und Stahl zum Verlassen des Hörsaals genötigt worden sein.35 Der wissenschaftliche und politische Unmut legte sich jedoch in seinem zweiten Berliner Semester: Stahls Vorlesungen über Staats- und Naturrecht waren nun überfüllt. Seine öffentliche Vorlesung über Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche wurde von Ministern und Offizieren besucht.36 Soweit Absolventen der Berliner Juristischen Fakultät in den nächsten zwanzig Jahren in den Preußischen Staatsdienst traten, hatten sie Rechtsphilosophie, Staats- und Kirchenrecht bei Stahl gehört. Stahl war in den Jahren 1842, 1850 und 1857 dreimal Dekan der Juristischen Fakultät und 1852/1853 Rektor der Friedrich-Wilhelm-Universität.37 In seiner Berufungspolitik förderte er Vertreter des monarchischen Prinzips und wandte sich gegen die Berufung von Juden und Hegelianern. Stahls Ablehnung, Juden die akademische Laufbahn zu eröffnen, spiegelt dabei sein ambivalentes Verhältnis zum Judentum.38 Seine universitätspolitische Haltung lief auf den Grundsatz hinaus, dass Preußen durch das Christentum geprägt sei und deshalb auch von seinen Beamten eine christliche Weltanschauung fordern dürfe.39 Doch Wilhelm Füßl hat darauf hingewiesen, dass diese Auffassung Stahls „ebenfalls eine strenge Scheidung zwischen Katho33 Vgl. Heller (Fn. 1), 31; Boldt Deutsche Staatslehre im Vormärz, 1975, 198; Masur (Fn. 1), 330 ff.; Füßl (Fn. 1), 108 f.; Stolleis (Fn. 1), 153. 34 Vgl. hierzu und zum Folgenden von Oertzen (Fn. 14), 72; Wiegand (Fn. 1), 22 f.; Füßl (Fn. 1), 108 ff. 35 Vgl. hierzu und zum Folgenden Heller (Fn. 1), 32; Wiegand (Fn. 1), 22 f.; Füßl (Fn. 1), 110 ff. 36 Vgl. Stahl Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche. Neunundzwanzig akademische Vorlesungen, 1. Auflage 1863, 2. Auflage 1868; hierzu Bluntschli (Fn. 1), 159 ff.; Schoeps (Fn. 1), 101. 37 Vgl. hierzu und zum Folgenden Wiegand (Fn. 1), 22 f.; 31; Füßl (Fn. 1), 112 ff. 38 Vgl. Stahl Der christliche Staat und sein Verhältnis zum Deismus und Judentum, 1847; darüber hinaus Schoeps (Fn. 1), 101 ff.; Wiegand (Fn. 1), 11 ff., 24; Füßl (Fn. 1), 114 ff. m.w.N. 39 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stahl (Fn. 38), 31 ff.; Füßl (Fn. 1), 114 ff.; grds. Schoeps (Fn. 1), 101 ff.

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liken und Protestanten impliziert hätte. Da Stahl diese allerdings nicht vorgenommen hat, bleibt substantiell nur die Benachteiligung der Juden.“40 Seine ablehnende Haltung gegen die Berufung von Hegelianern sah Stahl gerechtfertigt, um „die Hegelsche Tendenz unter der Studierenden Jugend Berlins“41 zu begrenzen. Doch gerade dieser Antihegelianismus ließ in Verbindung mit Stahls Unterstützung einer rigorosen Ausschließungspolitik der Professorenschaft gegenüber der Beteiligung von Privatdozenten in Fakultäts- und Universitätsangelegenheiten im Revolutionsjahr 1848 die politischen Ressentiments wieder aufbrechen, die Stahl bereits in seinem ersten Berliner Semester entgegengeschlagen waren: In einer Petition forderten nun auch Kollegen die „Absetzung der pietistischen und sonst mißliebigen Professoren“42 und namentlich auch die Amtsenthebung Stahls. 2. „Das Monarchische Princip“ Von dem Thronwechsel von Friedrich Wilhelm III. zu Friedrich Wilhelm IV. erwartete man 1840 die Einlösung der konstitutionellen Verfassungsversprechen.43 Doch trotz seines zunächst liberalen Regiments enttäuschte Friedrich Wilhelm IV. diese verfassungsrechtlichen Hoffnungen. 1842 berief er verfassungsrechtlich folgenlos die Provinzialstände als Vereinigte Ausschüsse nach Berlin. Die Verfassungserwartung und erst Recht deren Enttäuschung politisierte gleichwohl die Gesellschaft in Preußen und darüber hinaus. Es differenzierte sich mit den Konservativen, den Liberalen, dem Zentrum, den Demokraten und der Linken das Parteispektrum aus, das die deutsche Politik bis in die Weimarer Republik prägen sollte.44 Die soziale Frage kulminierte 1844 im schlesischen Weberaufstand. Im Dezember 1844 verfolgte Friedrich Wilhelm IV. einen neuen Verfassungsplan, der eine ständische, nicht jedoch eine konstitutionelle Verfassung für Preußen vorsah. Schon im ersten Satz seiner staatsrechtlich-politischen Programmschrift Das Monarchische Princip reagierte Stahl 1845 auf diese äußerst gespannte soziale und politische Situation und wies zugleich über diese hinaus: „Ob das Gerücht, daß eine bedeutende Veränderung in der Verfassung dieses Königreiches bevorstehe, Grund habe oder nicht, ist von keinem entschei-

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Füßl (Fn. 1), 117; vgl. aber Stahl (Fn. 38), 60. Brief Friedrich Julius Stahl an Johann Caspar Bluntschli vom 16.1.1842 – zit. nach Koglin Die Briefe Friedrich Julius Stahls, 1975, 260; hierzu Füßl (Fn. 1), 117. 42 Zit. nach Füßl (Fn. 1), 117. 43 Vgl. Stahl Zum Gedächtniß Seiner Majestät des hochseligen Königs Friedrich Wilhelm IV. und seiner Regierung. Vortrag gehalten im evangelischen Verein zu Berlin am 18. März 1861, 1861, 8; hierzu und zum Folgenden Mann Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 1958, 145 ff.; Grimm Deutsche Verfassungsgeschichte. 1776– 1866, 1988, 167 ff., 175 ff., 208 ff.; Füßl (Fn. 1), 42 ff. 44 Vgl. Grimm (Fn. 43), 167 f. 41

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denden Gewicht für die hier dem Publikum dargebotene Abhandlung. Sie schlägt zwar mit ihren Ergebnissen überall in diese Lebensfrage, welche jetzt die Gemüther bewegt; aber sie ist in ihrer ursprünglichen Anlage nicht auf diese berechnet. Ihr Gegenstand ist das allgemeine Problem, das in Deutschland seine Lösung sucht, und jetzt nur mit erhöhter Macht und Lebendigkeit nahe tritt, da der größte Staat deutscher Bevölkerung vor der Pforte einer Entscheidung steht. Es ist das Problem – ständischer Verfassung unter monarchischem Princip.“45 Formaler Anknüpfungspunkt für Stahls Argumentation ist zwar Art. 57 der Wiener Schlussakte von 1820.46 Doch er hält sich nicht lange bei dessen rechtlicher oder politischer Würdigung auf.47 Es kommt Stahl vielmehr darauf an, das monarchische Prinzip als einen Herrschaftstypus auszuweisen, den er vor dem Passepartout seines politischen Gegenbegriffs entwickeln will. Sein erster argumentativer Schachzug ist dabei, dass nicht die Volkssouveränität, sondern das parlamentarische Prinzip den Gegenbegriff zum monarchischen Prinzip darstellen soll.48 Damit wird das aus Stahls konservativer Sicht ungleich bedrohlichere Legitimationsprinzip der Volkssouveränität für das monarchische Prinzip neutralisiert. Der argumentative Umgang Stahls mit der Volkssouveränität zeigt jedoch, für wie gefährlich Stahl diesen Begriff hält. Deshalb leugnet Stahl die Volkssouveränität nicht, sondern integriert sie in seine Lehre vom Staat als einem sittlichen Reich als ein geistiges Element seines teleologischen Freiheitsverständnisses,49 das auch die Grundlage seiner staatsrechtlich-politischen Abhandlung über das monarchische Prinzip bildet.50 Als herrschaftlicher Typus konturiert Stahl das parlamentarische Prinzip nach englischem Vorbild: Aus „der unbedingten Abhängigkeit der Minister vom Parlamente geht dann, besonders im Zusammenhang mit den sonstigen Rechten des Parlaments, nach einer thatsächlichen Nothwendigkeit das hervor, was man die parlamentarische Regierung zu nennen pflegt.“51 Für das Verständnis des Monarchen im parlamentarischen System folgert Stahl, dass sich die Nation in ihrer parlamentarischen Vertretung selbst regiert, „und 45 Stahl Das Monarchische Princip. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, 1845, III; vgl. zur begrifflichen und historischen Einordnung Bluntschli (Fn. 1), 158 f.; Boldt (Fn. 33), 196 ff., 208 ff.; Schönberger (Fn. 17), 74 f.; zur epistemologischen Einordnung Kaufmann Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzipes, in: ders. Gesammelte Schriften, 1. Band, 1960, 1 ff. 46 Vgl. Stahl (Fn. 45), 1. 47 Vgl. Jesch (Fn. 22), 76 ff.; Grimm (Fn. 43), 113 ff.; Schönberger (Fn. 17), 70 ff. 48 Vgl. Stahl (Fn. 45), 1 f.; zum zeitgenössischen Streit um diesen „originellen Verdienst“ Friedrich (Fn. 2), 151 Fn. 11. 49 Vgl. Stahl (Fn. 3), II/2, 143; zu Stahls konservativ idealisiertem Verständnis der Volkssouveränität auch von Oertzen (Fn. 14), 80; Haverkate (Fn. 21), 74 f.; Stolleis (Fn. 1), 153. 50 Stahl (Fn. 45), 44. 51 Stahl (Fn. 45), 7.

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der König steht nur darüber, indem er dieser Regierung (formell) die Sanktion erteilt und bez., soweit die Umstände ihn unterstützen, sie ermäßigt“.52 Im Gegensatz zur englischen parlamentarischen Regierung ist das monarchische Prinzip „das Fundament deutschen Staatsrechts und deutscher Staatsweisheit.“53 Stahl sieht das monarchische Prinzip dadurch gekennzeichnet, „daß die fürstliche Gewalt dem Rechte nach undurchdrungen über der Volksvertretung steht, und daß der Fürst thatsächlich den Schwerpunkt der Verfassung, die positiv gestaltende Macht im Staate, der Führer der Entwicklung bleibe.“54 Das monarchische Prinzip beschreibt im Unterschied zum „reinen und unmittelbaren Rechtsbegriff“ der Souveränität die „thatsächliche Stellung“ des Monarchen, die Ausfluss und Wirkung von Rechten ist:55 Der Monarch verfügt über „die ganze Sphäre der Administration“. Ihm steht die Abfassung der Gesetze zu, was allein durch das Petitions- und gesetzlich strikt geregelte Zustimmungsrecht der Stände beschränkt wird. Der König besitzt die Gewalt über den Staatshaushalt, während den Ständen kein unbedingtes Steuerverweigerungs- und nur ein beschränktes Budgetspezifizierungsrecht zukommt. Der Fürst hat das Recht, selbst zu regieren, was eine Verantwortlichkeit der von ihm ernannten Minister allein zum Zweck der verfassungsmäßigen, nicht der parlamentarischen Regierung erlaubt. Die monarchischen Rechte gehen weit, doch Stahl sieht sie gegen Machtmissbrauch gesichert. Er begründet dies im Anschluss an sein Verständnis des Staats als ein sittliches Reich, das er in seiner Philosophie des Rechts entworfen hat und das auch seine Abhandlung über das monarchische Prinzip bestimmt:56 Eine zentrale Garantie gegen den Machtmissbrauch liegt im „Grundgedanken der bestehenden deutschen constitutionellen Monarchie“, dass „eine reichsständische Verfassung im staatlichen (publicistischen) Charakter unter monarchischem Princip“ besteht.57 Der öffentlich-rechtliche Charakter des monarchischen Prinzips schließt – in Anknüpfung an Die Philosophie des Rechts – jedes patrimoniale Verständnis der Monarchie und des Staats aus.58 Darüber hinaus ist ein nach dem monarchischen Prinzip verfasster Staat notwendigerweise ein Rechtsstaat. Auch diese Erkenntnis 52

Vgl. Stahl (Fn. 45), 11. Stahl (Fn. 45), 34. 54 Stahl (Fn. 45), 12. 55 Vgl. hierzu und zum folgenden Stahl (Fn. 45), 12 ff., zusammenfassend 25; auch grundsätzlich ders. (Fn. 3), II/2, 155: „Der Staat ist darum, wenn auch die souveräne, so doch nicht die absolute Macht auf Erden. Es ist seine Gewalt formell unumschränkt, aber nicht materiell.“; hierzu von Oertzen (Fn. 14), 77; ferner zur Unterscheidung zwischen Souveränität und monarchischem Prinzip Boldt (Fn. 33), 199 ff. 56 Vgl. hierzu und zum Folgenden oben I.1. 57 Stahl (Fn. 45), 27 (Klammerzusatz durch den Verfasser). 58 Stahl (Fn. 45), V: Fortschritt vom „patrimonialen Charakter der Verfassung zum staatlichen oder constitutionellen“. 53

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formuliert Stahl im Rekurs auf sein wissenschaftliches Hauptwerk: „Die Unverbrüchlichkeit des bestehenden Rechts darf durch kein Räsonnement und durch keine politische Überzeugung angetastet werden.“59 Diese rechtsstaatliche Bindung gilt für den Monarchen wie für die Stände, wobei allerdings „der König der oberste Richter über Streitigkeiten wegen Anwendung der Verfassung bleiben muß.“60 Da Stahl auf diese Weise die rechtlichen Gewährleistungen gegen den Machtmissbrauch doch wieder zu Gunsten des Monarchen und zu Lasten der Stände asymmetriert, sucht er die effektiven Garantien letztlich außerhalb des Rechts. Er findet sie wiederum in Anknüpfung an seine Philosophie des Rechts in „Meinung und Sitte“61: Die öffentliche Meinung und die Presse sind „eine Schranke und eine Probe für die Regierung“62. Und „eine viel bedeutendere Argumentation gegen staatsrechtliche Garantien, als die Berufung auf die persönliche Gewissenhaftigkeit des Fürsten, ist die Berufung auf die traditionelle Regierungsweise. Sitte und Übung sind überall besser und fester als das geschriebene Gesetz.“63 Auf der Grundlage dieser typologischen Konturierung des monarchischen Prinzips wendet sich Stahl in äußerst vorsichtigen, ja geradezu therapeutischen Formulierungen der Veränderung der Verfassung Preußens zu:64 Keine Vorschläge wolle er unterbreiten, sondern lediglich beispielhaft die Einführung einer ständischen Verfassung erörtern, wo sie bisher noch nicht bestehe. Dabei fordert der Grundsatz des monarchischen Prinzips, dass der König die Verfassung aus seiner monarchischen Machtvollkommenheit oktroyieren muss. Doch besser noch als die Einführung einer reichsständischen Verfassung in einem Akt monarchischer Verfassunggebung sei der „Grundsatz der Successivität“, nach dem die „reine Monarchie“ Schritt für Schritt in eine „ständische Monarchie“ überführt wird. Eine solche sukzessive Verfassunggebung könne in Preußen darin bestehen, dass in einem ersten Akt auf der Grundlage der Provinzialstände und ständischen Ausschüsse Reichsstände konstituiert würden. Diesen könne sodann in einem weiteren Schritt zunächst eine Berechtigung für die Einsichtnahme, Prüfung und beschränkte Bewilligung des Staatshaushalts erteilt werden. In einem ferneren Akt komme die Einräumung eines verfassungsrechtlich genau begrenzten Zustimmungsrechts zu Gesetzen an die Reichsstände in Betracht. Diese sukzessive Einführung der ständischen Monarchie ließe sich rechtlich auch durch eine zusammenhängende Form von Freiheitsbriefen verfolgen. Eine Verfassungsurkunde könne – wenn überhaupt – nur am Ende der Entwicklung stehen. 59 60 61 62 63 64

tate.

Stahl (Fn. 45), 28. Stahl (Fn. 45), 29. Stahl (Fn. 45), 31. Stahl (Fn. 3), II/2, 490. Stahl (Fn. 45), 42. Vgl. hierzu und zum Folgenden Stahl (Fn. 45), 32 ff., einschließlich der folgenden Zi-

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Das Monarchische Prinzip ist eine äußerst ambivalente politische Programmschrift, die zwischen überkommenem Königtum, altständischem Denken und liberalem Gedankengut vermitteln will.65 Verfassungsrechtliche Kontinuität und Sukzessivität sind deshalb ihre zentralen Stichworte. Doch die zentrale Frage, die Stahls staatsrechtlich-politische Abhandlung aufwarf, lautetet: Wer sollte ihr zustimmen? Liberale und Demokraten sicher nicht, denn Stahl führt ihnen mit dem Gegentypus des parlamentarischen Regierungssystems ihr Verfassungsideal als diametralen Gegensatz zum monarchischen Prinzip vor Augen. Insofern hat Stahl der pointierten Formulierung Manfred Botzenharts zu Folge „zur Klärung der Begriffe und zur Erfassung der Besonderheiten des parlamentarischen Systems im vormärzlichen Deutschland wahrscheinlich mehr beigetragen, als jeder Anhänger der parlamentarischen Regierungsweise.“66 Aber auch die Konservativen nahmen Stahls Verständnis des monarchischen Prinzips und seiner Reformvorschläge für die Verfassung Preußens – vorerst – nicht an.67 Zustimmen mochten sie dem „dringliche[n] Gebot, daß uns das politische System des Westens fernbleibe“68 und dass die Volkssouveränität und Gewaltenteilung ein „Unglück“ und „unendlich schwerer als ein Zustand geringerer Betheiligung der Nation an der Staatslenkung“69 wäre. Doch der von Stahl ausdrücklich als verfassungsrechtlichen Fortschritt geforderten „Überwindung des älteren Charakters des Ständewesens“70 standen sie ebenso verständnislos gegenüber wie seiner Forderung, dass „die Stände nicht mehr Sonderinteressen schützen, sondern den allgemeinen bürgerlichen Rechtszustand verbürgen sollen.“71 Insbesondere Friedrich Wilhelm IV. selbst war in altständischen und romantischen politischen Vorstellungen befangen und deshalb vor 1848 nicht bereit, irgendein Zugeständnis an eine konstitutionelle Regierungsform zu machen.72 3. 1848 Als im März 1848 die Straßen- und Barrikadenkämpfe in Berlin ausbrachen und etwa 300 Tote forderten,73 verließen viele Konservative und mit

65

Vgl. Füßl (Fn. 1), 11. Vgl. Botzenhart Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848–1850, 1977, 72; ferner bereits Heller Die Ideenkreise der Gegenwart, in: ders. (Fn. 1), 1. Band, 267 (293); Füßl (Fn. 1), 49. 67 Vgl. Füßl (Fn. 1), 134. 68 Stahl (Fn. 45), IV (Klammerzusatz durch den Verfasser). 69 Stahl (Fn. 45), IV. 70 Vgl. Stahl (Fn. 45), V. 71 Stahl (Fn. 45), V. 72 Vgl. Mann (Fn. 43), 146. 73 Vgl. Grimm (Fn. 43), 180. 66

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ihnen auch Stahl kurzfristig die Stadt.74 Doch als die monarchischen Konzessionen die Unruhen beendeten, kehrten sie wieder nach Berlin zurück. Sie engagierten sich jetzt als „Gegenrevolution“, um die – ihrer Auffassung nach – „Katastrophe von 1848“75 zu beenden und Preußen aus der „Knechtschaft der Revolution“76 zu befreien. Die Revolution – das war für Stahl „die Gründung des ganzen öffentlichen Zustandes auf den Willen des Menschen statt auf Gottes Ordnung und Fügung“77 und im letzten Schritt „deshalb nothwendig die Aufhebung des Eigentums, der Kommunismus.“78 In Verbindung mit dem Rationalismus war die Revolution für Stahl sogar „vielleicht der Anfang des Endes, die Zeichen des Eintritts in die apokalyptische Zeit.“79 Deshalb zählte Stahl zu den ersten Aktionären der von Ernst Ludwig von Gerlach gegründeten Neuen Preußischen Zeitung – der Kreuzzeitung – und gehörte bald zu ihren programmatischen Autoren.80 So erschien in der 17. Nummer der Kreuzzeitung am 20. Juli 1848 Stahls Artikel Das Banner der Conservativen, in dem er die zentralen Thesen seiner staatsrechtlichpolitischen Abhandlung Das Monarchische Princip für die Situation von 1848 konkretisierte:81 Der monarchische Konstitutionalismus ist eine eigenständige Staatsform, in der das Volk über die Wahl von Volksvertretungen an der staatlichen Herrschaft teilhat. Stahl sieht die verfassungsrechtliche Kontinuität durch die königlichen Patente vom 14. und 18. März, die Proklamationen vom 21. und 22. März sowie die Verordnung vom 6. April 1848 im Hinblick auf die Einführung einer konstitutionellen Verfassung i.S. einer noch auszugestaltenden „Gemeinschaftlichkeit der Gewalt unter König und Volk“ gewahrt, so dass die Verfassunggebung nicht vom Volk, sondern vom 74

Vgl. Wiegand (Fn. 1), 24; Füßl (Fn. 1), 122. Stahl (Fn. 3), II/2, XI; ders. Die Holstein-Lauenburger Angelegenheit, Sitzung des Herrenhauses am 29. April 1857, in: ders. Siebzehn parlamentarische Reden und drei Vorträge. Nach letztwilliger Bestimmung geordnet und herausgegeben, 1862, 183 (193). 76 Stahl (Fn. 43), 12: „Preußen aber lag während des Sommers 1848 in der Knechtschaft der Revolution.“ 77 Stahl Was ist die Revolution. Ein Vortrag, auf Veranstaltung des Evangelischen Vereins für kirchliche Zwecke am 8. März 1852 gehalten, in: ders. (Fn. 75), 233 (234); ferner ders. Betrachtungen über die Revolution, in: ders. (Fn. 31), 11 ff.; krit. Heller (Fn. 66), 292. 78 Stahl (Fn. 77 mit Verweis auf Fn. 75), 237; vgl. auch Stahl (Fn. 36), 240: „Das socialistische System ist zu prüfen vom Standpunkte der Volkswirtschaft, des Rechts, der Religion und der Moral. Nach allen dreien ist es verwerflich.“; hierzu auch Wiegand (Fn. 1), 139. 79 Stahl (Fn. 77 mit Verweis auf Fn. 75), 241. 80 Vgl. Heller (Fn. 1), 32; ders. (Fn. 66), 291; Wiegand (Fn. 1), 25 f.; Füßl (Fn. 1), 131 ff.; zum Verhältnis zwischen Gerlach und Stahl Schoeps Das andere Preußen. Konservative Gestalten und Probleme im Zeitalter Friedrich Wilhelms IV., 1957, 76 ff. 81 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stahl Das Banner der Conservativen, in: ders. (Fn. 31), 14 ff.; ferner ders. Was ist ein constitutioneller König, in: ders. (Fn. 31), 45 ff.; ders. (Fn. 43), 12 ff.; hierzu Füßl (Fn. 1), 132 ff., 154. 75

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Monarchen ausgeht.82 Leopold von Gerlach ging dies jedoch viel zu weit „Das heutige ‚Eiserne Kreuz‘ hat“, so schrieb er an seinen Bruder, „einen mir widerwärtigen Artikel von Stahl ‚Das Banner der Konservativen‘. Ich hoffe daß er von ihm ist, weil ich der Zeitung nicht mehr solche Mitarbeiter wünsche. Diesen Konstitutionalismus verwerfe ich geradezu als unerlaubt und unmöglich. Er verhindert jede gesunde Reaktion, ohne die für uns kein Heil, und die wir doch anerkennen müssen. Wieder ein Beweis gegen Dich, wie gefährlich Wort-Konzessionen sind.“83 In diesem Brief kommt das zwiespältige Verhältnis der preußischen Reaktion zu Stahl zum Ausdruck: Einerseits waren sich die Reaktionäre darüber im Klaren, dass die altständischen Positionen politisch nicht mehr zu halten waren, andererseits konnten oder wollten sie den Konstitutionalismus nicht akzeptieren.84 Ähnlich stand es um Stahls Engagement in der Kreuzzeitungspartei. Sie ging auf den Verein für König und Vaterland zurück, dessen geheimbündlerische Ursprünge wohl ebenfalls im Umfeld der Brüder von Gerlach liegen.85 Stahl verfügte über die staatsrechtliche Kompetenz, die programmatische Vision und die parlamentarische Erfahrung, um die konservative Fraktion in der Ersten Preußischen Kammer, ab 1855 dem Herrenhaus, zu führen.86 Ernst Ludwig von Gerlach und Stahl, so beschwert sich Otto von Bismarck noch in seinen Gedanken und Erinnerungen, hätten in der Fraktion „die absolute Gesamtleitung nach allen Seiten hin in Anspruch genommen.“87 Im Frühjahr 1849 entwarf Stahl ein Parteiprogramm in sieben Punkten:88 Es bekennt sich zur konstitutionellen Monarchie. Es verspricht die Abwehr jeder „feindseligen (reaktionären) Bestrebung“. Es akzeptiert die Revolution als „die thatsächliche Entstehungsursache der neuen Ordnung“, aber „dennoch nicht als ihr Princip“. Es setzt auf die „Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung, daß sie gegenwärtig eine Schranke sei gegen die Willkühr des Volkes wie bisher gegen Willkühr des Fürsten.“ Es stützt sich auf das monarchische Prinzip und fordert zur Sicherung der königlichen 82

Vgl. Stahl (Fn. 43), 12 ff.; hierzu Füßl (Fn. 1), 154. Brief Leopold von Gerlach an Ludwig von Gerlach vom 20.7.1848, in: Diwald (Hrsg.) Von der Revolution zum Norddeutschen Bund. Politik und Ideengut der preußischen Hochkonservativen 1848–1866. Aus dem Nachlaß Ernst Ludwig von Gerlachs, 2. Band, 1970, 551; hierzu auch Nabrings Friedrich Julius Stahl – Rechtsphilosophie und Kirchenpolitik, 1983, 147; Füßl (Fn. 1), 135 f. 84 Vgl. Füßl (Fn. 1), 357. 85 Vgl. Wiegand (Fn. 1), 25 ff.; Füßl (Fn. 1), 142 ff. 86 Vgl. Sinzheimer (Fn. 1), 45; Nabrings (Fn. 83), 147; Füßl (Fn. 1), 155, 180 ff.; Stolleis (Fn. 1), 153; Gall Bismarck. Der weiße Revolutionär, 1995, 84. 87 Von Bismarck Gedanken und Erinnerungen, 1. Band, 1905, 167; vgl. zum äußerst ambivalenten Verhältnis zwischen Stahl und von Bismarck die sehr unterschiedlichen Einschätzungen von Michniewicz Stahl und Bismarck, 1913; Sinzheimer (Fn. 1), 47 ff.; Wiegand (Fn. 1), 15, 24 f., 28 ff.; Gall (Fn. 86), 84. 88 Vgl. hierzu und zum Folgenden den Abdruck bei Füßl (Fn. 1), 183 ff., einschließlich der folgenden Zitate (Klammerzusätze durch den Verfasser). 83

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Stellung dessen Zustimmung zu allen Gesetzen. Es verpflichtet alle Stände auf das Gemeinwohl. Es erkennt den „vorzüglichen Beruf der Gegenwart, daß der arbeitenden Classe eine materiell und sittlich befriedigende Lebensexistenz werde“ und will „jede auch tiefer greifende Regelung und Neugestaltung der Erwerbsverhältnisse die wirklich und nachhaltig [!] zu diesem Ziel führt, jedoch in gerechter Abwägung aller Interessen, und unbeschadet der unveräußerlichen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft: des Eigenthums, des Erbrechts, der freien persönlichen Erwerbstätigkeit.“ Es will die Einheit Deutschlands unter Wahrung der Selbstständigkeit Preußens. Es verlangt die „gleiche politische Berechtigung für die Bekenner aller Religionen“, für die christlichen Kirchen den Schutz des Staates oder „falls es zur völligen Trennung von Kirche und Staat kommt, Freiheit der Kirche und Freiheit des Unterrichts.“ Man kann diesen Programmentwurf mit Wilhelm Füßl als „Meilenstein in der Entwicklung zu einem modernen Konservativismus“89 einordnen und darüber hinaus insbesondere die parteipolitische Reflexion der sozialen Frage unterstreichen: Stahls Programmentwurf ging im Hinblick auf die soziale Frage über den zunehmend hilflosen „liberalen Dogmatismus“90 der Vormärzregierungen hinaus. In Abgrenzung zu seiner antirevolutionären Sozialismuskritik91 setzte Stahl hier – und nichts könnte heute aktueller sein – auf den Nachhaltigkeitsgrundsatz als konservatives Prinzip. In seiner Philosophie des Rechts hatte Stahl ausgeführt, wie er sich die „Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse“ vorstellte: „für’s Erste schützende Gesetze gegen den Druck der Fabrikherren (über Arbeitslohn, Arbeitszeit, gegen Verkümmerung der Kinder); für’s Andere Vergesellschaftung der Vermögenskräfte der Arbeiter (für Versorgung der Witwen, Kranken, Unbeschäftigten, für Anschaffung der Bedürfnisse, um sie in der Masse preiswürdig zu erhalten und ebenso dem Einzelnen für seinen Bedarf zu verabreichen, Sparkassen).“92 Und in seinen Vorlesungen über Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche begründete Stahl die Sozialbindung des Eigentums: „Besitzverhältnisse mit obrigkeitlicher Gewalt und Verpflichtung gegen den Besitzlosen zu bekleiden, das ist die Lösung der sozialen Frage, wenn sie gelöst werden kann; eine andere gibt es nicht.“93 Doch für die historische Einordnung Stahls parteipolitischer Positionen darf man nicht isoliert und einseitig auf diese neue konservative Programmatik abstellen, sondern muss auch beachten, für wen sich Stahl engagierte. Stahl sprach – so hat es Golo Mann auf den Punkt gebracht – „von gottge89

Füßl (Fn. 1), 185. Grimm (Fn. 43), 178. 91 Vgl. Stahl (Fn. 36), 240 ff.; hierzu Wiegand (Fn. 1), 139 ff. 92 Stahl (Fn. 3), II/2, 73 f.; zur ambivalenten, aber letztlich anerkennenden Haltung Stahls hinsichtlich der Industrialisierung Füßl (Fn. 1), 92 f. 93 Stahl (Fn. 36), 284 f.; hierzu Wiegand (Fn. 1), 145. 90

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wollter Ordnung, treuen Untertanen, christlicher Demut; worauf das preußische Herrenhaus dem Herrn von Rochow, der in der Folge eines Spielhöllenskandals den Berliner Polizeipräsidenten im Duell totgeschossen hatte, eine brausende Ovation spendete. Armer Philosoph! Er muß trübe dreingeschaut haben in solchen Momenten unter solchen Bundesgenossen.“94 4. Preußische Verfassungsfragen Stahl war an der Ausarbeitung der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat beteiligt, die Friedrich Wilhelm IV. am 5. Dezember 1848 oktroyierte.95 Darüber hinaus hat er von konservativer Seite auch die Diskussion über die Verfassungsrevision in den folgenden Jahren maßgeblich geprägt.96 Dabei war das monarchische Prinzip für Stahl der Maßstab für die verfassungsrechtliche Beantwortung der zentralen Fragen nach dem Steuerverweigerungsrecht der Kammern, der Ministerverantwortlichkeit, dem königlichen Verfassungseid und der Reform der Ersten Preußischen Kammer. Der Streit um das Steuerverweigerungsrecht der Kammern entzündete sich an der Revisionsdiskussion des Art. 108 der oktroyierten Verfassungsurkunde, nach dem die bestehenden Steuern und Abgaben forterhoben werden konnten, bis sie durch Gesetz abgeändert wurden. Entgegen liberaler Forderungen sprach sich Stahl aufgrund des monarchischen Prinzips für deren Beibehaltung aus: „Der constitutionelle König“ werde anderenfalls – so Stahl am 16. Oktober 1849 in der Ersten Preußischen Kammer97 – „in der That blos ein Automat, den die Kammern an dem unsichtbaren Faden der drohenden Steuerverweigerung in Bewegung setzen, der aber das Aussehen hat, als wäre er ein selbstbestimmter Mensch, ja ein freier Herrscher.“ Wenn Sie – rief Stahl den Abgeordneten zu – „jetzt die Steuerverweigerung beschließen, so beschließen Sie nicht, wie etwa vor 30 oder 40 Jahren, die constitutionelle Monarchie, sondern Sie beschließen die Demokratie.“98 Es entsprach also ganz Stahls Auffassung, dass die Regelung beibehalten wurde und in den Art. 109 der revidierten Verfassung vom 31. Januar 1850 einging. In der Diskussion um die gesetzliche Ausgestaltung der Ministerverantwortlichkeit im Sinn des Art. 59 der oktroyierten Verfassung bzw. Art. 61

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Mann (Fn. 43), 278. Vgl. allerdings Füßl (Fn. 1), 157, zu den Unklarheiten im Hinblick auf den konkreten Einfluss Stahls. 96 Vgl. umfassend Grünthal Parlamentarismus in Preußen 1848/49-1857/58. Preußischer Konstitutionalismus – Parlament und Regierung in der Reaktionsära, 1982, 126 ff., 175 ff.; Füßl (Fn. 1), 266 ff. 97 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stahl Das Steuerverweigerungsrecht und die parlamentarische Regierung, Sitzung der ersten Kammer am 16. October 1849, in: ders. (Fn. 75), 1 (6 f., 14). 98 Stahl (Fn. 97), 14. 95

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der revidierten Verfassung folgte Stahl zwar dem Grundsatz, den er in seinem Monarchischen Princip von 1845 aufgestellt hatte: Zweck der Ministerverantwortlichkeit ist nicht die parlamentarische, sondern die verfassungsmäßige Regierung. In seinen rechtspolitischen Vorschlägen für die Ausgestaltung dieses Grundsatzes ging Stahl jedoch sehr weit:99 In formeller Hinsicht soll der Antrag einer Kammer für eine Ministeranklage genügen, wobei bereits einzelnen Abgeordneten das Initiativrecht zukommt. In materieller Hinsicht befürwortet Stahl eine umfassende Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit ministeriellen Handelns. Darüber hinaus begrenzt Stahl die Eingriffsmöglichkeiten des Monarchen: Das Verfahren der Ministeranklage wird nur eingestellt, wenn nicht nach Auflösung oder Vertagung der Kammern ein erneuter Entschluss gefasst wird. In der Frage, ob der König die revidierte Verfassung beeiden sollte, war die konservative Partei gespalten.100 Friedrich Wilhelm IV. selbst lehnte den Verfassungseid ab. Stahl sprach sich in seiner Denkschrift vom 2. Januar 1850 für den Verfassungseid aus und begründete dies auch in einer Audienz persönlich gegenüber dem König. Dazu verwies er auf Art. 112 der oktroyierten Verfassung, der ein eidliches Gelöbnis auf die revidierte Verfassung ausdrücklich vorsah. Auch der König dürfe nach der rechtsstaatlichen Lehre vom monarchischen Prinzip die konstitutionelle Verfassung nicht brechen – und dies umso weniger, als die politischen Folgen eines solchen Verfassungsbruchs unabsehbar sein würden. Schließlich engagierte sich Stahl in der jahrelangen Auseinandersetzung um die Umbildung der Ersten Preußischen Kammer, in der die Konfliktlinien zwischen König, Kamarilla, Regierung und konservativer Partei verliefen.101 Nach der Auffassung Stahls sollten bei der Zusammensetzung der Kammer ständische, erbliche, korporative und gewählte Elemente kombiniert werden.102 Doch die Preußische Regierung – und insbesondere Otto Theodor von Manteuffel – widersprach Stahls Vorschlag, wobei der Konflikt wahrscheinlich weniger in der Sachfrage als in der Konkurrenz zwischen der Regierung, der Kamarilla und der konservativen Partei im Hinblick auf den politischen Einfluss auf den König lag. Schwerer wog aber, dass Stahls Vorstellungen im weiteren Verlauf der Reformdiskussion nicht mit den Oberhausplänen Friedrich Wilhelms IV. zu vereinbaren waren. Stahl lehnte eine einseitig monarchisch zusammengesetzte erste Kammer ausdrücklich und öffentlich ab. In seiner Kammerrede vom 5. März 1852 99

Vgl. hierzu und zum Folgenden Füßl (Fn. 1), 284 ff. Vgl. hierzu und zum Folgenden Füßl (Fn. 1), 275 ff. Winkler Der lange Weg nach Westen, 1. Band, 2000, 132 f.; jeweils mit umfassenden Nachweisen. 101 Vgl. hierzu und zum Folgenden Grünthal (Fn. 96), 156 ff.; Füßl (Fn. 1), 306 ff. 102 Vgl. Stahl Die Bildung der ersten Kammer, Sitzung der ersten Kammer am 22. November 1849, in: ders. (Fn. 75), 53 ff.; ferner ders. Die Frage der zwei Kammern, in: ders. (Fn. 31), 20 ff.; hierzu auch Füßl (Fn. 1), 298 ff. 100

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begründete er dies damit, „daß eine Kammer, die ganz und gar von der Krone ernannt wird, nicht den Eindruck der Unabhängigkeit im Lande, und damit nicht das Gewicht und das Ansehen hat, das ihr gebührt.“103 Die Verstimmung des Monarchen über den parteipolitischen Widerspruch bekamen andere Konservative, nicht aber Stahl zu spüren, der von Friedrich Wilhelm IV. am 10. März 1852 zur Audienz gebeten wurde, um seine parlamentarische Rede dem König zu Gehör zu bringen.104 5. Deutsche Verfassungsfragen Nicht nur die preußischen, sondern auch die deutschen Verfassungsfragen beschäftigten Stahl nach der Revolution von 1848. Bei ihrer Beantwortung kam es ihm auf zwei Punkte an: Zum einen wollte Stahl die deutsche Frage vom demokratischen Prinzip entkoppeln und mit dem monarchischen Prinzip verbinden. Zum anderen ging es ihm darum, die Stellung Preußens in Deutschland zu behaupten. Dementsprechend lehnte Stahl die Paulskirche und ihre Verfassung ab, denn der Anspruch der Nationalversammlung in Frankfurt folgte seiner Meinung nach „aus dem Princip der Volkssouveränität, auf welches sie sich von Anbeginn gestellt hat. Dieses Princip der Volkssouveränität aber ist nicht bloß eine Verletzung des Rechtsbodens, sondern eine Verletzung des tiefsten sittlichen Fundaments der Staaten.“105 Für Stahl war demgegenüber die rechtmäßige Autorität in Deutschland „die Kollektivgewalt der deutschen Fürsten.“106 Da aber die deutschen Fürsten von der Nationalversammlung übergangen worden seien, war nach Stahls Auffassung auch die Ablehnung des Frankfurter Angebots der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. gerechtfertigt.107 Für die Beantwortung der deutschen Frage kam es nach Stahl vielmehr auf die „Begeisterung für ein einiges Deutschland unter dem König von Preußen als Bundeshaupt“ und die „Begeisterung für das gute alte Recht in Deutschland und für die Unverletzlichkeit der fürstlichen Autorität in Deutschland“ an.108 Doch auf dieser politischen Geschäftsgrundlage stieß Stahls Engagement im Rahmen von Preußens „Einigungsbestrebungen von

103 Stahl Die Bildung der ersten Kammer, Sitzung der ersten Kammer am 5. März 1852, in: ders. (Fn. 75), 53 (71); vgl. auch ders. ebenda, 72 f., 83 f. 104 Vgl. Füßl (Fn. 1), 335. 105 Stahl Die deutsche Kaiserwahl, Sitzung der ersten Kammer am 14. März 1849, in: ders. (Fn. 75), 124 (129); vgl. auch ders. (Fn. 31), V. 106 Stahl (Fn. 105), 126; vgl. hierzu krit. Bluntschli (Fn. 1), 161: „gespenstisches Legitimitätsprinzip“. 107 Vgl. Stahl Der gegenwärtige Stand der deutschen Sache, Neue Preußische Zeitung, Nr. 105, 8.5.1849; ders. (Fn. 43), 13; hierzu Pahlmann (Fn. 1), 257; Füßl (Fn. 1), 206. 108 Vgl. Stahl (Fn. 105), 125.

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oben“109 – der Erfurter Union – schnell an seine Grenzen: Die Erfurter Anlehnung an die Paulskirchenverfassung war für Stahl nur bei Revision des politischen Kerns akzeptabel: Stärkung der Fürsten, Behauptung Preußens, Schwächung der Zentralgewalt, Straffung des Grundrechtskatalogs, Kompetenzverkürzung des Reichsgerichts.110 Die En-bloc-Annahme der Unionsverfassung, die Friedrich Wilhelm IV. befürwortete, lehnte Stahl ab. Als konservativer Fraktionsführer begründete Stahl dies im Erfurter Unionsparlament in seiner Rede vom 12. April 1849:111 Stahl wollte den Bundesstaat nicht um jeden Preis und „die unveränderte Verfassung um keinen Preis.“ Da eine aus heterogenen Elementen zusammengesetzte Bundesverfassung in der politischen Wirklichkeit sehr leicht in eine andere Staatsform übergehen könne, müssten die beiden zentralen Grundsätze gesichert werden, auf die es ihm ankomme: die „Sanktion des monarchischen Faktors“ und die „Unversehrtheit der preußischen Krone um jeden Preis“. Anderenfalls drohe der Bundesstaat, „die Beute der Revolution“ zu werden. Dies gelte umso mehr, als sich das deutsche Volk mit den vorgeschlagenen Grundrechtsgewährleistungen „tief in den Abgrund der französischen Revolution getaucht“ habe. Und die Revolution hätten – so polemisierte Stahl noch einmal drei Tage später im Erfurter Parlament – die Liberalen wie der Zauberlehrling heraufbeschworen, aber zugleich „den Spruch vergessen, sie zu bannen, oder vielmehr dieser Spruch stand nicht in ihrem Lexikon, denn dieser Spruch heißt Autorität. (Lebhaftes Bravo von der Rechten.) Da wollten sie die Gewässer besprechen mit dem Zauberspruche ihres Systems: ‚Majorität! Majorität‘!“112 Autorität statt Majorität113 – dieses antidemokratische Schlagwort Stahls hatte schon die Runde in Deutschland gemacht, bevor die Olmützer Punktation vom 29. November 1850 der Preußischen Union ein Ende setzte.114

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Grimm (Fn. 43), 211. Vgl. Stahl Die deutsche Reichsverfassung nach den Beschlüssen der Nationalversammlung und nach dem Entwurf der drei königlichen Regierungen, 1849, 26, 44, 46 f., 51 ff., 61 ff.; speziell zur Grundrechtskritik Grimm (Fn. 11), 323; grundsätzlich Füßl (Fn. 1), 211 ff. 111 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stahl Die En-bloc-Annahme der deutschen Bundesstaats-Verfassung und der Liberalismus, Sitzung des Volkshauses in Erfurt am 12. April 1849, in: ders. (Fn. 75), 144 ff., einschließlich der folgenden Zitate; zu Stahl im Erfurter Unionsparlament Heller (Fn. 1), 32; Füßl (Fn. 1), 211, 238 ff. 112 Stahl (Fn. 111), 162. 113 Vgl. die eigene Anmerkung bei Stahl (Fn. 3), II/2, 176 Fn*; darüber hinaus Heller Autoritärer Liberalismus, in: ders. (Fn. 1), 2. Band, 643 (645); ders. (Fn. 66), 293; ders. (Fn. 1), 32; Nabrings (Fn. 83), 147 Fn. 496; Hollerbach (Fn. 1), Sp. 245. 114 Vgl. hierzu Stahl (Fn. 43), 16; Wiegand (Fn. 1), 28 f. 110

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III. Fazit Friedrich Julius Stahl starb am 10. August 1861 in Bad Brückenau.115 Mit seinem Tod begann seine wechselvolle Rezeptionsgeschichte.116 Stahl ist in ihr genauso umstritten, wie er es zu Lebzeiten war. Bis heute wird Stahl als „Chefideologe der preußischen Konservativen“117 oder „Philosoph der preußischen Reaktion“118 eingeordnet, der „nach einigen Operationen der kritischen Scheidekunst den alten Urtext wieder leserlich hervortreten“119 lässt. Dies wird Stahl aber ebenso wenig gerecht, wie Ernst Engelbergs Polemik, Stahl repräsentiere „so etwas wie Hofjudentum in Sachen Ideologie.“120 Solche Formulierungen verstellen das historische Verständnis Stahls für die Gegenwart: Stahl war ein „politischer Professor“,121 der als Konservativer ganz bewusst eine Vermittlungsposition gesucht hat122 – zwischen Revolution und Reaktion, zwischen monarchischer und demokratischer Souveränität, zwischen altem Recht und neuem Rechtsstaat, zwischen ständischer Ordnung und sozialer Frage. Schon diese Begriffspaare zeigen, dass Stahl juristisch an einem sozialpolitischen Epochenbruch entlang formuliert hat, der das historische Verständnis des gegenwärtigen Verfassungsstaats prägt. Aus diesem Grund provozieren seine schlagwortartigen Zuspitzungen – Autorität statt Majorität – seine Prinzipien – Das monarchische Prinzip, Protestantismus als politisches Prinzip123 – seine begrifflichen Analysen – Was ist die Revolution?, Reichsverfassung – seine verfassungsrechtlichen Aufsätze in der Kreuzzeitung und seine parlamentarischen Reden in der Ersten Preußischen Kammer und im Erfurter Parlament bis heute: Wer sie liest, ist selbst dann fasziniert, wenn er Stahls Position nicht teilt, aber dafür sein eigenes 115

Vgl. Pahlmann (Fn. 1), 255. Vgl. Stolleis (Fn. 1), 152; Nabrings (Fn. 83), 28 ff.; Wiegand (Fn. 1), 38 ff.; umfassend Wiegand Das Vermächtnis Friedrich Julius Stahls. Ein Beitrag zur Geschichte konservativen Rechts- und Ordnungsdenkens, 1980. 117 Boldt (Fn. 33), 213 Fn. 53; vgl. in diesem Sinn etwa auch Friedrich (Fn. 2), 172; Wehler Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 3. Band, 1995, 167, 202. 118 Heller Sozialismus und Nation, in: ders. (Fn. 1), 1. Band, 446 (448). 119 Marx Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule, in: Marx/Engels, Werke, 1. Band, 1878, 78 (85). 120 Engelberg Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, 1985, 405. 121 Vgl. Hollerbach (Fn. 1), Sp. 244 f.; Füßl (Fn. 1), passim, bes. 9 ff., 356 ff.; zur Kategorie Ehmke Karl von Rotteck, der „politische Professor“, in: ders. Politik der praktischen Vernunft, 1969, 13 (35 f.); epistemologisch Voßkuhle Die politischen Dimensionen der Staatsrechtslehre, Die Verwaltung-Beiheft 7 (2007), 135 ff. 122 Vgl. Boldt (Fn. 33), 196; Brandt Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflußfeld des monarchischen Prinzips, 1968, 106; Grimm (Fn. 11), 296 f.; Pahlmann (Fn. 1), 256 f.; Füßl (Fn. 1), 11; Stolleis (Fn. 1), 152. 123 Vgl. Stahl Protestantismus als politisches Prinzip2, 1853. 116

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liberales und demokratisches Staats- und Verfassungsverständnis historisch, politisch und rechtlich besser begreifen lernt. Insbesondere zeigt die konservative Rezeption Stahls, dass sich dessen Werk und Politik nicht auf den Begriff der „Reaktion“ reduzieren lassen. Schon am Beispiel Leopold von Gerlachs Ablehnung von Stahls programmatischem Artikel – Das Banner der Conservativen – in der Kreuzzeitung zeigt sich – neben antisemitischen Ressentiments124 – der zentrale Grund für die ambivalente Einordnung Stahls durch die preußischen Reaktionäre: Es war der preußischen Reaktion nach 1848 nicht mehr möglich, den Konstitutionalismus zugunsten eines altständischen, patrimonialen Herrschaftsverständnisses schlicht abzulehnen. Deshalb rezipierten die Reaktionäre Stahls konstitutionelle Theorie des monarchischen Prinzips,125 um ihr Unbehagen an der neuen politischen Kultur auf Stahl als ihrem eigenen programmatischen Vertreter zu projizieren. In einem Brief an Carl Schmitt, der 1936 als Mitglied der Berliner Fakultät seinem eliminatorischen Antisemitismus am Beispiel des „Jude[n] Stahl-Jolson“126 freien Lauf gelassen hatte, greift Ernst Forsthoff am 18. September 1949 das reaktionäre Vorurteil noch einmal auf: „Der preußische Konservativismus gab sich in dem Augenblick auf, in dem er die Legitimationsfragen ernst nahm. Deshalb ist er nur bis etwa 1840 interessant und der vielgepriesene Stahl war sein Totengräber.“127 In der Tat, Stahl hat die Legitimationsfragen seit seinen rechtsphilosophischen Vorlesungen als Münchner Privatdozent ernst genommen. Doch gerade dies qualifizierte Stahl – entgegen der Auffassung des Preußenmystikers Forsthoff – nicht zum Totengräber, sondern zum eigenständigen programmatischen Vordenker des preußischen Konservativismus. Stahls programmatische Innovationsfähigkeit wird vor allem im Entwurf des Programms für die konservative Partei sichtbar.128 Seine geistige Unabhängigkeit hat Stahl im politischen Widerspruch zu „seinen“ beiden Monarchen Ludwig I. und Friedrich Wilhelm IV. zum Ausdruck gebracht und auch öffentlich bekannt – am deutlichsten wohl in seiner parlamentarischen Rede Die En-bloc-Annahme der deutschen Bundesstaats-Verfassung und der Liberalismus vom 12. April 1849 in Erfurt: „Mich kann hierin nicht irren jene Entgegenhaltung officieller Aeußerungen der preußischen Regierung. Als Vertreter des Volkes stehe ich davon unabhängig. Ich würde übrigens die Stärke des Königthums ver124

Vgl. Nabrings (Fn. 83), 146; Füßl (Fn. 1), 49. Vgl. Grünthal (Fn. 96), 52. 126 Schmitt Die Deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, DJZ 1936, Sp. 1193 (1198 [Klammerzusatz durch den Verfasser]); hierzu Sinzheimer (Fn. 1), 4; grds. Schönberger (Fn. 1), 177. 127 Brief von Ernst Forsthoff an Carl Schmitt vom 18.9.1949, in: Mußgnug/Mußgnug/ Reinthal (Hrsg.) Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926-1974), 2007, 54 (56). 128 Vgl. oben Fn. 88. 125

Friedrich Julius Stahl (1802–1861)

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treten auch gegen die Königliche Regierung, und wenn es gälte, gegen den Monarchen selbst.“129 Es ist der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin zu wünschen, dass sie sich Friedrich Julius Stahls als einem ihrer geistig unabhängigen „politischen Professoren“ erinnert – und dies erscheint um so notwendiger, als der Berliner Senat am 29. November 2005 beschlossen hat, das seit 1894 bestehende Ehrengrab Stahls auf dem St.-Matthäi-Kirchhof in Schöneberg „wegen fehlender Voraussetzungen für eine weitere Anerkennung (z.B. fortlebendes Andenken in der Öffentlichkeit, besondere Verdienste um Berlin)“ nicht zu verlängern.130

129

Stahl (Fn. 111), 150. Vgl. zu Recht kritisch Otto Entehrung aus Versehen?, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 52, 3.3.2009, 33. 130

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Georg Friedrich Puchta (1798–1846) HANS-PETER HAFERKAMP

Georg Friedrich Puchta wurde 1798 in Cadolzburg bei Ansbach als Sohn des Landrichters Wolfgang Heinrich Puchta geboren.1 Der Vater war das „Musterbild eines Praktikers“2 und veröffentlichte neben seiner gerichtlichen Tätigkeit eine Reihe von Abhandlungen überwiegend zivilprozessualen Inhalts.3 Georg Friedrich wurde hiervon durchaus geprägt, entwickelte aber zugleich früh starke theoretische Interessen.4 Er besuchte zwischen 1811 und 1816 das Egidiengymnasium in Nürnberg5 und erhielt durch dessen damaligen Rektor Georg Wilhelm Friedrich Hegel wichtige philosophische Prägungen. Hier entstanden auch die Freundschaften zu später bekannten Hegelianern wie Heinrich Leo6 und Julius Friedrich Heinrich Abegg.7 Bereits in der Schulzeit brachten Niebuhrs Rechtsgeschichte8 und Hugos Institutionen9 Puchta mit der Wissenschaft vom römischen Recht in Kontakt. Von 1816 bis 1820 studierte er Rechtswissenschaften in Erlangen. Er trat der Burschenschaft der Bubenreuther bei und schloss sich hier der fränkischen Erweckungsbewegung um den Pfarrer Christian Krafft an, einer Spielart des 1

Genealogische Angaben in NDB 20 (2001) 757 (Landau). Landsberg Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3.2., 1910, 439. 3 Zu Wolfgang Heinrich Puchta: Falk Von Dienern des Staates und von anderen Richtern. Zum Selbstverständnis der deutschen Richterschaft im 19. Jahrhundert, in: Gouron u.a. (Hrsg.) Europäische und amerikanische Richterleitbilder, 1996, 251 ff. 4 Das Verhältnis zum Vater war teilweise gespannt, vgl. die zitierten Familienbriefe bei Bohnert Beiträge zu einer Biographie Georg Friedrich Puchtas, ZRG GA 96 (1979) 232 f. 5 Puchta berichtet hierüber in seinen biographischen Hinweisen in: Rudorff (Hrsg.) Georg Friedrich Puchta’s kleine civilistische Schriften, 1851, XX f. sowie im Brief an Hugo vom 2.8.1828, abgedruckt in: Jakobs (Hrsg.) Georg Friedrich Puchta. Briefe an Gustav Hugo, 2009, 88. 6 Über den „Jugendbekannten“ Leo berichtet Puchta im Brief an Hugo vom 2.1.1827, bei Jakobs (Fn. 5), 25. Mit Leo gab Puchta 1843 in Berlin die „Fliegende(n) Blätter zu Fragen des Tages“ heraus. 7 In der Staatsbibliothek Berlin findet sich ein kleiner Zettel Puchtas vom 10.8.1813: „Lebe glücklich und denke auch manchmal an Deinen Freund G.F. Puchta aus Cadolzburg“. 8 Bohnert (Fn. 4), 232 sowie Brief an Savigny vom 21.3.1836 (vgl. Fn. 20). Puchta sprach auch in den biographischen Notizen (Fn. 5), 20 f. für die Zeit vor 1820 von einem mächtigen Einfluß Niebuhrs. 9 Vgl. den Hinweis Puchtas in ders. Lehrbuch für Institutionen-Vorlesungen, 1829, XIII. 2

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Pietismus, die die individuelle Vergebung durch Christus selbst predigte.10 Auch sein Bruder Christian Heinrich Rudolf Puchta, später Stadtpfarrer in Augsburg und als Theologe und geistlicher Liederdichter anerkannt, bekam seit 1826 in diesem Kreis, zu dem auch der Naturforscher Gotthilf Heinrich Schubert11 und der Dichter Graf von Platen-Hallermünde gehörten, frühe theologische Prägungen.12 Hier begegnete Puchta 1820 auch Friedrich Wilhelm Josef Schelling, dessen philosophische Vorlesungen er 1821 in Erlangen erstmals hörte.13 Vor allem aber war es eine Lektüre von Savignys „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ von 1814, die Puchtas juristischen Werdegang entscheidend beeinflusste. Rückblickend schwärmte er vom „Gefühl . . . welches mich beim ersten und zweiten Lesen jener Blätter ergreift, und das ich am ehesten dem Einsaugen eines frischen Windeswehens nach drückender Stille, oder dem Geruch von Orangen und dem Odem südlichen Frühlings in einem sonnigen Föhrenwalde vergleichen kann“.14 Nach Dissertation und Habilitation im römischen Recht im Jahr 182015 trat Puchta 1821 eine peregrinatio academica an, die ihn durch Jena, Berlin, Göttingen, Bonn und Heidelberg führte, und wo er die persönliche Bekanntschaft von Savigny, Hugo, Göschen, Hasse, Ribbentrop, BethmannHollweg und Thibaut machte.16 Als Ergebnis dieser Reise nannte Puchta „ein Bewußtsein von dem Standpunkt und Beruf, so wie von der Methode der Wissenschaft“.17 Sein 1822 erschienener „Grundriß zu Vorlesungen über juristische Encyclopädie und Methodologie“ zeigte sich noch stark von Hegel beeinflusst.18 Handschriftlich fügte er seinem Handexemplar bei der Rechtsentstehung aber bereits das Wort „Volk“ hinzu und machte damit den inzwischen gewachsenen Einfluss Savignys deutlich.19 Mit diesem führte 10 Zu diesen Zusammenhängen Haferkamp Einflüsse der Erweckungsbewegung auf die „historisch-christliche“ Rechtsschule zwischen 1815 und 1848, in: Cancik u.a. Konfession im Recht, 2009, 71 ff. 11 Zu Schubert die Beiträge in Rössler (Hrsg.) Gotthilf Heinrich Schubert. Gedenkschrift zum 200. Geburtstag des romantischen Naturforschers, 1980. 12 Zu ihm ADB 26 (1888) 687 ff (Buchrucker). 13 Zu diesen Zusammenhängen Haferkamp Georg Friedrich Puchta und die ‚Begriffsjurisprudenz‘, 2004, 321 ff. 14 Brief an Savigny vom 18.5.1824 (Fn. 20). Er fuhr fort: „Und so muß ich alles fort und fort, was die Wissenschaft mir geworden ist, an Ihrem Namen anknüpfen, und ich komme mir selbst wie ein mittelmäßiges Buch vor, in welchem auf den guten Seiten Zitate aus Ihren Schriften und mündlichen Vorträgen stehen.“ 15 Puchta Dissertatio de itinere, actu et via, 1820, abgedruckt in Rudorff (Fn.5), S. 3–23. 16 So die persönliche Notiz in: Rudorff (Fn. 5), XXI; Ergänzungen aus den Familienbriefen bei Bohnert (Fn. 4), 232. 17 A.a.O. 18 Hierzu näher Haferkamp (Fn. 13), 257 ff. 19 Puchtas Handexemplar wie auch weite Teile seiner Bibliothek wurden nach seinem Tode von der Witwe an die heutige Staatsbibliothek Berlin verkauft und sind dort einsehbar.

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er seit 1823,20 mit Hugo spätestens seit 182621 einen intensiven Briefwechsel. Nachdem Puchta 1823 außerordentlicher Professor in Erlangen geworden war, legte er in einer Abhandlung über die Perioden in der Rechtsgeschichte22 ein offenes Bekenntnis zu den Lehren Savignys ab. 1824 begann mit einer aufsehenerregenden Rezension des „Erbrecht[s] in weltgeschichtlicher Entwicklung“ von Eduard Gans23 sein Aufstieg zu einem der schärfsten und in seiner blitzenden Polemik auch brillantesten Rezensenten seiner Zeit. Er sah es als seine Aufgabe, die Historische Rechtsschule gegenüber hegelianischen, später auch germanistischen Anfeindungen abzuschirmen.24 Dies brachte ihm bald den Ruf ein, „Lieutenant du Roi“25 Savignys zu sein. In Erlangen erschien 1828 der erste Band seines „Gewohnheitsrecht“, der nach Savignys „Beruf“ wirksamsten Gründungsschrift der Historischen Rechtsschule. Ziel war es die Rechtsentstehungslehre Savignys „nach den einzelnen Seiten hin auszubilden und darzustellen“.26 Puchta schuf damit die Rechtsquellenlehre der Historischen Rechtsschule. Ausgangspunkt war für ihn „Savigny’s Vermischung von Gewohnheits- und Juristenrecht“.27 Savigny hatte 1814 „alles Recht“ dem dreistufigen Entwicklungsgang („erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz“28) unterworfen, und auch das gemeine römische Recht, obwohl es „ein doppeltes Leben hat“, war für ihn wesentlich „Wissenschaft in den Händen der Juristen“.29 Auch dieses von den Juristen geschaffene Recht nannte Savigny 1814 jedoch missverständlich, in Abgrenzung zur Gesetzgebung, Gewohnheitsrecht.30 Puchta 20 87 Briefe Puchtas an Savigny befinden sich in der UB Marburg (MS 838/21-109) und sind inzwischen über die dortige Homepage digital greifbar. Eine teilweise Edition hat vorgelegt Bohnert Vierzehn Briefe Puchtas an Savigny, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Philologisch-historische Klasse, Jahrgang 1979, Nr. 2, 24 ff. 21 Die Briefe wurden nun von Jakobs ediert (Fn. 5). Der dortige Brief vom 17.6.1826 ist wahrscheinlich nicht der erste. 22 Erschienen 1823 im Rahmen von Puchtas Civilistischen Abhandlungen, leicht greifbar über Rudorff (Fn. 5), 135 ff.; Analyse bei Haferkamp (Fn. 13), 118 ff. 23 Puchta, Rez. Gans Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung, Teil 1, 1824, Teil 2, 1825, (Schuncks Erlanger) Jahrbücher der gesammten deutschen juristischen Literatur 1 (1826), 1-43. 24 Zu den Hintergründen Haferkamp (Fn. 13), 130 ff. 25 Puchta an Savigny vom 6.11.1828. Entgegen der Darstellung von Braun Gans und Puchta. Dokumente einer Feindschaft, JZ 1998, 764 und Bohnert (Fn. 4), 229 f. gab sich Puchta diesen Namen also nicht selbst. 26 Brief an Hugo vom 2.8.1828, bei Jakobs (Fn. 5), 86. 27 Brief an Hugo vom 2.8.1828, bei Jakobs (Fn. 5), 86. 28 Von Savigny Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, 14. 29 Von Savigny (Fn. 28), 14. 30 „Die Summe dieser Ansicht also ist, dass alles Recht auf die Weise entsteht, welche der herrschende, nicht ganz passende Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht bezeichnet, d.h. dass es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt wird, über-

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stellte hiergegen heraus, dass Gemeines Recht nicht Gewohnheits-, sondern „Juristenrecht“ sei.31 Ausgangspunkt der Überlegungen war mit Savigny die Konstruktion einer vorstaatlichen nationalen „dunklen Werkstätte“32 der Rechtsentstehung, die Puchta, in Uminterpretation eines Kernbegriffs hegelscher Philosophie, seit 182633 „Volksgeist“ nannte. Recht emanierte aus dem Volksgeist, dessen Struktur menschlicher Erkenntnis unzugänglich war: „Sichtbar ist nur das Entstandene selbst“.34 Aus primären Rechtsquellen wurden damit (mit Ausnahme der politisch zugestandenen staatlichen Gesetzgebungsgewalt) sekundär bloße Indizien. Für das Puchta primär interessierend, staatsfrei gebildete Gemeine Recht bedeutet die Betonung von Juristen-, und nicht vom Gewohnheitsrecht, dass nicht ‚äußere‘ Kriterien wie Übung, Gerichtsgebrauch oder communis opinio doctorum entscheidendes Geltungsindiz sein konnten, sondern einerseits die Teilhabe des Juristen an den ‚praktischen Bedürfnissen‘ der nationalen Rechtswirklichkeit und andererseits das ‚innere Kriterium‘ der ‚wissenschaftlichen Wahrheit‘ entscheidend war.35 Puchtas Rechtsquellenlehre versuchte die Bedürfnisse einer wissenschaftlich arbeitenden Justiz abzudecken, indem wertende und rationalwissenschaftliche Kriterien in eine Balance gebracht wurden.36 Sie reagierte auf die politischen Verhältnisse des Vormärz, in denen nationales Recht nur ohne den Staat gedacht und nur über die Justiz umgesetzt werden konnte. Bereits unter maßgeblicher Förderung durch Savigny wechselte Puchta 1828 auf ein Ordinariat nach München. Hier hörte er zwischen 1828 und 1831 Schellings Philosophievorlesungen.37 Unter dessen Einfluss konstruierte er das Recht in Annäherung an Schellings Unterscheidung zwischen positiver/historischer und negativer/logischer Philosophie. Er veröffentlichte seine Rechtsphilosophie 1841 in der ganz eigenständigen Encyklopädie als Einleitung zum ersten Band seines Cursus der Institutionen. Während Schellings positive Philosophie ihren Gegenstand in seiner Wirklichkeit als all also durch innere, stillwirkende Kräfte, nicht durch die Willkühr eines Gesetzgebers“, Savigny (Fn. 28), 13 f. 31 Die wenigen Seiten im Gewohnheitsrecht (in Band 1 vor allem die Seiten: 78–81, 146 f., 161–167), auf denen Puchta das Juristenrecht zum Gewohnheitsrecht abgrenzte, dürfen über die zentrale Bedeutung dieser Passagen im ganzen Werk nicht hinwegtäuschen. 32 Puchta Cursus der Institutionen, Band 1, 1841, 30; ebenso bezeichnete Schelling den Entstehungsgrund der Mythologie, vgl. Schelling Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, 1842, in: Schelling (Hrsg.) Sämtliche Werke, Abt. 2, Band 1, 1856, 18. 33 Erstmals in Rez. Gans (Fn. 23), 14. 34 Puchta (Fn. 32), 30. 35 Hierzu im Einzelnen Haferkamp (Fn. 13), 141 ff., 196 ff. 36 Dies habe ich näher ausgeführt in: Haferkamp The Science of Private Law and the State in Nineteenth Century Germany, in: Jansen/Michaels (Hrsg.) Beyond the State. Rethinking Private Law, 2008, 245 ff. 37 Einzelne Nachweise bei Haferkamp (Fn. 13), 321 ff.

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geschichtlich-frei in seiner Genese untersuchte, versuchte seine negative Philosophie diese Wirklichkeit als notwendig zu erklären.38 Puchta übersetzte diesen doppelten Blick in eine Trennung von Rechtsgeschichte und Rechtssystem. In seinem Cursus der Institutionen legte er seit 1841 eine Geschichte der römischen Verfassung und des römischen Rechts vor. Daneben arbeitete er seit 1829 an einem System des römischen Rechts, in welchem er versuchte, das Privatrecht aus seinem Freiheitsbegriff als einem obersten Grundsatz zu begründen.39 1832 veröffentlichte er ein „System des gemeinen Civilrechts zum Gebrauch bei Pandektenvorlesungen“, 1838 wurde daraus sein „Lehrbuch der Pandekten“, welches ab der 2. Auflage unter dem Titel „Pandekten“ zum erfolgreichsten Lehrbuch des 19. Jahrhunderts wurde und 1877, 31 Jahre nach Puchtas Tod, letztmals in 12. Auflage erschien. Wie viele andere, so las auch Rudolf von Jhering bis in die 1870er Jahre nach Puchtas Pandektenlehrbuch.40 Puchtas Trennung zwischen einer freiorganischen Rechtsentstehung und einem notwendig rationalen Verständnis dieses Rechts hat im 20. Jahrhundert zu dem Missverständnis Anlass gegeben, Puchta habe das Recht, gleich einer Pyramide, aus einem obersten Grundsatz deduktiv ableiten wollen, mithin Logik zum Rechtsentstehungsgrund gemacht.41 Gerade umgekehrt war das Gemeine (römische) Recht jedoch, um im Bild zu bleiben, die Basis der Pyramide die für Puchta in den 1830er Jahren immer deutlicher in den Vordergrund rückte. Hier fand er die Wirklichkeit, deren Vorrang seinem System den Inhalt gab. Das Recht des Juristen, diese Wirklichkeit zu verändern, trennte Puchta konsequent 1837 von der wissenschaftlichen Rechtserkenntnis, als er aus seinem Juristenrecht ein „Recht der Wissenschaft“ machte.42 Recht produzieren konnten Juristen nun nur noch, wenn ihre Rechtssätze dem „praktischen Bedürfnisse“ des Volksgeistes entsprachen, was vor allem durch dessen dauerhafte Anerkennung ausgedrückt wurde. Puchta nannte dies Juristengewohnheitsrecht. Über ein rationales, wissenschaftliches Verfahren, mittels „Analogie“ und „Consequenz“, sollten Juristen die Lücken des Rechtssystems schließen. Diese Tätigkeit folgte der Forderung, die „Ungleichheit“ der Wirklichkeit durch die „Gleichheit“ des Verstandes zu ordnen. Da es jedoch nicht darum gehen könne, wie Hegel „alles Wirkliche in den Kreis des Vernünfti38 Zu diesen Zusammenhängen Ehrhardt Zum Stand der Schelling-Forschung, in: Sandkühler (Hrsg.) F.W.J. Schelling, 1998, 40 ff.; Sandkühler F.W.J. Schelling, Ein Werk im Werden, 1998, sowie Peetz Die Freiheit im Wissen, 1996. 39 Zur Genese Haferkamp (Fn. 13), 257 ff. 40 Inzwischen ist Jherings Pandektenvorlesung nach Puchta. Ein Kollegheft aus dem Wintersemester 1859/60, hrsg. von Jäde, 2009, erschienen. 41 Zur Entstehung dieses, insbesondere durch die „Methodenlehre der Rechtswissenschaft“ von Karl Larenz seit 1960 verbreiteten Bildes Haferkamp (Fn. 13), 94 ff. 42 Er erläutert dies in: Das Gewohnheitsrecht, Band 2, 1837, 14 ff.; zum Unterschied zwischen ‚Recht der Wissenschaft‘ und ‚Juristengewohnheitsrecht‘ Haferkamp (Fn. 13), 371 ff.

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gen“43 herein zu ziehen, blieb die menschliche Freiheit und nicht die Vernunft, als „Vermögen das Nothwendige zu erkennen“,44 „Keim des Rechts“. Folgerichtig blieben rational gebildete Sätze des Rechts der Wissenschaft unsichere, vorläufige Lösungen ohne Rechtsquellencharakter. Auch hierin spiegelte sich Schellings Ansicht, dass negative Philosophie nur ein unvollständiger, aber gleichwohl unverzichtbarer Versuch sei, die frei entstehende Wirklichkeit zu begreifen. In Puchtas Dogmatik ergab sich ein komplexes Zusammenspiel zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen freier Setzung und logischer Konsequenz: „Die Entstehung des Rechts durch den unmittelbaren Willen der Nation und den Gesetzgeber ist eine freie; was sie hervorbringen, unterliegt im Einzelnen keiner eine bestimmte Linie vorschreibenden Nothwendigkeit (z.B. Formen bei der Eigenthumserwerbung, Fristen für die Ausübung von Rechten, Voraussetzungen der Verbindlichkeit der Verträge, Berechtigung zur Erbfolge u.s.w.). Im Ganzen besteht auch für sie eine gewisse Schranke in der vernünftigen Natur des Rechts; das Recht ist etwas Vernünftiges, in seiner Entwicklung einer logischen Nothwendigkeit Unterliegendes. Wenn z.B. der Gesetzgeber das Eigenthum als unmittelbare Herrschaft über eine Sache anerkennt, so anerkennt er damit nothwendig auch die vernünftigen Consequenzen aus dieser seiner Natur, wonach es z.B. in seiner Wirkung eine ganz andere Beschaffenheit hat, als die Obligatio, wiewohl freilich unter Umständen das Bedürfnis zu einer Abweichung von diesen Consequenzen führen kann“.45 Entscheidend blieb stets der doppelte Blick: „Das Recht ist ein Vernünftiges, und dieß ist die Seite, von welcher es ein System ist, einen Organismus von Gattungen und Arten bildet. Aber es ist dieß nur eine Seite des Rechts, von welcher ausgehend wir nie zu der andern, der Freiheit, gelangen würden; in dieser letzten liegt der Keim des Rechts“.46 Das Recht bestand daher aus Vernunft und Geschichte, Notwendigkeit und Freiheit und es war eine trennende, nicht insgesamt verkürzte Darstellung, die Puchta in seinem Pandektenlehrbuch auch aus didaktischen Gründen wählte: Im Lehrbuch der Institutionen wurden die Studenten des ersten Studienhalbjahres in die geschichtlich zufällige Entstehung des Rechts eingeführt, um dann im Folgehalbjahr in der Pandektenvorlesung das juristische Denken anhand der logischen Darstellung des Rechts zu erlernen.47 Puchtas enger Vertrauter Adolph Rudorff stellte 1871 klar, die Tatsache, dass in Puchtas Pandekten 43

Puchta (Fn. 32), 5. Puchta (Fn. 32), 4. 45 Puchta Vorlesungen über das heutige Römische Recht6, hrsg. von Rudorff Band 1, 1873, 25. 46 Puchta (Fn. 32), 6. 47 Zur didaktischen Aufgabe der Pandektenvorlesung im 19. Jahrhundert Haferkamp Karl Adolph von Vangerow (1808–1870) – Pandektenrecht und „Mumiencultus“, ZEuP 2008, 822 ff. 44

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die „realen Faktoren hinter dem logischen Element“ zurückträten, dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, „daß Puchta die realen Faktoren der Rechtsbildung, die historischen, politischen, öconomischen, ethischen Elemente, mit einem Worte die ganze lebenskräftige rechtsbildende Vergangenheit des römischen Rechts noch in einem zweiten Hauptwerke ausführlich und befriedigend dargestellt hat. Dieses Werk ist der „Cursus der Institutionen“.48 Für Puchta galt: „Nicht die Hervorhebung einer Seite des Ganzen ist ein einseitiges Verfahren, nur der ist einseitig zu nennen, welcher eine Seite als das Ganze behandelt.“49 Nach Ablehnung eines Rufs nach Jena nahm Puchta auf Werben Hassenpflugs 1835 einen Ruf nach Marburg an, 1837 wechselte er nach Leipzig.50 Als Savigny Ende Februar 1842 seine Professur aufgeben musste und die Leitung des neu gebildeten Ministeriums für Gesetzgebung antrat, hatten er und die Fakultät zunächst an den erfolgreichen Heidelberger Pandektenlehrer Karl Adolph von Vangerow als Nachfolger gedacht. Als aber, auch durch gezielte Indiskretionen Puchtas,51 bekannt wurde, dass Vangerow gerne in Gaststätten mit Studenten Karten spielte, stellte sich Savigny einer Berufung Vangerows nach Berlin in den Weg.52 Die Fakultät sprach sich sodann – in Erwartung seiner Unabkömmlichkeit im Rheinland – für Savignys engen Vertrauten Moritz August von Bethmann-Hollweg aus und benannte als Alternative Puchta, welcher für Savigny „den höchstmöglichen Ersatz zu gewähren verspräche“.53 Wissenschaftspolitisch stärkte das Ministerium mit der Ernennung Puchtas gegen die Hegelianer den Kreis um den 1842 ebenfalls nach Berlin berufenen Schelling und dem diesem zugerechneten Friedrich Julius Stahl,54 der seit 1840 ebenfalls in Berlin lehrte.55 Mit Stahl, Schel48

Rudorff Vorrede zur 11. Auflage von Puchtas Pandekten 1871, hier nach Abdruck der 12. Auflage 1877, VIII. 49 Puchta (Fn. 32), 100. 50 Genauer Bohnert (Fn. 4), 233 f. 51 Genüsslich hatte Vangerows Konkurrent Puchta bereits 1837 an Savigny über Vangerow berichtet: „ich sah ihn meistens, wenn ich ihn sah, in höchst geistloser Umgebung, am L’hombretisch sitzen, beim Kegelschub tätig, wobei denn freilich so leicht kein Professor zu seinem Vortheil erscheint. Wie ich ihn namentlich beim Spiel manchmal sich gehaben sah, mit einer Pfeife aus dem – S.v. – Maul hängend, ließ mich an seinem Geist manchmal irre werden“, Brief Puchtas an Savigny vom 27.6.1837. 52 Lenz Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Band II 2, 1910, 128. 53 Das Gutachten der Fakultät ist abgedruckt bei Lenz Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Band IV, 1910, 587. 54 Zu den Differenzen zwischen beiden: Haferkamp (Fn. 13), 315 ff. 55 Hierzu Harnack Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1900, 769 ff.; Fischer Moritz August von Bethmann-Hollweg und der Protestantismus (Religion, Rechts- und Staatsgedanke), Dissertation Berlin 1938; zeitgenössisch auch E.L. von Gerlach Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken 1795-1877, Band 1: 18951848 (hrsg. von J. von Gerlach), 1903, 102.

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ling, Carl von Lancizolle, Friedrich Bluhme oder Bethmann-Hollweg bereicherte Puchta zudem die Gruppe derer, die im Umfeld Savignys religiös der Erweckungsbewegung nahe standen.56 In diesem Milieu57 wurde seit den 1830er Jahren intensiv diskutiert „wie Christus und das Recht zusammenkommen“,58 ohne das Recht einerseits in der Vernunft, andererseits im Staat aufgehen zu lassen. Man fürchtete eine Verschmelzung von Gott und menschlicher Vernunft, wie sie etwa der Hegelianer Karl Friedrich Göschel59 vertrat, der zwar 1832 hervorhob, „daß das Recht von Gott kommt“.60 Wenn aber ein „unbeweglicher, fester, beständiger und ewiger Wille, dessen Daseyn den Begriff des Rechts vollendet und erschöpft“,61 angenommen wurde, wurde nicht nur „die Theologie die juristische Grundwissenschaft“,62 sondern zugleich göttliches und menschliches Recht in der Vernunft verschmolzen. Viel Kritik fand andererseits Stahl, der das positive Recht als geheiligte Ordnung verstand. Recht gelte, so meinte Stahl, „nicht als [. . .] Volks-bewußtseyn, sondern schlechthin als Recht. Der äußern gegenständlichen Ordnung als solcher wohnt das Ansehen Gottes inne [. . .] Das Recht bleibt daher in unverkürzter Geltung, auch wenn das rechtliche Bewußtseyn bei Volk und Obrigkeit längst ein anderes geworden ist“.63 Puchta beharrte gegenüber diesen Positionen darauf, dass das Recht von Gott komme, jedoch von Menschen gemacht sei, mithin weder bloße göttliche Offenbarung noch bloße menschliche Vernunft Rechtsentstehungsgrund sei. Zwar sei das Recht „für die Menschen, welche seines Ursprungs noch nicht entfremdet sind, ein Theil der Religion“,64 doch sei eben nicht Gott, sondern der Mensch Urheber des Rechts: „Wollte Jemand meinen, gegen diese Ansicht den göttlichen Ursprung des Rechts vertheidigen zu müssen, der würde sie mißverstehen. [. . .] Wir stellen nicht in Frage, daß das Recht von Gott ist, dieß wäre eine Erniedrigung des Rechts. Die Frage ist 56 Nicht zu verwechseln ist dieser Kreis mit der sog. „Maikäferei“, die politischer Treffpunkt des von den Gebrüdern Gerlach dominierten Kreises um den späteren Friedrich Wilhelm IV. war, vgl.: Fischer (Fn. 55), 72. 57 Näher zum Folgenden Haferkamp (Fn. 10), 78 ff.; ders. Die Bedeutung der Willensfreiheit für die Historische Rechtsschule, in: Lampe/Pauen/Roth (Hrsg.) Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, 2008, 196 ff. 58 Brief an Savigny vom 4.8.1835, bei Bohnert (Fn. 20), 28 f. 59 Zur Person vgl. Landsberg (Fn. 2), 370, Noten S. 171 f.; ADB IX (1879) 397 f. (Müller). 60 Göschel Zerstreute Blätter aus den Hand- und Hülfsakten eines Juristen, Erster Teil, 1832, 127. 61 Göschel (Fn. 60), 128. 62 Göschel (Fn. 60), 131. 63 Stahl Philosophie des Rechts, II 13, 1854, 235; vgl. auch in der 1. Auflage 143 ff. mit dem starken Zug zum positiven Recht; hierzu Wiegand Über Friedrich Julius Stahl, 1981, 205 ff., der auf S. 213 von einer zunehmenden „Hegemonie der ‚Natur‘ über den ‚Geist‘ “ bei Stahl spricht. 64 Puchta (Fn. 32), 23.

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nur, wie Gott das Recht hervorbringt. Wir behaupten dadurch, daß er die Recht erzeugende Kraft in die Natur der Völker gelegt hat“.65 Überscharf trennte Puchta Recht und Moral: „Nicht erst durch den Gott gefälligen Gebrauch“ werde der Mensch zum berechtigten Wesen, nicht dadurch erst, dass er sich zum Guten entschließt, „zum Gehorsam gegen Gott“.66 Puchta nutzte den Sündenfall als Nachweis der menschlichen Freiheit auch gegen Gott, zum Guten und zum Bösen. Philosophisch war dies erneut mit Schelling abgesichert, der, weitergehend als Kant, bereits 1809 in der Freiheitsschrift unter Bezugnahme auf den Sündenfall betont hatte, die menschliche Freiheit sei „Wahl zwischen Gutem und Bösem“.67 Daraus folgte, so Savigny 1839, die „nur in Freiheit mögliche Entwicklung des Guten“.68 Puchta meinte übereinstimmend: „Der Mensch hat die Freiheit, auf dass er durch seine freie Bestimmung den Willen Gottes ausführe.“69 Hintergrund war die optimistische Auffassung, dass die inhaltlich ungebundene menschliche Freiheit als Rechtsentstehungsgrund dem Recht eine „Bildungsgeschichte“ gebe und – getrieben von einem göttlich durchwirkten „Sinn des Rechts“ – im Volksgeist ein „allgemeines Recht der civilisierten Nationen“ zu schaffen in der Lage war.70 Das Recht lief gerade infolge freier Entstehung immer stärker auf Gott zu. Dies implizierte, dass Recht nicht vom Staat her gedacht werden durfte. Es ging gerade um Autonomie des von Juristen geprägten Rechts auch gegen den Staat: „Der Mensch leitet sein Recht nicht vom Staat ab, sondern von jenem Ausspruch: Seid fruchtbar und mehret euch, und füllet die Erde, und machet sie euch unterthan, welcher über alle Staaten hinaufreicht, und aus dem sie selbst sich ableiten.“71 Puchta fürchtete die „Staatskünstler, mögen sie in der Jakobinermütze oder der Tiara auftreten“72. Als Puchta am 8.1.1846 überraschend und qualvoll starb,73 stand er auf der Höhe seines Ruhmes. Er war Mitglied des Spruchkollegiums der Fakul65 Puchta Vorlesungen über das heutige römische Recht, aus dem Nachlaß, hsrg. von Rudorff Band 1, 1847, 23. 66 Puchta (Fn. 32), 9; „Keim des Rechts“ ebenda, 6. 67 Puchta (Fn. 32), 9; nach Schelling Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 1809, in: Schelling Sämtliche Werke, Band 7, 1860, 352. 68 Aus einem Manuskript zu § 52 des Systems, abgedruckt bei: Kiefner Das Rechtsverhältnis, in: Horn (Hrsg.) Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, 1982, 159. 69 Puchta (Fn. 32), 8. 70 Zitate nach Puchta (Fn. 32), 21, 18, 107; hierzu im Einzelnen: Haferkamp (Fn. 13), 342 ff. 71 Puchta Einleitung in das Recht der Kirche, 1840, 68. 72 So Puchta brieflich an Ludwig von Gerlach, abgedruckt bei: Liermann/Schoeps (Hrsg.), Materialien zur preußischen Ehescheidungsreform im Vormärz, 1961, 501; hierzu Haferkamp (Fn. 13), 434 ff. 73 Dies berichtet Friedrich Julius Stahl in seinem Nachruf, in: Rudorff (Fn. 5), V, XII; ergänzend Bohnert (Fn. 4), 230.

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tät, zunächst seit 1842 Hilfsarbeiter, seit 1844 dann Rat am Obertribunal geworden.74 Als Richter hatte er großen Erfolg. Der Obertribunalpräsident, in dessen Senat Puchta mitarbeitete, urteilte über Puchtas Fähigkeiten als Richter: „Ist doch nur ein Professor und hat eben ins Landrecht hineingerochen, beherrscht aber den ganzen Senat, tanzen alle nach seiner Pfeife.“75 Seine Schriften, von der Berliner Fakultät als „gleich ausgezeichnet durch Geist und Gehalt wie durch treffliche Darstellungsgabe“76 bezeichnet, waren weithin anerkannt. 1845 wurde er preußischer Staatsrat und Mitglied der Gesetzgebungskommission. Gleichwohl ahnte er, dass die Zeit seiner Rechtswissenschaft bald beendet sein würde. Schon 1837 hatte er gegenüber Hugo angekündigt, ein Wort über die „neue dogmatische Schule“ sprechen zu wollen, zu der er etwa Carl Ferdinand Sintenis zählte, und deren „eigenthümliches Verdienst“ darin bestehe, „daß sie weder von Philosophie noch Geschichte etwas versteht noch wissen will“.77 1838 veröffentlichte er anonym und bezeichnender Weise in Ruges hegelianischem Hausorgan eine Abhandlung über „Juristische Gegensätze des Tages“,78 in der er den Schulterschluss mit den Hegelianern übte und als gemeinsamen Gegner die „Schule der Todten“ benannte, die die „starre und reine juristische Consequenz für sich von den belebten, organischen Zuständen und ihrer Entwicklung“ entferne und der Jurisprudenz das „steinerne, trockene Ansehen“ gebe, das zwangsweise eintrete, wenn man „eine Vermählung mit nichtjuristischen Principien“ versäume. Er verlangte Bildung der Juristen „durch antike und moderne Literatur überhaupt, mag es Historie, Philosophie, poetische Gabe, oder eine Vereinigung von mehreren dieser Momente sein“.79 Nach 1848 wurde Puchtas Befürchtung Wirklichkeit und gerade seine Jurisprudenz von ihrer engen Verknüpfung mit Philosophie und Theologie getrennt. Sein Pandektenlehrbuch wurde nun, von seiner wissenschaftlichen wie didaktischen Konzeption gelöst, als Vorbild für eine Dogmatik gefeiert, die, durch streng wissenschaftliche Begrifflichkeit gegen den Staat abgeschirmt und durch „Konstruktion“ praxistauglicher Dogmatik „durch die römischen Quellen hindurch“80 ein modernes, systematisches, nationales 74

Bohnert (Fn. 4), 230. Zitiert nach Bekker Festgabe der deutschen Juristen-Zeitung zum 500-jährigen Jubiläum der Universität Leipzig, 1909, Sp. 97. 76 Fakultätsgutachten, zitiert nach Lenz (Fn. 53), 587. 77 Brief an Hugo vom 8.3.1837, bei Jakobs (Fn. 5), 171 f. 78 Puchta (anonym) Juristische Gegensätze des Tages, Hallesche Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 1838, Sp. 785–789. 79 A.a.O., Sp. 787–789. 80 Zu Neuausrichtung der Pandektistik im Umfeld der „Wendepunkte“ Gagnér Zielsetzungen und Werkgestaltung in Paul Roths Wissenschaft, FS Krause 1975, 276 ff., ND mit hilfreichem Inhaltsverzeichnis in: Gagnér Abhandlungen zur europäischen Rechtsgeschichte, 2004, 347 ff. 75

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und liberales Zivilrecht schuf. Durch Carl Friedrich von Gerber und Paul Laband machte diese Konstruktionsjurisprudenz auch im Staatsrecht Karriere, bevor auch sie nach 1871 der staatlichen Rechtssetzungsprärogative untergeordnet und seit 1884 unter Jherings Terminus „Begriffsjurisprudenz“ als methodisch verfehlt begraben wurde.81

81 Für das Staatsrecht ist inzwischen die alte Vorstellung der Herrschaft einer ‚Begriffsjurisprudenz‘ bis Weimar widerlegt worden, vgl. Pauly Der Methodenwandel im Spätkonstitutionalismus, 1993, 228 ff.; Schönberger Das Parlament im Anstaltsstaat, 1997, 83 ff., 121 ff.; Korioth Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, AöR 1992, 212 ff.; zu Gerber nun klärend Kremer Die Willensmacht des Staates. Die gemeindeutsche Staatsrechtslehre des Carl Friedrich von Gerber, 2008; guter Längsschnitt von Jouanjan Une Histoire de la Pensée Jurisdique en Allemagne (1800–1918). Idealisme et concentualisme chez les juristes allemands du vixe siècle, 2005.

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Rudolf von Gneist (1816–1895) Die altenglische Verwaltung als Vorbild für den preußischen Rechtsstaat CHRISTOPH SCHÖNBERGER

I. Ein politischer Professor an der Friedrich-WilhelmsUniversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der junge Gneist vor und in der Revolution von 1848 . . . . 2. Im Nachmärz: Englandstudien, Ordinariat, liberaler Abgeordneter im preußischen Verfassungskonflikt . . . . . . . . . . 3. Im Bund mit Bismarck: Nationalliberaler Vorkämpfer für Selbstverwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit; der alte Achtundvierziger als preußischer Würdenträger . . . . . . . . II. England als Vorbild: Der Angelpunkt von Gneists wissenschaftlichem Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gneist als Pionier der Verwaltungsrechtsvergleichung mit England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freie Verwaltung als Grundlage einer freien Verfassung: Verfassungsrecht als gebündeltes Verwaltungsrecht . . . . . . III. Gneists Leitidee: die ehrenamtliche Selbstverwaltung . . . . . 1. Der ehrenamtliche Friedensrichter als Inkarnation der englischen Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Problematik von Gneists Selbstverwaltungskonzeption . a) Fragwürdigkeit seines Englandbilds; Zweifelhaftigkeit der Übertragbarkeit auf die preußisch-deutschen Verhältnisse b) Selbstverwaltung ohne gewählte Organe? . . . . . . . . . . . 3. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit als Form der Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Was bleibt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Unter den Staatsrechtslehrern der Berliner Universität im 19. Jahrhundert war Gneist der politisch umtriebigste, er war der Professor unter den Politikern und der Politiker unter den Professoren. Bereits als Dreiundzwanzigjähriger hielt der Privatdozent seine ersten Vorlesungen an der Juristischen Fakultät und begann, sich für die Einführung von Geschworenengerichten einzusetzen. Im „tollen Jahr“ 1848 sah man das enfant terrible der Fakultät

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an der Spitze einer Dozentenrevolte gegen die Ordinarienherrschaft und als unbotmäßigen Berliner Stadtverordneten in einer Audienz beim Thronfolger Prinz Wilhelm. Als führender liberaler Abgeordneter des Landtags bot Gneist im preußischen Verfassungskonflikt (1862–1866) Bismarck die Stirn. In den siebziger Jahren wurde er schließlich zum Wegbereiter der preußischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und nebenamtlichen Richter am neu errichteten preußischen Oberverwaltungsgericht. Leitbild Gneists waren über Jahrzehnte hinweg Verfassung und Verwaltung Englands. Wie viele Liberale seiner Zeit sah er in der englischen Freiheit das Ziel für die preußisch-deutsche Entwicklung und wurde deshalb zum Pionier der rechtsvergleichenden Beschäftigung mit dem englischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Zunehmend skeptisch gegenüber der parlamentarischen Regierungsweise und der Demokratisierung des Wahlrechts, war Gneist davon überzeugt, dass die Grundlage einer freiheitlichen Verfassung in einer freiheitlichen Verwaltung lag. Er orientierte sich am Ideal der altenglischen Verwaltung durch unabhängige Gentlemen und plädierte für den Einbau starker ehrenamtlicher Laienelemente in die preußische Bürokratie und Verwaltungsgerichtsbarkeit.

I. Ein politischer Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität 1. Der junge Gneist vor und in der Revolution von 1848 Sein gesamtes wissenschaftlich-politisches Leben hat Gneist in Berlin1 und an der Juristischen Fakultät der Berliner Universität verbracht.2 1816 in Berlin als Sohn eines Justizkommissars am Kammergericht3 geboren, begann der gerade Siebzehnjährige im Herbst 1833 sein Jurastudium an der Friedrich-Wilhelms-Universität, mit der er dann bis zu seinem Tod 1895 verbunden blieb. Wie die Mehrzahl der preußischen Beamten stammte Gneist aus der bürgerlichen Mittelschicht der ostelbischen Provinzen, und sein Welt1 Otto von Gierke hat in seiner eindrucksvollen Gedenkrede auf Gneist in der Berliner Juristischen Gesellschaft im Oktober 1895 hervorgehoben, Gneist sei „schon durch seinen äußeren Lebensgang mit Berlin inniger als vielleicht irgend ein anderer hervorragender Zeitgenosse verwachsen“ gewesen: Rudolf von Gneist, 1896, 8–10 (Zitat: S. 9); vgl. dazu auch Schiffer Rudolf von Gneist, 1929, 1. 2 Zur Biographie zusammenfassend Angermann Gneist, NDB 6 (1964) 487–489; Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2, 1992, 385–388; eingehend Hahn Rudolf von Gneist 1816–1895. Ein politischer Jurist in der Bismarckzeit, 1995. 3 Ein Justizkommissar war im damaligen preußischen Gerichtswesen eine Art beamteter Rechtsanwalt. Gneists Vater Ernst Andreas Gneist (1777–1845), der Sohn eines preußischen Offiziers, war später Landgerichtsrat in Eisleben und Aschersleben, weshalb Gneist seine Gymnasialzeit außerhalb Berlins am Königlichen Gymnasium in Eisleben verbrachte; dazu näher Hahn (Fn. 2), 2.

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bild war von preußischem Pflichtethos und preußischem Staatssinn geprägt. Der weitgehend mittellose Gneist durchlief seine Ausbildung mit enormer Arbeitskraft und großer Geschwindigkeit. Nach Abschluss seines Studiums 1836 bemühte er sich parallel um zwei berufliche Wege, im preußischen Justizdienst und an der Universität; auf beiden Wegen war damals freilich erst nach langen Jahren eine bezahlte Anstellung zu erreichen. Seit 1841 war Gneist Assessor am Kammergericht, seit 1847 Hilfsrichter am preußischen Obertribunal. 1838 promoviert, 1839 habilitiert und vom Militärdienst befreit, begann der junge Privatdozent bereits im Herbst 1839 dreiundzwanzigjährig seine Vorlesungstätigkeit an der Juristischen Fakultät. Er las über Römisches Recht, Straf- und Prozessrecht und wurde rasch zu einem erfolgreichen akademischen Lehrer, der wirkungsvoll vortrug und in den rechtspolitischen Debatten der Zeit – etwa zur Reform des Strafprozesses und der Einführung von Geschworenengerichten – liberal-fortschrittliche Ansichten vertrat. Aufgrund der beträchtlichen Kolleggelder, die damalige Studenten an ihre Dozenten zu entrichten hatten, bildete dieser Lehrerfolg Gneists wirtschaftliche Existenzgrundlage. 1845 wurde er außerordentlicher Professor. Bei aller liberalen Überzeugung hielt sich Gneist zunächst noch an die in seiner Ernennungsurkunde enthaltene zeitübliche Mahnung, „sich so zu betragen, wie es einem treuen und geschickten königlichen Diener und Professor wohl ansteht und gebührt“.4 Das änderte sich mit der Märzrevolution von 1848. Gneist engagierte sich jetzt in Fragen der Universitätsreform und der Stadtpolitik. An der Friedrichs-Wilhelms-Universität führte der junge Extraordinarius eine Revolte der Privatdozenten und außerordentlichen Professoren an, die die Ordinarienherrschaft in den Universitätsgremien beenden wollte. Das entsprechende Komitee forderte insbesondere die Wahl des Rektors, der Dekane und der Mitglieder des Senats auf breiter Grundlage unter Beteiligung der Studenten. Zugleich setzte es sich für eine Stärkung der Aufsicht des staatlichen Kurators gegenüber den Ordinarien ein, um inneruniversitäre „Verwaltungs-Intrigen“, „Nepotismus“, „Abhängigkeit von oben“ und „Gönnerschaft nach unten“ zu beenden. Vom Universitätslehrer forderte das Komitee „durch Wort und That an der Gestaltung des Staatslebens sich zu betheiligen und Partei zu nehmen“.5 Als Berliner Stadtverordneter mischte sich Gneist auch in die revolutionären Auseinandersetzungen zwischen dem König und der preußischen Nationalversammlung ein und versuchte vergeblich, die Krone mit legalistischen Argumenten zu einem harmonischen Ausgleich mit der Versammlung anzuhalten. In einer Audienz beim Thronfolger Prinz Wilhelm – dem späteren König und Kaiser, der sich in der Re4 Urkunde von Eichhorn an Gneist vom 20.3.1845; Nachweis dazu bei Hahn (Fn. 2), 9 mit Fn. 28. 5 Dazu näher Hahn (Fn. 2), 10–16.

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volution den Spitznamen des reaktionären „Kartätschenprinzen“ erwarb – trat Gneist im November 1848 ohne Erfolg als Sprecher einer Delegation der Stadtverordneten auf.6 Die Position der Liberalen zum Verhältnis von Gesetz und Verordnung, Selbstverwaltung und Geschworenenjustiz verteidigte er auch in kleineren Schriften. Kennzeichnend für ihn war dabei ein gemäßigter Liberalismus, der Königtum und monarchischen Staat bejahte, aber auf deren schrittweise Entfeudalisierung und Modernisierung setzte. Sein Engagement im Jahr 1848 hatte für Gneist auch berufliche Konsequenzen, wurde er doch infolge seines Auftritts vor dem Prinzen von Preußen aus seiner Tätigkeit am Obertribunal hinausgedrängt.7 2. Im Nachmärz: Englandstudien, Ordinariat, liberaler Abgeordneter im preußischen Verfassungskonflikt Nach dem Scheitern der Revolution herrschte im Preußen der fünfziger Jahre die Reaktion. Gneist blieb der Bürokratie politisch suspekt, seine ungewöhnlich populären Vorlesungen sicherten ihn aber beruflich weiterhin ab. Er widmete sich nun verstärkt seinen wissenschaftlichen Publikationen, die immer in enger Fühlung mit der zeitgenössischen politischen Entwicklung blieben. Hierbei trat die Beschäftigung mit England als dem Mutterland der politischen Freiheit in den Vordergrund, die Gneists wissenschaftlichen Ruhm begründen sollte.8 Nach Erscheinen des ersten Bandes seiner Studie zum englischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht erlangte er schließlich 1858 auch das Ordinariat an der Berliner Universität. Seine Berufung auf eine ordentliche Professur war zuvor an der Reaktion in Preußen ebenso gescheitert wie an der Zurückhaltung der Juristischen Fakultät gegenüber einem politisch exponierten Extraordinarius, der noch nicht durch umfangreichere wissenschaftliche Publikationen ausgewiesen war und aufgrund seines großen Lehrerfolgs wohl auch als unliebsame Konkurrenz empfunden wurde.9 Nach Beginn der „Neuen Ära“ in Preußen 185810 entfaltete sich Gneists wissenschaftlich-politisches Engagement insgesamt neu. Er wurde wieder Berliner Stadtverordneter, dann auch Abgeordneter des preußischen Land-

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Hahn (Fn. 2), 16–24 (zur Audienz bei Prinz Wilhelm: S. 22). Zu den Umständen näher Schiffer (Fn. 1), 7–9; Hahn (Fn. 2), 23. 8 Zu Gneists Schriften über England näher unter II. 9 Zur Entwicklung von Gneists Position an der Fakultät Hahn (Fn. 2), 48–52; vgl. dazu auch Schiffer (Fn. 1), 12–14. 10 Es handelte sich um die zeitgenössische Bezeichnung für die Übernahme der Regentschaft durch Prinz Wilhelm im Oktober 1858, die durch die Geisteskrankheit König Friedrich Wilhelm IV. nötig wurde. Die Liberalen knüpften an den vorgezogenen Thronwechsel zunächst große Hoffnungen auf eine Liberalisierung der inneren Verhältnisse Preußens, die bald enttäuscht wurden. 7

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tags und schließlich des Reichstags des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches. Dank seiner juristischen Kenntnisse und Rednergabe entwickelte sich Gneist rasch zum führenden Sprecher der Liberalen im preußischen Abgeordnetenhaus und Hauptgegner Bismarcks während der Jahre des Verfassungskonflikts (1862–1866). Kern des Konflikts war die Opposition des Landtags gegenüber der von der preußischen Regierung verfolgten Heeresreform. Die Regierung wollte die Bedeutung der Landwehr – die seit der Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon bürgerlich geprägt war – reduzieren und eine stärker professionelle, aber auch stärker königstreue Armee schaffen. Der Landtag widersetzte sich einer derartigen Gesetzgebung und verweigerte jahrelang entsprechende Budgets. Gegen den Widerstand des Landtags setzte die Regierung Bismarck die Heeresreform im Verwaltungsweg um und legte dabei den letzten vom Landtag regulär gebilligten Haushaltsplan zugrunde.11 Gneist hing besonders an der Landwehr, handelte es sich doch beim dortigen unbesoldeten Offiziersdienst um die Übernahme einer persönlichen staatlichen Dienstpflicht durch die Bürgerschaft, was für ihn der Kern politischer Freiheit überhaupt war.12 Nach seiner Überzeugung13 bedurfte die Armeereform eines Gesetzes, das nur König und Kammern gemeinsam beschließen konnten. Er teilte zwar durchaus die bei den Liberalen sehr umstrittene Position Bismarcks, die Regierung dürfe alle gesetzlich festgelegten Ausgaben auf der Grundlage des letzten Haushaltsgesetzes erfüllen, bis ein neues verabschiedet wurde. Jedoch fehlte der Regierung aus seiner Sicht die 11 Zu den zeitgenössischen rechtlichen Positionen und späteren Deutungen Boldt Verfassungskonflikt und Verfassungshistorie. Eine Auseinandersetzung mit Ernst Rudolf Huber, in: Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert. Beihefte zu „Der Staat“, Heft 1, 1975, 75–102; ders., Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850. Probleme ihrer Interpretation, in: Puhle/Wehler (Hrsg.) Preußen im Rückblick (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 6), 1980, 224–246. 12 Gneist behauptete, in den Heerkörpern der Landwehr repräsentiere „der unbesoldete Offizier und Unteroffizier nicht blos das königliche Amt, sondern auch den eigenen Besitz“, und dort würden „die guten Gewohnheiten des Soldaten mit den guten Gewohnheiten des Bürgers unwillkürlich eins“: Gneist Die Lage der preußischen Heeresorganisation am 29. September 1862 nebst einem Zusatz über die Landwehr, 1862, 28. Bereits früher hatte er betont, die Landwehr der allgemeinen Wehrpflicht bedeute „für die Gewöhnung des Volks an den Gehorsam in der Freiheit und zur Regelung der Standesverhältnisse ungefähr das, was Gerichts- und Polizeiverwaltung für England ist“: Gneist Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Band 2: Die heutige englische Communalverfassung oder das System des Selfgovernment in seiner heutigen Gestalt, 1860, 942. Die Landwehr entsprach seinem Bild der Selbstverwaltung als Betrauung der höheren Schichten mit staatlichen Ehrenämtern; dazu näher Hahn (Fn. 2), 81 f., 106 f., 111 f., 133 f. 13 Zu Gneists Haltung im Verfassungskonflikt insgesamt Hahn (Fn. 2), 97–134; instruktiv zu seiner Position auch eine während des Konflikts geschriebene Analyse aus Perspektive der zeitgenössischen Liberalen: Anonymus, Rudolf Gneist als Publicist und Abgeordneter, in: Unsere Zeit. Jahrbuch zum Conversations-Lexikon, 1863, 721–753 (738– 752).

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Befugnis, im Verwaltungsvollzug eine Heeresreform durchzusetzen, für die es keine gesetzliche Grundlage gab. Charakteristisch für Gneist war der Versuch, den Konflikt als Rechtsfrage zu behandeln und ihn im Sinne eines einverständlichen Zusammenwirkens von Krone und Parlament zu lösen. Der Bismarckschen Machtpolitik stand dieser Legalismus, der von seiner eigenen moralischen Überlegenheit zutiefst überzeugt war, in ohnmächtiger Verständnislosigkeit gegenüber. Gneist blieb aber immerhin zunächst konsequent. Als die Regierung nach dem preußischen Sieg über Österreich im Sommer 1866 den Landtag mit der Indemnitätsvorlage bat, das budgetlose Regiment der vorangegangenen Jahre nachträglich gutzuheißen, verweigerte er die Zustimmung. 3. Im Bund mit Bismarck: Nationalliberaler Vorkämpfer für Selbstverwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit; der alte Achtundvierziger als preußischer Würdenträger Danach schwenkte Gneist zunehmend auf die nationalliberale Haltung der Reichsgründungsjahre ein, trug wie viele Liberale Kulturkampf und Sozialistengesetze mit und versuchte, seine Positionen zu Selbstverwaltung und rechtsstaatlicher Verwaltungskontrolle in Preußen und dem jungen Reich durchzusetzen. Seine altpreußische Staatsorientierung und große Anpassungsfähigkeit an sich wandelnde politische Konstellationen erleichterten diese Entwicklung. Über lange Jahre hinweg war Gneist auch immer wieder Präsident des von ihm mitbegründeten Deutschen Juristentages. Gegen Ende seines langen Lebens wurde er mit Ehrungen überhäuft,14 vor allem im Drei-Kaiser-Jahr 1888. Bismarck empfahl seinen alten Widersacher damals als staatsrechtlichen Erzieher für den jungen Prinzen Wilhelm, dessen Thronbesteigung angesichts des hohen Alters Kaiser Wilhelms I. und der schweren Krankheit seines Vaters, des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, absehbar war. Im Februar 1888 schrieb Prinz Wilhelm seinem greisen Großvater kurz vor dessen Tod, Bismarck habe ihn über Gneist „völlig orientiert und auch betont, wie er jetzt loyal und durch und durch gouvernemental ist“.15 Kaiser Friedrich, der Schwiegersohn der englischen Königin, auf dessen Thronbesteigung die anglophilen Liberalen einst so große Hoffnungen 14 Philipp Zorn schrieb in seinem Nachruf: „Außerordentliche Ehren, wie sie nur selten ein Professorenleben schmücken, waren allmählich auf den greisen Gelehrten gehäuft worden: die Adelskrone, der Wirkliche Geheime Rath, das Prädikat Exzellenz. In der Geschichte der deutschen Wissenschaft bleibt er für alle Zeit eingezeichnet als der einfache Rudolf Gneist“, Rudolf Gneist †, Juristisches Literaturblatt 67 (1895) 145–147 (145). 15 Brief Prinz Wilhelms an Kaiser Wilhelm I. vom 22.2.1888, abgedruckt in: Kaiser Wilhelm II., Aus meinem Leben, 1927, 369. Durch den Militärdienst des Prinzen und die Ereignisse des Jahres 1888 kam es aber nur zu wenigen Prinzenvorträgen Gneists; vgl. dazu Kaiser Wilhelm II., ebenda, 247.

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gesetzt hatten,16 erhob Gneist während seiner kurzen dreimonatigen Regierungszeit in den erblichen Adelsstand. Im selben Jahr wurde dieser als erster Jurist seit Savigny in die Friedensklasse des Ordens Pour le mérite berufen. Der alte Achtundvierziger, der 1895 fast achtzigjährig in Berlin starb, war im preußischen Staat zu höchsten Ehren gelangt.

II. England als Vorbild: Der Angelpunkt von Gneists wissenschaftlichem Werk Der Angelpunkt von Gneists gesamtem wissenschaftlichem Werk war seine Beschäftigung mit dem englischen Verwaltungs- und Verfassungsrecht.17 Er war der eigentliche Pionier einer rechtsvergleichenden Beschäftigung mit dem öffentlichen Recht Englands.18 1. Gneist als Pionier der Verwaltungsrechtsvergleichung mit England Diese Beschäftigung folgte von Beginn an einem rechtspolitischen Impetus. Gneist suchte in England das Vorbild für die Reform der preußischen Verhältnisse. Wie nicht wenigen deutschen Liberalen des 19. Jahrhunderts sollten auch ihm die fortgeschritteneren Länder des Westens Orientierung für die deutsche Entwicklung bieten19: 16 Noch im bundesrepublikanischen Rückblick haben sich an seiner Person gelegentlich anglophile Hoffnungen auf eine liberale Alternative der preußisch-deutschen Geschichte festgemacht: Dahrendorf Warum die Deutschen den Kronprinzen nicht mögen, in: Dahrendorf Reisen nach innen und außen. Aspekte der Zeit (1984), 1986, 131–138. 17 Die beste Gesamtdarstellung von Gneists an England orientierter Verwaltungsrechtslehre findet sich immer noch bei Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, 1950, 372–403; vgl. auch SchmidtEichstaedt Staatsverwaltung und Selbstverwaltung bei Rudolf von Gneist, Die Verwaltung 8 (1975), 345–362. 18 Dazu Pöggeler Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht. Ein Beitrag zur Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte 1748–1914, 1995, 80–88; Heyen Französisches und englisches Verwaltungsrecht in der deutschen Rechtsvergleichung des 19. Jahrhunderts: Mohl, Stein, Gneist, Mayer, Hatschek, in: Heyen (Hrsg.) Verwaltung und Verwaltungsrecht in Frankreich und England (18./19. Jh.). Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 8 (1996) 163–189 (175–180); Hahn (Fn. 2), 57-95; Hatschek Artikel: Gneist, ADB 49 (1904) 403–413 (408–412); ders. Englisches Staatsrecht, mit Berücksichtigung der für Schottland und Irland geltenden Sonderheiten, Band 1: Die Verfassung, 1905, 23–28; Anonymus (Fn. 13), 722–730. 19 Für den Blick nach England vgl. dazu insgesamt McClelland The German Historians and England. A Study in Nineteenth-Century Views, 1971, mit einer instruktiven Analyse zum Englandbild Gneists (135–144). Hatschek (Gneist [Fn. 18], 408) hat treffend formuliert: „Beinahe alle diese Männer haben die Eigentümlichkeit, dass sie nach England ihre Blicke wenden, wenn die Not daheim am größten und eine Krise des heimischen Staatswesens eingetreten ist oder einzutreten droht. Mit politisch so befangenen Blicken sehen sie

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„Der Beruf der Rechtswissenschaft ist es heute nicht mehr, sogenannte gelehrte Bücher über ferne fremde Rechte und Verfassungen zu schreiben, und nebenbei einige unvorgreifliche Bedenken über die Zustände des Vaterlandes einzuflechten. Noch weniger hat sie Muße zu Betrachtungen über ein absolutes, aber leider heute unanwendbares Recht. Geschichte und System des englischen Selfgovernment müssten völlig geist- und zusammenhanglos behandelt sein, wenn sie nicht zu anwendbaren Grundsätzen für unsere Gegenwart kommen sollten. Ich füge daher die Verbindungsglieder der deutschen und englischen Gegenwart hinzu, so kurz und so gut wie ich sie verstehe . . .“20

Gneist war sich durchaus darüber im Klaren, dass ein Import fremder Institutionen in das eigene Land kein einfaches Unterfangen ist.21 Zwar war er davon überzeugt, aus der Analyse der vorbildhaften englischen Verwaltung ließen sich „anwendbare Grundsätze“22 gewinnen, die für die preußische Verwaltungsentwicklung als Leitschnur dienen konnten. Eine schematische Verpflanzung englischer Verwaltungsformen nach Preußen lehnte er hingegen ab. So sehr seine Darstellung sich immer wieder auf England und Frankreich als „die beiden Extreme Europas“ bezog und so sehr Gneist dabei auch Frankreich kritisierte und England rühmte,23 so wenig sah er doch in einem dieser Staaten eine schlichte Blaupause für die preußisch-deutsche Entwicklung: „Wenn beide Länder einen Anspruch auf eine Geltung als Musterstaaten der Civilisation machen, so ist dies in dem Sinne richtig, dass beide die in Europa möglichen Elemente zu politischen und socialen Combinationen in sich tragen. Unrichtig, wenn man darunter versteht, dass Deutschland dem einen oder dem anderen mustergültigen Beispiel zu folgen habe. Englische und französische Staatsbildung können uns nur Mittel der Erkenntnis unseres Selbst sein, die der deutsche Geist so gern in weiter Ferne sucht.“24

das englische Vorbild an und konstruieren in das englische Recht jene Tatsachen hinein, die sie für die weitere heimische Staatsentwicklung als notwendig ansehen. Auch G.[neist, d.V.] ist von diesem Fehler nicht freizusprechen“. 20 Gneist Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht 2 (Fn. 12), IX f., Hervorhebung dort. 21 Dazu Gierke (Fn. 1), 25; Hatschek Gneist (Fn. 18), 412; Heffter (Fn. 17), 390 f. Auch bei seiner Beratung einer japanischen Delegation im Vorfeld des Erlasses der japanischen Verfassung von 1889 hat sich Gneist kritisch zu dem Gedanken geäußert, man könne eine Verfassung unbesehen von einem Land in ein anderes verpflanzen: Luig Rudolf von Gneist und die japanische Verfassung von 1889, in: Japanisches Kulturinstitut Köln (Hrsg.) Kulturvermittler zwischen Japan und Deutschland. Biographische Skizzen aus vier Jahrhunderten, 1990, 50–77 (70). 22 Gneist Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht 2 (Fn. 12), 828– 964: „Die anwendbaren Grundsätze des Selfgovernment“. 23 Zur ständigen Kontrastierung Frankreich-England bei Gneist siehe Heyen (Fn. 18), 178 f. 24 Nicht ohne nationalen Stolz fährt Gneist (Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht 2 [Fn. 12], 833) fort, die „wirkliche Gestaltung unseres Staatswesens“ könne schon deshalb weder dem englischen noch dem französischen Beispiel folgen, „weil

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Es ging Gneist nicht um passives Rezipieren, sondern aktives Adaptieren der englischen Erfahrungen.25 Letztlich sollte das nachmärzliche Preußen das bessere England werden, wollte er „durch England über England hinaus“.26 Seine Sicht der englischen Verhältnisse blieb gerade auch deshalb freilich stark durch den preußischen Blickwinkel geprägt. Er beschrieb das englische Verwaltungsrecht unbefangen mit den heimischen preußischdeutschen Rechtsbegriffen und nahm es in einer Weise wahr, die seinem Reformprogramm für die preußische Verwaltung entsprach. Ungeachtet dieser Problematik war Gneists Beschäftigung mit dem englischen Verwaltungsrecht, die er mit dem „Weg durch einen Urwald“ verglich,27 ausgesprochen innovativ. Denn vor Gneist hatte man die vergleichende Beschäftigung mit der englischen Verwaltung wegen deren Eigenart als besonders schwierig eingeschätzt,28 und auch nach Gneist hat man wiederum über lange Zeit sogar daran gezweifelt, ob England denn überhaupt ein Verwaltungsrecht besaß29. Angesichts dieser Ausgangslage – Gneist sprach selbst einmal von der abschreckenden Wirkung, die von der „altfränkischen Formation“30 des englischen Verwaltungssystems ausgegangen sei – ist es um so bemerkenswerter, mit welcher Intensität und Konsequenz er sich gerade der englischen Verwaltung zuwandte. Damit leistete er zugleich einen wichtigen Beitrag dazu, dass sich das junge Verwaltungsrecht an den preußischen Universitäten als wissenschaftliche Disziplin etablieren konnte.31 es in vielen seiner Grundlagen tüchtiger, weil es in der geistigen, sittlichen und wirtschaftlichen Entwickelung der Massen des Volks sowohl England als Frankreich überlegen ist“. 25 Hatschek Englisches Staatsrecht (Fn. 18), 28. 26 So sehr treffend Schiffer (Fn. 1), 27 f. (Zitat: S. 28). 27 Gneist Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Band 1: Geschichte und heutige Gestalt der Ämter in England, mit Einschluss des Heeres, der Gerichte, der Kirche, des Hofstaats, 1857, Vorrede, VI. 28 Noch kurz vor Erscheinen von Gneists großem Englandwerk 1857/60 hatte Robert von Mohl beklagt, dass die englische Wissenschaft das Verwaltungsrecht vernachlässige und auch Ausländer diese Lücke nur in begrenztem Umfang geschlossen hätten: „Namentlich im Verwaltungsrechte haben Fremde, merkwürdig genug, bei weitem das Vorzüglichste geleistet. Allein ein umfassendes gründliches Werk haben wir auch von ihnen nicht“: Mohl Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Band 2, 1856, 7 f. 29 Zu Entwicklung und Schwierigkeiten der kontinentaleuropäischen Beschäftigung mit dem englischen Verwaltungsrecht siehe näher Schönberger § 71: Verwaltungsrechtsvergleichung: Eigenarten, Methoden und Geschichte, in: von Bogdandy/Huber/Cruz Villalón (Hrsg.) Ius Publicum Europaeum, Band 3, Rn. 40 f. (erscheint 2010). 30 Gneist Das englische Verwaltungsrecht der Gegenwart in Vergleichung mit den deutschen Verwaltungssystemen, Band 23, 1884, Vorrede, VIII. 31 Dazu Zorn (Fn. 14), 146: „Für Preußen – in Süddeutschland und Österreich lagen in dieser Beziehung die Verhältnisse wesentlich anders und besser – darf man Gneist geradezu als den Begründer der wissenschaftlichen Disziplin des Verwaltungsrechts bezeichnen.“ Zur Entstehung des Verwaltungsrechts als eigenständiges Rechtsgebiet im 19. Jahrhundert vgl. zusammenfassend Stolleis Entwicklungsstufen der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.) Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2006, § 2 Rn. 26 ff.

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2. Freie Verwaltung als Grundlage einer freien Verfassung: Verfassungsrecht als gebündeltes Verwaltungsrecht Schon in seinen ersten politischen Schriften aus der Revolutionszeit32 hatte Gneist ein an England orientiertes Reformprogramm entfaltet, das sich nicht auf Parlament und Königtum bezog, sondern auf Gerichts- und Verwaltungsorganisation und dem Leitgedanken der Selbstverwaltung folgte: „Geschworenengerichte und freie Gemeindeverfassung, Rechtspflege und selfgovernment sind untrennbar verwachsen und bilden das massive Fundament eines deutschen Verfassungsbaues.“33 Nach dem Scheitern der Revolution verlor er erst recht die alte liberale Hoffnung, der Fortschritt sei in erster Linie durch Verfassungen und die Beteiligung moderner Parlamente an den Staatsgeschäften zu erreichen. Eine mögliche Orientierung an Frankreich schied für ihn nun endgültig aus. Das 1848 erlebte „Zusammenbrechen des constitutionellen Systems in Frankreich . . ., welches alle unsere Vordersätze in Frage gestellt hat“,34 zeigte aus seiner Sicht, dass es nicht genügte, auf die alte bürokratische Verwaltung der Monarchie eine neue liberale Verfassung aufzupropfen.35 Die Verfassung musste vielmehr einen angemessenen Unterbau in der Verwaltungsorganisation finden. Gneist war der Überzeugung, „dass man zu einer freien Verfassung nur durch eine freie Verwaltung gelangen könne“.36 Dieser angemessene Unterbau der Verfassung im Bereich der Verwaltung fehlte im zentralistischen Frankreich. Gneist suchte und fand ihn im zeitgenössischen England. Seine intensive Beschäftigung mit dem englischen Verwaltungsrecht begründete er denn auch 1857 folgendermaßen: „Die Universalität des deutschen Geistes liebt ohnehin stetige Vergleichungen mit fremden Nationen. Nachdem das französische Staatswesen aufgehört hat,

32 Gneist Berliner Zustände. Politische Skizzen aus der Zeit vom 18. März 1848 bis 18. März 1849, 1849, S. 29–44; ders. Die Bildung der Geschworenengerichte in Deutschland, 1849, 205–217. 33 Gneist Geschworenengerichte (Fn. 32), III; plastisch dazu Hatschek Gneist (Fn. 18), 404 f. 34 Vgl. dazu die rückblickende Einordnung in Gneists Brief an Robert von Mohl vom 20.7.1860, auszugsweise abgedruckt bei Hahn (Fn. 2), 257–259 (257). 35 Dazu Anonymus (Fn. 13), 722; Hatschek Gneist (Fn. 18), 404; Gierke (Fn. 1), 24 f.; Schiffer (Fn. 1), 19 f. 36 So die Umschreibung von Gneists Anliegen im Nachruf von Preuß Rudolf von Gneist (1895), in: Preuß Staat, Recht und Freiheit. Aus 40 Jahren deutscher Politik und Geschichte, 1926, 503–509 (506). Zu Parallelen wie Unterschieden zwischen den beiden Berlinern Gneist und Preuß „als Söhne[n], als Bürger[n] und Kommunalpolitiker[n] der Hauptstadt“ Heffter (Fn. 17), 753 f.; vgl. näher Diar Schefold, Selbstverwaltungstheorien: Rudolf Gneist und Hugo Preuß, in: Detlev Lehnert/Christoph Müller (Hrsg.), Vom Veteranenverband zur Bürgergenossenschaft, 2003, 97–121.

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das mustergültige Vorbild zu sein, tritt stärker als jemals England für uns in den Vordergrund.“37

Seit Montesquieu hatte man sich auf dem Kontinent in erster Linie für die unterschiedlichen Gewalten in der englischen Verfassung interessiert. Gneist wandte sich hingegen der Eigenart der englischen (Lokal-)Verwaltung zu. Bereits einige preußische Reformer hatten zwar Interesse an der englischen Grafschaftsverwaltung gezeigt.38 Erst Gneist machte aber die englische Verwaltung zum Gegenstand einer umfassenden wissenschaftlichen Beschäftigung. Seine Originalität bestand gerade darin, dass er den Blick entschieden von der englischen Verfassung auf die englische Verwaltung lenkte. In Umkehrung einer bekannten Formulierung Fritz Werners aus den Anfangsjahren der Bundesrepublik39 könnte man formulieren: Für Gneist war Verwaltungsrecht nicht konkretisiertes Verfassungsrecht, sondern vielmehr Verfassungsrecht gebündeltes Verwaltungsrecht. Die Verfassung ruhte auf der Verwaltung auf und empfing von ihr das Gepräge. Die freiheitliche Verfassung Englands fand ihre Basis in dessen freiheitlicher Verwaltung, „die ganze englische Verfassung“ war Gneist zufolge „aus der Verwaltung hervorgegangen“40. Sein vertiefter Blick auf die englische Verwaltung war dabei untrennbar verknüpft mit der Frage einer grundlegenden Verwaltungsreform in Preußen. Gneist befürwortete eine Reform, die unter Verweis auf englische Vorbilder eine justizförmige Honoratiorenverwaltung oder doch jedenfalls eine Verwaltung mit ehrenamtlicher Beteiligung unter gerichtlicher Kontrolle einrichten sollte. In seiner großen Gedächtnisrede vor der Berliner Juristischen Gesellschaft hat Otto von Gierke das unauflösliche Ineinander von

37 Gneist (Fn. 27), V; sehr lesenswert insoweit auch die Vorrede zur – mit geändertem Titel erschienenen – dritten Auflage: Gneist (Fn. 30), Vorrede, III-X: „Gar vieles traf hier (in England, d.V.) zusammen, was zur Nachahmung einladen konnte“ (III). 38 So hatte sich eine – 1808 im Kontext der wichtigsten Reformdenkschriften verfasste und nach dem Ende der Herrschaft Napoleons 1815 veröffentlichte – Studie des ersten Oberpräsidenten der preußischen Provinz Westfalen, Ludwig von Vincke, der englischen Verwaltung zugewandt und für eine Rezeption des Friedensrichteramts eingesetzt: von Vincke Darstellung der innern Verwaltung Grossbritanniens, hrsg. von Niebuhr, 1815, 2. Auflage 1848; dazu Schulze-Marmeling Englische Einflüsse auf die Ansichten Ludwig Vinckes über Wirtschaft und Politik, Westfälische Zeitschrift 103/104 (1954) 164–193 (181–190); Heffter (Fn. 17), 99–101; Pöggeler (Fn. 18), 39–42; zur Kontinuitätslinie von Vincke zu Gneist näher Heffter (Fn. 17), 381 f. 39 Werner „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“, DVBl 1959, 527– 533; vgl. dazu näher Schönberger „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“. Die Entstehung eines grundgesetzabhängigen Verwaltungsrechts in der frühen Bundesrepublik, in: Stolleis (Hrsg.) Das Bonner Grundgesetz. Altes Recht und neue Verfassung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland (1949–1969), 2006, 53–84. 40 Gneist Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht 2 (Fn. 12), 831.

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Englandforschung und preußischer Rechtspolitik bei Gneist folgendermaßen beschrieben:41 „Vor allem lag seinem wissenschaftlichen Hauptwerke von vornherein die Absicht einer energischen Einwirkung auf das vaterländische Recht zugrunde. Er wollte durch die Darstellung des in England wirklich geltenden öffentlichen Rechts zeigen, in welchem Sinne das kontinentale Verwaltungsrecht ausgebaut werden müsse, wenn das übernommene englische Verfassungsrecht heilbringend wirken und auch bei uns das Zusammenbestehen eines starken Staates und eines freien Volkes ermöglichen sollte . . . Schlagend legte er dar, dass auf die Dauer das neue konstitutionelle Verfassungsrecht und das alte absolutistische Verwaltungsrecht unvereinbare Gegensätze seien, deren Reibung zuletzt entweder den Staat sprengen oder die Freiheit vernichten müsse.“

Auch die häufig beklagte stilistische Unförmigkeit von Gneists Englandschriften42 hat damit zu tun, dass dieser seine Darlegungen immer wieder durch vergleichende Einschübe und rechtspolitische Überlegungen zu Preußen unterbrach. Eher nahm er die literarische Ungenießbarkeit seiner Werke in Kauf, als auf deren unmittelbare politische Wirksamkeit zu verzichten. Die Konzentration Gneists auf Verwaltungs- und Gerichtsorganisation war auch Ausdruck davon, dass er die Modernisierung der preußischen Entwicklung nicht von einem möglichen Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem nach dem Vorbild von Westminster erwartete. Die Entwicklung des parlamentarischen Regierungssystems, zumal bei fortschreitender Demokratisierung des Wahlrechts, sah er für England selbst sehr kritisch43 und erblickte in der Einführung der ehrenamtlichen Selbstverwaltung nach britischem Vorbild geradezu die Alternative zu einer Parlamentarisierung der preußischen Regierung. Während in England selbst Lokalverwaltung und parlamentarisches Regierungssystem gleichermaßen Ausdruck der Selbstregierung waren, konzentrierte Gneist seinen Reformwillen ganz auf 41

Gierke (Fn. 1), 24 f. Hierzu sehr treffend Heffter (Fn. 17), 379. Schon Heinrich von Treitschke (Das Selfgovernment. [Besprechung zu:] R. Gneist, Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Zweiter Band, Berlin, Springer 1859, Preußische Jahrbücher 6 [1860] 25–53 [25]) sprach in einer eingehenden und in der Sache sehr positiven Besprechung des zweiten Bandes von Gneists grundlegendem Werk von der „überaus unglücklichen Form des Buches“: „Scheint es doch oft, als habe der Verfasser die Darstellung absichtlich erschwert, um den Ernst, die Nüchternheit, die Schwierigkeit des Gegenstandes recht handgreiflich fühlbar zu machen“. 43 Vgl. bereits Gneist Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht 2 (Fn. 12), 924–964; sehr kritisch auch kurz vor seinem Tod noch einmal Gneist Die nationale Rechtsidee von den Ständen und das preußische Dreiklassenwahlsystem. Eine sozialhistorische Studie, 1894, 149–169: „Dem Außenstehenden erscheint der gewaltige Bau fast als Ruine“ (165, Hervorhebung dort); siehe dazu näher Lamer, Der englische Parlamentarismus in der deutschen politischen Theorie im Zeitalter Bismarcks (1857–1890), 1963, S. 85–89; Luig, Soziale Monarchie oder soziale Demokratie – Beobachtungen zur Staatslehre von Rudolf von Gneist (1816–1895), ZRG (GA) 111 (1994), 464–481. 42

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die Verwaltung und suchte hier den Ersatz für eine stärker parlamentarisch geprägte Staatsverfassung. Er teilte die liberalkonservative Überzeugung vieler deutscher Englandverehrer, die der Historiker Niebuhr bereits 1815 formuliert hatte:44 „dass die Freiheit ungleich mehr auf der Verwaltung als auf der Verfassung beruhe“. War England für Robert von Mohl – den anderen herausragenden Englandkenner unter den deutschen Gelehrten des Nachmärz – gerade wegen des dortigen parlamentarischen Regierungssystems vorbildlich, so idealisierte der Rechtsliberale Gneist die ehrenamtliche englische Verwaltungsorganisation und verharrte im älteren konstitutionellen Dualismus von Krone und Volksvertretung.45

III. Gneists Leitidee: die ehrenamtliche Selbstverwaltung 1. Der ehrenamtliche Friedensrichter als Inkarnation der englischen Verwaltung Der Kern der englischen Verwaltung war für Gneist die ehrenamtliche Selbstverwaltung auf der Ebene der Grafschaften, wie sie besonders im Amt des Friedensrichters (Justice or the peace) zum Ausdruck kam. In häufig wiederholten Wendungen betonte er: „Selfgovernment heißt in England die Verwaltung der Kreise und Ortsgemeinden nach den Gesetzen des Landes durch Ehrenämter der höheren und Mittelstände mittels Communalgrundsteuern.“46 In seiner Analyse der englischen Verwaltung kehrt wie ein cantus firmus der Leitgedanke wieder, diese beruhe auf der Übernahme ehrenamtlicher Verwaltungsaufgaben und finanzieller Leistungspflichten durch die höheren gesellschaftlichen Schichten. In der idealisierten Wahrnehmung Gneists ist der Friedensrichter, der sozial aus der bürgerlich-adeligen Gentry stammt und vom König mit der Kreisverwaltung und -justiz betraut wird, die Inkarnation der englischen Verwaltung. Die gesamte innere Staatsverwaltung Englands ist in diesem Sinne Selbstverwaltung. Auf der Bewährung in dieser Selbstverwaltung ruht für Gneist auch die Mitgliedschaft im Parlament auf.47

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Niebuhr Vorrede zu: Vincke (Fn. 38), III–X (III). Zum Kontrast Mohl-Gneist; Heffter (Fn. 17), 380 f. 46 Gneist Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht 2 (Fn. 12), 828. 47 Vgl. etwa Gneist Artikel: Großbritannien. Verfassung, in: Bluntschli/Brater (Hrsg.) Deutsches Staats-Wörterbuch, Band 4, 1859, 423–460 (456): „Die wissenschaftliche Abstraktion sah in dem Parlamentswesen nur ein Gleichgewicht der Gewalten: während das englische Staatswesen ein Gleichgewicht von Rechten und Pflichten ist, aus dem sich in dem ‚omnipotenten Parlament‘ das Gleichgewicht der festen Verwaltungsordnung und der wechselnden Parteiansprüche der Repräsentation empirisch hergestellt hat“, Hervorhebung dort; dazu eingehender Gneist (Fn. 27), 652–677; vgl. aber auch ders. Das heutige 45

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Man erkennt rasch, warum der liberale Preuße Gneist dieses Bild der englischen Verwaltung so anziehend fand. Denn seine Grundsatzkritik an den kontinentaleuropäischen und preußischen Verhältnissen bezieht sich in erster Linie auf „die Entwöhnung der höheren Stände von den persönlichen Lasten des Staatswesens, herbeigeführt durch jene Arbeitstheilung, die wir den absoluten Staat zu nennen pflegen“.48 Ausgehend von seiner frühen Studie über „Adel und Ritterschaft in England“ (1853) hält er dem ostelbischen Junkertum immer wieder den Spiegel einer wahren Aristokratie vor, die sozial durchlässig ist, Steuern zahlt und die Last ehrenamtlicher Pflichten übernimmt.49 Zugleich formuliert er den Mitwirkungsanspruch des preußischen Bürgertums nicht in der Sprache von Rechten, sondern von Pflichten.50 Die Ausübung von Verwaltungsaufgaben durch die gehobenen sozialen Schichten ist die Mühsal eines staatlich übertragenen Ehrenamts, das mit entsprechenden finanziellen Leistungspflichten einhergeht. Nicht Wahlen und Parteienherrschaft sind entscheidend, sondern das Pflichtethos einer Führungsschicht begüterter Honoratioren, die sich in staatlichen Verwaltungsämtern bewährt.51 2. Die Problematik von Gneists Selbstverwaltungskonzeption Diese Selbstverwaltungskonzeption, die Gneist nicht ohne professoralen Doktrinarismus jahrzehntelang vortrug, war mehr als fragwürdig, was sein Bild der englischen Verwaltung, die Übertragbarkeit auf preußisch-deutsche Verhältnisse wie auch seine Fixierung auf das nicht durch Wahl, sondern Ernennung verliehene Ehrenamt betraf. englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht 2 (Fn. 12), 924–964, zur zunehmenden Erosion dieser Verknüpfung von Parlament und Selbstverwaltung. 48 Gneist Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht 2 (Fn. 12), 830, Hervorhebung dort; vgl. auch ebenda, 832: „Aus der englischen Weise der Vertheilung der Steuern und der Amtspflichten folgte die parlamentarische Verfassung mit derselben Nothwendigkeit, wie auf dem Continent aus der Gestalt der Steuern und Amtspflichten der reine Beamtenstaat hervorgehen musste.“ 49 Dazu Angermann (Fn. 2), 488; Boldt „Den Staat ergänzen, ersetzen oder sich mit ihm versöhnen?“ Aspekte der Selbstverwaltungsdiskussion im 19. Jahrhundert, in: Hanke/ Mommsen (Hrsg.) Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zu Entstehung und Wirkung, 2001, 139–165 (145); Pöggeler (Fn. 18), 80 f., sieht Gneist deswegen als „Anhänger eines durchlässigen Ständestaates“. 50 Nach einer treffenden Formulierung Gierkes ([Fn. 1], 33, Hervorhebungen dort) lief die Staatsrechtslehre Gneists letztlich auf den einfachen Satz hinaus, „dass das öffentliche Recht ein System von Pflichten ist, aus denen die Rechte erst folgen“. 51 Landau (Schwurgerichte und Schöffengerichte in Deutschland im 19. Jahrhundert bis 1870, in: Schioppa [Hrsg.] The Trial Jury in England, France, Germany 1700–1900, 1987, 241–304 [275]) hat diese Grundidee Gneists mit folgender Formulierung umschrieben: „Selbstverwaltung der bürgerlichen Gesellschaft unter Ausschaltung der Parteienherrschaft durch die vom König getroffene Auswahl ‚unparteiischer Männer‘ aus dem Besitzbürgertum“.

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a) Fragwürdigkeit seines Englandbilds; Zweifelhaftigkeit der Übertragbarkeit auf die preußisch-deutschen Verhältnisse Zunächst ist zu bezweifeln, ob Gneists idealisiertes Bild der englischen Lokalverwaltung je der historischen Realität entsprochen hat. Die lässigdilettantische Honoratiorenverwaltung des englischen Friedensrichters52 ähnelte eher einer „Kadi-Justiz“ (Otto Hintze53) und dürfte kaum von jenem preußisch-protestantischen Staatsethos erfüllt gewesen sein, das ihr Gneist unterschob. Sein Bild der englischen Grafschaftsverwaltung kam einer „Idealisierung der oligarchischen Klassenverwaltung des ancien régime Englands“54 gefährlich nahe. Zu sehr betrachtete er die englischen Verhältnisse mit seinem von Hegel und Lorenz von Stein übernommenen Deutungsschema des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft, das dem Staat die Aufgabe zuwies, in obrigkeitlicher Überparteilichkeit die gesellschaftlichen Interessengegensätze zu überwölben und auszugleichen. Dieses Deutungsschema mochte halbwegs auf den deutschen Dualismus zwischen einer noch absolutistischen Monarchie und der bürgerlichen Freiheitsbewegung passen, war aber nicht in der Lage, die von der Parlamentsverfassung her anders geprägte englische Staatlichkeit zu erfassen.55 Gneist deutete damit aber nun gerade die englische Lokalverwaltung und unterfütterte seine Interpretation mit historiographischen Thesen über die strukturelle Dominanz des englischen Königtums seit der normannischen Eroberung von 1066.56 Auf diese Weise wurde die englische Selbstverwaltung in seiner Darstellung gewissermaßen borussifiziert und erhielt Züge der kontinentaleuropäischen Verwaltungsstaatlichkeit. Wie Montesquieu einst die englische Verfassung aus der 52 Zu ihr zusammenfassend Heffter (Fn. 17), 37–39; Kraus, „Selfgovernment“ – Die englische lokale Selbstverwaltung im 18. und 19. Jahrhundert und ihre deutsche Rezeption, in: Selbstverwaltung in der Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit, 2010, 213–246 (216–246); eingehende Analyse unter Berücksichtigung des zunehmenden Verlusts der Verwaltungsfunktionen der Friedensrichter im Verlauf des 19. Jahrhunderts bereits bei Koellreutter Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsprechung im modernen England. Eine rechtsvergleichende Studie, 1912, 26–53. 53 Hintze Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes (1930), in: Hintze Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur Allgemeinen Verfassungsgeschichte2, hrsg. von Gerhard Oestreich, 1962, 120–139 (137). Hintze sprach dort rückblickend auch spöttisch von der „administrativen Romantik“ der Selbstverwaltungsbegeisterung im 19. Jahrhundert und wies darauf hin, dass England erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts seine Verwaltung durch die Errichtung einer stärker kontinental geprägten Kommunalbürokratie nachholend modernisiert habe; ähnliche Gneist-Kritik bei Heffter (Fn. 17), 387. 54 So Redlich in seiner grundlegenden Gneist-Kritik: Englische Lokalverwaltung. Darstellung der inneren Verwaltung Englands in ihrer geschichtlichen Entwicklung und gegenwärtigen Gestalt, 1901, 761 f. Fn. 1 (Zitat auf S. 762, Hervorhebung dort). 55 Heffter (Fn. 17), 387. 56 Dazu McClelland (Fn. 19), 138 f. Insoweit setzte sich Gneist von im deutschen Englandbild verbreiteten Vorstellungen von einer germanisch-naturwüchsigen „englischen Freiheit“ ab.

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Sicht des Kontinents idealisierend verzeichnet hatte, so tat das nun Gneist mit der englischen Verwaltung; er konstruierte „England aus dem Gesichtswinkel seines Selfgovernments, wie Montesquieu aus dem der Dreiteilung der Gewalten“.57 Gerade mit seinem viele Liberale ansprechenden Sehnsuchtsbild der englischen Verwaltung gelang es Gneist, für die preußisch-deutsche Verwaltungsreformdiskussion eine Generation lang die Bedeutung zu gewinnen, die Montesquieu mit seinem stilisierten Englandbild für die europäische Verfassungsgeschichte eines Jahrhunderts gehabt hatte.58 Es war dabei eine durchaus erstaunliche Illusion, dass Gneist glaubte, die von finanziell unabhängigen Gentlemen getragene Friedensrichterverwaltung, jene altertümlich-englische Mischung aus Polizei und Justiz, in das Preußen der Mitte des 19. Jahrhunderts verpflanzen zu können. Das altenglische Verwaltungssystem hatte mit den im Absolutismus wurzelnden Bürokratien des europäischen Kontinents kaum etwas gemein. Es beruhte auf einer weitgehenden Ungeschiedenheit von Justiz- und Verwaltungsfunktionen, während sich Verwaltung und Justiz auf dem Kontinent zunehmend auseinander entwickelt hatten. Die preußischen Junker waren überdies weit davon entfernt, als sozial durchlässige Gentry eine derartige Verwaltungsreform mittragen zu können.59 Letztlich stand die preußische Verwaltung der napoleonischen Bürokratie Frankreichs, die Gneist und vielen Liberalen so verhasst war, deutlich näher als der englischen Verwaltung.60 Aber auch in England selbst stellte die Entwicklung Gneists Bild der englischen Verwaltung bereits während seiner Lebenszeit grundlegend in Frage. Die englische Administration professionalisierte sich seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend, weil die ältere Honoratiorenverwaltung den Herausforderungen der entstehenden Industriegesellschaft in Bereichen wie der Armenverwaltung und dem Gesundheitswesen nicht länger gerecht werden konnte. Die Friedensrichter verloren schrittweise ihre Verwaltungsfunktionen, es entstand gerade auf kommunaler Ebene eine moderne, fachlich ausgebildete und besoldete Bürokratie, die von gewählten Gemeindeorganen beaufsichtigt und kontrolliert wurde. Eine allmähliche Ausweitung des Wahlrechts begleitete diesen Professionalisierungs- durch einen Demokratisierungsprozess. Josef Redlich hat das 1901 in einem grundlegenden Buch beschrieben und auf dieser Grundlage die bis heute eindringlichste Kritik an Gneists Englandbild geübt.61 Das starke ehrenamtliche Laienelement, auf dessen Einbau in die staatliche Bürokratie Gneist so große Hoff57

So treffend Hatschek, Englisches Staatsrecht (Fn. 18), 25. Formulierung nach Heffter (Fn. 17), 381. 59 Plastisch dazu Heffter (Fn. 17), 99. 60 Heffter (Fn. 17), 381. 61 Redlich (Fn. 54), 743–826; zu Redlichs grundlegender Gneist-Kritik zusammenfassend und diese wiederum kritisch einordnend: Schuster Zum Stand der Lehre von der englischen Lokalverwaltung, AöR 19 (1905) 169–185; Heffter (Fn. 17), 744–746. 58

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nungen setzte, wurde in England selbst aufgegeben. Seine Selbstverwaltungskonzeption erwies sich mehr und mehr als unzeitgemäß, wenn sie denn je zeitgemäß gewesen war.62 Er hatte sich an einer englischen Institution orientiert, die auf dem Kontinent sehr fremdartig wirkte und auf der Insel selbst bereits überlebt war. b) Selbstverwaltung ohne gewählte Organe? Gneists Selbstverwaltungsidee war überdies insofern eigenwillig, als sie kaum etwas von dem enthielt, was den Liberalen des Vormärz vorgeschwebt hatte. Es ging ihm nicht um einen selbständigen Wirkungskreis territorialer Körperschaften mit gewählten Organen. Sein Selbstverwaltungsbegriff war weiter und enger zugleich. Er war weiter, weil er alle ehrenamtlichen Laienelemente in der Staatsorganisation erfasste – auch die preußische Landwehr war ja aus seiner Sicht eine Form der Selbstverwaltung63 – und für Gneist der entscheidende Gegensatz nicht zwischen Staatsverwaltung und Selbstverwaltung, sondern innerhalb der Staatsverwaltung zwischen Ehrenamt und besoldetem Berufsbeamtentum verlief. Gleichzeitig war sein Verständnis der Selbstverwaltung aber auch enger, weil es ihm nicht um gewählte Organe mit staatsfreiem Betätigungsbereich ging. Gneist dachte nicht von Rechten und Gegenrechten, von der Hegung autonomer Sphären her; vielmehr ging es ihm um die Verknüpfung von Gesellschaft und Staat durch die ehrenamtliche Beteiligung von Bürgern an der Staatsverwaltung.64 Otto von Gierke hat denn auch sagen können, Gneist sei zu einem Selbstverwaltungsbegriff gelangt, „der nichts von dem enthält, was der ältere deutsche Sprachgebrauch darunter verstand“.65 Mit seinem Ideal der Teilhabe ernannter Honoratioren an den Staatsgeschäften setzte sich Gneist zwischen alle Stühle. Aus Sicht der traditionellen Bürokratie redete er dem Dilettantismus in der Verwaltung das Wort; aus Sicht vieler Liberaler erschien es nicht hinnehmbar, die Selbstverwaltung auf staatliche Ernennung und nicht auf Wahl zu gründen. Gneist wählte diese schwierige Mittelposition indes ganz bewusst. Denn die ehrenamtliche Mit62

Gneist (Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht 2 [Fn. 12], 924– 964) selbst hatte die sich in England abzeichnende Entwicklung schon in den fünfziger Jahren durchaus wahrgenommen, sie aber missbilligt und darauf gehofft, das englische Königtum werde die Rückkehr zu den älteren Verwaltungsformen herbeiführen. 63 Dazu bereits oben I.2 mit Fn. 12. 64 Rüfner Die Entwicklung der Verwaltung in den Bundesstaaten: Preußen, in: Jeserich u.a. (Hrsg.) Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 3: Das Deutsche Reich bis zum Ende der Monarchie, 1984, § 1, 678–714 (680). 65 Gierke (Fn. 1), 30. Laband hielt in seiner eingehenden Auseinandersetzung mit Gneist 1876 dessen Definition der Selbstverwaltung als einer Verwaltung durch Ehrenämter bereits für schlicht „unjuristisch“: Laband Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band 1, 1876, 95–104 (Zitat: S. 97).

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wirkung der höheren Schichten an der Verwaltung diente aus seiner Sicht dazu, nach oben das Berufsbeamtentum, parteiische Minister und politische Patronage in Schach zu halten und nach unten einen möglichen Machtanspruch von Lokalparteien abzuwehren.66 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drängten aber die Anforderungen des Interventionsstaats in England wie Deutschland zunehmend auf die Professionalisierung gerade auch der Kommunalverwaltung und auf deren Kontrolle durch gewählte Organe hin. Trotz all seines wissenschaftlich-publizistischen wie politischen Einflusses gelang es Gneist denn auch kaum, seine Konzeption in der preußischen Gesetzgebung der siebziger Jahre durchzusetzen. Die damals erlassene Kreis- und Provinzialordnung schuf in erster Linie Selbstverwaltungskörper, die zu eigenem Recht und mit eigenen gewählten Organen Verwaltungsbefugnisse wahrnahmen – ganz entgegen der Gneistschen Lehre.67 3. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit als Form der Selbstverwaltung Beträchtlichen Einfluss gewann Gneist hingegen auf die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preußen,68 für die sich sein ehrenamtliches Selbstverwaltungsideal am ehesten als geeignet erwies. Gneist verstand die Verwaltungsgerichtsbarkeit als eine Form der Selbstverwaltung, in der ehrenamtliche Bürger und Berufsbeamte kollegial zusammenwirkten. Unter Berufung auf die friedensrichterliche „jurisdiction“ Englands, die Verwaltung und Justiz traditionell nicht strikt unterschied, sah er darin einen Zweig der Verwaltung, der in gerichtlichen Formen handelte.69 Ziel war hier wie in seinem gesamten Verständnis der Selbstverwaltung ein neutraler Gesetzesvollzug durch die Verwaltung, der dem politischen Einfluss der Regierung entzogen sein sollte. Die Verwaltungsrechtspflege war für ihn nicht eine von der Verwaltung abgesonderte Gerichtsbarkeit, die institutionell der ordentlichen Justiz entsprechen sollte. Vielmehr wollte er gerichtsförmliche Garantien innerhalb der Verwaltung selbst durchsetzen und damit nach sei66 Vgl. dazu Gneist Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland2, 1879, 287. 67 Dazu zusammenfassend Heffter (Fn. 17), 402, 739 f.; eingehend Hahn (Fn. 2), 144– 172. Im Hinblick auf die gelegentlich anzutreffende Überschätzung der Bedeutung Gneists für die preußischen Verwaltungsreformen der siebziger Jahre spricht Heffter (Fn. 17), 640, von einer „Gneist-Legende“. 68 Zu Gneists Verständnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit und seiner Rolle bei ihrer Einführung in Preußen Heffter (Fn. 17), 397–399, 521–524, 623–632. 69 Gneist Über die rechtliche Natur, die Zuständigkeit und Verhandlungsform der Verwaltungsjurisdiktion, Verhandlungen des Zwölften deutschen Juristentages, Band 3, 1875, 221–241 (222); ders. Verwaltung, Justiz, Rechtsweg, Staatsverwaltung und Selbstverwaltung nach englischen und deutschen Verhältnissen, mit besonderer Rücksicht auf Verwaltungsreformen und Kreis-Ordnungen in Preußen, 1869, 171–180.

Rudolf von Gneist (1816–1895)

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nem Verständnis zu älteren Formen des Verwaltens zurückkehren. Seine Konzeption der Verwaltungsrechtspflege stand letztlich stark in der Tradition der aufgeklärten Reformbürokratie Preußens und wies der „Verwaltungsjurisdiktion“ gerade wegen ihres Verwaltungscharakters problemlos auch einen weiten Kreis von Ermessenfragen zu.70 Die preußische Gesetzgebung folgte weitgehend den Vorstellungen Gneists, indem sie die Verwaltungsgerichte in enger Verbindung zur aktiven Verwaltung hielt und in erster wie zweiter Instanz Kollegialorgane vorsah, die aus Verwaltungsbeamten und ehrenamtlichen Mitgliedern bestanden.71 Seinen maßgeblichen Anteil an diesem Reformwerk würdigte man dadurch, dass er 1875 als nebenamtlicher Richter in das neu errichtete Preußische Oberverwaltungsgericht berufen wurde. In der Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit wich Gneist bemerkenswerterweise vom englischen Vorbild ab, das die Verwaltung zumindest der obergerichtlichen Kontrolle durch die ordentliche Gerichtsbarkeit unterstellte. Da er sich auch hier auf die Institution des englischen Friedensrichters berief, die altertümlich zwischen Justiz und Verwaltung schillerte, blieb diese Englandferne in Gneists eigener Darstellung allerdings verdeckt. Letztlich bewog ihn die Natur der Sache – die Aufgabe, den nachabsolutistischen Verwaltungsapparat rechtlich zu zähmen – zu einer Lösung, die eher an den liberalisierten Staatsrat Napoleons erinnerte als an England.72 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Preuße Gneist, der die verwandtere französische Staatlichkeit so entschieden ablehnte, in der Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit uneingestanden dem französischen Beispiel näher kam als dem englischen.

IV. Was bleibt? Die „große und eigenartige Wirkung“,73 die Gneist ausgeübt hatte, verblasste nach seinem Tod 1895 rasch. Sein ungewöhnlich vielfältiges wissenschaftliches und politisches Leben war allzu sehr in die Tageskämpfe seiner 70 Dazu Heffter (Fn. 17), 626–631, der auch die Unterschiede zu den abweichenden Modellen in den deutschen Mittelstaaten (insbesondere Württemberg) hervorhebt, die die Verwaltungsgerichte stärker der ordentlichen Justiz annäherten und auf die Entscheidung von Rechtsfragen beschränkten. 71 Umfassend Stump Preußische Verwaltungsgerichtsbarkeit 1875–1914. Verfassung – Verfahren – Zuständigkeit, 1980. Allerdings konnte sich auch in der entstehenden preußischen Verwaltungsgerichtsbarkeit Gneists Grundaxiom nicht durchsetzen, das Ehrenamt dürfe nicht auf Wahl, sondern müsse auf obrigkeitlicher Ernennung beruhen. Sowohl auf Kreis- als auch auf Bezirksebene wurden die ehrenamtlichen Mitglieder der Verwaltungsgerichte von den örtlichen Vertretungskörperschaften gewählt. 72 Dazu sehr treffend Heffter (Fn. 17), 391, 522 f., 524. 73 Smend Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert (1960), in: Smend Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze3, 1994, 527–546 (540).

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Zeit verstrickt gewesen, um über sie hinaus wirken zu können. In der entstehenden Industrie- und Massengesellschaft fand sein Liberalismus einer von preußischem Staatsethos erfüllten Honoratiorenpolitik kaum noch einen gesellschaftlichen Rückhalt. Vieldeutige Leitbegriffe wie „Selbstverwaltung“ und „Rechtsstaat“ blieben zwar mit seinem Namen verknüpft, wurden aber von seinen Zeitgenossen und der Nachwelt meist ganz anders verstanden. Gleichwohl bleibt von Gneist mehr als die Erinnerung an den Vorkämpfer einer versunkenen Selbstverwaltungskonzeption und einer verwaltungsnahen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Seine Überzeugung, dass politische Freiheit ohne aktive Beteiligung des Bürgers an der ganzen Fülle des staatlichen Lebens nicht gesichert werden kann, erscheint angesichts heutiger Sorgen vor einer bloßen „Zuschauerdemokratie“ sehr aktuell. Seine damit zusammenhängende Einsicht in den engen Zusammenhang von freiheitlicher Verfassung und Verwaltungsstruktur, in die Verwobenheit von Verwaltungs- und Verfassungsrecht ist weiterhin grundlegend. Nicht zuletzt auch Gneists Vorgehensweise, die eigene Konzeption rechtsvergleichend einzuordnen und zu schärfen, sein selbstverständlicher Blick auf die Verwaltungsentwicklung in England und Frankreich wirkt heute besonders modern. Manche deutsch-dogmatische Introvertiertheit gegenwärtiger Debatten könnte von der Weite des Blicks profitieren, die diesen unzeitgemäßen Altpreußen auszeichnete.

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Albert Berner (1818–1907) Albert Berner (1818–1907) Florian Jeßberger

Albert Berner (1818–1907) Der „dreifache“ Berner Skizze zu Albert Friedrich Berner als Strafrechtstheoretiker, Kriminalpolitiker und Strafrechtslehrer FLORIAN JEßBERGER*

I. II. III. IV. V.

Ein Leben in Berlin, ein Leben für die Wissenschaft Berner als Theoretiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berner als (Kriminal-)Politiker . . . . . . . . . . . . . . Berner als Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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„Die Strafrechtswissenschaft hat ihren Altmeister verloren.“ Ein großes Wort, mit dem der Nachruf auf Albert Friedrich Berner beginnt, den James Goldschmidt,1 damals noch Privatdozent, 1907 in der Deutschen Juristenzeitung veröffentlichte.2 Und in der Tat: Kaum ein anderer Strafrechtslehrer hat die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts derart geprägt wie Albert Friedrich Berner. Als „Gallizist“ und Hegelianer würdigte ihn Goldschmidt; als Apologet eines von der Hegelschen Rechtsphilosophie geprägten Strafrechts wird er auch heute noch rezipiert.3 So richtig es ist, dass namentlich der frühe Berner Maßgebliches zur Herausbildung einer Strafrechtstheorie auf Grundlage der Philosophie Hegels beitrug, so trifft diese Einordnung die Bedeutung Berners nicht vollständig. Es ist vielmehr ein „dreifacher“ Berner, den es zu würdigen gilt: Neben dem heute noch berühmten Strafrechtstheoretiker auch der Kriminalpolitiker und – wie wir sehen werden: vor allem in der zeitgenössischen Wahrnehmung – der Strafrechtslehrer. * Für ihre Unterstützung bei der Ermittlung und Zusammenstellung des für den Beitrag benötigten Materials danke ich meiner Mitarbeiterin Frau Marie Hesselbarth. 1 Hierzu der Beitrag von Heger in diesem Band. 2 Goldschmidt Albert Friedrich Berner, Deutsche Juristenzeitung, 1907, 12; Teichmann bezeichnet Berner in einer „Nekrologischen Skizze“ als „Nestor der deutschen Strafrechtslehrer“, vgl. Teichmann Albert Friedrich Berner, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 1907, 303. 3 Siehe unten bei Fn. 24, 30.

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I. Ein Leben in Berlin, ein Leben für die Wissenschaft 1818 in der Uckermark als ältester Sohn eines preußischen Justizgerichtsrates geboren, siedelte Berner nach dem frühen Tod seiner Mutter mit 14 Jahren zu seiner Großmutter nach Berlin über, um dort das französische Gymnasium zu besuchen, welches er als Primus Omnium verließ.4 Berlin und der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen HumboldtUniversität, sollte er bis zu seinem Tod im Jahre 1907 verbunden bleiben: als Student der Philosophie und Rechtswissenschaft (u.a. bei Savigny und Heffter), als Doktorand,5 Habilitand6 und Privatdozent (seit 1844) sowie als außerordentlicher (seit 1848) und schließlich als ordentlicher Professor (seit 1861). 1899, im Alter von 81 Jahren – er hatte über 50 Jahre als Professor an der Berliner Universität gelehrt und ihr viermal als Dekan vorgestanden7 – wurde Berner auf seinen Antrag hin von der Lehrtätigkeit entbunden. Bemerkenswert an Berners Vita ist zunächst die Beharrlichkeit, mit welcher er sich weigerte, seine akademische Wiege zu verlassen und an einer anderen Fakultät sein Fortkommen zu suchen; eine Beharrlichkeit, mit der er schließlich seine eigene „Hausberufung“ durchsetzte.8 1857, knapp zehn Jahre nach seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor, wurde er erstmals beim Ministerium und bei der Fakultät vorstellig und ersuchte um seine Beförderung zum ordentlichen Professor. Zur Begründung verwies Berner darauf, er habe bereits verschiedene Angebote anderer Fakultäten ausgeschlagen, seiner „Vaterlandsliebe“ wegen, welche ihn zum Verbleib in Berlin veranlasst habe. Dieser ersten Eingabe mit dem Ziel, „außer der Rei4

Alda Albert Friedrich Berner, 1960, 1 ff. Mit einer Schrift zur Geschichte des Ehescheidungsrechts bis Justinian: De divortiis apud Romanos, 1842. 6 Mit einer Untersuchung der Grundfragen strafrechtlicher Zurechnung: Grundlinien der kriminalistischen Imputationslehre, 1843. In seinem Gutachten zur Habilitationsschrift nahm Friedrich Julius Stahl (1802–1861), der seit 1840 Professor für Rechtsphilosophie, Staatsrecht und Kirchenrecht an der Berliner Universität war, ausführlich Stellung zu der Frage, inwieweit es dem Habilitanden gelungen sei, die „Imputationslehre spekulativ zu begründen“. Abschließend stellte Stahl fest: „Was der Verfasser wahrscheinlich für das Hauptverdienst seiner Arbeit hält, die spekulative Entwicklung, ist für mich ohne allen Werth. Im Gegenteil [. . .] das unausgesetzte Gevassel – sic! – des logischen Apparates, das einen begleitet, das Auflösen alltäglicher Wahrheiten in eine besondere Terminologie [. . .] das alles erscheint mir [. . .] als ein geschmackloses Beywerk. [. . .] Dem Inhalte und dem Resultat nach ist die Abhandlung im Großen und Ganzen nicht gerade eine neue Leistung. Allein, es sind die richtigen Principien mit einem individuellen und gestaltungsfähigen Sinne ausgeführt. [. . .]“, vgl. das Gutachten in der Akte „Professoren“ des Archivs der Humboldt-Universität zu Berlin. 7 1863/64, 1869/70, 1876/77 und 1883/84. 8 Vgl. zum Folgenden die Dokumente in der Akte „Professoren“ im Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin. 5

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he“ zum Ordinarius ernannt zu werden, blieb jedoch wie fünf weiteren, gleichgerichteten Petitionen, welche er in den folgenden Jahren einreichte, der Erfolg versagt: Man wünschte ihm freundlich eine Anstellung bei einer anderen Universität. Auskunft über die Gründe für die Erfolglosigkeit der Bemühungen Berners gibt ein von der Fakultät in Auftrag gegebenes Gutachten Friedrich Julius Stahls,9 welches zwar die Verdienste Berners hervorhebt, gleichwohl aber zu dem Schluss kommt, „so groß und ungewöhnlich erscheint der Erfolg des Petenten als Lehrer und Schriftsteller doch nicht, daß er außer aller Reihe und ohne alle Rücksicht auf das gegenwärtige Bedürfniß unserer Facultät gerade in Berlin zum Ordinarius ernannt werden müßte.“10 Dem entspricht es, wenn berichtet wird, an der Berliner Universität habe in jenen Jahren Stillstand geherrscht und „gegen Eindringlinge hielten die Herren Ordinarien ihre Phalanx geschlossener denn je“.11 Erst 1861 war – kurioserweise mit dem Tode Stahls – die Vakanz entstanden, welche die Beförderung Berners zum ordentlichen Professor für Strafrecht erlaubte. Seine offenkundige Unlust, sich, etwa seinem Freund Rudolf von Jhering folgend, auf „Wanderung“ durch die Universitäten Deutschlands zu begeben und Berlin als Mittelpunkt seines Lebens und Schaffens aufzugeben, läßt einen Charakterzug Berners hervortreten, welcher sein Leben wie sein wissenschaftliches Werk insgesamt kennzeichnet: Ein Freund von Experimenten oder gar Abenteuern war Berner nie, überhaupt scheinen ihm Veränderungen, soweit sie sein eigenes Leben und Schaffen betrafen, eher weniger willkommen gewesen zu sein. Er bewohnte zeitlebens dasselbe Haus in Charlottenburg, wo er ein höchst zurückgezogenes Leben führte.12 Er blieb unverheiratet und kinderlos. Dabei zeichnen Berichte von Zeitgenossen das Bild eines Gelehrten „alter Schule“. Als „vormärzlich“ bezeichnete ihn Franz von Liszt,13 der ihm ab 1899 auf seinem Berliner Lehrstuhl nachfolgte. Radbruch berichtet, er habe Berner wie „eine Gestalt aus der besseren ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebt[e], welche Einheit und Freiheit auf dem Weg des Geistes erstrebte, nicht durch Blut und Eisen“.14 Kahl beschreibt ihn als Menschen „von eiserner Pflichttreue, warmen Herzens zu seinen Schülern, denen er ein strenger aber gerechter Examinator war“.15 Dass ihm auch die Redlichkeit der wissenschaftlichen Debatte am Herzen lag, verriet Berner selbst: „Persönliche Polemik halte ich für unwissenschaftlich; in der 9

Hierzu der Beitrag von Kersten in diesem Band. Hervorhebung im Original; vgl. Stahl (Fn. 6). 11 Lenz Geschichte der könglichen Friedrich-Wilhelms-Universität, zitiert nach Alda (Fn. 4), 17. 12 Teichmann (Fn. 2), 311. 13 Siehe hierzu den Beitrag von Muñoz Conde in diesem Band. 14 Radbruch Drei Strafrechtslehrbücher des 19. Jahrhunderts, FS Rosenfeld 1949, 7, 14. 15 Bei Alda (Fn. 4), 31. 10

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Wissenschaft gelten nur Gründe, nicht persönlicher Eifer.“16 Freilich scheint ihm bei aller Ernsthaftigkeit und bei allem Pflichtbewusstsein auch ein feiner Sinn für Humor nicht völlig fremd gewesen zu sein. Dies belegt der Umstand, dass er den Erlös aus dem Verkauf seiner Schrift „Abschaffung der Todesstrafe“ für den Bau eines Kanonenbootes bestimmte, welches, wie berichtet wird, den Namen „Feuerbach“ tragen sollte.17 Ein Leben für die Wissenschaft also, ein Leben für die Wissenschaft an der Berliner Universität zumal. Und auch sein wissenschaftliches Werk, dem wir uns nun zuwenden wollen, zeigt, dass – anders als bei seinem Fakultätskollegen Kohler18 etwa, der mehr dem Typus des Universalgelehrten entsprach – der „Blick über den (in diesem Fall strafrechtlichen) Tellerrand“ auch insoweit Berners Sache nicht war. Vielmehr stellte Berner sein Leben von wenigen Ausnahmen19 abgesehen vollständig in den Dienst der Strafrechtswissenschaft. Berners schriftstellerisches Werk umfasst zwölf Monografien, ein in 18 Auflagen erschienenes Lehrbuch zum materiellen Strafrecht sowie zahlreiche Aufsätze. Schwerpunkte bildeten dabei die allgemeinen Lehren des Strafrechts,20 die Kriminalpolitik21 sowie das internationale und ausländische Strafrecht.22 Wenden wir uns nach dieser knappen 16

Aus dem Vorwort zur 18. Auflage 1898, VII. Vgl. Berner Abschaffung der Todesstrafe, 1861, Innenseite Umschlag; siehe auch Alda (Fn. 4), 11, Fn. 3. 18 Hierzu der Beitrag von Großfeld in diesem Band. 19 Vgl. aber auch Berners Monografien: Lehrbuch des Preßrechts, 1876; Die Orientfrage, 1878; Judenthum und Christenthum und ihre Zukunft, 1891. 20 Vor allem die Straftheorien, der Begriff der Handlung und des Verbrechens, die Beteiligungslehre, Fragen der Notwehr und des Notstands sowie die Lehre vom Versuch. Vgl. insbesondere: Berners nachfolgende Werke: Grundlinien der criminalistischen Imputationslehre, 1843; Entwurf zu einer phänomenologischen Darstellung der bisherigen Straftheorien sowie zu einer begriffsmäßigen Vereinigung der relativen und der absoluten, Archiv des Criminalrechts 1845, 144 ff.; Die Lehre von der Theilnahme am Verbrechen und die neueren Controversen über Dolus und Culpa, 1847; Die Notwehrtheorie, Archiv des Criminalrechts 1848, 547; Über den Begriff des Verbrechens, Archiv des Criminalrechts 1849, 442; Grundsätze des Preußischen Strafrechts, 1861; De impunitate propter summam necessitatem proposita, 1861; Wie unterscheiden sich der beendigte und der unbeendigte Versuch und ist auch bei dem beendigten Versuch noch ein Rücktritt möglich? Der Gerichtsaal 1865, 81; Ist der beendigte Versuch im Strafgesetzbuche beizubehalten, und ist event. dabei die freiwillige Verhinderung der Vollendung als Strafaufhebungsgrund anzuerkennen? Verhandlungen des Dreizehnten deutschen Juristentages 1876, 109 ff.; siehe ferner die einzige größere Arbeit zum Besonderen Teil: Körperverletzung, Der Gerichtssaal 1866, 270 ff. und 1867, 1 ff. 21 Berner (Fn. 17); sowie weitere Werke Berners: Der Entwurf eines Strafgesetzbuches für Bayern, von 1860, Allgemeine Deutsche Strafrechtszeitung 1861, Nrn. 10 ff.; Ein gemeinsames Norddeutsches Strafgesetzbuch, Goltdammers Archiv 1868, 817; Kritik des Entwurfes eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, 1869. 22 Berners folgende Werke: Wirkungskreis des Strafgesetzes nach Zeit, Raum und Personen, besonders von der Bestrafung der im Auslande begangenen Verbrechen, vom Asylrecht und von der Auslieferung der Verbrecher, von der Rückwirkung der Strafgesetze 17

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Skizze von Werdegang, Wesen und Werk Berners nun näher den drei Berners zu, zunächst dem heute berühmtesten der drei, dem Theoretiker.

II. Berner als Theoretiker Das Fundament des wissenschaftlichen Schaffens Berners bildete, wie eingangs erwähnt, die Hegelsche Rechtsphilosophie.23 Vom theoretischen Ausgangspunkt her gehört Berner damit in eine Reihe mit Abegg, Köstlin und Hälschner, also denjenigen Strafrechtswissenschaftlern des 19. Jahrhunderts, welche die Philosophie Hegels für das Strafrecht fruchtbar zu machen suchten24 – ein bekanntlich ausgesprochen erfolgreiches Unterfangen: Die „Gewaltherrschaft Hegels im Strafrecht“ (Landsberg25) setzte zur Mitte der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts ein und dauerte bis in dessen 70er Jahre.26 Und auch wenn Berner bald aus der „Befangenheit der spekulativen Philosophie“ – so Heffter über Berners frühe Schrift zur Imputationslehre – herausgewachsen ist, aufgegeben hat er seine strafrechtstheoretische Verwurzelung im Hegelianismus nie.27 Während der Hegelianismus dem wissenschaftlichen Wirken Berners also die philosophische und theoretische Grundlage vermittelte, so gründete es in dogmatischer Hinsicht auf der französischen Strafrechtslehre. Mit Inkrafttreten des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851, welches bekanntlich maßgeblich vom französischen Code Pénal beeinflusst war und mit dem Berner sich in seinen „Grundsätzen des Preußischen Strafrechts“ (1861) intensiv befasste, wandte Berner sich den französischen Strafrechtstheoretikern zu, vor allem M.P. Rossi und M. Ortolan, die fortan neben der Hegelund vom Rechtsirrtum, 1853; Non bis in idem, Goltdammers Archiv 1854, 472; Das Non bis in idem gegen auswärtige Strafurteile, Der Gerichtssaal 1866, 31; Schweden, seine sozialen Fortschritte und seine Strafanstalten, Der Gerichtssaal 1878, 606; Japan, Der Gerichtssaal 1881, 381; Das belgische Strafrecht und die belgische Praxis, Der Gerichtssaal 1885, 497. 23 Vgl. Eb. Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege3, 1983, § 270 („streng im Banne Hegels“; „echtester Hegel“). Eine kritische, aber instruktive Zusammenfassung der Bernerschen Straftheorie und ihrer philosophischen Grundlage, vor allem ihrer Bezogenheit auf Hegel bei Ramb Strafbegründung im System der Hegelianer, 2005, 165 ff. 24 Vgl. auch Vormbaum Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2008, 69; Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil2, 1991, 6/3. 25 Stinzing/Landsberg Geschichte der deutschen Rechtswissenschaften, Abteilung 3, Halbband 2, 1910, 383. 26 Ab 1870 entsprach es „nicht mehr dem Standard der Strafrechtswissenschaft, Strafrechtsdogmatik und Grundlagendiskussionen in begrifflich-spekulative Formeln zu kleiden“, vgl. Frommel Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 1987, 168. 27 Vgl. auch Ramb (Fn. 23), 163.

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schen Rechtphilosophie sein zweites Standbein bilden sollten.28 Insofern war er, wie Goldschmidt bemerkte, tatsächlich „Gallizist“. Überhaupt stand Berner der Rechtsvergleichung aufgeschlossen gegenüber, eine seinerzeit nicht gerade verbreitete Haltung, welche er gegen den Vorwurf eines „Mangel[s] an Patriotismus und knechtischer Nachahmung fremder Institutionen“ damit rechtfertigte, dass „[. . .d]ie fremdländischen Elemente [. . .] eine Bereicherung unserer eigenen Jurisprudenz und Nationalität [sind], sobald wir sie selbständig prüfen und selbständig verarbeiten“.29 Mit beidem – der Ausrichtung an der Hegelschen Rechtsphilosophie und der Hinwendung zur französischen Strafrechtslehre – befand Berner sich auf der Höhe seiner Zeit, welche er selbst maßgeblich mitprägte.30 Insofern ist es vollkommen zu Recht die philosophische Fundierung seiner Lehre, die ihm heute noch einen Platz in den Lehr- und Handbüchern des Strafrechts sichert.31 In genuin rechtsphilosophischer Hinsicht freilich fällt das Urteil über Berners Leistungen im Bereich der Strafbegründung „eher dürftig“ aus.32 Insofern reichte er an Abegg, Köstlin und Hälschner nicht heran.33 Für zu „oberflächig“, zu „leichtgewichtig“ wurde der Bernersche Hegel empfunden. So vermisst Eb. Schmidt34 im Vergeltungsbegriff Berners „alle Tiefe, die der Vergeltungsgedanke doch bei Hegel“ gehabt habe. Immerhin: Hat Abegg die Philosophie Hegels für das Strafrecht entdeckt und Köstlin es auf eigenständige, festere Füße gestellt, so ist es zweifelsohne das Verdienst Berners, diesen Ansatz, wie wir noch sehen werden, durch sein Lehrbuch einem breiteren Publikum zugänglich gemacht und auf diese Weise mehrerer Juristengenerationen geprägt zu haben.35 Die – mit den genannten Einschränkungen berechtigte – Fixierung auf Berners Rolle als Apologet der Hegelschen Strafrechtsschule verdeckt allerdings zwei andere, in der Substanz weit nachhaltigere Leistungen Berners. Fragt man nämlich, wo Berner in der heutigen Strafrechtstheorie und -dogmatik Spuren hinterlassen hat, so ragen zwei andere Leistungen seines Schaffens heraus: die Orientierung des Verbrechensaufbaus auf den Begriff der Handlung und die Auflösung der Antinomie der Strafzwecke in einer heute sog. Spielraumtheorie.

28 Vgl. Stinzing/Landsberg (Fn. 25), 295 unter Verweis auf einen Brief Berners an James Goldschmidt. Vgl. auch Alda (Fn. 4), 12 f.; Aure Theorie der Strafe bei Albert Friedrich Berner, Forum Historiae Juris (16.4.2002), Rn. 42. 29 Archiv für Preußisches Strafrecht, 1854, 489. 30 Die zweite große Strömung des 19. Jahrhunderts, die historische Rechtsschule, freilich lehnte Berner ab („Altertumskrämerei“), vgl. Lehrbuch, 1. Auflage 1857, 71. 31 Vgl. Fn. 24. 32 Ramb (Fn. 23), 198. 33 Alda (Fn. 4), 137 f. 34 Eb. Schmidt (Fn. 23), § 270, 300. 35 Vgl. Ramb (Fn. 23), 161; Aure (Fn. 28), Rn. 5; Stinzing/Landsberg (Fn. 25), 687.

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So ist es ein bleibendes Verdienst Berners, den Begriff der Handlung in die Position eines Grundbegriffes des Verbrechensaufbaus gerückt zu haben.36 Mit der von ihm entwickelten Einsicht, wonach die Handlung die Grundlage strafrechtlicher Zurechnung und damit den Mittelpunkt des strafrechtlichen Systems bildet,37 gilt er bis heute als „Begründer der neueren Handlungslehre“.38 In einer berühmt gewordenen Sentenz beschrieb Berner die Funktion des Begriffs der Handlung wie folgt: „Verbrechen [ist] Handlung [. . .]. Alles, was man sonst noch vom Verbrechen aussagt, sind nur Prädikate, die man der Handlung, als dem Subjekt, beilegt. Der Begriff der Handlung muss daher das feste Knochengerüst sein, welches die Gliederung der Lehre vom Verbrechen bestimmt“.39 Damit war, wie Radbruch herausgearbeitet hat, Berner der erste, der dem Handlungsbegriff im Strafrecht die Stellung einräumte, welche er seither nicht wieder verloren hat.40 Der von Berner zum Grundbegriff des Verbrechensaufbaus geadelte Begriff der Handlung selbst war dabei ein – in der Terminologie der heutigen Strafrechtslehre – finaler, denn „[i]nsofern nun das Innere sich geäußert, das Geschehene gewollt ist, nennen wir es: Handlung“.41 Insofern bewegte Berners Lehre sich ganz auf dem Boden der seinerzeitig herrschenden, auf Samuel von Pufendorf zurückgehenden Meinung, die auf die menschliche Zwecktätigkeit aufbaute.42 Die zweite dogmatische Frucht des Bernerschen Werkes, die noch heute in voller Blüte steht, betrifft seine Bemühung um den Ausgleich absoluter und relativer Zwecke der Strafe. Im Ausgangspunkt hielt Berner, ganz Hegelianer, zeitlebens am Vergeltungsprinzip fest: Die Begründung und Rechtfertigung der Strafe liege in ihrer eigenen inneren Gerechtig36

Vgl. auch Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts5, 1996, § 22 I. Vgl. auch Welzel Das Deutsche Strafrecht11, 1969, 38. 38 Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil4, 2006, Band 1, § 7 Rn. 12, § 8 Rn. 8. 39 Berner Lehrbuch1 (Fn. 30), 108. Interessanterweise findet sich diese grundlegende Aussage in der 18. Auflage (1898) nicht mehr. 40 Radbruch (Fn. 14), 15. 41 Berner Imputationslehre (Fn. 20), 40 f. Vgl. auch: „Das Subjekt legt seinen Willen in das Mittel. Es giebt dadurch dem an sich todten Mittel [. . .] eine lebendige Seele, welche jetzt in den durch den Zweckbegriff vorgebildeten Formen des Mittels Platz nimmt. Nun es vom Willen ergriffen und beseelt worden ist, regt sich das Mittel. Es setzt sich gegen das Objekt in Bewegung. Und vermöge dieser Bewegung des Mittels vermittelt sich der Wille zur That. Eine solche lebendige Vermittlung des Willens zur That heißt Handlung.“, Berner Lehrbuch1 (Fn. 30), 138; ders. Lehrbuch18, 1898, 116 f. 42 Vgl. auch Roxin (Fn. 38), § 8 Rn. 18. Nach dem anschließenden Siegeszug der kausalen Handlungslehre brachte erst Welzel die Renaissance der finalen Handlungslehre, „welche die vornaturalistische Tradition der strafrechtlichen und philosophischen Handlungslehre fortführt und die inzwischen vollzogene dogmatische Trennung von Rechtswidrigkeit und Schuld in sie einbaut“, vgl. Welzel (Fn. 37), 40 f. 37

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keit.43 Während Grund der Strafe allein die vergeltende Gerechtigkeit im Sinne Hegels sei, so käme aber doch auch den relativen Strafzwecken Bedeutung zu44 – allerdings erst für die Bestimmung des Maßes der Strafe: Das „[von der vergeltenden Gerechtigkeit geforderte] Quantum [sinnlichen Leidens] ist kein absolut bestimmtes, sondern liegt zwischen einem Maximum und einem Minimum. So lange Richter und Gesetzgeber die Strafe innerhalb dieser beiden Grenzpunkte erhöhen und vermindern, genügen sie immer noch der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit läßt hier für die Bestimmung des Strafquantums einen Spielraum. [. . .] Innerhalb dieses Spielraumes können und sollen der Besserungs- und der Abschreckungszweck auf das Maß der Strafe einen Einfluß üben. Hier sind die Grenzen, bis zu denen die Gerechtigkeit die Verwirklichung jener Zwecke erlaubt“.45 Anders als etwa von Abegg behauptet, seien die präventiven Zwecke der Strafe nicht bloß zu verwirklichen, soweit es die Gerechtigkeit fordere, sondern soweit die Gerechtigkeit es erlaube.46 Ob es sich hierbei, wie Berner selbst meinte, um eine „Vereinigungstheorie“, oder, wie andere behaupten, um eine absolute47 oder gar um eine verkappte Präventionstheorie handelt,48 soll hier nicht weiter von Interesse sein. Denn obwohl diese hier nur angedeutete theoretische Konzeption auch in der Sache nicht ohne Widerspruch blieb,49 bildet sie in der maßgeblich von von Hippel und Spendel fortentwickelten50 Form eine Grundlage des heutigen Strafzumessungsrechts. Seit ei43 Berner Lehrbuch1 (Fn. 30), 14; „Die Strafe ist gerechte Vergeltung, indem sie dem Verbrecher den Werth seiner Schuld auszahlt. [. . .] Die Strafe ist der Lohn des Verbrechens, – dasjenige, was der Verbrecher verdient hat.“, Archiv des Criminalrechts 1845, 161 f. 44 Zusammenfassung seiner strafrechtstheoretischen Position im Vorwort zum Berner Lehrbuch18 (Fn. 41). 45 Berner Lehrbuch1 (Fn. 30), 33; „Die absolute Theorie giebt hiernach in dem Strafmaße gleichsam den festen, massiven Grundton an, während die relativen nur in leichten Akkorden nebenbei tönen und sich mit jener in Harmonie zu setzen suchen.“, Archiv des Criminalrechts 1845, 171. 46 Vgl. Berner Lehrbuch2, 1863, § 30 Rn. 32. 47 Vgl. Aure (Fn. 28), Rn. 7 m.w.N. 48 Eb. Schmidt (Fn. 23), § 270, meint, Berners Vergeltungsgedanke sei „im Grunde genommen“ mit der reinen Generalprävention identisch. 49 Zusammenfassung der zeitgenössischen Kritik vor allem Heinzes, Wächters und Hälschners bei Aure (Fn. 28), Rn. 178 ff.; zur heutigen Kritik an der Spielraumtheorie vgl. etwa Köhler Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, 601. 50 Vgl. Welzel (Fn. 37), 260. Vgl. auch Bruns Strafzumessungsrecht, 1974, 264 f.: Bedeutenden Anteil daran hatte die Große Strafrechtskommission, welche sich zur Bewältigung der Antinomie der Strafzwecke auf eine Formel geeinigt hatte („Die Strafe soll der Schuld des Täters in gerechter Weise entsprechen. In diesem Rahmen [. . .] dient sie dazu, den Täter in die Gemeinschaft wiedereinzugliedern, Straftaten zu verhüten und die Allgemeinheit vor dem gefährlichen Täter zu schützen“).

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ner Entscheidung aus dem Jahre 195451 wendet auch der BGH die „Spielraumtheorie“ an, wonach es keine feste schuldangemessene Strafe gibt, vielmehr ein Spektrum schuldangemessener Strafen innerhalb eines Spielraums, der durch eine untere, schon schuldangemessene und eine obere, noch schuldangemessene Strafe begrenzt wird. Innerhalb dieses Schuldrahmens kann der Richter die konkrete Strafe unter Berücksichtigung der weiteren, insbesondere präventiven Strafzwecke festlegen.52

III. Berner als (Kriminal-)Politiker Kommen wir nun vom Strafrechtstheoretiker Berner zum Kriminalpolitiker Berner. Davon, dass Berner an den großen gesellschafts- und sozialpolitischen Umwälzungen seiner Zeit teilgenommen, sie auch nur in der einen oder anderen Weise kommentiert hätte, wissen wir nichts.53 Wohl aber kennen wir sein großes Interesse für die Kriminalpolitik, einem Feld, dem er sich schriftstellerisch eingehend widmete. Die Bemühungen um die Schaffung eines einheitlichen deutschen Strafgesetzbuches, welche mit Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches im Jahre 1871 ihren Höhepunkt und Abschluss fanden, begleitete er ebenso wie bereits zuvor die Kodifizierungen der Partikularstaaten wohlwollend und mit einer größeren Zahl von Wortmeldungen;54 und nicht ohne Stolz notierte er, das Reichsstrafgesetzbuch habe „zum größten Teil“ die in den ersten vier Auflagen seines Lehrbuches vertretenen Anschauungen wiedergegeben.55 Neben seiner intensiven und affirmativen Auseinandersetzung mit den beiden großen legislativen Strömungen seiner Zeit – der Kodifikation und der Vereinheitlichung – ist Berners kriminalpolitisches Schaffen durch ein zweites Element gekennzeichnet: Sein entschiedenes Eintreten für eine Humanisierung des Strafrechts. Zwei Fragen lagen ihm hier besonders am Herzen:56 Der Strafvollzug und das Jugendstrafrecht auf der einen – Themen, 51

BGHSt 7, 28. Vgl. hierzu Jescheck/Weigend (Fn. 36), § 82 IV.6. f. 53 Vgl. Alda (Fn. 4), 11. 54 Alda (Fn. 4), 20 ff. 55 Vgl. Berner Lehrbuch18 (Fn. 41), § 31 S. 59. Friedberg, der mit der Ausarbeitung des RStGB beauftragt worden war würdigte in einem Schreiben aus dem Jahre 1886 an Berner ausdrücklich dessen Einfluss: Er sehe in Berner „den Lehrer [. . .], ohne dessen bahnbrechende Thätigkeit auf dem Gebiete des Strafrechts wir uns eines gemeinsamen Strafgesetzbuches im Deutschen Reiche vielleicht heute noch nicht zu erfreuen hätten“. 56 Vgl. auch Stinzing/Landsberg (Fn. 25), 686, der meint, Berner sei „gerne geneigt, den Verbrecher möglichst zu schonen und zu bessern, er ist von jeher entschiedener Gegner der Todesstrafe, aber auch neueren Anregungen, z.B. betreffend die Behandlung der Jugendlichen gerne zugänglich ...“. 52

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welchen er sich in seinen letzten Lebensjahren besonders zuwandte57 – und die Frage der Todesstrafe auf der anderen Seite. Mit seiner entschiedenen Ablehnung der Todesstrafe stand Berner – wie interessanterweise auch Köstlin – in Gegensatz zu Hegel, der jedenfalls für Mord „notwendig“ die Todesstrafe verlangte, „[d]enn da das Leben der ganze Umfang des Daseins ist, so kann die Strafe nicht in einem Werte, den es dafür nicht gibt, sondern wiederum nur in der Entziehung des Lebens bestehen.“58 Ganz anders der Hegelianer Berner, der in seiner Schrift „Abschaffung der Todesstrafe“ aus dem Jahre 1861 auf 42 Seiten in gedrängter Form ein entschiedenes Plädoyer gegen die Todesstrafe oder genauer: für die allmähliche, einem von ihm entworfenen Stufenplan folgende Abschaffung der Todesstrafe formulierte. Mit dieser Schrift ging es ihm – anders als später Mittermaier59 – weniger um die wissenschaftliche Durchdringung der Frage, sondern vielmehr darum, ein an das breite Publikum adressiertes,60 also politisches Fanal zu setzen. Deutlich wird der programmatische Charakter der Schrift und sein Bestreben, in den öffentlichen Raum zu wirken, nicht zuletzt an der Form seiner zusammenfassenden Bewertung: „Nicht unbedingt notwendig aus dem Standpunkt der Gerechtigkeit; nach dem Urteil tiefer und ernster Denker die Zuständigkeit der Kreatur überschreitend; nach dem Urteil derer selbst, welche der Gesellschaft ein Recht über Leben zusprechen, gegen ein Objekt gerichtet, das der Mensch nur mit heiliger Scheu vernichten darf; für die Sicherheit entbehrlich; in ihrer abschreckenden Kraft durch die Überzahl der Begnadigungen und durch ungerechtfertigte Freisprechungen sehr abgeschwächt; den Besserungszweck meist erbarmungslos verleugnend; von nachteiliger Wirkung auf die Sittlichkeit des Volkes; unabschätzbar und untheilbar; einen Irrtum der menschlichen Rechtspflege durch eine nie wieder gut zu machende Bluttat verewigend: ist die Todesstrafe ein Werkzeug, welches, selbst wenn es ein rechtmäßiges sein sollte, in der Hand des Richters jeden Augenblick zu fürchterlichen Fehlschlägen verleiten kann, bei jeder Anwendung über das Mass hinauszugehen droht, schauderhafte Scenen herbeiführt und auf allen Seiten von so großen Bedenken umgeben ist, dass alle, denen es um eine mit gutem Gewissen und mit bewusster Si-

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Alda (Fn. 4), 28. Hegel Die Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 101. 59 Vgl. Mittermaier Abschaffung der Todesstrafe, 1862, 37 ff. 60 Engisch Das strafrechtliche Lebenswerk Albert Friedrich Berners, 1952, 113 f. Seit 1848 war die Diskussion um die Todesstrafe in Deutschland heftig entbrannt. Während bis 1848 die Todesstrafe in allen deutschen Gesetzbüchern für eine Reihe von Verbrechen vorgesehen war, schuf eine Reihe von Staaten sie ab (teilweise wieder ein). Die Paulskirchenverfassung hatte ebenfalls die Abschaffung der Todesstrafe vorgesehen. 58

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cherheit handelnde Rechtspflege zu tun ist, sich zur Abschaffung der Todesstrafe zu vereinigen verpflichtet sind.“61

IV. Berner als Lehrer Wenden wir uns schließlich dem dritten der drei hier vorgestellten Berners zu, dem Lehrer Berner also, der, wie wir sehen werden, jedenfalls in der zeitgenössischen Wahrnehmung der eigentliche „Altmeister“ der drei war.62 Berner lehrte vor allem das Strafrecht, daneben – offenbar weniger der Neigung als vielmehr der Erwartung der Fakultät folgend – auch Methodenlehre, Rechtsphilosophie und Völkerrecht. Goldschmidt nennt Berner einen „Lehrer von durchsichtigster Klarheit“63 und Landsberg berichtet, Berner sei ein „beliebter Strafrechtslehrer “ gewesen.64 Dies mag auch daran gelegen haben, dass er bald auf die zu seiner Zeit gängige Lehrmethode des Zuhörens und Nachschreibens fast vollständig verzichten konnte. So schreibt er im Vorwort zur achten Auflage seines Lehrbuches: „Die Übersichtlichkeit des Lehrbuches und sein enger Anschluss an das Reichsgesetz haben es mir in den letzten Jahren möglich gemacht, mich bei meiner Lehrtätigkeit von der lästigen Rücksicht auf das Nachschreiben zu emanzipieren und eine neue Lehrmethode zu wählen. Ich trete vom Katheder und nehme meinen Platz unter meinen akademischen Mitbürgern ein, um mit ihnen während des ganzen Semesters an der Hand des Strafgesetzbuches alle wissenschaftlichen Fragen in freier Zwiesprache zu erörtern.“65 Möglich war ihm die Verwirklichung dieser modern anmutenden Lehrkonzeption – Diskussion statt Diktat –, wie Berner selbst schreibt, durch sein Lehrbuch, sein Lebenswerk. Das „Lehrbuch des Deutschen Strafrechts“ erschien 1857 – Berner war 39 Jahre alt – in erster Auflage. Die 18. und letzte Auflage lag 1898 vor. Der Umfang des Werks wuchs von 563 Seiten in der 1. Auflage auf 752 Seiten in der 18. Auflage an. Übersetzungen erfolgten in die griechische, polnische, serbische, russische und italienische Sprache. In der 18. und letzten Auflage seines Lehrbuchs äußert Berner sich im Kapitel „Gemeinrechtliche Lehr- und Handbücher“ selbst zur Konzeption 61

Berner (Fn. 17), 28. Frommel (Fn. 26), 167, Fn. 15, bemerkt, Berners Autorität habe „nicht dem Hegelianer, sondern dem Strafrechtswissenschaftler [gegolten]“. 63 Goldschmidt (Fn. 2), 172. 64 Stinzing/Landsberg (Fn. 25), 668 f. 65 Berner Lehrbuch8, 1876, Vorwort. 62

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seines Lehrbuches.66 Offenbar vermochte er sich im Alter von 80 Jahren, wie Radbruch anmerkt, selbst „historisch zu nehmen“.67 Dort schreibt Berner über Berner: „Sein Lehrbuch suchte er durchweg philosophisch zu konstruieren.“ Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich habe „zum großen Theil die in den ersten vier Auflagen des Lehrbuchs vertretenen Anschauungen wiedergegeben.“ Seit der fünften Auflage schließe sich das Lehrbuch dem deutschen Strafgesetzbuch an und lasse „die philosophische Konstruktion da, wo es nöthig ist, hinter dem konstruktiven Zusammenhang des Gesetzbuches zurücktreten, nimmt die leitenden Gedanken in die Interpretation der Gesetze auf und beschränkt die geschichtlichen und philosophischen Einleitungen, um für das geltende Recht Raum zu gewinnen.“ Diese mit der Zahl seiner Auflagen zunehmende Orientierung des Lehrbuchs an der „legalen Ordnung“ stieß freilich im Kollegenkreis nicht auf ungeteilte Zustimmung. Der Tenor war: Das Werk sei dort stark, wo es die allgemeinen Lehren behandle, dort schwach, wo es der legalen Ordnung folge.68 Während von Liszt etwa eine „glänzende Darstellung der allgemeinen Lehren“ ausmachte, konstatierte er mit einer gewissen Enttäuschung, dass „der besondere Teil weiter der legalen Ordnung“ folge.69 Auch Binding bemerkt zur 13. Auflage, dass das Lehrbuch im Allgemeinen Teil „seinen früheren Charakter und seine ursprüngliche Anlage gewahrt“ habe, während der Verfasser im besonderen Teil „jetzt der Legalordnung [folge] und [. . .] vielfach nur das Gesetz [paraphrasiere]“.70 Berner rechtfertigte diesen Ansatz im Vorwort der sechsten Auflage damit, dass im Allgemeinen Teil der Student nicht mit bloßen Definitionen abgespeist werden dürfe, sondern hier die Theorien zu entwickeln seien, in denen die Wissenschaft ihre grundlegenden Ideen zum Ausdruck gebracht habe, während er den Besonderen Teil ganz nach dem System des RStGB behandelt habe. Die in der Tat vergleichsweise unkritische Rezeption des Reichsstrafgesetzbuches in seinem Lehrbuch verteidigt Berner selbst am Ende des Vorworts zur fünften Auflage: „Die Wissenschaft ist zwar immer zur Kritik berufen, befindet sich aber unmittelbar nach Erscheinen eines guten Gesetzbuches so ziemlich im Niveau mit dem Positiven und hat jetzt jedenfalls hauptsächlich die Aufgabe der affirmativen Bearbeitung des Gegebenen. Die rechte Zeit zu Verbesserungsvorschlägen ist diejenige, wo dem Publikum Gesetzentwürfe zur Beurteilung vorgelegt werden.“71 66

Vgl. zum Folgenden: Berner Lehrbuch18 (Fn. 41), 59 f. Radbruch (Fn. 14), 14. 68 Vgl. etwa Radbruch (Fn. 14), 18. 69 Von Liszt Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 1881, 35. 70 Binding Handbuch des Strafrechts, 1885, 148 Fn. 4. 71 Engisch (Fn. 60), 106, schreibt diesen Wandel dem Einfluss des von Berner verehrten Mittermaier zu. Mittermaier hatte stets dafür plädiert, die neuen Partikularrechte als das 67

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Ungeachtet dieser Kritik an Teilen der Darstellung wurde Berners Werk schnell zum – wie man heute sagen würde – Standardwerk. Als Lehrwerk für die strafjuristische Ausbildung verdrängte es das „Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts“ von Heffter,72 welches 1857 in sechster und letzter Auflage erschienen war. Fast während der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts behielt Berners Lehrbuch seine überragende Bedeutung.73 Radbruch74 reiht es in eine Reihe mit Feuerbachs „Lehrbuch des gemeinen und in Deutschland gültigen peinlichen Rechts“75 und von Liszts „Lehrbuch des deutschen Strafrechts“.76 Dabei waren es wohl vor allem zwei Eigenschaften, welche die Wirkungsmacht von Berners Werk begründeten. Erstens die – gemessen an den Umständen der Zeit – offenkundig große didaktische Kompetenz des Autors.77 So würdigt Teichmann das Bernersche Lehrbuch vor allem deshalb als fortschrittlich, weil es „dem Verständnis und dem Interesse des Lesers in formgewandter, geistvoller, hie und da selbst poetischer Sprechweise durch klare Ausgestaltung der niedergelegten Gedanken“ wesentlich entgegenkam.78 Auch Landsberg bemerkt, das Werk zeichne sich vor allem durch „seine didaktische Klarheit und Geschicklichkeit“ und die „praktische Brauchbarkeit“ aus.79 Insofern war Berner sicher kein Hegelianer zeitgenössischen Zuschnitts mit dem für einen solchen „charakteristische[n] Stil, der häufig schlichte Aussagen in aufwendige Sprachformen kleidet“.80 Ganz offen bekennt Berner an anderer Stelle, sich insofern von Hegel abgewandt zu haben: „Die Philosophie ist mir geblieben. Zu der abgestreiften Jugendlichkeit des Philosophierens rechne ich die Schulformen, die philosophische Freimaurersprache, die von den Eingeweihten oft selbst nicht verstanden wird.“81 Zweitens gründet die Bedeutung des Werkes darauf, dass es Berner gelang, den Übergang „vom alten Gemeinen Recht zu dem Gemeinen Recht „neue gemeine Recht“ zum Gegenstand der strafrechtswissenschaftlichen Betrachtung zu machen. 72 Vgl. hierzu den Beitrag von Küper in diesem Band. 73 Nach Robert von Hippel war es bis in die 80er Jahre das „führende“ Lehrbuch. Binding (Fn. 70), 1. Band, 145, bemerkt, dass unter den systematischen Darstellungen des deutschen Strafrechts („das neue gemeine Recht“) drei Werke „die größte Beachtung genossen, nämlich – neben den Werken Köstlins und Hälschners das Lehrbuch Berners. 74 Radbruch (Fn. 14). 75 Feuerbach Lehrbuch des gemeinen und in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 1. Auflage 1801, 14. (durch Mittermaier herausgegebene) Auflage 1847. 76 Von Liszt Lehrbuch (Fn. 69), 1. Auflage 1881, 26. (durch Eb. Schmidt herausgegebene) Auflage 1932. 77 Vgl. auch Frommel (Fn. 26), 166. 78 Teichmann (Fn. 2), 307. 79 Stinzing/Landsberg (Fn. 25), 668 f. 80 Vormbaum (Fn. 24), 69. 81 Berner Grundsätze des Preußischen Strafrechts, 1861, 60.

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neuer Art“,82 also über die Partikulargesetzgebungen hinweg zum Reichsstrafgesetzbuch zu bewältigen. Dass Berner diese Herausforderung glänzend gemeistert hat, dass sein Hauptverdienst gerade darin bestand, der juristischen Ausbildung in einer Phase des Umbruchs ein Lehrwerk zur Verfügung gestellt zu haben, welches, basierend auf den allgemeinen Prinzipien, die legislative Entwicklung seiner Zeit aus einer affirmativen Grundhaltung heraus aufgriff, wurde nicht nur von Binding83 und später Radbruch84 anerkannt. Als günstig erwies sich dabei zum einen die Orientierung der Darstellung an den Strafrechtsprinzipien also denjenigen Grundlagen des Strafrechts, welche die äußeren Umbrüche – Kodifikation und Vereinheitlichung – vergleichsweise unberührt überstanden. Zum anderen erwies es sich als Vorteil, dass Berner sich mit dem Preußischen Strafgesetzbuch, welches, wie erwähnt, den Ausgangspunkt des Reichsstrafgesetzbuches bildete, bereits intensiv beschäftigt hatte. Unter der Überschrift „Aufgabe der Gegenwart“ äußert Berner sich hierzu wie folgt: „Die Einheit und Gemeinsamkeit der Deutschen Rechtswissenschaft dürfen wir unter keiner Bedingung aufgeben [. . .] Selbst wenn wir eine neue und gemeinsame Deutsche Gesetzgebung erhielten, würden wir die wissenschaftlichen Elemente des alten Rechtes nicht aufgeben dürfen und seine geschichtliche Stellung immer noch zu beachten haben. [. . .] Das gemeine Recht wird daher nothwendig den Ausgangspunkt einer Darstellung des Deutschen Strafrechts bilden. Es wird aber, je länger je mehr, den Charakter einer bloßen geschichtlichen Einleitung annehmen und eine Menge von Detail, welches keinen allgemeinen wissenschaftlichen Werth hat, fallen lassen müssen. [. . .] Gemeines Recht und neueres Recht müssen, ohne völlig in einander aufzugehen, unter die Herrschaft durchwirkender Principien gebracht und dem entsprechend dargestellt werden.“85 Ein in gewisser Weise „natürlicher“ Einbruch, was die Qualität des Lehrwerks betrifft, stellte sich etwa ab der 15. Auflage von 1888 ein. Hier zeigt sich, dass der Verfasser – Berner erreicht sein siebzigstes Lebensjahr – dem aktuellen Stand der Disziplin nicht mehr in vollem Umfang zu folgen vermochte. Besonders augenfällig ist dies mit Blick auf die große Strömung der Strafrechtswissenschaft, welche in der Reformbewegung und später im sog. 82 Radbruch (Fn. 14), 14. Auch von Liszt/Eb. Schmidt Lehrbuch des Deutschen Strafrechts26, 1932, 65, heben als „wichtigste und schwierigste Aufgabe“ der Strafrechtswissenschaft bis 1870 die „einheitliche Zusammenfassung des nach Ländern zersplitterten und doch von gemeinsamen Grundgedanken beherrschten Rechts“ hervor. 83 Auch Binding (Fn. 70), 147, anerkannte, dass „Brücken zwischen der älteren und der Literatur des neuen gemeinen Rechts“ auf dem Gebiet der systematischen Darstellung neben Hälschner vor allem durch Berner geschlagen worden seien. 84 Radbruch (Fn. 14), 14. 85 Berner Lehrbuch1 (Fn. 30), 76 f.

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Schulenstreit mit den Protagonisten Binding und von Liszt, seit Mitte der 1880er Jahre deutlich hervorzutreten begann.86 Wenn auch die zunehmend scharf ausgetragene Kontroverse in die Substanz des Werkes keinen Eingang mehr fand, so hat Berner sie doch zur Kenntnis genommen, wie das Vorwort zur 18. Auflage des Lehrbuchs erkennen lässt: „Im Blick auf die Kämpfe der Gegenwart schließe ich mit dem Wunsche: bei allem Streit, der ja ein Zeichen des Lebens ist, Weitherzigkeit, hohe Gesinnung, Friede unter den Personen.“87

V. Schluss Zu „Weltruhm“ hat Berner es – im Gegensatz zu den anderen beiden großen Lehrbuchautoren des 19. Jahrhunderts, Feuerbach und von Liszt – nie gebracht.88 Vielleicht auch deswegen, weil seine außergewöhnlichen Leistungen als Strafrechtswissenschaftler aufs engste mit den spezifischen Umständen seiner Zeit verknüpft waren, dem „doppelten Übergang“ nämlich, vom Gemeinem Strafrecht zum Reichsstrafgesetzbuch und von der ersten, noch philosophiebeherrschten zur zweiten, „philosophielosen“ Hälfte des 19. Jahrhunderts.89 Diese Umbrüche nicht nur mitvollzogen, sondern – als Theoretiker, (Kriminal-) Politiker und Lehrer – mitgestaltet zu haben: Hierin liegt das eigentliche Verdienst Berners. Wer also war Berner? Ein Berliner zeitlebens. Als Theoretiker und Dogmatiker bis heute unvergessen. Ein Kriminalpolitiker voller Humanität, nicht ohne Einfluss auf die legislativen Errungenschaften seiner Zeit. Und vor allem: ein begnadeter Strafrechtlehrer. Geben wir ihm, dem Lehrer Berner, zum Schluss noch einmal das Wort, ein Wort, welches es verdient, dass wir uns auch heute noch seiner erinnern: An die akademische Jugend. Wer in einem Lehrbuche nur eine Anweisung zur Vorbereitung für Prüfungen sucht, wird zwar hoffentlich auch bei diesem Lehrbuche seine 86 Wenn Berner auch in vielem mit dem Listz’schen Programm übereinstimmte – Abschaffung der Prügelstrafe und der Todesstrafe, Besserung des Verbrechers etc. – so war dies doch eher Ausdruck der humanen Gesinnung Berners weniger der kriminalpolitischen Einsicht. Vgl. Engisch (Fn. 60), 137. Dem entspricht es, dass Berner offenbar die Liszt’sche Position zum Gewohnheitsverbrechertum ablehnte, Unschädlichmachung stehe nicht in Einklang mit seiner Einstellung. 87 Berner Lehrbuch18 (Fn. 41), XVI. 88 Zwei Dissertationen befassen sich mit Berners Person und seinem Werk; Engisch (Fn. 60); Alda (Fn. 4); in den heutigen Strafrechtshand- und lehrbüchern findet Berner allenfalls am Rande Erwähnung. Um ferner einen modernen Seismographen zu bemühen: Eine Google-Recherche ergibt für Berner 383 Fundstellen, für Franz von Liszt über 15.000 und für Paul Johann Anselm von Feuerbach über 100.000. 89 Radbruch (Fn. 14), 28.

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Rechnung finden; es wird ihm jedoch der beste und fruchtbarste Theil desselben entgehen oder gleichgültig bleiben. Die positiven Einzelheiten, die das gegebene Material der Wissenschaft sind, bilden noch nicht die Wissenschaft selbst. Nur wer zuerst die letztere sucht, wird sich die ersteren auf die wahre, für Praxis und Leben fruchtbare Weise aneignen. [. . .] Der Verfasser würde sich für seine Arbeit hoch belohnt finden, wenn sie auch nur ein Weniges dazu beitrüge, die Lebensgeister echter Wissenschaft in der studirenden Jugend Deutschlands wieder zu hellen Flammen anzufachen.90

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Berner Lehrbuch1 (Fn. 30), Aus dem Vorwort der 1. Auflage 1857, V f.

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Theodor Mommsen (1817–1903)1 J. MICHAEL RAINER

I. Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mommsen der Wissenschaftler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Politiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Leben und Werk Theodor Mommsen wurde am 30. November 1817 als ältester Sohn des damaligen Diakon Jens Mommsen und seiner Frau Sophie, geborene Krumbhaar in Garding in Schleswig geboren. Die Familie lebte ab 1821 in Oldesloe in Holstein. Theodor Mommsen wuchs somit in einer protestantischen Pastorenfamilie auf. Der Vater Jens war freilich ein Theologe sui generis, der offen für antike wie moderne Literatur war und der sich selbst auch hin und wieder der Dichtkunst verschrieb. Insofern lagen ihm Doktrinismus und Dogmatik durchaus fern, sodass wir bereits im elterlichen Hause die Grundlagen für Mommsens zukünftiges liberales Verständnis erkennen können. Dem Ehepaar Mommsen wurden weitere Kinder geschenkt, von denen die Brüder Tycho, geboren 1819 und August, geboren 1821, sowie die Schwester Marie, geboren 1828, die Eltern überlebten. Mit Tycho verband Mommsen Zeit seines Lebens eine über das Familiäre weit hinausgehende intensive geistige Beziehung. Bereits in seiner Schulzeit hat sich Theodor Mommsen eingehend mit der Religion seiner Väter beschäftigt, hat sich mit religiösen und theologischen Problemen aller Art auseinandergesetzt und ist letztlich zum Entschluss gelangt, einen eigenständigen Weg zu beschreiten. Klassische moderne Autoren, insbesondere jene der Sturm und Drang Zeit, 1 Literatur: Christ Von Gibbon zu Rostovtzeff, 1972, 84-118. Heuß Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert, 1956, Neudruck 1996. Nippel/Seidensticker Theodor Mommsens langer Schatten, Das Römische Staatsrecht als bleibende Herausforderung für die Forschung = Spudasmata 107, 2005. Rebenich Theodor Mommsen, Eine Biographie, 2002. Sturm Theodor Mommsen, Gedanken zu Leben und Werk des großen Rechtshistorikers, 2006. Wickert Theodor Mommsen, Eine Biographie, Bände I-IV, 1959–1980.

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sowie die großen Klassiker der deutschen Literatur. Die soliden Grundlagen für Mommsens zukünftige Erfolge wurden im Hausunterricht durch den Vater selbst gelegt, der über Jahre hinweg seine Kinder in sämtlichen Disziplinen unterrichtete. Erst 1834 trat Theodor Mommsen zusammen mit seinem Bruder Tycho in die Prima des königlichen Christianeum in Altona ein. Bis zum April 1838 dauerte die Oberstufe, die am Christianeum Selecta genannt wurde. Mommsen absolvierte wöchentlich 32 Unterrichtsstunden, davon waren neun für die lateinische und sechs für die griechische Sprache vorbehalten, jeweils zwei für Französisch, Englisch, Dänisch, Deutsch, Theologie und Mathematik, eine für Physik und Philosophie und drei für Geschichte. 1837 war Mommsen dem Altonaer wissenschaftlichen Verein beigetreten, der von den Selectanern des Gymnasiums 1828 gegründet worden war. In diesem Verein, der die Weiterbildung der besten jungen Männer zum Ziel hat, übernahm Mommsen erstmals in seinem Leben als Organisator Funktionen als Quästor, Archivar, als Präses wie als Sekretär. Die erhaltenen Aufsätze, Rezensionen und Gedichte jener Jahre zeigen einen überaus bildungshungrigen jungen Mann, der begierig nicht nur das Erbe der Alten aufsog, sondern immer bestrebt war, auf dem letzten Stand der Dinge zu stehen. In dieser Beziehung sind wohl seine intensiven Studien der Hegelschen Philosophie zu sehen. Wissenschaftlichkeit und Leistung sollten die Bildungsideale des aufgeklärten Protestantismus des 19. Jahrhunderts sein und Mommsen wird sie zeitlebens verinnerlicht mit sich tragen. Theodor Mommsen beschloss, wohl auch aus ökonomischen Gründen, sich in der Landesuniversität Kiel zu immatrikulieren. Im selben Jahr immatrikulierten sich 273 Studierende an der gesamten Universität, Tendenz fallend. Die Schleswig-Holsteinische Landesuniversität Kiel war im Sinne der Humboldtschen Universitätsreformen neu strukturiert und gestaltet worden. Mommsen entschied sich im Gegensatz zu seinen Brüdern, die das Modefach der klassischen Philologie wählten, für das Brotstudium der Rechtswissenschaften. An der Kieler Universität erfuhr Mommsen eine außerordentliche und tiefgehende Einführung und Vertiefung im Römischen Recht. Als Mommsen in Kiel Römisches Recht hörte, hatte in allen deutschen Landen bereits die Neuausrichtung der romanistischen Studien unter Savignys Leitung ihren Anfang genommen. Der Siegeszug der historischen Schule hatte zwar begonnen, war aber noch keineswegs in seiner Totalität erkennbar, wie das 20 Jahre später der Fall sein sollte. Das bedeutete für Mommsen, dass er einen wohl nicht festgefahrenen methodischen und inhaltlichen Zuschnitt der Lehre des Römischen Rechtes erlebte. Der glückliche Umstand wollte es, dass Mommsen von zwei außerordentlichen Lehrern des Römischen Rechtes unterrichtet wurde. Georg Christian Burchardi (1795–1882), der selbst seine Studien in Kiel begonnen, aber in Berlin und Göttingen fortgesetzt hatte. Mit Unterstützung Savignys lehrte Burchardi ab 1819 als außerordentlicher und ab 1821 als ordentlicher Professor der

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Rechte in Bonn. Im Jahre 1822 folgte er einem Ruf nach Kiel. Bereits in Bonn hat er die Grundzüge des Rechtssystems der Römer veröffentlicht. Es folgte im Jahr 1831 die Lehre von der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und schließlich zur Zeit als Mommsen bei ihm hörte (1834) die Geschichte und Institutionen des Römischen Rechts. Burchardi, wie man seinen Publikationen entnehmen kann, war durchaus Systematiker im Sinne Savignys. Es ging ihm nicht nur darum, die einzelnen Institutionen des Römischen Rechtes darzulegen, zu analysieren und zu beschreiben, sondern aus der Verbindung der einzelnen das System zu entwickeln. Auch aus dem Namen seines 1834 veröffentlichten Werkes ergibt sich das methodische Gerüst der historischen Schule in der Dialektik zwischen Geschichte und System. Burchardi hat auch staatsrechtliche Themen nicht vernachlässigt, ein interessantes Zeugnis ist diesbezüglich eine Veröffentlichung über die Lex Rubria aus dem Jahre 1840. Als Quintessenz seiner Studien zum Römischen Recht muss sein Lehrbuch in zwei Bänden 1841 bis 1847, 2. Auflage 1854 genannt werden. Mommsen hatte somit das Glück, von einem der interessantesten Savigny Schüler unterrichtet zu werden, der ihm wohl für das gesamte Leben zum einen die Bedeutung der Historie, zum andern aber auch diejenige des Systems vermitteln konnte. Das zweite wichtige Kolleg im Bereiche des Römischen Rechtes war eine vertiefende Auseinandersetzung mit Justinians Digesten. In diesem Pandektenkolleg wurde Mommsen von einem Schüler Burchardis, Johann Friedrich Kierulff unterrichtet. Einen Teil seiner Studien hatte dieser in München absolviert und unter anderem sich mit Schellings Philosophie auseinandergesetzt. Im Jahr 1839 wurde er ordentlicher Professor und publizierte im selben Jahr die Theorie des gemeinen Zivilrechts. Die Weiterentwicklung der Theorien der historischen Schule in diesem Werk erfolgte unmittelbar unter dem Einfluss der Hegelschen Philosophie. Die bemerkenswerten, systematisch philosophischen Ansätze Kierulffs muss Mommsen sehr genossen haben, denn er hat sich zeitlebens äußerst lobend über diese Lehrveranstaltung geäußert. Die neue Theorie des Zivilrechtes sollte insbesondere dazu dienen, eine breite Grundlage für eine moderne Zivilrechtskodifikation zu schaffen. Das juristische Studium an der Universität Kiel bestand in jenen Jahren in sehr sinnvoller Weise nicht nur aus juristischen Pflichtveranstaltungen, sondern auch aus anderen Disziplinen, die die Bildung des Juristen stützen und ergänzen sollten. So musste Theodor Mommsen im Sommersemster 1839 in englischer Sprache Childe Harold’s „Pilgrimage“ von Lord Byron lesen, ein Autor für den er zeitlebens Bewunderung und Verehrung hegen sollte. Der Agrarhistoriker und Nationalökonom Georg Hanssen unterwies Mommsen in Nationalökonomie, Statistik und Staatswissenschaft. Hanssen hatte sich intensiv mit der historischen Entwicklung der unterschiedlichsten Agrarverfassungen auseinandergesetzt. Wir können demnach davon ausgehen, dass Mommsen für die damalige Zeit solides volkswirtschaftliches und wirtschaftshistorisches

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Wissen hatte. Im Wintersemester 1839/40 hatte auch der später weltberühmte klassische Philologe Otto Jahn seine Lehrtätigkeit als Privatdozent an der Kieler Universität begonnen. Jahn hatte bei Böckh und Lachmann in Berlin studiert. Ausgestattet mit einem dänischen Reisestipendium verbrachte er ein Jahr 1837/38 in Paris, und weilte vom Oktober 1838 bis Sommer 1839 in Italien. Dort hat er sich insbesondere mit lateinischen Inschriften auseinandergesetzt. Mommsen zählte offenbar zu seinen ersten Hörern in Kiel. Dabei muss er ihm insbesondere die Bedeutung der nicht literarischen Quellen für die Erforschung des Altertums nahe gebracht haben. Jahn, ein exzellenter Philologe und Textkritiker, war von der Bedeutung der Gesamtheit der antiken Quellen überzeugt. Er sollte später im Auftrag Ludwigs I. eine ausführliche Beschreibung der Münchner antiken Vasensammlungen vorlegen. Mommsens erste durchaus zaghafte wissenschaftliche Versuche sind im Zusammenhang mit Bewerbungen für Stipendien zu sehen. Es handelt sich um Arbeiten, die man nach gängiger Auffassung eher dem Bereich des öffentlichen Rechtes als jenem des Privatrechtes zuordnen würde und zwar über die römischen Ärartribunen sowie über das Recht der römischen Kollegien. Seine Examenarbeit verfasste er über die Tribus in administrativer Beziehung und seine Dissertation aus dem Jahr 1843 ist dem Begriff der auctoritas gewidmet, auch auf der Grundlage epigraphischer und philologischer Quellen. Man mag darin bereits eine gewisse Präferenz Mommsens für das öffentliche Recht erkennen, eine Materie, die durchaus nicht im Zentrum der historischen Schule stand und die von vielen Juristen dieser Provenienz auch stiefmütterlich behandelt wurde. Sämtliche dieser Jugendarbeiten beweisen aber, dass Mommsen erkannt hatte, dass in dem weiten Bereich des öffentlichen Rechts die Ausschließlichkeit der literarischen juristischen Quellen zu keinem endgültigen und vor allem innovativen Ergebnis führen konnte. Es mussten zweifellos über die traditionellen Ansätze der klassischen Philologie neue Wege gefunden werden, wie sie sich etwa über die Vermittlung Jahns im Bereich der Epigraphik aufgetan hatten. Mommsen selbst hat treffend in dem der Dissertation beigelegten Lebenslauf von antiquarischen Studien gesprochen. Dies war angesichts der enormen Bedeutung der Pandekten durchaus eine notwendige Erklärung im Rahmen einer wissenschaftlichen Erstlingsarbeit. Im Nachhinein gesehen, hatte Mommsen das Glück von engagierten, zum Teil sehr jungen und nach neuen Wegen suchenden Lehrern, unterrichtet worden zu sein. Insbesondere hatte er innerhalb seiner juristischen Studien auch eine fundierte, gesamtaltertumswissenschaftliche, moderne Ausbildung erfahren. Dennoch, Mommsen hat ein juristisches Studium abgeschlossen. Er war durch den Besuch sämtlicher juristischer Kollegien und die Ablegung der entsprechenden Examina zu einem Juristen geworden und war in die Methode und das Denken des Juristen bestens eingeführt. Zu seinem 50. Doktorjubiläum sprach er davon, dass

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die Jurisprudenz den Jüngling erzogen habe. Dieser Umstand darf nie außer Acht gelassen werden. Mommsen hat sich der Rechtswissenschaft nicht en passant gewidmet, er hat sich intensiv während seiner gesamten Studienzeit mit den einzelnen Disziplinen der Rechtswissenschaft beschäftigen müssen. Er hat dies mit großem Erfolg getan und ist damit zeitlebens ein Jurist geblieben. Während seiner Studentenzeit war Theodor Mommsen Mitglied der 1836 anstelle der verbotenen Germania begründeten Burschenschaft Albertina, deren Ziele waren, Liebe zum Vaterland, Begeisterung für Freiheit, Selbständigkeit und Einheit des Volkes, deutschen Gemeingeist und Volksgefühl zu wecken. Besonders wichtig war ihm die Verbindung zu Freunden aus anderen Disziplinen, die sich zu einer Gemeinschaft mit dem Namen Clique zusammengeschlossen haben. In dieser Clique wurde in erster Linie über Literatur diskutiert und auch gedichtet. Weltberühmt werden sollte neben Mommsen auch Theodor Storm. 1843 legte Mommsen in Kiel das juristische Examen mit Auszeichnung ab. Im November desselben Jahres wurde er Summa Cum Laude promoviert. Das Examen, das im damaligen SchleswigHolstein das einzige Staatsexamen war, hätte ihn zur Aufnahme eines jeden juristischen Berufes befähigt, aber zu sehr schien Mommsen von der Aussicht auf eine akademische Karriere begeistert, um nicht zu sagen geblendet gewesen zu sein. Jahn, der inzwischen nach Greifswald berufen worden war, versuchte sogar, dort den jungen Doktor als Professor unterzubringen, umsonst. Da er aber partout den Plan nicht aufgeben wollte, sah er sich gezwungen, vorläufig auf anderem Wege sein Brot zu verdienen und zwar derart, dass ihm weiteres wissenschaftliches Arbeiten zeitlich ermöglicht war. Glücklicherweise fanden sich dazu seine beiden Tanten mütterlicherseits bereit, die in Altona ein hochangesehenes Mädchenpensionat unterhielten. Mommsen unterrichtete dort Latein, Französisch, Geschichte, Geographie, deutsche Literatur und Sprache. Freilich lange währte seine Tätigkeit in verwandtschaftlicher Umgebung nicht. Seine Bewerbung für das große dänische Reisestipendium, das seinerzeit auch Otto Jahn erhalten hatte, verlief dank der außerordentlich günstigen Stellungnahme seiner Lehrer positiv. Unter 65 Bewerbern wurde er mit weiteren acht auserwählt. Inzwischen war man offenbar über Otto Jahns Vermittlung auch in Berlin auf ihn aufmerksam geworden. Böckh, der das Corpus der griechischen Inschriften initiiert hatte und Lachmann waren informiert und insbesondere gelang es auch, den Staatsminister Savigny für den angehenden jungen Gelehrten zu interessieren. Offenbar auf Savignys Anregung und wohl auch Vermittlung hat Mommsen im Verlaufe seiner Italienreise in San Marino den berühmtesten Altertumsforscher und Begründer der modernen Epigraphik Bartolomeo Borghesi kennenlernen dürfen. Mommsen verließ im Oktober 1844 Deutschland, er hat vom ersten Tage seiner Reise an Tagebuch geschrieben. Deswegen sind wir über seine Aufenthalte in Frankreich und Italien außerordent-

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lich gut informiert. Mommsen wählte als ersten Ort Paris. Der nicht einmal siebenwöchige Aufenthalt sollte für ihn zu einem der Wendepunkte in seinem Leben werden, wie es später noch einmal Rom werden sollte. In Paris fand er Aufnahme in die Gelehrtenwelt, besuchte zahllose Veranstaltungen des Wissenschaftsbetriebes und begann wohl auf Bitten Jahns Editionsstudien an der Nationalbibliothek. Ein für alle Mal wurde er durch die Internationalität der Wissenschaften geprägt. Zwei Zufälle mögen ihm dabei weitergeholfen haben, der deutsche Konservator der Handschriftenabteilung der Nationalbibliothek Karl Benedict Hase scheint ihn nachhaltig in die französische Gelehrtenwelt eingeführt zu haben und in der Nationalbibliothek selbst lernte er den zufällig in Paris weilenden ersten Sekretär des preußischen archäologischen Instituts in Rom Emil Braun kennen. Er wird dort mit Braun über seine Projekte gesprochen haben, insbesondere über das lateinische Inschriften Corpus, ein für Mommsen zukunftsträchtiges Treffen in Rom wurde vereinbart. Zurückblickend lässt sich sagen, dass in der kurzen Pariser Zeit aus dem Pastorensohn von Oldesloe ein Weltenbürger geworden war. Seine Reise nach Italien führte ihn über die großen Zeugnisse der Antike Südfrankreichs Montpellier, Avignon, Nimes, auch ein Besuch des Pont du Gard fand statt. Als Mommsen im Spätherbst 1844 italienischen Boden zum ersten Mal betrat, konnte er wohl noch nicht wissen, dass er fast drei Jahre in diesem Lande verweilen würde. Diese drei Jahre sollten für sein weiteres Leben bestimmend werden. In einem Brief an seine zukünftige Ehefrau Marie Reimer vom 12. Juli 1854 schreibt er über Italien: „Wo mir ein neues Leben aufgegangen ist und wo ich drei Jahre sehr glücklich war.“ Über Florenz, wo Mommsen in der Biblioteca Laurentiana textkritische Studien durchgeführt hat, gelangte er am 30. Dezember 1844 nach Rom. Wegen der offenbar unverschämten Preise der diversen Unterkünfte entschloss sich Mommsen bei Braun nachzufragen, ob man ihn im archäologischen Institut auf dem Capitol aufnehmen würde. Für die nächste Zeit wurde dieses Institut nicht nur seine geistige Heimat. Mommsen war vom archäologischen Institut begeistert, die Internationalität des Ortes, die Publikationsprojekte und die wissenschaftliche Auseinandersetzung innerhalb des Institutes und weltweit mit führenden Kollegen der Altertumswissenschaft schienen ihm überaus zukunftsträchtig zu sein. Er selbst war von Otto Jahn mit dem Projekt der lateinischen Inschriften konfrontiert worden, waren doch Jahn diejenigen Vorstudien, die Mommsens dänischer Landsmann Olaf Kellermann als Epigraphiker am archäologischen Institut in Rom durchgeführt hat, nach dessen frühem Tod 1837 übergeben worden. In Rom war zwar ein Ersatz für Kellermann gefunden worden, der Altphilologe Wilhelm Henzen, den mit Mommsen eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Mommsen gelang es unmittelbar, Henzen von der Notwendigkeit einer Mitarbeit an diesem Projekt zu überzeugen. Die Zeit am archäologischen Institut sollte sich als überaus fruchtbar erweisen, so dass die Grundlagen in den verschie-

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denen Disziplinen der Altertumswissenschaften, die Mommsen während seines juristischen Studiums in Kiel erhalten hatte durch den tagtäglichen Umgang mit den internen Mitgliedern des archäologischen Institutes sowie mit zahlreichen italienischen Kollegen im Wesentlichen ausgebaut und verstärkt wurden. Die enge Zusammenarbeit zwischen Mommsen und Henzen sollte die Grundlage des zukünftigen Erfolges des CIL werden. Von besonderer Wichtigkeit müssen die zwei Besuche bei Borghesi im Jahr 1845 und 1847 bezeichnet werden. Schon beim ersten Besuch dürfte es Mommsen völlig klar geworden sein, dass die Edition sämtlicher lateinischer Inschriften nur auf dem Wege der Autopsie erfolgen könne. Vorangehende Publikationen sind nur dann heranzuziehen, wenn die Autopsie nicht mehr möglich ist, oder die Inschrift seit einer früheren Kopie unleserlicher geworden war. Auf Borghesi dürfte auch die Anregung zurückgehen, die Inschriften regional zu ordnen und daraus Erkenntnisse sowohl für die regionale Entwicklung und Geschichte, wie auch für die Gesamtgeschichte des Römischen Reiches zu gewinnen. Auf Borghesis Anraten hatte sich Mommsen der schwierigen und oftmals überaus anstrengenden Aufgabe unterzogen, die Inschriften des Königreichs Neapel durch Autopsie zusammenzustellen und zu erforschen. Damit war er endgültig von seinem ursprünglichen im eigentlichen Bereiche des römischen Staatsrechtes gelegenen Vorhaben, dass er auf der Stipendienreise zu bewältigen trachtete, und zwar alle inschriftlich erhaltenen Gesetzesurkunden zu sammeln, abgekommen und hatte sich einem weit größeren, allerdings weit weniger juristischem Projekt verschrieben. So wohlwollend Mommsen in Rom und bei Borghesi empfangen worden war, so problematisch erwies sich die endgültige Installierung und Finanzierung des Projektes im Rahmen der Berliner Akademie. Es handelt sich fast um einen jahrzehntelangen Kampf, bis endlich Ende 1854 Mommsen und Henzen als Redaktoren des Gesamtprojektes bestellt wurden. Bereits im Januar 1847 hatte Mommsen einen Plan über die Ausführung eines CIL, in der er insbesondere die allgemeinen Theorien zu diesem epigraphischen Großprojekt aufstellte, verfasst und nach Berlin geschickt. Gerade durch das große Interesse Savignys und seine unmittelbare Unterstützung gelang es, Mommsens Aufenthalt zumindest temporär finanziell zu sichern. In den Jahren des ersten Italienaufenthaltes lernte Mommsen Land, Leute und Mentalität gut kennen. Seine Italienischkenntnisse müssen als ausgezeichnet bezeichnet werden. Er blieb zeitlebens diesem Land als einer zweiten Heimat außerordentlich verbunden und die zweite Heimat hielt ihn stets in hohen Ehren, die Stadt Rom verlieh ihm sogar die Ehrenbürgerschaft. Trotz der durchaus überzeugten Unterstützung Savignys gelang es nicht, Mommsen nach dessen Rückkehr aus Italien im Herbst 1847 unmittelbar einer akademischen Laufbahn zuzuführen. Auf ein Habilitationsprojekt bei Otto Jahn in Leipzig verzichtete er aus materiellen Gründen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als wiederum im Mädchenpensionat der Tanten zu unterrichten.

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Erst das Sturmjahr 1848 eröffnete Mommsen die Chance einer adäquateren Beschäftigung. Am 23. März 1848 erklärten die Herzogtümer Schleswig und Holstein ihren Abfall von Dänemark. Die neue Regierung, die in der Festung Rendsburg ihre Tätigkeit aufnahm, wurde unmittelbar von Berlin und der Nationalversammlung in Frankfurt anerkannt. Regierungsmitglied war Theodor Olshausen, der über genügend journalistische Erfahrung verfügte und zur Unterstützung der Regierung eine neue Zeitung, die Schleswig-Holsteinische Zeitung gründete, die als Organ die Politik der neuen Regierung unterstützen sollte. Offenbar kannte Olshausen die hervorragenden literarischen Fähigkeiten Theodor Mommsens und er berief ihn vom Mädchenpensionat direkt in die Redaktionsstube der neugegründeten Zeitung. Aus der spitzen, überaus feinen Feder Theodor Mommsens entstanden zahlreiche Beiträge. Grundsätzlich trat er wortgewaltig für Deutschlands Einheit ein und dies auf der Grundlage eines modernen zukunftsorientierten Liberalismus. Mommsen war stets der Überzeugung, getragen wohl einerseits von seinem protestantischen familiären Umfeld, andererseits von den Erinnerungen der Freiheitskriege und der in diesem Zusammenhang erfolgten Reformen, dass die deutsche Einheit nur von Preußen bewirkt und getragen werden könne. Obwohl der Mommsen jener Jahre für die Zukunft ein republikanisches Regiment für Deutschland nicht ausschließen wollte, so sprach er sich doch entschieden für die konstitutionelle Monarchie und selbst für ein deutsches Erbkaisertum aus. Bereits in diesen Beiträgen werden seine liberalen und demokratischen Einstellungen, sein Streben nach Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit deutlich. Ständisch geprägte Privilegien waren Mommsen zeitlebens ein Gräuel, aber auch dem uneingeschränkten und für ihn bedrohlichen Kapitalismus englischer Prägung war er abgeneigt und glaubte insbesondere durch Bildung und soziale Maßnahmen die Situation der Arbeiter zu heben. Die Beseitigung von materiellen Notlagen schien ihm die wichtigste Grundlage für die Partizipation aller an den Freiheiten der Bürger. Mommsens Rolle als Chefredakteur der Schleswig-Holsteinschen Zeitung war nicht von langer Dauer. Seine Forderungen nach einem liberalen Wahlrecht führten zu zunehmendem Ärgernis mit der Regierung, sodass er bereits Ende Juni 1848 die Schriftleitung zurücklegte. Wiewohl er noch mehrmals als Journalist des Blattes in Erscheinung trat, war doch im Wesentlichen diese Laufbahn damit beendet. Heute würde man Mommsens Tätigkeit in diesem Felde als besten Bildungsjournalismus bezeichnen. Glücklicherweise gelang es aber gerade in dieser erneut schwierig zu werdenden Phase von Mommsens Leben dem Mentor und Freund Otto Jahn für ihn in Leipzig tätig zu werden. Der dortige Kultusminister Ludwig von der Pfordten war selbst Professor für Römisches Recht gewesen und konnte somit die Leistungen des jungen Wissenschaftlers entsprechend würdigen, sodass er ihn bereits zu Beginn des Wintersemesters 1848/49 nach Leipzig

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berief. Mommsen war über diesen Ruf überaus erfreut und erleichtert. Er sah sich am Ziel seiner wissenschaftlichen und beruflichen Träume, er war Professor geworden. Ende Oktober hielt er seine Antrittsvorlesung über die Aufgaben der historischen Rechtswissenschaft, zudem an einer der ersten juristischen Fakultäten deutscher Sprache. Während er sich in seiner Antrittsvorlesung entschieden als Jurist zu erkennen gab, so sind die folgenden Jahre doch gekennzeichnet durch historische Studien im eigentlichen Sinne. 1850 erschien sein Werk über die unteritalienischen Dialekte, das Mommsen nicht nur als Philologen, sondern als Sprachwissenschaftler im modernen Sinn auszeichnet. 1852 erfolgte die Publikation der Inscriptiones Regni Neapolitani Latinae, seine erste grundlegende Publikation im Rahmen der Epigraphik, richtungweisend für sämtliche weitere Editionen, die dann ab 1854 im CIL der Berliner Akademie aufgenommen wurden. Mommsen erfüllt das gesamte Pflichtprogramm des Romanisten und las abwechselnd die eingehenden Institutionen bzw. Pandekten Vorlesungen. Bereits sein erster Ruf zeigte ihm aber auch die Mühen des akademischen Lehrers auf, der neben seinen Forschungen ein nicht unbeträchtliches Pensum an Lehrveranstaltungen zu erledigen hatte, dies umso mehr als er im Bereich dieses Lehrstoffes keine eigentlichen Forschungen mehr betrieb, somit seine Lehre nicht auf seine Forschungen stützen konnte. Wiewohl er selbst die Vorlesungen oft als lästige Pflicht empfand, ist davon auszugehen, dass er seinen Verpflichtungen mit Anstand und Nachdruck nachkam. Persönlich stand ihm in Leipzig Otto Jahn nahe, zu Otto Jahn gesellte sich der Philologe Moritz Haupt, der einen Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur vertrat und selbst Goethes Gedichte auf Lateinisch übersetzt hatte. Kontakt wurde gepflegt mit den Verlegern Karl Reimer und Salomon Hirzel, den Eigentümern der Weidmannschen Buchhandlung. Reimers Tochter Marie sollte wenige Jahre später seine Frau werden. Die Leipziger Jahre sind insbesondere gekennzeichnet durch den Beginn der Arbeit an einem von Mommsens berühmtesten und fortwährendsten Projekten, der römischen Geschichte. Im Oktober 1850 wurde auf Anregung Reimers und Hirzels, die offenbar von einem Vortrag, den Mommsen über die Gracchen gehalten hatte, so begeistert waren, der Verlagsvertrag unterzeichnet. Mommsen hat die ersten drei Bände im Jahre 1856 beendet. In den folgenden Auflagen erfolgten teils Überarbeitungen, teils Ergänzungen. Der dritte Band endet bekanntlich mit Cäsars Sieg bei Thapsus in Spanien im Jahre 46 v. Chr. Der fünfte Band gewidmet den Provinzen bis auf Diocletian erschien 1885, der vierte Band, der dem Prinzipat vorbehalten sein sollte, ist nie erschienen. Mommsen hat die römische Geschichte mit außerordentlicher Energie und hoher Kraftanstrengung verfasst. Ihm war um die Schwierigkeit bewusst, eine für ein breiteres Publikum leserliche und doch auch für den Historiker akzeptable Darstellung der römischen Geschichte verfassen zu müssen. Nach wie vor zählt das Werk zu den Klassikern der Geschichtsschreibung, zeigt es doch auf,

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wie breit und wie eng zur gleichen Zeit die Möglichkeiten eines derartigen Werkes sind. Dies betrifft zweifellos nicht nur die Mitte des 19. Jahrhunderts, sondern genauso unsere Gegenwart. Mommsen schuf wortgewaltig wie er war mit spitzer und zugleich zarter Feder ein literarisches Meisterwerk, dem wohl zu Recht im Jahre 1902 der Nobelpreis zuerkannt wurde. Das Werk ist mit Impetus und höchstem persönlichen Engagement verfasst, es enthält zahllose einseitige wie pointierte Aussagen. Die Charakterzeichnungen sollten den Leser fesseln und sie fesseln ihn heute noch. Berühmt wurde die Gegenüberstellung von Cicero und Caesar: Ersteren hielt Mommsen in absolut jeder Beziehung für einen Pfuscher, letzteren für den größten Staatsmann aller Zeiten. In der Gesamtdarstellung beschränkte sich der Autor keineswegs nur auf eine Aneinanderreihung der politischen Entwicklung. Mommsen zeigt großes Interesse an all dem was man unter Kultur zu verstehen hat. An vielen Stellen kann man sein Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft feststellen. In der Überarbeitung des dritten Bandes wurde eigens ein 12. Kapitel hinzugefügt, das er Boden- und Geldwirtschaft nannte. Mommsen war ein großer Experte der Münzkunde, auch dies ein Resultat seines Aufenthaltes am archäologischen Institut in Rom, wo er intensiv mit dem Numismatiker Friedländer zusammenarbeitete. Schließlich gelang ihm in jenen Jahren eine Darstellung der Geschichte des römischen Münzwesens, eine der grundlegenden Arbeiten der modernen Wirtschaftsgeschichte und die eigentliche Urarbeit, was das Geldwesen anbelangt. In Leipzig ereilte Mommsen jedoch wiederum die Politik. Der einstige Chefredakteur der Schleswig-Holsteinischen Zeitung war ein glühender Patriot und Demokrat. In allen Phasen seines politischen Lebens war die Demokratie für Mommsen ein unverzichtbarer Wert. In Leipzig lernte Mommsen auch den später in Wien standrechtlich hingerichteten Robert Blum kennen. Mommsens politische Tätigkeit in Sachsen bedeutet in erster Linie Widerstand gegen die restaurative Regierung, insbesondere gegen die Auflösung des Parlaments und der Wiedereinberufung der Stände. Nach der blutigen Niederschlagung des Mai-Aufstandes, der auch dank der Aussöhnungsversuche und Ausgleichsversuche Mommsens und anderer Liberaler, in Leipzig nicht jene Ausmaße erreichte wie in Dresden, kam es zu einer Strafverfolgung gegen Mommsen und Jahn. In erster Instanz wurde Mommsen Anfang Oktober 1850 zu 9 Monaten Landesgefängnis verurteilt. Der Umstand, dass er aufgefordert hatte, Bürger Leipzigs sollten sich zu einer Volksversammlung einfinden, wurde als Vorbereitung zum Hochverrat bewertet. Am 13. Februar 1851 wurde Mommsen freigesprochen, ebenso wie sein Kollege Haupt. Das Gericht begründete den Freispruch damit, dass die jungen Männer „. . . leben in Ideen, enthusiasmieren sich für dieselben, ohne die Fähigkeit zu haben, deren praktische Durchführbarkeit beurteilen zu können und ohne zu bedenken, welch Unheil die versuchte Durchführung derselben mit sich

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bringen kann“. Dieses durchaus vernünftige Urteil hielt freilich die Regierung nicht davon ab, auf die Entlassung Mommsens, Haupts und Jahns von der Universität zu drängen. Sie hätten allemal ein schlechtes Beispiel für die akademische Jugend dargestellt. Die Entlassenen gingen in Berufung, doch wurde die Berufung im Sommer 1851 endgültig abgewiesen. Mommsen machte aus der Not eine Tugend, hatten ihm doch die Verleger um Reimer und Hirzel für ein Jahr ein Stipendium in Höhe seines Universitätssalärs zur Verfügung gestellt. Er nutzte diese Zeit, um sich intensiv mit den Inschriften des Königreichs Neapel zu beschäftigen und diese letztendlich der Publikation zuzuführen. Im Übrigen war sein Ruf in akademischen Kreisen bereits so groß, dass der 1847 als Nachfolger Puchtas nach Berlin berufene Schweizer Pandektist Ludwig Keller, Mommsen dem Züricher Erziehungsdirektor wärmstens für den neu errichteten zweiten Lehrstuhl für Römisches Recht empfahl. Im Sommersemester 1852 übernahm dann Mommsen die in Aussicht gestellte Professur. Mommsen las wiederum Institutionen im Sommersemester, im Winter die Pandekten, jeweils 10-stündig, während er in kulturhistorischen Vereinen der Stadt sein breites althistorisches Wissen einem größeren Publikum zur Kenntnis bringen konnte. Daraus entstand die höchst lesenswerte Darstellung: Die Schweiz in römischer Zeit (1854). Jedoch war ihm die durchaus enge juristische Fakultät ein Beschwernis. Die Fakultät bestand damals aus vier ordentlichen, vier außerordentlichen Professoren und drei Privatdozenten, die Anzahl der Studierenden bewegte sich zwischen 20 und 30. In die Züricher Zeit fällt auch die Wahl Mommsens zum korrespondierenden Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften. Desgleichen erreichte ihn in Zürich die freudige Nachricht, dass die preußische Akademie sich endlich dazu durchgerungen hatte, ihn zusammen mit Henzen mit der Durchführung des CIL-Projektes zu betrauen. So konnte nun endlich jenes Projekt unter eben jenen Prämissen begonnen werden, die Mommsen bereits 1847 dargelegt hatte. Das bedeutete eine Unterteilung in Regionen, das bedeutete auch grundsätzlich die Autopsie und es bedeutete eine besondere Vorgehensweise bei der Publikation. Mommsen war fest davon überzeugt, dass die einzelnen Inschriften nur mit dem allernotwendigsten Apparat zu versehen seien. Er nannte sie erklärende Noten, darunter fielen selbstverständlich der Fundort wie auch unterschiedliche Lesarten. Mommsen selbst hat jene Inschriften, mit denen er sich eingehend auseinandergesetzt hat, stets mit einem eingehenden aber auch eigenständigen und separat publizierten Kommentar versehen. Am bekanntesten sind wohl die spanischen Stadtrechte sowie das Monumentum Ankyranum. Mommsen war davon überzeugt, dass dieses Großprojekt Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde. In der Tat, es ist bis auf den heutigen Tag nicht zum Abschluss gelangt und es handelt sich heute um eines der Vorzeigeprojekte der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Mommsen selbst edierte einen Teil der republikanischen Inschriften der Stadt Rom, die

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Inschriften der Provinzen Asiens, der griechischsprachigen Provinzen in Europa sowie das Illyrikum (Band 3), die Inschriften der Gallia Cisalpina (Band 5), die Inschriften Afrikas (Band 8), die Inschriften Kalabriens, Apuliens, Samniums, des Sabiner sowie des Picenerlandes (Band 9), die Inschriften Bruttiums, Lukaniens, Kampaniens, Siziliens und Sardiniens (Band 10). Das persönliche Engagement erschöpfte sich nicht in eigenen Bänden sondern führte auch dazu, dass er die Gesamtleitung im Sinne einer allgemeinen Überprüfung und Hilfeleistung sehr intensiv verstand. Theodor Mommsen hat mit dem Corpus Inscriptionum Latinarum wohl das erste internationale wissenschaftliche Großprojekt aus der Taufe gehoben. Die Verbindungen zu Kollegen anderer Länder insbesondere nach Italien und dort vor allem zu Gian Battista de Rossi sollten sich als außerordentlich wichtig erweisen. Durch die Übertragung einer kritischen Editionsmethode auf eine neue Quelle wurde eine neue Disziplin geschaffen, das durch das CIL in schier unglaublichem Ausmaße veränderte Quellenmaterial zur römischen Geschichte revolutionierte die gesamte Altertumswissenschaft. Zu Mommsens Tod waren in 15 Bänden über 130.000 Inschriften publiziert und ediert worden. In der Zwischenzeit bemühten sich Mommsens Freunde um eine Berufung nach Preußen. Sowohl der Breslauer Romanist Huschke wie insbesondere der Philologe Ritschel aus Bonn, sowie kein geringerer als Friedrich Carl von Savigny selbst müssen zu seinen besonderen Förderern gerechnet werden. Endlich im Sommer 1854 erfolgte der lang ersehnte Ruf nach Breslau. In die Breslauer Zeit, die ihn wiederum fast ausschließlich als juristischen Lehrer sah, fällt die Verleihung der Ehrendoktorwürde anlässlich der 400-Jahr Feier der Universität Greifswald im Jahre 1856. Mommsen hat sich in Breslau nicht wirklich wohl gefühlt. Die Kollegenschaft schien ihm zu provinziell, das katholische Umfeld blieb ihm fremd. Im Übrigen war er davon überzeugt, dass er sein Hautprojekt, das CIL, nur von Berlin aus zügig weiter betreiben werde können. Die Vorliebe für Berlin, aber auch gewiss das ihm fremde katholische Umfeld bewogen Mommsen dazu, einen ehrenvollen Ruf an die Universität nach München abzulehnen. König Maximilian II. selbst war ein ausgesprochener Anhänger Mommsens, dessen römische Geschichte er besonders schätzte. In dieser Situation ereilte Mommsen im Herbst 1857 der Ruf aufgrund eines königlichen Erlasses auf eine Forschungsprofessur an der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Im Frühjahr 1858 übersiedelte Mommsen von Breslau nach Berlin, das ihm zur zukünftigen endgültigen Heimstätte werden sollte. Im Jahre 1861 wurde er an der philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zum Professor für römische Geschichte berufen. Er begründet damit die Disziplin als solche an der Berliner Universität. Wie schon in Leipzig, Zürich und Breslau bedeutete die Lehre für Mommsen auch in Berlin eine schwere Last. Zahlreiche Forschungsreisen während des Semesters, die insbesondere dem Fortkommen des Inschriftenprojektes dienten, beweisen dies ebenso wie

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zahlreiche persönliche Aussagen. In der Regel musste Mommsen ein 4-stündiges Kolleg „Römische Geschichte“ lesen, wobei er sich fast ausschließlich auf die Kaiserzeit beschränkte. Dabei scheinen staatsrechtliche Probleme im Vordergrund gestanden zu haben. Wir verfügen über Vorlesungsmitschriften von Sebastian und Paul Hensel aus den Jahren 1882–1886 zur römischen Kaisergeschichte, diese sind jedoch nur bis zu einem gewissen Grad aussagekräftig, da sie jedenfalls auf dem subjektiven Eindruck der Hörer beruhen. Dass Mommsen jedenfalls interessante Vorlesungen zu bieten hatte, beweist der Umstand, dass die Hörsäle durchaus gefüllt waren. Besondere Freude bereitete ihm der Seminarbetrieb, der jeden Montagabend während des Semesters in seinem Hause abgehalten wurde. Für jede Sitzung hatte ein Student ein Referat zu erarbeiten, das rechtzeitig einem anderen Studenten zum Kommentar überreicht werden musste. Referat und Kommentar mussten von letzterem rechtzeitig am Samstagabend bei Mommsen abgegeben werden. Auch die Seminare dürften gut besucht gewesen sein (Brief an Tycho Mommsen 2.12.1870). Als Krönung seiner akademischen Laufbahn übernahm er im Jahre 1874 das Rektorat an der Berliner Universität. Neben seiner Tätigkeit am CIL widmete sich Mommsen in seiner Berliner Zeit zum einen den kritischen Texteditionen, zum anderen dem römischen Staatsrecht und dem römischen Strafrecht. Doch auch bei den Texteditionen versuchte er in strenger philologischer Weise, wie sie Karl Lachman in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründet hatte, die Abhängigkeitsverhältnisse der einzelnen Handschriften zu verstehen, somit einen Archetyp zu finden und eventuell emendationes vorzunehmen. Zu diesem Zweck mussten Bibliotheksreisen durchgeführt werden. Zu Hilfe kam Mommsen auch die Entwicklung einer neuen Technologie, und zwar der Photographie. Neben der Gotengeschichte des Jordanes, den Variae Cassiodors, dem Liber Pontificalis, der Vita Severini des Eugippius müssen insbesondere seine Arbeiten an den großen juristischen Kodifikationen der Antike genannt werden. Nach wie vor grundlegend ist die zwischen 1868 und 1870 veröffentlichte 2-bändige Digestenausgabe, die mit der Unterstützung von Paul Krüger erarbeitet wurde. Der juristische Sachverstand Mommsens sowie seine immense philologische Erfahrung führten dazu, dass dieses Meisterwerk als solide Grundlage moderner Emendationen stets heranzuziehen ist. Mommsen ruhte längst in seinem Grabe als die sogenannte Interpolationismus-Diskussion in verstärktem Maße betrieben wurde, die letztlich zu einer InterpolationenJagd führte. Wie sich inzwischen herausgestellt hat, sind zahlreiche, wenn nicht die meisten der sogenannten Interpolationsvermutungen, auch solche nachklassischer Glosseme an den Haaren herbeigezogen. Daher ist man auch heute gut beraten, die Mommsensche Edition als seriöse Grundlage der Authentizität der römischen juristischen Quellen zu betrachten. Als letztes Werk muss die Edition des Codex Theodosianus genannt werden.

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Eine zentrale Position in Mommsens Schaffen nimmt das römische Staatsrecht ein. Das Werk wurde im Handbuch der römischen Altertümer publiziert, war bestimmt, das von W.A. Becker begonnene und nach seinem Tode von J. Marquardt 1849 abgeschlossene Handbuch der römischen Altertümer zu ersetzen. Der Weg von den römischen Altertümern zum römischen Staatsrecht war gewiss ein beschwerlicher, jedoch ein entscheidender was die Staatsrechtswissenschaft anbelangt. Das Werk sollte drei Bände und fünf Teile umfassen. Der erste Band, der im übrigen Gustav Freitag gewidmet war, erschien zum ersten Mal im Jahre 1871. Es erfolgte eine zweite Auflage 1876 und eine dritte 1887. Dieser erste Band ist der Magistratur gewidmet. Die beiden Halbbände des zweiten Bandes sind den Kompetenzen der Magistraturen vorbehalten, der dritte Band, ebenfalls in zwei Halbbänden, der Bürgerschaft und dem Senat. Der erste Band, die Magistratur – es sei nur darauf verwiesen, dass auch der Begriff Magistratur selbst ein moderner, von Mommsen gewählter Begriff war – legt am besten Zeugnis vom Programm des römischen Staatsrechtes ab und kann damit als paradigmatisch bezeichnet werden. Er ist in folgende große Kapitel eingeteilt: Amt und Amtsgewalt, die magistratische Kompetenz, magistratisches Verbietungsrecht und magistratische Interzession, magistratische Emolumente, die Ratsmänner der Beamten, die Dienerschaft der Beamten, Insignien und Ehrenrechte der fungierenden Magistrate, lebenslängliche magistratische Ehrenrechte, Qualifikation für die Magistratur, Designation, Antritt und Rücktritt, Amtsfristen, die Stellvertretung der Beamten, die Verantwortlichkeit der Magistrate. Grundsätzliche staatsrechtliche Begriffe der Amtsgewalt werden in imperium und potestas eingehend analysiert und dargelegt. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass nicht nur die Magistraturen der entwickelten römischen Republik als solche bezeichnet wurden, sondern ebenso der König und später der Princeps. Mommsens Staatsrecht steht auf soliden, historisch-philologischen Quellenstudien. Diese umfassenden Quellenstudien, die in die Fußnoten Eingang fanden, ermöglichten es dem Leser, sich ein Bild vertiefender Natur über Entwicklungsprozesse innerhalb des römischen Staatsrechtes zu machen. Diese Fußnoten sind somit komplementär zum Haupttext, der als solches das System des römischen Staatsrechtes wiedergeben soll. Theodor Mommsen hat mit Fug und Recht die Magistratur in das Zentrum seiner Untersuchungen gestellt, er hat ihr aber richtigerweise den Senat und die Bürgerschaft, wie es in den Volksversammlungen zum Ausdruck kommt, an die Seite gestellt. Auch dem ersten Theoretiker der römischen Verfassung, Polybios, waren diese Elemente die Grundlage des römischen Staates und des römischen Erfolges. Mommsen war als Historiker völlig klar, dass sich in der historischen Entwicklung politische Akzentuierungen und selbst de facto Verschiebungen von Kompetenzen ergaben und ergeben mussten. Nichtsdestotrotz hatte er an der grundsätzlichen Richtigkeit und Nützlichkeit des Systems festgehalten. So

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war ihm völlig klar, dass – wiewohl den Kompetenzen nach „die Magistratur herrschte und der Senat gehorchte“ (III/2, 1024) am Ende der Republik freilich „der Senat über Rom und durch Rom über die Welt geherrscht“ hat (III/2, 1025). Aber selbst diese de facto Situation hat Mommsen einer Verrechtlichung zugeführt, indem er die Rolle des Senates im Rahmen der auctoritas festhielt (IIII/2, 1033). Die Reaktionen auf das Erscheinen des Mommsenschen Staatsrechtes fielen durchaus kontroversiell aus. Die Kritik kam bezeichnenderweise sowohl von Althistorikern wie auch von Juristen. Die Kritik der Althistoriker verwundert wenig, hatte doch Mommsen einer detailreichen historischen Darstellungsweise das System vorgezogen. Er hatte ein Staatsrecht verfassen wollen und keine Verfassungsgeschichte. Im Vorwort zur dritten Auflage des ersten Bandes der römischen Altertümer fasst der Leipziger Althistoriker Ludwig Lange diese Kritik zusammen (1876).2 Lange äußert sich dabei zum einen durchaus positiv was einzelne Aspekt des Mommsenschen Staatsrechtes anbelangt, ist aber der Auffassung, dass grundsätzlich die Dogmatik desselben abzulehnen sei. Auch die Kritik der Juristen kann aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive nicht verwundern. Die Juristen der historischen Schule hatten sich beginnend mit Savigny in aller erster Linie um das Zivilrecht bemüht, sie hatten die Systematik des Zivilrechtes aufgrund der Analyse römisch-rechtlicher Quellen, insbesondere der Digesten, während des gesamten 19. Jahrhunderts erarbeitet und somit die Grundlage einer deutschen zivilrechtlichen Kodifikation gelegt. Die Staatsrechtslehre befand sich noch in Kinderschuhen, so dass auch von dieser Seite her keine positive Reaktion erwartet werden konnte. Jene Juristen, die am Ende des 19. Jahrhunderts bereits – wohl wissend, dass der stärkere Strang der historischen Schule in die moderne Zivilrechtsdogmatik einmünden würde, sich bewusst und in vermehrtem Ausmaße historischer Themen angenommen hatten, bedienten sich somit einer vornehmlich historischen Methode. Zu nennen wären hier insbesondere Otto Lenel und Ludwig Mitteis. Die Väter der antiken Rechtsgeschichte und ihre Nachfolger, insbesondere auch Leopold Wenger, zeugten zwar dem Mommsenschen Hauptwerk Bewunderung, kritisierten jedoch die mangelnde Historizität. Es ist jedenfalls in hohem Ausmaße interessant festzuhalten, dass aufgrund der besonderen Entwicklung der Rechtswissenschaft in Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts Mommsens Staatsrecht das einzige herausragende öffentlich-rechtliche Werk der historischen Schule war und bleiben sollte. Mommsen hat nochmal eindrücklich 1893 im Vorwort zu seinem Abriss des römischen Staatsrechtes die sogenannten Verfassungshistoriker kritisiert und auf seiner genuin juristischen Methode beharrt. Mommsens klare, 2 Lange Römische Altertümer, 1. Band3, 1876. Man vergleiche auch: Herzog Geschichte des Systems der Römischen Staatsverfassung I, 1884; Madvig Die Verfassung und Verwaltung des Römischen Staates I, 1881; Karlowa Römische Rechtsgeschichte I, 1885.

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oft geradezu apodiktische Worte führten freilich dazu, dass seit dem Erscheinen des ersten Bandes sich Historiker der römischen Epoche ebenso wie Rechtshistoriker mit diesem Werk auseinandersetzten und auseinandersetzen mussten und dass es somit schlicht und einfach zur Grundlage sämtlicher Studien des Staatsrechtes und der Verfassungsgeschichte wurde. Bereits die dritte Auflage der Altertümer Langes dokumentiert dies in beeindruckender Weise. Schon Lange musste in manchen entscheidenden Punkten zu Mommsen Stellung beziehen und er hat ihm durchaus in einigen Punkten Recht gegeben. Die Bedeutung des Mommsenschen Werkes wurde auch im Ausland bald erkannt. Der berühmte französische Romanist P.F. Girard verfasste in den Jahren 1887 bis 1891 eine Übersetzung in die französische Sprache, Droit public romain. Es war auch Mommsen völlig klar, dass historische Studien im Sinne einer Verfassungsgeschichte die Grundlage eines Staatsrechtes bilden mussten und so kann man selbstredend feststellen, dass die bemerkenswerten Studien zur Verfassungsgeschichte, die in Italien bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begannen und in Deutschland vor allem nach dem 2. Weltkrieg, insbesondere durch Jochen Bleicken3 eine Vertiefung erfuhren, ohne dass dies von den Verfassern beabsichtigt wurde, dem System neue Grundlagen zuführten. Bleicken hat seine umfassenden Studien in einer Verfassungs- und Sozialgeschichte der römischen Republik und des römischen Kaiserreiches zusammengefasst. Programmatisch wurde in diesem Zusammenhang die Sozialgeschichte neben die Verfassungsgeschichte gestellt. Das umfangreichste Werk zur römischen Verfassungsgeschichte stammt aus der Feder eines italienischen Autors marxistischer Prägung, Francesco De Martino.4 Sein Werk bietet in fünf Bänden einen historischen Epochen entsprechenden Überblick über die gesamte römische Verfassungsgeschichte. Der Sozial- und insbesondere der Wirtschaftsgeschichte wird in diesem Zusammenhang große Bedeutung beigemessen. Das Werk De Martinos bietet in Erweiterung zu Mommsens Studien in zahlreichen Fußnoten eine weiterführende Quellenanalyse. De Martino war Jurist wie Mommsen und das kommt am besten dadurch zum Ausdruck, dass weite Bereiche seines Buches eben von jenen institutionellen Begriffen beherrscht werden, die Mommsen in seinem Staatsrecht geprägt hatte. Unter den deutschen Rechtshistorikern ist in erster Linie Wolfgang Kunkel zu nennen. Kunkel, der stets den hohen Wert des Mommsenschen Staatsrechts anerkannte, forderte grundsätzlich „jedes einzelne Glied des Mommsenschen Systems an der vollen geschichtlichen Wirklichkeit des römischen Staatslebens nachzuprüfen“. In zahlreichen bedeutenden Einzelun3

Vgl. vor allem Lex Publica, Gesetz und Recht in der Römischen Republik, 1975; Die Verfassung der Römischen Republik8, 2000; Verfassungs- und Sozialgeschichte des Römischen Kaiserreiches I/II3, 1989/1994. 4 Storia della Costituzione Romana2, Band I–V, 1972–1975.

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tersuchungen ist es Kunkel gelungen, Einzelaspekte der römischen Verfassungsgeschichte zu erhellen. Insbesondere zu nennen wären die Arbeit über das Wesen des augusteischen Prinzipats 1960 sowie seine Arbeiten zum Verhältnis von Magistratur und Senat (Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, I/2 1972 3 ff.) und zum augusteischen Prinzipat (kleine Schriften 383 ff.). Kunkel bemühte sich im Besonderen, die Realität, die Praxis des römischen Staates zu erklären, sodass seine Schriften eben vom politischen Wesen des römischen Staates in seiner Entwicklung geprägt sind. Jahrzehntelang arbeitete Kunkel im Rahmen des Handbuches der Altertumswissenschaften. Posthum erschien 1995 in der Bearbeitung von R. Wittmann der Band Staatsordnung und Staatspraxis der römischen Republik, zweiter Abschnitt, die Magistratur. Wiewohl Kunkel aufgrund seiner Erfahrungen die politische Praxis in seine Ausführungen miteinbezog, so bedeutete doch der Titel und insbesondere die Unterbezeichnung des ersten Bandes, die Magistratur, nachhaltig eine Bestätigung der Mommsenschen Systematik.

II. Mommsen der Wissenschaftler Theodor Mommsen hinterließ ein gigantisches Gesamtwerk bestehend aus etwa 1.500 Einzelschriften. Mommsens Einordnung in die Wissenschaftsgeschichte lässt sich zum einen aufgrund seines objektiv nachvollziehbaren Werdegangs und zum anderen aufgrund seiner eigenen subjektiven Anschauungen, wie er sie in Wort und Schrift zum Ausdruck gebracht hat, eingehend nachvollziehen. Mommsen war der Ausbildung nach Jurist und es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass er sich zeitlebens als Jurist gefühlt hat, wiewohl von manchen Laien die Juristerei als bloße praktische Tätigkeit ohne Wissenschaftscharakter abgetan wird, so besteht doch, nicht nur unter den Juristen, Einigkeit darüber, dass gerade durch die Erkenntnisse Savignys und seiner Schüler, insbesondere Puchtas, eine veritable Wissenschaft geboren war. Diese Wissenschaft, und Mommsen wusste es nur allzu gut, lag bereits im römischen Recht begründet, hatte doch Servius Sulpicius Rufus, wie wir bei Cicero erfahren, die griechischen Wissenschaftsbegriffe, die griechische Methode der Wissenschaft in das römische Recht, eingeführt. Alle junge Juristen Deutschlands, die ab den dreißiger Jahren die Universitäten bevölkerten, waren in der historischen Methode ausgebildet worden und in ihr und durch sie geformt worden. Auch heute noch stehen alle Juristen deutscher Sprache in dieser Tradition und sie können zu Recht darauf stolz sein, dass aufgrund dieser ganz besonderen Ausbildung, durch eine ganz besondere Methode, das Denken als juristisches Denken geprägt wird. Mommsen war sich seiner Ausbildung als Jurist durchaus bewusst. 1891 schrieb er an seinen Berliner Kollegen, Levin Goldschmidt, dass er am juristischen Denken zum Forscher geworden sei. Seit den Tagen seines Reisestipendiums

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nach Frankreich und nach Italien hat sich Mommsen in zunehmendem Maße mit philologischen und historischen Fragen auseinandergesetzt. In der Tat hat er in zahllosen Arbeiten gezeigt, wie sehr er die philologische und die historische Methode beherrschte. Seine textkritischen Editionen, das berühmte CIL Projekt, zahllose Einzeluntersuchungen, und nicht zuletzt seine römische Geschichte legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Christian Hülsen hat zum 60. Geburtstag Mommsens in einer Ansprache gemeint, dass der Jurist nach Italien ging, der Historiker aber zurückgekommen sei. Dieser Ausspruch könnte zu Missverständnissen führen. Der Jurist ging nach Italien und der Historiker kam ebenso wie der Jurist wieder nach Deutschland zurück. Nur ein exzellenter Jurist konnte es wagen, an eine kritische Edition der Digesten Hand anzulegen. Diese Exzellenz im Privatrecht hatte sich Mommsen schon während seines Studiums angeeignet und durch seine Lehrtätigkeit in Leipzig, Zürich und Breslau nachhaltig vertieft. Jahrelang las er im Semester 10-stündige Institutionen- und Pandektenvorlesungen. Und nur ein Jurist konnte das römische Staatsrecht verfassen. Eine vergleichende Analyse der Werke von L. Lange und Mommsen zeigt den tiefgehenden methodischen Unterschied zur Genüge auf. Mommsen war sich um die Bedeutung des Rechts als Wissenschaft voll bewusst. Er stand unleugbar in der Tradition Savignys und muss somit – entgegen anders lautenden Behauptungen – im vollem Ausmaße der historischen Schule des römischen Rechtes zugerechnet werden. Mommsen, der in historicis geschichtstheoretischen Überlegungen durchaus ablehnend gegenüber stand, hat sich mehrmals eingehend mit theoretischen Fragen der Rechtswissenschaft auseinandergesetzt. Besonders bemerkenswert sind seine Ausführungen in seinen beiden Antrittsvorlesungen. Die Aufgabe der historischen Rechtswissenschaft wurde im Herbst 1848 in Leipzig gehalten, die Bedeutung des römischen Rechts am 8. Mai 1852 in Zürich. Im Weiteren sind auch Mommsens klare Worte in den Vorreden zur ersten und zweiten Auflage des ersten Bandes des Staatsrechtes zu sehen. Bereits in den ersten Sätzen der Leipziger Antrittsrede5 wendet sich Mommsen gegen die ausschließlich praktische Ausbildung des Juristen und weist auf die Bedeutung der Wissenschaftlichkeit des Rechtes hin. Ganz im Sinne Savignys lehnt er die zeitgenössischen Kodifikationen ab. Uneingeschränkt befürwortet er die Methode der historischen Schule, die es gewesen sei, welche jenen Sinn für die Individualität einer jeden Rechtsinstitution wieder geweckt hat. „Daß wir wieder ein Rechtssystem besitzen, anstatt eines Haufens von Brocardicis, daß unsere besten Praktiker einen Rechtsinstinkt und nicht mehr bloß eine Menge Decisiones im Kopfe haben, das danken wir der historischen Schule.“ (S. 586) Interessanterweise bezieht sich Mommsen schon in der Leipziger Antrittsrede auf das öffentliche Recht. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Er5

Juristische Schriften III, 1907, 580 ff.

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kenntnis, dass auch das römische Zivilrecht nur in und mit dem römischen Staat begriffen werden könne. Auch hier wird der Sinn Mommsens für historische Forschung deutlich. Er zitiert an dieser Stelle ausdrücklich Niebuhrs Studien und weist darauf hin, dass dieser in genialer Weise zwei positive Elemente in die römische Geschichte eingeführt habe, die bisher darin gefehlt hatten, die Sage und die Sitte. Auch dieser Ausspruch belegt die Sensiblität Mommsens für Neuerungen besonderer Art im Rahmen der Geschichtswissenschaft. Nichtsdestotrotz erklärt er an eben derselben Stelle, was die Bedeutung des Staates für das Zivilrecht anbelangt, dass diese sich in Begriffen wie dem imperium zeige. Auch für das Staatsrecht richtungsweisend sind seine Bemerkungen zum Zivilrecht: „Es ist uns also die Aufgabe gestellt, aus jenem ungeheuren Material das geschichtliche ganz auszuscheiden, das praktische Zivilrecht aber in ein systematisches Rechtsgebäude zusammenzufassen, sodass jede einzelne Institution sowohl in ihrer durch historische Studien erforschten Individualität als im Einklang mit dem ganzen Rechtssystem erscheint und dieses Rechtssystem also zugleich die Quintessenz der historischen Rechtsforschung und der methodische Ausdruck der gegenwärtigen Rechtsbegriffe sein wird“. Es handelt sich um eine auch sprachlich großartige Zusammenfassung der Lehren Savignys und Puchtas. Besonderen Wert lege man diesbezüglich auf den Begriff der Quintessenz. Mommsen unterstreicht weiter, dass erfreulicherweise diese methodische Richtung inzwischen von einer Vielzahl von Juristen verfolgt werde, dass aber Nicht-Juristen diese vielfach ignorieren. In der Züricher Antrittsrede6 spricht der neu ernannte Professor über die Lehre des römischen Rechtes und weist gleich eingangs darauf hin, dass es sich um das reichste, durchdachtetste, universalste aller Rechtssysteme handle. Anhand der Vermögensrechte erkennt er eine paradigmatische Funktion im Sinne einer Unabhängigkeit von Zeit und Raum zu. Höchst interessant ist in diesem Zusammenhang der Vergleich, den Mommsen mit dem englischen Recht zieht (S. 594). Klar ist ihm auch die Wandelbarkeit von Verfassungen, wie dies im Übrigen bereits Domat erkannt hatte (S. 593): „die Verfassungen . . . sind wandelbar nach den Zeiten und den Nationen . . .“. Als große Vorzüge des römischen Rechts weist Mommsen auf den nationalen Ursprung hin und auf seine Universalität: „aber noch mehr ist ihr gelungen, sie hat das Recht der römischen Nation fortgebildet zu einem Rechte aller Nationen“. Das Studium des römischen Rechts als universelles Recht eignet sich besonders, die Entwicklung der einzelnen Rechtsinstitute zu studieren, auch hier war Mommsen völlig klar, wie wichtig historische in der Zeit begründete Prozesse in der Tat sind: „Nicht bloß die Kenntnis des gegenwärtigen Rechtszustandes wollen wir dem Schüler darbieten, sondern wir wollen ihm zeigen, wie er geworden ist; wir wollen an der Mannigfaltig6

Die Bedeutung des römischen Rechts, in: Juristische Schriften III, 591 ff.

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keit der Rechtsentwicklung seine juristische Phantasie, an der Unveränderlichkeit des Kernes der Rechtsinstitutionen seinen Sinn für rechtliche Konsequenz, an der Entwicklung des Details seine Gewandtheit in der Handhabung des juristischen Netzes wecken . . .“. Auch hier ist die Dialektik zwischen Detail und System deutlich erkennbar. In der Vorrede zur ersten Auflage des Staatsrechtes, geschrieben im Herbst 1871, gibt Mommsen in klaren Worten die programmatischen Grundpfeiler der Arbeit an. Er spricht von einem bewussten Verzicht auf die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung. Der Leser möge „Jede Institution in sich abgeschlossen finden, wie dies seit langem in den Handbüchern des Privatrechtes hergebracht ist“. Uneingeschränkt verweist der Verfasser auf die Leistungen der Privatrechtswissenschaft der historischen Schule: „Wie in der Behandlung des Privatrechts der rationelle Fortschritt sich darin darstellt, dass neben und vor den einzelnen Rechtsverhältnissen die Grundbegriffe systematische Darstellung gefunden haben, so wird auch das Staatsrecht sich erst dann einigermaßen ebenbürtig neben das . . . Privatrecht stellen dürfen, wenn . . . Consulat und Dictatur erwogen werden als Modifikationen des Grundbegriffes der Magistratur.“ Mommsen spricht weiter vom begrifflich geschlossenen und konsequent durchgeführten Grundgedanken der Darlegung, die das Wesen eines Rechtssystems, und somit auch das System des römischen Staatsrechts seien. In der zweiten Auflage erfolgt ganz im Sinne der Vorstellungen Savignys, Hegels und Puchtas die Behauptung: “wenn der Staat ein organisches Ganzes ist, so müssen wir, um ihn zu begreifen, teils die Organe als solche in ihrer Besonderheit, teils die aus dem Zusammenwirken mehrerer Organe hervorgehenden Funktionen verstehen und wenn das letztere durch die materiell geordnete Darlegung geschieht, so ist das erstere die Aufgabe des Staatsrechts.“ (XI). Bewusst hat der Verfasser die Bezeichnung Staatsrecht anstelle von Staatsaltertümern verwendet und er bezeichnet es als einen Versuch „eine jede Institution darzustellen, sowohl als Glied des Ganzen in ihrer Besonderheit wie in ihrer Beziehung zu dem Organismus überhaupt“. Allein aufgrund der zitierten Aussagen fällt es schwer, Mommsen der Einseitigkeit zu zeihen. Er war in der Bearbeitung des römischen Staatsrechts Historiker gleichermaßen wie Jurist. Ihm selbst lag außerordentlich viel an dieser in ihm zur Wirklichkeit gewordenen Verbindung dieser Disziplinen latu sensu. Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang jene Worte, die er 1893 anlässlich der Ehrungen zu seinem 50-jährigen Doktorjubiläum sprach: “Es ist mir beschieden gewesen in dem großen Umschwung, den die Beseitigung zufälliger und zum guten Teil widersinniger, hauptsächlich aus den Fakultätsordnungen der Universitäten hervorgegangener Schranken in der Wissenschaft mitzuwirken. Die Epoche, wo der Geschichtsforscher von der Rechtswissenschaft nichts wissen wollte und der Rechtsgelehrte die geschichtliche Forschung nur innerhalb seines Zaunes betrieb, die Epoche, wo es den Philologen wie ein Allotrium er-

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schien, die Digesten aufzuschlagen, und der Romanist von der alten Literatur nichts kannte als das corpus juris, wo zwischen den beiden Hälften des römischen Rechts, dem öffentlichen und dem privaten, die Fakultätslinie durchging, wo der wunderliche Zufall die Numismatik und sogar die Epigraphik zu einer Art von Sonderwissenschaft gemacht hat . . . diese Epoche gehört der Vergangenheit an und es ist vielleicht mit mein Verdienst, aber vor allem mein Glück gewesen, dass ich bei dieser Befreiung habe mit tun können.“ Aus diesen Worten ergibt sich zweifellos die Notwendigkeit für Mommsen, dass erst durch eine Gesamtbetrachtung und durchaus in historischer Perspektive die Geschichte Roms in ihrer Gesamtheit erkannt werden kann. Nur auf Grundlage aller zur Verfügung stehenden Quellen, insbesondere aber auch der Rechtsquellen erschien es ihm möglich, in Zukunft zu weiterführenden Ergebnissen zu gelangen. Mommsens Postulat ist freilich nicht in diesem Ausmaße in Erfüllung gegangen wie er es anlässlich der Jubelstimmung zu seinem 50. Doktorjubiläum vermeinte. Nach wie vor trennt ein nicht zu unterschätzender Graben Juristen und Altertumswissenschaftler aller Disziplinen. Die Verbindungen zwischen eigentlichen Historikern, Archäologen und klassischer Philologen erscheint nach wie vor weit enger zu sein als die Verbindungen zu den romanistischen Rechtshistorikern. Zum Unverständnis, das ihm selbst von Seiten vieler Philologen und Althistoriker entgegengebracht wurde, schrieb Mommsen am 8.11.1887 an Heinrich Degenkolb „Sie schnüffeln nach Zitaten, weil es Ihnen nicht gegeben ist, im Ganzen zu denken.“ Das heißt, er hielt sie nicht in der Lage in und nach Systemen zu denken und im Vorwort zu seinem Abriß des römischen Staatsrechtes von 1893 heißt es: „Vor der Plattheit derjenigen historischen Forschung, welche das, was sich nie und nirgends begeben hat, beiseite lassen zu dürfen meint, schützt den Juristen seine genetisches Verständnis fordernde Wissenschaft“. Die Bedeutung, die das Recht für sich zur historischen Erkenntnis in Anspruch nehmen kann, wird klar am Ende des Vorwortes zur zweiten Auflage des römischen Staatsrechtes, 1. Band, aus dem Jahre 1876 zum Ausdruck gebracht „Und das Studium nicht der pragmatischen oder der dafür sich gebenden Tradition, sondern das der politischen Institutionen führt ein in die Erkenntnis der römischen Geschichte.“ Die oft verkannte Aufgabe und Leistung Mommsens war, gezeigt zu haben, dass die Methode der historischen Schule, wie sie von Savigny und Puchta geprägt worden war, und in der der Wissenschaftsbegriff Hegels eine nicht unbedeutende Rolle spielte, nicht nur für das Zivilrecht zur Anwendung gebracht werden konnte und sollte sondern für die gesamte Rechtswissenschaft als grundlegend anzusehen war, insbesondere auch im Bereiche des Staatsrechtes. Es zeugt von einem geringen wissenschaftshistorischen Verständnis, wenn man Mommsen einer ahistorischen Betrachtungsweise zeihen möchte. Mommsen war sich – wie auch in diesem Beitrag hinlänglich dokumentiert werden konnte – der Entwicklung der Institutionen, somit ihrer Historizität

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voll und ganz bewußt. Seine zahlreichen, die historisch philologische Methode praktizierenden Untersuchungen zur römischen Verfassungsgeschichte bezeugen dies, doch Mommsen wollte als Jurist darüber hinaus gehen. Er wollte den römischen Staat als Jurist nach den Prinzipien der historischen Schule institutionell darstellen. Er wollte somit auch der Unvergänglichkeit staatsrechtlicher Institutionen ein Denkmal setzen. Nur beiläufig möchte ich darauf verweisen, wie sehr in der modernen verfassungsrechtlichen Diskussion seit den berühmten Tagen von Philadelphia im Jahre 1786/87 die institutionellen Grundlagen der römischen Verfassung diskutiert wurden. Bei aller Kritik, die Mommsen an Nicht-Juristen geübt hat, nimmt es auch kaum Wunder, dass sowohl die reinen Philologen und Historiker als auch jene Juristen, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts als Anhänger der sogenannten Antiken Rechtsgeschichte bezeichneten, mit dem institutionellen Ansatz Mommsens, mit seiner Systematik und seinem System nichts anzufangen wussten. Dieses Unverständnis, um nicht zu sagen diese Ignoranz, ist leider auch heute noch in althistorisch philologischen Kreisen weit verbreitet. Viele von ihnen glauben nach wie vor, dass ausschließlich über faktische Geschichte und Antiquitäten, über Religion und Kunst, über Wirtschaft und Gesellschaft, die Geschichte erkannt werden könne. Sie lassen dabei das Recht als quantité négligable der Heuristik einfach links liegen. Dies ist freilich nicht zu akzeptieren. Das Recht und seine Institutionen können ebenso determinierend auf den Lauf der Geschichte einwirken, Gesellschaft und Politik determinieren, wie das Recht seinerseits von außerjuristischen Faktoren bestimmt werden kann. Die Kategorie des Rechts, des Juristischen, schlicht und einfach, zu vernachlässigen, die Bedeutung des Rechts als genetischen Faktor einer Gesellschaft schlichtweg abzulehnen, erscheint als fataler Fehler. Mommsen hatte dies bereits als junger Mann erkannt und anlässlich seiner Leipziger Antrittsrede ausdrücklich hervorgehoben: „Dass . . . auf dem Gebiete des römischen Zivilrechts diese Richtung (die historische Schule) mehr oder minder bewußt von vielen verfolgt wird, ist eine erfreuliche Erscheinung, die man nicht, wie so oft von Nichtjuristen geschieht, ignorieren darf.“ Bis auf den heutigen Tag wird von Nichtjuristen in weitem Ausmaß die vielfach entscheidende Rolle des Rechts, seiner Institutionen und damit das System des Rechts verneint oder schlicht und einfach ignoriert.7 7 Ein bedauerliches Beispiel einer derartigen Unkenntnis ist bei Hölkerskamp festzustellen: Ein Gegensatz von Form und Inhalt, in: Nippel/Seidensticker (Fn. 1). Der Autor glaubt in überheblicher Weise meine eigene auf Mommsen zurückgehende staatsrechtliche Betrachtungsweise der römischen Verfassung der Ignoranz und Naivität zeihen zu müssen. Ich möchte mit aller Bescheidenheit und Höflichkeit jedoch sehr entschieden diesen Vorwurf an den Absender zurückweisen. – Von weit aus größere Demut ist Theodor Mommsen gewesen: In seinem berühmten Testament schrieb er über seine Rolle als Historiker und Philologe, zu denen er ja in der Tat nur am Rande ausgebildet worden war: „Äußerliche Zufälligkeiten haben mich unter die Historiker und die Philologen versetzt,

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Die Ignoranz betrifft offenbar jene, die zwar eine seriöse Ausbildung in allen möglichen philologischen und historischen Disziplinen erlangt haben, – und dies sei zweifelsohne zugegeben, die hervorragenden althistorischen Beiträge von Hölkerskamp geben davon ein beredtes Zeugnis ab –, die aber was die rechtliche Dimension, das Recht und seine Methode, insbesondere seine Systematik anbelangt, ignorant sind. Mommsens Staatsrecht ist neben Savignys System und Puchtas Gewohnheitsrecht das wichtigste Werk der historischen Schule. Es hat tatsächlich, wie es in Mommsens Absicht gelegen hatte, dem Staatsrecht neben dem damals dominierenden Zivilrecht, einen ebenbürtigen Platz in der Wissenschaft vom römischen Recht verschafft. Es ist zweifellos eines jener Werke, die aere perennius sind, ein Werk, das seit über 100 Jahren einzigartig geblieben ist, das Juristen und Historiker zu einer Unzahl von weiterführenden Studien geführt hat, das aber in seiner Einmaligkeit unersetzbar bleibt und bleiben wird.

III. Der Politiker Mommsen war Zeit seines Lebens ein begeisterter Politiker, sei es, dass er wie in den ersten Monaten der 1848er Revolution als federführender Journalist in die politischen Geschehnisse eingriff, sei es, dass er sich wie in Leipzig 1849 aktiv in der Politik betätigte, sei es, dass er als Abgeordneter im preußischen oder deutschen Parlament tätig war. Theodor Mommsen war zeit seines Lebens ein überzeugter Kämpfer für Demokratie und hat sich über Jahrzehnte der liberalen Bewegung verschrieben. Die Bedeutung des Staates an und für sich war ihm durch die preußischen Reformen während und nach der napoleonischen Zeit sowie durch die theoretischen Überlegungen Hegels nahe gebracht worden. Grundsätzlich sah Mommsen im Nationalstaat, in der Nation, eine wichtige Stufe in der Verwirklichung des Staates. Die Nation und daraus sich ergebend den Nationalstaat hielt er für obwohl meine Vorbildung und auch obwohl meine Begabung für beide Disziplinen nicht ausreichte und das schmerzliche Gefühl der Unzulänglichkeit meiner Leistung, mehr zu scheinen, als zu sein, hat mich durch mein Leben nie verlassen.“ In der Sache selbst wirft mir Hölkerskamp meine systematische, staatsrechtliche Position vor, wie ich sie zum ersten Mal in Einführung in Römisches Staatsrecht I, 1997, 6 ff. vertreten habe. Zu diesen Aussagen stehe ich heute trotz des Vorwurfes der Naivität ebenso dezidiert wie vor 12 Jahren. Dass meine Positionen durch „namhafte“ Romanisten überwunden sein sollen, kann ich gerade im Falle Kunkels nicht erkennen. Das Wieackersche Fragment der Römischen Rechtsgeschichte ist das geniale Produkt eines in vieler Hinsicht im Sinne der antiken Rechtsgeschichte agierenden Rechtshistorikers. Im Übrigen freue ich mich darüber, an Fergus Millars Seite gestellt worden zu sein. Grundsätzlich fordere ich von Hölkerskamp den Beweis, warum die res publica der Römer nicht als Staat und dieser nicht als Rechtsordnung begriffen werden könne, „mithin ein als ein staatsrechtliches System von rechtlich definierbaren Organen, normativen Regeln und formalisierten Verfahren“.

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die größte Leistung, für die beste Rahmenbedingung menschlicher Sittlichkeit, Humanität und Zivilisation. Im Besonderen sei dieses Ideal, das Volkssouveränität und Gewaltenteilung mit einschloss, in der römischen Republik verwirklicht worden. Das politische Scheitern in den Revolutionsjahren 1848/1849 war für Mommsen eine persönliche und allgemeine Katastrophe. Da er im Nationalstaat die Verwirklichung der individuellen und allgemeinen Sittlichkeit sah, bildeten eben jene Elemente, wie die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung und insgesamt die Demokratie, die absolut unverzichtbaren Grundwerte seines politischen Denkens und Handelns. Mommsen schloss sich dem Nationalverein an und wurde mit Schulze-Delitzsch, Miquel, Bennigsen, Lasker und Virchow wohl dessen namhaftester Vertreter. Aus dem Nationalverein entstand die deutsche Fortschrittspartei, die strikt eine Verbindung zwischen liberalen und demokratischen Idealen einforderte. Im Sinne der Forderungen des Jahres 1848 sah man die Einheit Deutschlands nur unter preußischer Flagge gewährleistet. 1863 wurde Mommsen für die deutsche Fortschrittspartei Abgeordneter im preußischen Parlament für den Bezirk Halle an der Saale. Mommsen war zum andern, auch nach der errungenen Vereinigung unter Preußens Führung ein dezidierter und bewusster Gegner Bismarcks, in welchem er den konservativen preußischen Geist verkörpert sah. Zusammen mit den ostelbischen Junkern waren ihm insbesondere politische Betätigungen religiöser Konfessionen äußerst suspekt. Bereits 1866 musste er, nach einer herben Niederlage der Fortschrittspartei, das preußische Abgeordnetenhaus wieder verlassen. Die Ereignisse von 1866 und 1870/71, die zur Gründung des deutschen Reiches führten, hat Mommsen außerordentlich begrüßt, sie haben ihn tatsächlich glücklich gestimmt, sah er doch in der nationalen Einheit die Grundlage eben eines neuen demokratisch – liberalen Staatswesens. Nach Ende des deutsch-französischen Krieges war Mommsen von 1873 bis 1879 als national – liberaler Abgeordneter Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. Es waren jene Jahre, in welchen er noch davon überzeugt war, dass die Reichsgründung als Grundlage einer glücklichen Entwicklung angesehen werden könne; “eine große Zeit liegt hinter uns, wenn die Ernte so mutig eingeheimst wird, wie die Saat, so kann mein seines Lebens froh werden“, heißt es in einem Brief an H. Degenkolb aus dem Jahre 1874. Als Abgeordneter unterstützte Mommsen den Kulturkampf, trat sonst in der Regel als Redner im Rahmen von hochschulpolitischen Maßnahmen auf. So war er für die Abschaffung der Sondergerichtsbarkeit der Universitäten und gegen das den Universitäten zum Ausgleich angebotene Karzer-Privileg, das dazu führen sollte, dass Studenten geringfügige Strafe im universitären Karzer absitzen konnten. Er sah die Universität als allgemeine Bildungs- und Erziehungsanstalt und forderte aus diesem Grund auch die Kontrolle der akademischen Vereine und selbst der Studierenden außerhalb der Universität bei Vereinigungen und Versammlungen. Er erwies sich als Gegner der Erweiterung in geistes-

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wissenschaftlichen Disziplinen, wie der Geographie oder der deutschen Literatur, da er überzeugt war, die Studenten sollten die großen Dichter und Schriftsteller selbst und unmittelbar lesen. Er sprach sich zum einen gegen die Doktoratspromotion in absentia aus und zum anderen dezidiert für akademische Nachwuchsstipendien. Bismarcks politische Wende 1878/79 in konservativer Hinsicht traf Mommsen tief. Ab diesem Zeitpunkt scheint er in zunehmendem Ausmaß die Zuversicht an eine positive Entwicklung in Deutschland verloren und letztendlich aufgegeben zu haben. 1879 zog er als Konsequenz der katastrophalen Niederlage der Liberalen nicht mehr in das preußische Parlament ein. Zusammen mit Ludwig Bamberger und Theodor Barth schloss er sich im Jahre 1880 zur Sezession, einer neuen linksliberalen Partei, zusammen. Als Sprachrohr dieser politischen Verbindung wurde unter Federführung Theodor Barths Die Nation begründet. Bismarck sah er in zunehmendem Ausmaß als Verbündeten von Junkern und Pfaffen.8 1881 zog er für die Linksliberalen in den Reichstag ein. Sein Kampf richtete sich vornehmlich gegen Bismarck. Bei einer Wahlrede hatte er diesen bereits des Schwindels bezichtigt, es folgte ein Beleidigungsprozess, in welchem Mommsen dartun konnte, dass er weniger Bismarck sondern vielmehr nationalökonomische Experten gemeint habe, als er sie des Schwindels in der Wirtschafts- und Sozialpolitik bezichtigt hatte. Die Wahlen des Jahres 1884 führten erneut zu einer Katastrophe der Linksliberalen, Sezession und Fortschritt verringerten den Mandatsstand von 106 auf 66. Mommsen sollte nie mehr wieder als aktiver Parlamentarier in den Reichstag oder das preußische Abgeordnetenhaus zurückkehren. Mommsen, der zwar die Nation schätzte, um nicht zu sagen liebte, war ein Feind aller Nationalismen. Die 80er und 90er Jahre ließen ihn eine unheilvolle Zukunft erahnen. Der derbe und populistische Nationalismus, der von Regierung wie Volk wie ein Lauffeuer verbreitet wurde, ekelte ihn an. Das Bismarck’sche, noch weniger das Wilhelminische Reich war nicht jener Staat, den er als sittliche Vervollkommnung der Nation ansehen konnte. Doch Mommsen, der sich selbst als animal politicum bezeichnet hatte, nahm nach wie vor regen Anteil am politischen Leben seines Landes. Dies einmal im Goethebund und zum anderen in Beiträgen in der Nation. Der Goethebund wurde im Herbst 1900 in München von Journalisten, Professoren und Künstlern gegründet um „Angriffe auf die freie Entwicklung des geistigen Lebens“ hintan zu halten. Mommsen nahm teil an der Gründung der Berliner Zweigstelle und beteiligte sich an der Diskussion um die sogenannte lex Heinze. Heinze ein Berliner Zuhälter und seine Ehefrau, eine Prostituierte, standen wegen Mordes an einem Nachtwächter vor Gericht. Dies wurde 8 Es sei „ein elendes Schicksal in diesem sich regenerierenden Junker- und Pfaffenstaat als Ornamentstück(zu)fungieren“ schrieb er am 4.12.1882 an Henzen.

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von konservativen Kreisen zum Anlass genommen, eine strenge Kontrolle der öffentlichen Sittlichkeit zu fordern. Dadurch sollte insbesondere auch künstlerisches Schaffen überwacht und zensiert werden. Ein Jahr später trat Mommsen im Fall Spahn gegen Universitätsunterricht und Konfession auf. Es ging darum, dass Spahn katholische Geschichte in Straßburg lehren sollte. Mommsen verteidigte vehement die wertefreie und damit voraussetzungslose Wissenschaft. Mommsen war ein Universalist, seine Hochachtung vor anderen Völkern und seine völkerverbindenden Ansichten brachte er in der Zeitschrift die Nation zu Papier. So sprach er sich – geradezu unglaublich für die damalige Zeit – für die Abschaffung des Sedantages aus (Nation 17, 1899–1900, 658). Noch kurz vor seinem Tod dachte er über die Beziehung zu England nach (Nation 20, 1903–1904, 21): „Ich blicke zurück auf ein langes Leben. Von dem, was ich für meine Nation und über ihre Grenzen hinaus hoffte, hatte sich nur wenig erfüllt. Aber die heilige Allianz der Völker ist das Ziel meiner Jugend gewesen und ist noch der Stern des alten Mannes und auch dabei bleibt es, dass der Deutsche und Engländer bestimmt sind, ihre Wege zu gehen Hand in Hand.“ Wie unglaublich zukunftsorientiert Mommsen war, belegt ein Beitrag in der Umschau (4 1900, 741), als er für einen Nationenbund in Europa, für Vereinigte Staaten Europas appellierte und dann sogar ausrief, wie könne da Amerika fehlen. Der alte Mommsen kam auch zu einer, für die damaligen akademischen Eliten äußerst seltenen Erkenntnis, derart, dass auch die Sozialdemokratie voll und ganz in das staatliche Leben miteingebunden werden müsse. Er hat dies im Aufsatz, „Was uns noch retten kann“ niedergelegt. Mommsen dachte nicht nur über ein Vereinigtes Europa nach, sondern auch – auch hier ein ganz moderner Jurist – über die Rechtsvereinheitlichung. Schon in seiner Züricher Antrittsvorlesung können wir seine prophetischen Worte hören: „Wir nähern uns, bewußt oder unbewußt, der universalen Einigung aller Kulturvölker. Handel und Gewerbe, Münzen, Posten, Eisenbahnen macht sich los von den politischen Grenzen; die dem Altertum fremde Gestaltung eines internationalen Rechtes schließt alle Kulturstaaten zu einem großen Staatenbunde zusammen . . . so ist es keine Torheit vorherzusagen, dass wir auch im Vermögensrecht entgegengehen der Bildung eines neuen jus gentium“. Zum Abschluss sei auf ein ganz besonderes Engagement Mommsens hingewiesen. Er war überzeugter, standhafter und standfester Kämpfer gegen den Antisemitismus. Der immer schwelende Antisemitismus war insbesondere durch die christlich soziale Bewegung um Stocker zu einer immer bedeutenderen politischen Dimension geworden. Im November 1879 veröffentlichte der berühmte Historiker Heinrich von Treitschke in den preußischen Jahrbüchern eine Abhandlung, in der er die israelischen Mitbürger aufforderte, Deutsche zu werden. Die Juden hatte er als fremdes Element bezeichnet, die in Deutschland inzwischen einen all zu breiten Raum einge-

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nommen hätten. Und so sei es nicht verwunderlich, dass es „bis in die besten Kreise der höchsten Bildung hinauf . . . wie aus einem Mund ertönet: die Juden sind unser Unglück“. Dagegen wandte sich Mommsen mit aller Vehemenz seines Geistes und der gesamten Kraft seiner Feder. Er unterzeichnete ohne weiteres eine gegen Treitschke gerichtete Erklärung und publizierte 1880 in der Nation den Beitrag: Auch ein Wort über unser Judentum. Mommsen, der zwar dem konfessionellen Judentum wie dem konfessionellen Christentum und dem zur Schau Tragen des Glaubens nichts abgewinnen konnte, sah in den Juden geradezu eine selbstverständliche Komponente des deutschen Volkes, die Antisemiten bezeichnete er als „Pöbel aller Klassen“. Im Land der Aufklärung und Toleranz sollten jene Werte, für die bereits 1848 gekämpft worden war, nie aufgegeben werden. Im Antisemitismus sah Mommsen einen sittlichen Zersetzungsprozess. Mommsen wurde Mitglied im Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Wo er immer dazu gebeten wurde und wo immer er konnte, nahm er gegen den Antisemitismus Stellung. So nahm er an einer Aktion des österreichischen Schriftstellers Hermann Bar teil,9 die zaristischen antisemitischen Pogrome in Russland verurteilte er scharf. In einem im Jahre 1894 vom niederländischen Arzt Jacob Moleschott in seinem Antisemiten-Hammer veröffentlichten Brief Mommsens meinte dieser, dass „die Kalamität des Antisemitismus ein organischer Schaden unserer Nation ist.“10 Eine tiefe, nicht nur wissenschaftliche Freundschaft verband ihn mit dem streng gläubigen jüdischen Philologen Jacob Bernays. In den letzten 20 Jahren seiner politischen Tätigkeit stand ihm der Jude Ludwig Bamberger am nächsten. Mommsen bezeichnete Bamberger in einer Gedenkrede am 14. März 1899 als den deutschesten Mann, der im Verlaufe seines Lebens zahlreiche antisemitische Angriffe zu erdulden hatte.11 Als Heinrich von Treitschke schließlich Aufnahme in die preußische Akademie der Wissenschaften gefunden hatte, trat Mommsen 1895 als Sekretär der Akademie zurück. Seiner eigenen Frau teilte er brieflich mit, dass er neben „dem“ nicht bleiben könne. Allemal, das Deutschland, in dem er lebte, war nicht jenes Deutschland, für das er seit den Revolutionstagen des Jahres 1848 gekämpft hat. Wohltuend erschien ihm dagegen die Entwicklung in seiner zweiten Heimat, in Italien. Bewusst stellte er Bismarck Cavour gegenüber, dem es gelungen war, einen authentisch liberalen Staat zu begründen. Konservatives preußisches 9

Bahr Der Antisemitismus. Ein internationales Interview, 1894, Zitat 27. Antisemitismushammer. Eine Antologie aus der Weltliteratur. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Jakob Moleschot, Senator des Königreichs Italien und einer Einleitung von Josef Schrattenholz, 1894. 11 Der in der Römischen Geschichte 3, 550 stehende Satz, das in der alten Welt das Judentum ein wirksames Ferment des Kosmopolitismus und der nationalen Dekomposition gewesen sei, ist von Mommsen stets positiv verstanden worden. 10

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Junkertum, konfessionelle Parteien, Militarismus und Antisemitismus, das war jene grauenvolle geistige Mischung, aus der innerhalb kürzester Zeit nach Mommsens Tod eine Weltkatastrophe hervorgehen sollte. Mommsen mag dies geahnt haben, seine bewegenden Worte aus seinem Testament mögen dies unterstreichen. Am 2. September 1899, dem Jahrestag der Schlacht von Sedan, verfasste Theodor Mommsen sein Testament . . . „aber in meinem innersten Wesen und ich meine, mit dem besten, was in mir ist, bin ich stets ein animal politicum gewesen und wünschte ein Bürger zu sein. Das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne, auch der Beste, über den Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus nicht hinauskommt. Diese innere Entzweiung mit dem Volke, dem ich angehöre, hat mich durchaus bestimmt, mit meiner Persönlichkeit, soweit mir dies irgendwie möglich war, nicht vor das deutsche Publikum zu treten, vor dem mir die Achtung fehlt.“ Mommsen wünschte ein Bürger zu sein, ein Citoyen im besten Sinne, wie ihn die Idealisten 1789 geschaffen hatten und wie sie auch in Deutschland scharenweise im Revolutionsjahr 1848/49 ihre politische Überzeugung vertraten, auf den Barrikaden kämpften und starben oder in die Emigration gehen mussten. Ein Bürger zu sein, schien ihm in seinem Deutschland nicht möglich zu sein. Der Dienst im Gliede wirft seine Schatten auf die grauenvolle Zeit bis 1945. Es kann kein Zweifel darin bestehen, dass Theodor Mommsen, Mitglied der Berliner Universität, Ordinarius für römische Geschichte, als einer der bedeutendsten Professoren bezeichnet werden muss, die jemals an dieser Universität gewirkt haben. Es ist nicht vermessen zu behaupten, dass er zu den ganz großen deutschen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts zählt. Seine Leistungen auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft, der Geschichtswissenschaft und der Philologie sind unerreichbare Meisterleistungen, ebenso wie seine methodischen Ausführungen an der Grenze zwischen Historie und Jurisprudenz. Das römische Staatsrecht, die römische Geschichte und die Edition der Digesten sind heute ebenso bedeutsam wie sie es am Tag ihres Erscheinens gewesen sind. Sie sind schlichtweg grundlegend und unüberholt und unerreicht geblieben. Das politische Engagement Theodor Mommsens gereicht ihm, seiner Universität und dem ganzen deutschen Volk, auch heute noch zur Ehre. Sein mutiges Eintreten für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sein beständiger Kampf gegen Obrigkeitsstaat und Antisemitismus machen ihn nach wie vor zum Vorbild der heutigen Generation und künftiger Generationen.

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Heinrich Brunner (1840–1915) Johannes Liebrecht

Heinrich Brunner (1840–1915) JOHANNES LIEBRECHT

Vor hundert Jahren, als schon einmal ein Jubiläum zu begehen war, ließ sich der damalige Chronist der Berliner juristischen Fakultät, Ernst Heymann, zu einer hochfliegenden Aussage hinreißen: Dass Heinrich Brunner, Berliner Ordinarius für Deutsches Recht und Rechtsgeschichte, „im deutschen Geistesleben eine führende Stellung einnimmt, ist bekannt“.1 Heymann war Rechtshistoriker wie Brunner, er verehrte ihn tief und hat auf sein Vorbild mit der Lupe der Begeisterung geschaut, doch stand er mit seiner Einschätzung nicht allein. Heute nimmt sie eher wunder, denn es verbindet wohl jeder Jurist eine, wenn nur flüchtige, Idee mit Brunners Kollegen Otto von Gierke, nicht mehr jedoch mit ihm. Naturgemäß trifft das auf die rechtsgeschichtlichen Wissenschaften nicht zu, in denen sein Name wohlvertraut ist, und auch innerhalb der historischen Mediävistik braucht Heinrich Brunner nicht vorgestellt zu werden. Doch während über Gierke mittlerweile eine schwer zu überblickende Fachliteratur lagert, sind neuere Arbeiten zu ihm nicht auszumachen. Nach den aus unmittelbarer Nähe verfassten, zahlreichen Nachrufen2 wurde das gängige Bild über Brunner hauptsächlich durch Heinrich Mitteis3 und Ernst-Wolfgang Böckenförde4 geprägt, weiter gehende Untersuchungen zu Person und Werk existieren nicht. Auf engem Raum wird das folgende Kurzportrait hieran nichts ändern. Eher kann es eine Überschau geben zu einigen Thesen und Grundzügen seines Forschens und dies verbinden mit einem groben biographischen Aufriss – eine nur unscharfe Annäherung, wie sie ihrem Protagonisten weniger nicht entsprechen könnte.

1 Heymann Hundert Jahre Berliner Juristenfakultät – Ein Gedenkblatt, in: Die Juristische Fakultät der Universität Berlin von ihrer Gründung bis zur Gegenwart in Wort und Bild, in Urkunden und Briefen. Mit 450 handschriftlichen Widmungen (Festgabe der Deutschen Juristen-Zeitung zur Jahrhundertfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1810–1910, hrsg. von Liebmann), 1910, 3–66, 47. 2 Unter ihnen sticht Stutz Heinrich Brunner, ZRG.GA 36 (1915) IX–LV, weit heraus. 3 Insbes. in Mitteis Vom Lebenswert der Rechtsgeschichte, 1947, 46–49. 4 Böckenförde Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert – Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder (1961)2, 1995, 198–202.

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I. Bevor Brunner an die Friedrich-Wilhelms-Universität berufen wurde, hatte er einen rapiden Aufstieg in der wissenschaftlichen Welt genommen, der im Rückblick von einer seltenen Zielausrichtung zu zeugen scheint. Am 21. Juni 1840 im oberösterreichischen Wels geboren und in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, ging er nach der Schule aufgrund eines Stipendiums nach Wien. Bereits zu diesem Zeitpunkt war, wie verschiedentlich betont wurde, sein Interesse an der Geschichte des deutschen Rechts lebendig5, und er beschloss, Rechtswissenschaften, Geschichte und historische Hilfswissenschaften zu studieren. Die wohl wichtigsten Einflüsse erhielt er hier beim gerade Renommee gewinnenden Zivilisten Joseph Unger, dem germanistischen Rechtshistoriker Heinrich Siegel und in den historischen Hilfswissenschaften bei Theodor Sickel; die Spuren aller lassen sich in seinen künftigen Forschungen ausmachen. Nach Abschluss des Universitätsstudiums wählte Brunner insbesondere den dreijährigen Kurs am jungen, nachmals berühmten Institut für Österreichische Geschichtsforschung unter Sickels Leitung, wo er die vielleicht stärkste Prägung für sein kommendes Werk erhielt. 1864 in Wien zum Doktor beider Rechte promoviert, zog es den Jungwissenschaftler weiter. Er ging für mehrere Monate erst nach Göttingen zu Georg Waitz und blieb sodann ein weiteres halbes Jahr bei Carl Gustav Homeyer in Berlin; im darauf folgenden Jahr schon war er habilitiert. Die Habilitation gelang ihm unter anderem aufgrund seiner wichtigsten Frühschrift, jener zum Inquisitionsbeweis, die 1865 gedruckt erschien.6 Sie hatte nicht etwa das bekannte Inquisitionsverfahren des späteren Mittelalters, vielmehr die Entstehung eines Zeugen- und Inquisitionsbeweises im Frühmittelalter zu Gegenstand. Brunner hatte in den fränkischen Quellen die inquisitio als eine römischrechtlich angestoßene, doch genuin fränkisch ausgebildete Innovation im Prozessrecht ausgemacht: Im Gegensatz zum alten Beweisverfahren bot diese, freilich zunächst allein dem Königsgericht, die Möglichkeit, streitige Tatsachenfragen durch Befragung ermitteln zu lassen, und Brunner rekonstruierte ihre dogmengeschichtliche Entstehung und Entwicklung. Dabei erwachte sein Interesse an der Fortwirkung des fränkischen Rechts jenseits des deutschen Mittelalters, insbesondere im altfranzösischen Recht. In den Folgejahren erschloss er der deutschen Wissenschaft einen präzisen Grundriss über die Rechtsquellen der

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Stutz (Fn. 2), IX f.; Seckel Heinrich Brunner – Ein Nachruf, NA 40 (1915) 807–818,

807. 6 Brunner Zeugen- und Inquisitionsbeweis der karolingischen Zeit (1865), in: ders. Forschungen zur Geschichte des deutschen und französischen Rechtes – Gesammelte Aufsätze, 1894, 88–247.

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frühen französischen, normannischen und englischen Rechtsgeschichte7 und untersuchte umfassend den zeitgenössischen Formalismus des altfranzösischen Gerichtsverfahrens.8 Für die deutsche Rechtsgeschichte hatte zuvor Heinrich Siegel ähnliche Eigenarten dargetan. Brunner nun ging dem entsprechenden Panorama des französisch-mittelalterlichen Rechts nach, von dessen enger Verwandtschaft mit dem deutschen er durchdrungen war.9 Im strengen, ja unerbittlichen Formalismus des altfranzösischen Rechts verstand er, dem Diktum Jherings gemäß, eine zeitadäquate Weise von Freiheitsgewähr,10 zugleich konnte er hier einen Fortläufer der fränkischen inquisitio, die enquête nachweisen, woran sich für ihn später Folgerungen knüpfen sollten. Schon mit diesen Studien hatte der junge Gelehrte die Aufmerksamkeit der Fachöffentlichkeit auf sich ziehen können, auch da in diesen Jahren der aufgeregten Diskussion um national- und einheitsstaatliche Größe die Rückschau auf die einheitliche fränkische Monarchie eine erhebliche Aufwertung erlebte. Brunners beruflich-äußerer Werdegang entsprach der Anerkennung seiner Studien: Nach fünf Jahren, die er in Lemberg am Rande der Habsburgermonarchie, zuletzt als ordentlicher Professor, verbracht hatte, folgten 1870 ein Ruf auf einen Lehrstuhl für deutsches Recht in Prag, den er annahm, und 1871 ein nächster nach Zürich, den er jedoch ausschlug.11 Schon bald erging an ihn der dritte Ruf an die neu gegründete deutsche Reichsuniversität Straßburg, die nach dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich als Vorzeigeinstitution des Deutschen Reichs im Elsaß aufgebaut und mit einigen der herausragenden jüngeren Rechtsgelehrten besetzt wurde; seit dem Frühjahr 1872 zählte auch Brunner zu ihnen12. Seine bereits hier hohe Reputation bewies sich schließlich, als ihn kaum später das Angebot erreich7 Brunner Überblick über die Geschichte der französischen, normannischen und englischen Rechtsquellen, in: von Holtzendorff (Hrsg.) Encyclopädie der Rechtswissenschaft, 1870, 195–226; in englischer Sprache 1888, erneut und in amerikanischer Übersetzung 1908 veröffentlicht (in: Select Essays in Anglo-American Legal History, Vol. II, 1908); deutscher Separatdruck 1909. 8 Brunner Wort und Form im altfranzösischen Prozess (1868), in: ders. (Fn. 6), 260– 389. 9 Es trügen „die prozessualen Einrichtungen beider Schwesterrechte ein ziemlich gleichartiges Gepräge“ (Brunner [Fn. 8], 260). 10 Brunner (Fn. 8), 273: „Vor richterlicher Bevormundung waren im altfranzösischen Prozess die Parteien in ausgiebigster Weise geschützt. Es hing vollständig von ihnen ab, wie sich der Gang der Verhandlung im einzelnen gestaltete“. 11 Seckel (Fn. 5), 808; Bader Um eine Berufung Heinrich Brunners nach Zürich, ZRG.GA 95 (1978) 186–201, 198. 12 Zur Berufung Brunners vgl. GStA PK, I. HA Rep. 90 E Staatsministerium, Akt. betr. die Univ. zu Strassburg, Nr. 20, Titel Q. Nr. 2, Bl. 3 ff.; über die Straßburger Besetzung vgl. auch Schlüter Reichswissenschaft – Staatsrechtslehre, Staatstheorie und Wissenschaftspolitik im Deutschen Kaiserreich am Beispiel der Reichsuniversität Straßburg, 2004, 206, 218.

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te, den vakanten Homeyer-Lehrstuhl an der Friedrich-Wilhelms-Universität anzutreten, Preußens Thron für deutsche Rechtsgeschichte. Dabei war die Berliner Berufung kein Selbstläufer gewesen. Ursprünglich hatte man Paul Roth für den Lehrstuhl vorgesehen, der jedoch in München zu bleiben entschied.13 Gegen den sodann vorgeschlagenen Brunner bildeten sich im Reichskanzleramt Widerstände, da man eine Schwächung der für Prestige und europäische Geltung des jungen Reichs so wichtig erachteten neuen Universität Straßburg unter keinen Umständen akzeptieren wollte.14 Doch setzte sich die Sorge um das Wohlergehen der eigenen Universität schließlich durch, und Heinrich Brunner kam, erst 32jährig, in die Reichshauptstadt, in der er bis kurz vor seinem Tod lehren sollte.15 Seine Berufung nach Berlin hatte ihren Hintergrund nicht allein in Brunners frühen Aufsätzen. Im Jahre 1872 ließ er diesen eine epochale Monographie folgen, sein erstes Meisterwerk, mit dem er schlagartig weit über die Grenzen der deutschsprachigen Wissenschaft hinaus berühmt wurde – die Entstehung der Schwurgerichte.16 Auch hier schrieb er frühmittelalterliche Rechtsgeschichte, indessen griff er damit eine der rechtspolitisch wie rechtshistorisch am stärksten erhitzten Diskussionen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf: Insbesondere in den Reformdiskussionen zum Strafprozess war die Beteiligung von Laien am Verfahren heftig umstritten gewesen, ebenso die nationalgeschichtliche Herkunft dieser Institution. Die Jury war ein Gegenstand, an dem nunmehr „die Wissenschaft schon vor Jahren sich müde gearbeitet, das Publicum sich müde gelesen“ hatte.17 Brunners eigene Darstellung schwang sich stattdessen zur historisch-kritischen Grundrevision aller Vermutungen und einer erstmals fundierten, auf umfassende Quellenerhebung gegründeten neuen Erklärung auf: Nicht aus dem Schöffentum des frühen Rechtsgangs oder anderen aufgeworfenen Wurzeln war die Jury entstanden. Vielmehr konnte er an seine vorangegangenen Studien zur zivilprozessualen inquisitio anknüpfend die Transformation dieses fränkischen Instituts durch die altfranzösische und insbesondere normannische Rechtsgeschichte hindurch verfolgen, in der es sich zu einer Beweisjury gewandelt habe. Und noch weiter wies er den Weg bis über den Ärmelkanal 13

Ebenso wie Windscheid und Jhering den zeitgleich neu zu besetzenden romanistischen Lehrstuhl ausgeschlagen hatten; darüber der Bericht vom 14.10.1872 an Otto von Bismarck, in: GStA PK, I. HA Rep. 90 A Staatsministerium, jüngere Reg., Nr. 1766, Bl. 121 f., sowie die Abschrift des Schreibens Paul Roths, in: GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Sekt. 2, Tit. IV., Nr. 45, Bd. 3, Bl. 104. 14 Abschlägiger Vermerk Rudolf von Delbrücks, in: GStA PK, I. HA Rep. 90 A Staatsministerium, jüngere Reg., Nr. 1766, Bl. 124. 15 Die Ernennung Brunners ist dokumentiert in: UA HUB, Jur. Fak. Nr. 493, Bl. 157, zur Berufung vgl. auch GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Sekt. 2, Tit. IV., Nr. 45, Bd. 3, Bl. 119–123. 16 Brunner Die Entstehung der Schwurgerichte, 1872. 17 Brunner (Fn. 16), V.

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nach, wo die fränkisch-normannische Institution durch die normannische Eroberung eingeführt und maßgeblich fortentwickelt wurde, im Verlaufe der folgenden Jahrhunderte gar zu einer Urteilsjury, nun auch in Strafsachen, geworden sei. Die Verblüffung, die Brunners minutiöse und ausführliche, stets dicht am Quellenmaterial gehaltene Beweisführung hervorrief, lässt sich nur verstehen angesichts der starken nationalen Aufladungen, welche die Frage nach der Jury und ihrer Herkunft in Europa erfahren hatte. In England musste man nun entgeistert hören, dass die als Ausdruck ureigenen Angelsachsentums stilisierte Jury offenbar ein Import des fränkischen Rechts gewesen sei. Die französische Wissenschaft registrierte erstaunt, dass der normannischen Rechtsgeschichte eine nicht bloß randseitige Rolle zuzuschreiben sei. Und die deutsche Rechtsgeschichte erhielt einen sie erhebenden Ausblick auf die europäische Dimension des fränkischen – und das war für sie germanischen, letztlich deutschen – Rechts. Auch Brunner teilte diese Grundannahme: Mehr als andere ging er zwar den Rezeptionen römischrechtlicher Institutionen im frühen Mittelalter nach und verfing sich weniger in schlicht-schablonenhafte Bilder eines rein-fränkischen Rechts. Doch dessen grundsätzliche Zugehörigkeit zum germanisch-deutschen Rechtskreis stand für ihn außer Frage, gerade vor diesem Hintergrund faszinierten ihn die Übergänge aus der Spätantike.18 An der Friedrich-Wilhelms-Universität verfolgte Heinrich Brunner dieses Interesse weiter, jedoch am Beispiel eines anderen Gegenstandes. Nachdem er sich bereits zuvor der urkundlichen Überlieferung intensiv bedient hatte, um die prozessrechtsgeschichtlichen Verläufe im Frühmittelalter aufzuzeigen, wandte er sich nun der Rechtsqualität der fränkischen Urkunden selbst zu, in denen er gleichfalls eine Aufnahme ursprünglich römischer Begriffswelt erkannte. Insbesondere seine Gegenüberstellung der rechtskonstitutiven, dispositiven Privaturkunde, carta, mit der weniger formalisierten schlichten Beweisurkunde, notitia, wurde zu einer nachmals berühmten und 18 Ein starkes Interesse an der römischen Kontinuität fand sich unter den Germanisten nicht allein bei Brunner, auch, in freilich sehr unterschiedlichen Ausprägungen, beim weit unbekannteren Wilhelm Sickel (zu ihm Esders Verfassungsgeschichte im deutschen Kaiserreich: Wilhelm Sickel [1847–1929], in: Reimitz/Zeller [Hrsg.] Vergangenheit und Vergegenwärtigung – Frühes Mittelalter und europäische Erinnerungskultur, 2009, 129–142) oder beim in mancher Hinsicht provozierenden, eigensinnigen Ernst Mayer (ein diesbezüglich positives Bild bei Willoweit Zwischen europäischer Rechtsgeschichte und nationaler Programmatik – Wissenschaftliches Werk und politisches Denken des Würzburger Rechtshistorikers Ernst Mayer [1862–1932], in: Baumgart [Hrsg.], Die Universität Würzburg in den Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Biographisch-systematische Studien zu ihrer Geschichte zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Neubeginn 1945, 2002, 125–157). Die Suche nach ihr stand in der deutschen Wissenschaft gleichsam unter Rechtfertigungsdruck, und seit 1871 umso mehr angesichts der heftig empfundenen Rivalität zu französischen Stimmen, voran zu Fustel de Coulanges.

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viel diskutierten These.19 Eine Ergänzung bildeten weitere Arbeiten, welche die wertpapierrechtliche Funktion der fränkischen Urkunde im Gesamt der frühmittelalterlichen Gerichtsordnung erschlossen;20 in ihnen leuchtet heute unübersehbar die handelsrechtliche Diskussion des 19. Jahrhunderts um den Wertpapierbegriff auf, in die sich nicht zuletzt Heinrich Brunner selbst mit großem Erfolg einschrieb.21 Besonderes Aufsehen erregten jedoch drei zu einer Monographie zusammengefasste Studien Zur Rechtsgeschichte der römischen und germanischen Urkunde, in denen er nicht nur zu einem vertieften Panorama der privatrechtsgeschichtlichen Strukturen in den frühmittelalterlichen Urkundenfunden gelangte, sondern, gewissermaßen im Nebenbei, erstmals eine bis dahin unbekannte Rechtsschicht der Spätantike entdeckte, das von ihm und seither Vulgarrecht benannte Recht der nachklassischen, weströmischen Urkundenpraxis.22 Brunner war damit längst zur Koryphäe aufgestiegen; die außergewöhnliche wissenschaftliche Produktivität, die der Gelehrte während seines Berliner Ordinariats entfaltete, stand jedoch mehr als mit diesen Forschungen in Verbindung mit seinem noch kommenden literarischen Lebensprojekt: 1879 erreichte ihn das Angebot Karl Bindings, innerhalb des von diesem edierten Handbuchs der Rechtswissenschaft die Bearbeitung einer Deutschen Rechtsgeschichte zu übernehmen. Die Dimensionen einer solchen Aufgabe standen damals jedem rechtshistorischen Germanisten klar vor Augen, hatte man selbst doch die Entstehung einer sich spezialisierenden, methodisch und quellenkritisch weit ausgebauten sowie ungekannt produktiven Mittelalterforschung erleben dürfen, neben der sich die frühe Phase der Historischen Rechtsschule beinahe als vorkritisch ausnahm.23 Die Essenz dieser 19 Brunner Carta und Notitia (1877), in: ders. Abhandlungen zur Rechtsgeschichte – Gesammelte Aufsätze, Band I, 1931, 458–486. 20 Brunner Die fränkisch-romanische Urkunde als Wertpapier (1877), in: ders. (Fn. 6), 524–631; ders. Zur Geschichte des Inhaberpapiers in Deutschland (1878), in: ders. (Fn. 6), 631–661; oder ders. Die Zulässigkeit der Anwaltschaft im französischen, normannischen und englischen Rechte des Mittelalters (1878), in: ders. (Fn. 6), 389–443. 21 Die bis heute herrschende weite Wertpapierdefinition stammt von Brunner Die Werthpapiere, in: Endemann (Hrsg.) Handbuch des deutschen Handels-, See- und Wechselrecht II/2, 1882, 141–235, 147; zu Brunners Einfluss auf die Wertpapierdiskussion des 19. Jahrhunderts näher Sedatis Art. Wertpapiere, in: HRG V (1998) Sp. 1280–1291. 22 Brunner Zur Rechtsgeschichte der römischen und germanischen Urkunde, Erster Band, 1880, 113 ff.; an Brunners methodisches Beispiel anknüpfend Mitteis Reichsrecht und Volksrecht in den östlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs – Mit Beiträgen zur Kenntnis des griechischen Rechts und der spätrömischen Rechtsentwicklung, 1891, 3–6. Die eigentliche Diskussion um das Vulgarrecht selbst begann erst mit Levy Westen und Osten in der nachklassischen Entwicklung des römischen Rechts, ZRG.RA 49 (1929) 230– 259; siehe auch Schmidt Die Vulgarrechtsdiskussion, in: Kroeschell/Cordes (Hrsg.) Funktion und Form – Quellen- und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, 1996, 1–22. 23 Vgl. nur die bekannte Darstellung von Roth Die rechtsgeschichtliche Forschung seit Eichhorn, Zeitschrift für Rechtsgeschichte 1 (1861) 7–27; Brunner Carl Gustav Homeyer,

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Hoch-Phase nationaler Rechtsgeschichte zu formen, war also eine Herausforderung, und bis zu seinem Tode füllte Heinrich Brunner die Arbeit am Werk und dessen Überarbeitung aus. Es ist auf seine viel berufene Gewissenhaftigkeit und sein heute entrückt wirkendes handwerkliches Ideal von quellennaher Rechtsgeschichtsschreibung zurückzuführen, dass der überwiegende Teil seiner seit 1880 entstandenen, häufig bestaunten Einzelstudien der Vorarbeit für diese Gesamtdarstellung dienten. Denn ihr Verfasser mochte sich nur ungern auf Ergebnisse anderer verlassen und meinte, sooft er einer Unklarheit begegnete, am besten durch eigene, möglichst umfassende Auswertung des Quellenmaterials eine Darstellung geben zu sollen. An diesem Anspruch scheiterte bald schon seine ursprüngliche Planung, eine Gesamtdarstellung der deutschen Rechtsgeschichte zu erschaffen. Dafür aber verfasste er eine Rechtsgeschichte der Frühzeit und fränkischen Epoche von bis heute unerreichtem Können.24 Sie beschränkte sich nicht auf eine Zusammenfassung der neuesten Forschung, sondern basierte grundlegend auf eigenen, selbst erreichten Thesen und neuen Perspektiven, die in Brunners typisch souveränem Darstellungsduktus und seiner trocken pointierten Sprache eine eindrucksvolle Form annahmen. Dabei manifestierte sich Brunners Hang zur Rechtssystematik in seinen Ausführungen vielfach. Zwar enthalten sie nicht selten weniger schlichte Aktualisierungen, als ihnen später nachgesagt wurde. Eindeutig tritt jedoch die festsetzend-definierende Handschrift des klärenden Juristen hervor und fügt Rechtsgründe und -quellen, Geltungsbereiche und regionale wie zeitliche Ausprägungen der klar bestimmten Rechtssätze zu einer komplexen, aber kohärenten Rechtsordnung, die sich aus einer schier unfassbaren Masse an verarbeiteten Quellenfunden erhebt und gleichsam durch die Jahrhunderte heranwächst. Brunners immer wieder aufscheinende Neigung zu Modernismen zeigt sich zudem keineswegs allein in seinen rechtlichen Einordnungen, sie tritt in den ausgreifenden wirtschafts- und allgemeinhistorischen Bebilderungen nicht minder hervor. Sachlich wichen seine rechtshistorischen Erklärungen vielfach von den gängigen Auffassungen ab und begründeten richtungweisende Interpretationen, sei dies in den Positionen zum Rechtsgang oder vielen seiner Thesen zur mittelalterlichen Verfassungsgeschichte, die seinerzeit wie Erleuchtungen wirkten und Jahrzehnte später bewegte, teils stürmische Diskussionen provozierten. Andernorts, in seinen aufwendigen UntersuchunPreußische Jahrbücher 36 (1875) 18–60; polemisch gefasst und mit neuer Richtung Amira Zweck und Mittel der germanischen Rechtsgeschichte – Akademische Antrittsrede (15. Dezember 1875), 1876. 24 Brunner Deutsche Rechtsgeschichte (= Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft; Zweite Abtheilung, Erster Theil), Erster Band: 1. Auflage 1887, 2. Auflage 1906; Zweiter Band: 1. Auflage 1892, 2. Auflage (neu bearbeitet von Freiherr von Schwerin) 1928; der dritte Band, der dem fränkischen Privatrecht gelten sollte, ist nicht erschienen.

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gen zur frühen Strafrechtsgeschichte etwa, fügte er bestehende Thesen erstmals in ein umfassendes, neu begründetes Systembild ein. Seine Erkenntnisse verfehlten ihre Wirkung nicht. Die Deutsche Rechtsgeschichte bildete an vielen kontroversen Debatten der Folgezeit sowohl den Ausgangspunkt als auch die Hypothek rechtsgeschichtlicher Mediävistik; sie formte ihre Wissenschaft wie kaum ein zweites Werk, und sie steht, obschon vielfach überholt, noch immer im Ganzen uneingeholt da. Bereits den Zeitgenossen war dies bewusst: Es werde „wohl das Handbuch der deutschen Rechtsgeschichte auf eine Reihe von Jahren hinaus bleiben“,25 weissagte Konrad Maurer, die Reaktionen fielen insgesamt überschwenglich aus.26 Ein spätes Zeugnis legten noch die Mühen Claudius von Schwerins ab, die Brunnersche Rechtsgeschichte seit 1924 dem Original getreu zu überarbeiten und zugleich in ihrem Aktualitätsanspruch zu bewahren.27 Die Maßstäblichkeit dieser Epoche germanistischer Rechtsgeschichtsschreibung wird natürlich nicht allein an Brunners Werk deutlich; ähnlich plastisch lässt sie sich am zeitgleich entstandenen Lehrbuch von Richard Schröder28 oder etlichen Monographien dieser Jahre erkennen. Doch die Deutsche Rechtsgeschichte geriet gleichsam zu ihrem Aushängeschild.

II. Heinrich Brunners Darstellungskraft und weit über die eigene Disziplin hinaus wirkende Meinungsführerschaft brachten es mit sich, dass vor allem er in der deutschen und internationalen Mediävistik zu einer dominanten Stimme wurde.29 Mehr als seine Kollegen wurde Brunner zum Inbegriff des25

Maurer Besprechung von Heinrich Siegel: Rechtsgeschichte (1886), Richard Schröder: Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 1. Abtheilung (1887), Heinrich Brunner: Deutsche Rechtsgeschichte, Band I (1887), Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 29 (1887) 321–330, 330. 26 Unter den wichtigsten ist lesenswert etwa Stutz Besprechung von Heinrich Brunner: Deutsche Rechtsgeschichte Band I (1887), Zeitschrift für Schweizerisches Recht 36 (1895) 173–198; weniger eingehend Gierke Anzeige zu Heinrich Brunner: Deutsche Rechtsgeschichte I, 2. Auflage (1906), Deutsche Juristen-Zeitung 12 (1907) Sp. 369 f. Das hohe Lob ertönte im Ganzen auch aus der seinerzeit ausführlichsten Rezension von Amira Besprechung von Heinrich Brunner: Deutsche Rechtsgeschichte I, 1887, und II, 1892, Göttingische gelehrte Anzeigen 150 (1888, Nr. 2) 41–60, und 158 (1896, Nr. 3) 188–211, wenngleich sie zu Recht auf die Fragwürdigkeit vieler Passagen hinweist (eine Schwäche, der Amira selbst nicht zu erliegen meinte); aus dem Rahmen fiel Heusler Besprechung von: Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte II (1892), Deutsche Litteraturzeitung 14 (1893) Sp. 213–215. 27 Freiherr von Schwerin in: Brunner Dt. RG II2 (Fn. 24), V–VII. 28 Schröder Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 1889 (erster Halbband 1887); näher Webler Leben und Werk des Heidelberger Rechtslehrers Carl Richard Heinrich Schroeder (1838–1917), 2005, 200 ff. 29 Das vielleicht beste Beispiel bilden seine geradezu legendären Arbeiten zur Entstehung des Lehnswesens, vgl. Brunner Die Landschenkungen der Merowinger und der Agi-

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sen, was die historischen Wissenschaften von der damals in bemerkenswerter Weise hochfühlenden Rechtsgeschichtsschreibung methodisch wie inhaltlich profitierten konnten. Mochten sich auch zahlreiche Historiker eine solch respektvolle Haltung gegenüber der rechtsgeschichtlichen Spezialwissenschaft nicht aneignen, ist doch die starke Aufmerksamkeit, auf die viele der rechtshistorischen Thesen rechnen durften, einer der charakteristischen Züge der Geschichtswissenschaften dieser Epoche. Die Gründe dafür lagen nicht bloß bei der Rechtshistoriographie selbst. Gerade ihre Germanistik bestach jedoch in diesen Jahren durch einen recht klaren Kanon herrschender Ideale. Seit etwa 1870 waren diese, zumal von den wortführenden Gelehrten, mit einer neuartigen methodologischen Emphase eingefordert und verwirklicht worden, hierbei stand Heinrich Brunner in vorderster Reihe. Er verfocht seine methodischen Überzeugungen weniger polemisch als sein Kollege Karl von Amira, doch bei diesem wie jenem sorgten sie für einen analytisch-methodischen Glanz, der das Erkenntnispotential sauber gearbeiteter Rechtsgeschichte weit über ihre Fachgrenze hinweg strahlen ließ. Es war eine Kombination mehrerer wissenschaftlicher Axiome, die das deutschrechtsgeschichtliche Forschen im späten 19. Jahrhundert bestimmten und ihm zum Erfolg verhalfen – sie wurden nicht von allen, doch ihren führenden Gelehrten überzeugt vertreten und sind auch im heutigen Bild dieser Wissenschaftsgeneration im Wesentlichen bekannt; die Details ihrer Entstehung sind freilich erst schwach erforscht. Für einen Rundgang um Brunners Werk müssen wir auch auf sie einen, wenngleich knappen, Blick werfen. In der Regel handelte es sich um Niederschläge allgemeinerer Leitbilder, die sich nicht allein in der Rechtsgeschichtswissenschaft fanden, und kaum verwunderlich waren es eher schärfere Kristallisationen bereits zuvor existierender Auffassungen, weniger Neuschöpfungen. Doch im Rahmen des rechtshistorischen Denkens fügten sie sich zu einem eigenen Mosaik. Hierzu zählte zunächst die heute eindrucksvolle Fokussierung auf Quellenbearbeitung, -edition und auch, prinzipiell jedenfalls, die Quellennähe der rechtsgeschichtlichen Thesenbildung, die aus zahllosen methodischen Bekenntnissen dieser Zeit zutage tritt. Die Verpflichtung auf den engen Quellenbezug war nicht bloß Gründungscredo der historischen Rechtsschule als vielmehr Kern für den enormen Aufschwung der historischen Wissenschaften in Deutschland insgesamt gewesen, der sich ebenfalls in der rechtsgelolfinger (1885), in: ders. (Fn. 6), 1–39; ders. Der Reiterdienst und die Anfänge des Lehnswesens (1887), in: ders. (Fn. 6), 39–74; ders. Die Geschichte des Gefolgswesens (1888), in: ders. (Fn. 6), 75–87. Sie lösten europaweit eine immense Reaktion in den Geschichtswissenschaften aus, traten freilich seit den 1930er Jahren durch die folgenden Werke zur Geschichte des europäischen Feudalismus von Bloch, Ganshof, Mitteis, Kienast u.a. in den Hintergrund. Zu den Brunnerschen Thesen selbst vgl. Dorn Die Landschenkungen der fränkischen Könige – Rechtsinhalt und Geltungsdauer, 1991.

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schichtlichen Disziplin zeigte.30 Gewandelt hatten sich zu Brunners Zeit indes Maß und Professionalisierungsgrad der Quellenbearbeitung. Eine zuvor ungeahnte Menge an Überlieferung wurde entdeckt und ediert, Brunner selbst rückte 1887 in die Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica vor und verkörperte für die rechtshistorischen Germanisten das Ideal minutiöser Textkritik auf einem zuvor nicht vorhandenen Niveau. Wohl verhielt sich dies ähnlich mit Kollegen wie Boretius, Binding oder Sohm; ebenso bezeichnend ist es, dass andererseits dem bekannten MGH-Editor Karl Zeumer an der Berliner juristischen Fakultät ein rechtsgeschichtlicher Lehrstuhl eingeräumt wurde, obgleich dieser nie eine juristische Ausbildung durchlaufen hatte.31 Aber nicht jeder Rechtshistoriker konnte damit Schritt halten.32 Der intensive Materialbezug und die fieberhafte Suche nach noch unbekannter Überlieferung hatten dabei seit der Jahrhundertmitte zu einer sukzessiven Erweiterung geführt. Neben den sogenannten normativen Texten und oft als Gesetze vermuteten Rechtsaufzeichnungen des Mittelalters traten verstärkt die Urkundenfunde hervor. Durch sie wurde ein unbestreitbarer Gewinn an historischer Dichte erzielbar, und wenn der Rekurs auf die Rechtspraxis auch nicht die Vorstellung vom mittelalterlichen Recht insgesamt zu irritieren vermochte, ermöglichte doch die Auswertung der zeitgenössischen Urkunden ein um vieles komplexeres Bild der sie bestimmenden Rechtsnormen. Für diesen neuen, vehement verfolgten Anspruch germanistischer Rechtshistoriker waren als Vorbilder zunächst deren Lehrer, allen voran Georg Waitz und Theodor Sickel, verantwortlich, welche beide die Einbeziehung des urkundlichen Materials vorangetrieben hatten. Für die Rechtsgeschichte fand sich die Erschließung von Urkundenmaterial wie auch Urkundenwesen nicht allein bei Heinrich Brunner, doch bei ihm in besonderer Präzision, die unverkennbar auf seine intensive Schulung bei Theodor Sickel zurückging.33 Von Beginn an suchte, fand und zog er die historischen Urkunden wie wenige heran und betonte später, dass die „zahlreichen Probleme der deutschen Rechtsgeschichte, bezüglich deren die bloss aus Rechtsaufzeichnungen schöpfende Controverse sich festgefahren hat, nur im Wege methodischer Urkundenforschung ihrer Lösung näher zu bringen“ seien.34 Für die Rechtsgeschichtswissenschaft öffnete er damit eine Schatz30

Siehe dazu schon Roth (Fn. 23), 15. Kern Karl Zeumer †, HZ 113 (1914) 540–558, 549. 32 Zu Brunner in den MGH vgl. Bresslau Geschichte der Monumenta Germaniae historica im Auftrage ihrer Zentraldirektion bearbeitet, 1921, 676–685. Ferdinand Frensdorff gab 1890 die Edition der mittelalterlichen Stadtrechte zurück mit dem Bedauern, den modernen Anforderungen wissenschaftlicher Textkritik und Editionstechnik nicht entsprechen zu können (ebenda, 576). 33 Zum Beispiel Richard Schröders, von Waitz beeinflusst, siehe Webler (Fn. 28), 40, 181 ff. 34 Brunner (Fn. 22), VII. 31

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truhe, nicht allein durch seine dadurch erreichten Thesen über die fränkische Rechtsgeschichte, sondern ebenso mit der Entdeckung des Vulgarrechts, die Folge hieraus gewesen war;35 sogar für die diplomatische Forschung selbst wurde Heinrich Brunner zu einer Leitfigur.36 Möchte die Auswertung von Urkundenfunden heute wenig Erstaunen auslösen, so sticht ein anderes Axiom weitaus stärker hervor. Es etablierte sich als eine der zahlreichen Facetten im Entwicklungsdenken der historischen Schule. Durch das gesamte Jahrhundert hindurch unterlag der historiographischen Reflexion auf Recht zumeist die Annahme einer organisch verbundenen Vergangenheit der Rechtsinstitute, so unregelmäßig sich dies auch in den vielen wissenschaftlichen Strömungen und historischen Thesen selbst niederschlug. Auch für Heinrich Brunner war es unverändert die gegebene Aufgabe des Rechtshistorikers, einer „fortlaufenden organischen Entwicklung“37 zu folgen und ihre Ursprünge offenzulegen. Doch trieb auch er eine Wende mit voran, die das Entwicklungsdenken zur Mitte des Jahrhunderts nahm, als es mehr und mehr in den Sog der aufstrebenden Naturwissenschaften geriet. Seit der Veröffentlichung von Charles Darwins Über die Entstehung der Arten 1859 fand dessen Vererbungslehre nicht nur im allgemeinen bildungsbürgerlichen Diskurs Europas und vielen zeitgenössischen Äußerungen starken Widerhall,38 sie wurde auch ein eigentümliches Mischinterpretament für die im Übrigen tief fühlender Idealisierung durchaus zusprechende deutsche Rechtshistorikerschaft.39 Schon zuvor waren Naturvergleiche, Ast- oder Stamm-Metaphern und später die Vorstellung einer naturhistorischen Methode der Rechtswissenschaft ein Allgemeinplatz geworden. Nun jedoch lud diese sich zunehmend materialistisch, dem naturwissenschaftlichen Vorbild gemäß, auf und darwinistische Motive erschienen.40 Schon in den 1860er Jahren begannen sich erste Niederschläge dieser Tendenz zu zeigen; später konnte Brunner das Differenzierungs- und Ab35 Vgl. Brunner (Fn. 22), VIII: Bislang sei es den Romanisten bedauerlicherweise nie „in den Sinn gekommen, die überlieferten Dogmen an einer der ungefähr gleichzeitigen ravennatischen und römischen Vertragsurkunden die Probe bestehen zu lassen“. 36 Rosenmund Die Fortschritte der Diplomatik seit Mabillon vornehmlich in Deutschland-Österreich, 1897, 114, 122; vgl. auch von Schwind Heinrich Brunner, MIÖG 37 (1917) 1–26, 9: mit der Anwendung der diplomatischen Methode sei „durch ihn und seine Schule für die Rechtsgeschichte eine neue Epoche inauguriert“ worden. 37 Brunner (Fn. 16), 19 f. 38 Bereits 1860 ins Deutsche übersetzt; zum weiteren Zusammenhang Wittkau-Horgby Materialismus – Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, 1998, und auch bei Kipper Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich – Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierungen, 2002, 71–73. 39 Dies ist noch nicht näher dargestellt worden, über Beyerle Der Entwicklungsgedanke im Recht, in: Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Dr. Alfred Schultze zum 19. März 1936, 1938, 229–249, 231–233, wurde bisher kaum hinausgegangen. 40 Am Beispiel des mit Brunner etwa gleich alten Adolf Merkel illustriert diesen Transfer Wittkau-Horgby (Fn. 38), 212 ff.

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stammungstheorem zur Beschreibung rechtsdogmengeschichtlichen Wandels propagieren.41 Vor allem durch ihn waren zuvor die Möglichkeiten, die eine solche Denkweise bot, erst zögerlich, dann nachdrücklicher hervorgebracht worden. Zunächst äußerte er 1868 entsprechende Andeutungen eher allgemein,42 wohingegen er schon 1872 ausdrücklich die Parallele zur Artengeschichte zog43 und vor allem einen einschneidenden Ertrag daraus vorstellte, der sich sehen lassen konnte: Die Technik des anachronistischen Rückschlusses von späteren auf frühere Epochen war seinerzeit wie heute fragwürdig und keineswegs gängig; doch wenn man bei Rechtsdogmen einer selben Entwicklungslinie von einer naturgleichen Artenidentität ausgehen durfte, so mussten auch ein, mit Maß vollzogener, Rückschluss möglich werden und gähnende Überlieferungslücken zu überbrücken sein. Die zentrale Rolle, die Brunners Entstehung der Schwurgerichte für seine Wissenschaft einnahm, lag nicht zum mindesten darin, dass hier auch brillant vorgeführt wurde, wie aus sog. Tochterrechten für die Mutterrechte Aufschluss gewonnen werden konnte, wie den hochmittelalterlichen Quellen Europas Hinweise auf ihre früheren Ursprünge zu entlocken waren. Er übte damit offenbaren Einfluss auf seine Kollegen aus, nicht zuletzt auf Karl von Amira;44 freilich muss diese Denkform geradezu in der Luft gelegen haben. Während die frühere rechtsgeschichtliche Forschung einem Verwandtschafts- und Abstammungsgefüge der germanischen Rechte allenfalls am Rande Beachtung geschenkt hatte, wimmelte es nun von Schwester-, Mutter- und Tochterrechten, die zahllose, ihrerseits leidenschaftlich diskutierte Querschlüsse und Entwicklungsannahmen ermöglichten. Diese heute wunderliche Neigung zur rechtshistorischen Abstammungstafel war allerdings nicht bloß eine Mode und Ausdruck zeitgenössisch-naturalistischer Strömungen. Sie bot dem Historiker des deutschen Rechts im erst jungen Kaiserreich zudem einen freudig-beglückenden Anblick: Frankreichs, Englands und vielleicht gar Italiens, Spaniens und andere Rechte des Mittelalters stammten vom westgermanisch-fränkischen Mutterrecht ab, das man, so kurios dies heute anmuten mag, mit der gleichen Selbstverständlichkeit als deutsches Recht beanspruchte wie man die fränkische Monarchie als historischen Paten für das deutsche Kaiserreich der Gegenwart vereinnahmte. Den

41 Brunner Dt. RG I1 (Fn. 24), 5; auch ders. Abspaltungen der Friedlosigkeit (1890), in: ders. (Fn. 6), 444–481. 42 Brunner (Fn. 8), 260 f., 273. 43 „Wie in der Geschichte der Natur so giebt es auch in der Geschichte des Rechts einen Wechsel der Arten“, vgl. Brunner (Fn. 16), 19 f. 44 Kroeschell Die Germania in der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte (1989), in: ders. Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht, 1995, 89–110, 106, vermutet Amira als Urheber dieser Methode. Tatsächlich orientierte dieser sich offenbar umgekehrt am Beispiel Brunners, der nicht von ungefähr zu den wenigen zählt, die bei Amira (Fn. 23) ohne Abfertigung davonkommen (vgl. dort 19).

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blinkenden Erlös für die eigene Wissenschaft teilte Brunner bereitwillig mit: die Wissenschaft der deutschen Rechtsgeschichte werde dadurch zu nichts geringerem als zum „Ausgangspunkt für die geschichtliche Erkenntnis der Rechtszustände ganz Europas und seiner Kolonien“.45 Schon daran lässt sich erkennen, dass die rechtsgeschichtliche Forschung dieser Jahre nicht allein die biologischen Abstammungslehren abbildete. Sie war zu einem Anteil ebenfalls rechtshistorisch-verwissenschaftliches Korrelat des neue Blüten treibenden Pangermanismus,46 so wenig Präzises noch damit über die persönliche politische Haltung ihrer Vertreter gesagt ist.47 Der darwinistische Einschlag verlieh den germanischen Panoramen dabei eine wissenschaftliche Schlagkraft, die des politischen Bekennens nicht mehr bedurfte. Es erstaunt deshalb nicht, dass diese Verflechtung selbst nicht registriert, jedenfalls nicht verbalisiert wurde. Als viel erheblicher stellte sich dagegen eine andere methodische Festlegung auf gleicher Spur dar: Auch die seit der Gründungsphase der Historischen Rechtsschule stets betonte Nähe von Rechts- und Geschichts- zur Sprachentwicklung, die in der Germanistik insbesondere Jacob Grimm mit Nachdruck versehen hatte,48 erfuhr nun, durch ihre Einfassung in die biologistisch gefärbte Abstammungsvision der germanischen Rechte, eine Vertiefung. Deren Hauptmotor war Karl von Amira, der seit seiner Methodenschrift von 1875 vehement eine erneuerte Rechtssprachgeschichte einforderte.49 In seinem Gefolge setzte es sich auch in rechtsgeschichtlichen Darstellungen immer stärker durch, zu den frühen Rechtsbegriffen stets die gesamte genetisch verbundene ger45 „Bei der Stellung, welch das deutsche Recht zu seinen Tochterrechten und zu seinen Schwesterrechten einnahm, bei dem unmittelbaren oder mittelbaren Einfluß, den es auf die Rechtsbildung des Ostens ausübte, bildet die deutsche Rechtsgeschichte recht eigentlich den Ausgangspunkt für die geschichtliche Erkenntnis der Rechtszustände ganz Europas und seiner Kolonien“, Brunner Dt. RG I1 (Fn. 24), 4; die Terminolgie von Mutter- und Tochterrechten ist noch heute in der Stadtrechtsgeschichtsforschung gängiges Vokabular, sie lebt ebenfalls in der Rechtsvergleichung nach. 46 Zum Kontext dessen näher Kipper (Fn. 38), 223–227. Er hob sich von seinen Vorläufern des früheren Jahrhunderts ab, die sich ebenfalls in der juristischen Germanistik wiederfinden lassen. Vgl. ebenda, 58–61; Kroeschell Zielsetzung und Arbeitsweise der Wissenschaft vom gemeinen deutschen Privatrecht, in: Coing/Wilhelm (Hrsg.) Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Band I, 1974, 249–276, 251–253; und Schäfer Juristische Germanistik – Eine Geschichte der Wissenschaft vom einheimischen Privatrecht, 2008, 291 m.N. 47 Dies darf insbesondere betont werden, da der wissenschaftliche Pangermanismus leicht mit dem politischen Programm des Alldeutschentum identifiziert wird. 48 Grimm Über die Alterthümer des deutschen Rechts – Antrittsrede, gehalten in Berlin am 30. April 1841, in: ders. Kleinere Schriften, Band 8: Vorreden, Zeitgeschichtliches und Persönliches, 1890, 544–551, 547 f.; näher Schmidt-Wiegand Jacob Grimm und das genetische Prinzip in Rechtswissenschaft und Philologie, 1987. 49 Amira (Fn. 23), 26 ff., 40 f., und noch bei seinem Schüler Freiherr von Schwerin Einführung in das Studium der germanischen Rechtsgeschichte und ihrer Teilgebiete, 1922, 125 ff., zum idealen sprachgeschichtlichen Stammbaum.

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manische Terminologie mit anzugeben.50 Brunner schloss sich dessen analytischem Postulat an und verstand wie dieser die Sprachgeschichte als wichtigsten Nachweis rechtshistorischer Abstammung;51 mit Amira gemeinsam stieß er kurz später das Deutsche Rechtswörterbuch an, das zu einem rechtshistorisch-philologischen Großforschungswerk par excellence werden sollte und bis heute unvollendet ist.52 Den theoretischen Grundsätzen, von denen die stimmgewaltigsten Germanisten im Kaiserreich überzeugt waren, eignet noch heute ein gewisser Glanz. Das beruht auf dem erstaunlich starken Bewusstsein für Einheitlichkeit und konzeptionelle Kohärenz, mit der dieses Bild der rechtsgeschichtlichen Wissenschaft damals zusammengefügt wurde. Eine herausgehobene Rolle kam auch dafür dem wohl wichtigsten methodologischen Prinzip dieser Forschergeneration zu: ihrer viel berufenen Fokussierung auf die Erkenntnismöglichkeiten einer spezifisch juristischen, mit rechtsdogmatischer Klarheit und mit Sinn für den rechtssystematischen Zusammenhang betriebenen Geschichtsschreibung. In den 1880er Jahren rückte Heinrich Brunner auch hierbei in die Rolle eines Berliner Leitwolfs. Keine Passagen wurden in diesem Zusammenhang öfter paraphrasiert als die berühmten Wendungen, die er in Verbindung mit seiner These zur Entstehung des Lehnswesens geprägt hatte: Der Rechtshistoriker sei „bei zahlreichen Rechtsinstituten genötigt, die in den Quellen vermisste rechtliche Formulierung aus ihnen erst herauszuarbeiten“, und dennoch „darf er auf eine solche Formulierung nirgends verzichten, denn für die Rechtsgeschichte bleibt, was sie dogmatisch nicht erfassen kann, totliegender Stoff“.53 Bekanntlich war er mit dieser Einschätzung kein Einzelfall, die Begeisterung für juristische Analytik und rechtsbegriffliche Distinktion ergriff vielmehr nahezu die gesamte Riege der gefeierten germanistischen Gelehrten. In ihrer Zuspitzung war sie ein Gene50

Kroeschell (Fn. 44), 106–108. Brunner Dt. RG I1 (Fn. 24), 113 f., hier findet sich auch eines der klassischen Dikta Brunners: „Die Wörter sind die Geburtsscheine der Begriffe, die sie bezeichnen“, gemünzt freilich auf Rechtsbegriffe. Amira zeigte sich begeistert über die Verstärkung und zufrieden darüber, dass unter rechtshistorischen Germanisten nunmehr der bisherige philologische Dilettantismus endlich seiner „Alleinherrschaft entsetzt“ sei und, durch Brunner und ihn, „eine gesunde philologische Methode“ in der Rechtsgeschichte „ihren Einzug gehalten“ habe, vgl. Amira (Fn. 26), 47. 52 Zur Anfangsphase des Vorhabens eines wissenschaftlichen Wörterbuchs der deutschen Rechtssprache siehe ZRG.GA 18 (1897) 211–215, sowie Schröder Ein Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache, in: Festschrift für den XXVI. Deutschen Juristentag, 1902, 87–123; darüber auch bei Lemberg/Speer Bericht über das Deutsche Rechtswörterbuch, ZRG.GA 114 (1997) 679–697, und zum Anteil Schröders Webler (Fn. 28), 135 ff. 53 Brunner Landschenkungen (Fn. 29), 2; näher Gagnér Zielsetzung und Werkgestaltung in Paul Roths Wissenschaft, in: Gagnér/Schlosser/Wiegand (Hrsg.) FS Krause 1975, 276–450, 299 f. Wenige rechtshistorische Zitate wurden im 20. Jahrhundert durch so viele germanistische Hände gereicht wie dieses. 51

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rationenphänomen, in unterschiedlichem Maße lässt sie sich nicht nur bei Sohm oder Amira, sondern ebenso bei Gierke und vielen wieder finden,54 wobei die Einzelheiten dieses Bildes noch nicht deutlich sind.55 Sich mit einer solchen Haltung des mittelalterlichen Quellenmaterials zu bemächtigen, führte zu heute abwegigen, teils kuriosen Ergebnissen.56 Doch die rechtshistorische Germanistik des ausgehenden Jahrhunderts war fest im rechtswissenschaftlichen Positivismus der Zeit verankert. Ihre Vertreter suchten die Verheißungen der Konstruktions- und Begriffsjurisprudenz für das Bild vom Mittelalter nutzbar zu machen; ausdrücklich ordnete sich Heinrich Brunner der konstruktiven Begriffsjurisprudenz zu.57 Diese für Selbstgefühl und Ergebnisse der sogenannten Klassikergeneration der deutschen Rechts54 Aus der Literatur zu den Genannten vgl. zu Roth Böckenförde (Fn. 4), 186, und Gagnér (Fn. 53), 303–306; über Sohm, dessen „juristische Schärfe“ Brunner hoch achtete, siehe nur Brunner Volksrecht und Amtsrecht – Ein Kapitel aus der Geschichte des deutschen Rechts (1871), in: ders. Abhandlungen zur Rechtsgeschichte – Gesammelte Aufsätze, Band II, 1931, 508–514, 509, sowie Böckenförde ebenda, 192; über Schröders Haltung nun Webler (Fn. 28), 223 f. m.N.; Amiras Äußerungen zur Bedeutung rechtsdogmatischer Präzision sind bekannt, vgl. darüber schon in treuer Anhängerschaft Puntschart Karl von Amira und sein Werk, 1932, 46 f. Gierke war bekanntlich vehement jeder nur formalistischen Rechtswissenschaft, insbes. im Staatsrecht, entgegengetreten (Gierke Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 30 [1874] 153–198, 265–335, zum Kontext Rückert Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, 1988, 87–91; Haferkamp Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, 2004, 57–75). Sein privatrechtsgeschichtliches Werk war indessen nicht minder, tatsächlich je später desto stärker einem konstruktiven Darstellungsideal verpflichtet (siehe Janssen Otto von Gierkes Methode der geschichtlichen Rechtswissenschaft, 1974, 79–86; zum schon seinerzeit auch gegen ihn gerichteten Vorwurf, ein Begriffsjurist zu sein, bei Haferkamp ebenda, 58 f. m.N.). 55 Gagnérs diesbezügliche Feststellung ([Fn. 53], 306) trifft unverändert zu; die wissenschaftlichen Verständnisse der einzelnen Protagonisten wären dafür eingehend und vergleichend aufzubereiten. 56 Amira schrieb auf diese Weise „dicke Bücher über Gegenstände, die es nie gegeben hat“, wie dies Gagnér (Fn. 53), 285, auf den Punkt brachte; näher dazu Thier Zwischen Historismus und Positivismus – Das rechtsgeschichtliche Methodenprogramm des Karl von Amira, in: Landau/Nehlsen/Schmoeckel (Hrsg.) Karl von Amira zum Gedächtnis, 1999, 29–49, 47 f. Einer der wohl eigenartigsten Schauplätze, in den sich zudem kirchenpolitische Positionen einmischten, war die Debatte um die Dogmengeschichte des germanischen Ehe- und Verlöbnisrechts, in der insbesondere Sohm gegen juristisch ungenaue und weltanschaulich unbefriedigenden Meinungen focht (Sohm Das Recht der Eheschliessung aus dem deutschen und canonischen Recht geschichtlich entwickelt, 1875; ders. Trauung und Verlobung – Eine Entgegnung auf Friedberg, 1876). 57 Man möge nicht „im Streite gegen konstruktive Begriffsjurisprudenz in der Rechtsgeschichte das Kind mit dem Bade verschütten“ und „die Flucht vor dem Rechtsbegriff als methodologisches Prinzip verkünden“, so Brunner Alfred Boretius (1900), in: ders. (Fn. 54), 492–501, 501. Brunner machte sich im Zuge der durch Jhering 1884 losgetretenen Polemik um die begriffliche Methode der Jurisprudenz dessen Etikettierung also gerne zueigen. In der rechtshistorischen Mittelalterforschung stand die zeitgenössische, constructive Rechtswissenschaftlichkeit freilich besonders strahlend da, denn sie hatte zu bislang nicht gekannten, umfassenden Bildern des frühen Rechts geführt.

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geschichtsschreibung so erhebliche Haltung stand im Zuge der sich das 19. Jahrhundert hindurch verfestigenden Fixierung auf die juristische Begriffsbildung. Als eigentliche Aufgabe und Berufung der Rechtswissenschaft galt schon seit Savigny das Ziel, eine „genaue und gründliche historischen Construction“ von Rechtsbegriffen und ein inneres System juristischer Grundbegriffe zu erreichen.58 Die produktiv-konstruktive Fortentwicklung dieses Systems durch die Rechtswissenschaft prägte er schulbildend; Niederschläge davon sind bereits unter den historischen Darstellungen der germanistischen Jurisprudenz im früheren 19. Jahrhundert anzutreffen, die das rechtsbegriffliche Denken ihrer Gegenwart vielfach spiegelten.59 Modernisierendes und verrechtlichendes Denken über die Vergangenheit waren also verbreitet, in der zweiten Jahrhunderthälfte erhielt diese Neigung jedoch neue Symbolkraft und eine generalisierende Dimension. Die rechtsgeschichtliche Forschung geriet hier in den Bann der in der Rechtswissenschaft der Jahrhundertmitte erscheinenden Programme, der von Gerber, Kuntze und insbesondere Jhering energisch betriebenen Wende der Rechtswissenschaft. Ihr in emanzipatorischem Gestus auftretender Bruch mit der Rechtswissenschaft der Historischen Rechtsschule war keine Abkehr vom dominanten Weltbild der historischen Wissenschaften insgesamt. Doch er befreite die Rechtswissenschaft von der engen Verpflichtung auf die römischen Quellen und ließ den Horizont einer der Eigenlogik des positiven Rechts an sich inhärenten, potenziell zeitenthoben-autonomen Begrifflichkeit des Juristischen immer plastischer hervortreten.60 Die programmatische Emphase mochte dabei, wie oft, abrupter gewirkt haben als die tatsächliche Entwicklung vonstatten ging; in der Rechtslehre um 1850 wurden jedoch die leitbildliche Fokussierung auf juristische Konstruktion und das logische Koordinieren möglichst sauber gebildeter Rechtsbegriffe immer intensiver betont und reflektiert.61 Die Fixierung konnte, je nach einzelner Etappe innerhalb des sich nun formierenden rechtswissenschaftlichen Positivismus oder betroffenem Rechtsgebiet, zu sehr verschiedenen Ergebnissen führen, was noch heute den historiographischen Zugriff auf sie überaus schwierig 58 Savigny Methodologie (1809), in: ders. Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (hrsg. und eingeleitet von Mazzacane), 2. Auflage 2004, 215–247, 225, 227; und vgl. Mazzacane ebenda, 36 ff., sowie Rückert Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, 1984, 331–335, 373 f. 59 Überblick bei Schäfer (Fn. 46), 479–482. 60 Gerber Ueber deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft ueberhaupt (1851– 1865), in: ders. Gesammelte juristische Abhandlungen, 1872, 1–35; Kuntze Der Wendepunkt der Rechtswissenschaft – Ein Beitrag zur Orientierung über den gegenwärtigen Stand- und Zielpunkt derselben, 1856; Jhering Unsere Aufgabe, Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 1 (1857) 1–52. 61 Den Verlaufscharakter vermerkte schon Landsberg Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Dritte Abtheilung, Zweiter Halbband, 1910, 736; die Literatur hierzu ist reich, für diesen Kontext siehe insb. Gagnér (Fn. 53), 315 ff., 337 f., 432 ff.

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gestaltet.62 Sie prägte aber auch die in diesen Jahren heranwachsende Generation germanistischer Rechtshistoriker. Den maßgeblichen deutschrechtlichen Vertreter dieser rechtswissenschaftlichen Strömung, Carl Friedrich von Gerber, durch dessen Schriften die juristische Konstruktion und analytische Purifizierung auch in der Staatsrechtswissenschaft eine wachsende Rolle einnahmen,63 pflegten sie zwar mit Inbrunst zu missbilligen, war doch dessen Urteil über begrifflichen Wert und dogmatisches Niveau des Rechts der Frühzeit vernichtend ausgefallen.64 Das methodische Leitbild insbesondere Jherings war indessen – kaum expliziert, aber stets erkennbar – allgegenwärtig.65 Der rechtshistorischen Mittelalterforschung eröffnete ihre Wendung zum Darstellungsideal eines konsistenten, weitestmöglich geschlossenen System des positiven Rechts eine neuartige Projektionsfläche: Wie jedes entwickelte Recht, so musste auch das frühe deutsche Recht den Erfordernissen der zeitgenössischen allgemeinen Rechtslehre entsprechen und am überzeitlich angesetzten Bild eines autonomen Begriffs- und Funktionssystems des Rechts teilhaben; Brunner verstand seine Methodenvorgabe als selbstverständlichen Teil der neuen rechtswissenschaftlichen Strömung und sah sich im Einklang mit ihren Idealen. Dies bot zum einen treffliche Parallelen zum zeitgenössischen Triumph der Abstammungslehren,66 und dank der angenommen überzeitlichen Präsenz rechtsdogmatischer Ordnungssysteme erschlossen sich nun der rechtshistorischen Germanistik, gerade im Verbund mit den eifrig ausgebauten Stammbäumen des germanischen Rechts, neue Formen historischer Komparatistik. Innerhalb der Rechtswissenschaf62 Dazu führen schon die verschiedenen Typen an Positivismen, die sich im Rechts-, aber auch Rechtsgeschichtsdenken unterschiedlich nuanciert wiederfinden. Die zahlreichen Aspekte, die eine geschichtliche Erfassung der Begriffsjurisprudenz einzubeziehen hätte, hat am Beispiel Puchtas Haferkamp (Fn. 54), 5–24, aufgezeigt. In der Rechtshistoriographiegeschichte treten die sehr uneinheitlichen, häufig nur halbbewussten Niederschläge der sog. Historisierung der Rechtsgeschichte hinzu. 63 Kremer Die Willensmacht des Staates – Die gemeindeutsche Staatsrechtslehre des Carl Friedrich von Gerber, 2008, 192 ff., 278 ff. 64 Zu Gerbers Positionen zum mittelalterlichen Recht bereits Wilhelm Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert – Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft, 1958, 94–101. Die bekannte Bezeichnung Gerbers als „Totengräber germanistischer Rechtsanschauungen“ stammt von Brunner Das anglo-normannische Erbfolgesystem (1869), in: ders. (Fn. 54), 3–67, 3 f.; vgl. ähnlich Gierke Die historische Rechtsschule und die Germanisten – Rede zur Gedächtnisfeier des Stifters der Berliner Universität König Friedrich Wilhelm III. in der Aula derselben am 3. August 1903 gehalten, 1903, 27; über dessen Gegenpositionen zu Gerber auch Schäfer (Fn. 46), 399–402. 65 Klarsichtig bei Landsberg (Fn. 61), 916. 66 Auch Jhering wies darauf mehrfach hin, etwa Jhering Der Zweck im Recht, Erster Band, 1877, XI f.; zu ihm näher Wieacker Ihering und der ‚Darwinismus‘, in: Paulus/Diederichsen/Canaris (Hrsg.) FS Larenz zum 70. Geburtstag, 1973, 63–92, und Behrends Rudolf von Jhering und die Evolutionstheorie des Rechts, in: Patzig (Hrsg.) Der Evolutionsgedanke in den Wissenschaften – Kolloquium der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen am 9. Februar 1990, 1991, 290–310.

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ten zog dies zum anderen eine große Übertragbarkeit und die allsichtbare Modernität ihrer Ergebnisse im Zeichen des rechtswissenschaftlichen Positivismus nach sich. Für die historischen Wissenschaften schließlich trug diese Wendung der rechtshistorischen Germanistik hin zur sogenannten juristischen Rechtsgeschichte die größten Früchte in der Verfassungsgeschichtsschreibung, in der diese Denkweise weit ins 20. Jahrhundert hinein Maßstab und Provokation zugleich darstellte.67 Die mit Abstand stärkste Orientierungsfigur war dafür erneut Heinrich Brunner gewesen; er hatte sein berühmtes Diktum vom totliegenden Stoff formuliert und sodann beim die mediävistische Verfassungsgeschichte überragenden Waitz mangelnden juristischen Spürsinn und zu schwache Anlage zu präziser Dogmengeschichte nachgewiesen.68 Wie das frühmittelalterliche Recht insgesamt, so konnte nun auch das frühe Staatsrecht von diffus-politischen Einflüssen befreit, isoliert und präzise verstanden werden. Wenn Brunners vormaliger Straßburger Kollege Paul Laband seine neuen Werke zum Staatsrecht unter betonter Anwendung der juristischen Methode und zur „Befreiung der Staatsrechtswissenschaft aus den Fesseln eines politischen Doktrinarismus“ verfasste,69 so entwarf Heinrich Brunner die Staatsrechtssätze des Frühmittelalters ebenfalls im Sinne einer weitgehend machtbefreiten Rechtsdogmatik, obgleich seine Darstellung selbst der impliziten Wertungen nicht entbehrte.

III. Heute ist es eindrucksvoll, mit welch unbeirrbarer Sicherheit Brunner in nur schwer erschließbarem Gebiet die Existenz einer wohl eigengearteten, doch insgesamt kohärent-systematischen rechtlichen Normenordnung unterstellte. Neben ihm befand sich hierin eine ganze Armada bestausgebildeter Rechtsmediävisten. Ihr offenbares Verdienst ist häufig, auch von den 67 Vgl. dazu Böckenförde (Fn. 4), 177 ff., 198–202; Hannig Consensus Fidelium – Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses von Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches, 1982, 12–19; Graus Verfassungsgeschichte des Mittelalters (1986), in: ders. Ausgewählte Aufsätze (1959–1989), 2002, 213–258, 229 f.; die übliche Bezeichnung als juristische Rechtsgeschichte ist von dorther geläufig, und obgleich die Rechtsgeschichte vor der Generation Brunners keineswegs ,unjuristisch‘ gewesen war, drückt dies das Selbstbild der Protagonisten treffend aus. 68 Brunner Dt. RG I1 (Fn. 24), 23 in Anm. 31. Brunner äußerte sich im Übrigen zu Waitz, wie stets, gemäßigt, siehe auch Gagnér (Fn. 53), 297; sachlich ergänzten in diesem Punkt Brunners Thesen diejenigen von Waitz ohnehin eher, vgl. Dorn (Fn. 29), 17. 69 Laband Unsere Ziele, DJZ 1 (1896) 1–3, 1; zu ihm Pauly Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus – Ein Beitrag zu Entwicklung und Gestalt der Wissenschaft vom öffentlichen Recht im 19. Jahrhundert, 1993, 186–208; Schönberger Das Parlament im Anstaltsstaat – Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871–1918), 1997, 83–91, sowie bei Schlüter (Fn. 12), 341–344, und Kremer (Fn. 63), 289–291.

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Beteiligten unermüdlich selbst hervorgekehrt worden: Sie erbrachten Pionierleistungen für die deutsche Rechtsgeschichtswissenschaft und ermöglichten erstmals ein wirklich eingehend analysierendes Bild des mittelalterlichen Rechtswesens. Noch heute scheinen Brunners starke Quellennähe und der immer wieder gesuchte Materialbezug seinen Darstellungen zudem eine Art wissenschaftlichen Beweisvorteil zu erheischen. Freilich ist es das Signum der Rechtshistoriographie im 19. Jahrhunderts, dass neben der frappierenden Quellenkenntnis eine spiegelbildlich erstaunliche, ja ungebändigte Weite der Ausdeutungen stand, in welchen nicht hinterfragte, gegenwartsverhaftete Projizierungen das Feld beherrschten. Die eigentümliche Verflechtung dieser beiden gleichermaßen dominanten Pole erschwerte es schon den unmittelbaren Nachfolgern, in der Auseinandersetzung mit ihnen zu klaren Positionen zu gelangen. Gerade etliche Thesen aus der Feder Brunners fordern ein hohes Maß trennscharfer und subtiler Kritik, will man ihnen selbst gerecht werden. Auch heute werden sie aufgrund ihrer soliden Quellennähe von Mediävisten ebenso unbesehen übernommen wie von anderen angesichts ihrer Modernismen pauschal verworfen.70 Als echte Klassiker der Wissenschaft bestechen Brunners Werke vielerorts durch historisches Feingespür, Ideenreichtum und nicht zuletzt durch ihre ausgefeilte und glänzende Sprache; oftmals finden sich wegweisende Einschätzungen, sosehr deren rechtstechnische Überzeichnung ihre Entstehungsgeschichte verrät.71 Das große Firmament, unter welchem sich die scharfsichtigen Untersuchungen entfalten, ist indessen ausgesprochen zeitgetränkt. Schon Brunners Vorstellung von der frühmittelalterlichen Staatlichkeit, unter welcher die germanisch-deutsche Rechtsfamilie ihre spezifischen Rechtssätze ausgeformt habe, war von Beginn an eingefärbt durch die Gegenwartsdiskussion.72 Die Kontroversen um den deutschen Einheitsstaat, später das Ringen um die Rechtseinheit boten Brunner augenfällige Vergleiche und ließen ihm die fränkische Epoche als eine eminent bedeutungsvoll-aktuelle erscheinen, so sehr dies heute befremden mag.73 Doch entsprach dies der ganz herr70 Vgl. Weitzel Diplomatik und Rechtsgeschichte, Archiv für Diplomatik 52 (2006) 297–311, 300, 305. 71 Zukunftsfähig etwa war Brunners Faszination für den „tief im germanischen Geiste begründete[n] Zug, das Rechtsleben förmlich zu gestalten“, an die sich die fortdauernde Beschäftigung der rechtshistorischen Mediävistik mit dem formalen Charakter des frühen Rechts anschloss, vgl. Brunner (Fn. 8), 272; mag seine Vorstellung vom frühmittelalterlichen Gericht selbst auch einen gleichsam verrechtsstaateten Zivilprozess abbilden, siehe etwa Nehlsen-von Stryk Zum „Justizbegriff“ der rechtshistorischen Germanistik, Ius Commune 17 (1990) 189–222, 195–197. 72 Brunners bekannte Definition des mittelalterlichen Staats als „Kriegs- und Rechtsanstalt“ von „vorwiegend negativer Natur“ schon bei Brunner Das gerichtliche Exemtionsrecht der Babenberger (1864), in: ders. (Fn. 19), 3–81, 3. 73 „Der Gedanke, die Rechtseinheit im Wege der Gesetzgebung herzustellen, ist ein volles Jahrtausend alt. (. . .) Das überraschende Aufblitzen dieser Idee wirft ein helles

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schenden Deutungsweise innerhalb der zeitgenössischen Mediävistik, die sich nach dem mitreißendem Erlebnis der nationalen Reichsgründung von 1871 um Ursprungsmythen und Projektionen auf historische Vorläufer des Reichs, um Kaisergestalten und die mittelalterlichen Wurzeln für das monarchische Prinzip sammelte.74 Hier war eine geradezu bekenntnisgleiche Fixierung auf die staatliche Geschichte des Mittelalters ein Gebot nationaler Ehre,75 und es muss nicht verwundern, dass auch Brunner und die übrigen rechtshistorischen Gelehrten vom Rausch der nationalen Selbstliebe ergriffen waren.76 Das so bemerkenswerte Ansehen, über das die rechtsgeschichtliche Germanistik im Zenit seines Wirkens verfügte, wird eben auch auf den illustren Mehrwert zurückzuführen sein, den ihre Erkenntnisse für die nationalgeschichtlich-kollektive Sinnstiftung anboten. Auch innerhalb der Rechtswissenschaften traf dies zu; im Zeichen imperialen Geltungsdrangs standen die späten Vertreter der historischen Schule und Verkünder des deutschen Rechtsgedankens weit vorn in Achtung und Ansehen,77 und für die Berliner Großgewaltigen galt dies zumal. Als Gerhard Anschütz 1908 in die Berliner rechtswissenschaftliche Fakultät eintrat, fand er in Leuchtkraft und Einfluss Brunner und Gierke an ihrer „Spitze“ vor;78 in der prächtig ausgestatteten Streiflicht auf die Tragweite jener zentralistischen Tendenzen, welche im fränkischen Reiche unter Karl dem Großen herangereift waren“, Brunner Die Rechtseinheit (1877), in: ders. (Fn. 54), 361–377, 369. 74 Schieffer Weltgeltung und nationale Verführung – Die deutschsprachige Mediävistik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1918, in: Moraw/Schieffer (Hrsg.) Die deutsche Mediävistik im 20. Jahrhundert, 2005, 39–61, 48 f. 75 Etwa beim damals besonders engagierten Schäfer Das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte – Akademische Antrittsrede gehalten den 25. Oktober 1888, 1888, 23. 76 Sie waren, so lobte Wretschko Heinrich Brunner und Richard Schröder, Historische Vierteljahrschrift 18 (1916/1918) 345–351, 348, „echte Deutsche von trefflichem Charakter und edler, vornehmer Denkungsart, mannhaft und überzeugungstreu, voll Begeisterung und selbstlosem Empfinden für die Größe und Machtstellung des deutschen Volkes und die Wiedergeburt seines Rechtes“. 77 Vgl. dazu auch Landsbergs Resümee zum Jahre 1910: Die jüngste, blühende historische Richtung der Rechtswissenschaft stehe „um das Ende dieser Zeit als die einzig wissenschaftlich herrschende“ da, sie erstrecke ihrer Herrschaft sogar weiter „als ihrer Zeit die der älteren historischen Schule gereicht hatte, freilich auf Grund nunmehr weit weniger ausgeprägter Eigenart“, Landsberg (Fn. 61), 980; siehe auch den bezeichnenden Kommentar hierauf von Gierke Besprechung von Ernst Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft III/2 Hb., 1910, ZRG.GA 32 (1911) 341–365, 364. 78 „Auf meine Berliner Amtsgenossen zurückblickend, möchte ich Gierke und Brunner unbedingt dahin stellen, wohin sie gehören: an die Spitze“; beide hatten zwar „die heute geltenden Altergrenze schon überschritten; damals aber wäre niemand auf den Gedanken gekommen, diese noch auf der vollen Höhe ihrer Forschungs- und Lehrkraft stehenden Männer ihrem Beruf und der Universität durch Emeritierung zu entziehen. Es war ein Gelehrtenpaar von schlechthin imposantem Wissen und Können, zwei Herrscher im Bereich ihrer Wissenschaft“, siehe Anschütz Aus meinem Leben (1948, hrsg. und eingeleitet von Pauly), 1993, 114 f. Wie hoch man auch den Wert dieser Erinnerung ansetzt, so scheint je-

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Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Berliner Juristischen Fakultät nehmen die Germanisten eine entsprechende Stellung ein.79 Allenthalben galt Heinrich Brunner hier als herausragender Repräsentant der deutschen Rechtswissenschaft, nicht allein als Historiker. Obwohl er nicht wie Gierke laut vernehmbar zu den rechtspolitischen Debatten seiner Zeit beigetragen hatte, war er doch verschiedentlich in sie involviert gewesen und hatte mehrfach dem Deutschen Juristentag vorgesessen. Ungleich dominanter noch war seine Position innerhalb der Rechtsgeschichte. Hier wurde er im stolztragenden Kaiserreich noch zu Lebzeiten zur Legende. Brunner war „der anerkannte Meister der deutschen Quellen- und Rechtsgeschichte“,80 und in zahlreichen Publikationen, insbesondere des letzten Vorkriegsjahrzehnts, wurde nicht gespart, seine Größe mit huldvollen Worten zu bekräftigen. Können derlei feierliche Passagen heute schnell übertrieben wirken, bilden sie doch eine damalige Realität ab, denn Brunner galt nicht allein in Deutschland als der herausragende Rechtshistoriker des europäischen Mittelalters schlechthin.81 Das Berliner germanistische Seminar baute er gemeinsam mit Gierke und Zeumer zu einer Art Kaderschmiede für den akademischen Nachwuchs aus, die ein erheblicher Teil der nachkommenden Rechtshistoriker durchlief;82 doch auch Brunners übriger Einfluss auf seine denfalls an der Berliner Fakultät der sonst gewöhnliche Geltungsnachrang hinter den Romanisten nicht bestanden zu haben, die zudem lange in Mommsens Schatten standen. 79 Vgl. Die Juristische Fakultät der Universität Berlin (Fn. 1), 181 ff.; in dieser Festschrift, einer Art Poesiealbum der deutschen Rechtswissenschaft, verewigte sich Brunner übrigens mit dem unerschütterlichen Eintrag: „Die Rechtswissenschaft ist in unseren Tagen nicht populär, weil die Gerechtigkeit ein strenges Antlitz zeigt und keine Reklame macht“ (183). 80 Landsberg (Fn. 61), 908. Unter Rechtshistorikern wurde Brunner damals vor Gierke als der Erste seiner Zunft begriffen, dazu von Schwind (Fn. 36), 3, und treffend betont bei Schäfer Zwischen BGB und Schützengräben – Juristische Germanistik als Rechtsgeschichte von 1900 bis 1918, ZNR 31 (2009) 52–86, 55. 81 Dies ging mit der starken Ausstrahlungskraft der deutschen Rechtshistoriographie jener Jahre Hand in Hand. Die hiesige Wahrnehmung seiner internationalen Anerkennung fiel entsprechend pompös aus: Brunners Arbeiten seien „die Grundlagen für die Rechtsgeschichte aller Völker europäischer Kultur und sind nicht nur für uns Deutsche, sondern auch für Franzosen, Italiener und Spanier, für die Engländern und Amerikaner der Ausgangspunkt der rechtshistorischen Arbeit geworden“, siehe Heymann Zum goldenen Doktorjubiläum Heinrich Brunners, DJZ 19 (1914) Sp. 490 f. 82 Etwa Max Pappenheim, Julius von Gierke, Philipp Heck, Rudolf His, Rudolf Hübner, Hans Schreuer, Karl Rauch, Eckart Meister, Heinrich Mitteis und viele andere, ebenso waren es ausländische Schüler wie Paul Vinogradoff, Augusto Gaudenzi, Harold Hazeltine oder Georges Blondel, die durch das Berliner rechtsgeschichtliche Seminar gingen; näher Stutz (Fn. 2), XXXIII–XXXV, und Schäfer (Fn. 80), 55 f. m.N. Es muss sich dabei eher um wissenschaftliche Konferenzen als um Lehre im eigentlichen Sinne gehandelt haben, denn sofern die Seminaristen „nicht, was allerdings häufig der Fall war, schon anderwärts mehr oder weniger ausgebildet zu ihm kamen, trat er ihnen zu fertig und zu überlegen gegenüber“ – wie ohnehin die Vermittlung seines Wissens nicht Brunners erste Berufung war (Stutz ebenda, XXIII).

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Zunft ist von heute aus schwer zu überschätzen. An akademischen Ehrungen und Mitgliedschaften mangelte es nicht, er war Mitglied in der Preußischen Akademie der Wissenschaften, korrespondierend den Akademien in München und Wien assoziiert und erhielt mehrere Ehrendoktorate. Im Alter kamen Würdigungen hinzu, insbesondere die große Festschrift zu seinem 70. Geburtstag.83 Noch im Jahre 1912 erschien Brunner in Wien auf dem 31. Deutschen Juristentag und konnte genießen, vom Plenum „in erhebender Weise“84 gefeiert zu werden; 1914 schließlich gab die Berliner juristische Fakultät aus Anlass des fünfzigjährigen Doktorjubiläums ihres unverändert aktiven Mitglieds eine eigene Festschrift heraus.85 Zu dieser Zeit hatte er sich aus der schriftstellerischen Tätigkeit bereits zurückgezogen. Beinahe hätte Heinrich Brunner noch sein hundertstes Semester universitärer Lehre vollendet, jedoch musste er im Sommer 1915 seine Vorlesung vorzeitig abbrechen. Fünfundsiebzigjährig verstarb er in Bad Kissingen am 11. August 1915.

83 Festschrift für Heinrich Brunner zum siebzigsten Geburtstag dargebracht von Schülern und Verehrern, 1910. 84 Von Schwind (Fn. 36), 2 f. 85 Festschrift für Heinrich Brunner zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum am 8. April 1914 überreicht von der Juristenfakultät der Universität Berlin, 1914.

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Levin Goldschmidt (1829–1897) Levin Goldschmidt in Berlin – Eine Skizze über die Berliner Universitätsjahre 1875–1897 KARSTEN SCHMIDT I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zum Gegenstand dieses Beitrags . . . . . . . . . . . . . 2. Ein Blick auf den Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Wechsel nach Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Leben an der Berliner Universität . . . . . . . . . . . . . 1. Eingewöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorlesungstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Juristische Ausbildung und Prüfung . . . . . . . . . . . 4. Krankheit und Überforderung . . . . . . . . . . . . . . 5. Werke im Spiegel der Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Politische Enttäuschungen eines jüdischen Patrioten III. Goldschmidt heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Handelsrecht und Handelsrechtsgeschichte . . . . . . 2. Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die ZHR, oder: „GoldschmidtsZ“ . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung 1. Zum Gegenstand dieses Beitrags Levin Goldschmidt darf als der größte und wirkungsmächtigste Handelsrechtswissenschaftler deutscher Sprache im 19. Jahrhundert betrachtet werden,1 dem wohl erst im 20. Jahrhundert mit dem Basler Kollegen Karl Wieland ein im Schöpferischen ebenbürtiger – jedoch ganz und gar andersartiger – Handelsrechtler akademischen Zuschnitts2 nachwachsen sollte.3 1 Vgl. vorerst nur Scherner Die Wissenschaft des Handelsrechts, in: Coing (Hrsg.) Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Band II/1, 1977, 797. 2 Von Hermann Staub ist hier deshalb nicht die Rede; zu ihm vgl. Henne/Schröder/ Thiessen (Hrsg.) Anwalt – Kommentator – „Entdecker“, FS Staub 2006. 3 Zu Wieland vgl. Karsten Schmidt BJM (Basler Juristische Mitteilungen) 2008, 61 ff.

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Vierundzwanzig Jahre, von 1875 bis zu seinem Tod im Jahr 1897, verbrachte dieser Jahrhundertgelehrte an der Berliner Universität, fast doppelt so lange wie zuvor an der Universität Heidelberg (1855–1870). In die Berliner Zeit fällt die Arbeit an der zweiten und dritten Auflage seines „Handbuchs des Handelsrechts“4 sowie an der „Universalgeschichte des Handelsrechts“,5 allesamt tragisch unvollendete Werke, jedoch große und perspektivenreiche Entwürfe und unerschöpfliche Quellen für weitere Studien. Auch das erfolgreiche „System des Handelsrechts“6 fällt in Goldschmidts Berliner Jahre. Von diesen handelt ohne den Anspruch auf Vollständigkeit und Vertiefung die folgende Skizze als Beitrag zur Jubiläumsfestschrift der HumboldtUniversität. 2. Ein Blick auf den Lebenslauf Goldschmidts Lebensweg ist oft,7 am eindringlichsten wohl in dem Nachruf seines Schülers Max Pappenheim, geschildert worden,8 am ausführlichsten in einer lesenswerten, reich dokumentierten, ganz auf Goldschmidts Gelehrtenleben konzentrierten Monographie von Lothar Weyhe.9 Er interessiert hier vor allem mit seinem Bezug auf Berlin.10 Sohn einer Danziger Kaufmannsfamilie und in Danzig am städtischen Gymnasium zur Schule gegangen, schrieb sich Levin Goldschmidt – noch nicht achtzehnjährig – nach dem Abitur zunächst bei der medizinischen Fakultät in Berlin ein und wechselte, nachdem ein Gesetz den Zugang zu den juristischen Berufen für jüdische Bürger eröffnet hatte, in die juristische Fakultät. Goldschmidt studierte Rechtswissenschaften in Berlin, Bonn, Heidelberg und abermals in Berlin, wurde 1851 in Halle mit einer Arbeit „De societate en commandite specimen I“ promoviert und habilitierte sich im Hinblick auf die sich angesichts seiner jüdischen Konfession im Königreich Preußen immer noch türmenden beruflichen Hindernisse 1855 in Heidelberg mit „Untersuchungen 4 Goldschmidt Handbuch des Handelsrechts2, Band I 1874/1875; Band II, 1. Lfg. 1883; ders. Handbuch des Handelsrechts3, Band I, 1. Abt. 1891. 5 Goldschmidt Universalgeschichte des Handelsrechts, 1. Lfg., 1891; nachgedruckt 1973; italienische Ausgabe 1913. 6 Goldschmidt System des Handelsrechts, 1887, 2. Auflage 1889, 3. Auflage 1890, 4. Auflage 1892. 7 Vgl. Kronstein Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band I, 1971, Sp. 1750 f.; Laband Levin Goldschmidt, DJZ 1897, 296 = Adele Goldschmidt (Hrsg.) Levin Goldschmidt. Ein Lebensbild in Briefen, 1898 (im Folgenden zitiert als Lebensbild), 473 ff.; Pappenheim Levin Goldschmidt, ZHR 47 (1898) 1 ff.; Karsten Schmidt in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.) Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, 215, 216 f.; Weyhe Levin Goldschmidt, Ein Gelehrtenleben in Deutschland, 1996. 8 Pappenheim (Fn. 7). 9 Weyhe (Fn. 7). 10 Der folgende Passus wiederholt teilweise die Ausführungen des in Fn. 7 angeführten Werks des Verfassers.

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zur l. 122 § 1 D. de V.O. [Dig. 45, 1, 122, 1]“. Nach langen erfolgreichen Jahren als Privatdozent, außerordentlicher und schließlich ordentlicher Professor der Ruperto Carola11 und mehrjähriger Arbeit im Reichsoberhandelsgericht in Leipzig12 wurde er im Jahr 1875 nach Berlin auf den ersten rein handelsrechtlichen Lehrstuhl in Deutschland berufen. Hier wirkte er von 1876 bis zu seinem Tode im Jahr 1897. Die posthum herausgegebenen Briefe zeugen von den ebenso entschlossen vollzogenen wie zugleich schmerzhaft durchlittenen Entscheidungen zum Wechsel von Heidelberg nach Leipzig und von Leipzig nach Berlin, was zugleich bedeutet: aus der akademischen in eine richterliche und aus der richterlichen zurück in eine akademische Tätigkeit, immer jedoch begleitet von politischen Aktivitäten und Freundschaften mit bedeutenden Köpfen seiner Epoche. 3. Der Wechsel nach Berlin Goldschmidt hatte mehrfachen Grund, Leipzig gegen Berlin und die Richtertätigkeit gegen das Leben als politisch einflussreicher Ordinarius einzutauschen. Durch die Richtertätigkeit stark in der wissenschaftlichen Entfaltung gehindert,13 obendrein – eine „schwere Kränkung“14 – bei der Besetzung der Ersten BGB-Kommission trotz demonstrativen Kodifikations-Engagements übergangen,15 konnte es diesen prominenten Richter nicht dauerhaft am Reichsoberhandelsgericht halten. Bemerkenswerterweise hatte er drei Jahre zuvor einen romanistischen Lehrstuhl an der Berliner Universität abgelehnt, der allerdings die Pflege des Handelsrechts gleichsam nur im Nebenfach zugelassen hätte.16 Doch 1874 wurde ihm nach dem Tod seines vormaligen Lehrers Heydemann eine eigens auf seine Person hin eingerichtete, rein handelsrechtliche Professur angeboten, und diesem Ruf entzog er sich nicht.17 Das ging einher mit seinem Ausscheiden aus dem Reichsoberhandelsgericht,18 aber auch mit seiner Wahl in den Reichstag als Nachfolger des Leipziger Bürgermeisters Stephani.19 Goldschmidt hielt aus diesem Anlass eine lesenswerte, nationalliberal getön11 Dazu Landwehr in: Semper Apertus, 600 Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Band II, 1985, 61, 73 ff.; Weyhe (Fn. 7), 62 ff. 12 Dazu ausführlich Weyhe (Fn. 7), 92 ff.; das spätere Reichsoberhandelsgericht war vor der Reichsgründung zunächst Bundes-Oberlandesgericht des Norddeutschen Bundes. 13 Dazu Weyhe (Fn. 7), 99 f. 14 Brief an Prof. Fitting vom Juli 1874, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 366. 15 Dazu Weyhe (Fn. 7), 107 ff. 16 Weyhe (Fn. 7), 120. 17 Weyhe (Fn. 7), 120 f. 18 Weyhe (Fn. 7), 121. 19 Weyhe (Fn. 7), 121.

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te Rede in der Centralhalle zu Leipzig.20 Den persönlichen Wechsel erklärte er in dieser Rede mit den folgenden Worten: „Ich habe das alles aufgegeben, wie ich vor 5 Jahren eine nach langen Mühen in schwerer Arbeit erkämpfte sehr befriedigende Stellung als Lehrer an der Universität Heidelberg verlassen habe. Ich that dies, weil ich es für meine Pflicht hielt, dem Rufe des deutschen Reichs an das neu errichtete oberste Gericht zu folgen, und so verlasse ich jetzt Leipzig lediglich aus dem Grunde, weil ich mir eine Lebensaufgabe gestellt habe, die, einen erheblichen Theil unsers Rechts wissenschaftlich zu pflegen und fortzubilden; und weil ich dieser Aufgabe in meiner gegenwärtigen Stellung nicht in ausreichendem Maße nachzukommen vermag. Aus diesem Grunde folge ich einem Rufe an die Universität Berlin, wo man mir ohne Wunsch und Zuthun von meiner Seite eine entsprechende Stellung durch Errichtung eines neuen Lehrstuhls entgegengetragen hat, nachdem ich in fünfjähriger Thätigkeit meiner Pflicht gegen das Reich genügt zu haben glaube. Ich werde also genötigt sein, in Zukunft in einer anderen Stadt zu leben. Es hat mich wahrlich nicht der Glanz der Reichshauptstadt, noch irgend ein Zuwachs an äußeren Ehren und Würden gelockt, sondern lediglich die Ueberzeugung, daß ich so handeln müsste, um mir selbst gerecht zu werden.“

II. Leben an der Berliner Universität 1. Eingewöhnung Goldschmidts Briefe – in der Mehrheit an die Professorenfreunde Stobbe und Fitting gerichtet – lassen in dieser Phase Persönliches aufscheinen: Ihn beschäftigt die „beinahe 1½ Wochen“ dauernde Wohnungseinrichtung, die „da ich selbst nicht auf der Leiter stehen konnte“ zunächst nur provisorische „Anordnung meiner Bücher“.21 Er freut sich über „insgesamt freundlich entgegen“ kommende Kollegen,22 obwohl es doch „schwer genug“ für das Ehepaar sei, „sich aus alten Beziehungen loszureißen und eine Art Häutung durchzumachen, wenigstens für so schwerfällige Naturen, wie wir es sind“.23 Es überwiegt jedoch in den Briefen der für Levin Goldschmidt charakteristische Berufsernst.

20 Rede des Reichstagsabgeordneten Dr. Goldschmidt, gehalten am 24. Mai 1875 in der Centralhalle zu Leipzig, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 371 ff. 21 Brief an Stobbe vom 27.7.1875, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 384. 22 Brief an Stobbe vom 30.10.1875, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 385. 23 Brief an Stobbe vom 30.10.1875 (Fn. 22).

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2. Vorlesungstätigkeit Im Oktober 1875 begannen die Vorlesungen24 des „doch sehr aus der Übung“ Gekommenen,25 vor allem im Handelsrecht, das ihn bald „in ein größeres Auditorium umzuziehen“ veranlasste.26 Drei Jahre später, nach einer gesundheitlich schweren Periode, klingt aus einem Brief an seinen Kollegen Fitting in Halle nachgerade Optimismus:27 „Ich habe die Freude, in meinem Handelsrecht gegen 260 Inscriptionen zu haben, so daß das Lebensziel, diesen Lehrzweig unter die Hauptdisciplinen des juristischen Unterrichts zu bringen, glücklich und über Hoffen erreicht ist. Ein Gleiches suche ich jetzt hinsichtlich der Civilrechtspractica zu erzielen, auch hier hoffe ich mit der Zeit guten Erfolg, zumal der Beginn – etwa 50 Zuhörer – sich nicht schlecht anläßt.“ Und nach nochmals drei Jahren, diesmal gerichtet an Stobbe:28 „Die Vorlesungen habe ich unter starker Betheiligung am 24. Oktober begonnen und ich finde, daß es sehr gut und frei geht; gestern fing ich auch mit seminarartigen Uebungen im Hause an, vorwiegend für Handelsrechtsgeschichte; doch ist hier die Auswahl der Quellen schwierig.“ Oder:29 „Mit meinen Vorlesungen bin ich recht zufrieden. Im Handelsrecht habe ich cirka 250 Zuhörer – etwas weniger als vor 2 Jahren, aber doch noch recht viel; in den abendlichen Uebungen zu Hause lese ich jetzt das Wisby’sche Seerecht, das mir und den Theilnehmern viel Freude macht.“ Dass Goldschmidt bei der Vorlesungstätigkeit auch neue, vor allem der Methodenlehre zugewandte Wege zu gehen begann, zeigen Briefe des Jahres 1882. Da heißt es zunächst:30 „Nächsten Sommer will ich eine lange zurückgestellte Vorlesung über die Encyclopädie wieder aufnehmen, von welcher ich einen gewissen fördernden Einfluß auf die ganze Methode des rechtswissenschaftlichen Studiums erhoffe und in früheren Jahren erprobt habe.“

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Brief an Stobbe vom 30.10.1875 (Fn. 22). Brief an Stobbe vom 30.10.1875 (Fn. 22), 386. Brief an Stobbe vom 30.10.1875 (Fn. 22), 386. Brief an Fitting vom 12.1.1878, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 407. Brief an Stobbe vom 3.11.1881, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 438,

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Brief an Stobbe vom 20.12.1881, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 440. Brief an den Neffen Oscar Goldschmidt vom 5.2.1882, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 442, 443. 30

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Goldschmidt freut sich, dass die von ihm abgehaltenen Übungen „immer mehr einbringen“ und doch „die beste Schule eigner Arbeit bilden“.31 An Stobbe schreibt er im Sommer 1882:32 „Ich befinde mich, bei großer Schonung der Nerven, d.h. bei Arbeitsbeschränkung – im Ganzen gut, bringe aber freilich auch wenig vorwärts. Meine Vorlesungen – unter denen ich die Encyclopädie seit etwa 14 Tagen wieder aufgenommen habe – kosten mehr Zeit als erwünscht, zumal die Betheiligung an der Encyclopädie unerwartet gering, richtiger noch geringer ist, als ich erwarten durfte. Freilich ist das Kolleg wenig Mode – zumal hier – wird auch von mir das erste Mal gelesen, und ich darf hoffen, es bei rechtem Ernst und mehr Methode als hergebracht zu sein scheint, allmählich auch hier einzubürgern. Gewisse wichtige Fragen lassen sich schließlich doch nur hier erledigen, und es wäre dringend wünschenswerth, daß die Darstellungen der einzelnen Disziplinen, die eigentlich propädeutischen und durchaus allgemeinen Lehren möglichst der Encyclopädie überlassen würden: ich meine insbesondere auch die allgemeine Theorie der Rechtsquellen.“ 3. Juristische Ausbildung und Prüfung Bemerkenswert ist die in den Berliner Jahren intensive Befassung Goldschmidts mit Fragen der juristischen Ausbildung.33 Goldschmidt nahm erstmals als Prüfer am ersten Staatsexamen teil und wurde in die preußische Kommission für juristisches Studien- und Prüfungswesen“ berufen.34 In dieser sah er jedoch seine Vorstellungen einer Totalreform nicht aussichtsreich vertreten. Hierin lag der Grund für sein baldiges Ausscheiden aus der Kommission, das er durch folgendes Schreiben anzeigte:35 „Hierdurch erlaube ich mir Ew. Hochwohlgeboren die ganz ergebene vertrauliche Mittheilung zu machen, daß ich nächster Tage mein Mandat als Mitglied der für juristische Studien- und Prüfungswesen eingesetzten Kommission in die Hände der beiden Herren Minister zurücklegen werde. Ich halte es für meine Pflicht, ungehindert durch ein derartiges ohnehin längst 31 Brief an Oscar Goldschmidt vom 30.4.1882, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 443, 444. 32 Brief an Stobbe vom 18.5.1882, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 444, 445. 33 Z.B. Goldschmidt Das dreijährige Studium der Rechts- und Staatswissenschaften, 1878; ders. Rechtsstudium und Prüfungsordnung, 1887; ders. Noch einmal Rechtsstudium und Prüfungsordnung mit besonderer Rücksicht auf den praktischen Vorbereitungsdienst, 1888, in: ders. Vermischte Schriften, Band I, 1901, 575 ff. 34 Weyhe (Fn. 7), 131. 35 Schreiben bei Niederlegung des Mandats als Mitglied der Kommission für juristisches Studien- und Prüfungs-Wesen vom 6. Mai 1890, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 462.

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nominelles Kandidat, eine Lebensaufgabe zu verfolgen, welcher ich Jahre strenger Arbeit zugewendet habe: die wirklich ernste Reform des juristischen Prüfungs- und praktischen Vorbereitungswesens. Ueber die völlige Aussichtslosigkeit in den Schranken reglementarischer Anordnungen sich bewegender Bestrebungen habe ich mich zu keiner Zeit getäuscht, zumal die Auffassung des Herrn Kommissars des Justizministeriums ausreichend bekannt war und in den Kommissionssitzungen drastisch genug hervorgetreten ist.“ Goldschmidts Bild der juristischen Ausbildung war, obwohl gekrönt durch ein Staatsexamen, ein durch und durch akademisches.36 Die damals für Preußen geltende Aufteilung – vierjähriges Referendariat nach dreijährigem, bei Anrechung der Militärzeit nur zweijährigem Studium – galt ihm als ein Grund dafür, „dass der Prozentsatz der nahezu völlig unwissenden Studierenden, welcher sich...gleichwohl mit Mühe und Noth durch die Examina ‚trichtern‘ lässt, . . . gestiegen ist“.37 Deshalb verlangte Goldschmidt „am Schlusse der Universitätsstudien eine strenge, durch sachverständige Examinatoren abgehaltene Prüfung“,38 meinte allerdings auch, „dass . . . ein noch so ausgezeichneter preussischer Richter, Anwalt, Verwaltungsbeamter, von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, ausser Stande ist, ein wissenschaftliches und gründliches Examen . . . abzuhalten . . . und dass dieses, trotz aller anerkennenswerthen Bemühung der trefflichen Männer gar nicht anders sein kann“.39 Uns Heutige beschäftigt der Streit um die Staatsprüfung und um das Verhältnis von akademischer und praktischer Ausbildung unter ganz anderen als den damaligen Gesichtspunkten. Seinen Grund dürfte der Wechsel der Akzente darin haben, dass das Studium inzwischen in einem für Goldschmidt gewiss nicht voraussehbaren – in den Augen vieler heutiger Betrachter freilich noch unzureichenden – Maß an Praxisbezug gewonnen, aber wohl auch an wissenschaftlicher Tiefe verloren hat. Ausländische Vorbilder sollten uns heute daran erinnern, dass sich die Universitätsausbildung neben ihrer Vorbereitungsaufgabe auch auf ihre akademische Sendung besinnen sollte: auf das, was weder im Berufsleben noch in dieses begleitenden Kurzseminaren nachgeholt werden kann.40 An seinen Neffen schreibt Goldschmidt im Februar 1882:41 36 Vgl. zum Folgenden Karsten Schmidt in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Fn. 7), 215, 225. 37 Goldschmidt Vermischte Schriften (Fn. 33), 601. 38 Goldschmidt Vermischte Schriften (Fn. 33), 614. 39 Goldschmidt Vermischte Schriften (Fn. 33), 615 f. 40 Karsten Schmidt Juristenausbildung: zu akademisch? Eine scheinbar unzeitgemäße Betrachtung, Forschung & Lehre, Heft 11/2008, 32. 41 Brief an den Neffen Oscar Goldschmidt vom 5.2.1882, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 442 ff.

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„Daß ich von der 4jährigen Referendariatszeit nichts halte und statt derselben ein längeres Universitätsstudium für unerläßlich erachte, ist Dir ja bekannt. Alle persönlichen Erfahrungen, auch der letzten Zeit, bestärken mich in dieser Ueberzeugung, welche vielleicht auch einmal durchdringen wird. Der Ausfall der ersten Staatsprüfung ist zum Theil erschreckend; wiederholt habe ich gefunden, daß sogar die Grundlagen des gemeinen Privatrechts und der Rechtsentwicklung nahezu allen Kandidaten völlig unbekannt waren, und daß die Fleißigsten darunter nicht viel mehr als eine todte Masse von unverstandenen Einzelheiten oder Gesetzesparagraphen wußten. Erst vor wenigen Wochen hat eine Staatsprüfung, in welcher ich fast nur Römisches Recht fragte, mich auf Tage verstimmt. Denn wenn ich selbst mich mit Ernst bemühe, in meinen Vorlesungen mein Bestes zu geben, und Gleiches ja auch von meinen Kollegen voraussetze, so muß ich mir immer nach solchen Erfahrungen die Frage vorlegen, ob die darauf verwendete sehr große Arbeit auch nur irgend entsprechende Frucht bringt.“ 4. Krankheit und Überforderung Aber Goldschmidt war in gesundheitlich anfälliger Verfassung nach Berlin gelangt.42 Schon aus dem Jahr 1876 schreibt er an Fitting:43 „Seit mehr als 6 Monaten bin ich nahezu arbeitsunfähig; eine lange Reise in Italien, dann in der Schweiz hat augenblickliche Erfrischung gebracht, aber schon jetzt bemerke ich wieder eine Erschlaffung, welche mich zur äußersten Beschränkung meiner Arbeit zwingt, derart, daß ich ganz zufrieden bin, wenn ich meine Vorlesungen durchzuführen vermag. Sogar meine längst vorbereiteten geschichtlichen Untersuchungen, von welchen ich manche Aufklärung erwarten durfte, habe ich zurückstellen müssen und ich werde nun, wenngleich nicht ohne persönliches Bedauern, mich an der, vermuthlich auf gleichen Studien beruhenden, Arbeit Lastig’s erfreuen. Die Hoffnung, einmal wieder etwas Ordentliches zu leisten, möchte ich noch nicht aufgeben, aber die letzte Vergangenheit war sehr böse und die Zukunft liegt dunkel vor mir.“ . . . und an Stobbe in einem Brief vom selben Tag:44 „Am 25. will ich meine Vorlesung beginnen, und auch vom Reichstage, wie sehr ich das wünschte, werde ich mich nicht gänzlich fernhalten können. Der Versuch muß noch einmal gewagt werden und es ist ja immerhin möglich, daß mein Zustand sich allmählich wieder bessert.“

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Näher Weyhe (Fn. 7), 127 ff. Brief an Fitting vom 22.10.1876, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 395. Brief an Stobbe vom 22.10.1876, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 396.

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Kummer bereitete Goldschmidt, so war er nun einmal, das Nebeneinander der von ihm übernommenen Aufgaben.45 „Ich genügte mir weder in der einen noch in der anderen Thätigkeit, konnte mich keiner und konnte mich den Menschen nicht mit rechter Frische hingeben, wurde immer unzufriedener und verschlossener, gedankenloser und unthätig. Jetzt bin ich endlich dahin gelangt, an mir und an jeder Leistungsfähigkeit in irgend einem Gebiet vollständig zu zweifeln, scheue vor dem geringsten Denken zurück und weiß nicht, ob auch nur meine Vorlesungen sich zur Noth fortführen lassen. – Ich sitze stundenlang um eine juristische Formulirung für landläufige Dinge zu finden, bis mir der Kopf schmerzt und ich die nutzlose Mühe aufgebe. Das ist freilich nicht allein nervöse Abgespanntheit, sondern es rächt sich an mir jetzt der Mangel an strenger Methode und die unglaublichen Lücken meines Wissens auf allen auch juristischen Gebieten, sogar im Handelsrecht, scheinen mir völlig unausfüllbar.“ Und kaum später:46 „Die Ueberzeugung, daß ich meinem gegenwärtigen Berufe in keiner Weise gewachsen bin, will nicht weichen und zu irgend welcher Arbeit, ausgenommen der nothwendigen und mühsamen Vorbereitung auf die Vorlesung, bin ich völlig außer Stande.“ Selbst der so optimistisch anhebende Bericht von 1878 über Vorlesungserfolge schließt er mit den Worten:47 „Meine Arbeitskraft ist freilich erheblich beschränkter, als früher, ich muß mich sehr vor Kopffschmerzen und irgend welcher geistigen Anstrengung hüten, thue es auch.“ 5. Werke im Spiegel der Briefe Trotz der sich mehrenden und zu chronischen Einschränkungen führenden Rückschläge sind Goldschmidts Berliner Jahre eine Periode großen Erfolgs. Das Schriftenverzeichnis der Berliner Jahre weist trotz nachlassender Gesundheit des Verfassers, wenn man Buchrezensionen und Vorträge einbezieht, noch eine dreistellige Zahl an Titeln auf.48 Goldschmidt konnte sich weiter, ja internationaler Anerkennung seines Wirkens gewiss sein. Die Briefe spiegeln häufig den Ernst seines Arbeitsalltags wider, z.B. 1881 an Stobbe:49 45 46 47 48 49

Brief an Stobbe vom 2.1.1876, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 388 f. Brief an Stobbe vom 20.2.1876, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 390. Brief an Fitting vom 12.1.1878 (Fn. 27). Aufzählung bei Weyhe (Fn. 7), 561 ff. Brief an Stobbe vom 26.12.1881, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 440 f.

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„Augenblicklich stecke ich bei meinem Handbuch, und zwar in der Besitzlehre, das constitutum possessorium beschäftigt mich stark. Ich werde energisch die ältere Theorie vertreten, gegen die neueren weit auseinandergehenden Theorien, welche draus ein Causalgeschäft machen wollen, de lege lata unrichtig, de lege ferende schwerlich förderlich; möglicher Weise muß ich die Sache in einer besonderen Abhandlung darstellen, da mein Handbuch für eine quellenmäßige Entwicklung keinen Raum bietet . . . Meine Abhandlung über die Genossenschaft habe ich Ihnen nicht zugeschickt, da ich Sie im Besitz der Zeitschrift weiß. Ich selbst möchte einiges Gewicht auf die Arbeit legen, auch für eine Reihe allgemein wichtiger dogmatischer Fragen, welche früher nicht sorgfältig genug behandelt sind. Ob es mir gelungen ist, einestheils meine aufrichtige Verehrung für die vortrefflichen Leistungen Schulze-Delitzsch’s auf dem Gebiet der praktischen Organisation entsprechend auszudrücken, anderentheils die nicht lediglich juristische Schwäche seines bisherigen Standpunktes genügend darzulegen, werde ich ja wohl aus der Aufnahme der Schrift ersehen. Die Legislatoren, wie Pape, v. Schelling u.A. scheinen sehr befriedigt, von Theoretikern und Genossenschaftspraktikern habe ich noch nichts darüber erfahren.“ Der Zivil- und Handelsrechtler Goldschmidt schreibt 1884 an Fitting:50 „Ich habe diesen Winter scharf gearbeitet, eine civilistische Monographie über den Besitz vollendet, von der ich mir mannigfache Klärung verspreche, nicht allein gegen Jhering, sondern auch gegenüber Bekker u.U., sowie erhebliche Berichtigungen gegen Savigny u.s.s. – Auf die beliebten Themata der Besitzklagen und vieles Andere gehe ich garnicht ein, dagegen um so mehr auf gewisse Grundfragen. Augenblicklich arbeite ich an Grundzügen einer Universalgeschichte des Handelsrechts für die 3. Auflage von Band I des Handbuchs, doch sollen sie auch besonders erscheinen; ein Theil ist bereits gedruckt (Alterthum), das Mittelalter bereitet freilich sehr große Schwierigkeiten – weniger das Spezielle (Italien u. dgl.) als die allgemeine Germanische Grundlage.“ 6. Politische Enttäuschungen eines jüdischen Patrioten Goldschmidt war ein jüdischer Patriot, ein Konservativer, der den Krieg 1870/1871 und die Reichsgründung mit hohen Erwartungen verfolgt hatte.51 Erfüllt sah er diese Erwartungen am Ende nicht. So schreibt er im Jahr 1881:52 50

Brief an Fitting vom 28.2.1884, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 447,

448. 51 52

Eingehend Weyhe (Fn. 7), 97. Brief an Stobbe vom 3.11.1881 (Fn. 28).

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„An der Politik habe ich mich nur als Wähler aktiv, im Uebrigen mit Ingrimm und wachsender Erbitterung über die Niederträchtigkeit der Regierungsmanöver, die Servilität der s.g. Konservativen und gar ‚Freikonservativen‘, die zunehmende Korruption und Verwilderung des Staats- und Parteilebens passiv betheiligt. Fallen die Stichwahlen nach Wunsch aus, was ich freilich immer noch bezweifle, so ist ein Einlenken Bismarck’s denkbar; anderenfalls bringt er dem Centrum noch mehr als sacrifizii dell’intelletto, er wirft ihm, glaube ich, für das Tabacksmonopol die Schule in den Rachen. Im Uebrigen erwartet er die Heilung der ‚chronischen Krankheit‘ von der ‚Deutschen‘ Jugend zu Leipzig. Soweit sind wir glücklich im elften Jahre des Deutschen Reichs gelangt.“ Auch der persönliche Ehrgeiz – Goldschmidt zeigte sich in seinen Lebensäußerungen überaus ehrgeizig – muss Enttäuschungen hinnehmen. Schon die Ablehnung einer erneuten Kandidatur zum Reichstag scheint Gründe gehabt zu haben, die mit physischer Erschöpfung allein nicht zu erklären sind.53 Aber sicherlich hätte er gern als gelehrter Berater in den Kommissionen der Reichsgesetzgebung gewirkt. Seine Berliner Jahre – er starb im Jahr der Verabschiedung unseres Handelsgesetzbuchs – umfassen eine Epoche großer Gesetzgebungstätigkeit: Zivilprozessordnung,54 Konkursordnung,55 Gesetz über die Freiwillige Gerichtsbarkeit,56 ADHGB-Reform 1884 als wegbereitende Vorarbeit für das gegenwärtige Aktienrecht,57 Bürgerliches Gesetzbuch58 und HGB,59 also die das nächste Jahrhundert dominierenden Kodifikationswerke, entstanden in dieser Zeit. Goldschmidts Anteil an diesem Kodifikationsgeschehen war, gemessen an seiner herausragenden akademischen und politischen Stellung, nicht groß, mit Ausnahme ausgerechnet des Genossenschaftsgesetzes und der Konkursordnung.60 Seine Hoffnung, an dem Jahrhundertwerk BGB unter Einschluss des neuen HGB aktiv teilzuhaben, erfüllte sich nicht.61 Mehr noch als die Rechtspolitik war es aber die politische Gesellschaft bis hinein in seine persönliche Umgebung, die ihm schmerzhafte Sorgen berei53

Näher Weyhe (Fn. 7), 126 f. Zur Geschichte der ZPO von 1877 vgl. Schubert Entstehung und Quellen der Civilprozessordnung von 1877. 55 Vgl. Thieme in: FS 100 Jahre Konkursordnung 1977, 35 ff. 56 Vgl. Wacke Zur Geschichte der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, DNotZ 1988, 732 ff. 57 Dazu Schubert/Hommelhoff Hundert Jahre modernes Aktienrecht, 1984. 58 Zu den Kommissionen vgl. Schubert in: Jakobs/Schubert (Hrsg.) Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Band I, Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB, 1978, 27 ff. 59 Dokumentation bei Schubert/Schmiedel/Krampe (Hrsg.) Quellen zum Handelsgesetzbuch von 1897, Band I, 1986. 60 Dazu Weyhe (Fn. 7), 173; allerdings war Goldschmidt auch Mitglied der Sachverständigenkommission für die Aktienrechtsreform 1884. 61 Dazu Weyhe (Fn. 7), 173. 54

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tete. Zu Goldschmidts Freundeskreis hatte neben Persönlichkeiten wie Beseler, Binding, Curtius, Gustav Freytag, Helmholtz, Herrmann, Mommsen, Stobbe und Windscheid sowie den Verlagsbuchhändlern Hirzel und Härtel bis 1881 Heinrich von Treitschke gehört.62 Treitschke, 1868 in einem Brief Goldschmidts an seine Frau als „ganz prächtiger Mensch“ beschrieben, unter Hervorhebung seiner „Fülle tiefer und feiner Gedanken mit überströmender Beredsamkeit..., dabei schlicht und einfach, voll tiefster Überzeugungstreue“,63 hatte im Jahr 1880 mit der Publikation seiner Kampfschriften zur Judenfrage begonnen64 und dadurch namentlich unter Studenten eine Welle des Antisemitismus ausgelöst. Voller Besorgnis schreibt Goldschmidt im Dezember aus Syrakus an Stobbe:65 „Von den Deutschen Ereignissen zieht selbstverständlich der Gang der unseligen Antisemitenbewegung, welche nun auch, wie es scheint, unter Treitschke’s schwerer Mitschuld, die Studentenschaft vergiftet, mein Interesse auf sich. Da ich Ihre Stellung zur Sache kenne, so weiß ich auch, daß Sie die Berliner Erklärung als eine wohlthätige Reinigung der schwülen Atmosphäre begrüßt haben, und daß Sie mehr als alles Andere die studentischen Verirrungen verurtheilen werden. Wohin soll es führen, wenn gerade in die gebildetste und in Zukunft gar zur Leitung der Gesellschaft bestimmte Jugend dieser thörichte Racen- oder Konfessions- oder Kapital-Haß hineingetragen wird.“ Doch er ließ noch ein halbes Jahr ins Land gehen, bevor er die Freundschaft mit Treitschke mit einem vielzitierten, hier nur ausschnittweise wiederzugebenden Brief aufkündigte:66 „. . . obwohl nicht Historiker, glaube ich, daß gerade der Geschichtsforscher, welcher Wesentliches und Zufälliges zu scheiden versteht, welcher den Ursachen des komplicirten Werdeprocesses mit Unbefangenheit und Ruhe unter voller Beherrschung des Materials nachforscht, zu völlig anderen Ergebnissen gelangen muß, als den von Ihnen gewonnenen. Nur auf zwei Wegen kommt man, meines Erachtens, darüber hinweg: entweder indem man die Quellen des Uebels in der Unvollkommenheit, ja vielleicht Verkehrtheit der religiösen Anschauung der Juden findet, sie somit als Mitglieder einer schlechten Religionsgenossenschaft für unverbesserlich erklärt 62 Zum Folgenden bereits Karsten Schmidt in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Fn. 7), 215, 217 f. 63 Brief an Adele Goldschmidt vom 9.11.1868, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 313. 64 Vgl. nur Treitschke PreußJb. 45 (1880) 85 ff., 224 f.; 46 (1880) 661 ff. (Replik auf die Entgegnung von Mommsen). 65 Brief an Stobbe aus Syrakus vom 7.12.1880, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 424, 426. 66 Brief an Treitschke vom 4.5.1881, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 432 ff.

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– oder indem man diese Quelle in der Race, der ursprünglichen Nationalität, erblickt. Sie scheinen wesentlich die zweite Anschauung zu vertreten, nur daß Sie eine mehr oder minder große Zahl von Ausnahmen zugeben. Dem gegenüber betone ich als völlig unannehmbar, daß jedes Mitglied der an sich schlechten Race oder Religionsgenossenschaft sich als einen ausnahmsweise ordentlichen Menschen legitimiren müßte. Ich finde in dieser Unterstellung den denkbar schwersten Angriff gegen die rechtliche wie gesellschaftliche Gleichstellung der Staatsbürger, – noch schlimmer, weil die Vorwürfe, die Sie erheben, wesentlich dem Sittlichkeitsgebiet angehören . . . Der in Ihrem Sinne augenscheinlich schwerste Vorwurf ist der des mangelhaft entwickelten Staatsgefühls und Patriotismus. Zum Theil hängt ein gewisser Mangel der Art mit dem überwiegenden Kaufmannsthum zusammen, zum Theil erklärt er sich sehr genügend aus der ursprünglichen Rechtslosigkeit, dann Zurücksetzung. Die Holländischen, Französischen, Italienischen Juden sind selbstverständlich von einer älteren und intensiveren Liebe für ihren Staat erfüllt, weil er ihnen schon seit Menschenaltern ein menschenwürdiges Dasein und volle Entwickelungsfreiheit garantirt. Daß in Deutschland der Patriotismus sich schwer entwickeln konnte, daß eine Neigung zum kosmopolitischen Platz griff, wenn draußen die Freiheit, drinnen nur Knechtschaft oder Zurücksetzung zu finden war, ist begreiflich genug. Und dennoch hat in der kurzen Spanne Zeit, in welcher die staatsbürgerlichen Rechte der Juden anerkannt sind, ihre Vaterlandsliebe so mächtige Fortschritte gemacht, daß nur durch eine rückläufige Strömung auch hierin eine Abschwächung eintreten kann. Nur durch volle rückhaltlose Gleichberechtigung, welche wir übrigens keineswegs, wie Sie meinen, als Geschenk oder als Wohlthat entgegennehmen, sondern auf welche wir sittlichen, wie rechtlichen Anspruch haben, – können sich die Schäden, welche Jahrtausende voll Druck und Schmach einer ganz edeln Race eingeprägt haben, ausgleichen . . .“ Goldschmidt hat in der Folge versucht, sein Ansehen und seine Kontakte für diese Sache zu verwenden. An Bismarck, den er privat eines „rücksichtslosen Dilettantismus“ gescholten hatte,67 schreibt er sechs Jahre später:68 „Daß ich in einzelnen, glücklicherweise untergeordneten Punkten der Auffassung Eurer Durchlaucht nicht beizutreten vermag und daß einzelne meiner Erörterungen speciell auf meine Glaubensgenossen berechnet sind, 67 Brief an Stobbe vom 8.4.1881, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 430, 431: „Jhering fand ich äußerst frisch, sprudelnd und voller geistreicher Einfälle, doch ehrlich gesagt, geistig kaum gewachsen; alle seine neuen Gedanken erschienen mir kaum halbwahr und wesentlich Ausflüsse eines rücksichtslosen Dilettantismus à la Bismarck. Die Naturen sind merkwürdig verwandt.“ 68 Brief an Bismarck vom 20.2.1887, in: Adele Goldschmidt, Lebensbild (Fn. 7), 452.

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wird Eurer Durchlaucht nicht entgehen. Ich hege die feste Ueberzeugung, daß dieser in seiner wirtschaftlichen wie in seiner geistigen Bedeutung nicht zu unterschätzende Theil der Bevölkerung in sehr zahlreichen Mitgliedern der Fahne der staatserhaltenden Parteien folgen wird, wenn die kopflose und mit verwerflichsten Mitteln geführte antisemitische Agitation ein Ende findet. Nicht zur Rechtfertigung, aber doch Erklärung des bisherigen Verhaltens derselben gestatte ich mir darauf hinzuweisen, daß die Juden Preußens vor noch nicht 20 Jahren in den Vollbesitz der ihnen in anderen Kulturstaaten, vornehmlich in Frankreich und in England, längst gewährten staatsbürgerlichen Rechte gelangt sind, daß sie eben darum an ein sicheres Staatsbewußtsein oder gar ein festes nationaldeutsches Bewußtsein noch nicht ausreichend gewöhnt sind, daß gerade die Strebenden unter ihnen durch die lange Unterdrückung eben in Deutschland genöthigt waren, die Heilung ihrer trostlosen Zustände von dem Siege radikaler und kosmopolitischer Bestrebungen zu erwarten. Und gerade die herrschenden, politisch und kirchlich konservativen Parteien sind ihnen von jeher, wie ich das auch für meine eigene Person zur Genüge erfahren habe, mit besonderer Ungunst begegnet, so daß die Anfeindungen der verschiedensten Art während des letzten Dezenniums sie nothwendig mit ernster Besorgnis um die Aufrechterhaltung der schwer errungenen Gleichberechtigung erfüllen und so naturgemäß in die Arme des in dieser Beziehung stets korrekten ‚Fortschritts’ treiben mußte.“

III. Goldschmidt heute 1. Handelsrecht und Handelsrechtsgeschichte Goldschmidts Bedeutung für die Entwicklung des Handelsrechts und für seinen Übergang aus dem 19. in das 20. Jahrhundert ist unbestritten.69 Sein akademisches Werk bleibt. Nachwirkungen auf die Rechtsanwendungspraxis und auf die Methodenlehre, wie sie in reichem Umfang bei Savigny70 und Jhering71 festzustellen sind, sind allerdings gering. Immerhin hat sich Peter Raisch in seinem Bestreben, eine Fortentwicklung des Handelsrecht morphologisch zu beglaubigen, gern auf Goldschmidt berufen,72 freilich ohne direkte Empfehlungen aus dessen Werk abzuleiten. Doch die Vernachlässigung Goldschmidts in der gegenwärtigen Methodendiskussion ist unverdient. Wolfgang Schön hat jüngst den – wie man heute wohl sagen würde – 69

Vgl. Karsten Schmidt Handelsrecht5, 1999, 43. Über Savigny heute vgl. in diesem Band S. 133. 71 Zur Geringschätzung Jherings in den Augen Goldschmidts vgl. Fn. 67. 72 Raisch Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1965, 56 ff. 70

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rechtsökonomischen Anteil an Goldschmidts Forschungsprogramm herausgearbeitet.73 Er hat die für dessen Werk geradezu konstitutiven volkswirtschaftlichen Grundanschauungen des großen Gelehrten vor allem anhand des „Handbuchs“ und der „Universalgeschichte“ analysiert74 und bei dieser Gelegenheit das für Goldschmidts Sichtweise prägende Nebeneinander der historischen Schule des Rechts (Savigny) und der Ökonomie (Roscher und Nachfolger) aufgezeigt.75 Goldschmidts für beide Wissenschaftsdisziplinen anspruchsvoller Umgang mit dem, was wir heute Interdisziplinarität nennen, erscheint in diesem lesenswerten Beitrag am Ende durchaus als Vorbild auch für die Rechtswissenschaft des 21. Jahrhunderts.76 In der Tat: Dieser Große des 19. Jahrhunderts – einer von vielen, aber wie viele zugleich einzigartig! – hat uns heute noch vieles zu sagen. Auch aus diesem Grund lohnt sich eine Befassung mit dem hier mehrfach angeführten verdienstvollen Buch von Lothar Weyhe.77 2. Schüler Anteil am Nachwirken von Goldschmidts Berliner Jahren haben auch prominente Schüler, insbesondere Max Pappenheim, Georg Schaps, Paul Rehme und Wilhelm Silberschmidt.78 Unter ihnen mag Pappenheim der bedeutendste gewesen sein,79 aber Georg Schaps wurde als Begründer eines erfolgreichen Seerechtskommentars80 gewiss am längsten, nämlich bis heute, zitiert.81 Weitaus berühmter aber sollten zwei Doktoranden werden, die später auf ganz eigenen Wegen leuchteten:82 Max Weber und Philipp Heck. 3. Die ZHR, oder: „GoldschmidtsZ“ Dass Goldschmidts Name die Zeit überdauert hat, ist nicht zuletzt der von ihm gegründeten Zeitschrift zu verdanken. Am 5. und 6. Juni 2008 fand in den Räumen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften – ganz nahe also der Humboldt-Universität – eine Festveranstaltung zum 150. Jahr des Bestehens der Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht 73

Schön in: FS Karsten Schmidt, 2009, 1427 ff. Schön (Fn. 73), 1430 f. 75 Schön (Fn. 73), 1432 ff. 76 Schön (Fn. 73), 1446. 77 Vgl. zum Werk Goldschmidts Weyhe (Fn. 7), 213–525. 78 Weyhe (Fn. 7), 130. 79 Über Pappenheim vgl. FS Max Pappenheim zum 50. Jahrestag seiner Promotion, 1931, Nachdruck 1981 mit einem Nachruf aus dem Jahr 1934 von Eckhardt. 80 Vgl. Schaps/Abraham Das deutsche Seerecht4, 1978. 81 Vgl. nur Karsten Schmidt (Fn. 69). 82 Vgl. Weyhe (Fn. 7), 526 ff. 74

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und Wirtschaftsrecht statt.83 Es konnte nicht ausbleiben, dass bei dieser Gelegenheit Levin Goldschmidts gedacht wurde.84 Er hatte im Jahr 1858 noch vor seiner Ernennung zum Professor in Heidelberg und lange vor seinem Wechsel an die Universität Berlin die „Zeitschrift für das gesammte Handelsrecht“ gegründet und mit einem eigenen, im 150. Band seiner Zeitschrift neu publizierten programmatischen Aufsatz „Über die wissenschaftliche Behandlung des Deutschen Handelsrechts und den Zweck dieser Zeitschrift“ eröffnet.85 Aus seiner Berliner Zeit lesen wir:86 „Die Zeitschrift für Handelsrecht ist jetzt gut im Gange und wird wohl allen berechtigten Ansprüchen genügen. Es fließt auch erfreulich viel Material zu.“ Das gilt heute wie damals. Vier Jahrzehnte lang, bis zum Jahrgang von 1897 hat Levin Goldschmidt die Zeitschrift herausgegeben, zunächst allein, dann mit namhaften Mitherausgebern. Noch über seinen Tod hinaus wurde sie achtungsvoll mit dem höchst inoffiziellen Titel „GoldschmidtsZ“ zitiert, und im Sinne ihres Gründers wird sie auch in die Zukunft geführt. Die Humboldt-Universität tut gut daran, Goldschmidts Berliner Jahre als Teil ihrer großen Geschichte zu begreifen.

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Das Symposion ist dokumentiert in ZHR 172 (2008) 503–790. Schriftleitung, ZHR 172 (2008) 503; Schön ZHR 172 (2008) 504 f.; Karsten Schmidt ZHR 172 (2008) 507; Nörr ZHR 172 (2008) 522, 525 f. 85 Goldschmidt ZHR 1 (1858) 1 = ZHR 150 (1986) 15. 86 Brief an Stobbe vom 26.12.1881 (Fn. 49). 84

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Otto von Gierke (1841–1921) Otto von Gierke (1841–1921) Jan Thiessen

Otto von Gierke (1841–1921) Rechtsgeschichte, Privatrecht und Genossenschaft in Briefen und Postkarten* JAN THIESSEN

„I am Germanist, and my life task is to study and to teach the Teutonic Elements of German law.“ (Otto Gierke, Harvard 1909)

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Selbstzeugnisse zur rechtshistorischen und juristischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Genossenschaftsrecht vs. „Neuere Geschichte des deutschen Rechts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Genossenschaftsrecht vs. „Deutsches Privatrecht“ . . . . . . . VI. Schluss: „ein Mensch aus Einem Gusse“? . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Gierke hat viel publiziert; über ihn wurde viel publiziert. Fast könnte man sagen, dass Gierke hinter seiner öffentlichen Wahrnehmung kaum noch sichtbar ist. Selbstzeugnisse zu finden, die nicht an die Öffentlichkeit gerichtet sind, war daher das Ziel dieses Beitrags. In seinen Briefen und Postkarten * Eine frühere Fassung dieses Textes konnte ich am 19. November 2009 der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen vorstellen, deren Mitgliedern für ihre Einladung und ihre Diskussionsbereitschaft herzlich gedankt sei. Für die Bereitstellung der Handschriften danke ich herzlich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der beteiligten Archive, insbesondere Bianca Grosser (Marbach), Ilona Kalb (Berlin), Bärbel Mund (Göttingen) und Christine Weidlich (Bonn), desgleichen für ihre Unterstützung bei der Recherche Kristin Kleibert und Angela Klopsch (Berlin) sowie Jakob Tybus (Cambridge). Den Hinweis auf einen Teil der Berliner Archivalien verdanke ich der im Wintersemester 2008/09 bei Rainer Schröder entstandenen Seminararbeit von Simon Gerstner.

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äußert sich Gierke knapp, unpathetisch, offen, auch zweifelnd – ganz anders als in seinen Werken. Daher erscheint es reizvoll, nach einem Blick auf die sonstigen Quellen die persönlichen Schreiben in Beziehung zu einigen seiner Publikationen zu setzen. Daraus ergeben sich Hinweise auf Gierkes methodisches Selbstverständnis als Rechtshistoriker und Jurist. Das „Deutsche Genossenschaftsrecht“ steht im Mittelpunkt, weil er dieses Werk, das ihn sein Leben lang begleitet hat, als „geschichtliche Grundlegung“ seiner sonstigen Arbeit verstanden hat, insbesondere auch als Grundlage seiner Arbeit am „Deutschen Privatrecht“, das den anderen Schwerpunkt seiner Forschung bildete.1 In der Rechtsgeschichte gilt Gierke heute zwar als profunder Kenner der Quellen, aber auch als deren phantasievoller Interpret.2 Begriffe wie Haus, Gemeinschaft, Gefolgschaft und natürlich Genossenschaft3 legitimieren in ihrer rechtshistorischen Herleitung auch seine Aussagen zum geltenden Recht seiner Zeit. Darin liegt zugleich das Problem. Seit Karl Kroeschell wurden sämtliche Schlüsselbegriffe einer Rechtsgeschichte Gierkescher Prägung dekonstruiert.4 Die heutige deutsche Rechtsgeschichte fragt nach den europäischen, romanistischen, kanonistischen Wurzeln des deutschen Rechts.5 Eine unmittelbare Linie, eine deutsche ‚Rechtsgenealogie‘, wie sie bei Gierke vom frühen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert reicht, gilt heute als aus den Quellen heraus nicht belegbar, ebensowenig belegbar, wie etwa die angeblich dem deutschen Recht seit jeher innewohnende soziale Komponente.6 Hält man aber Gierkes Rechtsgeschichte für überholt, gar für eine quellenferne Erfindung, für eine ideologisierende Zuschreibung, mit der er 1 Seinem weiten Genossenschaftsbegriff entsprechend war das Staatsrecht jedoch in Forschung und Lehre stets vertreten. Vgl. auch Briefe und Postkarte an Rudolf Smend und Heinrich Triepel, Fn. 23. 2 Zum Folgenden aus neuerer Zeit etwa Landau Otto von Gierke und das kanonische Recht, in: Rückert/Willoweit (Hrsg.) Die deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit – Ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen, 1995, 77 ff.; J. Schröder Art. Gierke, in: Kleinheyer/Schröder (Hrsg.) Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten5, 2008, 152 ff.; Schäfer Juristische Germanistik – Eine Geschichte der Wissenschaft vom einheimischen Recht, 2008, 702 ff.; Dilcher Art. Gierke, in: HRG2, 10. Lieferung 2009, Sp. 375 ff. 3 Zur Verknüpfung typisch etwa Gierke Erbrecht und Vicinenrecht im Edikt Chilperichs, ZRG 12 (1876) 430, 481 ff.; ders. Das deutsche Haus und der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches – Vortrag, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 21.6.1890, 32. Jahresbericht über die Wirksamkeit der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in dem Vereinsjahre 1890–91, 23, 25 ff. = Aufsätze und kleinere Monographien (hrsg. von Pöggeler) Band 2, 643, 645 ff. 4 Leicht zugänglich über den Registereintrag im Sammelband von Kroeschell Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht, 1995, 472. 5 Vgl. nur Dilcher Art. Germanisches Recht, in: HRG (Fn. 2), Sp. 241, 245 ff. 6 Luig Römische und germanische Rechtsanschauung, individualistische und soziale Ordnung, in: Rückert/Willoweit (Fn. 2), 94 ff. und dessen Hinweise auf die dortigen weiteren Beiträge von Kroeschell, Klippel, Landau und Rückert.

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versucht, seine rechtspolitischen Positionen bereits im ‚deutschen Mittelalter‘ zu verankern, zerstört man dann nicht Gierkes Legitimationskette? Ist Gierke als Rechtshistoriker und Jurist ernst zu nehmen, wenn seine Prämissen falsch sind? Gerade diese Frage wird hier nicht gestellt. Angesichts der Breite des Gierkeschen Werks könnte man Gierke leicht als Vordenker unseres heutigen Privatrechts und auch Staatsrechts präsentieren; kein Gedanke, den Gierke nicht bereits gedacht hätte, als Visionär oder wenigstens als Phantast.7 Wie Gierke zu seinen Thesen kam und wie er rezipiert wurde und wird, sagt jedoch mindestens soviel über den Kontext seiner Zeit und den Kontext der folgenden Zeiten bis heute aus wie über Gierke selbst. Hier geht es darum, Gierke in seinen Kontext einzuordnen. In einem Festschriftenbeitrag für die Fakultät, der er mehr als dreißig Jahre angehörte,8 geht es weder um Ehrenrettung noch um Schmähung, sondern allein darum, einen wissenschaftsgeschichtlichen (und ein wenig privaten) Blick auf eine zentrale Figur der deutschen Rechtswissenschaft zu gewinnen, die vom Deutschen Bund bis zur Weimarer Republik alles miterlebt hat.9

II. Quellen Was wissen wir über Gierke in seiner Zeit oder: in seinen Zeiten? Einerseits sehr viel, andererseits viel punktuelles. Zu Gierkes Werk gibt es eine Fülle von Einzelstudien.10 Welche Bücher Gierke selbst besaß, geht aus einem Katalog hervor, den die Handels-Universität Tokio 1930 veröffentlichte, nachdem sie Gierkes Bibliothek erworben hatte. Freilich fehlen hier nahezu sämtliche philosophischen Schriften, weil Gierke diese laut Katalog 7 Ähnlich der kritische Befund zur Gierke-Rezeption von Schäfer (Fn. 2), 703, zuvor bereits Repgen Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001, 52. 8 Mit Unterbrechungen mehr als fünfzig Jahre, wenn man die Zeit als Privatdozent (Fn. 16) und als außerordentlicher Professor mitzählt (Vereidigung 6.5.1871), bis zu seiner unfreiwilligen Emeritierung aufgrund des „Gesetzes über Einführung einer Altersgrenze“ am 22.1.1921, Humboldt-Universität zu Berlin, Archiv, UK G 81, Bl. 1, 13, dort Bl. 12 der Amtseid auf die Weimarer Reichsverfassung am 17.1.1920. 9 Vgl. den Rückblick bei Gierke Der germanische Staatsgedanke – Vortrag, gehalten am 4. Mai 1919, 1919 = Aufsätze (Fn. 3), Band 2, 265, 267. 10 Die Sekundärliteratur ist prägnant zusammengefasst bei Landau (Fn. 2). Zu ergänzen seither Becker Eher Brunner als Gierke?, ZNR 1995, 264, die beiden Göttinger Dissertationen von Haack Otto von Gierkes Kritik am ersten Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches, 1997, und Pfennig Die Kritik Otto von Gierkes am ersten Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches, 1997; von See Freiheit und Gemeinschaft – Völkisch-nationales Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, 2001, 148 ff.; Peters Die Genossenschaftstheorie Otto v. Gierkes (1841–1921), 2001; hierzu der Besprechungsaufsatz von Janssen Die bleibende Bedeutung des Genossenschaftsrechts Otto von Gierkes für die Rechtswissenschaft, ZRG GA 122 (2005) 352 ff.

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seinem Sohn Julius vermacht hatte.11 Die jüngst präsentierte Ableitungskette von Schleiermacher über Dilthey zu Gierke12 lässt sich auf diese Weise leider nicht nachvollziehen. Biographisches findet sich in der quellengestützten Gedächtnisrede seines Hörers und späteren Fakultätskollegen, des Kirchenrechtlers Ulrich Stutz,13 der nach Gierkes Tod in dessen Ordinariat und Bezüge einrückte.14 Traut man der Pietät eines Nachrufs nicht, geben auch die Archive einiges an beruflichen und persönlichen Handschriften her. Im Preußischen Geheimen Staatsarchiv und im Archiv der HumboldtUniversität sind verschiedene, bereits von Stutz eingesehene Personalunterlagen überliefert.15 Der Ertrag ist hier spannend und aufschlussreich, etwa für die Förderung, die Gierke durch seinen Lehrer Georg Beseler genoss,16 oder für die Politik des für die Universitätspersonalien zuständigen Referenten Friedrich Althoff,17 der Gierke um fast jeden Preis in Berlin haben wollte.18 Teilweise lesen sich die Akten auch eher anekdotisch. Man erfährt zum Beispiel, dass Gierke aus dem Krieg 1870 mit einem „nervösen Kopfschmerz“ zurückkehrte und beim preußischen „Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten“ 150 Taler für „eine längere Kur an einem möglichst hochgelegenen Orte der Schweiz“ beantragte. Das Schreiben enthält den Vermerk: „Es kann m.E. ohne Härte die erbetene Unterstützung nicht versagt werden. Petent gehört überdies zu den tüchtigs11 Zum Geleit, in: Katalog der Otto von Gierke-Bibliothek in der Handels-Universität Tokio, 1930; heute Sondersammlung Gierke Bunko des Shakai Kagaku Koten Shiryō Sentā (Center for Historical Social Science Literature) der Hitotsubashi Daigaku. 12 Janssen (Fn. 10), 361 ff.; vgl. hierzu Bube Zwischen Kultur- und Sozialphilosophie – Wirkungsgeschichtliche Studien zu Wilhelm Dilthey, 2004, 522 ff. 13 Stutz Zur Erinnerung an Otto von Gierke – Gedächtnisrede, ZRG GA 43 (1922) I ff. 14 Ministerialvermerk vom 18.10.1921, GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Band 12, Bl. 3: „Das Stutz’sche Ord. ist eine sog. Ergänzungsprofessur, die, sobald der ‚ergänzte‘ Prof. verstirbt, in Wegfall kommt. Der Ergänzungsprofessor rückt dann in die ursprüngliche Stelle ein.“ Dementsprechend wurde die Kasse angewiesen, „die Besoldung von Prof. Stutz vom 1. Febr. 1922 ab bei dem bisherigen v. Gierkeschen Ordinariat mit dem vollen Betrage von 24.000 M als dauernde Ausgabe anzuweisen“. 15 Vgl. außer dem Folgenden bereits Fn. 8. 16 Vermerke Beselers zu Gierkes Habilitationsverfahren vom 24.4. bis 18.5.1867, Humboldt-Universität zu Berlin, Archiv Jur. Fak. vor 1945, 142, Bl. 209, 209 R. 17 Vgl. vom Brocke Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907 – Das „System“ Althoff (1882–1907), in: Baumgart (Hrsg.) Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, 1980, 9 ff.; Pawliczek Kontinuität des informellen Konsens’ – Die Berufungspolitik der Universität Berlin und ihre jüdischen Dozenten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: vom Bruch/Gerhardt/ Pawliczek (Hrsg.) Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 69 ff. 18 Fakultätsschreiben und Ministerialverfügungen zur Berufung Gierkes an die Friedrich-Wilhelms-Universität 16.5. bis 1.7.1887, GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Band 4, Bl. 242 ff.

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ten[19] jüngeren Docenten.“20 Dem preußischen Kultusminister, der Gierke zum 70. Geburtstag gratuliert hatte, sprach er „meinen besonderen tief gefühlten Dank für die freundliche Beteiligung an meinem Feste aus. Ihr persönliches Erscheinen in meinem Heim inmitten der Kinder- und Enkelschaar wird mir die Erinnerung an die unvergeßlichen Tage stets besonders verschönern.“21 Auch die Verleihung des erblichen Adels ist bestens dokumentiert, einschließlich einer eigenhändigen Aufstellung der Kinder und Kindes-Kinder und der Bearbeitungsgebühr von „508 Mark 50 Pf.“, von Gierke gezahlt „durch die Kur- und Neumärkische Ritterschaftliche Darlehens-Kasse zu Berlin an die Kasse des Königlichen Heroldsamtes“.22 Außer in den Ministerialakten finden sich in verstreuten Nachlässen verschiedener Personen etwa dreißig Briefe (oder Postkarten) von Gierkes Hand,23 in seinem eigenen Nachlass in Göttingen knapp einhundert an ihn 19 Bereits in einem Schreiben vom 10.12.1867 zählte die „unterzeichnete Juristische Fakultät“ Gierke zu den Privatdozenten, „welche sich bereits durch sehr tüchtige Arbeiten hervorgethan haben“, deren „eventuelle Beförderung“ zu außerordentlichen Professoren in Erwägung gezogen wurde, neben Gierke auch William Lewis, Alfred Boretius und Jakob Friedrich Behrend, Humboldt-Universität zu Berlin, Archiv Jur. Fak. vor 1945, 564, Bl. 199, 199 R. 20 Brief Gierkes vom Juli 1871, GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Band 3, Bl. 48–48 R: „An Seine Excellenz den Minister für geistliche, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten Herrn Dr. von Muehler hier Ew. Excellenz wage ich nachstehende ganz gehorsamste Bitte vorzutragen. Im Juli v. J. wurde ich unmittelbar aus meiner Beschäftigung an hiesiger Universität zum Heere einberufen. Ebenso unmittelbar habe ich nach Beendigung des Feldzuges und meiner wenige Tage vor Beginn der Vorlesungen erfolgten Entlaßung diese Lehrtätigkeit wieder aufgenommen. Inzwischen haben die Strapazen des Feldzuges meine Gesundheit so ernstlich angegriffen und namentlich einen so heftigen nervösen Kopfschmerz hervorgerufen, daß ich nur mit äußerster Anstrengung die begonnenen Vorlesungen zu Ende zu führen vermag, unmittelbar nach dem Schluß des Semesters aber laut ärztlicher Vorschrift eine längere Kur an einem möglichst hochgelegenen Orte der Schweiz unternehmen soll. Da ich nun ein Gehalt nicht beziehe und die geringfügigen Einnahmen aus den Vorlesungen nebst den mir zu Gebote stehenden und überdies durch den Krieg sehr geschmälerten eigenen Mitteln zur Bestreitung der erforderlichen Ausgaben nicht ausreichen, richte ich an Ew. Excellenz die ganz gehorsamste Bitte, unter Berücksichtigung der exceptionellen Umstände mir eine außerordentliche Unterstützung von etwa 150 Thalern zum Behufe einer Badekur hochgeneigtest gewähren zu wollen. O. Gierke, a.o. Professor der Rechte an der hiesigen Universität Sigismundstrasze 9.“ 21 Handschriftliche Ergänzung des gedruckten „kollektiven“ Dankschreibens vom Januar 1911, GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Band 9, Bl. 290–292 R. 22 Brief Gierkes an das Königliche Herolds-Amt zu Berlin vom 8.2.1911, GStA PK, I. HA Rep. 176 Heroldsamt, Nr. 3208, Bl. 5 ff. 23 Hervorzuheben sind neben den sonstigen hier besprochenen Handschriften besonders ein Brief, eine Postkarte und ein weiterer Brief Gierkes an Rudolf Smend vom 9.10.1904, 20.2.1910 und 19.9.1911, Niedersächsische Staats- und Landesbibliothek Göt-

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gerichtete Briefe sowie drei eigene Briefe, die vermutlich durch Gierkes Sohn Julius in den Nachlass des Vaters gelangt sind.24 Hinzu kommen mehr tingen, Abteilung Handschriften und Alte Drucke, Cod. Ms. R. Smend B1, B3, sowie ein Brief an Heinrich Triepel vom 2.11.1892, Universitätsbibliothek Heidelberg, Abteilung Handschriften und Alte Drucke, Heid. Hs. 2824, 20. Im Brief von 1904 dankte Gierke Smend für die Übersendung von dessen preisgekrönter Göttinger Dissertation „Die Preussische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der Belgischen“ aus dem selben Jahr und setzte sich mit einigen von Smends Thesen auseinander („Die Frage freilich, was in Art. 62 unter der gesetzgebenden Gewalt zu verstehen ist, hat auch durch Ihre Erörterung keine bedenkenfreie Lösung gefunden; ich gelange zu ähnlichem Resultat, wie Sie, kann mich aber nicht davon überzeugen, daß nicht schon in dem Worte der materielle Funktionsinhalt der Rechtssetzung ausgedrückt sein sollte.“ Die Postkarte von 1910 betraf die „freundliche Uebersendung Ihres Aufsatzes über die Formel ‚Kaiser und Reich‘ [. . .]. Dasz erst seit dem Westfäl. Frieden der Begriff ‚Reich‘ einerseits in einen scharfen Gegensatz zum Kaiser gebracht, andererseits auf das Corpus der Reichsstände eingeschränkt ist, haben Sie zutreffend dargetan. Aber bei dem älteren Sprachgebrauch, für den das Reich das höhere Ganze, der Kaiser das Haupt, die Reichsstände die Glieder sind, scheinen Sie mir den Begriff ‚Reich‘ zu abstrakt zu fassen. Der Begriff der Reichspersönlichkeit im modernen Sinn war doch noch nicht entwickelt. Sofern das Wort überhaupt subjektiv genommen wird, kann es das Ganze, aber auch den Kaiser allein und ebenso gegenüber dem Kaiser die ‚Reichsgesamtheit‘ bedeuten. Die ‚Reichsgesamtheit‘ ist nur, je weiter zurück, desto weniger der Reichsständekörper, sondern das vom Reichstag repraesentierte Reichsvolk. Wenn nach Sachensp. III 54 § 2 der Kaiser dem Reiche Hulde tut, so ist doch das Reich ein von ihm verschiedenes Subjekt. Aber nicht, wie Homeyer Glossar 469 sagt, „Das Reich als juristische Person“. – Hochachtungsvoll mit koll. Grusz der Obige.“ (Hier war die Postkarte ausgeschöpft!) Im Brief von 1911 dankte Gierke für Smends Arbeit über das Reichskammergericht: „Ihre Darstellung des Ursprungs bietet viel Neues und gewiß der landläufigen Meinung gegenüber Ueberzeugendes. Aber ob Sie nicht doch zu großes Gewicht auf die festgehaltene Form legen und den sachlichen Durchbruch des foederativen Prinzips zu gering schätzen? In der Sache ist doch schon vor der Reformation und nicht erst durch sie die wahre Monarchie im Reiche zugrunde gegangen. Und das Einungsprinzip hat mindestens mitwirkend bei allem reformatorischem Wiederaufbau des Reichs seit dem Interregnum eine Rolle von wachsender Bedeutung gespielt.“ Triepel dankte er für „die Uebersendung der [soeben erschienenen] interessanten und scharfsinnigen Untersuchung über das Interregnum [. . .]. Ich habe die Abhandlung mit vielem Nutzen gelesen und stimme auch Ihren Ergebnissen in der Hauptsache bei. Nur mit der Fassung des Begriffes ‚Organ‘ kann ich mich nicht einverstanden erklären. Auch der ‚Träger‘ der Staatsgewalt ist m.E. ‚Organ‘ des Staats, – der Begriff des Organs erfährt hier eine Steigerung. Organ ist nicht ‚Werkzeug‘ eines fremden Willens, sondern Bildner eines in ihm und nur in ihm erscheinenden Gemeinwillens. Im physischen Organismus nennen wir auch das Centralorgan ‚Organ‘. Für manches Einzelne hätte Sie in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht vielleicht auch in den Erörterungen der Kanonisten über Sedisvakanz Brauchbares gefunden.“ 24 Im Übrigen enthält der Nachlass viele gedruckte Dokumente, etwa Gratulationen zu Jubiläen, Nachrufe, Würdigungen zum 100. Geburtstag, Korrespondenz zum Internationalen Historikerkongress 1908 in Berlin (dazu unten Fn. 116), zu seiner Reise nach Harvard (dazu unten Fn. 117), zwei Gutachten, eine handschriftliche Teilnehmerliste zur deutschrechtlichen Übung 1891/92 (unter den Teilnehmern Berthold Klemperer, der Bruder des Romanisten Victor Klemperer, sowie Eugen Kindervater, möglicherweise ein Sohn des gleichnamigen Juristen, der sich in den 1860er Jahren mit Rudolf von Jhering über dessen Abhandlungen zum Versteigerungsrecht gestritten hatte), dazu Unterlagen, die mögli-

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als fünfzig Briefe und Postkarten Gierkes an Eugen Huber,25 die einer gesonderten Publikation vorbehalten bleiben müssen. Eine Korrespondenz im Wortsinn lässt sich leider nicht rekonstruieren; zu fast keinem Brief gibt es einen Gegenbrief.26 Wiederum zeigt sich ein bunter Strauß privater und beruflicher Angelegenheiten. So sagte Gierke in seinen Briefen etwa mit Bedauern eine Einladung zum „Kongreß von Kirchenrechtslehrern“ ab,27 lobte Heinrich Mitteis, „daß Sie mit Ihren germanistischen Studien auch kirchenrechtliche Forschung, die sich mit jener so nahe berührt, verbinden“,28 dankte dem späteren Basler Professor Robert Haab, dem Sohn des gleichnamigen späteren Schweizer Bundespräsidenten, „für die liebenswürdige Zusendung Ihrer Dissertation über das Objekt der Expropriation“, wobei er die Postkarte „[d]a Sie Ihre Adresse nicht angaben“ kurzerhand an den Berner Rechtshistoriker Max Gmür, den Herausgeber der Schriftenreihe, mit der Bitte „um die Freundlichkeit der Uebermittlung“ schickte;29 er traf Vorkehrungen für einen Ferienaufenthalt auf Sylt im Anschluss an eine knappe Urlaubswoche in „Heringsdorf bei Swinemünde, Hôtel Lindemann“30 und versicherte das „Marburger studentische Komitee“ seiner Unterstützung, um zu verhindern, dass ein Lehrstuhl der „systematischen und historischen Philosophie“ in einen solchen für „experimentelle Psychologie“ umgewidmet werde, „so hoch man ihren Werth einschätzen mag“.31 Als Herausgeber der cherweise Julius von Gierke zuzuordnen sind. Vgl. das Nachlassverzeichnis in: Niedersächsische Staats- und Landesbibliothek Göttingen, Abteilung Handschriften und Alte Drucke, Acc. Mss. 1976.12. 25 Schweizerisches Bundesarchiv Bern, Privatbestand Eugen Huber J 1.109 1000/1276, Nr. 433. 26 Eine Ausnahme bilden Frederic William Maitland, dazu unten Fn. 120, und Eugen Huber (Fn. 25). 27 Brief Gierkes an Johann Friedrich von Schulte vom 6.3.1873, Schulteana 14, 22. 28 Kartenbrief Gierkes an Heinrich Mitteis vom 12.2.1915, Universitätsbibliothek München, Handschrifen, Nachlass Mitteis. 29 Postkarte Gierkes an Robert Haab vom 22. Januar 1917. Für die Überlassung einer Kopie der in einem antiquarisch erworbenen Werk Gierkes aufgefundenen Postkarte danke ich herzlich Erika und Jan Schröder, Tübingen. 30 Brief Gierkes an Karl Dziatzko vom 3.8.1881, Niedersächsische Staats- und Landesbibliothek Göttingen, Abteilung Handschriften und Alte Drucke, Cod. Ms. K. Dziatzko 69:4,43. 31 Postkarte und Brief an den späteren Bremer Bibliotheksdirektor, damals cand. phil. Hinrich Knittermeyer vom 23.10.1912 bzw. 25.10.1912, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Referat Handschriften-Rara, Aut. XXVIII, 27. In der Postkarte hatte Gierke um nähere Informationen gebeten, „Ich kann mich natürlich zur Sache nicht äußern, bevor ich den Aufruf erhalten habe.“ Den Aufruf unterstützte Gierke dann „gern“: „Nach meiner Ueberzeugung widerspricht es den Lebensinteressen der deutschen Universitäten, wenn der systematischen und historischen Philosophie ein Lehrstuhl zu Gunsten der experimentellen Psychologie entzogen wird. Nicht blos das philosophische Fachstudium, sondern das Studium in allen Fakultäten und nicht wenigsten das Rechtsstudium muß darunter leiden. Die deutschen Universitäten verdanken ihren Aufschwung und die Besonderheit ihres Wesens zum guten Teil der zentralen Stellung, die in ihrem Organismus die Philoso-

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„Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte“ vermittelte er zwischen Verlag und Autoren.32 Am kürzesten ist – neben der Verlobungsanzeige33 – eine Postkarte mit nur einem Satz: „Spät komme ich, aber ich komme. Dr. Otto von Gierke, Geheimer Justizrat u. Professor“ – so viel Zeit muss sein –, gerichtet an Herrn stud. iur. Kurt Friderichs,34 später promoviert mit einer Marburger juristischen Dissertation über „Die Klage aus der Grundschuld“35, aber an Gierke herangetreten als Autogrammjäger, in dessen Nachlass sich der handschriftliche Namenszug nahezu jeder zeitgenössischen Berühmtheit aus Kunst, Musik, Wissenschaft und Politik findet. Der längste, im Anhang dieses Beitrags vollständig abgedruckte Brief an den damaligen Königsberger Romanisten Paul Krüger36 enthält ein umfassendes vergleichendes Gutachten über alle jüngeren Germanisten, die für eine Berufung an Krügers Fakultät in Frage kamen. Auffallend daran ist nicht allein Gierkes Kenntnis der Konkurrenz und sein durchweg dezidiertes Urteil, sondern auch jener allseits akzeptierte Antisemitismus,37 der Gierke über die „schlimmen Seiten des jüdischen Wesens“ und über „mancherlei äußere Mängel“ von Juden schreiben ließ, von denen sich die Betreffenden durch phie seit langer Zeit eingenommen hat. Auch in Zukunft werden sie die errungene geistige Höhe nur behaupten und ihre Eigenart nur wahren, wenn die Einwirkung der Philosophie auf das gesamte Einzelstudium unverkürzt bleibt. Zur Lösung dieser Aufgabe aber ist nur die das Ganze umfassende systematische Philosophie mit der von ihr untrennbaren Geschichte der philosophischen Systeme befähigt. Die experimentelle Psychologie kann, so hoch man ihren Wert einschätzen mag, im Kreise der Wissenschaften doch immer nur den Rang einer Einzelwissenschaft beanspruchen.“ 32 Hierzu drei Briefe Gierkes an den späteren Wiesbadener Bibliotheksdirektor Erich Liesegang vom 3. und 8.1.1896 sowie 18.4.1897, Hessische Landesbibliothek Wiesbaden, Hs. 329, wegen dessen 1897 erschienener Arbeit über „Niederrheinisches Städtewesen vornehmlich im Mittelalter. Untersuchungen zur Verfassungsgeschichte der clevischen Städte“, sowie vom 29.5.1911, Universitätsbibliothek Heidelberg, Abteilung Handschriften und Alte Drucke, Heid. Hs. 2824, 19, wegen der im gleichen Jahr erschienenen Königsberger Dissertation „Grundsätze und Anschauungen bei den Erhebungen der deutschen Könige in der Zeit von 911–1056“ von Johannes Krüger. Dieser Brief wurde bislang in Heidelberg unter dem Adressaten „Trique“ als nicht individualisiert geführt, wobei ein zweiter ebenso archivierter Brief hier Heinrich Triepel zugeordnet werden konnte (Fn. 22). Die Anrede im Brief vom 29.5.1911 „Sehr geehrter Herr“ entspricht jedoch nicht Gierkes Stil gegenüber Kollegen; zudem geht es lediglich um den Zeitpunkt des Drucks der Arbeit. 33 Gedruckte Verlobungsanzeige Gierkes mit Lili Loening, adressiert an den Bonner Theologen und Philologen Hermann Usener, 2.9.1872, Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Abteilung Handschriften und Rara, S 2103. 34 Postkarte Gierkes an Kurt Friderichs vom 3.4.1912, Münchener Stadtbibliothek Monacensia, Signatur A I/1. 35 Dissertation Marburg 1919. 36 Brief vom 14.12.1887, Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Abteilung Handschriften und Rara, S 1925. 37 Ganz ähnlich wie Gierkes Brief (Fn. 36) etwa der erstmals 1884 erschienene Nachruf auf Eduard Lasker von Bähr Gesammelte Aufsätze, Bd. 2: Aufsätze politischen, sozialen, wirtschaftlichen Inhalts, 1895, S. 39 f.

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„Begabung“ und „Charakter“ emanzipieren mussten; ein Weg, welchen auch die Familie von Gierkes Ehefrau Lili Loening gegangen war.38 Die erwähnte „Kinder- und Enkelschaar“39 spielt nicht nur gegenüber Minister und Heroldsamt, sondern auch in den Privatbriefen eine wichtige Rolle. In einem langen Brief40 an den Schwiegervater von Julius, Max Runge in Göttingen,41 pries er die neue Schwiegertochter, die er gerade kennengelernt hatte, „ihre und nun auch unsere Eva“, und empfahl natürlich auch seinen Sohn: „Ich glaube auch, daß er ganz dazu geschaffen ist, ein glückliches Familienleben zu begründen. Ist er doch in einem solchen aufgewachsen und in ein solches in Ihrem Hause eingetreten und hat er doch von Kindheit an ein reiches und liebevolles Gemüth und einen reinen und treuen Sinn gezeigt. Sein inniges Verhältniß zu Eltern und Geschwistern hat nie eine Trübung erfahren; ich selbst habe vor Allem immer Gewicht darauf gelegt, der Vertraute meiner Kinder in großen und kleinen Dingen zu sein, und in Julius als dem ältesten meiner Söhne mir früh zugleich einen jüngeren Freund gewonnen. Zugleich darf ich aber auch mit einiger Zuversicht die Hoffnung aussprechen, daß er den seiner Begabung entsprechenden Beruf gewählt hat und in diesem Tüchtiges leisten und die erwünschte äußere Stellung erringen wird. Ich bin hierzu berechtigt, weil er mir als mein Schüler, der er in umfassendem Maße war, Gelegenheit gegeben hat, den Ernst seines wissenschaftlichen Strebens kennen zu lernen.“ Den Brief schloss er mit einem Blick auf das Zusammenleben von Sohn und Schwiegertochter: „Inzwischen ist es mir eine besondere Beruhigung, daß Sie mit den Erfahrungen eines Vaters die eines Arztes verbinden und so gewiß das jugendliche Paar vor den Nachtheilen behüten werden, die mit dem Brautstande ohne örtliche Trennung leicht verknüpft sind. Eine etwas strenge Vormundschaft ist da im Interesse des Bräutigams und der Braut wohl angebracht.“ (Nb: Max Runge war Gynäkologe, das erste Kind von Julius und Eva kam drei Jahre später zur Welt.42) Ein Gesamtbild Gierkes ist auch aus diesen Quellen nicht ohne weiteres zu zeichnen. Dennoch finden sich in seinen Briefen und Postkarten häufiger, als es nach diesem Überblick den Anschein haben mag, viele Selbstzeugnisse zu Gierkes Werk und seiner Arbeitsmethode. 38 Vgl. Stolleis „Junges Deutschland“, jüdische Emanzipation und liberale Staatsrechtslehre in Deutschland, in: ders., Konstitution und Intervention. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts im 19. Jahrhundert, 2001, S. 130, 142. 39 Wie Fn. 21. 40 Brief Gierkes an Max Runge vom 21.1.1903, Niedersächsische Staats- und Landesbibliothek Göttingen, Abteilung Handschriften und Alte Drucke, Cod. Ms. Gierke Nr. 25. 41 Zu Julius von Gierkes Heirat mit Eva Runge Loos Rechtswissenschaft in Göttingen – Göttinger Juristen aus 250 Jahren, 1987, 475. 42 Wie Fn. 22.

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III. Selbstzeugnisse zur rechtshistorischen und juristischen Methode „Genossenschaft“ ist für Gierke der zentrale Begriff seines Werks. Er meint damit jede Verbindung von Personen, von der Familie bis zum Staat. Der erste Band des „Deutschen Genossenschaftsrechts“ enthält auf S. 3 eine berühmt-berüchtigte Anmaßung: „Fast scheint es, als ob [das germanische] Volk allein berufen wäre, Staaten zu schaffen, die zugleich einig und frei sind, als hätten die romanischen Völker nur in soweit daran Theil, soweit sie mit dem Bruchtheil des in ihnen fließenden germanischen Blutes auch einen Bruchtheil germanischer Eigenthümlichkeiten übernommen oder die vom germanischen Geiste geschaffenen Institutionen entlehnt haben. Keinem anderen Volke in dem Zuge nach Universalität und in der Fähigkeit zu staatlicher Organisation nachstehend, die meisten an Liebe der Freiheit übertreffend, haben die Germanen Eine Gabe vor allen Völkern voraus, durch welche sie der Freiheitsidee einen besonderen Gehalt und der Einheitsidee eine festere Grundlage verliehen haben, – die Gabe der Genossenschaftsbildung.“43 Das ist also Gierkes Version von „Einigkeit und Recht und Freiheit“, aber auch von „Deutschland, Deutschland über alles“. Sie machte es manchen Nationalsozialisten leicht, Gierke für sich zu vereinnahmen44 – was andere Nationalsozialisten nicht davon abhielt, Gierkes Sohn Julius in Göttingen als „jüdisch versippt“ aus dem Amt zu drängen.45 Wer aber Gierke für engstirnig-teutonisch hält, unterschätzt ihn.46

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Gierke Das deutsche Genossenschaftsrecht, Band 1, 1868, 3. Landau Römisches Recht und deutsches Gemeinrecht – Zur rechtspolitischen Zielsetzung im nationalsozialistischen Parteiprogramm, in: Stolleis/Simon (Hrsg.) Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus – Beiträge zur Geschichte einer Disziplin, 1989, 11 ff., 20. 45 Julius von Gierke war 1938 von der Göttinger Universität gedrängt worden, „wegen seiner nicht rein deutschblütigen Abstammung [. . .] seine vorzeitige Emeritierung zu beantragen“, zitiert nach Halfmann Eine „Pflanzstätte bester nationalsozialistischer Rechtsgelehrter“: Die Juristische Abteilung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, in: Becker/Dahms/Wegeler (Hrsg.) Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus2, 1998, 102, 117 f.; eingehend Szabó Vertreibung, Rückkehr, Wiedergutmachung. Göttinger Hochschullehrer im Schatten des Nationalsozialismus, 2000, S. 147 ff.; vgl. auch Schulte Harry Westermann (1909–1986), in: Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.) Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler – Eine Ideengeschichte in Einzeldarstellungen, 2007, 305, 310. 46 Unten VI. bei Fn. 114. 44

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Zunächst war „Das Recht der deutschen Genossenschaft“ für Gierke eine Qualifikationsarbeit.47 „Das eigentliche Ziel der Untersuchung ist die Feststellung der deutschen Rechtsanschauung über das Verhältnis von Einheit und Vielfalt in einer organisierten Gesammtheit, und der Unterschiede, welche die deutsche Genossenschaft und das auf genossenschaftlicher Grundlage ruhende Gemeinwesen sowie zuletzt der deutsche Staat selbst in dieser Hinsicht von der römischen Korporation und dem römischen Staat trennen (Th. II). Zur Herstellung der nothwendigen Grundlage für eine solche Untersuchung ist eine Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft nöthig, die der Natur der Sache nach nur eine übersichtliche sein kann (Th. I).“ Von „§ 1 Periodeneintheilung“ bis „§ 35 Die Verfassung der Städte als Fortbildung der Genossenschaft“ 465 Seiten vollständig, im übrigen 208 Seiten „skizzenhaft ausgearbeitet“, „hier zunächst alle Belege fortgelaßen“, legte er einen mit einer umfassenden „Disposition“ versehenen Torso des ersten Teils der Berliner Fakultät als Habilitationsleistung vor. Der Erstgutachter, Carl Gustav Homeyer, der selbst umfänglich über die „Deutschen Rechtsbücher des Mittelalters und ihre Handschriften“ geforscht hatte,48 gab zu, dass er auf Grund der Fülle der Gierkeschen Arbeit nicht alles habe lesen können49 – nicht ohne Gierke vorzuwerfen, dass angesichts „zahlreicher, zum Theil trefflicher Vorarbeiten“ vor allem Beselers „von einer Originalität des Gebotenen gewöhnlich nicht die Rede sein kann“.50 Das Genossenschaftsrecht, 1868 in Band 1 der „Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft“ gewidmet, bekam freilich noch drei Fortsetzungen.51 In Band 2 47 Zum Folgenden wie Fn. 16, Bl. 210 ff., Disposition Gierkes mit von Homeyer eingetragenen Seitenzahlen. 48 Hierzu Schäfer (Fn. 2), 365, dort 392, 482 auch zu Homeyers Selbstverständnis. 49 Habilitationsgutachten Homeyers vom 18.4.1867, wie Fn. 16, Bl. 215, 215 R: „Es ist mir freilich, unter mancherlei äußeren Hindernissen und bei dem Wunsche des Vf. nach baldiger Entscheidung, nicht möglich gewesen, sämmtliche fünf Bände seiner Arbeit genauer durchzunehmen, aber ich würde schon nach der Einsicht der oben bezeichneten das Städtewesen betreffenden Abschnitte nicht anstehen, die Erfordernisse einer Habilitationsschrift als vorhanden anzuerkennen und die Anerkennung wird noch unbedenklicher, wenn ich den Gesammteindruck aus den übrigen Partieen des Werks hinzunehme.“ Das Gutachten Beselers schließt unmittelbar an, a.a.O., Bl. 215 R, 216. „Mit Rücksicht auf die Möglichkeit, daß der Dr. Gierke bald wieder zur Armee einberufen werden kann, und da er vorher dringend seine Habilitation erledigt wünscht“, hatte Beseler a.a.O., Bl. 209 am 24.4.1867 „die hochgeehrten Herren Kollegen“ um „möglichste Beschleunigung des Umlaufs“ gebeten. 50 Habilitationsgutachten (Fn. 49), Bl. 214, dagegen Beseler a.a.O. Bl. 215 R: „Ich stimme dem vorstehenden Votum im Wesentlichen bei. Namentlich erkenne ich auch die große wissenschaftliche Kraft und Begabung des Verfassers an, dem ich noch eine größere Originalität wie mein Herr Vorgänger vindiciren möchte“. Zum Hintergrund J. Schröder Zur älteren Genossenschaftstheorie – Die Begründung des modernen Körperschaftsbegriffs durch Georg Beseler, Quaderni Fiorentini 11/12 (1982/83), 399, 403 ff. 51 Hierzu die Analyse von Landau (Fn. 2), 80 ff.

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behandelte Gierke 1873 die „Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs“, 1881 in Band 3 „Die Staats- und Korporationslehre des Alterthums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland“ und 1913 in Band 4 „Die Staats- und Korporationslehre der Neuzeit durchgeführt bis zur Mitte des 17., für das Naturrecht bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts“. Es ist dies alles Gierkesche Rechtsgeschichte, entstanden über fast ein halbes Jahrhundert hinweg. Um das Genossenschaftsrecht an seine – Gierkes – Gegenwart heranzuführen, hätte es – so sah es Gierke selbst – eines fünften Bandes bedurft.52 Dazu kam es nicht mehr, obwohl Gierke sich der Ablenkung durch andere Aufgaben53 durchaus zu entziehen wusste. So schrieb er 1907 an Gustav Radbruch, es sei ihm „unmöglich, [s]eine Mitarbeit in Aussicht zu stellen“. Radbruch hatte Gierke offenbar für ein Projekt werben wollen, das hier leider nicht identifiziert werden konnte. Gierke antwortete jedenfalls: „Durch verwandte Untersuchungen bin ich nicht gebunden, – aber nur, weil ich es grundsätzlich abgelehnt habe, mich zur Mitarbeiterschaft zu entschließen. [. . .] Auf Jahre hinaus – und viele Jahre habe ich nicht mehr vor mir – muß ich alle Kraft zusammenhalten, um nächstliegende Aufgaben zu lösen.“54 Zu diesen „nächstliegenden Aufgaben“ gehörte der vierte Band des „Genossenschaftsrechts“, der das Gesamtwerk auf 3.500 Seiten anwachsen ließ. Dass Gierke es dem Publikum mit diesem Umfang schwer machte, hatte er selbst erfahren. Als die ersten drei Bände bereits erschienen waren, schrieb Gierke 1886 an den – damals noch jungen Bonner – Historiker Karl Lamprecht,55 „ganz leicht freilich ist es nicht, heute Rezensenten für große Werke zu gewinnen. Mir z.B. ist es mit meinem Genossenschaftsrecht so ergangen, daß gerade in Zeitschriften, auf die ich Wert gelegt hätte, zum Theil nicht einmal kurze Anzeigen ergangen sind, weil eingehendere Besprechungen zugesagt waren, nachher aber ausblieben. Ich habe manche Untersuchungen (besonders im II. Bande) ganz umsonst gemacht, weil sie unbekannt geblieben und von Späteren auch da nicht benützt sind, wo sie zweifellos eine geeignete Grundlage für die von ihnen selbst unternommenen Feststellungen und Erörterungen gebildet hätten.“56

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Gierke Das deutsche Genossenschaftsrecht, Band 4, 1913, XI. Wie Fn. 52, XII. 54 Brief Gierkes an Gustav Radbruch, Juni 1907, Universitätsbibliothek Heidelberg, Abteilung Handschriften und Alte Drucke, Heid. Hs. 3716 III F. 55 Auch zum nachfolgend zitierten Brief Chickering Karl Lamprecht – A German Academic Life (1856–1915), 1993, 82 f., 101. 56 Brief Gierkes an Karl Lamprecht, 21.11.1886, Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Abteilung Handschriften und Rara, Nachlass Karl Lamprecht, S 2713 . 53

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Die Missachtung gerade dieser Arbeit kränkte Gierke sein Leben lang.57 Anlass für den Brief Gierkes an Lamprecht war dessen Wunsch, dass Gierke sein neues Werk besprechen möge, 3.000 Seiten über „Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter“.58 Ein Gierke durchaus angemessenes Werk, das er dann in den „Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik“ wie versprochen „durch einige wenige empfehlende Worte“59 – immerhin acht Seiten lang – lobte als eine Leistung, von der man denken könne, sie enthalte die Ergebnisse eines Lebenswerks.60 Freilich musste Lamprecht ein halbes Jahr auf die Besprechung warten,61 weil – so Gierke – „ich selbst in einer lange verschleppten Arbeit stecke, die ich jetzt absolut nicht unterbrechen darf, die mich aber zur Zeit in ganz andere Gedankenkreise praktischer Jurisprudenz bannt“.62 Gemeint war „Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung“. Das fünfzigjährige Doktorjubiläum seines Lehrers Georg Beseler hatte für Gierke „den äußeren Anstoss zu dem Versuche“ gegeben, „dem Wirken und Ringen der das rechtliche Wesen menschlicher Verbände betreffenden Gedanken im praktischen Rechtsleben unserer Tage nachzuspüren“.63 Gierke hatte damit jenen gegenwartsbezogenen fünften Band des 57

Brief Gierkes an Frederic William Maitland, 18.4.1898, Cambridge University Library, Additional Manuscript 7006/66, zitiert und erläutert bei Kümin „How good Gierke is“ – Frederic William Maitland in seinem europäischen Kontext, ZNR 1995, 268, 278 f.; Gierke (Fn. 52), VI. 58 Hierzu Chickering (Fn. 55), 80 ff. 59 Wie Fn. 56. 60 Gierke Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 48 (1887) 526. 61 Postkarte Gierkes an den Herausgeber der Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik Johannes Conrad vom 6.4.1887, Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Abteilung Handschriften und Rara, Nachlass Karl Lamprecht, S 2713 : „Heidelberg, 6. April 87. Hochverehrter Herr Kollege! Der Abschluss meines Buches hat 2 Monate länger gedauert, als ich hoffte, – erst gestern bin ich fertig geworden. In den letzten Monaten war es mir unmöglich, etwas Anderes vorzunehmen. Ich musz nun auf einige Tage ausspannen, – ich will heute mit meiner Frau für 12 Tage verreisen –, werde dann aber sogleich einige Worte über Lamprecht, mit dessen Lektüre ich so ziemlich fertig bin, schreiben und Ihnen zusenden. Das Werk habe ich inzwischen selbst angeschafft und hätte daher längst Ihr Exemplar zurücksenden sollen. Diese Rücksendung wird nun alsbald erfolgen. Mit bestem Grusz. Ihr ganz ergebener O. Gierke.“ Gierke schrieb hier wie auch auf manch anderer Postkarte in lateinischen Buchstaben und löste dabei das ß zu sz auf. Die Briefe sind soweit ersichtlich in Sütterlin verfasst, sofern nicht wie bei Maitland (Fn. 57, 70, 109, 120) ans Ausland gerichtet. Conrad wurde später anstelle von Gierke Mitglied der 2. BGBKommission, Schubert Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB – Einführung, Biographien, Materialien, in: Jakobs/Schubert (Hrsg.) Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, 1978, 56, 94, 347, 349 f., 352. 62 Wie Fn. 56. 63 Auch für die folgenden Zitate Gierke Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1887, S. V–VII.

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„Genossenschaftsrechts“ in gewisser Weise vorweggenommen. Er empfand dies selbst als „eine sehr wesentliche Entlastung jenes Werkes hinsichtlich der von ihm noch zu lösenden Aufgabe“. Das Vorwort ist sehr aufschlussreich für Gierkes Selbstverständnis und seine Ansicht über das Verhältnis von Rechtsgeschichte und geltendem Recht: „[V]on einer geschichtlichen Weiterführung des im dritten Bande des Genossenschaftsrechts abreissenden Fadens konnte hier überhaupt nicht die Rede sein; es sind nur gelegentlich einige für die heutige Rechtsprechung besonders wichtige historische Zusammenhänge näher verfolgt worden. [. . .] Vor dem völligen Abschluss der Grundlegung wird somit hier der Versuch gewagt, einen Theil der Ergebnisse einer nun schon länger als zwanzig Jahre hindurch auf Einen Punkt gerichteten geschichtlichen Untersuchung für das Leben zu verwerthen. Nicht Ungeduld war es, die den Verfasser hierzu trieb. Dass er aber den äußeren Antrieben, die ihn in diese Bahn drängten, keinen ernsteren Widerstand entgegengesetzt hat, wird man ihm hoffentlich nicht allzu sehr verübeln. Denn der Rechtshistoriker als solcher soll freilich die geschichtliche Wahrheit um ihrer selbst willen und ohne praktische Nebenrücksichten suchen. Allein für den Juristen in ihm wird zuletzt doch das Leben des Rechtes seiner Zeit die Heimath bleiben, von der er auszog und in die er immer wieder einkehrt.“ Wie so oft formulierte Gierke hier ein „sowohl als auch“. Einerseits sind Rechtsgeschichte und geltendes Recht scharf getrennt. Andererseits ist es möglich, das eine für das andere „zu verwerthen“. „[P]raktische Nebenrücksichten“ sind für Gierke rechtspolitische Ziele.64 Im Rahmen der BGBEntstehung65 fällt dies mehr auf, gilt aber auch schon hier. Jene Instrumentalisierung der Rechtsgeschichte für die rechtspolitisch erwünschte Auslegung des geltenden Rechts bedeutet indes nicht, dass Gierke ungenau arbeiten würde. Den erwähnten Lamprecht kritisiert er denn auch für „fragwürdige Verallgemeinerungen des aus lokaler Forschung Resultierenden“.66 Lamprechts Arbeit enthielt nach dem Untertitel „Untersuchungen über die Entwicklung der materiellen Kultur des platten Landes auf Grund der Quellen zunächst des Mosellandes“. Wenn Gierke sich auf lokale Quellen konzentrierte, präsentierte er dementsprechend auch die Ergebnisse. Wenn er etwa 1888 über „Badische Stadtrechte und Reformpläne des 15. Jahrhunderts“ schrieb, dann wünschte er sich, dass der betreffende Aufsatz in der „Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins“ gedruckt werde.67 Der Redakteur dieser Zeitschrift, der damalige Karlsruher Archiv64

Deutlich das – im Übrigen resignative – Vorwort in Gierke (Fn. 52), XI. Hierzu unten V. 66 Wie Fn. 56. 67 Gierke ZGO 42 (1888), 129. Vgl. dazu Brief Gierkes an Aloys Schulte, 23.10.1887, Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Abteilung Handschriften und Rara, Nachlass S 65

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rat und spätere Bonner Historiker Aloys Schulte,68 revanchierte sich 1890 mit einem Aufsatz über „Über Reichenauer Städtegründungen im 10. und 11. Jahrhundert, mit einem ungedruckten Stadtrecht von 1100“.69 Gierke bedankte sich artig, nannte das nun publizierte Stadtrecht von Radolfzell am Bodensee eine „Urkunde von großem Werth“ – und fing an, Schulte zu belehren: „Das alles Stadtrecht aus Marktrecht hervorgewachsen, müssen Sie freilich erst beweisen. Vorläufig scheint mir nur Ein wesentlicher Faktor darin zu stecken, sonst hätte es nicht Märkte ohne Stadtrecht geben können. Die Befestigung allein macht es ebensowenig, da es Burgen ohne Stadtrecht giebt. Aber auch sie ist wesentlich, wie mir allein schon das Wort „Bürger“ u.s.w. zu beweisen scheint. Warum ist nicht ‚mercatores‘ der Ausdruck dafür geworden? Einzelne halbe, anomale Stadtbildungen liefern keinen Beweis, sowenig blosze Marktflecken wie reine ‚Bergmannenstädte‘. Und ähnlich steht es mit anderen nach meiner Ansicht für das städtische Gemeinwesen konstitutiven Elementen.“70

2760: „Berlin W Hohenzollernstr. 4, 23 Oct. 87. Hochverehrter Herr Archivrath! Anbei erlaube ich mir, Ihnen eine Arbeit zu übersenden, welche die Publikation eines mir von dem Generallandesarchiv zur Einsicht übersandten Aktenstückes und die Besprechung der darin enthaltenen Badischen Stadtrechte und Reformprojekte enthält. Ich würde mich, obschon die Arbeit ihres juristischen Charakters wegen vielleicht mehr in die Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte passen würde, doch sehr freuen, wenn dieselbe in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins gedruckt werden könnte. Denn ich würde dann für die Juristen der Badischen Historischen Kommission, der ich nur so kurze Zeit angehören durfte, doch nicht völlig überflüssig gewesen sein. Mit der Versicherung vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebener Dr. O. Gierke, Geh. Justizrath und Professor an der Universität Berlin.“ 68 Jordan/Repgen Art. Schulte, Aloys, Neue Deutsche Biographie (NDB), Band 23, 2007, 687. 69 Schulte ZGO 44 (1890) 137. 70 Postkarte Gierkes an Aloys Schulte, 9.3.1890, Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Abteilung Handschriften und Rara, Nachlass S 2760. Vgl. Gierke Deutsches Genossenschaftsrecht, 1873, Band 2, 573 ff. sowie den Brief Gierkes an Frederic William Maitland, 18.4.1898, Cambridge University Library, Additional Manuscript 7006/66, zitiert und erläutert bei Kümin (Fn. 57), 278 f.: „Mit grösztem Interesse habe ich Ihre auf so scharfsinnige Beobachtungen und so gründliche Forschungen gestützte Entwicklungsgeschichte des Korporationsbegriffs in der englischen Stadt gelesen. Das Herauswachsen der Stadt aus den ländlichen Verhältnissen ist wohl noch niemals so klar erwiesen und in allen einzelnen Punkten so deutlich gemacht. Zwischen der englischen und der deutschen Stadtgeschichte bestehen sehr grosze Unterschiede. Bei uns war die Entwicklung der neuen Gemeinwesen in den führenden Städten weit weniger einfach und ruhig; sie hatte mehr disparate Elemente zusammenzufassen und zu verarbeiten; sie vollzog sich in gröszerer Selbständigkeit gegenüber der Landschaft und den bisher herrschenden Gewalten. Um so interessanter ist es, zu sehen, wie die zur Umbildung der Begriffe treibenden Kräfte bei Ihnen wie uns gleichmäszig wirksam waren und zuletzt dasselbe Ergebnisz zeitigten. In vieler Hinsicht ist gerade die langsamere und kontinuierlichere Bildung in England beson-

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Dass Gierke hier endete, lag wohl vor allem daran, dass er die Postkarte bereits randvoll beschrieben hatte. Dieses Zitat illustriert, wie Gierke einer Art philologischen Methode im Sinne Jacob Grimms folgt, der aus formalsprachlicher Verwandtschaft der Quellen auf eine materiell-rechtliche Verwandtschaft schloss.71 Für Juristen hat diese Methode durchaus etwas vertrautes. Gierkes Argumentation ist die Auslegung eines juristischen Textes, nur dass in diesem Fall der Text zufällig bereits achthundert Jahre alt war. Fast zwanzig Jahre später dankte Gierke in ganz ähnlichem Sinn dem Göttinger Germanisten und Jacob Grimm-Herausgeber Edward Schröder, der Gierke einen Vortrag über die Worte „Stadt“ und „Dorf“ in der deutschen Sprache des Mittelalters übersandt hatte: „Bei der Entwicklungsgeschichte des Wortes ‚Stadt‘ hat mich immer auch besonders interessiert, – ich habe das in Bd II meines Genossenschaftsrechts verfolgt –, wie gerade dieses farblose Wort dazu gekommen ist, zum ersten Male in der deutschen Sprache ein Gemeinwesen als Person – als einheitliches Rechtssubjekt, aber auch als geschichtlich handelndes einheitliches Wesen – zu bezeichnen. Dasz das Wort ‚Stadt‘ im Mittelalter solchen lebendigen Inhalt, wie heute ‚Staat‘, gewonnen hat, ist m.E. nicht zu bezweifeln. Bei dem Worte ‚Land‘ finden sich nur schwache Ansätze zu gleicher Bedeutungsentwicklung. Jedenfalls waren sie nicht kräftig genug, um zu hindern, dasz hier das Fremdwort ‚Staat‘, das ja noch farbloseren Ursprungs ist, die grosze Rolle übernahm.“72 Dass Jacob Grimm für Gierke eine wichtige Grundlage bot, geht aus einem deutlich älteren Brief hervor, den Gierke an Albert Nieß gerichtet hatte. Der Braunschweiger Zimmermeister und Brunnenbauer Nieß,73 der in der Literaturwissenschaft als Briefpartner von Theodor Storm bekannt ist,74 hatte Gierke 1879 offenbar gefragt, ob dieser eine kompakte, allgemeinverständliche Darstellung des älteren deutschen Rechts empfehlen könne. Gierke verneinte dies. Anlass der Frage war vermutlich ein soeben erschienener Aufsatz Gierkes über „Jugend und Altern des Rechts“.75 Gierke schrieb an Nieß: ders lehrreich und zur Aufhellung der inneren geistigen Vorgänge bei der Erarbeitung der modernen Rechtsbegriffe geeignet.“ 71 Dilcher (Fn. 5), Sp. 244. 72 Postkarte Gierkes an Edward Schröder, 24.2.1908, Niedersächsische Staats- und Landesbibliothek Göttingen, Abteilung Handschriften und Alte Drucke, Cod. Ms. E. Schröder 295. Ähnlich der Brief Gierkes an Maitland, 18.4.1898 (Fn. 70). 73 Anmerkung von Goldammer (Hrsg.) Theodor Storm – Werke in einem Band, 1988, 893. 74 Briefe Storms an Nieß bei Mack Westermanns Monatshefte 81 (1936) 74. 75 Gierke Deutsche Rundschau 18 (1879) 205 = Aufsätze (Fn. 3), Band 1, 243. Den „Gegensatz zu Jacob Grimms Art“, wohl in Bezug auf dessen „Rede über das Alter“ von 1860, betont Stutz (Fn. 13), XVIII, vgl. aaO. S. XXXI f.

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„Das Material, welches ich in meinem Aufsatze verarbeitet habe, befindet sich in den verschiedensten meist rein gelehrten Werken zerstreut. Bezüglich des älteren deutschen Rechts ist Jakob Grimms berühmtes Buch ‚Deutsche Rechtsalterthümer‘ die vollständigste Zusammenstellung der ursprünglichen Formen, Symbole und Institute.76 In einer Reihe allgemeiner Anschauungen berühre ich [mich] mit Arnold, dessen Buch ‚Kultur und Rechtsleben‘ wol auch dem Nichtfachmann in der Hauptsache verständlich sein muß. Ich selbst habe in einer kleinen Festschrift zu Homeyers Jubiliäum (Berlin 1871)[77] über den ‚Humor im deutschen Recht‘ eine Reihe eigenthümlicher Züge des deutschen Rechts zusammengestellt, dabei aber die allgemeinen Ideen der Entwicklung weniger eingehend als jetzt behandelt. Leider besitze ich kein Exemplar dieses Schriftchens mehr, in dem Sie vielleicht Einzelnes interessieren würde. Aber eine zusammenhängende historische Schilderung der Art, wie sie Ihnen vorschwebt, existiert überhaupt nicht.“78 Neben Grimm bezog sich Gierke hier auf den Marburger Rechtshistoriker Wilhelm Arnold.79 Dessen Werk „Ansiedelungen und Wanderungen deutscher Stämme“ hatte Gierke in einem drei Jahre älteren Aufsatz über das Edikt des Merowingerkönig Chilperich80 lobend zitiert. Arnold hatte hier etwa von hessischen Ortsnamen, die auf „hausen“ oder „heim“ enden, auf eine wachsende Sesshaftigkeit zwischen dem fünften und achten Jahrhundert geschlossen; ebenso daraus, dass Personennamen den Ortsnamen zugrunde gelegt wurden; „der Ort erscheint also als dauernde Heimath und fester Besitz“.81 Gierke sah für sich „eine überraschende Bestätigung aus Arnolds jüngsten musterhaften Forschungen. Denn indem Arnold durch umfaßende Erklärung unter Vergleichung alter Ortsnamen eine ganz neue Quelle für die Geschichte der ‚Wanderungen und Ansiedlungen germanischer Stämme‘ eröffnet, hat er insbesondere auch für Beurtheilung der Kulturund Wirtschaftsverhältniße in den verschiedenen Perioden der Dorfgründung vortreffliches Material zu Tage gefördert.“82 Dies wirft wiederum ein 76 Vgl. auch das Vorwort zu Gierke (Fn. 52), VI zu „der sich in den Rechtsdenkmälern abspiegelnden Begriffsentwicklung“. 77 Wiederabgedruckt in Aufsätze (Fn. 3), Band 1, 21. 78 Brief Gierkes an Albert Nieß, 10.2.1879, Stadtarchiv Braunschweig, Nachlass Albert Nieß, G IX 8: 10. Der Bibliothekskatalog (Fn. 11), Sp. 5 verzeichnet ein Exemplar der bis dahin allein erschienenen ersten Auflage des „Humor im deutschen Recht“. 79 Hierzu Kroeschell Ein vergessener Germanist des 19. Jahrhunderts – Wilhelm Arnold (1826-1883), in: FS Krause 1975, 253 ff. 80 Gierke Erbrecht und Vicinenrecht (Fn. 3), 430; hierzu Kroeschell Söhne und Töchter im germanischen Erbrecht, in: ders. (Fn. 4), 35, 55. 81 Gierke Erbrecht und Vicinenrecht (Fn. 3), 476 Fn. 94 unter Hinweis auf Arnold Ansiedlungen und Wanderungen germanischer Stämme – Zumeist nach hessischen Ortsnamen, Abth. I, 1875, 232 ff. 82 Gierke Erbrecht und Vicinenrecht (Fn. 3), 475 f.

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Licht auf Gierkes Methode. Jacob Grimm war bereits eine Generation vor Gierke als unpraktisch kritisiert worden, und zwar von Homeyer,83 dem leseunlustigen Erstgutachter bei Gierkes Habilitation und Empfänger jenes „Schriftchens“ über den „Humor im deutschen Recht“, übrigens SavignySchüler84 und Gierkes Doktorvater.85 Gierke traf ein solcher Vorwurf ‚antiquarischer Rechtsgeschichte‘ nicht, dazu legte er zu großen Wert auf die „Kultur- und Wirtschaftsverhältniße“, hatte deshalb auch Schnittmengen mit dem oben erwähnten Karl Lamprecht,86 aber auch mit der Nationalökonomie eines Gustav Schmoller.87 Bezeichnend für Gierke war aber, wie er das germanistische Quellenproblem löste: „So sind uns ja aber leider überhaupt nur ganz vereinzelte und gelegentliche Nachrichten über die innere Einrichtung der Dorfmarken in unseren ältesten Rechtsquellen überliefert. Nicht nur bei den Franken, auch bei den übrigen germanischen Stämmen schweigen die ältesten Gesetze so gut wie völlig von den Rechtsverhältnissen der Bauerhöfe und Allmenden. Diese Dinge erschienen eben theils zu alltäglich und allbekannt, um der Aufzeichnung zu bedürfen, theils aber scheinen sie auch mehr dem Ortsrecht und Gemeindeweisthum, als dem Volksrecht und Volksweisthum oder gar der späteren Königsgesetzgebung anzugehören. Neben den bekannten, für sich allein nicht ausreichenden Nachrichten des Caesar und Tacitus über die urgermanische Agrarverfaßung sind es daher weit weniger direkte Quellerzeugniße, als scharfsinnige und unwiderlegliche Schlüsse aus dem späteren wirthschaftlichen und juristischen Entwicklungsgange, aus den überall hervorleuchtenden Spuren und Resten des älteren Zustandes, aus der Analogie stammverwandter Völker, aus den Zeugnißen der Sprache, aus der inneren Wahrscheinlichkeit gewesen, wodurch in neuerer Zeit die Aufhellung dieses 83 Homeyer Rezension zu Deutsche Rechtsalterthümer, Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, April 1830, Nr. 65, Sp. 515, 516 f. 84 Wie Fn. 48. 85 Hierzu Stutz (Fn. 13), XIV. 86 III. bei Fn. 55 ff. 87 Vgl. die Briefkarte Gierkes an Schmollers Witwe vom 4.7.1918, Landesarchiv Berlin, Rep. 241, Band 3, Acc. 633: „Hochverehrte gnädige Frau! Immer noch nicht habe ich Ihnen für die freundliche Zusendung der hinterlassenen Schrift Ihres verstorbenen Gemahles gedankt, obschon ich sie alsbald mit großem Interesse gelesen hatte. Als neulich der Tag kam, an dem er seinen 80ten Geburtstag gefeiert haben würde, trat mir sein Bild wieder besonders lebhaft vor die Seele! Ich komme aber erst heute dazu, Ihnen auszusprechen, wie sehr es mich bewegt hat, daß ich auch in dieser Abhandlung, wie in manchen mir in den letzten Jahren zugegangenen Schriften, die bis zuletzt bewahrte freundschaftliche Gesinnung bezeugt finde, die er ein langes Leben hindurch mir gegenüber hegte und in mannichfachem Zusammenwirken betätigte. Verehrungsvoll in alter treuer Anhänglichkt. [?] Euer Excellenz herzlich ergebener OG.“; daneben das Zitat in Briefwechsel Wilhelm Dilthey und Graf Paul York von Wartenburg, 1923, 74, ausgewertet bei vom Bruch Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, 244 f.

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dunklen Gebiets in wahrhaft glänzender Weise gelungen ist. Gerade hierdurch aber fällt auch auf die vereinzelten und spärlichen Quellennachrichten ein helles Licht, und es laßen sich ganz andere Schlußfolgerungen auf sie bauen, als ihre schmale Basis ohne solche Stütze zu tragen vermöchte.“88 Was heute irritiert, ist gerade diese Schlussfolgerungssicherheit, mit der Gierke erfrischend selbstbewusst „scharfsinnig“ und gar „unwiderleglich“ behauptet – was er nicht weiß und nicht wissen kann. Diese lang praktizierte ‚Rückschauverzerrung‘ ist es, welche die deutsche Rechtsgeschichte heute veranlasst, sich selbst neu zu erfinden und die Frage zu stellen: „Hatten die Germanen Recht?“,89 hatten sie in Zeiten ohne schriftliche Kommunikation zumindest Gewohnheitsrecht oder eher „Rechtsgewohnheiten“ oder gar nur Rituale?90 Die „Genossenschaft“ wird heute nüchtern betrachtet, als Erklärungsmuster, nicht als quellengetreue Wahrheit.91 Genossenschaft ist eine Deutung, nicht mehr.

IV. Genossenschaftsrecht vs. „Neuere Geschichte des deutschen Rechts“ Bevor mit dem Deutschen Privatrecht das Arbeitsgebiet zu behandeln ist, welches das „Genossenschaftsrecht“ mehr als zwanzig Jahre lang von Gierkes Schreibtisch verdrängt hat,92 soll eine Aufgabe erwähnt werden, die Gierke zugunsten, wenn auch vielleicht nicht wegen des „Genossenschaftsrechts“ vernachlässigt hat. Am 15. November 1880 unterschrieb Gierke einen Verlagsvertrag mit dem Verlag Cotta in Stuttgart. Geschuldet war eine „Neuere Geschichte des deutschen Rechts“ für die Reihe „Bibliothek deutscher Geschichte“.93 Geliefert hat Gierke dieses Werk nie. Den Vertrag hatte Gierke freilich schon vor Unterzeichnung unter eine Potestativbedingung gestellt: „Den Termin für die Ablieferung werde ich nicht anders bestimmen können als: nach Vollendung meines [. . .] Werkes über Deutsches Genossenschaftsrecht. [. . .] Sie 88 Gierke Erbrecht und Vicinenrecht (Fn. 3), 462. Gierke verwies hier „durchweg“, d.h. ohne Einzelbelege auf sein Genossenschaftsrecht, und zwar auf vielfach belegte Passagen, die allerdings mehrere hundert Seiten umfassen. 89 Titel eines Frankfurter Seminars bei Gerhard Dilcher im Sommersemester 2001, aufgegriffen bei Dilcher und Goetz in Dilcher/Distler (Hrsg.) Leges – Gentes – Regna – Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur, 2006, S. 22, 37, 94. 90 Hierzu die Beiträge in Cordes/Kannowski (Hrsg.) Rechtsbegriffe im Mittelalter, 2002; Dilcher/Distler (Fn. 89). 91 Vgl. nur die Nachweise bei Dilcher (Fn. 2), Sp. 376, 379. 92 Vgl. Gierke (Fn. 47), VII f., XII. 93 Verlags-Vertrag, 15.11.1880, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Cotta-Archiv, Cotta-Vertr. 3.

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können aber versichert sein, daß ich darum die Ihnen gegenüber zu übernehmende Verpflichtung, so bald es mir möglich das Werk zu liefern, nicht weniger ernst nehmen werde!“94 Den dritten Band seines Genossenschaftsrechts hat Gierke pünktlich abgeschickt, aber die – so Gierke – „dankbarere Aufgabe einer Geschichte des neueren deutschen Rechts“ zu erfüllen, blieb Gierke verwehrt. Nahe liegend erscheinen Zeitgründe, und vielleicht erwies es sich doch als schwieriger für Gierke als gedacht, eine neuere deutsche Rechtsgeschichte zu verfassen, der er ja nicht ohne weiteres seine Genossenschaftslehre überstülpen konnte. Der Grund oder zumindest der Vorwand für Gierkes Rückzug dürfte indes banaler sein. Der damals in Bonn lehrende Historiker Wilhelm Maurenbrecher, der die Reihe herausgeben sollte,95 hatte sich mit dem Verleger zerstritten,96 nachdem unter anderem Roderich von Stintzing, der Gierke für die „Neuere Rechtsgeschichte“ empfohlen hatte,97 sein Werk zur „Rezeption des römischen Rechtes“ abgesagt hatte, da „die Vollendung der ‚Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft‘ [. . .] noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen“ werde.98 Die „Bibliothek deutscher Geschichte“ ist bei Cotta erschienen, aber ohne Stintzing, Gierke und Mau94 Auch für das folgende Zitat Brief Gierkes an die J.G. Cotta’sche Buchhandlung, 11.11.1880, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Cotta-Archiv, Cotta$Br. 95 Welche Autoren für welche Themen vorgesehen waren, gliedert Maurenbrecher auf in einem Brief an die J.G. Cotta’sche Buchhandlung vom 22. März 1880, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Cotta-Archiv, Cotta$Br. Für „Recht und Wirtschaft bis zum XIV. Jahrh.“ und für „Gesch. der Landeshoheit in Deutschland“ war jeweils Wilhelm Arnold vorgesehen (vgl. oben bei Fn. 78). Vgl. zuvor die vertrauliche Absichtserklärung Maurenbrecher/Cotta vom Dezember 1879, Deutsches Literaturarchiv Marbach a.a.O. 96 Brief Maurenbrechers an die J.G. Cotta’sche Buchhandlung vom 26. September 1881, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Cotta-Archiv, Cotta$Br. Hier ging es um die Bedingungen der Vertragsaufhebung. Maurenbrecher verlangte eine „unbedingt nothwendige Garantie [. . ], daß Sie nicht mit geringfügigen Detailmodifikationen unter anderer Fahne meinen Plan ausführen, wenn er ihnen vielleicht – „von dritter Seite angeboten werden sollte!“. 97 Brief Maurenbrechers an die J.G. Cotta’sche Buchhandlung vom 27.12.1880, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Cotta-Archiv, Cotta$Br.: „Der zweite mir sehr unangenehme Vorfall betrifft den Geheimrath von Stintzing, meinen Bonner Collegen. Auch er hatte (mündlich) fest zugesagt das Buch über deutsches Rechtsleben in der Zeit der Rezeption des römischen Rechtes zu schreiben, und sich nur ausbedungen, in der Zeit nicht gedrängt zu werden, weil er erst seine Gesch. der Rechtswissenschaft abschließen müßte. Darauf ging ich gern ein. Stintzing hatte sich sehr lebhaft für die ganze Sache interessiert u. sehr oft mit mir über manches Rath gepflogen (die Anwerbung Gierke’s zB. verdanken wir ihm wesentlich.) Aber jetzt fällt auch er ab mit der sehr allgemeinen Motivierung, er könne sich nicht für spätere Zeit binden. So sagte er mir wenigstens.“ Zuvor hatte Julius Weizsäcker seinen Beitrag abgesagt „ohne alle Motivierung – ‚ich kann nicht‘ – weiter sagt er nichts.“ In einem Brief vom 1.11.1880 hatte Maurenbrecher Gierke dem Verlag als Autor annonciert, am 25.11.1880 fragte er an, ob Gierke den Vertrag abgeschlossen habe, Deutsches Literaturarchiv Marbach a.a.O. 98 Brief Stintzings an die J.G. Cotta’sche Buchhandlung vom 24.12.1880, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Cotta-Archiv, Cotta$Br.

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renbrecher. Noch im November 1880 verfasste Gierke eine Miszelle zur „Belehnung des Mannsstammes mit Allmendstücken“,99 hielt im Oktober seine Rektoratsrede über „Naturrecht und Deutsches Recht“100 und musste dann für Beselers Doktorjubiläum wohl bereits an „Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung“ denken. V. Genossenschaftsrecht vs. „Deutsches Privatrecht“ Was dann kam, ist sehr bekannt. Anfang 1888 wurde der erste BGBEntwurf vorgelegt, der in Gierke einen seiner vernehmlichsten Kritiker fand.101 Bernhard Windscheid spottete in einem öffentlichen Leipziger Vortrag, „principielle Opposition erhebt sich von germanistischer Seite getragen von einem bedeutenden Manne, den ich hoch schätze. Wenn Sie diesen hören, müssen Sie glauben, dass der [erste BGB-]Entwurf sich anschicke, das deutsche Recht zu erwürgen.“102 Gierkes Kritik zielte rechtspolitisch jedoch nicht nur auf die Durchsetzung seiner deutschrechtlichen Thesen, sondern auf „Erhalt der bestehenden Ordnung“.103 Der „Tropfen sozialistischen Oeles“ im Privatrecht und der Hauch des naturrechtlichen Freiheitstraumes im öffentlichen Recht104 sollte die „gemeingefährlichen Bestrebungen der Socialdemokratie“ unschädlich machen. Trotz seiner juristischen Ausbildung war er für die zweite BGB-Kommission als ‚Quotenökonom‘ im Gespräch, wurde jedoch mehrheitlich abgelehnt, da man von ihm keine konstruktiven Vorschläge, sondern nur „eine Art Reklame für seine Person“ erwartete.105 Bei den HGB-Beratungen nahm er hingegen als Mitglied der „Kommission Handel“ an allen Sitzungen teil und machte hier auf den mecklenburgischen Regierungsvertreter „besonderen Eindruck“.106 Allein zur BGB-Entstehung 99

Gierke ZRG GA 15 (1881) 198. Gierke Naturrecht und deutsches Recht – Rede zum Antritt des Rektorats der Universität Breslau am 15. Oktober 1882, 1883 = Aufsätze (Fn. 3), Band 1, 371. 101 Vgl. nur Repgen (Fn. 7), 51 ff. 102 Vortrag Windscheids in Leipzig am 2.11.1888, das Zitat nach der Mitschrift in den Leipziger Nachrichten vom 4.11.1888, abgedruckt bei Schubert Die Anträge von Bernhard Windscheid in der 1. BGB-Kommission und sein Lehrbuch des Pandektenrechts nebst zwei Äußerungen Windscheids zum 1. BGB-Entwurf, in: Festschrift für Rolf Knütel, 2009, S. 1103, 1132; etwas milder der Bericht in Germania vom 8.11.1888, aaO, S. 1131: „der Entwurf schicke sich an, dem deutschen Recht den Todesstoß zu geben“. 103 Gierke Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht, erstmals in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich 12 (1888) 843 ff., 1179 ff.; 13 (1889) 183 ff., 723 ff., hier zitiert nach der Buchausgabe 1889, 25 f. 104 Gierke Die soziale Aufgabe des Privatrechts – Vortrag gehalten am 5. April 1889 in der juristischen Gesellschaft zu Wien, 13 = Aufsätze (Fn. 3), Band 2, 605. 105 Schubert (Fn. 61). 106 Schubert/Schmiedel/Krampe Quellen zum Handelsgesetzbuch von 1897, Band 1, 17. Die Protokolle sind anonymisiert. 100

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schrieb Gierke in dieser Zeit dreizehn Aufsätze,107 zum HGB immerhin zwei.108 In einem Brief an den englischen Rechtshistoriker Frederic Willliam Maitland beklagte er sich über die „unabweisliche, aber recht lästige Pflicht“, zu seinem „Schmerze [. . .] mehrere Jahre ganz dem neuen bürgerlichen Rechte widmen zu müssen, das ich nicht nur an der Universität in umgestalteten Vorlesungen vorzutragen habe, sondern auch allwöchentlich in Stettin vor den dortigen praktischen Juristen doziren muss“. Seine Sorge: „Für unsere deutsche Rechtswissenschaft wird die Einführung des neuen Rechts eine schwere Krisis bedeuten; ich fürchte, dasz sie für längere Zeit von der errungenen Höhe herabsinken wird. Vielleicht treten Sie in England die Erbschaft an, da Sie wohl von einer ähnlichen Rechtsumwälzung verschont bleiben werden!“109 Berührungsängste gegenüber „praktischen Juristen“ hatte er allerdings nicht. So bedauerte Gierke gegenüber Ferdinand Regelsberger („Wie steht es denn mit der Fortsetzung Ihrer Pandekten?“), dass er in einem Rechtsstreit über die „Sonderrechte in Körperschaften“ „wegen Zeitmangels“ kein Gutachten erstatten konnte. Einem auf den Streitfall bezogenen Aufsatz Regelsbergers hatte Gierke „Opposition gemacht“ und „hätte Sie gern auch vor Gericht bekämpft. Ich denke, daß solche Scharmützel die Freundschaft verstärken“.110 Eine Aufforderung von Karl Binding gab Gierke „den Anstoß, meine noch unvollendete rechtsgeschichtliche Arbeit auf dem Felde des deutschen Genossenschaftsrechts zu unterbrechen, um ein deutsches Privatrecht zu schreiben. [. . .] Mir schien, als habe die Wissenschaft des deutschen Privatrechts sich über der Vertiefung in den wunderbaren Reichthum unserer Vorzeit neuerdings [. . .] etwas an den Aufgaben versäumt, die ihr das rasch vorwärts eilende Leben der Gegenwart stellt.“111 Mit anderen Worten: Wer zu spät kommt, den bestraft das BGB. Gierke konterte mit einer Drohung: „Ja, wer will sagen, welches Verhängnis für die friedliche Lösung der unser Volksleben im innersten erregenden Fragen sich an die Einführung eines neuen Privatrechtes knüpfen könnte, das, wenn es nicht deutsch ist, auch 107 Aufstellung bei Maas Bibliographie des bürgerlichen Rechts – Verzeichnis von Einzelschriften und Aufsätzen über das im Bürgerlichen Gesetzbuche für das Deutsche Reich vereinigte Recht sachlich geordnet, 1888–1898, 1899, 337. 108 Gierke Der Entwurf des neuen Handelsgesetzbuches, ZHR 45 (1896) 441; unter gleichem Titel als Vortrag gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 27.3.1897; ders. Handelsgesellschaftsrecht und bürgerliches Recht – Vortrag, gehalten in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, am 15. Dezember 1900, Archiv für bürgerliches Recht 19 (1901) 114. 109 Brief Gierkes an Frederic William Maitland, 24.3.1899, Cambridge University Library, Additional Manuscript 7006/72; zitiert und erläutert bei Kümin (Fn. 57), 278 f. 110 Brief Gierkes an Ferdinand Regelsberger vom 14.10.1895, Niedersächsische Staatsund Landesbibliothek Göttingen, Abteilung Handschriften und Alte Drucke, Cod. Ms. K. Brandi 201. 111 Auch zum folgenden Gierke Deutsches Privatrecht, Band 1, 1895, V ff.

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nicht sozial sein kann. Folgte doch einst der Rezeption des volkswidrigen Rechtes der im großen Bauernkriege gipfelnde Versuch einer sozialen Revolution!“ Die politische Lösung: „Das deutsche Recht [. . .] bietet in der Gährung unserer Zeit den festen Grund, auf dem unser Volk stehen muß, wenn es eine Gesundung seiner wirthschaftlichen Verhältnisse erringen und sich selbst in sittlicher und sozialer Wiedergeburt verjüngen will.“ Die juristische Lösung: Die „germanistische Rechtswissenschaft [. . .] muss [. . .] unablässig danach ringen, das Gold, das sie aus der Tiefe fördert, immer klarer und schärfer in juristischer Begriffsmünze auszuprägen“. Es ist dies ein ähnliches Programm, wie es Rudolf von Jhering schon 1857 als „Unsere Aufgabe“ bezeichnet hatte, „dem römischen Rechte selbst die Waffen zu entnehmen, um es zu bekämpfen, das ist das wahre Mittel zur Befreiung“.112 Als befreit empfand sich Gierke durch das BGB sicher nicht, aber er war ein guter Verlierer. In seiner Rede über „Die historische Rechtsschule und die Germanisten“ sagte er 1903: „Seitdem die Entscheidung gefallen ist, ruhen die Waffen. Auch wer da meint, daß das Gesetzbuch [. . .] vom Geiste des deutschen Rechts nicht so durchtränkt ist, wie unser Volk erwarten durfte, wird nicht daran denken, den Streit um Geschehenes zu erneuern. Der gemeinsame Boden für die deutsche Jurisprudenz ist gefunden.“113 Von diesem Boden aus ging es für Gierke um die Welt. Beim 2. Internationalen Kongress für historische Wissenschaften im Rom 1903 hielt Gierke einen Vortrag in der Landessprache,114 ebenso 1913 in London.115 1908 war er in Berlin selbst Gastgeber der rechtshistorischen Sektion, seine Frau Lili ist im Kongressprogramm als Vorsitzende des Damenkomitees genannt.116 112 Jhering Unsere Aufgabe, Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 1 (1857) 1, 51 f. 113 Gierke Die historische Rechtsschule und die Germanisten – Rede zur Gedächtnisfeier des Stifters der Berliner Universität König Friedrich Wilhelm III. in der Aula derselben am 3. August 1903 gehalten, 32 = Aufsätze (Fn. 3), Band 2, 727, 758. 114 Vgl. die Würdigung zum 100. Geburtstag von Reichsgerichtsrat Georg Müller Dem Andenken Otto von Gierkes, Sonderdruck aus Markenschutz und Wettbewerb – Monatsschrift für Marken-, Patent- und Wettbewerbsrecht, 41. Jahrgang, Heft 1, 1941, 2: „Ein Hüne, blauäugig, mit blond-wallendem, von 62 Lebensjahren nicht gebleichtem Haupthaar und Bart, hielt 1903 auf dem Kapitol zu Rom beim Internationalen Historikerkongreß eine italienische Ansprache. Den Versammelten erschien er als leibhaftige Verkörperung deutscher Art. Und die Römer gestanden bewundernd: nun erst, da Otto Gierke zu ihnen redete, hätten sie einen echten Germanen gesehen. Zum äußeren Eindruck stimmte das innere Wesen. Gierke war ein kerndeutscher Mann. Er gehört als Forscher, Lehrer, Bildner und Künder unseres heimischen Rechts zu dieses Volksgutes größten und treuesten Hütern.“ Der Sonderdruck ist enthalten im Nachlass, Niedersächsische Staats- und Landesbibliothek Göttingen, Abteilung Handschriften und Alte Drucke, Cod. Ms. Gierke Nr. 24. 115 Stutz (Fn. 13), XXV. 116 Programm des Internationalen Kongresses für historische Wissenschaften. Berlin, 6. bis 12. August 1908. (Ausgegeben 6. Juli 1908), 1908, 43: „Um den Damen, die den Kongreß besuchen, insbesondere den Ausländerinnen, den Aufenthalt zu erleichtern und an-

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1909 erhielt er die Ehrendoktorwürde in Harvard und hielt auch dort eine offenbar selbst verfasste lange Rede in elegantem Englisch, auch wenn das diesem Beitrag vorangestellte Zitat etwas schlicht erscheinen mag.117 Schon im Jahre 1900 hatte der erwähnte Maitland einen Auszug aus dem dritten Band von Gierkes Genossenschaftsrecht übersetzt und mit einer Einleitung versehen118 – Maitland, der übrigens gleichermaßen von Gierke wie vom BGB begeistert war119 – von außen betrachtet war dies also kein Widerspruch.120 Diese ‚Internationalisierung‘ Gierkes ist deshalb bemerkenswert, weil sie 1914 ein jähes Ende fand. Am 1. August 1914 schrieb Gierke an seinen Göttinger Kollegen Ferdinand Frensdorff: „Hier ist die Aufregung groß, aber die Stimmung einmütig, entschlossen und opferbereit!“121 Diesem Ton folgten auch seine Publikationen im Krieg;122 der Landwehroffizier von 1866 und 1870123 siegte in Gierke über den polyglotten Gelehrten. Vielleicht genehm zu gestalten, hat sich unter Vorsitz von Frau Lili Gierke (Charlottenburg, Carmerstr. 12) ein Damenkomitee (S. 10) gebildet, das den Damen die Sehenswürdigkeiten Berlins und seiner Umgebung zeigen sowie die weiblichen Unterrichtsanstalten und die für Frauen besonderes Interesse bietenden sozialen Einrichtungen Berlins unter sachkundiger Führung zugänglich machen wird. Ausführliche Mitteilungen über die Veranstaltungen des Damenkomitees (Besichtigungen, Ausflüge, gesellige Zusammenkünfte usw.) werden täglich im Kongreß-Tageblatt veröffentlicht werden.“ 117 Niedersächsische Staats- und Landesbibliothek Göttingen, Abteilung Handschriften und Alte Drucke, Cod. Ms. Gierke Nr. 5, unvollständig überliefert (36 Bl.) in Gierkes lateinischer Handschrift (Tinte mit Bleistiftkorrekturen), für das Eingangszitat Bl. 3. 118 Gierke Political Theories of the Middle Age, translated with an introduction by Frederic William Maitland, 1900; französische Ausgabe: Les théories politiques du Moyen âge par Otto von Gierke, précédées d’une introduction par Frederic William Maitland, traduites de l’allemand et de l’anglais par Jean de Pange, 1914. 119 Maitland The Making of the German Civil Code, in: Fisher (Hrsg.) The Collected Papers of Frederic William Maitland, Band 3, 1911, 480, 484. 120 Die Einladung, in Berlin 1908 zu sprechen, musste Maitland aus gesundheitlichen Gründen ablehnen, vgl. die Briefe Gierkes an Frederic William Maitland, 13. und 20.6. 1906, Cambridge University Library, Additional Manuscript 7008/338 f., und die Antwort von Maitland an Gierke, 15.6.1906, Zutshi The Letters of F.W. Maitland, Band 2, 1995, Nr. 344 mit Anmerkungen zu Hintergrund und Briefwechsel, zitiert und erläutert bei Kümin (Fn. 57), 278 f. In einem weiteren Brief vom 31.12.1903 hatte Gierke Maitland für die Übersendung des „Vol. I der Year Books of Edward II“ gedankt, Cambridge University Library, Additional Manuscript. 121 Postkarte Gierkes an Ferdinand Frensdorff, 1.8.1914, Niedersächsische Staats- und Landesbibliothek Göttingen, Abteilung Handschriften und Alte Drucke, F. Frensdorff I Briefe 105. Vgl. Stutz (Fn. 13), XLII. 122 Gierke Krieg und Kultur – Rede am 18. September 1914, Deutsche Reden in schwerer Zeit 2, 1914; ders. Der deutsche Volksgeist im Kriege, 1915, 28 ff. = Aufsätze (Fn. 3), Band 2, 971, 996 ff.; ders. Unsere Friedensziele, 1917; moderater über das Recht als „Friedensordnung“ in: ders. Das Recht und der Krieg, Gruchot 59 (1915) 3 = Aufsätze (Fn. 3), Band 2, 945; weitere Titel bei Stutz (Fn. 13), XLI. 123 Begründung des Berufungsvorschlags vom 27.6.1887, unterzeichnet durch Justizminister, Minister der geistlichen Angelegenheiten und Finanzminister, GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45, Band 4, Bl. 254 R.

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war es mehr als nur ein etymologisch motivierter Zufall, dass im Adelswappen der Gierkes an zwei Stellen ein „mit der Hand einen Ger zum Wurf haltender natürlicher Arm hervorwächst“.124 Kurz vor der Jahrhundertwende hatte Gierke noch an Maitland geschrieben, durch die neuen Vorlesungen und Verträge zum BGB sei er „in meiner eignen wissenschaftlichen Arbeit aufgehalten und habe die Fortsetzung meines Deutschen Privatrechts ganz unterbrechen müssen. Noch mehr bin ich vom historischen Studium abgedrängt. Ich freue mich daher sehr auf den 1. Januar 1900, weil ich dann mit diesen äuszeren Arbeiten um des neuen Gesetzbuches willen fertig bin und wieder an die schriftstellerische Production gehen kann. Ich habe große Sehnsucht danach und sehne mich namentlich auch, wieder in die Geschichte hinabzutauchen. Von meinem Genossenschaftsrecht liegt seit vielen Jahren eine unabgeschlossene Fortsetzung im Pult. Ob ich zur Vollendung kommen werde, weisz ich nicht, hoffe aber, dasz Gott mir Kraft und Zeit dazu gewährt.“125 Paul Oertmann gratulierte er denn auch nach Erscheinen einer Neuauflage des Schuldrechtskommentars zu dessen „beneidenswerte[r] Schaffenskraft, mit der Sie in kurzer Zeit die umfassende Aufgabe bewältigt haben. Da ich selbst seit Jahren im Schuldrecht arbeite, weiß ich die Vollständigkeit und Zuverlässigkeit Ihrer Erläuterungen und den gesunden Sinn in Ihren Entscheidungen voll zu würdigen. Ich selbst komme leider jetzt sehr langsam vorwärts, so daß, wenn ich etwas fertig habe, es in dieser vorwärts stürmenden Zeit bereits überholt ist. In Berlin ist es allzuschwer, sich den zeitraubenden amtlichen[126] und nichtamtlichen Nebenbeschäftigungen zu entziehen. So sehr man die Kunst des Ablehnens vervollkommnen mag, es bleibt doch immer noch zu viel hängen. Außerdem aber meldet sich bei mir der Einfluß des Alters in abnehmender Arbeitskraft und leichterer Ermüdung an.“127 124 Gierke (wie Fn. 22) hatte 1911 darum gebeten, „mir behufs Wahrung der Familieneinheit das gleiche Wappen zu verleihen, das im August v. J. mein Bruder Walther erhalten hat“. Dieser war wegen seiner „regen Beteiligung [. . .] an den Bestrebungen für die Stärkung des Deutschtums, die besonders in der nationalpolitisch wertvollen Fideikommißgründung in Erscheinung getreten ist“, auf eigenen Antrag hin geadelt worden, GStA PK, I. HA Rep. 176 Heroldsamt, Nr. 3179. 125 Wie Fn. 109. 126 Bereits in Breslau hatte sich Gierke, als er als Rektor zugleich den Kurator der Universität vertrat, gegenüber dem Bonner Romanisten Paul Krüger beklagt: „Nur ist es eine lästige Zugabe zu den Geschäften, zumal die Kuratorialgeschäfte noch weit langweiliger als die Rektoratsgeschäfte sind“, Brief vom 15.6.1883, Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Abteilung Handschriften und Rara, S 1925. 127 Brief Gierkes (vermutlich) an Paul Oertmann vom 8.7.1910, Niedersächsische Staats- und Landesbibliothek Göttingen, Abteilung Handschriften und Alte Drucke, Cod. Ms. Gierke Nr. 25. Für Oertmann als Adressat spricht, dass dieser 1910 eine neue Auflage

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Nachdem endlich 1913 der vierte Band des „Deutschen Genossenschaftsrechts“ erschienen war, folgte 1917 der dritte Band des „Deutschen Privatrechts“. Hatte Gierke sich im ersten Band noch auf „das rasch vorwärts eilende Leben der Gegenwart“ konzentriert,128 beklagte er nun den „Mangel ausreichender germanistischer Vorarbeiten über das ältere deutsche Recht“, da „die rechtsgeschichtliche Forschung“ das deutsche Schuldrecht der Vergangenheit vernachlässigt habe. „So musste denn in diesem Bande die geschichtliche Grundlegung ungleichmäßig und vielfach sehr lückenhaft ausfallen.“129 Dennoch konnte Gierke gerade im Gesellschaftsrecht einmal mehr den „germanische[n] Assoziationstrieb“ beschwören und damit im letzten Band des „Deutschen Privatrechts“ zum Ausgangspunkt des „Deutschen Genossenschaftsrechts“ zurückkehren.130 Sein wohl letzter dogmatischer Aufsatz galt dann der „Haftung für Plünderungsschäden“, veröffentlicht am 1. Januar 1919.131

VI. Schluss: „ein Mensch aus Einem Gusse“? Fügt die Lektüre von Gierkes privaten Handschriften den vorhandenen Bildern ein neues, gar authentisches hinzu? Gierkes Methode hinterlässt weiterhin den zwiespältigen Eindruck, den zumindest die neuere deutsche Rechtsgeschichte von ihm hat. Wo er Quellen hat, analysiert er diese sorgfältig. Wo er keine Quellen hat, weiß er sich zu helfen. Sein Handwerkszeug ist die Sprache, aber ebensogut die Spekulation. Seine Leidenschaft ist die Rechtsgeschichte, sein Tagesgeschäft die Rechtspolitik. Der Privatmann Gierke erscheint gleichfalls so, wie schon Ulrich Stutz ihn beschrieben hat, weltgewandt und zugleich „[p]reussisch-deutsch [. . .] bis in die Knochen“, im persönlichen Umgang freundlich und kollegial.132 Überraschend an seinen Briefen und Postkarten ist der vergleichsweise unprätentiöse Stil; ein seines Kommentars über „Das Recht der Schuldverhältnisse“ veröffentlicht hatte. Oertmann war zudem seit 1918 Professor in Göttingen, so dass Julius von Gierke auf diesem Weg den Brief seines Vaters zurückerhalten haben mag. Auch der dritte Brief unter dieser Signatur (neben dem an Runge (Fn. 40) dürfte an Oertmann gerichtet sein. Hier war Gierke von einem Göttinger Kollegen um Rat in Berufungsangelegenheiten gebeten worden (Otto Heilborn vs. Fritz Freiherr von Marschall von Bieberstein). Gierke schrieb am 9.5.1918 an den Kollegen, der selbst erst kurz zuvor nach Göttingen berufen worden war, er habe sich ja „bereits recht gut eingelebt“, was zeitlich zu Oertmann passen würde. 128 Wie Fn. 111. 129 Gierke Deutsches Privatrecht, Band 4, V. 130 Gierke (Fn. 129), 832. 131 DJZ 1919, Sp. 8. Seine letzte Publikation überhaupt betraf eine Rezension von Aloys Schulte, Fürstentum und Einheitsstaat in der deutschen Geschichte, 1921, ZRG GA 42 (1921), 484. Zu Schulte oben III. bei Fn. 68 ff. 132 Stutz (Fn. 13), XXIX f.

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deutlicher Kontrast etwa zu den „Gierkeschen Gewalts- (oder Wuths?)ausbrüchen“, die Bernhard Windscheid aus Gierkes BGB-Kritik herauslas.133 Sicher hätte Gierke dennoch für sich selbst in Anspruch genommen, was er in seinem Nachruf auf Heinrich Dernburg schrieb; er „konnte, was er vollbracht hat, nur vollbringen, weil er ein Mensch aus Einem Gusse war“.134

133 Brief Bernhard Windscheids an Gottlieb Planck vom 26.9.1889, zitiert nach Schubert Windscheids Briefe an Planck und seine für Planck bestimmten Stellungnahmen zum Schuldrechtssystem und zum Besitzrecht der 1. BGB-Kommission, ZRG RA 95 (1978) 283, 307. 134 Gierke Heinrich Dernburg †. Ein Gedenkblatt, DJZ 1907, Sp. 1337, 1342.

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Anhang: Brief Gierkes an Paul Krüger vom 14.12.1887, Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Abteilung Handschriften und Rara, S 1925 Berlin W Hohenzollernstr. 4 14. Dec. 87. Hochverehrter Kollege! Die Germanistenschau ist mir noch vom Sommer her geläufig. Ich will Ihnen daher gern sagen, was ich weiß. Georg Cohn in Heidelberg ist persönlich ein angenehmer und anständiger Mensch (ohne die bei seinem Breslauer Bruder, dem Mediziner Cohn, sehr stark hervortretenden schlimmen Seiten des jüdischen Wesens, die in Breslau zu einem Vorurtheil auch gegen den Heidelberger Bruder führten); gilt als guter Docent; ist ein solider und fleißiger Arbeiter, der freilich niemals etwas Besonderes leisten wird. Nachdem er in letzter Zeit fast nur Handelsrecht getrieben, kehrt er (wie ich aus Gesprächen weiß) neuerdings auch zu deutscher Rechtsgeschichte zurück. Wäre er nicht Jude, so wäre er wohl längst irgendwo Ordinarius; wäre er von so hervorragender Begabung wie seine Glaubensgenossen Pappenheim und Rosin, so wäre er bei seinem Alter und bei der großen Zahl seiner Arbeiten trotz des Judenthums ebenfalls schon Ordinarius. Die Erreichung dieses Zieles ist sein sehnlichster Wunsch und ich würde ihm gern dazu behilflich sein. Mayer in Würzburg ist mir persönlich unbekannt. Er ist durch Glücksfall sehr jung Ordinarius geworden und vielleicht nicht einmal zu haben. Sein Buch über die lex Ribuariorum ist nicht ohne Verdienst und beweist Talent; doch klebt ihm noch manches Unreife an, und ich halte es nicht für sicher, wie er sich entwickeln wird. Von Schuster in Wien würde ich, obwohl ich ihn persönlich nicht kenne, abrathen. Er ist ein Confusioniarius, und das ist bei einem Juristen vom Uebel. In seinem Buche über das Spiel hat er ein schönes Thema und viel zusammengebrachtes Material durch die Art seiner Arbeit verdorben. Von seinen Aufsätzen (bei Grünhut u.s.w.) sind manche ungenießbar. Unter den jüngeren Oesterreichischen Germanisten wären ihm Luschin von Ebengreuth in Graz und von Zallinger in Innsbruck (die beide aber wohl nicht kommen würden), nicht minder aber auch von Dargun in Krakau vorzuziehen. Uebrigens wäre Schuster wohl längst in Oesterreich Ordinarius geworden (er ist 40 Jahre), wenn seine Leistungen besser wären. Pappenheim in Breslau ist mir persönlich auf das Vortheilhafteste bekannt und ich kann, wenn Manche sich an seinen allerdings etwas jüdischberlinischen Manieren stoßen, aus eigener Erfahrung versichern, daß sein Charakter davon nicht berührt wird. Seine wissenschaftliche Befähigung ist eine hervorragende und vielseitige; sowohl seine rechtsgeschichtlichen Arbeiten über die Gilden und über Launegild und Garethinx als seine dogma-

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tischen Arbeiten aus dem Handelsrecht erheben sich weit über das Mittelmaß. Als Docent soll er Erfolg haben. Sie würden gut mit ihm fahren. Cosack habe ich persönlich schon früher gekannt, jetzt hier näher kennen gelernt. Er ist ein überaus angenehmer, feiner und geistvoller Mann und von nobelster Gesinnung. Hier ist er voller Germanist und liest seit Jahren mit größtem Erfolge (bisher neben Beseler, der ja nicht viel mehr leisten konnte, jetzt aber auch neben mir) alle deutschrechtlichen Fächer, als: Deutsches Privatrecht und Handels-, Wechsel- und Seerecht (im Winter), sowie Deutsche Rechtsgeschichte (im Sommer). Er liest außerdem über Proceß und hat litterarisch in letzter Zeit sich mehr auf diesem Felde bethätigt. Seine germanistische Arbeit über den Besitz des Erben war recht gut, schwächer eine andere (die er etwas flüchtig machte, um sich zum Einrücken in das besoldete Extraordinariat von Lewis zu legitimieren) über Eidhelfer. Aus täglichen Gesprächen mit ihm ersehe ich, daß er auf allen Gebieten des deutschen Rechts vollkommen zu Hause ist, die Litteratur und Judikatur in seltenem Maße beherrscht, ein klarer und scharfer Kopf ist und eigne Gedanken hat. Hinsichtlich der Lehrbegabung scheint er mir alle von Ihnen Genannten zu übertreffen, mit Ausnahme vielleicht von Rosin. Rosin, mein specieller Breslauer Schüler, ist neuerdings mehr zu Staatsund Verwaltungsrecht übergegangen. Von Hause aus ist er Germanist. Seine rechtsgeschichtlichen Arbeiten über den Tit. leg. Salicae de alode, über den Begriff der Schwertmagen und über die Formvorschriften des langobardischen Rechts für Veräußerungsgeschäfte der Frauen waren recht tüchtig. Der Dogmatik des heutigen Privatrechts gehören z.B. seine beiden Aufsätze über Korporation und Gesellschaft in Gruchot’s Beiträgen (der zweite soeben erschienen und zugleich eine Recension meines neuesten Buches) an. Er ist Jude und nicht ohne mancherlei äußere Mängel eines solchen. Doch kann ich seinen Charakter nur loben Daß er ein vorzüglicher Docent ist, erwähnte ich schon. Das Ordinariat in Freiburg ist ihm versprochen, aber noch nicht gewährt; er würde jedenfalls kommen, wenn man ihn nicht in Freiburg zum Ordinarius machte, – was aber wohl geschehen wird. Gareis gehört zu den talentvollen Leuten, die sich, weil sie zu vielerlei treiben und schreiben, allmählich verflachen. Manche seiner neueren Sachen sind unerhört flüchtig. Die Rüge solcher Flüchtigkeiten in einer Recension (über seine handelsrechtliche Darstellung des Kaufs bei Endemann) und einem Briefe (über sein Allgemeines Staatsrecht bei Marquardsen) hat er mir sehr übel genommen. Ich habe weder in Breslau noch in Heidelberg seinen Vorschlag befürworten können. Persönlich kenne ich ihn nicht, doch ist er sicherlich lebendig und anregend. Ueber Lewis sind Sie so gut wie ich unterrichtet. Wollen Sie „geistigen Schwung“, so wird er den selben wohl kaum aufbringen; es müßsten ihm denn am Gestade der Ostsee neue Schwingen gewachsen sein. Hier hat Lewis sehr einflußreiche Fürsprecher. Von Greifswald wünscht er sich fort,

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und ich würde ihm, da er sich für verkannt und unterschätzt hält, eine Erfüllung seines Wunsches von Herzen gönnen. Uebrigens hängt die Frage, ob und wie ein Mann von seiner Art wirken kann, sehr von den besonderen Verhältnissen der Universität ab. Ihre Königsberger Verhältnisse kenne ich nicht; nach Heidelberg paßte er jedenfalls nicht und ich konnte dort nichts für ihn thun. Außer den Genannten kämen vielleicht noch in Betracht: K. Lehmann, hiesiger Privatdocent (kürzlich getauft). Seine Arbeiten sind recht gut (meist altnordisches Recht, sodann Vorarbeiten zur Ausgabe der lex Alamannorum in den Monumenta, worin er steckt). Er ist ein sehr angenehmer und tüchtiger junger Gelehrter, den die Hallenser Fakultät gern neben Boretius hätte und der (so viel ich weiß) jetzt auch in Rostock in Frage steht. H. Lehmann in Kiel. Eine wenig ersprießliche rechtsgeschichtliche Arbeit über Amtsvergehen nach den Volksrechten. Jetzt ein nicht verdienstloses und von juristischer Begabung zeugendes, aber zum Theil etwas abstruses Lehrbuch des Wechselrechts. E. Huber in Basel, von dem ich weiß, daß er, obwohl Schweizer und jetzt sogar in einer großen Darstellung des Schweizerischen Privatrechts steckend (1 Bd erschienen), nach Deutschland zu gehen wünscht. Seine rechtsgeschichtlichen Arbeiten sind vortrefflich, ja ich halte seine Leistungen zur Geschichte des ehelichen Güterrechts für epochemachend. In Basel hat sich kürzlich auch ein Schüler Heusler’s habilitiert, R. L. von Salis, der seine bisherigen Leistungen nach recht Gutes verspricht, aber doch wohl vorläufig für Sie nicht in Betracht kommt. Ich glaube, daß hiermit der Kreis der für Sie wirklich erreichbaren Kandidaten so ziemlich erschöpft ist. Da noch Rostock, Halle und Marburg Germanisten brauchen, kann dieser Kreis sich leichtlich bald verengen. Ich habe mich gleich nach dem Empfange Ihres Briefes hingesetzt und Ihnen die obigen Notizen aus dem Kopfe – daher ohne vollständige Aufzählung der Schriften eines Jeden und ohne Angabe der Büchertitel u.s.w. – zusammengestellt. Gern aber bin ich auch zu genauerer Auskunft bereit, welche Sie etwa über den Einen oder Anderen wünschen. Sprechen Sie Dahn mit meinem Gruß zugleich meinen besten Glückwunsch aus. Ich würde mich sehr gefreut haben, wenn er nicht mein mittelbarer, sondern mein unmittelbarer Nachfolger geworden wäre. Hätte R. Schröder in Heidelberg abgelehnt, was eigentlich als wahrscheinlich angenommen wurde, so war Dahns Berufung völlig sicher. Mit bestem Gruß, zugleich mit der Bitte, mich Ihrer Frau Gemahlin zu empfehlen, Ihr ergebener O Gierke.

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Die Bitte um diskrete Behandlung meiner Mittheilungen, bei denen ich mich gleicher Offenheit befleißigt habe, wie ich es im mündlichen Gespräch gethan hätte, brauche ich wohl kaum hinzuzufügen.

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Josef Kohler (1849–1919) Josef Kohler (1849–1919) Bernhard Großfeld

Josef Kohler (1849–1919) BERNHARD GROßFELD

I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X.

XI. XII. XIII.

XIV.

XV. XVI.

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Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werke/Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patentrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Shakespeare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz 2. „Der Kaufmann von Venedig“ . . . . . . . . . . 3. Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Von Ihering/Kohler . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bekräftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsethnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Recht der „Australneger“ . . . . . . . . . . . . . 3. Islamrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Jüdisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kohlers Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Regierungsfragebogen . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kollegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bernhard von Windscheid/Rudolf von Ihering 2. Otto Bär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gustav Radbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . Und heute? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Patentrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Literatur und Recht 3. Raum/Zeit . . . . . . 4. Rechtsvergleichung 5. Ethnologie . . . . . . XVIII. Schluss . . . . . . . . . .

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„Zeit und Ort entscheiden über Kopf und Kragen im Recht“.1

I. Erinnerung Der Name dieses einst sehr berühmten Professors der Humboldt – Universität2 (Zivilrecht, Patentrecht, Rechtsanthropologie) weckt heute oft nur ein geringes Echo: Zu den Großen unseres Faches zählen ihn wenige. Er erscheint nicht in Erik Wolfs „Großen Rechtsdenkern“ und nur im Anhang (Nr. 60) mit vierzehn Zeilen in Kleinheyer/Jan Schröder „Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten“.3 Dabei galt er einmal als „der größte deutsche Jurist der wilhelminischen Zeit“. Heute erinnert man sich bei uns an ihn eher mit dem Wortspiel „Wilhelms größter Kohler“:4 „Das Recht der Berber und Tiroler erforschte Deutschlands größter Kohler“.5 Viel besser ergeht es Kohler im Brockhaus, der ihn so schildert: „Bahnbrechend wirkte er im Patent- und Urheberrecht. In der ethnolog. Rechtsvergleichung erkannte er die Bedingtheit des primitiven Rechts durch die Religion, gliederte die ethnolog. Rechtsforschung in die Jurisprudenz ein und sorgte im Reichskolonialamt für das Studium des Eingeborenenrechts in den ehemaligen Schutzgebieten“. Dem entspricht sein ehemals hohes internationales Ansehen. Schon zu Lebzeiten war er eine „legendäre Persönlichkeit“ geworden.6 Der berühmte 1 So das Fazit von Gross Josef Kohler – „Lebenspfade“ eines badischen Universaljuristen, 2009, S. 42. 2 Vgl. Rabel Josef Kohler, Rheinische Zeitschrift für Zivilprozess 10 (1919/20) 123 = Gesammelte Aufsätze Band 1, 1965, 340. 3 Die wichtigste Literatur findet sich bei Kiesow Josef Kohlers Poesie, in: FS Simon 2005, 297, 305 Fn. 79. 4 Spendel Josef Kohler. Bild eines Universaljuristen, 1983. Siehe auch Adam In Memoriam Josef Kohler, ZVglRWiss 38 (1920) 1; Osterrieth Josef Kohler. Ein Lebensbild, 1920; J. Kohler Vom Lebenspfad, 1902. 5 Zitiert von Kegel Ernst Rabel (1874-1955), in: Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.) Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, 2007, 17, 25. Das Zitat war wohl ein abwertendes Urteil über Kohlers Buch „Rechtsvergleichende Studien über islamitisches Recht, das Recht der Berbern, das chinesische Recht und das Recht auf Ceylon, Berlin 1889“. 6 Krückmann Josef Kohler, ZZP 48 (1920) 309.

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amerikanische Jurist Roscoe Pound hielt ihn für den „greatest jurist since Ihering“, denen er beiden einen internationalen Spitzenrang zuwies.7 Er meinte: „As I see it, Kohler was easily the first among recent jurists“. Er habe das Recht nicht als Instrument einer staatlichen Gemeinschaft gesehen, sondern „as a rule of life and so of ordering life“. Er sei „exceptionally qualified for philosophy of law“.8 Das trifft sich mit dem Urteil von Julius Stone aus dem Jahre 1965: Kohlers „Lehrbuch der Rechtsphilosophie“ „is therefore among the modern classics of the theory of justice“.9 Die Hitotsubashi-Universität in Tokio erwarb seine Bibliothek aus dem Nachlass und hütet sie bis heute als einen gesondert aufgestellten Schatz. Hans Kelsen ehrte ihn anlässlich seines hundertsten Geburtstages.10 In Deutschland kommt Kohler nicht so gut weg. Hier steht er heute im Widerstreit der Meinungen. Sandrock sah in ihm einen wichtigen Vorläufer moderner Rechtsvergleichung.11 Eine umfassende Klärung versuchte Spendel in seiner Schrift „Josef Kohler. Bild eines Universaljuristen“;12 er nennt ihn den „universalsten deutschen Rechtsgelehrten seit Leibniz“.13 Kreimer würdigte ihn mit seinem Aufsatz „Josef Kohler“ in dem Band „Rechtsvergleicher – verkannt, vergessen, verdrängt“.14 Eine einfühlsame Würdigung bringt jetzt Norbert Gross „Josef Kohler. ‚Lebenspfade‘ eines badischen Universaljuristen“.15 Er nennt ihn „einen der faszinierendsten deutschen Rechtsgelehrten“, einen „der großen Anreger seiner Zeit“ und den Entdecker „einer weltweiten anthropologischen Rechtsvergleichung“. Aber die „praktische“ Rechtsvergleichung16 hat er bisher nicht erreicht. Eine Autorin spricht jüngst von seiner „careless accumulation of heterogenous sources, the imprudent use of different methods, and the combination of observations and purely speculative thoughts“.17 Kohler selbst meinte indes, dass nicht „allein die fleißige Sammlung des Materials“ den Forscher mache, 7 Pound Jurisprudence, Band 1 (1959) 158–170; ders. Interpretations of Legal History, 1923, 141–150. 8 Pound (Fn. 7), 160. 9 Stone Human Law and Human Justice, 1965. 10 Kelsen Hundredth Birthday of Josef Kohler, American Journal of International Law 43 (1949) 346. Dazu auch A. Kohler 100. Geburtstag Josef Kohlers, Schweizer JZ 1949, 112. 11 Sandrock Sinn und Methode zivilistischer Rechtsvergleichung, 1966, 14. 12 Spendel (Fn. 4). 13 Spendel (Fn. 4), 2. 14 Kreimer Josef Kohler, in: Großfeld (Hrsg.) Rechtsvergleicher – verkannt, vergessen, verdrängt, 2000, 145. 15 Gross (Fn. 1). 16 Vgl. dazu Kunz Instrumente der Rechtsvergleichung in der Schweiz bei der Rechtssetzung und bei der Rechtsanwendung, ZVglRWiss 108 (2009) 31. 17 Schwenzer Development of Comparative Law in Germany, Switzerland, and Austria, in: Reimann (Hrsg.) Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 69, 74.

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sondern „nur eine methodische Verarbeitung“.18 Eine bloße „Zusammenstellung“ lehnte er ab.19

II. Herkunft20 Josef Kohler wurde geboren am 9.3.1849 als jüngstes von sechs Kindern; sein Vater war Volksschullehrer. Die katholische Familie lebte in Offenburg (Baden) unter kargen Verhältnissen, umgab ihn aber mit einem Klima von Literatur und Kunst. Von seinem Vater lernte er Klavier und Geige zu spielen. Kohler leitete daraus ab einen „gewissen mysteriösen Zug seines Wesens“; er bildete sich aus der Verbindung von Ausdauer und nervöser Hast mit einem Sinn für Heiterkeit und Schönheit.21 Die Schule wurde ihm bald eng; er fand dort „die Brosamen eines unzusammenhängenden, spärlichen und darum doch sehr genau abgemessenen und eingetheilten Wissens“.22 Nach dem mit 17 Jahren bestandenen Abitur brach er aus zu einem Onkel mütterlicherseits nach Porrentruy in der französischen Schweiz, der dort ein großes Handelsgeschäft führte. Hier fand er Zugang zum gesellschaftlichen und kulturellen Leben einer Oberschicht; hier begegnete er Dante, Shakespeare und Goethe, hier vertiefte sich sein Klavier- und Violinspiel besonders an Chopin. Dieses so geförderte Interesse begleitete ihn sein Leben lang bis zu musikalischen Kompositionen. Beschrieben wird er als ein Mann von sprühender Wahrnehmungskraft, sehr fähig zu bildhaftem Denken23 und zu künstlerischer Wiedergabe seiner Erfahrungen.

III. Studium Kohler studierte Recht in Freiburg/Breisgau und in Heidelberg: Da in Baden damals französisches Recht galt,24 prägte es seine juristische Bildung.25 18

J. Kohler Zur Urgeschichte der Ehe, ZVglRWiss 12 (1897) 187, 201. J. Kohler (Fn. 18), 203. 20 Grzesch Josef Kohler. Aus Anlass des 150. Geburtstages, ZfRV 1999, 2. 21 J. Kohler (Fn. 4), 4. 22 J. Kohler (Fn. 4), 12 f. 23 Vgl. Hibbitts The Revision of Law: The Pictorial Turn in American Legal Culture, http://faculty.law.pitt.edu/hibbitts/pictor.htm. 24 Gross Der Code Napoleon in Baden und sein Verleger, 1997; ders. Der Code Civil in Baden, 1993; ders. 200 Jahre Code Civil, in: FS Breitenbach 2005, 19; ders. Vom Code Civil zum BGB – eine Spurensuche, JZ 2004, 1137; Sturm Le Code civil du Grand-Duché de Bade, in: FS Wadle 2008, 1147. 25 Großfeld/Theusinger Josef Kohler, RabelsZ 64 (2000) 696, 697; dies. L’oeuvre de Josef Kohler, Droit et Cultures 41 (2001) 167. 19

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Hier erlebte er den „Zauber des Rechts“,26 das ihm zum „Zauberwort“ wurde.27 Er sagte dazu: „Die scharfe Logik der Jurisprudenz, ihre fast dichterische Konstruktion, die Tiefe und Erhaltungskraft der menschlichen Vernunft, ihre Begründung auf der festen Basis menschlicher Verhältnisse, alles das sind Dinge, welche einen unendlichen Zauber in sich tragen“.28

IV. Berufsbeginn Kohler bestand 1871 die erste, 1873 die zweite Staatsprüfung jeweils mit Auszeichnung; er promovierte noch im selben Jahr in Freiburg mit einer Arbeit über französisches Privatrecht. Danach heiratete er Ida Pflügler, die Tochter eines Oberschulrates. Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor, Arthur (Richter) und Rudolf (Professor der Medizin). Von 1873 bis 1878 war er Assessor (Anwalt), Amtsrichter und Kreisgerichtsrat in Mannheim. Von dort her wurde Kohler ohne Habilitation 1878 Professor in Würzburg29 und 1888 an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin.30 Im Vordergrund stand seine Lehrtätigkeit:31 Manche seiner Vorlesungen in Berlin hatten 500 eingeschriebene Hörer.32

V. Prägungen33 Schon dieser kurze Bericht zeigt die Prägungen denen er ausgesetzt war. Sie verbinden sich mit den Orten Offenburg, Heidelberg, Mannheim, Würzburg und Berlin. Die Nähe zu Frankreich war gegeben durch Offenburg, das nur ca. 12 km von der Grenze entfernt liegt. Der Aufenthalt in der französischen Schweiz vertiefte die Kenntnis der Sprache und verstärkte die literarischen und musikalischen Anregungen des Elternhauses.

26

Vgl. Großfeld Zauber des Rechts, 1999, Vorwort. Vgl. von Eichendorff Wünschelrute „Und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort“. 28 J. Kohler (Fn. 4), 7. 29 Spendel Der Rechtsgelehrte Josef Kohler und die Universität Würzburg, in: FS Vierhundert Jahre Universität Würzburg 1982. 30 Gängel/Schaumburg Josef Kohler, Rechtsgelehrter und Rechtslehrer an der Berliner Alma mater um die Jahrhundertwende, ARSP 75 (1989) 289. 31 Boin Die Erforschung der Rechtsverhältnisse in den „Schutzgebieten“ des Deutschen Reichs, 1996, 44 f. 32 Gross Josef Kohler – Wege zu einem deutschen Wettbewerbsrecht –, in: FS Ullmann 2008, 615, 624. 33 Großfeld/Theusinger L’oeuvre (Fn. 25), 167. 27

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In Heidelberg distanzierte er sich vom römischen Recht. Der Blick aus dem Fenster des Hörsaals auf einen sich sonnenden Kutscher soll ihn überzeugt haben, dass das römische Recht nicht das wirkliche Leben spiegele: Außerhalb des Hörsaals galt ja das französische Zivilrecht badischer Prägung und eben nicht der Corpus Juris. Fortan wollte er Rechtsidee und Leben zur Deckung bringen.34 In Mannheim begegnete Kohler zunächst als Anwalt dem industrielltechnischen Aufschwung nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71. In der bedeutenden Hafenstadt am Zusammenfluss von Rhein und Neckar („Weltstadt Badens“35) lernte er den internationalen Handelsverkehr kennen. Kohler meinte, dass er dort „die mächtigsten Anregungen“ für Lebensgefühl und Rechtsdenken bekommen habe:36 „Einige Jahre darauf, als ich in Mannheim in der Anwaltschaft praktizierte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich war in den Kreis eines mächtigen Handelsbetriebes gestellt…Fast mit Jubel begrüßte ich jede Frage, die sich mitten aus dem Leben entwickelte“.37 In Würzburg traf er seinen Landsmann Julius Jolly,38 den bedeutenden Indologen und Spezialisten für juristische Sanskrit Texte;39 von ihm erhielt er manche Anregung.40 Er spricht seinem „Collegen Jolly, der mir stets mit Rat und Tat behilflich war“, den „besten Dank“ aus.41 In Berlin erlebte Kohler die wachsenden internationalen Verflechtungen durch den Aufbau deutscher „Schutzgebiete“ in Afrika und Asien (beginnend 1884); hier begegnete er dem Reichskolonialamt. All das verbindet sich in seinem Werk. Er schilderte das so: „Ohne die technischen naturwissenschaftlichen Kenntnisse hätte ich niemals meine patentrechtlichen Schriften geschrieben, ohne meine sprachwissenschaftlichen und theologischen Studien hätte ich niemals den Gedanken fassen können, die Rechte aller Natur- und Kulturvölker zu durchforschen und unsere Kolonialvölker in den Bereich meiner Studien zu ziehen; und was ich in der dogmatischen Wissenschaft für die Vertiefung der deutschen 34 35

Gross (Fn. 32), 617. J. Kohler Heidelberg und Mannheim, in: J. Kohler Aus Kultur und Leben, 1904, 226,

228. 36 J. Kohler Das wichtigste Ereignis in meinem Leben, Berliner Morgenpost, 24.12.1911, Nr. 353, 6. Beilage. 37 Zit. nach Gross (Fn. 32), 618. 38 1849-1932. 39 Jolly Die juristischen Abschnitte aus dem Gesetzbuch des Manu, ZVglRWiss 3 (1882) 238. 40 Vgl. Jolly Eine neue indische Rechtsquelle, ZVglRWiss 37 (1919) 329. 41 J. Kohler Rechtshistorische und rechtsvergleichende Forschungen, ZVglRWiss 3 (1882) 161, 342, 162 Fn. 1.

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Reichsgesetze und ihre wissenschaftliche Gestaltung that, war bedingt durch die logische Durchbildung einerseits und die dichterische Intuition andererseits“.42

VI. Erster Weltkrieg Die letzten Jahre sind gezeichnet durch den Ersten Weltkrieg (1914–1918) und Deutschlands Niederlage. Gelegentlich wird Kohler nationaler Überschwang43 vorgehalten:44 Er habe sich „bedenkenlos für die deutsche Sache eingesetzt“.45 So sagte er in seinen „Grundlagen des Völkerrechts“46 über den deutsch geborenen englischen Völkerrechtler Lassa Oppenheim (1858– 1919): „Der Deutsche, der sich unter das Diktat der Engländer stellt, verleugnet damit sich selbst‘. Oppenheim hatte 1915 in einem Leserbrief an die Londoner Times Deutschlands Angriff auf Belgien verurteilt: Es sei „the greatest international crime since Napoleon I“; er bedauerte auch den deutschen Angriff auf den amerikanischen Dampfer „Lusitania“.47 Diese Äußerungen soll Kohler später bereut haben.48 Aber er möchte „in der Zeit der politischen Schwere“ nach dem Krieg „allen Nationen“ verkünden, „dass wir in der Wissenschaft die Ersten sind und die Ersten bleiben werden“.49 Ernst Rabel urteilt: Das Andenken an Kohler sei „ausschließlich mit der Zeit von Deutschlands Macht und Blüte verknüpft“.50

VII. Werke/Überblick Kohlers Werk spiegelt seine „übersprudelnde Schöpferkraft“51 und eine von ihm selbst angesprochene „nervöse Hast“, die er auch dichterisch herausstellt: 42

J. Kohler (Fn. 4), 8. J. Kohler Der heilige Krieg, in: Deutsche Reden in schwerer Zeit, Band 2, 1915, 241. Weitere Nachweise bei Kiesow (Fn. 3), 297, 310. 44 Schmoeckel The Story of Success: Lassa Oppenheim and His „International Law“, in: Stolleis/Yanagihara (Hrsg.) The Acceptance of Modern International Law in East Asia, 2002; Stolleis The Internationalist as a Scientist and Herald: Lassa Oppenheimer, European Journal of International Law 11 (2000) 699. 45 Rabel (Fn. 2), 350. 46 J. Kohler Grundlagen des Völkerrechts, 1918, iii–iv. 47 Siehe dazu auch Kingsbury Legal Positivism as Normative Politics: International Society, Balance of Power and Lassa Oppenheim’s Positive International Law, Australian Yearbook of International Law 1993, 27. 48 Spendel (Fn. 4), 44. 49 J. Kohler Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz2, 1919, VII. 50 Rabel (Fn. 2), 350. Zu Rabels kritischem Ansatz siehe Kegel (Fn. 5), 24. 51 Krückmann (Fn. 6), 309. 43

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„Deine Zeit musst Du verstehen, willst Du Dauerhaftes schaffen. Musst ergreifen, musst erraffen, eh’ die Stunden rasch vergehen“.52 Heymann meinte in seiner Trauerrede: „Ein methodischer Philosoph freilich war Kohler nicht, zum methodischen Aufbau einer Philosophie fehlte ihm die Ruhe“.53 Kohler war tätig auf fast allen Gebieten des Rechts. Von Anfang an zeigt sich ein rechtsvergleichender Ansatz. Seine Bibliographie umfasst 2.482 Veröffentlichungen, davon über 100 selbstständige Schriften.54 All das wird „umrankt“ von Poesie,55 Märchen56 und Musik (viele Liedkompositionen).57 Fast möchte man ihn einen „Dichterjuristen“ nennen.58 Seinem Buch „Neue Dichtungen“ stellte er als Motto voran: „Das Denken und Dichten Ist nur ein doppeltes Richten, Das eine mit kühlen, wägenden Sinnen, Das andre mit süßen, feurigen Minnen“. Man begegnet auch einem emotionalen Überschwang, wohl aufgrund künstlerischer Empfindsamkeit59 und dem Erstaunen vor dem Neuen.

VIII. Kritik Krückmann nannte Kohlers Werk „märchenhaft“ und den Autor eine „legendäre Persönlichkeit“.60 Andere aber bezeichneten ihn als Vielschreiber61 52 J. Kohler in der FS zum 100jährigen Bestehen der Juristischen Fakultät der Universität Berlin, zit. nach Gängel/Schaumburg (Fn. 30), 294. Zu Josef Kohler als Dichter siehe Kiesow (Fn. 3). 53 Heymann in: Heymann/Seeberg u.a. Josef Kohler zum Gedächtnis, 1920, 11. Vgl. Rabel (Fn. 2), 342. 54 Alle Werke enthält die Sammlung des Sohnes A. Kohler Josef Kohler Bibliographie, 1931. 55 Ich nenne nur J. Kohler Lyrische Gedichte und Balladen, 1892; ders. Neue Dichtungen, 1895; ders. Dantes heilige Reise, 3 Bände, 1901-1903; ders. Aus Petrarcas Sonettenschatz, 2 Bände, 1902–1903. 56 J. Kohler Der Ursprung der Melusinensage, 1895; Melusine. Dramatische Dichtung in drei Akten, 1896. 57 Osterrieth (Fn. 4), 17; Gross (Fn. 32), 619. 58 Zu diesem Begriff Großfeld Unsere Sprache: Die Sicht des Juristen, 1990, 53 f. 59 Siehe Text bei Fn. 21. 60 Krückmann (Fn. 6), 311. 61 Dazu Adam (Fn. 4), 22.

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und sprachen von einem „Wahn“.62 Häufig begegne man nur Geistesblitzen mit verbindendem Text. Robert von Hippel nannte Kohlers Schrift „Das Wesen der Strafe“ „mehr poetisch als juristisch“.63 Ernst Rabel blieb anerkennend-kühl/distanziert. Er erwähnt die „umfassende Gelehrsamkeit“ und nennt Kohler „in hohem Maße Künstler“;64 er spricht aber auch von „Hemmungslosigkeit“65 und „unerfreulichen Seiten“ aufgrund des „außerordentlich ausgeprägten Selbstbewusstseins“.66 Kohler habe verkannt, „dass ein wirklich heilsames Studium fremder Rechte die volle Beherrschung der Textsprache voraussetze“.67 Kohler wurde also „viel gefeiert und viel bekämpft“.68 Wir wollen uns auf die zentralen Gebiete beschränken.

IX. Patentrecht Am 1.7.1877 trat das erste deutsche Patentgesetz in Kraft. 1877/1878 veröffentlichte Kohler sein bahnbrechendes zweibändiges Werk „Deutsches Patentrecht systematisch bearbeitet unter vergleichender Berücksichtigung des französischen Patentrechts“ (862 Seiten).69 Er wollte die „Fülle der französischen Rechtswissenschaft“ mit der „Tiefe der deutschen“ verbinden.70 Damit schaffte er den Durchbruch vom Gericht zur Universität. Im „Patentrecht“ begründete er – zurückgehend bis auf eine alte indische Quelle71 – die Einsicht, dass die wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit Güter schafft, für die die darin verkörperte Idee das Wesentliche ist (Persönlichkeitsrecht). Er fand dafür den Begriff „Immaterialgut“. Anlass für die nähere Befassung war die Frage an ihn als Anwalt, ob eine Erfindung schon vor der Erteilung des Patentes in eine Gesellschaft eingebracht werden könne und ob das spätere Patent dem Erfinder gehöre oder der Gesell62 Vgl. Rosenfeld Josef Kohler, Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft 56 (1920) 112, 113. 63 Von Hippel Deutsches Strafrecht, Band 1, 1925, 475. 64 Rabel (Fn. 2), 342. 65 Rabel (Fn. 2), 342. 66 Rabel (Fn. 2), 342. 67 Rabel (Fn. 2), 344. Vgl. Rabels Verhältnis zu Karl Llewellyn (1893–1962) bei Großfeld/Winship Der Rechtsgelehrte in der Fremde, in: Lutter u.a. (Hrsg.) Der Einfluss deutscher Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den USA und in Deutschland, 1993, 183, 198 f. Siehe auch Großfeld Sprache, Schrift, Juristen, in: Juristische Gesellschaft Osnabrück-Emsland (Hrsg.) Vorträge zur Rechtsentwicklung der achtziger Jahre, 1991, 287. 68 Wenger Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, ZVglRWiss 40 (1923) 447. 69 Vgl. Feldmann Die Geschichte des französischen Patentrechs und sein Einfluss auf Deutschland, 1988, 172. 70 J. Kohler Deutsches Patentrecht, 1877, Vorwort. 71 J. Kohler (Fn. 70), 1.

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schaft.72 Es ging also darum, ob schon die Arbeit des Erfinders das Recht schafft oder erst das Patent.73 Das „Erfinderrecht“ gehörte für ihn „zu den wichtigsten Elementen der Rechtskultur“; es sein „ein Hebel des Fortschritts“.74 Der Gedanke trug weiter in das Urheberrecht (Immaterialgüterrecht)75 und den unlauteren Wettbewerb.76 Kohlers Originalität zeigt sich hier etwa an dem Aufsatz „Die Briefmarke im Recht“,77 den der Bundesgerichtshof noch Ende 2005 als „grundlegend“ zitiert.78 Dabei ging es um die Frage, ob die Briefmarke ein Inhaberpapier im Sinne von § 807 BGB ist oder ein Geldsurrogat. Kohlers Anregungen führten 1909 zur Generalklausel des § 1 GWB; 1914 erschien sein Buch „Der unlautere Wettbewerb“. An einer Generalklausel war ihm gelegen: „Wir wissen, dass der Richter nach Kräften mitzuwirken hat an der Bildung des Rechtes, während das Gesetz nur einige Grundzüge zu schaffen vermag und wir wissen, dass der Richter dies zu tun hat unter gesunder Betrachtung der Lebensverhältnisse“.79

X. Shakespeare 1. Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz Frühen Ruhm über Würzburg hinaus brachte ihm sein bis heute bekanntestes Werk „Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz“.80 Es steht unter dem Motto:

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Osterrieth (Fn. 4), 9. Gross (Fn. 32), 618. 74 J. Kohler Handbuch des Deutschen Patentrechts in rechtsvergleichender Darstellung, 1900/1901, 15. 75 Dölemeyer „Das Urheberrecht ist ein Weltrecht“ Rechtsvergleichung und Immaterialgüterrecht bei Josef Kohler, in: Wadle (Hrsg.) Historische Studien zum Urheberrecht in Europa, 1993, 139. 76 Gross (Fn. 32), 625; vgl. Wadle Der Einfluss Frankreichs auf die Entwicklung gewerblicher Schutzrechte in Deutschland, in: GS Constantinesco 1983, 871. 77 J. Kohler ArchBürgR 6 (1892) 316. 78 BGH, JZ 2006, 378; siehe auch die Vorentscheidung OLG Köln, Justiz-Ministerialblatt NRW 2005, 117. Zum Ganzen G. Schmidt Verstößt die Ausgabe hoheitlicher „Postwertzeichen“ gegen Art. 87 f. GG, NJW 1998, 200. 79 J. Kohler Der unlautere Wettbewerb, 1914, Vorwort. 80 J. Kohler Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, 1883; 2. Auflage 1919. Dazu Zitelmann Die Neuauflage des „Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz“, DLitZ 1921, Sp 313. 73

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„So bleibt mein erster und mein letzter Rath: Ehrt den Altar des Rechtes, stosst ihn nie Um Truggewinn mit frechem Fusse um. Es kommt die Strafe; richtend harrt das Ende“.81 Der erste Teil dieses Buches behandelt Shakespeares „Kaufmann von Venedig“, der zweite Teil u.a. Shakespeares „Maß für Maß“. Kohler wollte zweierlei: „Ich wollte einen Beitrag zu Universalgeschichte des Rechts geben und wollte das Verständnis ästhetischer Probleme überhaupt fördern“.82 2. „Der Kaufmann von Venedig“83 Im „Kaufmann von Venedig“ hat der Geldverleiher Shylock sich von Antonio eine Bürgschaft versprechen lassen: „Lasst uns ein volles Pfund von Eurem Fleisch Zur Buße setzen, dass ich schneiden dürfe Aus welchem Teil von Eurem Leib ich will“.84 Diesen Anspruch macht er jetzt geltend: „Ich steh’ hier auf meinem Schein“.85 Kohler wendet sich gegen die Meinung von Iherings, dass die Bürgschaft wegen Sittenwidrigkeit nichtig sei.86 Das entspreche nicht der Auffassung der Zeit, in der das Stück spiele. Kohler belegt das mit ausführlichen historischen und rechtsvergleichenden Darlegungen. Shylock habe das positive Recht auf seiner Seite.87 Die als Richter auftretende Porzia gesteht das zu: „Ein Pfund von dieses Kaufmanns Fleisch ist dein. Der Hof erkennt es und das Recht erteilt es“.88

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Aeschylos Eumeniden. J. Kohler (Fn. 49), Einl. III. 83 Siehe dazu Holderness William Shakespeare: Merchant of Venice, 1993; Kornstein Kill All the Lawyers? Shakespeare’s Legal Appeal, 1994. Zum weiteren Hintergrund siehe Bilello Accomplished with what She Lacks, 16 Law & Literature 16 (2004) 11. 84 1. Aufzug 3. Szene. 85 4. Aufzug 1. Szene. 86 Von Ihering Der Kampf um’s Recht7, 1884, Vorrede XIV. Siehe dazu die Einleitung von Wassermann in: von Ihering, Der Kampf um’s Recht21, 1925, 10. Weitere Nachweise bei Kiesow (Fn. 3), 300, 304. 87 Vgl. Seymour Letter from Shylock. Reflections on my Case, Law and Critique 8 (1997) 215. 88 4. Aufzug 1. Szene. 82

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Dann aber sagt sie: „Wart’ noch ein wenig: eins ist noch zu merken: Der Schein hier gibt dir nicht ein Tröpfchen Blut, Die Worte sind ausdrücklich ‚ein Pfund Fleisch’. Nimm denn den Schein, und nimm du dein Pfund Fleisch: Allein vergießest du, indem du’s abschneid’st, Nur einen Tropfen Christenblut, so fällt Dein Hab’ und Gut, nach dem Gesetz Venedigs, Dem Staat Venedig heim“.89 Sie fährt fort: „Darum bereite dich, das Fleisch zu schneiden! Vergieß’ kein Blut, schneid’ auch nicht mehr noch minder Als grad’ ein Pfund; ists’s minder oder mehr Als ein genaues Pfund, sei’s nur so viel, Es leichter oder schwerer an Gewicht Zu machen um ein armes Zwanzigstteil Von einem Skrupel, ja, wenn sich die Waagschal’ Nur um die Breite eines Haares neigt, So stirbst du, und dein Gut verfällt dem Staat“.90 3. Beurteilung Nach Kohler kann Porzia „vor dem Forum der Jurisprudenz“ bestehen.91 Shakespeare habe den universellen Prozess zeigen wollen, wonach eine neue Rechtswertung das alte Gesetz verdrängt: „Dieses das ganze Herz durchglühende Rechtsbewusstsein ist es, welches die Entscheidung des weisen Daniel [=Porzia] trägt. Seine Zeit ist bereits zu dem instinktiven Bewusstsein gelangt, dass einem derartigen Schuldschein keine Folge geleistet werden darf, aber es ist ihr noch nicht gelungen, für dieses Bewusstsein den entsprechenden gedankenmäßigen Ausdruck zu finden; es ist eine mächtige Gefühlswallung, welche aber noch nicht in ihre Gedankenelemente zerlegt und auf die entsprechenden diskursiven Sätze zurückgeführt werden kann; ganz ebenso, wie oft eine ästhetische Überzeugung den Menschen gefangen nimmt, ohne dass er es vermag für diesen Einblick einen adäquaten ästhetisch-wissenschaflichen Ausdruck zu finden“.92 89 90 91 92

4. Aufzug 1. Szene. 4. Aufzug 1. Szene. J. Kohler (Fn. 49), 81. J. Kohler (Fn. 49), 68 f.

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Porzia habe ein gutes Urteil getroffen, allerdings mit schlechten Gründen: „Aber immer noch besser ein solches, als ein schlechtes Urteil mit guten Entscheidungsgründen“.93 Das sei „der Sieg des geläuterten Rechtsbewusstseins über die finstere Nacht“; es sei der Sieg, „der sich hinter Scheingründen verdeckt, der die Larve falscher Motivierung annimmt, weil sie notwendig ist“.94 Die „Sonne des Fortschritts“ habe „wieder einmal ihre wärmenden Strahlen in die Gerichtsstätte geworfen“, „das Reich Sarastros triumphiert über die Mächte der Nacht“.95 Auch in „Maß für Maß“ sieht Kohler einen Protest des Rechtsbewusstseins gegenüber einer veralteten Satzung. 4. Von Ihering/Kohler Von Ihering reagierte scharf. Er nannte das Urteil Porzias einen „elenden Winkelzug, einen kläglichen Rabulistenkniff“. Er wolle nicht verantworten, „die rechtsbeflissene Jugend zu Porzia in die Schule zu schicken, bei der das neue Evangelium des Rechts zu holen ist“.96 Das veranlasste Kohler zu einer polemischen Antwort97 mit weiteren historischen und rechtsvergleichenden Belegen. Von Ihering scheitere an zwei fundamentalen Rechtsgedanken: „An dem Princip von der durchschlagenden Kraft des richterlichen Rechtsbewusstseins, welches sich bis zu seiner vollen Abklärung mit falscher Motivierung behilft, und an dem Princip, das im Fortschritte des Rechts das Unrecht, die Ungerechtigkeit eine weltgeschichtliche Notwendigkeit ist“.98 Später sah Kohler sich damit als einen „Vorläufer“ der Freirechtsbewegung:99 Er bezeichnete den Juristen „als Gestalter des Rechts, nicht Sklaven des Gesetzes“.100 5. Bekräftigung Im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches bekräftigt Kohler, was er „in jugendlichem Ungestüm geschrieben“ habe.101 Shakespeare biete „ein Stück Weltgeschichte“.102 Zur damaligen Kritik bemerkt Kohler: 93

J. Kohler (Fn. 49), 89. J. Kohler (Fn. 49), 90. 95 J. Kohler (Fn. 49), 90. 96 Von Ihering Der Kampf ums Recht8, 1886, 59 Anm. 60. 97 J. Kohler Nachwort zu Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, 1884, 1–24. 98 J. Kohler (Fn. 97), 1. Zu dem Streit siehe auch Erbe Von der angeblichen Unverbindlichkeit der Jurisprudenz, 1948, 23; Isensee Diskussionsbeitrag, in: Großfeld (Fn. 58), 53. 99 J. Kohler (Fn. 49), VI. 100 J. Kohler Neue autorrechtliche Studien, GRUR 1919, 1. 101 J. Kohler (Fn. 49), VII. 102 J. Kohler (Fn. 49), VI. 94

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„Mit berechtigtem Holz sehen wir jetzt auf die Zwergbestrebungen einer Zeit zurück, deren Rechtsgeschichte mit schmalen Fledermausflügeln auf eng begrenzten, streng umhegten Gebieten herumflatterte“.103 XI. Goethe Auf dieser Linie bewegt sich auch Kohlers Beschäftigung mit Goethe in seiner Stellungnahme zu „Fausts Pakt mit Mephistopheles in juristischer Beleuchtung“.104 Auch hier betont er den Rechtswert der Dichtung: „Nicht selten hat die dichterische Intuition erreicht, was der langen Arbeit des Gelehrten kaum zugänglich geworden ist“.105 Zur Wette meint er: „Wie gewöhnlich, heftet sich der geprellte Teufel an Worte . . ., wie gewöhnlich täuscht er sich gründlich“. Für viele habe zwar die Schriftform106 eine „Art von Heiligenschein“, sei eine „Art göttlicher Sicherung“.107 Aber sie könne die göttliche Liebe nicht hindern, dem Sünder entgegenzukommen; das hänge allein ab von der „Würdigung des Lebens“. Faust habe sich immer „strebend bemüht“, deshalb sei er „erlösungsfähig“.108 XII. Rechtsvergleichung109 Kohler sah in der Rechtsvergleichung die „Blüte der heutigen Jurisprudenz“; sie fasse jedes nationale Recht auf als ein „Glied der Menschenkultur“, als ein Mittel zur „Bildung der Menschheit“.110 Er war für dieses weite 103

J. Kohler (Fn. 49), VII. J. Kohler Goethe-Jahrbuch 24 (1903) 113 = Lüderssen (Hrsg.) „Die wahre Liberalität ist Anerkennung“. Goethe und die Jurisprudenz, 1999, 69, 74. Vgl. dazu Großfeld/ Rothe Spiel und Wette in Literatur und Recht, ZVglRWiss 98 (1999) 209. 105 Lüderssen (Fn. 104), 80. 106 Vgl. dazu Nörr Geist und Buchstabe: ein Goethe-Zitat bei Savigny, in: Lüderssen (Fn. 104), 123; ders. Savigny liest Goethe, in: Lüderssen (Fn. 104), 149, 155. 107 AaO (Fn. 106). 108 AaO (Fn. 106), 83–85. 109 J. Kohler Über die Methodik der Rechtsvergleichung, Zeitschrift für Internationales Privat- und Öffentliches Recht 28 (1901) 273; Adam Josef Kohler und die vergleichende Rechtswissenschaft, ZVglRWiss 37 (1920) 1; Gast Historischer Optimismus. Die juristische Weltsicht Josef Kohlers, ZVglRWiss 85 (1986) 1. 110 J. Kohler Über die Methode der Rechtsvergleichung, 1. Congrès international du droit comparé, Procès verbaux, Paris 1905, 18 f. = Günhuts Zeitschrift 28 (1901) 273. Vgl. Großfeld Rechtsvergleichung, 2001. 104

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Gebiet gut vorbereitet. Seine Sprachkenntnisse waren „bewundernswert ausgebreitet“.111 Er sprach Französisch, Italienisch und Englisch; er befasste sich auch mit Sanskrit und mit semitischen Sprachen.112 Er besuchte nach und nach ganz Europa, Algerien, Ägypten, die Türkei und die USA.113 Darauf beruht wohl sein Interesse, das Recht im Zusammenhang zu sehen mit Völkerkunde und Kulturgeschichte. Angeregt wurde er durch die Werke von Albert Hermann Post.114 Ihn würdigte er später im Nachruf als einen Begründer der Rechtsvergleichung.115 Er habe „in jener Zeit, als die Jurisprudenz sich in Mikrologie zu verlieren drohte, so mächtig neue Bahnen“ eröffnet.116 Post habe noch erleben dürfen, „das jetzt die große Wissenschaft der Universalrechtsgeschichte, der er sein Leben gewidmet hat, sicher und siegreich im Gebiet der Wissenschaften thront“.117 Daneben steht Johann Jakob Bachofen.118 Mit dessen Werk „Mutterecht“ (1861) habe „die rechtsvergleichende Wissenschaft ihre Geburtsstunde gefeiert“.119 Kohler meinte, dass die Beschränkung auf deutsche Rechtsliteratur ebenso fehlerhaft sei wie wenn man sich im technischen Bereich auf die deutsche Industrie beschränke.120 Er war begeistert für die weltweite „Geschichte des Rechts mit neuen Zügen“ und fasziniert durch die „Tiefe und Weite der Gebiete, welche der Jurisprudenz offen stehen“.121 Die technische Durchdringung der Fülle kam angesichts dieses begeisterten Erstaunens mitunter zu kurz.122

XIII. Rechtsethnologie 1. Überblick Die Rechtsvergleichung führte Kohler zur Rechtsethnologie:123 Er suchte nach den Kräften, welche das Recht bestimmen. Der Beginn dieser For111

Rabel (Fn. 2), 128. Adam (Fn. 109), 14; ders. (Fn. 4), 24. 113 Spendel (Fn. 4), 35; J. Kohler Aus vier Weltteilen, 1908. 114 Post Einleitung in eine Naturwissenschaft des Rechts, 1872; ders. Der Ursprung des Rechts – Prolegomena zu einer allgemeinen vergleichenden Rechtswissenschaft, 1876; ders. Grundriss der ethnologischen Jurisprudenz, 1895. 115 Zu Post siehe Kiesow Das Naturgesetz des Rechts, 1997. 116 J. Kohler Albert Hermann Post, ZVglRWiss 12 (1895) 455; Adam (Fn. 4), 20. 117 J. Kohler (Fn. 116), 457. 118 Schmied Johann Jakob Bachofen, in: Großfeld (Hrsg.) (Fn. 14), 108. 119 J. Kohler Nachruf an J.J. Bachofen, ZVglRWiss 8 (1888) 148. 120 J. Kohler Besprechung von Anders, Deutsche Literatur-Zeitung 1882, Sp. 179. 121 J. Kohler Rechtsvergleichende Studien, Vorwort. 122 Das dürfte die oben Fn. 17 angeführte Kritik begründen. 123 Zu dieser Verknüpfung siehe heute Glenn Legal Traditions of the World: Sustainable Diversity in Law3, 2007. 112

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schungsrichtung liegt ebenfalls in Würzburg. Das zeigen etwa seine Bücher „Das Recht als Kulturerscheinung“124 und „Das Recht als Lebenselement der Völker“125 sowie seine Aufsätze „Das Recht der Australneger“126 und „Das Recht der Papuas127 auf Neu-Guinea“.128 Er wollte damit zu einem überstaatlichen Naturrecht gelangen und zu einer Universalrechtsgeschichte: „Perioden der Rechts- und Kulturbildung, von welchen uns das deutsche und römische Recht kaum noch die leiseste Erinnerung bringt, liegen im Leben anderer Völker vollkommen oben an . . . Institute, welche sich daher im Leben der historischen Völker . . . als historische Curiosität aus einer früheren Zeit fort spinnen, . . . sehen wir bei anderen Völkern noch bis vor kurzem oder bis auf den heutigen Tag in frischer Triebkraft.“129 Die Grundlage seiner Arbeit war daher die Rechtsvergleichung130 als „Schlüssel zur Erfassung der Natur des Rechts“.131 In Berlin wurde prägend die Hinwendung zu den deutschen Schutzgebieten.132 2. Recht der „Australneger“ Grundlegend scheint mir sein Aufsatz „Über das Recht der Australneger“,133 in dem Kohler sich bezieht auf den Rechtsgeographen Adolf Bastian134 und auf englische Literatur. Sein Programm steht am Anfang: „Öffnet einmal den reichen Born tüchtiger, verbürgter Nachrichten, welche von Freunden kommen, die jahrelang unter den Völkern gelebt und sich in ihrer Verhältnisse vertieft haben.“135 Da er nicht mehr an die Überlegenheit des europäischen Rechts glaubte, entwickelt er eine universal-menschliche Rechtssicht: 124

J. Kohler Das Recht als Kulturerscheinung, 1885. J. Kohler Das Recht als Lebenselement der Völker, 1887. 126 J. Kohler Das Recht der Australneger, ZVglRWiss 7 (1887) 321. Zum allgemeinen anthropologisch rechtsvergleichenden Hintergrund der Zeit Boin (Fn. 31); Großfeld (Hrsg.) (Fn. 14). 127 Dazu Spendel (Fn. 4), 44. 128 J. Kohler Das Recht der Papuas auf Neu-Guinea, ZVglRWiss 7 (1887) 369. 129 J. Kohler Zur vergleichenden Rechtswissenschaft und ihrer Literatur, KrVJSchr 23 (1881) 161, 175. 130 Spendel (Fn. 4), 34; Adam (Fn. 109), 1. 131 Spendel (Fn. 4), 39. 132 Vgl. auch J. Kohler Rechte der deutschen Schutzgebiete, I – Das Recht der Hereros, ZVglRWiss 14 (1900) 294; II – Das Recht der Papuas, ZVglRWiss 14 (1900) 321. 133 J. Kohler (Fn. 126), 321; vgl. dazu Großfeld Ordnungsgesänge: Interkulturelle Begegnung, 2008. 134 Großfeld/Welp Adolf Bastian und die Geographie im Recht, Rechtstheorie 4 (1994) 503. 135 J. Kohler (Fn. 126), 321. 125

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„Die Australneger, welche auf einer sehr niederen Stufe der Lebensverhältnisse stehen . . .: sie besitzen bereits ein Recht, sie besitzen Rechtsinstitute, welche unter die Sanktion der Allgemeinheit gestellt sind. Denn das Recht besteht vor jeder staatliche Organisation, vor jedem Gericht, vor jeder historischen Veranstaltung. Es besteht im Herzen des Volkes als das Gefühl des Seinsollenden und Nichtseinsollenden.“136 Weiter heißt es: „Daher gibt es kein Volk ohne Recht. Es gibt Völker ohne Gerichte, es gibt Völker, bei welchen die staatliche Organisation fehlt oder nur in ihren äußersten Rudimenten entwickelt ist – aber ein Volk ohne Recht gibt es nicht: Der Mensch kann niemals Nichtmensch sein.“137 Kohler zeigt das an den Eheverhältnissen,138 an dem Reichtum der Sprache bei Verwandtschaftsbezeichnungen,139 am Mutterrecht140 und an der Blutrache (Die Tat tötet den Mann, Gesamthaftung des Stammes).141 Er verbindet das zugleich mit den zugrunde liegenden Lebensverhältnissen. So heißt es z.B.: „Wo überall die Ehe Tausch- oder Kaufehe ist, entwickelt sich neben der Ehe die Verlobung, d.h. das der Ehe vorhergehende Inbeziehungsetzen der beiden Heiratspersonen.“142 Wichtig ist das geographische Umfeld: „Das Vermögensrecht ist natürlich bei Jagd- und Fischereivölkern sehr wenig entwickelt…Begreiflicherweise ist das Eigentum demmeist [sic] auf Mobilien beschränkt. Ein Volk, welches weder Ackerbau noch Viehzucht betreibt, hat kein Bedürfnis nach Grundeigentum, und wo sich kein Bedürfnis regt, da bleibt der Mund des Rechts geschlossen.“143 Ebenso ernst nimmt er die „abergläubischen“ Vorstellungen: „Befürchtungen, Hoffnungen, banges Ahnen und Verlangen, alles dies bildet die schwüle Wolke, aus welcher der befreiende Blitzstrahl hervorleuchtet, und der Aberglaube, ‚die Poesie der Naturvölker‘ ist ein Hilfsmittel des menschlichen Fortschritts gewesen, ein Hilfsmittel ersten Ranges.“144 136 137 138 139 140 141 142 143 144

J. Kohler (Fn. 126), 322 f. Vgl. J. Kohler (Fn. 125). J. Kohler (Fn. 126), 324. J. Kohler (Fn. 126), 325 ff. J. Kohler (Fn. 126), 343 f. J. Kohler (Fn. 126), 345. J. Kohler (Fn. 126), 363 ff. J. Kohler (Fn. 126), 352. J. Kohler (Fn. 126), 359. J. Kohler (Fn. 126), 353.

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Das führt ihn zu menschlichen Universalien und dazu, dass wir uns über die Rechtsethnologie selbst erkennen: „Der Gedanke, der uns beschleichen muss, wenn wir die schwarzen Kannibalen von rechtlichen Ideen durchdrungen fühlen, welche einst unsere Voreltern beherrschten, ist der Gedanke der Einheit des Menschengeschlechts. ‚Alle Menschen werden Brüder‘; dieser Gedanke tritt überall hervor, wo die Rechtswissenschaft weilt.“145 Kohlers Anregungen wirken bis heute nach.146 3. Islamrecht Ähnlich geht Kohler an das Recht des Islam heran.147 Er hofft zunächst, dass man dem Thema nicht mehr so ablehnend gegenüberstehe wie einige Jahre zuvor. Man dürfe rechtsvergleichende und ethnologische Studien nicht nur bemessen nach ihrer Brauchbarkeit für die Anwendung und Auslegung des eigenen Rechts. Vielmehr müsse man sich klar sein, das man in islamischen Ländern auf die Dauer nicht wirken könne, „ohne in die Denkweise eingeweiht zu sein, die jedem Islamjuristen von der Schule aus eingefleischt ist“148. 4. Jüdisches Recht Bahnbrechend war Kohlers Aufsatz „Darstellung des talmudischen Rechts“.149 Im 1980 erschienenen Nachdruck „Wörterbuch des Jüdischen Rechts“ von Marcus Cohn (1890–1953) heißt es,150 er habe „das jüdische Recht als einen der wichtigsten Bausteine der von ihm begründeten vergleichenden Rechtswissenschaft erkannt“.151 Im Vorwort des Nachdrucks schreibt Haim H. Cohn (Vizepräsident des Obersten Gerichts von Israel) zu Marcus Cohn (dem Träger „der schönsten Traditionen jüdischer Rechtsauffassungen“):

145

J. Kohler (Fn. 126), 368. Richland The State of Hopi Exception: When Inheritance Is What You Have, 20 Law & Literature 261 (2008); Aby Warburg/Steinberg Images from the Region of the Pueblo Indians of North America, 1995. 147 J. Kohler Neue Beiträge zum Islamrecht, ZVglRWiss 12 (1897) 1. 148 J. Kohler (Fn. 147), 3. Vgl. Kermani Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, 1999. 149 J. Kohler Darstellung des talmudischen Rechts, ZVglRWiss 20 (1908) 161–264. 150 Cohn Wörterbuch des Jüdischen Rechts, Nachdruck 1980, 7. 151 Vgl. Rapaport Der Talmud und sein Recht, ZVglRWiss 14 (1900) 1; ders. Die Methodenfrage beim jüdischen Recht als Schema einer Methodenfrage im allgemeinen innerhalb der vergleichenden Rechtswissenschaft, ZVglRWiss 33 (1919) 1. 146

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„Der Einfluss Kohlerscher Methode und Kohlerschen Stils auf den jungen Gelehrten ist in seinen jüdischrechtlichen Arbeiten nicht zu verkennen. Nicht nur in den erläuternden rechtsvergleichenden ‚obiter dicta’, sondern auch in der Klarheit und Sparsamkeit der Sprache und des Ausdrucks finden sich Spuren des großen Lehrers.“152

XIV. Fragebogen153 1. Kohlers Fragebogen Kohler schätzte fremde Kulturen und sah keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Recht „primitiver“ und „zivilisierter“ Völker. In jedem Volk gebe es ein Rechtsgefühl: „Ein Volk ohne Recht gibt es nicht: Der Mensch kann niemals Nichtmensch sein“.154 Auf dieser Grundlage entwarf er für die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes den „Fragebogen zur Erforschung der Rechtsverhältnisse der sogenannten Naturvölker, namentlich in den deutschen Kolonialländern“.155 Ihn versandte die deutsche Kolonialverwaltung 1897/1898 in die deutschen Kolonien. Kohler war nie in den Schutzgebieten. Er war wohl angeregt, durch Post, der 1893 einen Fragebogen entwickelt hatte über „die Rechtsgewohnheiten der afrikanischen Naturvölker“.156 Kohlers Fragebogen enthält hundert Fragenkomplexe unter den Überschriften „Familien- und Personenrecht“, „Vermögensrecht“, „Strafrecht“, „Prozessrecht“, „Staats-, Verwaltungs-, Völkerrecht“. Er fragt jeweils nach den alltäglichen Lebenslagen und den Sitten und Ordnungsregeln dafür. Das soll den Blick auf das „Wesentliche“ lenken.157 Damit verlässt Kohler den rein juristischen Rahmen.158 Als Mangel erscheint dennoch, dass häufig ju152

Cohn (Fn. 150), VIII. Großfeld/Wilde Josef Kohler und das Recht der deutschen Schutzgebiete, RabelsZ 58 (1994) 59. Umfassend Boin (Fn. 31); H. Sippel Der Deutsche Reichstag und das „Eingeborenenrecht“: Die Erforschung der Rechtsverhältnisse der autochthonen Völker in den deutschen Kolonien, RabelsZ 61 (1997) 714. 154 J. Kohler Das Recht der Marschallinsulaner, ZVglRWiss 14 (1897) 321, 323 f. 155 J. Kohler Fragebogen zur Erforschung der Rechtsverhältnisse der sogenannten Naturvölker, namentlich in den deutschen Kolonialländern, ZVglRWiss 12 (1897) 427–454. Zum Hintergrund Feuerpeil Spuren deutschen Rechts in den ehemaligen deutschen Südsee-Kolonien in Mikro- und Melanesien, in: Großfeld (Hrsg.) (Fn. 14), 1; Grzesch Die Neuendettelsauer Mission in Papua-Neuguinea vor dem Ersten Weltkrieg, in: Großfeld (Hrsg.) (Fn. 14), 12; Lickefett Gemischte Rechtsverhältnisse in deutschen Kolonien, in: Großfeld (Hrsg.) (Fn. 14), 89. 156 Hildebrand A.H. Post, Einleitung in das Studium der ethnologischen Jurisprudenz, 1989, XVII. Die erste Seite des Fragebogens ist abgedruckt in Boin (Fn. 31), 157. 157 J. Kohler (Fn. 154), 321. 158 J. Kohler Zur ethnologischen Jurisprudenz, ZVglRWiss 5 (1886) 407. 153

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ristische Stichworte und ethnologische Stichworte erscheinen, die die dafür nicht vorgebildeten Adressaten verunsichern.159 Die Antworten veröffentlichte Kohler ab 1900 fortlaufend in der Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft (beginnend mit Band 14). 2. Regierungsfragebogen160 Eine Regierungskommission unter Mitwirkung von Kohler erarbeitete später eine Neufassung.161 Sie wurde 1907 in die Schutzgebiete verschickt,162 später auch benutzt für die „ethnologische“ Befragung von Kriegesgefangenen.163 In der Einleitung heißt es dort: „Es soll zuerst eine allgemeine Schilderung von Land und Leuten nach ethnologischer und wirtschaftlicher Seite hin gegeben werden. Wünschenswert sind Angaben über Körperbeschaffenheit, Bevölkerungszahl, Nahrung, Kleidung, Wohnung, und sonstige Lebensverhältnisse, über Zusammenleben, über Geistestätigkeit, namentlich Religion, Sprache, Geschichte, Sagen und Märchen. Von der Religion sollen insbesondere der Ahnenkult und seine Formen und Betätigungen untersucht werden.“ Die Ergebnisse wurden erst 1929/1930 veröffentlicht.164 3. Beispiele Als Muster für Stil und Inhalt stehen die folgenden Beispiele aus dem Regierungsfragebogen: Nr. 1 „Besteht Mutter- oder Vaterrecht? d.h. folgt das Kind der Familie der Mutter oder des Vaters? Oder werden die Kinder zwischen beiden Familien geteilt? Oder findet beides statt je nach Art und Form der Ehe . . .“

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Boin (Fn. 31), 76. Sippel Der Deutsche Reichstag und das „Eingeborenenrecht“: Die Erforschung der Rechtsverhältnisse der autochtonen Völker in den deutschen Kolonien, RabelsZ 61 (1997) 714. 161 Dazu näher Boin (Fn. 31), 117–129. Der Text des Fragebogens ist dort 163–184 abgedruckt. Die englische Übersetzung findet sich bei Redmaine/Rogers Research on Customary Law in German East Africa, Journal of African Law 1983, 22. 162 Zur Kritik Sippel (Fn. 160), 736. 163 Sitte und Recht in Nordafrika: Schilderungen von Eingeborenen in deutschen Kriegsgefangenenlagern, ZVglRWiss 40 (1923). 164 Schultz-Ewerth/Adam Das Eingeborenenrecht. Sitten und Gewohnheitsrechte der Eingeborenen der ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika und in der Südsee, 1. Band 1929, 2. Band 1930. 160

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Nr. 5 „Bestehen noch Rechte des Totemismus, d.h. haben die einzelnen Familien Beziehungen zu bestimmten Tieren, Pflanzen, leblosen Gegenständen? Dass sie sie verehren, sie nicht töten, sich ihres Genusses enthalten? . . .“ Nr. 37 „Welches ist das Schicksal der Seele nach dem Tode? Steht sie noch in Beziehung zu dem Diesseits (Furcht vor dem Toten)? Und wie lange? . . .“ Nr. 54 „Welche Rechte hat der Gläubiger gegen den nicht zahlenden Schuldner? Wird dieser insbesondere zum Pfandsklaven? Er allein oder auch seine Familie? Besteht überhaupt eine Familienhaftung? Eine Haftung der Erben? Bis zu welchem Maße? Kommt es vor, dass der Gläubiger den Schuldner belagert und aushungert?“ Nr. 68 „Hat der Gläubiger ein Selbsthilferecht gegen das Vermögen des Schuldners? Ein Recht der Pfändung? Hat er das Recht von selbst, oder erst durch obrigkeitliche Erteilung?“ Nr. 87 „Beruht der Staatsverband auf Geschlechtergenossenschaft, d.h. auf der Zugehörigkeit zu bestimmten Familien oder Geschlechtern? Welche Bedeutung haben hierbei die Totem-Verbände?“ 4. Wirkung Der Fragebogen und die Zusammenarbeit mit der Kolonialabteilung könnten die deutsche Kolonialpolitik positiv beeinflusst haben. So erscheint es jedenfalls für die Marianeninseln im Südpazifik. Deutschland erwarb sie 1899 von Spanien, als dieses dem amerikanischen Druck in Richtung Philippinen und Guam entgehen wollte. 1914 fielen die Marianen kampflos an Japan.165 Das vom „Public School System“ der Marianen verlegte Buch „History of the Northern Mariana Islands“ (Don A. Farrell, Verf., Phyllis Koontz, Hrsg.)166 sagt über die Deutschen:167 „The Germans became known for their politeness and excellent education and the people of Saipan [Hauptinsel] were extremely happy with them from the first moment“. 165

Spennemann Aurora Australis: The German Period in the Marian Islands 1899– 1914, 1999. 166 Farrell in: Koontz (Hrsg.) History of the Northern Mariana Islands, 1991. 167 Farrell (Fn. 166), 242.

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„The Germans established compulsory public education.“168 Wir lesen ferner:169 „The German times were remembered as ‘the good old days’. There was no bloody invasion at the beginning or the end of the German administration. The numbers of Germans in the Marianas were small. Most of the islanders had a job or a farm or ranch to provide them with security and the necessities of life.“ Der erste deutsche „Bezirksamtmann“ von 1899–1907, Georg Fritz aus Alzey (1865–1944) genießt nach wie vor hohes Ansehen. Er gilt als „remarkably well suited to the job“,170 weil er „curiosity“ mit „political scill“ verband.171 Sein 1904 in Berlin erschienenes Buch über die einheimische Bevölkerung „Die Chamorro: Eine Geschichte und Ethnographie der Marianen“172 gilt heute auf den Marianen als der Klassiker.173 Man meint Kohler zu hören, wenn es darin von dem „alten Volkstum“ heißt: „Es erwies sich auf dem heimischen Boden stärker als die ihm wesensfremde europäische Kultur“;174 man dürfe hoffen, dass wieder „ein an Zahl und Tüchtigkeit starkes Chamorro-Volk erwachse“.175 Eine direkte Verbindung zu Kohler konnte ich indes nicht ermitteln. Noch heute dient dieser Fragebogen als Modell für südafrikanische Ethnologen bei ihren Feldforschungen.176

XV. Rechtsphilosophie Viel beachtet war auch Kohlers „Lehrbuch der Rechtsphilosophie“.177 Er erweist sich darin mit seinem Hinweis auf die „Vernunft des Unendlichen“

168

Farrell (Fn. 166), 288. Farrell (Fn. 166), 289. 170 Farrell (Fn. 166), 258. 171 Spennemann Combining Curiosity With Political Skill, Micronesian, Journal of the Humanities and Social Sciences 5 (2006) 495. 172 Fritz Die Chamorro: Eine Geschichte und Ethnographie der Marianen, 1904; zugleich Ethnologisches Notizblatt 3 (1902) Heft 2, 25. 173 Auf S. 276 (Fn. 171) wird es gewürdigt durch den Hinweis: „(Fritz’s descriptions of life in the Marianas during the German administration can be found in the supplemental reader)”. Der „supplemental reader“ lag mir nicht vor. 174 Fritz (Fn. 172), 25. 175 Fritz (Fn. 172), 26. 176 Dazu Prinsloo Field Research in Indigenous Law, ZVglRWiss 1993, 221, 232. Vgl. Stefan Engelsberg, The German Language in the South Sea, in: M. Schulze u.a. Hrsg. German Diaspora Experiences Waterloo, Dutario, 2008. 177 J. Kohler Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1909. 169

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als Neuhegelianer.178 Er behandelt dann die „Philosophie, welche sich mit dem Menschen und seiner Kultur befasst“. Vom Personen- und Vermögensrecht schreitet er fort zum Staatsrecht und zum Völkerrecht. Dabei geht er aus von der Annahme, dass das „Logische in der Weltgeschichte mit viel Unlogischem verbunden sei“:179 Zu den „alogischen Elementen gehört zunächst die örtliche und zeitliche Entfernung“.180

XVI. Kollegen Kohler kennzeichnen auch seine Urteile über Kollegen. 1. Bernhard von Windscheid/Rudolf von Ihering Sein „Patentrecht“ hatte er 1877 „ehrerbietigst“ Windscheid gewidmet: „Dem großen Rechtslehrer Bernhard von Windscheid, dem Neubeleber der Wissenschaft des practischen Civilrechts“. Später schrieb er indes zu Windscheid:181 „Es gibt Geister, die in bestimmten Jahren von einer solchen Sehnsucht nach Ebenmaß und Harmonie heimgesucht werden, dass sie den stürmischen Produktionstrieb in sich zurückdrängen und, in der Meinung, dass es sich um Reife und Aufklärung handle, den Gehalt an neuen Ideen in sich austrocknen lassen; sodass die in ihnen schlummernden Keime überhaupt nicht herauskommen oder doch nur in destillirten Sublimaten, dass sie keinen rechten Körper mehr haben und wie eine Wolke verfliegen. Das ist die Klippe, an der viele ausgezeichnete Geister gescheitert sind.“ Bei der Kritik an von Ihering ist daran zu erinnern, dass dessen Gutachten den Ausschlag gab für Kohlers Berufung nach Berlin. Von Ihering hatte geschrieben: „Er ist ein Mann ersten Ranges, in meinen Augen eine phänomenale Erscheinung. Er ist von einer wahrhaft staunenswerten, ich möchte fast sagen unheimlichen Produktivität, der schafft für zehn . . . nicht oberflächlich . . . wahrhaft staunenswert. Der Mann liest alles, kennt alles, benutzt alles . . . und versteht vortrefflich zu schreiben . . . Er ist eben ein Meteor. Ein solcher Mann gehört nach Berlin. Er wird eine Zierde der Fakultät werden 178 Hofmann „In Europa kann’s keine Salomos geben“. – Zur Geschichte des Begriffspaars Recht und Kultur, JZ 2009, 1, 5. 179 Hofmann (Fn. 178), 17. 180 Hofmann (Fn. 178), 18. 181 J. Kohler (Fn. 4), 34 f.

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und mit der Zeit alle anderen dort tätigen Kräfte weit in den Schatten stellen.“182 Kohler erklärte zu von Ihering:183 „Der Kern seines juristischen Talentes lag in dem tüchtigen juristischen Instinkt, in der Gabe, diesem Instinkt in kräftiger Sprach Ausdruck zu geben. Hätte er sich hierauf geworfen, wäre er dem praktischen Rechtsleben nahe geblieben, hätte er beispielsweise die wichtigsten Entscheidungen des Reichsgericht mit seiner Kritik begleitet, er hätte für unser Rechtsleben dauernd fruchtbares geleistet. Seine beste Arbeit ist die Jurisprudenz des täglichen Lebens, die vortrefflich geeignet ist, den juristischen Blick zu schärfen und in unserem Lebensverkehr, die erregenden Fragen des Rechts aufzuweisen. Er lenkte damit die Juristen, die bisher viel zu viel in Justinians Schusterwerkstätte saßen, in die heutige Welt und zeigte die Fülle der Problem, die unser modernes Recht bietet. Auch mehrere seiner Aufsätze zeugen von praktischem Geschick und von entschiedenem Talent, die Probleme des Rechtslebens zu fassen. Sie werden darum auch ganz anders in Zukunft gelten als sein ‚Geist‘ und sein ‚Kampf‘ und sein ‚Zweck‘, wenn sie auch nicht mit so scharfkantigen Titeln ausgestattet sind, die bisweilen klingen, wie wenn ein Gong erschallt, denn im Auffinden guter und treffender Bücher hatte er ein Hauptgeschick.“ Abschließend heißt es: „Wie Windscheid, so war auch Ihering kein Geist ersten Ranges, obschon er durch praktischen Rechtsinstinkt einen unleugbar tüchtigen Vorsprung über Windscheid hatte“. Beiden hält er vor das mangelnde Interesse an der Rechtsvergleichung: „Was war das für eine Epoche, wo die zwei Geister, die man als die führenden Kräfte des Civilrechts betrachtet, die großartigen Ergebnisse der anderen Kulturnationen nicht in Vergleich zogen!“ Diese Urteile stießen ihrerseits auf scharfe Kritik,184 die aber Kohler nicht beirrten. Er erwiderte:185 „Ich habe die lebhafte Befriedigung, durch scharfe Charakteristik der beiden Männer die Wissenschaft vor Abwegen bewahrt und zum Fortschritt der Jurisprudenz beigetragen zu haben. Andere Rücksichten gibt es für den Forscher nicht.“ 182 183 184 185

Zit. nach Gross (Fn. 32), 624. Gross (Fn. 32), 646 f. Siehe dazu auch Kiesow (Fn. 3), 306. Vgl. Großfeld/Theusinger L’oeuvre (Fn. 25), 178. J. Kohler (Fn. 4), 49.

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2. Otto Bär Lobend äußert sich Kohler zu Otto Bär:186 „Keiner ist mit so mächtigen Waffen wie er dem Rechtsformalismus entgegengerückt, und wo früher noch alles von Formen und Schablonen starrte, hat er mit klärender Hand den Kern der Sache enthüllt.“ Bär habe zu zeigen versucht, dass „hinter dem Gesetz noch ein Anderes, ein höheres steht, was dem Inhalt des Gesetzes erst Leben gibt: der lebendige Rechtsgedanke“.187 Das glich dem, was Kohler selbst zum „Kaufmann von Venedig“ geschrieben hatte. 3. Gustav Radbruch188 Vernichtend war Kohlers Kritik an Radbruch.189 Dessen Dissertation zur juristischen Kausalitätsproblem benotete er mit „ungenügend“. Zu Radbruchs „Einführung in die Rechtswissenschaft“ schrieb er, das Buch zeige „bei gänzlich unreifer Darstellung solche oberflächliche Trivialität und Seichtigkeit, dass es besser unerwähnt bleibt“.190 Nicht besser erging es Radbruchs „Grundzüge der Rechtsphilosophie“.191 Das können wir nicht nachvollziehen.

XVII. Und heute? Kohler drückte sein Streben so aus: „Lebensziel ... Willst Du zum großen Werke streben, Sollst Du dem Werk die Seele weihn,

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J. Kohler (Fn. 4), 49. Bär Erinnerungen aus meinem Leben, 1898, 53. Spendel Jurist in einer Zeitenwende: Gustav Radbruch zum 100. Geburtstag,

1979. 189

Spendel (Fn. 188), 22 f. J. Kohler Aufgaben und Ziele der Rechtsphilosophie, Arch Wirtsch Ph. 191 J. Kohler Besprechung von Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, ZVglRWiss 32 (1914) 318. Zu diesem „Fehlurteil“ Spendel (Fn. 4), 8 Fn. 35. 190

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Die Schöpfung sei dein ganzes Leben, Und in der Schöpfung sollst du sein“.192 Was ist davon geblieben? Fand Kohlers „maßloses Schaffen…keinen Widerhall“?193 1. Patentrecht Die überragende Bedeutung des Patentrechts ist heute jedem bewusst. Durch die Entwicklung von Softwarepatenten im Rahmen des Internet hat es globale, interkulturelle Dimensionen erlangt,194 die die Gerichte beschäftigen.195 Das reicht selbst in die Patentierung mathematischer Formeln hinein.196 Das japanische Patentrecht von 1959 beruht in seinem § 2 auf Kohler, wenn es sich auf „Naturkräfte“ bezieht. In einer Veröffentlichung der Japan Patent Attorney Association von Mai 2008 wird Kohlers Patentrecht wörtlich zitiert.197 2. Literatur und Recht Das Recht bei Shakespeare ist inzwischen ein weltweites Thema,198 das sich bis in verfassungsrechtliche Fragen ausweitet.199 Ähnliches finden wir 192

Zit. nach Spendel (Fn. 4), 48. So Kiesow (Fn. 3), 313. 194 Großfeld/Hoeltzenbein Language, Poetry, and Law: Order Patents, Law and Business Review of the Americas 10 (2005) 669; Juenger You Can’t Patent Software: Patenting Software Is Wrong, 58 Case Western Reserve Law Review 333 (2008); Wieland/Leightman Symposium: Patents on Tax Strategies Protecting Innovation or Inhibiting Advice?, Houston Business and Tax Law Journal 2008, 225; Groeschel Tax Strategy Patents Considered Harmful, Houston Business and Tax Law Journal 2008, 271; Beale Tax Patens at the crossroads of Tax and Patent Law, 8 U. Ill. J. L. & Policy (2008) 107. 195 Vgl. Bilski/Warsaw US Court of Appeals for the Federal Circuit, 2007–1130, 30 October 2008. 196 De Laat Patenting Mathematical Algorithms: What’s the Harm? A Thought Experiment in Algebra, 20 Int’l Rev. L. Econ. (2000) 187, 196 f.; Mangrum Cultural Algorithms: The Status of Software Patents in a Global Environment, ZVglRWiss 108 (2009) erscheint demnächst. 197 Kawakami Obtaining Patents on Computer Implemented Software Inventions, Google. Dort finden wir: “Erfindung ist eine zum technischen Ausdruck gebrachte Ideenschöpfung des Menschen, die unter Überwindung der Natur durch Benutzung der Naturkräfte zum einem funktionelle Ergebnis führt und hierdurch tauglich ist, menschliche Ansprüche zu erfüllen“. 198 Keeton Shakespeare and His Legal Problems, 1930. Siehe die Reihe von Aufsätzen in Cardozo Studies of Law and Literature 1993, Band 5 Nr. 1. 199 Visconsi Vincum Fidei: The Tempest and the Law of Allegiance, Law and Literature 20 (2008) 1; vgl. dazu Calvin’s Case, or the Case of the Postnati, Coke’s Reports, Band 7. 193

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im Hinblick auf Goethe.200 Die Entwicklung ist weiter gegangen über „Literatur und Recht“201 oder „Poesie und Recht“202 zu „Musik und Recht“203 sowie „Farben und Recht“.204 Immer geht es dabei darum, dem „prison house of language“ zu entkommen.205 3. Raum/Zeit Wie von Kohler angedeutet, steht die geographische Zuordnung am Beginn der Rechtsvergleichung: Rechtsprobleme sind zunächst zu verorten. Geographie und Recht wurden so zu einem bedeutenden Thema.206 Ähnlich ist es mit der Zeit im Recht.207 4. Rechtsvergleichung Im Anschluss an Kohler sehe ich hier das Fazit so: „Eine funktionale Betrachtung fremder Ordnungen führt uns in die Irre, wenn wir die Funktion nach unseren Verständnissen, nach unseren ‚Namen‘ beurteilen; wir verfehlen dann das fremde Koordinatensystem. Dieses Koordinatensystem ergibt sich aus der anderen Umwelt, der anderen Sprache, der anderen Schrift, der anderen Religion, den anderen Tabus, dem andern Zeitbewusstsein. Eines wirkt wechselseitig auf das andere. 200

Großfeld/Brand Das Recht in Goethes Iphigenie auf Tauris, JZ 1999, 809. Sya Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse, 2001; Vorbaum (Hrsg.) Anton Matthias Sprickmann. Dichter und Jurist, 2005; Seibert Literatur als Recht – Goethe in der Tradition juristischer Rhetorik von Cicero bis Oliver Wendell Holmes, in: Lüderssen (Fn. 104), 319. 202 Weisberg Poetics: and Other Strategies of Law and Literature, 1992; Großfeld Rechtsvergleichende Poetik, ZVglRWiss 105 (2006) 343; ders. Rechtspoetik, Gedächtnisschrift Schindhelm 2009, erscheint demnächst; DeLong The Poetry of Law, 58 Journal of Legal Education (2008) 141; Reichman Law, Literature, and Empathy: Between Withholding and Reserving Judgment, 56 Journal of Legal Education (2006) 296; Grey The Wallace Stevens Case: Law and the Practice of Poetry, 1991, rev. by Sania Cardozo Studies in Law and Literature 4 (1992) 85. 203 Long [Insert Song Lyrics Here]: The Uses and Misuses of Popular Music Lyrics in Legal Writing, 64 Washington & Lee Law Review (2007) 531; Großfeld/Hiller Music and Law, The International Lawyer 42 (2008) 1147; Spinden Songs of the Tewa2, 1993. 204 Molsberger Staat und Symbol. Farben, Fahnen, Flaggen in Recht und Dichtung, in: Kämmerer (Hrsg.) An den Grenzen des Staates, 2008, 177. 205 DeLong (Fn. 202), 141; Stechern Das Recht in den Romanen von Sir Walter Scott, 2002; Großfeld Rechtspoetik (Fn. 202). 206 Großfeld Geography and Law, Michigan Law Review 82 (1984) 1510; Großfeld/ Welp (Fn. 134), 503. Vgl. von Bar Die Entwicklung des südafrikanischen Zivilrechts, dargestellt an Fragen des Haftungsrechts, RabelsZ 42 (1978) 87. 207 Großfeld Rechte Zeit, in: Backhaus/Bonus (Hrsg.) Die Beschleunigungsfalle oder der Triumph der Schildkröte3, 1998, 91; siehe schon von Brinz Über die Zeit im Recht, 1882. 201

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Erst wenn wir das kulturelle Weltbild ungefähr erspüren (mehr werden wir oft nicht erreichen), können wir die Einzelheiten orten und dann Rechtsvergleichung betreiben auch mit uns ferner stehenden Kulturen. Dabei werden wir uns allerdings mit einer bleibenden und‚ heraufordernden Pluralität der Welten‘ abfinden müssen. Jedoch: ‚Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident! Nord- und südliches Gelände Ruht im Frieden seiner Hände‘. (Goethe)“.208 Die Welt lässt sich nicht nur als Buch verstehen. 5. Ethnologie Die Ethnologie ist heute im „glokalen“ (global/lokal) Umfeld ein selbstverständlicher Teil der Rechtsvergleichung. Das hat uns vor allem vermittelt die Begegnung mit den Ordnungsgesängen der Naturvölker und deren Erstarken zu modernem Recht.209 Der südafrikanische Ethnologe Prinsloo erwähnt Kohler lobend in seinem Aufsatz „Field Research in Indigenous Law“:210 Kohler ist glänzend bestätigt.

XVIII. Schluss Kohler schildert seinen „Rechtstraum“ in dem Gedicht „Die Wahrheit wird nur dem, der sie durchlebt“. Die erste Strophe lautet: Dass Euch die Wahrheit oftmals mag verletzen, Wer weiß es nicht, der ihre Macht erfuhr? Doch nimmermehr lass ich die treue Spur, Denn nichts kann ihre Zauberkraft ersetzen“211. Für Kohler gilt wohl auch, was er selbst zu den Bemühungen von Post sagte: „Wie unvollkommen auch immer der Anfang sein mag, wie sehr es auch jahrelanger Anstrengungen bewährter Kräfte bedarf, um in die neue Tiefe einen völlig kunstgerechten Schacht einzulegen und die Ausbeute in mäch208 209 210 211

Ibid 103; vgl. Großfeld Neue Rechtsvergleichung, in: FS Henrich 2000, 211. Großfeld (Fn. 133); Großfeld/Hiller (Fn. 203), 1169. Prinsloo (Fn. 176), 232. Zit. nach Spendel (Fn. 4), 49.

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tiger Fülle zu heben, immerhin hat derjenige ein großes Verdienst, der zuerst an der neuen Stelle den Spaten anlegt und zuerst die Mine erschlossen hat“.212 Hans Kelsen würdigte Kohler zu dessen hundertsten Geburtstag 1949 als einen „true pioneer“213 im Patentrecht und in der Rechtsvergleichung; er war Brückenbauer angesichts neuer Informations- und Verkehrstechniken. Doch erging es ihm so wie Ogden Nash214 das schildert das in seinem Gedicht „Columbus“: Columbus entdeckte Amerika, aber den Namen erhielt der Kontinent von Amerigo Vespucci, der nie dort war.215 Der Schluss des Gedichts lautet: „So the sad fate of Columbus ought to be pointed out To every child and to every vote, Because it has a very important moral, which is, Don’t be a discoverer, be a promoter.“

212 J. Kohler Besprechung von Post, Ursprung des Rechts, 1876, Staats- und Rechtsleben, 1878, Allgemeine Vierteljahresschrift 23 (1881) 174, 175. 213 Kelsen (Fn. 10), 346. 214 1902–1972. 215 Zum juristischen Hintergrund siehe Damler Pars pro toto. Die juristische Erfindung der Entdeckung Amerikas, Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 10 (2006) Heft 3 und 4, 424.

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Wilhelm Kahl (1849–1932) „. . . der Strafrechtsreform eigentliche Seele . . .“ MICHAEL HETTINGER

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zum Motiv der Gründung der „Lehranstalt“ . . . . . 2. Kahl: ein Mann für die Zeit oder mehr? . . . . . . . . . II. Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zum Werk Wilhelm Kahls . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kirchenrechtler und Staatsrechtler . . . . . . . . . . . . 2. Der allgemeine Wunsch einer Reform des Strafrechts a) Kahls zweite Karriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Reformbewegung 1902–1930 . . . . . . . . . . . IV. Kahls Wille zur Gestaltung des Gemeinwesens . . . . . 1. Ämter, Gremien, Mitgliedschaften . . . . . . . . . . . . 2. Politische Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ehrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Vorläufige Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung 1. Zum Motiv der Gründung der „Lehranstalt“ Wenn eine ehedem hochberühmte, heute wieder aufstrebende Universität, die im Jahr 2010 gleichwohl nach deutschen Verhältnissen „erst“ 200 Jahre alt wird, dieses Ereignis zu feiern sich anschickt, werden die Organisatoren sich gefragt haben, worauf der Schwerpunkt zu legen sei, was diese Alma mater von den vielen, zur Hälfte schon länger bestehenden „Konkurrentinnen“1 dem unterscheidet. Die Lage der preußischen Universitäten war schon 1 Dass im letzten Jahrzehnt von der Bürokratie nach politischen Vorgaben versucht wird, durch die Zuteilung von Geldern bei gleichbleibend finanziell unzureichender Grundausstattung der Universitäten künstlich eine Art „Wettbewerb“ zwischen ihnen zu erzeugen, zugleich aber – „Bologna“ – aus den ehemals nach Kants, Humboldts und Schleiermachers Ideen ausgestalteten Bildungseinrichtungen Ausbildungsstätten zu machen, womöglich mit dem Ziel, über die Einführung der Bachelor-Studiengänge einerseits eine Angleichung

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vor der territorialen Neuordnung durch Napoleon prekär gewesen.2 Nach den schweren Niederlagen gegen Napoleons Armeen 1806 bei Jena und Auerstedt verlor Preußen 1807 die Universität Halle an das Königreich Westphalen (von Napoleons Gnaden).3 König Friedrich-Wilhelm III. beschloss danach, eine höhere Lehranstalt „für die höhere Geistesbildung im Staat und auch über die Grenzen desselben hinaus“ zu gründen. Der König soll als Motiv der Gründung dieser „Lehranstalt“ die Bemerkung mit auf den Weg gegeben haben, „der Staat müsse durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren habe“.4 Dazu bedurfte es hervorragender Wissenschaftler, wie allen am Gründungsvorgang Beteiligten klar war und die Stiftungsurkunde auch ausweist. In ihr ist insoweit als Ziel vorgegeben „. . . die Erhaltung und Gewinnung der ersten Männer jeden Fachs . . .“.5 Als einen solchen Mann schätzte die juristische Fakultät6 Wilhelm Kahl offensichtlich ein, als sie 1895 seine Berufung wünschte. Es gelang, ihn von der neun Jahre jüngeren Schwesteruniversität in Bonn für das beanspruchte geistige Zentrum des Königreichs Preußen zu gewinnen. So bleibt die Frage,

der Fachhochschulen zu ermöglichen und über die Beschränkung des Zugangs zum Master-Studium andererseits eine Elitebildung neuer Art an „Elite-Universitäten“ zu kreieren – und zu steuern! –, sei gerade anlässlich des Jubiläums der Humboldt-Universität zu Berlin immerhin notiert. Nicht unpassend dazu die Warnung des RT-Abgeordneten Kahl in der 177. Sitzung am 24.2.1922, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des RT, I. WP 1922, Band 353, 6032, davor, das juristische Studium auf ein „Brotstudium“ zu reduzieren und damit die wissenschaftliche Unterrichtung – insbesondere die historischen Studien – zurückzudrängen; reizvoll wieder zu lesen auch Ebermayer Die Problematik der heutigen Studienreform, DRiZ 1930, 407–409. Zum „Mythos Humboldt“ viel Kritisches in dem von Ash herausgegebenen Sammelband Mythos Humboldt – Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, 1999. 2 Koch Die Universität – Geschichte einer europäischen Institution, 2008, 128 ff., 134, 138 f.; knapp Schoeps Preußen – Geschichte eines Staates, 1966/67, 1992, 130 f. Zur Geschichte der deutschen Universitäten s. etwa Wehler Deutsche Gesellschaftsgeschichte – 1. Band: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, 1987, 292 ff., 480 ff.; 2. Band: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/49, 504 ff.; ferner Nipperdey Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat6, 1993, 11 ff. 3 Schröder/Bär Zur Geschichte der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, KJ 1996, 447, 448. 4 Näher dazu und m.w.N. Klopsch Die Geschichte der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin im Umbruch von Weimar, 2009, 29 ff. 5 Klopsch (Fn. 4), 29 f. m.N.; siehe auch Koch (Fn. 2), 136 ff., 143 ff. und Schröder/ Bär (Fn. 3), 418 ff. 6 Eb. Schmidt Probleme der richterlichen Unabhängigkeit, DRiZ 1962, 401–407 spricht (jedenfalls für die Zeit 1910–1913) von „Deutschlands großartigster und berühmtester Juristenfakultät“; siehe zur Fakultät auch Heymann Hundert Jahre Berliner Juristenfakultät – Ein Gedenkblatt, in: Liebmann (Hrsg.) Die Juristische Fakultät der Universität von ihrer Gründung bis zur Gegenwart in Wort und Bild, in Urkunden und Briefen – Mit 450 handschriftlichen Widmungen, Festgabe der Deutschen Juristen-Zeitung zur Jahrhundertfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 1910, 3 ff.

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ob Kahl den Anforderungen entsprach, die Universität und Fakultät an ihre Mitglieder zu stellen hatten. 2. Kahl: ein Mann für die Zeit oder mehr? Nun ist es gewiss keine neue Beobachtung, dass die Beurteilung7 eines Menschen, der durch etwas Außerordentliches sich von der großen Menge seiner Zeitgenossen unterscheidet, aus ihr gar herausragt, nicht nur je nach Umfeld und Blickwinkel des Beurteilers, sondern auch je nach zeitlicher Distanz sehr unterschiedlich ausfallen kann. Das trifft auch auf die Einschätzungen zu, die dem Kirchen- und Staatsrechtler, dem späteren Strafrechtler, Strafrechtsreformer und Politiker Wilhelm Kahl im Lauf der Zeit zuteil wurden, wie einige wenige Zitate belegen mögen. So gilt etwa ein Gruß zu Kahls 70. Geburtstag8 „dem kraftvollen, gütigen, durch und durch harmonischen Manne, dem hochverdienten Vertreter der Wissenschaft, dem warmherzigen Patrioten . . .“.9 Zum 80. Geburtstag – in Berlin-Wilmersdorf wurde zu seinen Ehren eine Straße nach ihm benannt – kam ein Glückwunsch sogar aus dem preußischen Ministerium des Innern, verbunden mit „Dankbarkeit, nicht für das, was er getan, geschaffen hat, sondern für das, was er durch seine Persönlichkeit ist: Das große menschliche Vorbild für den Juristen und ganz besonders für den Strafjuristen, bei dem jede menschliche Lebensäußerung ein Verstehen findet, eine gerechte, leidenschaftslose Beurteilung, entspringend nicht nur der Abgeklärtheit eines an Kenntnissen und Erfahrungen überreichen Lebens, sondern auch einem grundgütigen 7 Auch die Sprache, in der dies geschieht. So müssen – auch bei Kahls Reden – mancher Schwulst und etliche Überschwänglichkeiten bei Geburtstagswünschen, Ordensverleihungen und anderen Festlichkeiten, insbesondere auch bei Nachrufen, mitbedacht und beiseite geräumt werden, um zum Kern der jeweiligen Aussagen zu gelangen. Selbst insoweit eine Sonderstellung nehmen die Reden ein, die u.a. auch Kahl zu Beginn und im Verlauf des „1. Weltkriegs“ gehalten hat; s. ferner Kahls Beschreibung der Neujahrsnacht 1870/71 südlich von Paris, in: Staat und Volk – Rede bei der Reichsgründungsfeier der Reichsregierung im Reichstag am 18. Januar 1931, 1931, 4; zit. auch bei Achenbach (Fn. 17), 245 Fn. 4. 8 Ab dem 60. Lebensjahr erfährt er alle fünf Jahre Würdigungen und erhält Glückwünsche; siehe etwa DJZ 14 (1909) Sp. 756; 19 (1914) Sp. 84 f.; 24 (1919) Sp. 475 f.; 29 (1924) Sp. 448 f.; 34 (1929) Sp. 824. An seinem 80. Geburtstag ehren ihn im RT dessen Präsident und das ganze Haus (siehe Text nach Fn. 137) und wird im Zoologischen Garten zu Berlin eine große Feier ausgerichtet (Text nach Fn. 161). 9 Von Hippel Wilhelm Kahl zum 70. Geburtstage, DJZ 24 (1919) Sp. 475 f. Von seiner „kraftvolle(n) und zugleich gütige(n) und herzenswarme(n) Persönlichkeit“ ist auch schon in DStrRZ 1 (1914) Sp. 266 – einem Glückwunsch des Ministerialrats Meyer – die Rede. Von „Herzensgüte“ spricht Reichsjustizminister Joël in seinen Worten des Gedenkens auf der „Deutschen Welle“, in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 11 ff.; zu Joël siehe Ebermayer Fünfzig Jahre Dienst am Recht – Erinnerungen eines Juristen, 1930, 220 f.; Godau-Schüttke Rechtsverwalter des Reiches – Staatssekretär Dr. Curt Joël, 1981; Rezension von Th. Vormbaum GA 1983, 94.

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Herzen“.10 Gelobt wird darüber hinaus „die formvollendete und doch erst im Augenblick gestaltete Rede . . . (die) jedem, der sie hörte, unvergeßlich“ bleibe, und erinnert an seinen „liebenswürdigen Humor“, der „dem gütigen und nachsichtigen Herzen entspringe“.11 Gerühmt wurde neben seiner einhellig anerkannten Redekunst die „Gabe, eine Debatte zu leiten und zu führen, die ihn geradezu prädestinierte, der Leiter großer Versammlungen und der Sprecher einer großen gleichgesinnten Menschenmenge zu werden“.12 „Hüter der Gerechtigkeit“, „Wahrer des Rechtes“, „ein guter Stern des deutschen Volkes“, so rief ihm einer seiner „glühendsten“ Bewunderer nach.13 Dieser Lobredner hatte schon zu Kahls 75. Geburtstag eine Eloge verfasst, die man gesprochen heute wohl kaum noch hören wollte.14 Solcherart lobende, teils sehr hoch gestimmte Preisungen ließen sich leicht vermehren, auch was die Eigenschaften und Verdienste Kahls betrifft, wie man sie damals sah.15 Interessanter erscheint stattdessen noch ein Blick auf zeitgenössische Kritiker. Sie sind, zieht man das politische Alltagsgeplänkel ab, erstaunlich rar, insbesondere wenn man im Blick behält, dass Kahl zwar nicht im „allgemeinen“ Rampenlicht, wohl aber in dem von Wissenschaft und – ab 1918 zunehmend – Politik stand. Doch immerhin, Kurt Tucholsky spießte auf, was Kahl in Georg Maas‘ kleinem Buch „Die verfassungsgebende Deutsche Nationalversammlung, 1919“, das neben Porträt, Personalien, Le10 Regierungsdirektor Hagemann Zum 80. Geburtstag Kahls, DJZ 34 (1929) Sp. 841; zur Rundfunkrede des Reichsjustizministers Joël anlässlich Kahl’s Tod siehe schon Fn. 9; ferner Reichsjustizminister a.D. Bell Wilhelm Kahl †, JW 61 (1932), 1705. 11 Hagemann (Fn. 10), Sp. 824 f.; anders Wunderlich, Wilhelm Kahl † – Ein Gedenkwort, DJZ 37 (1932) Sp. 697, 700: „Er sprach selten frei . . . Aber wie er auf der Rednerbühne sprach, so merkte ihm die Fixierung dessen, was er sagte, keiner an“. 12 Wunderlich (Fn. 11), Sp. 700; siehe auch Hagemann (Fn. 10), Sp. 824; ferner Radbruch 249. Sitzung des RT am 12. Juli 1922, abgedruckt in Kaufmann (Hrsg.) Gustav Radbruch Gesamtausgabe (= GRGA), Band 19, Reichstagsreden, bearbeitet von Schöneburg (Heidelberg, 1998) 115, 117. 13 Liebmann in dessen DJZ von und über Kahl zahlreiche Artikel erschienen sind; diese sowie diejenigen in der mit der DJZ später vereinigten Deutschen Strafrechts-Zeitung sind nachgewiesen in DJZ 37 (1932) Sp. 703 f. Literatur von und über Kahl auch bei Troxler Kahl, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band 15, 1999, Sp. 780 f. 14 DJZ 29 (1924) Sp. 448 f.; in unseren Tagen würde man das wohl unter „Überschwang der Zeit“ buchen. 15 Vgl. etwa von Liszt DJZ XIX (1914) Sp. 804; Kipp Die religiöse Kindererziehung nach Reichsrecht, in: Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubiläum am 19. April 1923, 1923 mit Beiträgen von Theodor Kipp, Heinrich Triepel, Rudolf Smend und Martin Wolff, 50 a.E. Alsberg Wilhelm Kahl, 1929, passim. Auch die Lexika der Zeit gedenken Kahls, so etwa Meyers Lexikon, 7. Auflage 1927 (Band 6); 8. Auflage 1939 (Band 6); noch Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Auflage 1971 (Band 13) erwähnt ihn, wenngleich schon wesentlich knapper; ferner Brockhaus, Handbuch des Wissens, Band 2, 1922, 564; die Brockhaus Enzyklopädie, 19. Auflage 1990 (Band 11) kennt ihn nicht mehr, wohl aber die Deutsche Biographische Enzyklopädie, 2. Auflage 2006 (Band 5), 447; siehe auch Kleinheyer/Schröder (Hrsg.) Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten5, 2008, 508.

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bensgang und -arbeit auch die Antwort der Abgeordneten auf die Frage nach dem „Lebensziel“16 enthielt, geantwortet hatte. Tucholsky notierte: „. . . am aufrichtigsten ist Kahl.“ Unter einem mäßig gekämmten Vollbart ist zu lesen: „Den alten Geist im neuen Reich!“ Dazu der schon einer neuen Generation angehörende überzeugte Republikaner Tucholsky: „Nein, Herr Professor! Den neuen Geist im neuen Reich!“17 Als Tucholsky diese Sätze 1919 publizierte, hatte er womöglich noch den Klang der Reden im Ohr, die Kahl nach Beginn des „1. Weltkriegs“18 gehalten hatte und dann auch drucken ließ.19 Reden, von denen ein Biograph Kahls Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts meinte, sie verdienten „kaum ein anderes Prädikat als das der Kriegsverherrlichung und Volksverhetzung“.20 Es habe sich bei Kahl nicht, wie zeitgenössische Würdigungen seiner politischen Tätigkeit resümierten, um einen „glühenden Patrioten“ gehandelt; viel treffender 16 Tucholsky bemerkt hier spitz und treffend: „Nun ist die Frage nach dem Lebensziel nicht immer leicht zu beantworten, ja nicht einmal allzu klug, weil die Frage selbst nicht allzu klug ist – aber es ist interessant, zu beobachten, wie die Vierhunderteinundzwanzig sie beantwortet haben“; siehe Ahrens/Bonitz/King (Hrsg.) Kurt Tucholsky – Gesamtausgabe, Texte und Briefe, Band 3: Texte 1919, 1997 ff., 95. 17 Wie Fn. 16, 96; siehe auch die Einschätzung bei Achenbach Recht, Staat und Kirche bei Wilhelm Kahl – Eine Darstellung seines kirchenrechtlichen und staatsrechtlichen Werks samt einem Überblick über seine Tätigkeit im Dienste der Strafrechtsreform und sein politisches Wirken, Diss. 1972, 254; ganz anders selbstverständlich die Bewertung des (damaligen) „Parteiführers“ der DVP, Dingeldey in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 31, 32 f. Zu Tucholsky siehe die Dissertation von Miederhoff Man erspare es mir, mein Juristenherz auszuschütten – Dr. iur. Kurt Tucholsky (1890–1935) – Sein juristischer Werdegang und seine Auseinandersetzung mit der Weimarer Strafrechtsreformdebatte am Beispiel der Rechtsprechung durch Laienrichter, 2008. Tucholsky hatte im Wintersemester 1909/10 in Berlin das Studium der Rechtswissenschaft begonnen und es nach einem Semester in Genf ab Herbst 1910 bis zum Sommer 1912 wiederum in Berlin fortgesetzt, Kahl mithin auch kennengelernt. 18 Wie dieser erste große Krieg hierzulande – ganz europazentriert – genannt wird. 19 Näheres bei Klopsch (Fn. 4), 59 ff., 341 (hier Titel einiger dieser Reden); siehe außerdem Kahl Vaterlandsdienst der Jugend, 1915; ders. Bismarck, DJZ 20 (1915) Sp. 329–358; ders. Das Vaterländische Gebot der Stunde, 1916. „Finden Sie nicht, daß die Kundgebungen unserer (Professoren) Kollegen eine starke Ähnlichkeit haben mit dem Stammesgeheul der Sioux-Indianern?“, so G.F. Knapp Ende 1914 an Alfred Dove, zit. nach Meinecke in: Kahl/Meinecke/Radbruch Die deutschen Universitäten und der heutige Staat, 1926, 20 f. Zu den „Dissidenten“, die sich nicht an der „Kriegspublizistik“ beteiligten, einige Worte bei Schwabe Wissenschaft und Kriegsmoral – Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, 1969, 33. – Dass Meinecke, dessen „Zweites Referat“ (17–31) als höchst beeindruckend empfunden haben muss, wer es hörte, mit diesem Zitat jedenfalls nicht mehr den Wilhelm Kahl von 1926 gemeint haben kann, liegt auf der Hand; dass die beiden und Radbruch eine Initiative ergriffen, um „den Einfluß der verfassungstreuen Hochschullehrer durch wirksam organisierte Gemeinschaftsarbeit zu steigern“, wirft ein Licht auch auf Kahls Folgerungen aus der Niederlage und der Abdankung der Monarchie. Zu Meineckes Position in der Kriegszeit siehe Meineke in: Mommsen (Fn. 159), 97–117. 20 Achenbach (Fn. 17), 245 ff., 247; dort auch Auszüge aus diesen Reden.

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sei er „als Nationalist zu kennzeichnen, der – wenn auch ungewollt – vor allem durch seine im Ersten Weltkrieg und zu Beginn der Weimarer Zeit gehaltenen Reden dazu beitrug, den Boden zu bereiten, auf dem sich später der Nationalsozialismus entfalten konnte“.21 Den Kriminalpolitiker Kahl, seit 1927 Vorsitzender des Strafrechtsausschusses des Reichstags, schätzt Tucholsky – gelegentlich nennt er Kahl einen „Steinzeitmenschen“22 – so wenig wie den Nachkriegspolitiker: „Der alte Kahl war vor dem Krieg das Urbild juristischer Reaktion, wird aber heute von den Sozialdemokraten recht geachtet und geehrt, denn alte Leute verstehen sich untereinander gut, und weil jene nach rechts gerückt sind, glauben sie, er sei nach links gegangen, ein beachtliches Beispiel Einsteinscher Relativitätstheorie“.23 Das sind harte Worte über einen zu seinen Lebzeiten über alle Parteigrenzen hinweg24 so anerkannten, ja „gefeierten“ Mann, dessen Herz zeitlebens für die Monarchie schlug, um im Sprachkolorit seiner Gegenwart zu bleiben. Welche Ansicht ihm näher kommt, seinem Wollen und Wirken „gerecht“ wird, kann in einem kleinen Aufsatz schwerlich geklärt werden, wenn überhaupt. Es mag sein, dass schon aus dem inzwischen noch größeren Abstand zu Kahls Ära – wie auch dem zu den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts und deren „Lebensgefühl“ –, die Bewertung anders differenziert, womöglich wieder positiver ausfällt.25 So oder so kann es jedoch zunächst einmal nur dar21

Achenbach (Fn. 17), 267. Nr. 1, in: Die Weltbühne 1929, abgedruckt auch in: Gerold Tucholsky/Raddatz (Hrsg.) Tucholsky – Gesammelte Werke in 10 Bänden, 1975, Band 7, 179, 181. 23 Die Weltbühne 1928, abgedruckt auch in: Gerold Tucholsky/Raddatz (Fn. 22), Band 6, 326, 327. Mit dem „Urbild“ hat er wohl Kahls Mitgliedschaft in der nationalliberalmonarchistischen Deutschen Volkspartei (DVP) im Auge sowie dessen Stellung zu Frauen in der Politik, zur Monarchie u.a.m. (dazu Kahl in: Stenographische Berichte der Verfassunggebenden Deutschen National-Versammlung 1919–1920, Band 326, 216, 222; hierzu auch Klopsch [Fn. 4], 265 ff.; Achenbach [Fn. 17], 222 ff.; Hartenstein Die Anfänge der Deutschen Volkspartei 1918–1920, 1962, 269); i.Ü. spielt er wohl auf ehrende Worte an wie die in der Sitzung des Reichstags vom 21.6.1927, als der SPD-Abgeordnete und ehemalige Reichsjustizminister Otto Landsberg anlässlich der ersten Beratung des StGB-E „unter lebhafter Zustimmung aller Abgeordneten“ Kahl seinen Dank für dessen die Beratung eröffnende Rede aussprach, siehe Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, III. WP 1924, Band 393, 10950 = Alsberg (Fn. 15), 15; die Rede Kahls ebenda 98 ff.; Eb. Schmidt Die Reform des Strafrechts im Rückblick auf Berliner Impulse in der Geschichte der modernen Kriminalpolitik, in: Verhandlungen des 41. DJT 1955, Band 2, B 10 nennt Kahls Rede „gewaltig“. Zur Bedeutung dieser großen Geste Landsbergs, der von der „Verehrung des Verehrungswürdigen“, nämlich Kahls, sprach, siehe Reichsaußenminister Stresemann Kahl, der Politiker und Parlamentarier, DJZ 34 (1929) Sp. 799. 24 Vgl. Radbruch Wilhelm Kahl zu seinem achtzigsten Geburtstag, in: Kaufmann GRGA (Fn. 12), Band 16, Biographische Schriften, bearbeitet von Spendel (Heidelberg 1988) 69; ferner die Hinweise bei Burghard Professor Dr. Wilhelm Kahl – Leben zwischen Wissenschaft und Politik, 2005, 169 f., 172 ff. mit Rezension von Danz ZRG GA 125 (2008) 889-891. 25 Falls diejenige Achenbachs überhaupt als hinreichend fundiert erachtet werden kann. Tucholskys Kritik hingegen hätte den, zudem anders „sozialisierten“, 41 Jahre älteren Poli22

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um gehen, diese durch die Zäsur der Zeit des Nationalsozialismus wie viele andere Kriminalisten weitgehend in Vergessenheit geratene Persönlichkeit und ihre Leistungen auf dem Gebiet des Strafrechts wieder in das Gedächtnis unserer Zeit zurück zu holen.

II. Biographisches Ernst Peter Wilhelm Kahl kam am 17. Juni 184926 in Kleinheubach am Main (Landkreis Miltenberg), damals schon bayerisch, ehedem zu Kurmainz gehörend,27 als sechstes von sieben Kindern zur Welt. Sein Vater Friedrich (1806–1891), Dr. iur., Sohn des fürstlichen Hofrats Christoph Ludwig Gottlieb Kahl und der Friederike Christine Zeiß, war damals noch Richter in Fürstlich Löwenstein’schen Diensten, später dann Königlich Bayerischer Bezirksdirektor.28 Die Mutter Ottilie (1815–1892), geb. Hallwachs, entstammte einer „angesehenen bürgerlichen Familie in Darmstadt“.29 Den ersten Schuljahren in Aschaffenburg folgte das Gymnasium in Heilbronn, nach dem Umzug der Familie nach Schweinfurt besuchte Wilhelm das dortige Celtis-Gymnasium,30 wo er 1867 das Reifezeugnis erhielt. Im selben Jahr wurde Kahl an der Universität Erlangen immatrikuliert, wechselte dann nach München,31 wo er das Studium – später als gedacht – abschloss. Zwischenzeitlich zog er nämlich als Freiwilliger „mit dem 3. bayerischen Jägerbataillon in den Krieg 1870/71, machte die Schlachten bei Weißenburg, Wörth und Sedan sowie die Belagerung von Paris mit und wurde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, eine Ordensverleihung, die tiker Kahl weder verwundert – er war eben kein Republikaner aus Überzeugung – noch verletzt, gerade weil er Tucholskys Urteil politisch eingeordnet hätte. 26 Am 18. Juni 1849 wird in Stuttgart durch württembergische Truppen die von Frankfurt/M. dorthin übergesiedelte Deutsche Nationalversammlung, nurmehr das sog. Rumpfparlament, aufgelöst. 27 Bis 1803 kurmainzisch fiel die Stadt dann dem Fürstentum Leiningen zu, kam 1806 zu Baden, 1810 zu Hessen und ist seit 1816 bayerisch (intern: unterfränkisch). 28 Und wurde in dieser Stellung 1879 mit dem persönlichen Adel ausgezeichnet; Liermann Wilhelm Kahl, in: Pfeiffer (Hrsg.) Fränkische Lebensbilder – Neue Folge der Lebensläufe aus Franken, Dritter Band, 1969, 312. 29 Liermann (Fn. 28), 312. Ottilies Vater, Friedrich Hallwachs (1779–1836), verheiratet mit Louise Katharina Karoline, war Landrat in Darmstadt, 1832 Kreisrat in Wimpfen. Der Bruder Friedrichs, Wilhelm Hallwachs (1776–1860), war Präsident des hessischen Staatsrats (zu ihm siehe auch Hermann Hallwachs, Wilhelm Ludwig Franz, Physiker, NDB, Band 7, 1966, 565), der beiden Schwester Auguste Wilhelmine verehelicht mit Jakob Friedrich von Weishaar (1775–1834), württembergischer Innenminister, vgl. Achenbach NDB, Band 11, 1977, 21. 30 Burghard (Fn. 24), 19 m.N. 31 Wie er zum Studium der Rechtswissenschaften kam, berichtet Kahl selbst in seiner Rede anlässlich seines 80. Geburtstags, in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 39. Zu seinen Lehrern siehe Achenbach (Fn. 17), 1; ders. (Fn. 29), 21.

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damals keineswegs selbstverständlich war“.32 Am 19. April 1873 promovierte er in Erlangen mit der Arbeit „Die Selbständigkeitsstellung der protestantischen Kirche in Bayern gegenüber dem Staate“, am 4. August 1874 heiratete er Bertha Laiblin, Tochter des württembergischen Papierfabrikanten Karl Adolf Laiblin und seiner Gattin Bertha Auguste, geb. Finkh.33 Er habilitierte sich 1876 in München mit der Arbeit „Über die Temporaliensperre besonders nach bayerischem Kirchenstaatsrecht. Mit Benutzung handschriftlicher Quellen“ (Erlangen 1876).34 „Trotz der damaligen Überfüllung des akademischen Lehrberufs“35 erhielt er bereits 1879 einen Ruf nach Rostock, zunächst als außerordentlicher Professor, noch im selben Jahr dann auf ein Ordinariat für Kirchenrecht, Staatsrecht und Strafrecht, 1883 einen weiteren nach Erlangen.36 1888 folgte er von dort, nach Ablehnung eines Rufs an die Universität Kiel, einem Ruf an die Universität Bonn. 1895 schließlich wurde er Nachfolger Rudolf von Gneists in der juristischen Fakultät der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin.37 Hier las er Kirchen-, Staats- und Verwaltungsrecht, Straf- und Strafprozessrecht38 und bekleidete 1908/09 das Amt des Rektors, das er mit der am 15.10.1908 in der Aula gehaltenen, viel beachteten Rede „Aphorismen zur Trennung von Staat und Kirche“ antrat.39 Schon im Frühjahr 1900 hatte Kahl einen Ruf nach Heidelberg erhalten, was seine Kollegen dazu veranlasste, sich mit einem Schreiben an den Minister für geistliche, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, von Studt, zu wenden:

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Liermann (Fn. 28), 313. Nähere Angaben bei Klopsch (Fn. 4), 74. Zu den vier Kindern Emilie, Hedwig, Elsa und Siegfried sowie Kahls Verhältnis zu seiner Familie siehe Burghard (Fn. 24), 21 und Liermann (Fn. 28), 313 f.; ein kleiner Stammbaum zu Kahls Familie findet sich bei Burghard (Fn. 24), 191. 34 Erstgutachter war Josef Berchtold; Nachweise bei Burghard (Fn. 24), 21. Die venia legendi erhielt Kahl am 22. Januar 1876. Zur Habilitationsschrift vgl. Achenbach (Fn. 17), 27 ff. 35 Alsberg (Fn. 15), 1. 36 Als Nachfolger Christoph Gottlieb Adolf von Scheurls (1811–1893); zu diesem Stintzing/Landsberg Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Abt. 3 Halbband 2, Noten, 1910, 341; Deutscher Wirtschaftsverlag (Hrsg.) Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft – Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild, Erster Band, 1930, 869 f. 37 Nachweise bei Achenbach (Fn. 17), 1 f. insbesondere Fn. 13; siehe auch Liermann (Fn. 28), 314; zu von Gneist siehe die instruktive Kurzbiographie bei Kleinheyer/Schröder (Fn. 15), 161–166. 38 Alsberg (Fn. 15), 2 mit dem Hinweis, Kahl habe „daneben als einer der ersten Dozenten an deutschen Universitäten eine besondere Einführungsvorlesung für angehende Juristen gehalten“. 39 Dazu kurz Achenbach (Fn. 17), 87; zu Kahls großem Beitrag zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts siehe die Bemerkung Landaus Evangelische Kirchenrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert, ZevKR 48 (2003) 1, 13 f. 33

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„Berlin den 19. Mai 1900 Dem Vernehmen nach hat der Geheime Justizrath Professor Dr. Kahl, Mitglied und derzeitiger Dekan der unterzeichnenden Fakultät, einen Ruf an die Universität Heidelberg erhalten. Die Fakultät fühlt sich gedrungen, Ew. Exzellenz aus diesem Anlaß vorzubringen, daß sie größtes Gewicht darauf legen würde, Herrn Professor Kahl ihr erhalten zu sehen, da er die Erwartungen, welche die Fakultät seinerzeit veranlaßt hatten, ihn zu einem Ordinariate in Berlin vorzuschlagen, in vollstem Maße erfüllt hat und es außerordentlich schwierig sein würde, einen geeigneten Ersatz für ihn zu finden. Die Juristische Fakultät der Universität Berlin O. Giercke z.Z. Prodekan (es folgen noch weitere Unterschriften)“40 Kahl hat diesen Ruf nicht angenommen. Der Minister ließ daraufhin unter dem 3. Juli 1900 der Juristischen Fakultät mitteilen: „Nachdem sich der Geheime Justizrath Professor Dr. Kahl gegenüber dem an ihn ergangenen Rufe nach Heidelberg zu meiner großen Freude entschlossen hat, seinem hiesigen Wirkungskreise treu zu bleiben, lasse ich der juristischen Fakultät auf die Eingabe vom 29. Mai d.J. mein an Professor Kahl unterm 23. Juni d.J. gerichtetes Schreiben anbei abschriftlich zur Kenntnisnahme und Einverleibung in die dortigen Akten zugehen. Im Auftrage Althoff“41

III. Zum Werk Wilhelm Kahls 1. Kirchenrechtler und Staatsrechtler Fragt man danach, auf welchem der von ihm bearbeiteten Gebiete Wilhelm Kahl sich „Heimat- und Meisterrecht erworben habe“,42 so lautet die Antwort „in allen drei“, wobei, darüber waren sich die sachverständigen Gratulanten anlässlich Kahls „Goldenem Doktorjubiläum“ einig, dem Kirchenrecht sowie dem Staatsrecht, soweit das Verhältnis von Staat und Kir40 Archiv der HU Berlin, Akte Jur. Fak. 94; mein Dank für diese Quelle gilt Herrn Fabian Schellhaas, LS Werle. 41 Wie Fn. 40. 42 Triepel Wilhelm Kahl zum Goldenen Doktorjubiläum am 19. April 1923 – Kahl als Staatsrechtsgelehrter, DJZ 28 (1923) Sp. 185 (Hervorhebung in Zitaten sind immer solche im zit. Original).

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che betroffen ist, der Vorrang gebühre.43 Ein gewichtiges Votum aus jüngster Zeit stimmt dem zu: „Kahls großer Beitrag zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts scheint mir bis heute meist nicht ausreichend gewürdigt zu sein“. Sein 1894 publiziertes „Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik“ könne als „erstes modernes Lehrbuch des deutschen Staatskirchenrechts bezeichnet werden“.44 Kahl sei neben dem katholischen Abgeordneten Konrad Beyerle (seinerzeit Professor in München) „in erster Linie als Architekt des Staatskirchenrechts der Reichsverfassung“ zu nennen, das 1949 in das Grundgesetz (Art. 140) integriert wurde. „Die Rezeption von Kahls Gedanken hat dem deutschen Staatskirchenrecht über hundert Jahre eine im europäischen Maßstab erstaunliche Stabilität und Kontinuität verschafft“45 – was nicht eben wenig wäre. Unbezweifelt sind seine Verdienste im Streit um das Thronfolgerecht im Fürstentum Lippe. „Hier hat Kahl einen schweren Kampf mit unvergleichlicher Zähigkeit und Selbstlosigkeit geführt, und er hatte die Genugtuung, einen vollen Sieg zu erfechten“.46 Seine 99 Seiten starke Schrift, hervorgegangen aus einem Rechtsgutachten, hat Kahl unter dem Titel „Ebenbürtigkeit und Thronfolgerecht der Grafen zur Lippe-Biesterfeld“ 1896 publiziert. Ihr liegt eine mehrere Jahre dauernde, z.T. „persönliche“ Auseinandersetzung mit keinem Geringeren 43

Triepel für den Staatsrechtler, Goldschmidt für den Kriminalisten, Sehling für den Kirchenrechtler, alle in DJZ 28 (1923) Sp. 185–188; wie Triepel und Sehling später auch Alsberg (Fn. 15), 2 f. und von Frank Kahl, der Kriminalist, DJZ 34 (1929) Sp. 800, 801. 44 Landau (Fn. 39), 13; Triepel (Fn. 42), Sp. 185; Sehling (Fn. 43), Sp. 188, meint freilich, es sei „tief zu bedauern“, dass Kahls Lehrsystem „bis jetzt unvollendet geblieben ist“, ein Befund, der sich nicht mehr geändert hat; zu Kahls „Lehrsystem“ siehe die bemerkenswerte Rezension von Rehm Kirchenrecht, Krit. Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1895, 283–289. – Ganz anders aber Achenbach (Fn. 17), 266: Verdienste insbesondere auf dem Gebiet der Staats- und Kirchenrechtswissenschaft seien „nicht ersichtlich“. Dieses Urteil scheint mir – obwohl Laie – durch die weitestgehend nur berichtende Arbeit nicht zureichend belegt. 45 Landau (Fn. 39), 14; auch ohne vertiefte Kenntnisse lässt sich feststellen, dass das Staatskirchenrecht, und hier die Frage der Trennung von Staat und Kirche, einen deutlichen Schwerpunkt in Kahls Publikationen bildet; noch im 80. Lebensjahr veröffentlicht Kahl Über das Verhältnis von Staat und Kirche in Vergangenheit und Gegenwart, in: Harms (Hrsg.) Recht und Staat im neuen Deutschland, Band I, 1929, 353–389; aufschlussreich insoweit schließlich Kahls Schlussrede und Dankeswort anlässlich der Feier seines 80. Geburtstags am 17. Juni 1929, in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 37, 40; Näheres bei Alsberg (Fn. 15), 60 ff.; Burghard (Fn. 24), 25 ff. m.w.N.; zum Hintergrund knapp Zippelius Staat und Kirche, Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, 1997, 138 ff., 142 ff.; zu den Normen eingehend Huber Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band VI: Die Weimarer Reichsverfassung, 1981, 122 f. und ausführlich 864 ff. Von Frank (Fn. 43), Sp. 800, 801 hebt die durch die Tagespresse verbürgte „führende Stellung . . . im Geistesleben des Protestantismus“ hervor, die Kahl zu Beginn des Jahrhunderts „in erster Linie als hervorragender Vertreter des Kirchenrechts“ eingenommen habe, frei „von jedem Radikalismus einer konfessionellen Weltanschauung . . .“. 46 So Triepel (Fn. 42), Sp. 186.

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als Paul Laband47 zugrunde.48 Hier zeigt sich ein markanter Wesenszug Wilhelm Kahls in aller Deutlichkeit, nämlich seine Zivilcourage: „Der Ordinarius der Berliner Universität entschied damals zu Ungunsten der Partei, der sein König unverhohlen, ja sogar mit einer gewissen leidenschaftlichen Parteinahme den Sieg wünschte“.49 Ein späteres kurzes Gutachten „Bemerkungen zu den Ansprüchen des Grafen Georg von Merenberg auf das Nassauische Hausfideikommiß“, Biebrich a. Rh. 1909, hat keine Aufmerksamkeit erregt. Bedenkt man – worüber noch zu berichten sein wird (IV. 1) –, dass Kahl neben seinen Pflichten als Hochschullehrer eine ganze Reihe, z.T. zeitaufwändiger Ämter inne hat, offenkundig auch ein sehr gesuchter Vortragender war, so ist zumindest hervorhebenswert, dass er sich im 52. Lebensjahr ein Rechtsgebiet wissenschaftlich erschließt,50 das er zuvor nur in der Lehre vertreten hatte, nämlich Strafrecht und, weniger intensiv,51 Strafprozessrecht. Bis zum Jahr 1900 hatte Kahl, beginnend 1874, mehr als zehn größere und kleinere Schriften insbesondere zu kirchenrechtlichen Fragen, häufig mit staatsrechtlichem Einschlag, publiziert. Hinzu kamen eine Reihe von Aufsätzen sowie Ansprachen und Vorträge.52

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Zu Laband, „einer schier unantastbaren Autorität“, wie Alsberg (Fn. 15), 4, betont, siehe Kleinheyer/Schröder (Fn. 15), 249–252 m.v.N. 48 Zur Sache knapp Alsberg (Fn. 15), 58 ff.; Liermann (Fn. 28), 321 f.; siehe auch Radbruch in „Der Abend“, Spätausgabe des „Vorwärts“ vom 15.6.1929, abgedruckt auch in GRGA (Fn. 24), 66. Näheres, auch zu den gegenseitigen „speziellen Freundlichkeiten“, bei Achenbach (Fn. 17), 219 ff. mit Fn. 8; dass Kahl durchaus kräftig austeilen konnte, zeigt sich auch in DJZ 27 (1922) Sp. 169 f.; ders. Politik gegen Strafrechtsreform, JW 60 (1931) 913 f. und insbesondere ders. Gründliche Abrechnung mit einem Anonymus der ‚Kreuzzeitung‘, Deutsch-Evangelische Monatsblätter für den gesamten deutschen Protestantismus 5 (1914) 277-290; vgl. ferner Klopsch (Fn. 4), 275 f. – Laut Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft (Fn. 36), 869 haben Kahl diese Erfolge „in freundschaftliche Beziehungen zur Familie der Fürsten von Bismarck“ gebracht. 49 Alsberg (Fn. 15), 4; Liermann (Fn. 28), 322. 50 Zugrunde gelegt ist hier das bei Achenbach (Fn. 17) abgedruckte, knapp 160 Arbeiten umfassende, wohl nicht ganz vollständige, Verzeichnis von Kahls Publikationen, Gutachten und Reden, ausgenommen die in der Nationalversammlung und im Reichstag gehaltenen. 51 Insbesondere Kahl Schwur- oder Schöffengerichte?, Vortrag gehalten am 2. Februar 1906 in der Vereinigung für staatswissenschaftliche Fortbildung in Berlin, in: Mittermaier/Liepmann (Hrsg.) Schwur- und Schöffengerichte, Beiträge zu ihrer Kenntnis und Beurteilung, Band I, 1906, 7–28; ders. Öffentlichkeit und Heimlichkeit in der Geschichte des deutschen Strafverfahrens, Vortrag gehalten in Gegenwart seiner Majestät des Kaisers und Königs im Preußischen Justizministerium am 20. Februar 1908, Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 1908, Sp. 290–310; ders. Staatsanwaltschaft und Privatklage, DJZ 12 (1907) Sp. 1224–1230. Zu Fragen der Amnestie siehe Fn. 80. 52 Das Schriftenverzeichnis Kahls bei Achenbach (Fn. 17), VI–XIX, weist weit über 20 publizierte Ansprachen, Reden und Vorträge aus, fast die Hälfte davon noch im 19. Jahrhundert gehalten.

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2. Der allgemeine Wunsch einer Reform des Strafrechts Mit einem strafrechtlichen Beitrag tritt er erstmals, soweit ersichtlich,53 im Jahr 1900 auf, und zwar alsbald mit einer reformorientierten Arbeit: „Entwurf eines Gesetzes betreffend Bestrafung der widerrechtlichen Entziehung fremder elektrischer Arbeit“.54 Es folgen zwei Aufsätze, die Kahl in der Kriminalistenzunft mit einem Schlag bekannt machen: Zum einen „Eine Vorfrage zur Revision des Strafgesetzbuches“,55 zum anderen „Ist eine Revision des deutschen Strafgesetzbuches in Aussicht zu nehmen? Welche Grundfragen für eine solche sind dem Deutschen Juristentag in seinen folgenden Tagungen zur Beratung vorzulegen?“56 In erster Linie ist es die „Vorfrage zur Revision des Strafgesetzbuches“, die ihm die Aufmerksamkeit der mit Strafrecht Befassten sichert. Kahl bezieht nämlich zu einer Problematik Position, die (schon) damals als nicht ohne Rest auflösbar erschien, den sog. Schulenstreit57 zwischen den „Konservativen“58 (Beling, Binding, von Birkmeyer u.a., der sog. klassischen Schule) einerseits und den „Modernen“ (Franz von Liszt und seine Schüler,59 der sog. soziologischen Schule) andererseits. Und er tat dies in einer Weise, die ihn kennzeichnet: Ihm ist bewusst, was 1870 der damalige Justizminister Gerhard Adolph Wilhelm Leonhardt in der 8. Sitzung des Reichstags des Norddeutschen Bundes am 22. Februar 1870 anlässlich der Beratungen über den (III.) Entwurf eines 53

Siehe oben Fn. 50. DJZ V (1900) Sp. 29–33. Zur Vorläuferregelung des 1953 dem StGB inkorporierten § 248c siehe das Gesetz betreffend die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit vom 9.4.1900, RGBl. I, 228, §§ 1, 2; dazu Kindhäuser in: Nomos Kommentar StGB (= NK)3, 2010, § 248c Rn. 1. 55 DJZ VII (1902) Sp. 301–303. 56 Das Referat Kahls auf dem 26. DJT ist abgedruckt in Verhandlungen des 26. DJT, 1902, Band III, 210–240. 57 Von Liszt/Eb. Schmidt Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, Erster Band: Einleitung und Allgemeiner Teil26, 1932, § 5, S. 27 ff.; Mezger Strafrecht, Ein Lehrbuch2, 1933, § 4, S. 30 ff.; besonders instruktiv von Hippel Deutsches Strafrecht, Erster Band: Allgemeine Grundlagen, 1925, § 21, S. 457 ff., 484 ff., alle m.w.N. Aus heutiger Sicht Maurach/Zipf Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, Grundlehren des Strafrechts und Aufbau der Straftat, Ein Lehrbuch8, 1992, § 6 Rn. 27 ff.; Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I: Grundlagen – Der Aufbau der Verbrechenslehre4, 2006, § 4 Rn. 3 f., 23. 58 Man „schlug“ in jenen Tagen eine „scharfe Klinge“, wie schon der zum geflügelten Wort gewordene Titel eines Pamphlets von Birkmeyers Was läßt von Liszt vom Strafrecht übrig? Eine Warnung vor der modernen Richtung im Strafrecht, 1907, verdeutlicht. Zum Hintergrund dieser „ungewöhnliche(n), oft ans Persönliche streifende(n) Schärfe der Polemik“ siehe Eb. Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege3, 1965, § 321, S. 387; siehe auch von Hippel (Fn. 57), § 21, S. 481 ff., 484 ff. 59 Aufzählung der Schüler bei Eb. Schmidt (Fn. 58), § 308, S. 359. Klärend zu den Etiketten, die den im Streit liegenden „Schulen“ bis heute angeheftet werden, Vormbaum Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2009, 137 f.; zu von Liszts programmatischer Schrift: Der Zweckgedanke im Strafrecht (1882/83), mit einer Einführung von Köhler (2002), siehe dessen Einführung, insbesondere VIII ff. 54

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StGB in erster Lesung geäußert hatte, dass man nämlich „nach einiger Zeit, vielleicht nach Ablauf von fünf Jahren eine Revision des Gesetzbuches eintreten lassen“ möge. Hier und jetzt jedoch gehe es „um die Sache im Ganzen und Großen“, darum, „in einem wichtigen Zweige des Rechtslebens Einheit in Deutschland herzustellen“; diesem Gedanken gegenüber müsse „das rein Juristische in den Hintergrund treten“.60 Seit 1899, als von Liszt sein Fakultätskollege geworden ist und in seiner Antrittsvorlesung „in scharfer Form gegen die Vergeltungsstrafe Stellung genommen“61 hat, ist für Kahl, der sich selbst der „klassischen Schule“ zurechnet,62 auch klar, dass die Reformbremse, die der festgefahrene Diskussionsstand in seinen Augen darstellt, beseitigt werden muss. Eben diese Einsicht liegt der „Vorfrage“ zugrunde, die er dem 26. Deutschen Juristentag, für den er ein Referat63 und von Liszt das Gutachten erstattete, vorausgeschickt hatte. Was ihn dazu veranlasst hat, schreibt er selbst in aller Offenheit: „. . . die Sorge um den Einfluß des Gegensatzes der Schulen . . . auf die „Feststellung eines Arbeitsplanes über diejenigen Gebiete, auf welchen der Deutschen Juristentag seinerseits den Gesetzgeber beratend unterstützen will“. Kahl sieht „die Gefahr der Zersplitterung und der Schwierigkeit oder Unmöglichkeit einer Verständigung“.64 Er schlägt deshalb vor, „den Schulenstreit insoweit zurückzustellen, 60

Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, Band 1, 1867, 47; zur Würdigung des Unternehmens und seines Ergebnisses von Hippel (Fn. 57), § 18, S. 341 ff. Dass weder das RStGB vom 15.5.1871 noch das Gesetz betreffend die Abänderung von Bestimmungen des StGB und die Ergänzung desselben vom 26.2.1876 eine „Revision“ im gemeinten Sinn darstellten, entsprach allgemeiner Ansicht; vgl. von Liszt/Schmidt (Fn. 57), § 13, S. 70, 73; Eb. Schmidt (Fn. 58), § 327, S. 394; Vormbaum (Fn. 59), 142 f.; Roth Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 bis 1918, in: Vormbaum/Welp (Hrsg.) Das Strafgesetzbuch, Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen, Supplementband 1: 130 Jahre Strafgesetzgebung – Eine Bilanz, 2004, 1–37, 6. 61 So Liermann (Fn. 28), 323 f.; siehe auch von Frank (Fn. 43), Sp. 801 f.; Goldschmidt in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 15, 16; von Liszt Die Aufgaben und die Methode der Strafrechtswissenschaft, Antrittsvorlesung, gehalten am 27. Oktober 1899 an der Berliner Universität, 284–298, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Zweiter Band 1892– 1904, 1905. 62 Vgl. Kahl (Fn. 55), 303; eingehender dann ders. Das neue Strafgesetzbuch, 1907, 13; ders. Zur Reform des deutschen Strafrechts, Deutsch-Evangelische Monatsblätter für den gesamten deutschen Protestantismus 2 (1911) 641, 647 ff.; vgl. ferner von Hippel (Fn. 57), § 21, S. 485 Fn. 3: „Von klassischer Seite . . . maßvoll und umsichtig sind die Arbeiten von Wach und Kahl“. 63 Ist eine Revision des deutschen Strafgesetzbuches in Aussicht zu nehmen? Welche Grundfragen für eine solche sind dem Deutschen Juristentag in seinen folgenden Tagungen zur Beratung vorzulegen?, Verhandlungen des 26. DJT, Band III, 210–240. Zur Notwendigkeit einer Reform siehe auch Kahls Vortrag Das neue StGB, in: Neue Zeit- und Streitfragen (hrsg. von der Gehestiftung zu Dresden) 4. Jahrgang, 1907, 149–174; ferner ders. Zur Reform des deutschen Strafrechts (Fn. 62), 641–677. 64 Kahl (Fn. 55), 301–303, alle Zitate 301. Zu dieser „Allianz“ siehe auch Eb. Schmidt (Fn. 58), § 327, S. 394; Liermann (Fn. 28), 323 f.

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als dies für die praktischen Aufgaben der Gesetzgebung unerlässlich ist“.65 Damit werde „lediglich eine scharfe Abgrenzung der Vollmachten von Wissenschaft und Gesetzgebung verlangt. Die Wissenschaft kann rücksichtslos aus den als wahr erkannten Prinzipien die letzten Folgerungen ziehen. Der Gesetzgeber nicht. Er muss mit dem Erreichbaren und jeweils Nützlichen sich bescheiden. Die Wissenschaft kennt keine mittlere Linie, kein Entgegenkommen und keinen Ausgleich. Der Gesetzgeber kann im Parallelogramm der Kräfte nur die Diagonale gehen“.66 Der Streit um die letzten Gründe und Folgerungen des Strafrechts müsse „mit offenem Visier weitergehen“. Wer dem Gesetzgeber wahrhaft dienen wolle, müsse jedoch „die Schranken der Gesetzgebung selbst auch für seine eigene Mitwirkung anerkennen. Verzicht wird ihm nicht zugemutet, wohl aber Selbstbeschränkung“.67 Im Weiteren führt Kahl noch etwas näher aus, dass seines Erachtens auf anderem Weg eine – notwendige – Revision des StGB nicht möglich sein werde.68 Die – in damaliger Perspektive – „Sensation“ macht in einem 65

Wie Fn. 64. Wie Fn. 64. Eingehend dazu Kahl Das neue StGB (Fn. 62), 11 ff. 67 Wie Fn. 64. Es ist reizvoll, daneben zu stellen, was Nieberding in einem Schreiben vom 23.4.1906 an die Ausschussmitglieder festgehalten hatte: „Die Reform unseres Strafrechts ist eine Aufgabe der praktischen Politik. Sie kann nicht geleitet oder hinausgezogen werden nach Rücksichten, die sich aus den Wünschen der beteiligten wissenschaftlichen Kreise etwa ergeben möchten. Wollte dies von meiner Seite versucht werden, so würden die Notwendigkeiten des politischen Lebens darüber hinweggehen . . .“, zit. nach GodauSchüttke (Fn. 9), 24 (dort auf Seite 27 das Foto einer Sitzung der Strafrechtskommission unter Vorsitz von Kahl). 68 Der ganze Text zeigt, dass Kahl „den Folgerungen philosophischer Abstraktion“ weniger (zu-)traut als „der Empirie“, der „Wucht der Erfahrungsthatsachen“ (Fn. 55), 302 mit Hinweis auf zustimmende Stellungnahmen von Liszts und Wachs und eine ablehnende von Birkmeyers. Hierin ähnelt er C.J.A. Mittermaier; zu ihm Kleinheyer/Schröder (Fn. 15), 284–289 m.w.N. Der Pragmatiker hält Abstand von der „reinen“ Theorie, vielleicht grundsätzlicher, als ihm bewusst war. Zu Recht meinte schon Goldschmidt in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 19, dass für Kahl „die Rechtspolitik, d.i. der Inbegriff der Grundsätze über das Zweckmäßige und Mögliche in der Fortbildung des Rechts ein Stück seiner Wissenschaft selbst“ war. – Auch die herrschende „Vereinigungstheorie“ heutiger Provenienz in ihrer Ausprägung der Spielraum- oder Schuldrahmentheorie (vgl. nur Lackner/Kühl StGB26, 2007, § 46 Rn. 24, 25) kann freilich nichts zusammenwachsen lassen, was nicht zusammen gehört. Metaphorisch: Wenn schreien könnte, was da argumentativ – die Antinomie ist unbestritten – zusammengespannt wird, des Klagens wäre kein Ende. Zur eigenen Ansicht vgl. Verf. Zur Rationabilität heutiger Strafgesetzgebung im Hinblick auf die Rechtsfolgenbestimmung, GA 1995, 399, 408 ff. mit Fn. 43; auch Spendel Vergessene Juristen: Wilhelm Kahl – Wissenschaftler und Reformer, RuP – Vierteljahreshefte für Rechts- und Verwaltungspolitik 42 (2006) 112, 113 hält Kahls Auffassung für „sehr problematisch. Denn Klarheit über die strafrechtlichen Grundlagen und die daraus zu ziehenden Folgerungen müssen am Anfang der Schaffung eines Gesetzbuches stehen“. Anders gesagt: Wenn der Ertrag der Theorie nach Ansicht der Praktiker für die Praxis nicht taugt, muss das nicht notwendig an der Theorie liegen. Alternative: Man erklärt die Zweispurigkeit des Strafrechts zur Selbsttäuschung, muss dann freilich weitreichende Konsequenzen erwägen. 66

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kleinen Anhang von Liszt perfekt: „Ich kann nur betonen, daß ich die Ausführungen des Verfassers Wort für Wort unterschreibe…“.69 a) Kahls zweite Karriere Mit diesem zweieinhalbseitigen Aufsatz hatte Kahl dem von ihm gewünschten pragmatischen Vorgehen Bahn gebrochen. Es begann seine – zweite70 – Karriere, die als Strafrechtler, wobei im Zentrum seines Interesses von Beginn an die Strafrechtsreform stand.71 So erstellte er – um nur einige seiner Reformwünsche zu nennen – für den 27. DJT 1904 das Gutachten zum Thema „Die strafrechtliche Behandlung der geistig Minderwerten“,72 referierte für den 28. DJT 1906 über die „Strafrechtliche Behandlung von Rückfall, gewohnheitsmäßigem und gewerblichem Verbrechertum“ und befasste sich mehrfach mit dem künftigen „Strafmittelsystem“.73 Was Kahl schon in jenen Tagen zu den Arten der Freiheitsstrafe, insbesondere zur „leidigen“ Frage der kurzzeitigen Freiheitsstrafe, zur gemeinnützigen Arbeit und zum Hausarrest (dem Vorläufer der „elektronischen Fußfessel“) sowie zur Reform der Geldstrafe schrieb, ist auch heute noch erwähnenswert. Ferner legte er mit seinen Überlegungen zur „Reform der Strafzumessung“ 69

Wie Fn. 62. Smend Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert, in: Leussink/Neumann/Kotowski (Hrsg.) Studium Berolinense, 1960, 109, 120 spricht von Kahls zweiter Lebensaufgabe, der er bis an sein Ende treu geblieben sei, dem „Beruf des politischen Professors“. Der dritte Schwerpunkt wird der des aktiven Politikers in der DVP, in der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und als Mitglied des Reichstags; darüber berichtet in den Worten Kahls ausführlich Burghard (Fn. 24), 51 ff., 73 ff., 128 ff.; dazu auch unten IV. 2 und V. 71 „Nahezu alle seine zahlreichen strafrechtlichen Schriften sind der Strafrechtsreform gewidmet, also kriminalpolitisch orientiert“, diagnostiziert zutreffend Goldschmidt in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 18. 72 Zur von ihm engagiert befürworteten Einführung einer „geminderten Zurechnungsfähigkeit“ siehe Kahls Arbeit in von Birkmeyer/van Calker u.a. (Hrsg.) Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, I. Band, 1908, 1–78; ferner ders. Verminderte Zurechnungsfähigkeit und Jugend, DJZ XV (1910) Sp. 785– 791; ders. Der Stand der europäischen Gesetzgebung über verminderte Zurechnungsfähigkeit, in: Juristisch-psychiatrische Grenzfragen, IX. Band, Heft 1, 1913, 19–34 sowie ders. Zum neuesten Strafgesetzentwurf, DJZ 26 (1921) Sp. 146–151, 147, wo er die „gesetzliche Anerkennung einer verminderten Zurechnungsfähigkeit (§ 18, 2)“ im Entwurf 1919 begrüßt, nicht der Möglichkeit einer Strafmilderung wegen, sondern wegen „der Möglichkeit einer nachfolgenden Sicherung“! Schon der Vorentwurf 1909 hatte in § 63 II 1 eine solche Bestimmung enthalten. In das RStGB kam sie erst durch das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24.11.1933 (§§ 51 II, 55 II); zur Problematik des ehemaligen § 51 II siehe Bruns Strafzumessungsrecht, Gesamtdarstellung2, 1974, 511 ff. 73 Kahl Das künftige Strafmittelsystem, DJZ XIII (1908) Sp. 897–902; Koreferat zum Thema Die Strafmittel nach dem Vorentwurfe zum deutschen Strafgesetzbuche, in Verhandlungen des 30. DJT, Band II 1919, 387–398; ferner Kahl Zur Reform des deutschen Strafrechts (Fn. 62), 650 ff. 70

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eine Arbeit vor, die noch in unseren Tagen zu Recht als „glänzend“ herausgestellt worden ist.74 Vieles war hier schon vorgedacht, was nach 1950 erst wieder neu entwickelt werden musste. Beispielsweise hätte, was der Bundesgerichtshof in BGHSt 27, 2 und in BGHSt GrS 34, 345 dargelegt hat, schon bei Kahl „abgeschrieben“ werden können. Auch zum „Verhältnis der Strafandrohungen zueinander“75 hat Kahl sich höchst kompetent und – wie in allen seinen Arbeiten – klar geäußert: „Ein ungemein schwieriges und weitschichtiges Problem. Unmittelbar ist es nicht zu fassen“, schreibt er eingangs und nimmt sodann seine Leser „durch das Labyrinth von Kombinationen und Permutationen unerbittlich mit hindurch“.76 Sein Befund: „116 Strafrahmen auf 210 Paragraphen des besonderen Teils. Davon 112 auf Verbrechen und Vergehen, 4 auf Uebertretungen“.77 Sein Urteil: „. . . der Strafrahmen sind zu viele. An und für sich ist zu loben, wenn der Gesetzgeber schon in der Androhung der Strafe tunlichst individualisiert. Er folgt dabei, wie nachmals der Richter beim Ausmaß der Strafe, den höchsten Grundsätzen und Zielen der Kriminalpolitik“.78 Es sei jedoch „eine ungeheuere Verschwendung, wenn für beiläufig 70 Tatbestände je ein besonderer Strafrahmen vorgesehen ist“. Hier seien Vereinfachungen möglich, an einem anderen Punkte aber notwendig: Bei den Strafrahmen für mildernde Umstände nämlich „sind die Spielarten nicht nur zufällig, sondern geradezu willkürlich“.79 Mehrfach schrieb Kahl – zeitgemäß – zu Fragen der Amnestie80 und zur Legitimität der Todesstrafe.81 Er hat – mit ihren Gegnern – „jede Motivierung aus religiösen Indikationen, aus dem Gesetze des Talion, also auch aus dem Vergeltungsbedürfnis des Verletzten, endlich aus abstrakt logischen Folgerungen einer absoluten Gerechtigkeit, deren Maßstab von Menschen 74 DJZ XI (1906) Sp. 895–901; das Lob findet sich bei Bruns Das Recht der Strafzumessung2, 1985, 31. 75 DJZ XV (1910) Sp. 914–925 zur Prüfung des VE zu einem deutschen StGB 1909. 76 Kahl (Fn. 75), Sp. 914–925 mit einer Auflistung aller Strafandrohungen des VE 1909, Sp. 914–919. 77 Kahl (Fn. 75), Sp. 919. 78 Kahl (Fn. 75), Sp. 922. Gewiss war es „eine ungeheuere Verschwendung, wenn für beiläufig 70 Tatbestände je ein besonderer Strafrahmen vorgesehen“ war, aaO. – Im geltenden StGB mit über 400 Regelungen im BT – nicht alle sind Straftatbestände oder Strafzumessungsbestimmungen – sind seit dem 6. StrRG neben der „absoluten“ Strafdrohung für Mord lediglich 17 Arten zeitiger Freiheitsstrafe vorgesehen. Die Regelung zur Geldstrafe ist hingegen deutlich flexibler als die seinerzeitige. Zur heutigen Lage siehe Verf. Die Strafrahmen des StGB nach dem Sechsten Strafrechtsreformgesetz, in: Hettinger/Zopfs u.a. (Hrsg.) FS Küper 2007, 95–121 m.w.N. zum derzeitigen Diskussionsstand. 79 Zu der berechtigten Kritik Kahls siehe Näheres in Fn. 76, Sp. 922 f. 80 Kahl Amnestien, DJZ 23 (1918) Sp. 665–666; ders. Die jüngste Amnestie, DStrRZ 7 (1920) Sp. 263–268; ders. Die jüngste Amnestie, DJZ 30 (1925) Sp. 1281–1285. 81 Kahl Referat über das Thema Ist die Todesstrafe im künftigen deutschen und österreichischen Strafgesetzbuch beizubehalten?, Verhandlungen des 31. DJT, Band III, 1912, 663–678; ders. Zur Frage der Todesstrafe, DJZ 27 (1922) Sp. 169–170; ders. Todesstrafe?, DJZ 37 (1932) Sp. 249–254.

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nicht zu handhaben ist“, abgelehnt, war also nach eigenem Zeugnis „kein Freund und begeisterter Apostel der Todesstrafe“;82 er blieb nur ihr „empirischer“ Verfechter – freilich unter äußerster Einschränkung ihres Anwendungsgebietes und in keinem Fall absoluter Androhung –, solange die Rechtsüberzeugung des Volkes (noch) für deren Beibehaltung streite. Dies blieb sein Maßstab.83 Zu verschiedenen Zeiten – ein weiteres, ihm wichtiges Anliegen – befasste er sich ferner mit Fragen österreichisch-deutscher Strafrechtseinheit.84 Besonders erwähnt seien noch seine medizinrechtlichen Schriften85 und seine große Ausarbeitung zu „Religionsvergehen“.86 Abschließend ist hinzuweisen auf seine Mitarbeit am „Gegenentwurf zum Vorentwurf eines deutschen Strafgesetzbuchs“,87 den er „im Namen der Herausgeber“ – neben ihm von Lilienthal, von Liszt und Goldschmidt, im Gegensatz zu ihm „Moderne“ – in der DJZ besprach.88 82

Kahl Todesstrafe? (Fn. 81), wo er auch aus seinem Referat auf dem 31. DJT zitiert. Vgl. Kahls Argumentation im Reichstag am 25.4.1929, auszugsweise bei Alsberg (Fn. 15), 141 ff.; sowie Kahl Todesstrafe? (Fn. 81); dazu Goldschmidt in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 21 f.; die Crux freilich blieb: Was ist unter dem „Umkreis des gebildeten Bürgertums, auf dessen Urteil er entscheidendes Gewicht“ legen wollte, zu verstehen und wie ermittelt man dessen Ansicht? 84 Kahl Die Sicherungssysteme im künftigen Strafrecht Österreichs und des Deutschen Reichs, DJZ XVII (1912) Sp. 1081–1087; ders. Strafrechtseinheit in Österreich-Ungarn und im Deutschen Reich, DStrRZ 3 (1916) Sp. 275–285; ders. Einheitsbestrebungen für mitteleuropäisches Strafrecht, JW 46 (1917) 317–321; ders. Strafrechtseinheit zwischen Deutschland und Österreich, JW 56 (1927) 2658–2663; ders. Aus der deutsch-österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenz, DJZ 33 (1928) Sp. 269–276; ders. Einheitliches Recht für Deutschland und Österreich, Jahrbuch für Auswärtige Politik 1929, 166 ff., auszugsweise bei Alsberg (Fn. 15), 145–150; ferner die Protokolle über die Sitzungen der deutschen und österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenzen, RT III./IV. WP 1924/28, 32./21. Ausschuß (Reichsstrafgesetzbuch) sowie V. WP 1930, 18. Ausschuß (Strafgesetzbuch); siehe auch Kahls Referat zur Todesstrafe auf dem 31. DJT (Fn. 81) sowie seinen Brief an den Herausgeber der DJZ, Otto Liebmann, DJZ 27 (1922) Sp. 169 f. 85 Kahl Der Arzt im Strafrecht, 1909; ders. Schaffung eines neuen Irrengesetzes, Allg. Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 27 (1921) 392–407; ders. Besprechung von Paul Schneider, Lebensglaube eines Arztes, Leipzig 1921, JW 50 (1921) 1298–1300; ders. das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und der Prostitution vom Rechtsstandpunkt aus beurteilt, 1922; zum Stand der europäischen Gesetzgebung über verminderte Zurechnungsfähigkeit siehe den Nachweis in Fn. 72. 86 Kahl in: von Birkmeyer/van Calker u.a. (Hrsg.) Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, III. Band, 1906, 1–104; ferner ders. Störung des religiösen Friedens und der Totenruhe, in: FS Brunner 1914, 231–256. 87 Berlin 1911, mit einem den etwas missverständlichen Titel „Gegenentwurf“ erläuternden Vorwort. Ziel war es, „das Gute, das der VE. gebracht hat, beizubehalten und weiterzubilden, zugleich aber die Lücken auszufüllen, die er gelassen hat, und die Fehler und Schwächen zu beseitigen, die ihm unzweifelhaft anhaften“ (III). Auch hier – wie schon in der „Vorfrage“ 1902 – wurde nur aufgenommen, was alle vier Autoren gebilligt hatten (IV). 88 Kahl Gegenentwurf zum Vorentwurf eines deutschen Strafgesetzbuchs, DJZ XVI (1911) Sp. 501–507. Es dürfte kein Zufall sein, dass insbesondere Partien des VE 1909 kritisiert werden, zu denen Kahl sich schon entsprechend geäußert hatte. 83

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b) Die Reformbewegung 1902–1930 Mit seiner, den 26. DJT vorbereitenden „Vorfrage“89 gibt Kahl – vielleicht90 – den Startschuss für eine ganze Reihe von Anläufen, das geltende RStGB, fußend im Wesentlichen auf dem preußischen StGB von 1851, das wiederum Etliches dem Code pénal von 1810 entlehnt hatte, grundlegend zu reformieren.91 Der weitere Verlauf der Reformgeschichte bis zur Zäsur 193392 ist schon so oft beschrieben worden, dass hier eine ganz grobe Skizze mit Blick auf einen, später den großen Antreiber, Wilhelm Kahl,93 genügen wird. Wie 89

Siehe Fn. 55. Wunderlich (Fn. 11), Sp. 699; Radbruch (Fn. 24), 67; Achenbach (Fn. 17), 235 m.w.N. Am 1.7.1902 war Kahls Artikel in der DJZ erschienenen, am 16.7.1902 erfolgte aufgrund einer Initiative des Staatssekretärs im Reichsjustizamt Arnold Nieberding (zu seinem Gedächtnis Kahl, DJZ XVIII [1912] Sp. 1313-1315) die Berufung eines wissenschaftlichen Komitees. Dass „diese Initiative . . . aber wohl nicht ergriffen worden (wäre), wenn nicht kurze Zeit zuvor Kahl und v. Liszt stellvertretend einen „Burgfrieden“ geschlossen hätten – so Achenbach ebenda, 235 –, wird man nicht annehmen können; so kurzfristig dürfte im Reichsjustizamt nicht geplant worden sein. So heißt es denn auch bei Ebermayer (Fn. 9), 68: „Die Notwendigkeit einer Strafrechtsreform war im Reichsjustizamt und anderwärts seit Jahren anerkannt worden“. 91 Zur Entstehung des preuß. StGB 1851 hebt u.a. Temme Glossen zum Strafgesetzbuche für die Preußischen Staaten, 1853, 9 ff. den Einfluss des Code pénal – über das Rheinland wirkend – hervor; ebenso Kahl Das neue StGB (Fn. 62), 7 f.; Kohlrausch Über Strafrechtsreform, 1927, 7; hingegen streift Berner Die Strafgesetzgebung in Deutschland vom Jahre 1751 bis zur Gegenwart, 1867, 213 ff., 256 f. die Frage nur, während etwa von Hippel (Fn. 57), 324 ff. eine bedeutende Einwirkung ganz in Abrede stellt und Eb. Schmidt (Fn. 58), § 281, S. 319 ff. meint, man dürfe den Einfluss des Code nicht überschätzen. 92 Zu den weiteren Reformen von 1933–1945 eingehend Werle Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989, der den „Bruch in der historischen Entwicklung“, den „Primat der politischen Führung“ und „das rassistische Konstitutionsprinzip“ (734) in seiner Arbeit minutiös herausgearbeitet hat. Die von Werle im „Ausblick“ angetippte Frage nach Kontinuitäten nach 1945 greift Wolf Befreiung des Strafrechts vom nationalsozialistischen Denken?, JuS 1996, 189–195 auf; Vogel Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, 2004; Buschmann Das Strafgesetzbuch in der Zeit von 1933–1945 – Die Novellierungen des Strafgesetzbuchs in der Epoche des Nationalsozialismus, in: Vormbaum/Welp (Fn. 60), 53–138 m.w.N. in Fn. 1; Überblick bei Vormbaum (Fn. 58), 183 ff., 218 ff., alle m.w.N. 93 Radbruch (Fn. 24), 67 schreibt: „Zur großen Lebensaufgabe aber wurde für Kahl die Strafrechtsreform“ sowie „Der innere Weg“ (Fn. 24), 249: „. . . besonders dem damaligen (1920–1924; Verf.) Rechtsausschuß des Reichstages muß ich ein hohes Loblied singen. Hier waren Juristen unter sich und leisteten beste Facharbeit . . . Die bedeutendste Gestalt des Rechtsausschußes aber war Wilhelm Kahl, der der Deutschen Volkspartei angehörige Berliner Rechtslehrer – ich habe sein warmes Wohlwollen dankbar genossen“; Smend (Fn. 70), 121: „. . . ein praktischer Hauptträger der Reformarbeit“; siehe auch Joël (Fn. 9), 11 ff.; seine besonderen Fähigkeiten als Vorsitzender, „nicht allein wegen seiner repräsentativen Persönlichkeit, seiner durch ein wundervolles Organ unterstützten hinreißenden Beredsamkeit, seiner Schlagfertigkeit und Geschicklichkeit in der Formulierung und in der Leitung großer Versammlungen“ (so Goldschmidt in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 19), waren schon in früheren Jahren hoch gelobt, siehe nur Meyer Geh. Rat, Prof. D. 90

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schon erwähnt berief Staatssekretär Nieberding am 16. Juli 1902 ein „freies wissenschaftliches Komitee“ von acht Professoren ein, das eine rechtsvergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts erarbeiten sollte: von Birkmeyer, Kahl und Wach für die „klassische“ Schule, von Liszt, von Lilienthal und Seuffert für die „soziologische“ sowie van Calker und Frank für die vermittelnde Linie.94 Den Arbeitsplan des Komitees, der sich „auf das trefflichste bewährt hat“95, hatte offenbar Kahl entwickelt. Unter Heranziehung von weiteren 50 Mitarbeitern entstanden unter dem Vorsitz Nieberdings bis 1909 16 Bände, sechs zum Allgemeinen, neun zum Besonderen Teil sowie ein Registerband.96 „Das Werk war eine unübertreffliche Fundgrube für gründliche Orientierung über alle wesentlichen Fragen, die die Reform des Strafrechts betrafen“.97 Ab dem 1. Mai 1906 erarbeiteten fünf hochrangige Praktiker98 in 117 Sitzungen den „Vorentwurf zu einem neuen deutschen Strafgesetzbuch“, der im Herbst 1909 mit einer zweibändigen Begründung veröffentlicht wurde, ein „durchaus verheißungsvoller Auftakt für die praktische Reformarbeit“.99 1911 erschien der schon erwähnte Gegenentwurf zum Vorentwurf,100 in dem wohl wiederum Kahl die Federführung hatte. Man wollte das Eisen schmieden, solange es heiß war und stellte deshalb alsbald eine Kommission zusammen, die aus 16 ordentlichen

und Dr. med. h.c., Dr. jur. Wilhelm Kahl feiert am 17. Juni seinen 65. Geburtstag, DStrRZ 1 (1914) Sp. 266–268, 267. – In seiner Auseinandersetzung mit der harten Kritik Bornhaks (Der Beruf unserer Zeit zur Strafgesetzgebung) an der Reformarbeit, und zwar nach Zeitpunkt, Grund und Inhalt, schreibt Kahl Politik gegen Strafrechtsreform (Fn. 48), 914, zwischen zwei nicht mehr nur ironischen, sondern sein Tun verunglimpfenden Sätzen Bornhaks „Sisyphusarbeit“ . . .! 94 An die Stelle des bereits am 23.11.1902 verstorbene Hermann Seuffert trat Robert von Hippel. 95 Von Frank (Fn. 43), Sp. 802; Joël (Fn. 9), 12. Kahl bei Alsberg (Fn. 15), 100 schreibt mit Blick auf das Jahr 1902 „damals wurden mein lieber verstorbener Kollege von Liszt . . . und ich beauftragt, den Plan für die Reform eines neuen deutschen Strafrechts vorzulegen“. 96 Vormbaum/Rentrop Die deutsche Strafrechtsreform, Ein Überblick, in: Vormbaum/ Rentrop (Hrsg.) Reform des Strafgesetzbuchs, Sammlung der Reformentwürfe, Band 1: 1909–1919, 2008, XI f. 97 Eb. Schmidt (Fn. 58), § 327, S. 394 f. 98 Aufgeführt sind die Beteiligten bei Vormbaum/Rentrop (Fn. 96), XIII Fn. 9. 99 Kurze Würdigung bei Eb. Schmidt (Fn. 58), § 328, S. 395 f.; Näheres bei Vormbaum/ Rentrop (Fn. 96), XII ff. – Typisch für Kahl: er nannte den VE 1909 in seinem Überblick Zur Reform des deutschen Strafrechts (Fn. 62), 641 „vortrefflich“. Zunächst begründete er die Notwendigkeit der Reform, 643 ff., mit dem Alter des RStGB, das eben auf dem preuß. StGB 1851 fuße; dann aber auch damit, dass die Lebensbedingungen und Erscheinungsformen des Verbrechertums sich geändert hätten, auch in anderen Staaten, wie deren Reformbemühungen zeigten. Im Weiteren ist gut zu sehen, wie Kahl Vergeltungs- und Zweckstrafe verkoppelt, aaO 647 f. 100 Vgl. dazu Fn. 87. Zu Kahls Kritik der Strafandrohungen siehe den Text ab Fn. 75; siehe auch Fn. 88.

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und zwei außerordentlichen Mitgliedern bestand.101 Die Wissenschaft war durch Kahl, Frank und von Hippel vertreten, die – i.E. auch Kahl – im „Schulenstreit“ einen vermittelnden Standpunkt einnahmen. Den Vorsitz führte bis zu seinem krankheitsbedingten Ausscheiden der Direktor im preußischen Justizministerium Hermann Lucas, in der zweiten Lesung dann Kahl. Der Kommissionsentwurf (= KE 1913) wurde am 27. September 1913 verabschiedet und noch als Manuskript gedruckt. Zur Entstehung des folgenden Entwurfs 1919 hat sich schon Kahl näher geäußert.102 Der Entwurf 1922, ein Unikum, weil ihn der zum Justizminister ernannte Gustav Radbruch mit seinen Mitarbeitern,103 man könnte fast sagen, „heimlich“ erstellt hatte,104 war der Versuch, der Reformentwicklung eine neue Richtung zu geben. Kahl kannte ihn, streifte ihn aber nur kurz anlässlich der Besprechung einiger Abschnitte des Besonderen Teils des Amtlichen Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs (= Entwurf 1925).105 Mit dem – wiederum geänderten – Entwurf, der am 14. Mai dem Reichstag zugeleitet wurde, begann die parlamentarische Phase.106 Die Plenardebatte im Reichstag am 21. und 22. Juni 1927 wird geprägt von Kahls großer Rede, in der er die 25 Jahre seit 1902 Revue passieren ließ, wie er sie erlebt und publizistisch in großen Teilen vorbereitet oder verarbeitet hatte:107 Das RStGB, fußend auf dem preußischen StGB von 1851, sei veraltet. Grundstürzende wirtschaftliche Veränderungen, die Entwicklung des Großstadtwesens und die Fortschritte in der Technik hätten auch zu einer Veränderung der Erscheinungsformen des Verbrechens geführt, was sich notwendig auf die „Metho101 Ebermayer (Fn. 9), 69 ff., 76 ff.; Vormbaum/Rentrop (Fn. 96), XV f.; siehe auch Kahl bei Alsberg (Fn. 15), 101. 102 DJZ 26 (1921), Sp. 145–151; vgl. ferner Eb. Schmidt (Fn. 58), § 330, S. 397 ff. Aus „erster Hand“ dazu Ebermayer (Fn. 9), 72 ff. 103 Dazu Vormbaum/Rentrop (Fn. 96), XVIII f.; richtig bleibt freilich, dass dieser Entwurf an den Entwurf 1919 durchaus anknüpfte; dazu Marxen Der Kampf gegen das liberale Strafrecht – Eine Studie zum Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre, 1975, 76 f. 104 Kaufmann GRGA (Fn. 12), Band 9, Strafrechtsreform, bearbeitet von Wassermann (Heidelberg 1992) 1 ff., 2, 25 ff., mit instruktivem Überblick zur Entwicklung von 1902– 1933; zum Schicksal des Entwurfs siehe 34 ff. 105 Zugrunde lag der Entwurf 1922, aber mit „tiefgreifenden Änderungen“, so Eb. Schmidt (Fn. 58), § 334, S. 406; vgl. auch Vormbaum/Rentrop (Fn. 96), XX f.; ferner Kahl Der neue Strafgesetzentwurf, DJZ 30 (1925) Sp. 685-693, der schrieb, dass er den für das Strafensystem geplanten Neuerungen grundsätzlich ablehnend gegenüberstehe, dann aber die Vereinfachung der Sprache und deren Volkstümlichkeit lobte, Sp. 686; ders. bei Alsberg (Fn. 15), 102. 106 Schilderung der einzelnen Schriften bei Vormbaum/Rentrop (Fn. 96), XXI f. m.w.N. Die Meinungen zur jetzigen Fassung des Entwurfs 1927 waren durchaus geteilt; vgl. Vormbaum/Rentrop ebenda, XXII. 107 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des RT, III. WP 1924, Band 393, 10942–10950 (lebhaftes allseitiges Bravo), zit. im Weiteren nach Alsberg (Fn. 15), 99-121. Nachweise im folgenden Text beziehen sich auf diese Quelle.

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de seiner Bekämpfung“ (99) auswirken müsse, nicht nur in Deutschland, „sondern fast überall“ (100). Kahl lobt den Vorentwurf 1909, „der manchmal leicht vergessen wird, wiewohl er die größten Verdienste hat“ (100), sowie die sich anschließende, zwei Jahre währende Kritik „von einem ganz seltenen Umfang“ (100). Es war kein Kreis, keine Organisation deutschen Lebens, die nicht teilgenommen hätten an diesem ersten gesetzgeberischen Versuch, „. . . eine Angelegenheit des ganzen deutschen Volkes, nicht etwa bloß des Juristenstandes“ (100 f.).108 Kurz streift er die auf Anregung des Bundesrats 1911 zusammentretende Strafrechtskommission, die infolge des Kriegsausbruchs ihrer Arbeit über den Text des Entwurfs hinaus nicht hatte vollenden können, schildert die Verwirrung, die sodann – trotz redlichen Bemühens – durch die Verordnungstätigkeit des Bundesrats entstand, die diesem durch das Ermächtigungsgesetz vom 4. August 1914 zugewachsen war, kommt kurz auf den (III.) Entwurf 1919, eine Umarbeitung des KE 1913, zu sprechen, der erst 1921 veröffentlicht und alsbald durch den infolge der Regierungskrise nicht publizierten Ministerentwurf Radbruchs überholt wurde, und wendet sich sodann dem „allen Mitgliedern des Reichstags bekannte(n), erstmalig als ‚Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs‘ “ (103) 1925 verbreiteten Entwurf zu. Auch dieser wurde vielfältiger Kritik unterzogen. Der sechste, nach den Beschlüssen des Reichsrats revidierte Entwurf von 1925 liege nunmehr zur Beratung vor, nachdem die Reichsregierung die Beschlüsse des Reichsrats in toto akzeptiert habe. Zunächst ruft Kahl noch einmal die „Hauptziele“ (103) in Erinnerung, die ab 1902 leitend waren: – 1. Die schärfere psychologische Differenzierung des Verbrechertums, d.h. Einführung einer Regelung der verminderten Zurechnungsfähigkeit, im Zusammenhang damit die Behandlung des „alkoholischen Verbrechertums“ (104), die „schärfere Erfassung des gewerbsmäßigen und gewohnheitsmäßigen Verbrechertums“ und schließlich auch eine psychologische Differenzierung hinsichtlich der Jugend. – 2. „Die Verbindung der Sicherung mit der Strafe“ (105) durch Einführung entsprechender Maßregeln,109 ein angesichts der Vorgeschichte besonders sensibles Thema. – 108 Vgl. die „Zusammenstellung der gutachterlichen Äußerungen über den Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch gefertigt im Reichs-Justizamt, Als Manuskript gedruckt, Berlin 1911“. Vorangestellt sind „Allgemeine Bemerkungen zum Vorentwurfe“, beginnend mit „Der Entwurf als Grundlage der Reform“, „Stellung des Entwurfs zum Streite der Strafrechtsschulen“, „Größere Freiheit des richterlichen Ermessens“, „System“, „Gesetzestechnik“ und endend mit „Einarbeitung der strafrechtlichen Nebengesetze“ (X–XX). Sodann sind, mit Allgemeiner Teil, 1. Abschnitt. Das Strafgesetz. § 1 beginnend, die „Äußerungen“ jeweils mit Fundstellen zusammengefasst widergegeben (1–424). 109 Kahl sagt hier (bei Alsberg [Fn. 15], 105): „Wer glaubt – und es gibt solche Stimmen –, diese Sicherung habe mit dem Strafrecht nichts zu tun, man solle sie in irgendein Sondergesetz verweisen, der treibt Theorie, scheidet sich aber vom Bilde des Lebens. Das aber wollen wir uns für die ganze Strafrechtsreform merken: die letzten Entscheidungen

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3. „Die Erweiterung der Freiheit des richterlichen Ermessens“ (105), d.h. Individualisierung in zweifacher Richtung. Zum einen Vereinfachung der Tatbestände, Beseitigung von törichter Kasuistik;110 zum anderen „nach der anderen Seite größere richterliche Freiheit in der Strafbemessung: hinsichtlich der Strafmilderung wie der Strafschärfung eine größere Beweglichkeit, um die Strafe im einzelnen Fall subjektiv der Schuld und objektiv dem Erfolg in gerechter Weise anzupassen“ (106).111 Die mit erheblichen Veränderungen verbundenen Beschlüsse des Reichsrats hätten nun, so Kahl, eine „gewisse Erschwerung der Gesamtlage“ gebracht; er zählt sie auf, es sind nicht eben wenige sowohl im Allgemeinen als auch im Besonderen Teil, und er konstatiert, „daß im Vergleich zum Entwurf von 1925 wir uns nicht verhehlen dürfen, daß der Streitstoff sich erweitert hat“ (107). Es folgen, wie bei Kahl üblich, aufmunternde, Zuversicht verbreitende Worte und dann: „Meine Herren, täuschen wir uns darüber nicht: es kommt nur darauf an, ob man will“. Alsdann greift er „ein paar Hauptdifferenzen unter uns heraus, über deren Tragweite wir uns gegenseitig keiner Täuschung hingeben“ (sollten; 108): Die Frage der Todesstrafe, in der er nur „eine höchst politische Zweckmäßigkeitsfrage“ sieht;112 die Voraussetzungen der Einschließung, der custodia honesta, die aufs engste mit den Ehrenstrafen überhaupt zusammenhänge; ferner das große und weite Gebiet des Verhältnisses von Sicherung und Strafe und hierbei insbesondere, dass diese „freigesprochenen oder verurteilten Verbrecher nicht mehr unmittelbar auf die Straße losgelassen werden, nachdem durch die Erfahrung bombensicher erwiesen ist, daß sie an der nächsten Straßenecke bereits wieder mit dem Strafgesetzbuch kollidieren werden“ (111);113 und schließlich „unser Hauptzankapfel“, die Freisind nicht aus der Theorie, sondern überall aus den Erfahrungen des Lebens zu schöpfen!“. 110 Schon hier dient als Beispiel, wen wundert’s, (nur) § 243 RStGB, für den konkreten Fall Nr. 4; dazu bereits Kahl In Erwartung der deutschen Strafrechtsreform, DStrRZ 5 (1918) Sp. 195–199, 196. Zur Problematik auch Verf. Abschied von den „unselbständigen“ Abwandlungen oder den besonders schweren Fällen oder von beidem? Überlegungen zum derzeitigen „System“ der Strafrahmenänderungen, in: FS Maiwald 2010, 293–321. 111 Kahl fährt fort: „Man war sich schon damals in unserer Kommission nicht im geringsten darüber im Zweifel, daß dies der schwierigste Teil der Strafrechtsreform sei und daß um die Frage der Freiheit des richterlichen Ermessens später der Hauptkampf ausbrechen werde“, bei Alsberg (Fn. 15), 106. 112 Im Unterschied zu seinem Idol, dem von ihm und seinem „persönlich nahen Freunde“ von Liszt (so bei Alsberg [Fn. 15], 116), höchst verehrten, ja „vergötterten“ Bismarck, der von dieser Frage das Zustandekommen des StGB des Norddeutschen Bundes hatte abhängig machen wollen, meint Kahl, der Ausfall dieser Entscheidung dürfe nicht das Schicksal der ganzen Strafrechtsreform beeinflussen. – Radbruch hingegen hielt Kahls Auffassung für schmerzlich; er sah in der Entscheidung eine Gewissensfrage; vgl. seinen Diskussionsbeitrag auf der 22. Tagung der IKV in Karlsruhe 1927, abgedruckt bei Kaufmann GRGA (Fn. 104), 296. 113 Selbstverständlich müsse – i.S. der Forderung der Sozialdemokratie – Vorsorge dafür getroffen werden, dass die Anwendung dieser sichernden Maßnahmen in keiner Weise

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heit des richterlichen Ermessens, wobei es „heutzutage“ nicht mehr um den Grundsatz gehe, sondern nur noch „um Art und Maß und Anwendung“.114 Es folgen noch Appelle des im Kommissionsvorsitzendengeschäft Vielerfahrenen, was zur Sicherung des Erfolgs zu beachten erforderlich sei, so Selbstbeschränkung, Hintanstellung von Einzelwünschen und „um Gottes willen keine Prinzipienreiterei und keinen Schulenstreit“ (115).115 Wie sehr ihm dieser Punkt am Herzen lag, zeigt nicht nur der zitierte Satz, sondern auch die Intensität der folgenden Darlegungen. Unter dem Motto „Entpolitisierung der Strafrechtsreform“ (118) fordert Kahl, das ganze Schicksal der Reform nicht „von der Erfüllung eines Parteiprogramms“ abhängig machen zu wollen. Man solle „nicht Tagesfragen mit einer Jahrhundertfrage verwechseln“ (119).116 Kahl schließt mit einem Aufruf an die Abgeordneten: „Es kommt – ich wiederhole das nicht zum letztenmal und werde es vielleicht noch zwanzigmal sagen – lediglich auf den guten Willen an. Ist der vorhanden, dann kann das Werk gelingen, und gelingt das Werk, dann hat sich aldie Rechtssicherheit zerstöre. Gegen jeden Missbrauch und gegen jede Willkür müsse Vorsorge getroffen werden, aaO, 111. 114 Kahl fügt hinzu, der „E 1925 in seinem höchst ansprechenden und sympathischen Idealismus“ sei hierin zu weit gegangen, der vorangegangene Entwurf 1922 Radbruchs noch viel weiter. Aber zu bedenken sei doch, ohne Freiheit des richterlichen Ermessens sei der höchste Zweck des Strafrechts nicht erreichbar; instruktiv dazu Ebermayer (Fn. 9), 63 f., 228 ff. Es folgt dann, wenig überraschend, wenngleich schon damals problematisch, eine Hymne auf den „deutschen Richterstand, auch Strafrichterstand“ – bei Ausklammerung des willkürlich herausgegriffenen Einzelnen, so Kahl. Wenn er von willkürlich herausgegriffenen Einzelfällen spricht (vgl. auch Burghard [Fn. 24], 136 ff., 147), verharmlost das die damalige Lage, wirkt zumindest unkritisch; vgl. nur Hannover/Hannover-Drück Politische Justiz 1918–1933. Mit einer Einleitung von Bracher, 1966, 10 ff. (Bracher), 18 ff., 39 ff. und passim; Jasper Justiz und Politik in der Weimarer Republik, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 30 (1982) 167–205; Gebhardt Der Fall des Erzberger-Mörders Heinrich Tillessen – Ein Beitrag zur Justizgeschichte nach 1945, 1995, 1 ff., 50 f. und passim; nebenbei: zeitlos lehrreich und ein Kabinettstück ist die Schilderung der Reaktionen in den veröffentlichten Meinungen, 219 ff.; viele Nachweise bei Miltenberger Der Vorwurf des Landesverrats gegen Reichspräsident Friedrich Ebert – Ein Stück deutscher Justizgeschichte, 1989; Gritschneder Der Hitler-Prozeß und sein Richter Georg Neidhardt – Skandalurteil von 1924 ebnet Hitler den Weg, 2001; Kruse Der Erste Weltkrieg, 2009, 76 ff. (mit dem „Aufruf der 93 ‚An die Kulturwelt!‘ “); ferner Flade (Hrsg.) Felix Fechenbach – Im Haus der Freudlosen – Als Justizopfer im Zuchthaus Ebrach, 1993, 129 ff.; für einen Teilbereich grundlegend Kirchheimer Politische Justiz, 1985. Allgemein zu den Problemen, die hier den Interessierten erwarten, Rüthers Ideologie und Recht im Systemwechsel, 1992, 13 ff., 47 ff. 115 Sodann, es sei zitiert: „Es ist dem Deutschen ja kaum etwas so sympathisch und liegt ihm so wohlig, als über große Prinzipien zu streiten“, bei Alsberg (Fn. 15), 115; siehe auch seinen Appell im 32. Ausschuss des RT, III. WP 1924, Erste Sitzung in Wien, 15.11.1927, 2 (Protokoll über die Sitzungen der deutschen und österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenzen), man möge die Parteipolitik, soweit möglich, hinter die Sache zurücktreten lassen. 116 Unter Berufung auf Radbruch; gesagt hatte der das auf dem 34. DJT in Köln; siehe auch Kaufmann GRGA (Fn. 104), 216; siehe ferner Kahl Ehrenstrafen, DJZ 28 (1923) Sp. 508, 509.

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lerdings dieser Reichstag um Volk, um Staat und um Vaterland wohlverdient gemacht“ (121). Der neu geschaffene 32. Strafrechtsausschuss beriet alsdann unter dem Vorsitz von Kahl binnen etwas mehr als fünf Monaten die Details117 – unter dem Damoklesschwert drohender Auflösung des Reichstags, die dann auch bald erfolgte. Ein Antrag Kahls sicherte den bisherigen Ertrag: Es erging das Gesetz zur Fortführung der Strafrechtsreform vom 31. März 1928. Der neu gewählte Reichstag überwies den Entwurf 1927 am 11. Juli 1928 an den nunmehr 21. Ausschuss, der – erneut unter Kahl – bis zum 11. Juli 1930 den Entwurf in insgesamt 143 Sitzungen und zwei Lesungen durchberiet. Die erneute Auflösung des Reichstags schon am 18. Juli 1930 erledigte auch die Legitimation des Ausschusses.118 Gleichwohl führte Kahl – in Zusammenarbeit mit dem Reichsjustizministerium, wie er selbst hervorhebt – die Arbeit während der 5. Legislaturperiode fort und stellte am 6. Dezember 1930 im Reichstag erfolglos den Antrag, den „Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs“ anzunehmen.119 Mit dem Tod Wilhelm Kahls am 14. Mai 1932 endete das Bemühen, den langen Prozess zu einem guten Abschluss zu bringen.120 Er war „der Strafrechtsreform eigentliche Seele“ gewesen; ihr hatte „er 30 Jahre seines Lebens geopfert“.121

IV. Kahls Wille zur Gestaltung des Gemeinwesens 1. Ämter, Gremien, Mitgliedschaften Nächst 30 Jahre bis zu seinem Tod war Wilhelm Kahl in den verschiedensten strafrechtlichen Gremien und Ausschüssen tätig gewesen und – im 117 Bis zu § 202 Entwurf 1927; siehe Vormbaum/Rentrop (Fn. 96), XXII; Ebermayer (Fn. 9), 217 ff. Wieder einmal hatte Kahl Gesetzgebungssorgen im neuen Jahr, DJZ 32 (1927) Sp. 1–8 schon im Vorfeld versucht, die Linien vorzugeben. Er spürte offenbar, dass Eile geboten war, sollte die Ernte noch eingebracht werden; in Stand und Aussichten der Strafrechtsreform DRiZ 1931, 137–139 berichtet Kahl von der Obstruktion der fünf Nazis und der zwei Deutschnationalen im 28 köpfigen Ausschuss und beendet seine Schilderung: „Aber ‚Durchhalten‘ heißt die Parole“. 118 Bemühungen Kahls, dies wiederum zu verhindern, waren im Ausschuss gescheitert; siehe Kahl Das Strafrecht der Zukunft, DJZ 36 (1931) Sp. 32–36; dazu auch Vormbaum/ Rentrop (Fn. 96), XXIII. 119 Näheres dazu, auch zu den deutsch-österreichischen parlamentarischen Strafrechtskonferenzen, auf denen Kahl ebenfalls jeweils den Vorsitz innehatte, bei Vormbaum/ Rentrop (Fn. 96), XXIII f. 120 Eb. Schmidt (Fn. 58), § 334, S. 407 f.; Kahl (Fn. 118), Sp. 32–36, macht deutlich, dass ihm, dem inzwischen 81jährigen der unerschütterliche Optimismus hinsichtlich des Gelingens seines, man kann schon sagen „Lebenswerks“ abhanden gekommen ist. 121 So Wunderlich (Fn. 11), Sp. 702; siehe auch Fn. 93 sowie insbesondere Ebermayer (Fn. 9), 293 ff., dessen Lob ohne Stilisierung Kahls zu einem „Solon“ auskommt und gerade deshalb besonders beeindruckt.

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Sprachkolorit der Zeit – zum „Führer der Strafrechtsreform“,122 so der ehemalige Reichsjustizminister Bell, geworden. Und wenn Bell den Verstorbenen rühmte, „daß der einmütig zum Kapitän erkorene Wilhelm Kahl durch den vollen Wert seiner ganzen Persönlichkeit, seines umfassenden Wissens, seiner reichen Erfahrungen, seiner ausgleichenden Gerechtigkeitsliebe, seiner liebenswürdigen Persönlichkeit, die Gewähr dafür bot, das Schiff über alle Klippen und Fährnisse hinweg in den sicheren Hafen zu bringen“,123 so ist das nicht als anlassbedingte Übertreibung zu werten, sondern Ausdruck einer parteiübergreifenden Wertschätzung, die in vielen Stellungnahmen und Beurteilungen zum Ausdruck kommt, die Kahl schon im Lauf seines Lebens zuteil geworden sind. Das wird sehr deutlich auch an der Zahl der Ämter, die ihm neben seiner ihm immer wichtigen Tätigkeit an der Universität124 zuwachsen. In Rostock wurde Kahl nach seiner Ernennung Konsistorialrat, 1890, als er in Bonn amtierte, Mitglied der rheinischen Provinzialsynode, 1891 Mitglied der preußischen Generalsynode, 1896 auch der brandenburgischen Provinzialsynode, und übernahm innerhalb der Generalsynode Führungs- und Vorstandsaufgaben.125 Ab 1922 (bis 1930) ist er Mitglied des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses, der leitenden Behörde des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes.126 Neben den ihm im Verlauf seiner Bemühungen um die Strafrechtsreform zufallenden Ämter und im Zusammenhang mit diesen zu erwähnen ist der Vorsitz,127 den er auf vier „Deutschen Juristentagen“ innehatte, nämlich in Bamberg (1921), Heidelberg (1924), Köln (1926) und Salzburg (1928).128 Ferner fungierte er als 122

Bell (Fn. 10), 1705 und schon Meyer (Fn. 93), Sp. 268. Wie Fn. 122; da ist im Weiteren auch die Rede von „den hochgespannten Erwartungen, die man in diesen allverehrten Senior des Parlaments von allen Seiten setzte“, der „Feuerkraft seines hohen Geistes“, der „Hingabe seines Tatwillens“, seiner „umfassenden Stoffbeherrschung“ u.a.m.; „. . . liebe Worte, die mir tief ins Herz gegangen sind“, so hatte Kahl dem Präsidenten des RT, Löbe, für dessen in der Tat ganz ungemein warmherzigen Glückwünsche gedankt, siehe Stenographische Berichte über die Verhandlungen des RT, IV. WP 1928, 88. Sitzung vom 17.6.1929, Band 425, 2567 f. 124 Alsberg (Fn. 15), 2, 17 f. apostrophiert ihn als „der große Lehrer, der Führer der akademischen Jugend“; ferner Goldschmidt in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 22 und Wunderlich (Fn. 11), Sp. 701 f. 125 Näher dazu Achenbach (Fn. 17), 6 f. 126 Eger in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 27 f. 127 Treffend Goldschmidt in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 19: „Er gilt als der ‚geborene‘ Präsident, nicht allein wegen seiner repräsentativen Persönlichkeit, seiner durch ein wundervolles Organ unterstützten hinreißenden Beredsamkeit, seiner Schlagfertigkeit und Geschicklichkeit in der Formulierung und in der Leitung großer Versammlungen, sondern nicht zuletzt eben wegen seiner wissenschaftlichen Grundeinstellung, die ihn zum berufenen ‚Mittler‘ im Kampf der aufeinanderplatzenden Meinungen und Interessen macht“. 128 Zu dieser Institution und deren Arbeitsperioden siehe Conrad Der Deutsche Juristentag 1860–1960, in: Conrad/Dilcher/Kurland Der Deutsche Juristentag 1860–1994, 1997, 9, 23 ff. Mitglied der Ständigen Deputation war Kahl vom 25. bis zum 31. DJT (1900– 123

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Vorsitzender der Juristischen Arbeitsgemeinschaft für Gesetzgebungsfragen, einem Zusammenschluss verschiedener Juristischer Organisationen, u.a. des DJT, des Deutschen Juristenbundes und der Berliner Juristischen Gesellschaft.129 2. Politische Tätigkeiten Nur noch gestreift werden kann hier die aktive131 politische Tätigkeit, die der fast 70Jährige 1918 mit dem Eintritt in die Deutsche Volkspartei (DVP) begann. Sie führte ihn 1919 in die Verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung und von 1920 bis zu seinem Tod in den Reichstag. Was ihn zu diesem Engagement bewegt hatte, sagte er in seiner – höchst lesenswerten, für ihn typischen – Dankesrede anlässlich der Feier seines 80. Geburtstags132 selbst: Nicht Neigung zum parlamentarischen Beruf, sondern kategorischer Imperativ habe ihn zur Mitwirkung bei der Verfassung, zur politischen Arbeit überhaupt bestimmt – im Reichstag sagte er, der auch an seinem Geburtstag pflichtgemäß Erschienene, an seinem mit Blumen geschmückten Platz angekommen, an den Präsidenten gewendet u.a.: „Was mich in diesen Kreis getrieben hat und was mich hier hält, ist heißeste Liebe zum Vaterland, der brennende Wunsch, an irgendeiner Stelle mitzuarbeiten am Wiederaufbau des Staates . . .“. Das Protokoll vermerkt: „Lebhafter, anhaltender Beifall und Händeklatschen. – Pause“. – In der Nationalversammlung war er als Mitglied des achten, des sog. Verfassungsausschusses Berichterstatter zu den Art. 1–6, 10–14 des Verfassungsentwurfs und enga130

1912), 1904 Vizepräsident der mit Strafrechtsreformfragen befassten 3. Abteilung des 27. DJT, 1906 Präsident dieser 3. Abteilung. 129 Dazu Kahl Juristische Arbeitsgemeinschaft für Gesetzgebungsfragen, DJZ 29 (1924) Sp. 405 mit Hinweis auf einen Bericht in DJZ 29 (1924) Sp. 125, dass „unter der Einwirkung gewisser bedrohlicher Erscheinungen unserer Rechtsentwicklung im Dezember 1923“ sich diese u.a. Organisationen zusammengeschlossen hätten, „um Rechtsstaat und Rechtsordnung zu sichern sowie das Vertrauen des Volkes auf das Recht zu stärken und zu sichern“; „zu der Zeit der höchsten Rechtsnot“ auch Kahl Dem Deutschen Juristentag zum Gruß!, DJZ 29 (1924) Sp. 637–641, 640. Zum Krisenjahr 1923 vgl. nur Huber (Fn. 45), Band VII: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, 1984, Kap. IV-VI, 271 ff.; zum Ermächtigungsgesetz vom 8.12.1923, 451 ff. 130 Zu Kahls politischen Wirken siehe die Dissertation von Burghard (Fn. 24), der sich weitgehend auf eine Art Bericht beschränkt; die teilweise fehlenden Zu- und Einordnungen können hier nicht geleistet werden. Diese Arbeit wäre im Zusammenhang mit einer genaueren Deutung von Kahls strafrechtlichen Leistungen noch zu erbringen. 131 Zu Kahls Aktivitäten vor 1914 siehe Burghard (Fn. 24), 41 ff. m.w.N.: Mitglied der nationalliberalen Partei ab 1874, Mitbegründer der „Freien Vaterländischen Vereinigung“ 1915, deren Vorsitz er einnahm, sowie die schon erwähnten Reden „vom Recht zum Kriege und vom Siegespreis“ u.a.m.; zum „Mittwochabend-Kreis“ siehe Klopsch (Fn. 4), 59 f. m.w.N., zu weiteren Aktivitäten Kahls 62 ff. sowie Achenbach (Fn. 17), 4 f., 245 ff. 132 Abgedruckt in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 42; Dingeldey (Fn. 17), 32.

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gierte sich besonders hinsichtlich der kirchenrechtlichen Bestimmungen,133 deren letztendliche Ausgestaltung in den Art. 135–141 mit sein bleibendes Verdienst ist. Auch in der Nationalversammlung ergriff Kahl mehrfach das Wort, so u.a. zur Frage der Notwendigkeit der Revolution oder eines Rechts auf eine solche sowie der Frage der Schuld, zum Flaggenwechsel und zur Ausbildung der Juristen.134 3. Ehrungen Kahl sah sich im Lauf seines Lebens mit Ehrungen geradezu überhäuft. Neben den Titel eines Geheimen Rats wurde ihm in Bonn 1895 der D. h.c., in Erlangen 1910 der Dr. med. h.c., von Bonn 1919 der Dr. phil. h.c. sowie anlässlich seines mit dem Inkrafttreten des „Überalterungsgesetzes“ zum 1. April 1921135 verbundenen Ausscheidens aus dem „aktiven Dienst“ von der staatswissenschaftlichen Fakultät Berlin der Dr. rer. pol. h.c. verliehen; und 1929 erhielt er zu seinem 80. Geburtstag die Ehrendoktorwürde der gesamten Universität Wien, etwas ganz Außerordentliches. 1923 überreichte ihm aus Anlass seines goldenen Doktorjubiläums seine Fakultät eine Festgabe136 und ehrten ihn, wie schon erwähnt, Triepel, Goldschmidt, Sehling, Rießer sowie der Herausgeber und Verleger der DJZ Liebmann mit Beiträgen in der Ausgabe vom 1. April 1923. Bereits im Jahr 1908 war ihm der preußische Königliche Kronorden dritter Klasse, 1910 derjenige der zweiten Klasse verliehen worden. 1914 erhielt er den Roten Adlerorden II. Klasse, 1917 das Verdienstkreuz für Kriegshilfe. Zum 80. Geburtstag bekam er die höchste Ehrung der Republik, den Adlerschild des 133

Näher dazu Burghard (Fn. 24), 78, 89 ff.; zu den institutionellen Schutznormen des staatlich-kirchlichen Bereichs siehe Huber (Fn. 45), 122 f. und 864 ff. Etliche Jahre war Kahl ehrenamtlich als Berater im preußischen Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten tätig. 134 Stenographische Berichte der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, 12. Sitzung vom 20.2.1919, Band 326, 220 ff.; 44. Sitzung vom 2.7.1919, Band 327, 1227 f.; 113. Sitzung vom 30.10.1919, Band 331, 3621 ff. – Selbst eine Zeitung aus dem „gegnerischen Lager“ nannte Kahl „das Gewissen der Nationalversammlung“, so Rießer DJZ 28 (1923) Sp. 188. Diesen Ruf erwarb er sich auch im Reichstag; er war die unbestrittene fachliche und moralische Autorität für Rechtsfragen des Reichstags und fast so etwas wie eine „nationale Institution“, so Kuhn Die Vertrauenskrise der Justiz (1926–1928). Der Kampf um die Republikanisierung der Weimarer Republik, 1983, 104. 135 Vgl. Personalien DJZ 26 (1921) Sp. 181, 182 und Sp. 355, 356 f.; zu diesem preuß. Gesetz vom 15.12.1920 siehe Klopsch (Fn. 4), 76, 171 ff., zu Kahls Reaktion, aaO 173 f. – Zum Schicksal seines späteren Nachfolgers Goldschmidt siehe Gräfin von Lösch Der nackte Geist – Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, 1999, 179 f. mit Fn. 254, 255. 136 Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubiläum am 19. April 1923, Tübingen 1923 mit Beiträgen von Theodor Kipp, Heinrich Triepel, Rudolf Smend und Martin Wolff.

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Deutschen Reiches, verliehen.137 Am 17. Juni 1929, seinem Geburtstag, ehren ihn der Präsident des Reichstags und das ganze Haus, gratulieren ihm der Reichsminister von Guérard, der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker, der Rektor der Universität Rudolf His, der Vizepräsident Duske und, wie ihn Kahl in seiner Dankesrede heraushebt „mein hochverehrter Freund: Minister Scholz“. Fünf Tage nach seinem Tod, am 19. Mai 1932 – am Grab durfte am 18. Mai 1932 nur der Pfarrer an der Jerusalemkirche Fischer sprechen, so der letzte Wille Kahls –, strahlt die „Deutsche Welle“ die Rundfunkgedenkrede des Reichsjustizministers Joël aus, am 5. Juni 1932 findet im Reichstag eine Gedenkfeier statt, auf der der Dekan der Juristischen Fakultät, sein späterer Nachfolger James Goldschmidt, der Geh. Konsistorialrat Professor D. Dr. Eger (Präses der sächsischen Provinzialsynode) und Rechtsanwalt Eduard Dingeldey (M.d.R., Parteiführer der DVP) sprechen.

V. Vorläufige Bilanz Eine gründliche Würdigung dieses überzeugten Monarchisten, der sich aus Gründen der Vernunft nolens volens zum „verfassungsmäßigen Republikaner“138 geformt, nicht gewandelt hatte, ist nicht leicht und auf der Basis eines kurzen Abrisses eines Teils seiner Leistungen auch nicht gut möglich; schon deshalb nicht, weil es doch einer näheren Betrachtung seines politischen Strebens bedürfte, von dem im Lauf der Jahre – möglicherweise – ein Licht auch auf sein strafrechtliches Wollen (zurück-)fällt. Den eingangs angeführten Würdigungen, ja Huldigungen, ließen sich ohne Weiteres eine Fülle weiterer Lobpreisungen anfügen. Ändern würde sich hierdurch am Befund nichts. Wenn Eberhard Schmidt139 von Wilhelm Kahl und Franz von Liszt als „diesen beiden juristischen Sternen erster Größe“, den „strafrechtlichen Dioskuren der unvergeßlichen Berliner Fakultät“ schwärmte, so dürfte das, Kahl betreffend, denn doch zu hoch gegriffen sein, hat man nur das wissenschaftliche Verdienst im Auge. Wenn er gar einer „der Großen 137

Dazu Burghard (Fn. 24), 169 f. m.w.N.; Kahl war erst der zehnte Träger dieser Auszeichnung; siehe die Liste bei http://www.wikipedia.org/wiki/Adlerschild_des_ Deutschen_Reiches. 138 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des RT, I. WP 1922, Band 356, 8509, zit. bei Burghard (Fn. 24), 143; siehe auch Bleuel Deutschlands Bekenner zwischen Kaiserreich und Diktatur, 1968, 100. 139 Wie Fn. 23, B 2 und 19. Mit Kahl, dem er seine Habilitationsschrift widmete, verband Eb. Schmidt Einiges: Neben den Beziehungen zu Kahl durch das nach dem Tod von Liszts von Kahl, Goldschmidt und Kohlrausch geführte Institut, ist Elisabeth Aschoff zu nennen, die Schmidt durch deren Onkel Kahl kennengelernt und am 19.4.1922 in Berlin geheiratet hatte; vgl. Gräfin von Hardenberg Eberhard Schmidt (1891–1977). Ein Beitrag zur Geschichte unseres Rechtsstaats, 2009, 51 ff., 61 ff., 86, 279 f.

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Deutschlands“ genannt wurde,140 einer der „bedeutendsten Männer aller Zeiten“,141 so kann das aus und mit seinem Werk nicht erklärt werden. Wo dessen Qualitäten liegen, auch nach Beurteilung kundiger Zeitgenossen, hat sich im Lauf der Zeit gezeigt und sollte auch in diesen Zeilen hinreichend deutlich geworden sein. Es bedarf aber gewiss nicht des Vergleichs mit den großen Leuchten unter den Rechtswissenschaftlern, seien es Kirchen- oder Strafrechtler,142 um zu sehen, dass das ganz Außerordentliche, das, was die Faszination ausmachte, die von Kahl ausging, nicht in großen (Ent-)Würfen zu suchen ist, in Systemen, die den Blick auf die juristische Welt verändern sollen, gar diese neu ordnen. Rein wissenschaftlich ist er wohl „zu seinen Lebzeiten doch überschätzt worden“, so lautet ein nüchternes Urteil aus unseren Tagen.143 Von zentraler Bedeutung ist die „tiefe Verehrung Bismarcks“,144 die Kahls Leben wie ein roter Faden durchzieht und sein Handeln bestimmt. Er war in Versailles Zeuge der Gründung des Reichs der Deutschen. Das hat ihn geprägt und bis in seine letzten Tage ist ihm der letzte Grund aller Politik „nichts anderes als gemeinsamer Dienst am Volk, Staat und Vaterland“.145 Auch das zweite prägende Moment nennt er selbst, „die Liebe zum Recht“146 und dann besonders die „Lebensaufgabe . . . der 140 Liebmann Wilhelm Kahl als Mensch, DJZ 28 (1923) Sp. 192; siehe auch Alsberg (Fn. 15), 7. 141 Liebmann Wilhelm Kahl wird am 17. Juni 75 Jahre alt, DJZ 29 (1924) Sp. 449. 142 Dass Kahl nicht als Staatsmann, als originärer politischer Kopf, gelten kann, das zeigt die Darstellung seines politischen Handelns bei Burghard (Fn. 24) deutlich; derlei wird auch von niemandem behauptet. Insoweit trifft Portner Die Verfassungspolitik der Liberalen – Ein Beitrag zur Deutung der Weimarer Verfassung, 1973, 91, das Richtige, wenn er in ihm einen treuen Diener der Weimarer Republik sieht, andere von „dem Hüter und Gestalter des Rechts“, dem „Vorbild an Pflichttreue und Verantwortlichkeit“, dem „Kämpfer für Recht und Freiheit“, dem „lauteren Diener an Staat und Volk“ sprechen; siehe die Zitate bei Burghard (Fn. 24), 174. 143 Spendel (Fn. 68), 114, der das mit dem Eindruck erklärt, den Kahl auf seine Zeitgenossen „durch seine Persönlichkeit und sein Auftreten“ gemacht habe. Liest man die vielen Charakterisierungen Kahls anlässlich seiner Jubiläen, Ehrungen, seines wie ein Staatsakt gefeierten 80. Geburtstags sowie die Nachrufe anlässlich des Trauerakts im Reichstag nach seinem Tod, so trifft Spendels Urteil zu; nach Schubert in: Schubert/Regge/Rieß/ Schmid (Hrsg.) Materialien zur Strafrechtsreform, I. Abt. Weimarer Republik (1918–1932), Band 1: Entwürfe zu einem StGB (1919, 1922, 1924/25 und 1927), hrsg. und mit einer Einleitung versehen von Schubert und Regge, 1995, XI: „In der Tat lassen Kahls strafrechtswissenschaftliche Leistungen keine besondere Originalität erkennen . . .“. 144 Eb. Schmidt (Fn. 23), B 9; siehe Kahl Bismarck (Fn. 19) Sp. 329: „Person und Lebenswerk sind nationaler Besitz. Allen Deutschen hat er das Gleiche und Höchste gewirkt, Einheit des Vaterlandes“. 145 Kahl (Fn. 45), 43; prägnant Fischer in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 5–10, 7: „Furchtbar hat es ihn getroffen, als des Reiches Herrlichkeit und Deutsches Kaisertum zusammenbrachen“. 146 Kahl (Fn. 45), 39 in Erinnerung an seinen Vater und verbunden mit einer anrührenden Huldigung an seine „liebe Frau“. Zu Kahls Begriff vom Recht siehe die Auszüge aus Arbeiten zu dieser Thematik bei Alsberg (Fn. 15), 26 ff.

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deutschen Strafrechtsreform“;147 denn wesentlicher Bestandteil seiner Wissenschaft ist ihm die Rechtspolitik.148 Wenn sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl in der Gedenkrede sagt, Kahl sei „durch die Tat seines Lebens einer unserer größten Rechtslehrer geworden“,149 so kann man auch dem zustimmen, wenn nur die Betonung auf dem „Lehrer“ liegt, als Vorbild auch für seine jungen Kollegen in Universitäten und Parlamenten. Reichsjustizminister Joël beendet seine Gedenkrede „namens der Reichsjustizverwaltung heute, am Tage nach der stillen Beisetzung des Verstorbenen“, mit folgenden Worten: „Kahl wird niemals ersetzt werden! Mögen andere die gleiche Sachlichkeit, das gleiche Wissen, die gleiche Pflichttreue, die gleiche Aufopferungsfähigkeit mitbringen – das, was Kahls ganzen Zauber ausmachte, das kann uns niemand wiedergeben. Diese Persönlichkeit war einzigartig und ist nicht zu ersetzen. Die strahlende Güte seines Wesens, die Freundlichkeit, die nicht gekünstelt war, sondern aus dem Herzen kam – sie werden unvergessen bleiben. Kahl hatte das, was das Wesen einer wahren Persönlichkeit ausmacht: große Gedanken und ein reines Herz!“.150 Diesen „Zauber“ hat vielleicht ein späteres Mitglied der Fakultät am schönsten umschrieben. „Im Parlament fand er eine eigentümliche Vollendung seines Wesens: seine berühmte, akademisch und synodal, in Versammlungen jeder Art und vor allem auf den von ihm geleiteten Juristentagen bewährte Beredsamkeit fand hier ihren eigentlichen Raum und stets das Ohr des Hauses. Das tiefe Vertrauen aller Parteien bestätigte, daß diese Erneuerung des alten Typus des politischen Professors wohlgetan war; mit Recht feierte ihn Friedrich Meinecke auf einer Tagung verfassungstreuer Hochschullehrer in Weimar am 23. April 1926 als den getreuen Eckard unseres akademischen und öffentlichen Lebens“.151 Politisch war Kahl – Makler zwischen allen Fronten – fest verankert in einem konservativen152 Weltbild, doch offen für Neues, wo 147

Wie Fn. 45, 42. Goldschmidt in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 18 mit dem m.E. zutreffenden Hinweis, dass der Satz von Kirchmanns „Dies eben ist das klägliche der Jurisprudenz, daß sie die Politik von sich aussondert“, Kahl „aus der Seele gesprochen“ sei. 149 Wie Fn. 148, 20; jedenfalls hatte Kahl „die Hand am Puls seiner Zeit“ und sah mit einem sicheren Gefühl Fragen voraus, „die uns heute in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewegen“, so Liermann (Fn. 28), 312. 150 Joël (Fn. 9), 14. 151 Smend (Fn. 70), 121 f. (der letzte Halbsatz findet sich schon bei Meinecke Zweites Referat [Fn. 19], 17); in der Sache ebenso Wunderlich (Fn. 11), Sp. 700 f.; ähnlich auch Rießer (Fn. 134), Sp. 188. 152 „Man hat Wilhelm Kahl den letzten National-Liberalen genannt. Wirklich war er in schönem Gleichmaß national und liberal, eines nicht weniger als das andere; liberal im Sinne eigener echter Geistesfreiheit wie nie versagender Gerechtigkeit gegen fremde Überzeugung; und national – man durfte ihn nennen, wie Arndt sich in der Paulskirche genannt hat: ein gutes altes deutsches Gewissen. Jenes Gleichmaß aber war das Gleichmaß eines unbeirrbaren Rechtsbewußtseins. Das Recht war ihm nicht Gegenstand grübelnden Scharfsinns, sondern schlichte Weisheit, nicht blaßer Gedanke, sondern durchblutetes Le148

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es ihm vom Volk gewünscht oder für das Volk gut schien. Als Tucholsky (dazu oben I. 1) ihn 1919 attackierte, stand Kahl bereits im 70. Lebensjahr und doch erst am Beginn eines Lernprozesses, der aus ihm dann den „verfassungsmäßigen Republikaner“153 machte, der er wurde. Wenn er also später „sogar“ sagte,154 er würde die Republik „mit seinem Leibe“ verteidigen, so zeigt das nur die Länge des Wegs, den Kahl zu gehen bereit war, und dass er ihn bis zu Ende gegangen ist. Es war mithin nach meinem Empfinden höchst problematisch, ja unhaltbar, aus seinen für heutige Ohren in der Tat nur schwer erträglichen Reden 1914 ff. und zu Beginn der Weimarer Republik zu schließen, sie hätten dazu beigetragen, den Boden für den Nationalsozialismus zu bereiten. Sieht man, wie Kahl sich in den letzten Jahren der Weimarer Republik gerade auch gegenüber den extremen Parteien verhalten hat, nämlich sogar gegen Mehrheitsbeschlüsse seiner DVP und für seine Überzeugung agierend, so wird das sehr deutlich. Ein Sachverhalt: Mit dem „Stahlhelm“, dem „Landvolk“, der NSDAP, der DNVP, den Christlichsozialen, später auch der KPD, unterstützte die DVP im Frühjahr 1931 ein Volksbegehren, das die sofortige Auflösung des preußischen Landtags zum Ziel hatte und dann auch für den 9. August 1931 anberaumt wurde. Am 4. August geiselte Graf zu Dohna (DVP) in der Kölnischen Zeitung das von seiner Partei unterstützte Begehren als verantwortungslos. Diesem Standpunkt schloss Kahl – immerhin Ehrenvorsitzender der DVP – sich in einem am 6. August ebenfalls in dieser Zeitung abgedruckten Telegramm an. Er stimme den Ausführungen seines Freundes Dohna „aus tiefster Überzeugung in vollstem Umfang zu und halte nach der gesamten innen- und außenpolitischen Lage die Nichtbeteiligung für vaterländische Pflicht. Dr.

bensgefühl und lebenbestimmende Kraft“, so Radbruch (Fn. 24), 70. – Zum 80. Geburtstag Kahls schrieb Radbruch (Fn. 24), 68: „Wenn Liberalismus die Achtung vor jeder Überzeugung ist, dann ist Wilhelm Kahl ein bis ins Innerste seines Wesens liberaler Mann. Wer fremde Überzeugungen achtet wie er, den zu ehren ist auch Vertretern einer andern Überzeugung Pflicht und Freude“. 153 Nach Radbruch in: Kahl/Meinecke/Radbruch (Fn. 19), 32–37, der Seite 32 zwischen „Begeisterungs- und Vernunftrepublikanern“ unterschied, war Kahl mithin Letzteres, wie er in seinem ersten Referat (Fn. 19), 10 ff. zeigt und als Abgeordneter selbst ausspricht; vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des RT, I. WP 1922, Band 356, 8428 und 8429; siehe auch die Nachweise bei Portner (Fn. 142), 91 Fn. 48. 154 Burghard (Fn. 24), 156 ff., 157, der diese Vorgänge und die späteren Ereignisse dokumentiert. – Kahl hat auch in anderen, ihm wichtigen Fragen sich gegen die Parteimehrheit oder die Führung gestellt, z.B. in der 1915 diskutierten „Einverleibung oder Angliederung selbständiger und an Selbständigkeit gewöhnter Völker“ (Annexion); dazu Schwabe (Fn. 19), 179 und Conze/Matthias (Hrsg.) Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien – Erste Reihe: Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik, Band 5: Von Bassermann zu Stresemann – Die Sitzungen des nationalliberalen Zentralvorstands 1912–1917 (bearbeitet von Reiß) 1967, 200 f., 212 Fn. 16. – Schubert (Fn. 143), XIV, will „alles in allem . . . Kahl zu den bedeutendsten Parlamentariern der Weimarer Republik“ rechnen.

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Wilhelm Kahl, M.d.R.“.155 An diesem Standpunkt hielt er – unbeirrbar – fest, bereit, notfalls die Partei zu verlassen.156 Was er über die Nationalsozialisten dachte, kann man sich bei einem Mann seines Formats vorstellen; er hat es aber in der ihm eigenen Unverblümtheit in einer Sitzung des Reichsausschusses am 2. November 1930 selbst zum Ausdruck gebracht, Bezug nehmend auf einen Bericht in der „Berliner Stimme“; diese hatte zustimmend einen Auftritt von 107 Reichstagsabgeordneten der NSDAP kommentiert, die – aus Protest gegen ein Uniformverbot der preußischen Regierung – zur konstituierenden Sitzung des Reichstags am 13. Oktober 1930 in SA-Uniform erschienen waren und zudem die Sitzungen am 15., 16. und 18. Oktober durch Trillerpfeifen, Drohungen gegen Redner der SPD und durch Sprechchöre gestört hatten. In Kahls Kommentierung ist die Rede „von der Komödie der Tracht, in der die Burschen eingezogen sind, und die wahrhaft ekelerregend war für den, der einiges Gefühl für Würde und Bedeutung eines Deutschen Reichstags hat“; ferner vom „Geist des kleinlichsten Dreinredens . . ., der geradezu unerträglich war . . .“.157 Die Kriegsreden, die Kahl 1914 ff. gehalten hatte,158 weichen nicht ab vom nationalistischen Grundton der Zeit, und was die Allianz der Kriegsgegner zu „bieten“ hatte,159 sollte ebenfalls bedacht sein.160 Wie „ekelerregend“ – für 155

Zur Gründung einer neuen Partei war Kahl nicht bereit; ebenso wenig zum (freiwilligen) Parteiaustritt, würde das doch sein Lebenswerk, die Strafrechtsreform, gefährdet haben; Burghard (Fn. 24), 163 mit Fn. 847. 156 Burghard (Fn. 24), 164. Als bürgerliche Partei müsse man sich – „bei jeder Gelegenheit mit absoluter Schärfe“ – abgrenzen von dem Sozialistischen im Programm der Nationalsozialisten, von dem die DVP sich insoweit noch mehr unterscheide als von der SPD; vgl. ferner Richter Die Deutsche Volkspartei 1918-1933, 2002, 681 Fn. 19: Ein Zusammengehen der DVP mit den Nazis, das 1930 diskutiert wurde, hielt Kahl für „unmöglich“; weitere Beispiele zu seiner unbeirrbaren Haltung, aber auch Loyalität gegenüber der DVP, ebenda, 497, 589, 677, 715 f., 723, 725 und passim; siehe auch 798, 801 zum Ende der DVP. Zu Kahl siehe noch Eb. Schmidt in einem Nachruf in der SJZ 4 (1949) Sp. 442–444, 444, abgedruckt bei Burghard (Fn. 24), 165. Auf Kahls Grabstein steht: „Recht muss Recht bleiben“, so Gräfin von Hardenberg (Fn. 139), 280 Fn. 924. 157 Dass Kahl das Dilemma des vordringenden Chauvinismus sah, zeigt seine Rede Vom Recht zum Kriege, in: Deutsche Reden in schwerer Zeit, 1914–1915, 183; siehe auch Schwabe (Fn. 19), 34 ff., 40 f., sowie 117: er rechnet Kahl zur „gemäßigten Richtung“. 158 Man lese die Vorträge anderer Autoren in „Deutsche Reden in schwerer Zeit“, 3 Bände, 1914–1915, hrsg. von der Zentralstelle für Volkswohlfahrt und dem Verein für volkstümliche Kurse von Berliner Hochschullehrern. 159 Vgl. etwa Hoeres Krieg der Philosophen – Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, 2004, 100 ff. und passim. „In allen kriegführenden Ländern haben nationalistische Einstellungen während des Ersten Weltkrieges eine mehr oder minder weitgehende Verformung der kulturellen Werthaltungen und ästhetischen Ideale bewirkt“; so beginnt Mommsen die Einleitung in den Ertrag eines 1993 veranstalteten Kolloquiums, dessen schriftliche Ausbeute er herausgegeben hat unter dem Titel „Kultur und Krieg – Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg“, 1996; sehr instruktiv insbesondere die Beiträge von Joas (17–29), Gephart (49-63), Krumeich (143–

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das, was folgte, gibt es kein Wort – die Zustände, Haltungen und Handlungen im Deutschen Reich noch werden sollten, von dieser äußersten Erfahrung ist Kahl – man gönnt es diesem wackeren und aufrechten Mann – verschont geblieben. Was ihm nicht „erspart“ blieb, ist die schon erwähnte, zu seinen Ehren ausgerichtete Feier zu seinem 80. Geburtstag. Zu ihr hat er eine Schlussrede beigesteuert,161 in der noch einmal eine Seite des Jubilars aufleuchtet, die viele, die ihn näher kannten, nicht zu erwähnen vergessen, sein Humor und sein Witz.162 Der Beginn dieser Dankesrede des Achtzigjährigen möge die kleine Skizze eines Mannes, der für die FriedrichWilhelms-Universität durch seine Haltung und sein Tun in seiner Eigenart wahrlich Ehre eingelegt hat, beschließen: „Hochansehnliche Versammlung! Nach der Strafprozeßordnung § 257 (heute § 258; Verf.) gebührt dem Angeklagten das letzte Wort. Indem ich davon Gebrauch mache, rechne ich auf Ihrer Aller teilnehmendes Mitgefühl darin, daß ich einer schweren, kaum lösbaren Aufgabe gegenüberstehe. Denn wo sind die Worte, mit denen ich in Minuten erschöpfen könnte, was mich an hundert Empfindungen bewegt? Mir war seit Wochen angst und bang auf diesen Tag wie auf einen Gerichtstag. Denn schon im April erhielt ich eine Drucksache durch die Post, die, als ich sie ahnungslos öffne, zu meinem Schrecken einen Aufruf zu meiner Ehrung am 80. Geburtstag enthielt, unterzeichnet von 66 Männern, hervorragend in Wissenschaft und Wirtschaft, Staat und Kirche, Recht und Politik. Sogar eine Zahlkarte lag bei. In richtiger Einschätzung des Jubilars habe ich davon keinen Gebrauch gemacht. Aber auch von dem für heute geplanten Festmahl war darin schon die Rede. Nun wußte ich, daß ein Verfahren gegen mich eingeleitet sei. Am heutigen Tage waren Hauptverhandlung, Urteilsverkündung und Vollstreckung zugleich. Das alles ist freilich so gütig und durchaus im humanen Geiste des modernen Strafvollzugs verlaufen, 154); vgl. auch Winkler Der lange Weg nach Westen, Band I: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reichs bis zum Untergang der Weimarer Republik5, 2002, 336 ff. 160 Wie Fn. 45, 37 ff. 161 Der hier zit. Teil ist abgedruckt in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 37 f. 162 Wunderlich (Fn. 11), Sp. 700; ferner von Frank (Fn. 43), Sp. 804 und Goldschmidt in: Wilhelm Kahl zum Gedächtnis, 1932, 23, jeweils mit Hinweis auf die von Kahl „der Strafrechtskommission (1911–1913; Verf.) im schönsten Mönchslatein gewidmete Abschieds-Kneipzeitung“. Ebermayer (Fn. 9), 76 ff. berichtet ausführlich von der letzten (283.) Sitzung am 29.9.1913; es folgen (80 ff.) Auszüge aus einem „im klassischen Küchenlatein verfaßten Trinkspruch unseres allverehrten Vorsitzenden Kahl, eine köstliche Verbindung von Geist, Witz und Humor“, vorgetragen schon „beim Schlußmahl am 29. September 1913 . . : In alphabetischer Reihenfolge der Namen bekam jeder von uns etwas ab“. Sodann sind abgedruckt die Verse (jeweils mit deutscher Übersetzung in Fn.) auf Ebermayer, Kahl selbst, Cormann, von Frank, von Hippel und Joël. Die Lektüre dieser Verse ist noch heute ein Vergnügen!

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daß ich keinen Grund habe, ein Rechtsmittel einzulegen. Vor allem möchte ich nicht Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen. Sie würden vielleicht sagen: das könnte Dir gerade passen, wenn sich der ganze Zauber noch einmal abspielte. Nein! Das würde mir nicht passen. Aber einen Einwand habe ich doch zu erheben. Der Beschuldigte ist in keinem entscheidenden Stadium des Vorverfahrens gehört, geschweige denn ordnungsmäßig vernommen worden. Wäre dies geschehen, so hätte er die Leiter des Verfahrens dringend gebeten, ja beschworen, von einer Feier in solchen Ausmaßen abzusehen. Denn ich stehe unter dem bedrückenden, ja beschämenden Eindruck, daß ich weit über Verdienst und Würdigkeit vom frühen Morgen bis zum späten Abend geehrt worden bin . . .“.

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Franz von Liszt (1851–1919) Franz von Liszt als Strafrechtsdogmatiker und Kriminalpolitiker* FRANCISCO MUÑOZ CONDE I. Am 21.6.1919 ist Franz von Liszt (1851–1919) in Seeheim gestorben. Heute, 90 Jahre nach seinem Tod, ist er immer noch der bekannteste Rechtswissenschaftler der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin aus der Zeit der Jahrhundertwende.1 Seine Lehren waren und sind, nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern, sehr einflussreich. Die einschlägige Literatur über ihn ist umfangreich und es ist kaum möglich, sie in dem begrenzten Rahmen eines Aufsatzes vollständig zu berücksichtigen.2 Die Lehren von Liszts haben während seines Lebens wie auch später * Die vorliegende Arbeit ist Teil einer Untersuchung über Franz von Liszt, die der Verfasser während des Sommersemesters 2009 an der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen einer von der Alexander von Humboldt-Stiftung finanzierten Wiederaufnahme des Humboldtpreisträgers durchgeführt hat. Ich danke Herrn Prof. Dr. Gerhard Werle und Herrn Dr. Moritz Vormbaum recht herzlich für die freundliche Unterstützung bei der Anfertigung des Textes. 1 Sein bekanntestes Werk war seinerzeit das Lehrbuch des deutschen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 1881, 21./22. Auflage 1919, das damals in mehreren Sprachen (z.B. ins Spanische von Quintiliano Saldaña und Luis Jimenez de Asua) übersetzt und von Eberhard Schmidt (25. Auflage 1927) fortgeführt wurde. Ein weiteres zentrales Werk von Liszts ist sein Lehrbuch zum Völkerrecht (Das Völkerrecht. Systematisch dargestellt, 1898, 9. Auflage 1918), das jahrzehntelang als ein Standardwerk dieses Faches galt (die von Dr. Fleischmann bearbeitete 12. Auflage wurde ins Spanische von Domingo Miralles übersetzt, 1929). Zu seinen ersten Werken gehören zwei strafprozessuale Abhandlungen, die Teile seiner Dissertation waren: von Liszt Meineid und falsches Zeugnis, 1876, und ders. Die falsche Aussage vor Gericht und öffentlichen Behörden nach deutschem und österreichischem Recht, 1877. Seine sonstigen strafrechtsdogmatischen und kriminalpolitischen Vorträge und Aufsätze wurden noch zu Lebzeiten in zwei Bänden veröffentlicht, vgl. von Liszt Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Band I und II, 1905, hier nach dem Neudruck von 1970 zitiert. 2 Über den Einfluss von Liszts auf die deutsche und die internationale Strafrechtswissenschaft, siehe vor allem das Gedächtnisheft für Franz von Liszt zu seinem 50. Todestag, ZStW 81 (1969), mit Beiträgen von Eb. Schmidt, Lange, Heinitz, Bockelmann, Roxin, Sieverts (Deutschland), Moos (Österreich), Jiménez de Asua (Spanien/Argentina), Ranieri (Italien), Correia (Portugal), Novoa Monreal (Chile), Zlataric (Croatien), Schultz (Schweiz), Kempe (Holland) und Nelson (Schweden). In Band 94, 1982 der ZStW, der dem 100jährigen Jubiläum des Marburger Programms gewidmet ist, finden sich Beiträge von Naucke, Frisch, Müller-Dietz, Liebscher und Schöch. Zur weiteren deutschen Literatur über von Liszt siehe

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Beifall und Zustimmung gefunden. Aber gleichzeitig sind sie auch kritisch gewürdigt und manchmal als der Anfang einer politischen Funktionalisierung des Strafrechts bezeichnet worden, die über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis zum heutigen „Feindstrafecht“ reicht. Das Lisztsche Verständnis der Strafrechtswissenschaft als einer „gesamten“ Strafrechtswissenschaft,3 in die nicht nur die Strafrechtsdogmatik, sonSchwarzschild Franz von Liszt als Strafrechtsdogmatiker, 1933; von Wedel Franz von Liszts geschichtliche Bedeutung als Überwinder des Positivismus, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 1933, 324 ff.; Baumgarten Die Lisztsche Strafrechtsschule und ihre Bedeutung für die Gegenwart, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 1937, 8 ff.; Georgakis Geistesgeschichtliche Studien zur Kriminalpolitik und Dogmatik Franz von Liszts, Leipziger rechtswissenschaftliche Studien, Heft 123, 1940; Eb. Schmidt Anselm von Feuerbach und Franz von Liszt, Monatschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform, 33. Jahrgang, 1942, 205 ff.; Simson Franz von Liszt und die schwedische Kriminalpolitik, FS Schlyter, 1949, 308 ff.; Radbruch Franz von Liszt – Anlage und Umwelt, Elegantiae Iuris Criminalis2, 1950 (auch in Radbruch Gesamtausgabe 16, Biographische Schriften bearbeitet von Spendel, 1988, 25–48); Eb. Schmidt Franz von Liszt und die heutige Problematik des Strafrechts, FS von Gierke, 1950, 201 ff.; Eb. Schmidt Franz von Liszt, in: Heintel/Heuss/Reiffenberg (Hrsg.) Die grossen Deutschen, Band 5, 1956, Nachdruck 1983, 407 ff.; Renneberg Die kriminalsoziologischen und kriminalbiologischen Lehren und Strafrechtsreformvorschläge Liszts und die Zerstörung der Gesetzlichkeit im bürgerlichen Strafrecht, 1956; Ostendorf Von der Rache zur Zweckstrafe – 100 Jahre „Marburger Programm“ von Franz von Liszt (1882), 1982; Jescheck Die Freiheitsstrafe bei Franz von Liszt im Licht der modernen Kriminalpolitik, FS Klug II, 1983, 257 ff.; Müller-Dietz Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert von P.J.A. Feuerbach bis Franz von Liszt, 1984; Liszt der Vernunft, Kriminalsoziologische Bibliografie, 1984, 49, FET 42, mit Beiträgen von Ostendorf, Frommel, Baurmann, Leschkas und Ewald; Frommel Franz von Liszt, Neue Deutsche Bibliographie (NBD), Bayerische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Band 14; dies. Präventionsmodelle in der deutschen Strafrechtsdiskussion, 1987, 83–97; Merkel Franz von Liszt und Karl Krauss, ZStW 105 (1993) 871 ff.; Bohnert Zu Straftheorie und Staatsverständnis in Schulenstreit der Jahrhundertwende, 1992; Ehret Franz von Liszt und das Gesetzlichkeitsprinzip: zugleich ein Beitrag wider die Gleichsetzung von Magna-Charta-Formel und Nullum-Crimen-Grundsatz, 1996; Köhler Einführung zu Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, Neudruck 2002; Lang Der Zweckgedanke im Strafrecht, Das Marburger Programm Franz von Liszts, Seine Bedeutung als Straftheorie und Strafvollzugsziel, in: Politische Strafjustiz und politische Betätigung in Deutschland, 1999, 13 ff.; Wetzell Inventing the Criminal. A History of German Criminology, 2000, 33–38; Kubink Strafe und ihre Alternative im zeitlichen Wandel, 2002 (Kapitel 1); Koch Binding vs. Liszt – Klassische und moderne Strafrechtsschule, in: Hilgendorf/Weitzel (Hrsg.) Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung. Ringvorlesung zur Strafrechtsgeschichte und Strafrechtsphilosophie, 2007, 127 ff.; Schmidt-Recla/Steinberg Eine publizistische Debatte als Geburtsstunde des „Marburger Programms“, ZStW 119 (2007) 195–213; Germann Zweispurige Verbrechensbekämpfung, Kriminalpolitik und Gesetzgebung im transnationalen Diskurs: Franz von Liszt, die schweizerische Strafrechtsreform und die Zweispürigkeit von Strafen und Maßregeln, Zeitschrift des MPI für europäische Rechtsgeschichte, 14, 2009, 84 ff. Vgl. auch die allgemeine Darstellung bei Eb. Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege3, 1965, 357–386; Vormbaum Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2009, 123–135. 3 So auch der Titel der von Dochow und von Liszt im Jahre 1881 gegründeten Zeitschrift, die heute als eine der bekanntesten deutschen Zeitschriften im Bereich der Strafrechtsdogmatik gilt: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, ZStW.

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dern auch die Kriminalpolitik und die Kriminologie mit einbezogen sind, haben den Verdacht erweckt, dass das Strafrecht als ein Mittel zur Durchsetzung kriminalpolitischer Ziele ohne staatsrechtliche Grenzen benutzt werden kann.4 Sogar seine am meisten zitierten Sätze: „Das Strafrecht ist die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik“, „das Strafgesetzbuch die Magna Charta des Verbrechers“ oder „das Bollwerk des Staatsbürgers gegenüber der staatlichen Allgewalt, gegenüber der rücksichtslosen Macht der Mehrheit, gegenüber dem ‚Leviathan‘“,5 werden heute als der Ursprung eines doppelten Verständnisses des Strafrechts verstanden:6 – Ein Strafrecht, das als ein „Bürgerstrafrecht“ mit allen seinen staatsrechtlichen Garantien für den normalen Bürger gilt, der einmal oder gelegentlich in seinem Leben eine Straftat begeht oder einer solchen beschuldigt wird. – Ein anderes Strafrecht, das demgegenüber als ein Strafrecht „anderer Art“ für rückfällige, „unverbesserliche“ Straftäter zu verstehen ist, die mit aller Härte zu einer lebenslangen Sicherungsstrafe verurteilt werden müssen, um sie „unschädlich“ zu machen. Ein Strafrecht also, das keine „unübersteigbare Schranke“ dieser Kriminalpolitik, sondern nur ein Instrument zu ihrer Durchsetzung sein sollte. Um diesen Widerspruch erklären zu können, muss man zwischen Franz von Liszt als Strafrechtsdogmatiker und Franz von Liszt als Kriminalpolitiker unterscheiden.7

II. Als Strafrechtsdogmatiker war Franz von Liszt vor allem ein scharfsinniger Systematiker, der aus den besonderen Begriffen (das heißt, aus den im Besonderen Teil enthaltenen Straftaten wie Mord, Diebstahl oder Unterschlagung) im Wege der Abstraktion allgemeine Begriffe wie den Begriff des Verbrechens entwickelte. Die Grundlage dieses Systems war der Handlungsbegriff, verstanden als Körperbewegung, die durch die Kausalität mit 4

Vgl. z.B. von Liszt Die Aufgaben und die Methode der Strafrechtswissenschaft, Antrittsvorlesung, gehalten am 27. Oktober 1899 an der Berliner Universität, in: ders. Strafrechtliche Vorträge (Fn. 1), 284 ff. 5 Von Liszt Ueber den Einfluss der soziologischen und anthropologischen Forschungen auf die Grundbegriffe des Strafrechts, Gutachten für die Allg. Versammlung der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung 1893; Mitteilungen, Band IV, in: ders. Strafrechtliche Vorträge (Fn. 1), 77. 6 Zu diesem doppelten Verständnis der Aufgaben des Strafrechts bei von Liszt vgl. Vormbaum (Fn. 2), 131. 7 Ich werde mich hier nicht auf sein Werk als Mitgründer der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung, als Völkerrechtler und als Politiker beziehen. Zum Letzten siehe Ostendorf in: Liszt der Vernunft (Fn. 2), 2–10. Zur Biographie siehe Moos (Fn. 2).

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einer Veränderung der Außenwelt (Erfolg) verbunden ist, und der Begriff des Rechtsgutes als Grundlage für das System des Besonderen Teils.8 Auf dieser Basis baute von Liszt ein klassifikatorisches System auf, das eine Folge der strengen Trennung zwischen der objektiven und subjektiven Seite des Verbrechens war, die dem Unterschied zwischen Unrecht und Schuld entsprach, die Rudolph von Jhering schon im Bereich des Zivilrechts eingeführt hatte.9 Während das Objektive dem Unrecht zugeordnet wurde, sollte das Subjektive, d.h. die psychische Beziehung des Täters zu seiner Tat sowie die Zurechnungsfähigkeit, in der Schuld systematisch einen Platz finden. Aus der Unfruchtbarkeit der Diskussion über die Willensfreiheit (von Liszt war ein Determinist), entwickelte von Liszt eine Schuldlehre, die das Problem der Willensfreiheit aus dem Spiel ließ und damit eine gemeinsame Basis sowohl für die Deterministen als auch für Indeterministen schaffen sollte. Nach von Liszts Auffassung war die Schuld nur die psychische Beziehung zwischen dem Täter und seiner Tat.10 Ideologisch stand diese Schuldlehre mit den damals herrschenden psychologischen Lehren in Einklang.11 Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts vom naturalistischen Denken geprägte Psychologie war vor allem rein deskriptive auf messbare psychische Gegebenheiten bezogen. Dementsprechend entwickelte von Liszt eine Schuldlehre, der nur eine quantitative subjektive Beziehung zwischen dem Täter und seiner Tat zugrunde lag. Diese subjektive Beziehung war entweder vorsätzlich, wenn der Täter den Taterfolg wollte oder ihn mindestens in Kauf nahm, oder fahrlässig, wenn der Täter den Taterfolg zwar nicht wollte, aber ihn aus Gleichgültigkeit oder Nichtwissen herbeiführte. Vorsatz und Fahrlässigkeit waren also die zwei Schuldarten. Den Ausschluss der Erfolgshaftung sah man als eine notwendige Folge dieser psychologischen Schuldlehre, weil es dabei keine psychische Beziehung zwischen dem Täter und seiner von ihm herbeigeführten rechtswidrigen Tat gab. Dieser psychologische Schuldbegriff wurde bald darauf von Gustav Radbruch, einem Schüler von Liszts, kritisiert. Er bezeichnete die Fahrlässigkeit als „verschämte Zufallshaftung“.12 Die Fahrlässigkeit passte nach Radbruch nicht zu einer psychologischen Schuldauffassung, da sie „nicht nur wirklicher Seelenzustand, sondern auch eine Abweichung dieses wirklichen Seelenzustandes vom normalen, richtigen ist“.13 8 Vgl. von Liszt Rechtsgut und Handlungsbegriff, in: ders. Strafrechtliche Aufsätze (Fn. 1), Band I, 215. 9 Siehe von Jhering Das Schuldmoment im römischen Privatrecht, 1867. 10 Von Liszt Lehrbuch des deutschen Strafrechts21/22, 1919, 151 ff. 11 Vgl. von Liszt Lehrbuch des deutschen Strafrechts26, weitergeführt von Eb. Schmidt, 1932, 228. 12 Radbruch Aussetzung, in: von Liszt u.a. (Hrsg.) Vergleichende Darstellung, Bes. Teil Band V, 1905, 201, Fn. 2. 13 Radbruch Über den Schuldbegriff, ZStW 24 (1902) 345.

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Wie dem auch sein mag, diese Kritik Radbruchs, die spätere Entwicklung der Schuldlehre auf der Basis der normativen Wende der Strafrechtswissenschaft,14 die Entdeckung der subjektiven Unrechtselemente und die Einordnung des Vorsatzes in den Tatbestand, haben die durch von Liszt vorgeschlagene Verbrechenssystematik in den Schatten gestellt, so dass sie heute praktisch von niemandem mehr vertreten wird und höchstens noch eine historische Bedeutung für die gegenwärtige Systematik der Verbrechenslehre hat. Jedoch kann man heute nicht bestreiten, dass die um die Jahrhundertwende und am Anfang des 20. Jahrhunderts durch von Liszt und Beling aufgebaute Verbrechenslehre einen Grundpfeiler des gegenwärtigen in Deutschland herrschenden Verbrechensaufbaues darstellte. Das wird heute immer noch als ein großes Verdienst Franz von Liszts als Strafrechtsdogmatiker betrachtet.15

III. Eine größere Bedeutung hatte und hat Franz von Liszts jedoch als Kriminalpolitiker. In diesem Zusammenhang ist der größte Verdienst Franz von Liszts, das unter dem Einfluss der klassischen Schule stehende vergeltende Strafrecht durch eine am Zweckgedanken orientierte präventive Auffassung der Strafe zu ersetzen. Nach von Liszt ist eine Strafe nur anzuwenden, wenn sie notwendig und zweckmäßig ist. Dementsprechend schlug von Liszt die Beseitigung der kurzfristigen Freiheitsstrafen, die Einführung der bedingten Verurteilung und die Ausweitung des Anwendungsbereiches der Geldstrafe und viele andere an der Besserung des besserungsbedürftigen Täters orientierte positive spezialpräventive Maßnahmen vor.16 Aber auf der anderen Seite forderte von Liszt auch eine negative spezialpräventive Sicherungsstrafe von unbestimmter Dauer, die die „Unschädlichmachung“ der sog. Unverbesserlichen als Zweck hatte.17 Um diesen, den ursprünglichen Forderungen von Liszts widersprechenden Zweck zu erreichen, sprach er der Gefängnisstrafe eine dreifache Funktion zu:

14 Siehe Frank Über den Aufbau des Schuldbegriffs, 1907, Neudruck 2009, mit einer Einführung von Hans Joachim Hirsch, der die Entwicklung vom normativen Schuldbegriff zum Schuldbegriff der finalen Handlungslehre sehr gut beschreibt. 15 Vgl. Jescheck Lehrbuch4, 181; Roxin AT I4, 241, die das von von Liszt und Beling gegründete Verbrechenssystem das „klassische Verbrechenssystem“ nennen. 16 Siehe von Liszt Kriminalpolitische Aufgabe, in: ders. Strafrechtliche Vorträge (Fn. 1), Band I, 290 ff.; ders. Die Reform der Freiheitsstrafe, in: ders. Strafrechtliche Vorträge (Fn. 1), 511 ff. 17 Von Liszt Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ders. Strafrechtliche Vorträge (Fn. 1), Band I, 166 ff.

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1. Besserung von Straftätern, die besserungsbedürftig und besserungsfähig sind; 2. schlichte Abschreckung der nicht Besserungsbedürftigen; 3. Unschädlichmachung der Straftäter, die nicht besserungsfähig sind.18 Es muss wohl kaum erwähnt werden, dass von Liszts Hauptsorge, ebenso wie diejenige vieler Strafrechtler jener Zeit, besonders derjenigen, die von der positivistischen Kriminologie Lombrosos beeinflusst waren, dem angeblich unverbesserlichen Täter galt. Im Hinblick auf diesen sagte er in seinem berühmten „Marburger“ Programm Folgendes: „Der Kampf gegen das Gewohnheitsverbrechertum setzt genaue Kenntnis desselben voraus. Diese fehlt uns noch heute. Handelt es sich doch um ein Glied, allerdings um das bedeutendste und gefährlichste, in jener Kette von sozialen Krankheitserscheinungen, welche wir unter dem Gesamtnamen des Proletariats zusammenzufassen pflegen. Bettler und Vagabunden, Prostituierte beiderlei Geschlechts und Alkoholisten, Gauner und Halbweltsmenschen im weitesten Sinne, geistig und körperlich Degenerierte – sie alle bilden das Heer der grundsätzlichen Gegner der Gesellschaftsordnung, als dessen Generalstab die Gewohnheitsverbrecher erscheinen.“19 Diese Besorgnis hinsichtlich der Landstreicher und des Gesindels, hinsichtlich der „sozial Gefährlichen“, hinsichtlich der Asozialen im Allgemeinen und viel mehr noch hinsichtlich derjenigen, die gewohnheitsmäßig Delikte begehen, war typisch für einen Strafrechtler, der in der disziplinierten und wohlhabenden deutschen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts lebte, mitten in ökonomischer Expansion und preußischer Politik, in einem Deutschland, das zum ersten Mal zu einer einheitlichen Nation unter diesem Namen geworden war und um eine Vorrangstellung unter den Weltmächten jener Zeit, hauptsächlich England und Frankreich, kämpfte. Die Vereinigten Staaten hatten noch nicht ihre wahre Macht gezeigt; und Spanien, das 1898 im Krieg gegen eben diese Vereinigten Staaten seine letzten Kolonien verlo18

Diese dreifache Funktion der Strafe, die zugleich mit einer Klassifikation der Straftäter in solche, die der Besserung zugänglich sind, solche, die gelegentlich keiner Besserung bedürfen, und in Unverbesserliche einhergeht, formulierte von Liszt in seinem Programm der Universität Marburg im Jahre 1882, veröffentlicht als Artikel in ZStW 3 unter dem Titel „Der Zweckgedanke im Strafrecht“ und danach in: ders. Strafrechtliche Vorträge (Fn. 1), Band I, 126 ff. Es existiert eine spanische Übersetzung von Enrique Aimone Gibson, mit einem Vorwort von Manuel de Rivacoba, 1984 unter dem Titel „La idea de fin en el Derecho penal” sowie eine weitere Übersetzung von Carlos Pérez del Valle mit Vorwort von José Miguel Zugaldía Espinar, 1990. Eine italienische Übersetzung von Alessandro Alberto Calvi wurde unter dem Titel „La teoría dello scopo nel Diritto penale“, 1962, herausgegeben. 19 Von Liszt (Fn. 17), 167.

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ren hatte, zählte schon seit langer Zeit nicht mehr als echte Macht. In Übereinstimung mit der zu dieser Zeit, und zwar nicht nur in Deutschland, herrschenden Mentalität spiegelte sich logischerweise die Sorge um die sozialen Randbereiche und um die Kriminalität, insbesondere die mit der Industrialisierung und dem Wachstum der städtischen Bevölkerung enorm angestiegene gewohnheitsmäßige Kriminalität, im juristischen Bereich grundlegend in der Befürwortung von repressiven Maßnahmen rein strafenden Charakters wider, und jedenfalls in der Zunahme von polizeilicher Kontrolle der wirtschaftlich schwächsten und deshalb eher zur Begehung von Verbrechen geneigten Bevölkerungsschichten, was gleichzeitig mit wissenschaftlichen Theorien untermauert wurde, die von „geborenen Verbrechern“, „defizitären, lebensunwerten Personen“, „minderwertiger Rasse“, „Untermenschen“ sprachen und kaum die sozialen und wirtschaftlichen Gründe des genannten Problems hinterfragten. Der Asoziale und der Gewohnheitsverbrecher waren die „anderen“, die sozial Störenden, der Besserung oder Korrektur Unzugänglichen, unter anderem, weil ihre Asozialität oft auf angeborene Defekte zurückzuführen war, auf Erbkrankheiten, die durch Sterilisierung oder einfach durch die physische Vernichtung ihrer Träger aus der Gesellschaft entfernt werden mussten. Über ihre Resozialisierung und über Besserung redete man noch nicht einmal, weil man von sehr rudimentären Ermittlungsmethoden ausging, die grundlegend auf der Rückfälligkeit beruhten, wonach es sich um „unverbesserliche“ Personen handelte, unwiederbringlich dem gesellschaftlichen Leben abhanden gekommen. Der einzige Ausweg, um die Gesellschaft, die soziale Ordnung, vor diesen Personen zu schützen, war also ihre „Unschädlichmachung“. Dementsprechend beschrieb von Liszt die Art und Weise, wie nach seiner Meinung mit solchen Personen umgegangen werden soll, auf folgende Weise: „Die Strafe wird in besonderen Anstalten (Zucht- oder Arbeitshäusern) in Gemeinschaft verbüsst. Sie besteht in ‚Strafknechtschaft‘ mit strengstem Arbeitszwang und möglichster Ausnützung der Arbeitskraft; als Disziplinarstrafe wäre die Prügelstrafe kaum zu entbehren; obligatorischer und dauernder Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte müsste den unbedingt entehrenden Charakter der Strafe scharf kennzeichnen. Einzelhaft hätte nur als Disziplinarstrafe, verbunden mit Dunkelarrest und strengstem Fasten, einzutreten“.20 Noch härter sind die Worte, die von Liszt den Unverbesserlichen schon vor der Veröffentlichung des Marburger Programms in einem Brief an Dochow 1880 widmete:

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„Sicherungshaft für Gewohnheitsverbrecher: Arbeitshaus mit militärischer Strenge ohne Federlesen und so billig wie möglich, wenn auch die Kerle zugrunde gehen. Prügelstrafe unerlässlich [. . .]. Der Gewohnheitsverbrecher (der Begriff ist nicht ganz unser technischer: ich meine den prinzipiellen Gegner der Rechtsordnung) muss unschädlich gemacht werden, und zwar auf seine Kosten und nicht auf die unseren. Ihm Nahrung, Luft, Bewegung usw. nach rationellen Grundsätzen zuzumessen, ist Missbrauch der Steuerzahler.“21 Hinzugefügt werden muss, dass von Liszt damals „mindestens“ die Hälfte der Strafanstaltinsassen für unverbesserlich hielt.22 Waren die Unverbesserlichen mit der Sicherungsstrafe erst einmal unschädlich gemacht, war die Todesstrafe für ihn kein Thema: „Die Todesstrafe scheint mir entbehrlich, sobald die Unverbesserlichen unschädlich gemacht sind“.23 Mit dem folgenden Satz drückt von Liszt diesen Gedanken noch deutlicher aus: „Da wir köpfen und hängen nicht wollen und deportieren nicht können, so bleibt nur die Einsperrung auf Lebenszeit (bzw. auf unbestimmte Zeit).“24 Das bedeutet nicht, dass Franz von Liszt, wie manchmal gesagt wird, gegen die Todesstrafe war. Die Todesstrafe war für ihn nur eine politische, keine humanitäre Frage: „Die letzte Entscheidung muss den politisch massgebenden Faktoren vorbehalten werden [. . .]. Ihre Beibehaltung wird gebilligt werden bei all denjenigen, für welche politische Erwägungen mehr Wert haben als vom Hauchen des Ideals berührte, aber auch angekränkelte humanitäre Ideen“.25

21 Aus einem Brief von Liszts an Dochow, vom 21. November 1880, zitiert bei Radbruch (Fn. 2), 229, (auch in Radbruch Biographische Schriften (Fn. 2), 45). 22 Von Liszt (Fn. 17), 168/169: „Diese Ziffern (sc. der preussischen Statistik) beweisen, dass mindestens die Hälfte aller jener Personen, welche Jahr aus, Jahr ein unsere Strafanstalten bevölkern, unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher sind“. 23 Von Liszt (Fn. 17), 173. 24 Von Liszt (Fn. 17), 169. 25 Von Liszt Bemerkungen zum Entwurfe des Allgemeinen Teiles eines Strafgesetzbuches für Russland, in: ders. Strafrechtliche Vorträge (Fn. 1), Band II, 182 f.

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IV. Diese Zitate von Liszts in Bezug auf die sog. Unverbesserlichen werfen Fragen auf: Wie kann man erklären, dass derselbe Kriminalpolitiker einerseits eine Reduzierung der Freiheitsstrafe und ihre Ersetzung durch Geldstrafe und bedingte Verurteilung für die Besserungsfähigen vorschlug, aber andererseits die sog. Unverbesserlichen mit einer Sicherungsstrafe auf Lebenszeit unschädlich machen wollte? Gab es in derselben Person eine gleichzeitig positive und negative Seite, die einerseits Licht und anderseits Schatten wirft, ähnlich wie bei „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“? Gustav Radbruch versuchte, diesen Widerspruch zu erklären, indem er in einer kurzen Biographie seines Lehrers dessen jüngere Jahre, in denen er „solche Äusserungen, die heute wohl kaum jemand mehr billigen wird“ tätigte, den späteren „reifen und gütigen“ Äusserungen gegenüberstellte.26 Allerdings bezog er sich dabei nur auf die Zurechnungsunfähigen und nicht auf andere „Unverbesserliche“. Aber unabhängig von dieser personellen Evolution von Liszts, die nicht erklärt, warum er niemals auf seine Lehre der „Unschädlichmachung der Unverbesserlichen“ verzichtete,27 liegt der Widerspruch zwischen einer in der Tat begründeten Strafrechtsdogmatik und einer am Täter orientierten Kriminalpolitik vor allem in der methodologische Trennung, die Liszt zwischen der Tat als Voraussetzung der Strafe und dem Täter als Gegenstand des Strafmaßes machte. Im Mittelpunkt des Strafrechts stand freilich die Tat, die das auf den Grundsatz „nullum crimen sine lege“ basierte Strafrecht zu „einer unübersteigbaren Schranke der Kriminalpolitik“ machte. Das bedeutet für von Liszt, dass nur eine im Gesetz als Delikt definierte Tat eine Strafe als Reaktion auslösen konnte. Im Bereich des Strafmaßes war für ihn aber der Täter entscheidend, für dessen Behandlung er der Gefängnisstrafe die oben genannte dreifache Funktion zusprach: Abschreckung der Gelegenheitstäter, Besserung der Besserungsfähigen, Unschädlichmachung der Unverbesserlichen. Hier ist das Strafrecht keine „unübersteigbare Schranke“ der Kriminalpolitik, sondern nur ein Mittel zur Durchsetzung kriminalpolitischer Zwecke und als solches ein grenzenloses Mittel. Das führt unmittel26

Vgl. Radbruch Biographische Schriften (Fn. 2), 45 f. Radbruch Biographische Schriften (Fn. 2), 45 f. weist auf ein anderes Zitat von Liszts von 1896 (Die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit, in: ders. Strafrechtliche Vorträge [Fn. 1], Band II, 229) hin, in dem er für die Sicherungsverwahrung der Unverbesserlichen den „Geist wohlwollender Milde, fürsorgender Pflege“ verlangt. Aber von Liszt bezieht sich in diesem Aufsatz nur auf die Geisteskranken. Auf Unschädlichmachung hat er indes nie ausdrücklich verzichtet. 27

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bar zu einem Täterstrafrecht, in dem nicht die Tat, sondern der Täter entscheidend ist. Und da der Täter der Unverbesserliche ist und normalerweise aus der Welt des von ihm genannten „Proletariats“ stammt („Bettler und Vagabunden, Prostituierte beiderlei Geschlechts und Alkoholisten, Gauner und Halbweltsmenschen im weitesten Sinne, geistig und körperlich Degenerierte [. . .] Gewohnheitsverbrecher“28), ist klar, dass diese Konzeption des Strafmaßes, worauf manche Kritiker schon hingewiesen haben,29 das Strafrecht zu einem „Klassenstrafrecht“ umwandeln und zur „Zerstörung“ des fundamentalsten Grundsatzes des Strafrechts des Rechtsstaates, nämlich des Gesetzlichkeitsgrundsatzes, führen kann.30 Die Gefahr ist dann die Entstehung von zwei Strafrechten: – Ein Strafrecht mit allen seinen staatsrechtlichen Garantien für den normalen Bürger, der gelegentlich eine Straftat begeht, und – ein Strafrecht ohne Grenze und ohne Garantie, eine reine Strafgewalt, für das von ihm sogenannte Proletariat des Verbrechertums (Gewohnheitsverbrecher) oder auch für Außenseiter, die sogar keine Straftat begangen haben müssen, aber als „Gefährder“ betrachtet werden. Inwiefern diese Gedanken das Strafrecht des Nationalsozialismus und das modernere „Feindstrafrecht“ beeinflusst haben, werden wir später noch sehen. V. Es ist offensichtlich, dass von Liszts Auffassung keine war, die zu jener Zeit ausschließlich von ihm vertreten wurde. Sowohl in der Medizin (Kraepelin) als auch in der Biologie (Darwin, Galton) sowie in der gerade aufgekommenen Kriminologie (Lombroso, Ferri), die sich beider Wissenschaften bediente, vertraten die jeweiligen Hauptvertreter ähnliche Thesen. Überall sprach man von „Eugenik“, von „Sterilisierung“ der geistig Behinderten und 28

Von Liszt (Fn. 17), 167. Diese Kritik kommt vor allem aus den Reihen der Strafrechtler der DDR wie Renneberg (Fn. 2); Jelowick Die Geschichte der imperialistischen Strafrechtsreform in Deutschland als Ausdruck der Perspektivlosigkeit des imperialistischen Systems, 1979; dies. Zur Geschichte der Strafrechtsreform in der Weimarer Republik, 1983; Lekschas/Ewald Die Widersprüchlichkeit des liszt’schen Konzepts vom Strafrecht und ihre historisch-materialistische Erklärung, in: Liszt der Vernunft (Fn. 2), 80–96; Ewald Theoretische Probleme und Ideologie des Tatstrafrechts im imperialistischen Deutschland, Dissertationsschrift A, 1983; ders. Die Notwendigkeit vertiefter Kritik der Auffassungen des Franz Eduard von Liszt zu Verbrechen und Strafrecht, Staat und Recht 6/83, 462 ff. Dazu Naucke Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2000, 259–260. 30 In diesem Sinne schon der Titel der Abhandlung von Renneberg Die kriminalsoziologischen und kriminalbiologischen Lehren und Strafrechtsreformvorschläge Liszts und die Zerstörung der Gesetzlichkeit im bürgerlichen Strafrecht (Fn. 2). 29

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der Träger von Erbkrankheiten. Dabei darf man nicht vergessen, dass schon zur Zeit, in der von Liszt sein Marburger Programm schrieb, der Reichsgerichtsrat Otto Mittelstadt in seiner Schrift „Gegen die Freiheitsstrafe“ statt einer spezialpräventiven an der Besserung des Täters orientierten Freiheitsstrafe strafverschärfende Mittel wie Todesstrafe, Zwangsarbeit, Hungerstrafe usw. verlangte.31 Und nicht weniger hart waren die Worte, die der andere große deutsche Strafrechtler des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Karl Binding, diesem Problem widmete. Es ist bekannt, dass Binding kein Anhänger der unbestimmten Strafe war, die von Liszt für die Gewohnheitsverbrecher vorschlug. Als besonderer Vertreter eines Vergeltungsstrafrechts, eines Konzepts der Strafe, frei von jedem präventivem Zweck, wies er es mit folgenden Worten zurück, dass diese auf das Niveau einer reinen Sicherungsmaßregel herabgewürdigt würde: „Unbedingt lehne ich ab die Herabwürdigung der Strafe zur polizeilichen Sicherungsmaßregel. Sie ist etwas Anderes, Höheres, Edleres!“ Allerdings könne man die Strafe für „verbrecherische Hartnäckigkeit“ schärfen, um so die „Sippschaft“ unschädlich zu machen. Man könne etwa die Rückfallstrafe steigern, „eventuell bis zur Todes- oder Freiheitsstrafe auf Lebenszeit“.32 Wie man sieht, liegen die Unterschiede zwischen beiden Autoren, die den berühmten „Schulenstreit“ heraufbeschworen, eher beim Namen als beim Inhalt. Das, was von Liszt mit seiner Tätertypologie vorhatte, war die „Unschädlichmachung“ der Unverbesserlichen; das, was Binding mit seinem retributiven Strafrecht vertrat, war genau das gleiche, jedoch griff Binding statt einer polizeilichen Maßnahme auf die Schwere der Strafe zurück, indem er die heftigste strafrechtliche Reaktion (lebenslange Freiheitsstrafe oder sogar Todesstrafe) mit der Schwere der Schuld des Täters oder mit abstrakten Ideen der Redlichkeit und mit Übertreibung des Strafkonzeptes begründete. Aber das Ziel ist letztlich bei beiden Autoren das gleiche und im Übrigen sehr deutlich.33 Das hob von Liszt mit besonderer Klarheit vom ersten Moment an hervor: 31

Auch der Psychiater Emil Kraepelin entwickelte eine Besserungstheorie, die den Straftäter als Kranken ansah und nach der der Besserungsunfähige auf Lebenszeit interniert oder deportiert werden sollte. Zu Mittelstadt und Kraepelin siehe Vormbaum (Fn. 2), 123 f. Zu Emil Kraepelin und seinen Beziehungen zu Franz von Liszt, siehe SchmidtRecla/Steinberg (Fn. 2). 32 Binding in dem Vorwort zu seinem Grundriss des Strafrechts, AT, 1906. Über Binding und den sog. „Schulenstreit“, Frommel Präventionsmodelle (Fn. 2), 42 ff.; Kögler Die zeitliche Unbestimmtheit der freiheitsentziehenden Sanktionen des Strafrechts, 1988; Bohnert (Fn. 2); Koch (Fn. 2); Kubink (Fn. 2). Siehe auch die allgemeine Darstellung bei Vormbaum (Fn. 2), 137, 140. 33 Schon Radbruch (Fn. 2), 225 sagte: „Des Gemeinsamen sei zwischen ihnen (sc. von Liszt und Binding) vielmehr als des Trennenden“.

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„Dabei soll es uns auf den Namen nicht ankommen, den man dem Kinde geben will. Das ist ja die liebenswürdige Seite in dem Verfahren unserer Gegner, dass sie zufrieden sind, wenn die alterswürdigen Etiketten geschont werden. In der ‚Bestrafung‘ des Gewohnheitsverbrechers darf das ‚Gleichmaß zwischen Schuld und Sühne‘ nicht überschritten werden; aber gegen lebenslange oder doch langwierige ‚Sicherheitsmaßregeln‘ nach verbüßter Strafe haben die Gegner nichts einzuwenden. Zwei Jahre Gefängnis gegen den unverbesserlichen Landstreicher gestattet die ‚vergeltende‘ Gerechtigkeit nicht; aber fünf Jahre des wesentlich empfindlicheren Arbeitshauses würden uns die Gegner wohl zugestehen. Lasst es uns also Sicherungsmassregel und Arbeitshaus nennen; lasst uns nehmen, was wir bekommen können“.34 Angesichts dieser Worte von Liszts ist die von antiliberalen Autoren ausgeübte Kritik möglicherweise nicht ungerechtfertigt, wonach die moderne Schule (von Liszt) dieselben weltanschaulichen Bindungen verrate die auch die klassische Schule (Binding) prägten, und dass eine konsequente Verwirklichung der Sicherungs- und Besserungsstrafe der modernen Schule Ergebnisse zeige, die mit liberalem Ideengut unverträglich sein. Im Grunde genommen wollten beide Tendenzen auf unterschiedlichem Wege denselben Zweck erreichen; einen Zweck, den Klaus Marxen mit Recht als „Kampf gegen das liberale Strafrecht“ bezeichnet hat.35

VI. Es ist deshalb auch nicht erstaunlich, dass einige Autoren behaupten, dass die Kriminalpolitik der Nationalsozialisten keinen wirklichen Bruch, sondern vielmehr eine Kontinuität der durch die konservative Bourgeoisie entworfenen Kriminalpolitik darstellte, die die Staatsführung in der letzten Etappe der Weimarer Republik präsentiert hatte.36 Es handelt sich hier nicht um eine personelle Kontinuität, wie sie im Fall des Strafrechtsdogmatikers Edmund Mezger oder des Schülers von Liszts Eduard Kohlrausch gezeigt worden ist.37 Im Fall vom bereits im Jahre 1933 von den Nazis von seinem 34 Von Liszt Die deterministischen Gegner der Zweckstrafe, in: ders. Strafrechtliche Vorträge (Fn. 1), 368. 35 Marxen Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1974, 41 ff. (mit weiteren Nachweisen). 36 Diese These wurde schon von manchen Strafrechtlern der DDR vertreten, vgl. Nachweise in Fn. 29. 37 Zu Mezger siehe Thulfaut Kriminalpolitk und Strafrechtslehre bei Edmund Mezger (1882–1963), 2000; Muñoz Conde Edmund Mezger – Beiträge zu einem Juristenleben, 2007; zu Eduard Kohlrausch siehe Karitzky Eduard Kohlrausch, Kriminalpolitik in vier Systemen, eine strafrechtshistorische Biographie, 2002.

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Amt enthobenen Gustav Radbruch geschah sogar das Gegenteil, was klar beweist, dass Radbruch auf keinen Fall ein Anhänger des Nationalsozialismus war. Es geht vielmehr um eine strukturelle, inhaltliche Kontinuität, die beide Flügel der Schüler von Liszts wie ein kriminalpolitisches Programm nach dessen Tod in einem anderen politischen Kontext weiterführten und, wie Thomas Vormbaum sagt, bis zum heutigen Moment weiterreicht.38 Es bleibt dann kein Zweifel, dass die konservative und autoritäre Begründung, die seit den Zeiten von Liszts sich hinsichtlich der Behandlung der Gewohnheitsverbrecher wie ein roter Faden durch die Entwürfe der Weimarer Republik gezogen hatte, dem Nationalsozialismus dabei zu Gute kam, ihre eigene Kriminalpolitik durchzuführen. Kein Wunder, dass das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 1933 die erste Strafrechtsreform war, die das neue Regime in Angriff nahm. In diesem Sinne kann man sagen, dass die nationalsozialistische Strafrechtsreform wenigstens in ihren Anfängen der Gipfel der antiliberalen und autoritären Ideologie war, die die Ansätze von Liszts hinsichtlich der Gewohnheitsverbrecher charakterisierte und die dann von den Entwürfen eines Strafgesetzbuches und zum großen Teil von den wichtigsten Richtern und Professoren der Weimarer Republik fortgeführt wurden.39 Offenbar erfuhren diese Tendenzen während der Zeit des Natio38

Vgl. Vormbaum (Fn. 2), 271. Außerdem Vogel Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, 2004. 39 Über die Möglichkeit der Manipulierung der Ideen, die in einem anderen politischen Kontext als tragbar angesehen werden können, sagt Kühnl (Die Weimarer Republik, 1984, 101/102) in Bezug auf die richterliche Praxis während der Weimarer Republik Folgendes: „Solche Lehren, deren ‚höhere Normen‘ aus dem Wesen des Menschen oder aus dem Wesen der Gemeinschaft oder aus dem Willen Gottes abgeleitet werden, können mit sehr unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden. Sie konnten zur Zeit der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution auch mit fortschrittlichen Inhalten gefüllt, mit Berufung auf die allgemeinen Menschenrechte gegen das bestehende absolutistische Systeme eingesetzt werden. In der Weimarer Republik jedoch wurden sie von der Rechten dazu benutzt, um die vom Parlament beschlossenen Gesetze in ihrer Geltung zu beschränken und in Frage zu stellen und so die staatliche Exekutivgewalt demokratischer Kontrolle möglichst zu entziehen. Diese Lehren wurden ergänzt und praktisch wirksam gemacht durch die These, dass wegen der ‚Unabhängigkeit‘ der Richter jedes Gericht das Recht habe, die vom Parlament erlassenen Gesetze daraufhin zu überprüfen, ob sie mit den Prinzipien der Verfassung in Übereinstimmung seien. Auch hier bot sich der Justiz ein weiter Interpretationsspielraum – bis hin zur willkürlichen Verfälschung des Willens der Verfassung“. Dass die Verfassung der Weimarer Republik keinen großen Einfluss auf die damalige Strafrechtswissenschaft ausübte, ist eine bewiesene Tatsache, die Achenbach (Historische und systematische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1974, 135) in Bezug auf die Entwicklung der Schuldlehre während der Weimarer Republik mit folgenden Worten bestätigt: „Einflusslosigkeit des verfassungsrechtlichen Umbruchs. Ohne Einfluss auf die wissenschaftliche Diskussion in der Schuldlehre blieben dagegen die Revolution von 1918 und die Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung am 11. August 1919. Die veränderte Stellung des einzelnen Bürgers im republikanisch-demokratischen Staat und die Einführung von Grundrechten wurden nicht als Appell zur Überprüfung hergebrachter Vorstellungen über die Schuldlidee und ihren rechtlichen Niederschlag begriffen. Dass die

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nalsozialismus eine „Radikalisierung“ oder „Beschleunigung“,40 die von diesem Gewohnheitsverbrechergesetz bis zum von Mezger und Exner 1943/ 44 verfassten Entwurf eines Gesetzes für die Behandlung der Gemeinschaftsfremden reicht.41 Auf alle Fälle der Missbrauch seiner Ideen über die „Unschädlichmachung der Unverbesserlichen und Gewohnheitsverbrecher“ durch ein so schlimmes und grausames autoritäres kriminalpolitisches System wie das des Nationalsozialismus einige der Ideen von Liszts diskreditiert. Die Strafrechtstheoretiker müssen diese geschichtliche Erfahrung nun als eine Warnung für die Zukunft annehmen und sich bewusst sein, wie zerbrechlich das rechtsstaatliche Strafrecht42 ist und wie einfach scheinbar harmlose oder rein theoretische Gedanken zu einem Programm der Vernichtung der elementarsten Menschenrechte mancher Personen umgewandelt werden können, unabhängig davon, ob sie als „Unverbesserliche“ (von Liszt), als „Gemeinschaftsfremde“ (Mezger) oder einfach als „Feinde bzw. Unpersonen“ (Jakobs) charakterisiert werden. Besorgniserregend ist weniger, dass diese Realitäten existieren und sich in Gesetzbüchern finden, als dass sie mit mehr oder weniger funkelnden theoretischen Konstruktionen noch heute legitimiert und fundiert werden.43 Die Strafe als Eingriff in die persönliche Freiheit bzw. das Eigentum und dass damit die Schuld als einer ihrer wesentlichen Regulatoren auch einen staatsrechtlichen Aspekt haben, kam nirgends in den Blick. Die philosophische Tradition der Strafrechtswissenschaft hatte bereits die Beziehung der Lehren des Allgemeinen Teils insbesondere der Schuldlehre auf das Strafgesetzbuch so sehr dem Bewusstsein der Strafrechtswissenschaft entrückt, dass eine Verbindung dieses Komplexes mit der vielfach ungeliebten republikanischen Verfassung vollends ausserhalb des Blickfeldes bleiben müsste“. Über die Bedeutung der verfassungsmässigen Überprüfung der Gesetze in einer konstitutionellen Demokratie siehe Hassemer Verfassungsgerichtsbarkeit in einer Demokratie, in: Hassemer Erscheinungsformen des modernen Rechts, 2007, 63 ff. So könnte man heute den berühmten Satz von Liszts „Das Strafrecht ist die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik“ in einem Sinne umformulieren, dass in einem Verfassungsstaatsrecht nicht das „Strafrecht“, sondern das „Verfassungsrecht“ „die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik“ sein müsste, was freilich nicht bedeutet, wie es u.a. die umstrittene Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts über die nachträgliche Sicherungsverwahrung zeigt (vgl. BVerfGE 109, 133; 109, 190; NJW 2004, 750), dass die Verfassungsgerichtsbarkeit immer als eine „unübersteigbare“ Schranke der Kriminalpolitik wirklich funktioniert (über die Verfassungsgerichtsbarkeit als Grenze eines sog. “Feindstrafrechts” siehe Muñoz Conde Über das Feindstrafrecht, 2007, 22–34; ders. Der Kampf gegen den Terrorismus und das Feindstrafrecht, in: FS Volk, 2009, 495 ff.; vgl. auch Heinrich Die Grenzen des Strafrechts bei der Generalprävention, ZStW 121 (2009) 94 ff.; Merquet Feindstrafrecht, Eine kritische Analyse, 2009). 40 So die Ausdrücke, die Vormbaum (Fn. 2), 272 verwendet. 41 Dazu Muñoz Conde Edmund Mezger (Fn. 37). 42 So der Titel des Buches von Naucke (Fn. 29). 43 Agamben Homo sacer (nach der spanischen Übersetzung), 2003, 217: „Die richtige Frage im Hinblick auf die Schrecken des Konzentrationslagers [ist] nicht die, welche heuchlerisch mahnt, wie es denn möglich gewesen sei, hier solche schrecklichen Verbrechen an menschlichen Wesen zu begehen; es wäre ehrlicher und vor allem nützlicher, aufmerksam die juristischen Vorgänge und den politischen Apparat zu erforschen, die es er-

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Gefahr dieser kriminalpolitischen Tendenzen für die Strafrechtsdogmatik ist, dass sie statt einer liberalen Dogmatik zu einer Strafverfolgungsdogmatik umgewandelt wird, um dem Staat technische Hilfsmittel zur Effektivierung der Strafverfolgung an die Hand zu geben.44 Dann könnten wir aber in eine Lage geraten, die Gustav Radbruch bezüglich der Einstellung von manchen deutschen Professoren zum Ersten Weltkrieg mit diesen Worten anschaulich ausführte: „Nur zu oft war vor und während des Krieges der Professor die Trompete, die selbst zu tönen meinte und nicht wusste, dass und von wem sie geblasen wurde [. . .]. Mit den Gesten der Führerschaft waren die Universitäten vielfach Geführte, wo nicht Angeführte des Zeitgeistes“.45 Inwiefern das Werk Franz von Liszts als Strafrechtsdogmatiker und als Kriminalpolitiker mehr in der einen oder der anderen Tendenz klassifiziert werden kann, darüber kann man heute noch diskutieren. Eins ist aber sicher: Wenn es den Nationalsozialismus nicht gegeben hätte, so würde heute vermutlich kaum ein Schatten des Zweifels auf die Lehren des Franz von Liszt fallen. Auf der anderen Seite sollten wir aber auch nicht vergessen, was von Liszt in seiner Marburger Antrittsvorlesung in Bezug auf die von ihm vorgeschlagene „Unschädlichmachung“ der sog. „Unverbesserlichen“ sagte, die später von der Verbrechertypenlehre und dem Gesetz für die Behandlung der Gemeinschaftsfremden von den Nationalsozialisten bis zur „Ausmerzung volks- und rassenschädlicher Teile der Bevölkerung“ weiterentwickelt und angewandt wurde. Das ist ein dunkles, bitteres Erbe der Lehren Franz von Liszts, von dem er sich wohl niemals hätte träumen lassen. Eine Würdigung dieser komplexen Persönlichkeit und seines komplexen Werkes ist also meiner Meinung nach nur möglich, wenn wir von Liszts Leben und Werk im wissenschaftlichen, politischen und sozialen Kontext seiner Zeit selbständig analysieren, unabhängig vom Missbrauch und von Manipulierungen, die später an seinen Ideen oder sogar in seinem Namen begangen worden sind.

möglichten, so weit zu gehen, menschlichen Wesen vollständig ihre Rechte und Vorrechte so weit zu entziehen, dass jede Art von Handlung gegen sie schon nicht mehr als Verbrechen angesehen wurde“. 44 Siehe Vormbaum (Fn. 2), 274. 45 Kahl u.a. Die deutschen Universitäten und der Staat, 1926, Staat und Recht 44, 33, zitiert bei Kühnl (Fn. 39), 106.

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Gerhard Anschütz (1867–1948) Gerhard Anschütz (1867–1948) Werner Heun

Gerhard Anschütz (1867–1948) Vom liberalen Konstitutionalismus zur demokratischen Republik WERNER HEUN

I. Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Werk und Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hauptwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Staatsrechtlicher Positivismus . . . . . . . . . . . 3. Staatsrechtliche Grundpositionen . . . . . . . . . a) Nationalismus, Etatismus, Unitarismus . . . b) Parlamentarisierung und Demokratisierung c) Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Leben Das Leben von Gerhard Anschütz umspannt fünf verschiedene politische Ordnungen der deutschen Geschichte.1 Es reicht von der konstitutionellen Monarchie vor der Reichseinigung von 1871 über das nationalstaatlich geeinigte Kaiserreich, die demokratische Weimarer Republik und das totalitäre System des Nationalsozialismus bis zu den demokratischen Anfängen der Nachkriegszeit unter alliierter Besatzung. Die Schöpfung des Grundgesetzes hat er allerdings anders als sein langjähriger Weggefährte und Mitstreiter Richard Thoma2 nicht mehr erlebt. Seine Kindheit vor der Reichseinigung und die wenigen Jahre nach 1945 sind ohne Spur in seinem Werk geblieben. Auch mit dem Dritten Reich hat 1 Allgemeine Lebenswürdigungen geben vor allem Forsthoff Gerhard Anschütz, Der Staat 6 (1967) 139 ff.; Böckenförde Gerhard Anschütz (1867–1948) (1986), in: ders. Recht, Staat, Freiheit, 1991, 367 ff.; und den Schwerpunkt auf die Weimarer Zeit legend Dreier Ein Staatsrechtslehrer in Zeiten des Umbruchs: Gerhard Anschütz (1867–1948), ZNR 20 (1998) 28 ff. 2 Vgl. dessen Würdigung: Thoma Gerhard Anschütz zum 80. Geburtstag, Deutsche Rechts-Zeitschrift 1947, 25 ff.

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er sich juristisch fast nicht auseinandergesetzt. Allein in einem 1936 geschriebenen, erst 1940 publizierten Aufsatz über „Wandlungen der deutschen evangelischen Kirchenverfassung“ hat er den nationalsozialistischen Staat mit den drei Prinzipien des Unitarismus, des Totalitätsprinzips und des Führergedankens treffend charakterisiert.3 Seine noble Haltung und aufrechte demokratische Gesinnung hatten ihn kurz nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 31. März 1933 zu einem Emeritierungsgesuch bewegt, dem prompt stattgegeben wurde und das seinerzeit sogar von seinem Freund Thoma kritisiert wurde,4 langfristig aber sein hohes Ansehen bewahrt und gefestigt hat.5 „Aufgabe des Staatsrechtslehrers ist nicht nur, den Studierenden die Kenntnis des deutschen Staatsrechts zu übermitteln, sondern auch, die Studierenden im Sinn und Geist der geltenden Staatsordnung zu erziehen. Hierzu ist ein hoher Grad innerlicher Verbundenheit des Dozenten mit der Staatsordnung nötig. Die mir obliegende Pflicht zur Aufrichtigkeit fordert von mir zu bekennen, daß ich diese Verbundenheit mit dem jetzt im Werden begriffenen neuen Staatsrecht zur Zeit nicht aufbringen kann“.6 Damit hat Anschütz seine Lebenserinnerungen enden lassen. Wissenschaftlich ist sein Werk daher allein mit dem staatsrechtlichen System des preußischen und deutschen Spätkonstitutionalismus vor 1914 und vor allem mit der Weimarer Verfassung verbunden,7 der er seinen berühmten Kommentar gewidmet hat, welcher viermal neu bearbeitet insgesamt 14 Auflagen erfuhr8 und dessen letzte Fassung von 1933 der Weimarer Verfassung ebenso wie ihm selbst ein bleibendes Denkmal gesetzt und ihm zu Recht den Ehrentitel eines „Klassikers des Staatsrechts“9 eingetragen hat. Das entspricht auch Anschütz’ eigener, mit Selbstbewusstsein geäußerter

3 Anschütz Wandlungen der deutschen evangelischen Kirchenverfassung (1936 abgeschlossen), Zeitschrift für öffentliches Recht 20 (1940) 231 (236); der „totalitäre Staat“ wird dabei durch den umfassenden Wirkungskreis des Staates gekennzeichnet, ebenda 239; die NSDAP hat er noch zur Zeit der Republik urteilskräftig als auf gewaltsamen Umsturz gerichtete, revolutionäre Partei charakterisiert und kritisiert: ders. Das Beamtentum und die revolutionären Parteien, Zwei Rechtsgutachten, in: ders./Glockner Die politische Betätigung der Beamten, zwei Rechtsgutachten, 1930, 12 (24). 4 Vgl. Pauly Zu Leben und Werk von Gerhard Anschütz, in: Pauly (Hrsg.) Gerhard Anschütz, Aus meinem Leben, 1993, XI (XLII). 5 Vgl. Böckenförde (Fn. 1), 377; Dreier (Fn. 1), 33 f. 6 Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 328 f. 7 Jellinek Gerhard Anschütz zum achtzigsten Geburtstag, SJZ 1947, Sp. 1 (4): „Repräsentant zweier staatsrechtlicher Epochen“. 8 Anschütz Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung, 1. Auflage 1921; 3./4. Auflage 1926, 10. Auflage 1929, (letzte) 14. Auflage (und 4. gründliche Neubearbeitung) 1933; danach zitiert, soweit nicht anders vermerkt. 9 So die Redeweise von Häberle (Klassikertexte im Verfassungsleben, 1980) aufgreifend Dreier (Fn. 1), 28.

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Einschätzung: Der Kommentar „gibt die letzte, abschließende Darstellung einer Entwicklungsstufe des Deutschen Staatsrechts“.10 Die Arbeit an diesem Kommentar fällt freilich in seine zweite Heidelberger Zeit. Dorthin war er im Jahre 1916 aus Berlin zurückgekehrt, nachdem die Heidelberger Fakultät ihn mit ihrem nachdrücklichen Werben zur Annahme des Rückrufs bewogen hatte.11 Obwohl Anschütz nach eigenem Bekunden eine Minderung der persönlichen Bezüge und Kolleggelder hinnehmen musste,12 war für ihn schon in der ersten Zeit an der dortigen Fakultät zwischen 1900 und 1908, wo er als Nachfolger Georg Meyers dessen Lehrbuch fortsetzte,13 Heidelberg zur politischen und kulturellen Heimat geworden.14 Seine Berufung auf ein Ordinariat in Berlin in relativ jungen Jahren 1908 „galt, jedenfalls nach den in jener Zeit herrschenden Anschauungen, als der höchste äußere Erfolg, der einem Hochschullehrer [. . .] zuteil werden konnte“, wie er rückblickend selbst schrieb.15 Anders als seine Frau, die es vorgezogen hätte, in der Großstadt Berlin zu bleiben,16 strebte Anschütz wieder nach Heidelberg. Dabei war schon der Gang nach Berlin eine erneute Rückkehr gewesen. Geboren am 10. Januar 1867 in Halle als Sohn eines Professors des Deutschen Rechts17 hatte Gerhard Anschütz nach Semestern in Genf und Leipzig nämlich bereits in Berlin studiert, bevor er nach Halle zurückkehrte und dort 1891 mit den „Kritischen Studien zur Lehre vom Rechtssatz und formellen Gesetz“ bei Edgar Loenig promoviert wurde.18 Schon zuvor hatte er 1889 die erste juristische Staatsprüfung beim OLG Naumburg bestanden und war als Referendar in den juristischen Vorbereitungsdienst eingetreten, den er in Bitterfeld, Halle und zuletzt im preußischen Verwaltungsdienst in Merseburg absolvierte. Zur Vorbereitung des Assessorexamens siedelte er wieder nach Berlin über und bestand die Prüfung dort am 7. Juli 1894 mit „gut“. Er kehrte unmittelbar in die preußische Staatsverwaltung zurück, und zwar erst nach Wittenberg und dann nach Berlin, fasste aber alsbald den Entschluss, sich der Wissenschaft des öffentli10 Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 256; vgl. auch sein Vorwort zum WRV-Kommentar (Fn. 8), VI. 11 Vgl. im Einzelnen Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 169 ff. 12 Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 174. 13 Meyer/Anschütz Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 6. Auflage 1905; 7. Auflage 1914-1919 (in 3 Teillieferungen). 14 Das Kapitel der Erinnerungen ist mit „Heimkehr“ überschrieben, Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 177 ff.; vgl. ebenda 88 ff.; zu dem Einfluß auf seine politische Haltung ebenda 70 f. 15 Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 104. 16 Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 175. 17 August A. Anschütz (1826–1874), seit 1864 Herausgeber des „Archivs für civilistische Praxis“, siehe Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 4 f. 18 Anschütz Kritische Studien zur Lehre vom Rechtssatz und formellen Gesetz, 1891.

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chen Rechts zu widmen und in die akademische Laufbahn einzutreten.19 Mit einer auch aus den Erfahrungen in der Verwaltungspraxis entstandenen Arbeit über den „Ersatzanspruch aus Vermögensbeschädigungen durch rechtmäßige Handhabung der Staatsgewalt“20 habilitierte er sich 1896 an der Juristischen Fakultät der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Wesentlich bekannter noch als seine Habilitationsschrift ist freilich sein später umfänglich erweiterter Habilitationsvortrag über „Die gegenwärtigen Theorieen über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des Königlichen Verordnungsrechts nach Preußischem Staatsrecht“ geworden,21 den er damaligem Usus entsprechend in der Privatwohnung des Dekans, des berühmten Germanisten Heinrich Brunner, an einem heißen Julitage hielt, unter anderem in Anwesenheit von Gierke und Kahl.22 Nach drei Jahren erhielt Anschütz eine ordentliche Professur in Tübingen, nur um schon ein Jahr später nach Heidelberg zu wechseln, wo er – nur durch die Berliner Zeit von 1908 bis 1914 unterbrochen – bis an sein Lebensende am 14. April 1948 blieb. Obwohl er seine längste Lebensphase in Heidelberg verbracht hat, erfuhr er mit der Habilitation und mit der hoch angesehenen Professur an der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zwischen 1908 und 1916 in Berlin die entscheidende Prägung.

II. Werk und Würdigung 1. Hauptwerke Das Hauptwerk der Berliner Zeit23 ist sein berühmter Kommentar zur Preußischen Verfassungsurkunde, dessen erster und einziger Band im Jahr 1912 erschien.24 Der geplante zweite Band fiel dem ausbrechenden Weltkrieg und der Revolution zum Opfer. Vielleicht hat aber auch schon der Umzug nach Heidelberg und damit der Wegzug aus dem Geltungsbereich dazu beigetragen. So blieb der Verfassungskommentar auf die Eingangsbestimmun19

Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 47 ff. Anschütz Der Ersatzanspruch aus Vermögensschädigung durch rechtmäßige Handhabung der Staatsgewalt – drei öffentlich-rechtliche Studien, Verwaltungsarchiv 5 (1897) 1–136. 21 Anschütz Die gegenwärtigen Theorieen über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des Königlichen Verordnungsrechts nach Preußischem Staatsrecht, 1900, 2. Auflage, 1901, der an die Doktorarbeit anknüpfte; vgl. auch seine Artikel „Gesetz“ und „Verordnung“, in: Fleischmann (Hrsg.) Wörterbuch des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts2, Band II 1913, 212 ff. und Band III 1914, 673 ff. 22 Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 56 f. 23 Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 146. 24 Anschütz Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat. Vom 31. Januar 1850. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Erster Band 1912. 20

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gen und die Grundrechte beschränkt, die eigentlich politisch und staatstheoretisch zentralen Teile der Verfassung blieben unkommentiert. Trotz der nur kurzen Wirkungsdauer – im Grunde nur zwei Jahre bis zum Ausbruch des Krieges und formal weitere vier Jahre bis zum Untergang der Monarchie – hat der „bahnbrechende“25 Kommentar typusbegründenden und -prägenden Charakter gewonnen. Zwar gab es schon Kommentare zur Preußischen Verfassung26 und zu anderen Staatsgrundgesetzen, wenn auch bezeichnenderweise nicht zur Reichsverfassung. Neu war indes an Anschütz’ Werk die hohe Wissenschaftlichkeit der Kommentierung, welche eingehend die historische Entwicklung seit Beginn des 19. Jahrhunderts, die Entstehungsgeschichte und die Änderungen der Verfassung darstellte, sich detailliert mit dem gesamten erreichbaren Schrifttum und der Rechtsprechung auseinandersetzte sowie die einzelnen Normen in den systematischen Kontext einordnete. Anschütz übertrug das Modell der wissenschaftlichen Kommentare zu den großen zivil- und strafrechtlichen Kodifikationen auf die Verfassung27 und wurde damit zum Begründer28 der typisch deutschen Tradition großer wissenschaftlicher Verfassungskommentare, die er mit dem Kommentar zur Weimarer Verfassung selbst noch zu ihrem ersten, lange unübertroffenen Höhepunkt führte.29 Schon im „Preußentorso“30 verbindet Anschütz souveräne Stoffbeherrschung, umfassende Kenntnis der Literatur und Rechtsprechung, stringente Argumentation, Gründlichkeit und Tiefenschärfe mit Klarheit, Knappheit und Präzision der Darstellung, was vor allem später am Weimarer Werk gerühmt wird. Hinzu kommt seine Formulierungsgabe, die ihn immer wieder zu eindringlicher Begriffsbildung und einprägsamen Wendungen, wie etwa der „Diktaturfestigkeit“31 finden lässt. Das gilt nahezu gleichermaßen für seine systematischen Darstellungen, die zu einem erheblichen Teil in die Berliner Zeit fallen. Seine Fähigkeit zu 25 Giese Gerhard Anschütz zum 75. Geburtstag am 10. Januar 1942, in: Forschungen und Fortschritte – Nachrichtenblatt der deutschen Wissenschaft und Technik 1942, 21 (22). 26 Arndt Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat7, 1911; Schwartz Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 18502, 1898. 27 Vgl. Anschütz (Fn. 24), Vorwort, V; die positivistische Leitwissenschaft des Zivilrechts war das Vorbild. 28 Forsthoff (Fn. 1), 143 f.; vgl. auch die Rezension von Thoma Zeitschrift für Politik 7 (1914), 280 ff. 29 Vgl. Schmitt Rezension, JW 1926, 2270; vgl. ferner die nachträgliche Würdigung von Köttgen Kommentare zum Grundgesetz – eine kritische Betrachtung, AöR 85 (1960) 65 (67 f., 72 ff.). 30 Giese Rezension, AöR 82 (1957) 504 (505). 31 Dafür rühmt er sich selbst durchaus zu Recht, siehe Anschütz Reichskredite und Diktatur, 1932, 5 (6); siehe auch Jellinek (Fn. 7): seine „wohl glücklichste Prägung“; die Formulierung findet sich in: ders. WRV-Kommentar (Fn. 8), Art. 48 Anm. 14, b (285); und knüpft an die ebenfalls von Anschütz stammende Formulierung der „Polizeifestigkeit“ an, vgl. auch Thoma (Fn. 2), 26.

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konziser und komprimierter systematischer Darstellung hatte Anschütz erstmals in der von Josef Kohler herausgegebenen rechtswissenschaftlichen Enzyklopädie erprobt, in der er das „Deutsche Staatsrecht“ verfasste.32 Die ursprüngliche Fassung in der 6. Auflage von 1904 fiel noch in die erste Heidelberger Zeit, die Überarbeitung in der 7. Auflage von 1914 erfolgte dann aber in Berlin. Außerdem hatte Anschütz noch in Heidelberg die Überarbeitung des Lehrbuchs des Deutschen Staatsrechts von seinem Amtsvorgänger Georg Meyer übernommen, beschränkte sich aber in der 6. Auflage auf nur wenige Ergänzungen und Aktualisierungen, während er die folgende 7. Auflage in drei, zwischen 1914 und 1919 erschienenen Teillieferungen zu einer umfassenden Neubearbeitung nutzte, die das Lehrbuch, das als einziges auch das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten umfasste, weithin zu seinem eigenen Werk erhob.33 Überhaupt liegt in der Fähigkeit zu knapper, klarer Darstellung und schlagenden Formulierungen wohl seine eigentliche Begabung, die ihn ganz generell zu einem Meister großer systematischer Handbuchartikel zu allen Gebieten des Staats- und Verwaltungsrechts wie von Verfassungskommentaren machte. Umfassende systematische Darstellungen zum Weimarer Staatsrecht hat er aber im Gegensatz zu seinem Kommentar nicht mehr verfasst. Der Meyer/Anschütz hat kein Weimarer Pendant gefunden. Allerdings hat Anschütz zusammen mit Richard Thoma noch das maßgebende Handbuch des Staatsrechts herausgegeben, das an die Stelle der systematischen Darstellungen von Laband und ihm selbst getreten ist, und darin maßgebende Artikel beigesteuert.34 In den drei Werken, die Anschütz’ hohes Ansehen dauerhaft begründet haben, dem Preußenwerk, dem erst kürzlich wieder aufgelegten Meyer/ Anschütz und dem Weimarer Kommentar, verbinden sich persönliche Tragik und zugleich Wirkungsbedingung seines Ruhms zu untrennbarer Einheit: Die politische Revolution von 1918 „zertrümmerte“ die Verfassung des Kaiserreichs und mit ihr die Verfassung Preußens (wie die „nationale Revolution“ von 1933 diejenige von Weimar) und ließ „damit die gesamte auf der Grundlage dieser Verfassungen geleistete Arbeit [. . .] in das Literaturfach „Rechtsgeschichte“ versinken“, auch wenn das „dem Alten gewidmete 32 Anschütz Deutsches Staatsrecht, in: Kohler (Hrsg.) Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, Band II6, 1904, 449–635; sowie in Band IV7, 1914, 1–192. 33 S. oben Fn. 13; zur Überarbeitung durch Anschütz siehe jetzt Böckenförde Einleitung zur 8. Auflage, 2005, XIV f. 34 Anschütz/Thoma (Hrsg.) Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2 Bände, 1932, darin von Anschütz: § 2 Rückblick auf ältere Entwicklungsstufen der Staatsbildung und des Staatsrechts in Deutschland (I, 17–26); § 6 Der Norddeutsche Bund und seine Erweiterung zum Kaiserreich (I, 63–68); § 26 Das System der rechtlichen Beziehungen zwischen Reich und Ländern (I, 295–300); § 32 Reichsaufsicht und § 33 Die Reichexekutive (I, 363–380); § 106 Die Religionsfreiheit (II, 675–689).

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Schrifttum zwar nicht (wie man höhnisch und unzutreffend gesagt hat in „Makulatur“), aber in eine Beschreibung vergangener Dinge“ verwandelt wurde.35 Abgesehen von der unterschiedlichen Reaktion angesichts der Revolution von 1918, nämlich einer Aufbruchstimmung und Hinwendung zu neuer politischer Ordnung einerseits36 und der Resignation 1933 andererseits, war der Untergang der kommentierten und beschriebenen Ordnung geradezu Voraussetzung des langfristigen Erfolges. Mit allen drei Werken hat Anschütz die letzte maßgebende Darstellung der jeweiligen Verfassungsordnung hinterlassen, die für alle Zukunft autoritativ das gültige Gesamtbild festschreibt. Anschütz selbst war sich dessen durchaus bewusst. Im Vorwort zu seinem sogar erst „nach dem Untergang des bisherigen Staatsrechts“ 1919 post festum erschienenen Lehrbuch hat er vorausschauend formuliert: „Und so mag denn dieses Buch noch einmal hinausgehen, als eine letzte zeitgenössische Beschreibung des gesamten deutschen Staatswesens, so wie es vor der Umwälzung in Reich und Einzelstaaten ausgesehen hat. Möge es den Nachlebenden Kunde bringen von der rechtlichen Gestaltung dieses Staatswesens und möge es über diesen seinen rechtswissenschaftlichen Zweck hinaus die Erinnerung wach halten an eine Epoche deutschen Staatslebens, die unserem Volke mit der Erfüllung seines Einheitstraumes ein vordem von Vielen ersehntes, von Wenigen für möglich gehaltenes Maß von Macht, Glück und Glanz gebracht hat“.37 2. Staatsrechtlicher Positivismus Anschütz’ gesamtes Werk ist von einer methodischen Grundhaltung, der des staatsrechtlichen Positivismus,38 geprägt. Auch gegenüber den scharfen Anwürfen zur Zeit der späteren Weimarer Republik hat er darauf beharrt, als Positivist allein einer rechtswissenschaftlichen Arbeitsmethode verpflichtet zu sein und „daß es nicht Sache des Juristen sei, politische Werturteile und Prognosen aufzustellen.“39 Prima facie spricht dies dafür, dass Anschütz ebenfalls für eine strikte Trennung von Recht und Moral sowie von Recht und Politik und für die Anerkennung des Rechts als selbstständige, wirksa35

Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 146 f. Und dies, obwohl er Deutschlands politische Ordnung zwar für „sehr autoritär, undemokratisch, militaristisch“, aber nicht für „revolutionsreif“ gehalten hat, siehe Meyer/ Anschütz (Fn. 13), 1030 f. 37 Meyer/Anschütz7 (Fn. 13), Vorwort XVIII; ganz ähnlich dann seine rückblickende Bewertung des Weimarer Kommentars, Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 256. 38 Vgl. hierzu von Oertzen Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, 1974; Pauly Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, 1993. Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band II, 1992, 330 ff., 351 ff.; zur Weimarer Republik Heun Der staatsrechtliche Positivismus der Weimarer Republik, Der Staat 28 (1989) 377 ff. 39 Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 324; siehe auch ebenda 71 f. 36

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me Zwangsordnung ungeachtet der geregelten Inhalte plädiert, was gemeinhin als Kennzeichen einer rechtspositivistischen Anschauung betrachtet wird. Indes täuscht das oft freigiebig verteilte Etikett Positivist über gravierende Differenzen und notwendige Nuancierungen hinweg. Richtig ist zunächst, dass das positive Gesetz einschließlich der Verfassung als Ausdruck des Staatswillens Ausgangspunkt und Grundlage der rechtswissenschaftlichen Betrachtung bildet. Für die Einbeziehung rechtsphilosophischer Erkenntnisse fehlte Anschütz schon die Ader und das Interesse. Er sei immer „mehr auf die praktische als die theoretische Seite der Jurisprudenz“ ausgerichtet gewesen, bekannte er rückblickend im Sinne einer Selbsterkenntnis.40 Selbst für die zwar ebenfalls positivistische, aber abstrakte Theorie Kelsens fehlte ihm das Verständnis, und er distanzierte sich davon explizit.41 Einig war sich Anschütz mit Kelsen wie mit dem ihm viel näher stehenden Thoma aber in der Ablehnung des Naturrechts und einer Interpretation der Verfassungsnormen im Lichte und aus dem Geiste des Naturrechts, das er als bloßes Wunschrecht abqualifizierte.42 Freilich fällt diese Diskussion, die sich vor allem am Gleichheitssatz entzündete, überwiegend erst in die Weimarer Zeit.43 Schon im Kaiserreich setzte sich Anschütz indes ebenso von dem staatsrechtlichen Positivismus der Gerber/Labandschen Spielart ab. In seinem Nachruf auf Laband stimmte er diesem zwar darin zu, dass „die juristischen Kategorien nun einmal formaler Art (seien) und alle Rechtswissenschaft [...] ihrer Natur nach eine zwar nicht formalistische aber formale Betrachtung der Dinge“ sei. Die „rein juristisch-konstruktive Betrachtungsweise“, wie Laband sie anwendet, gebe aber kein „volles und ganzes Bild des betrachteten Staatswesens.“ Seine Methodik bedürfe einer „Ergänzung und Vervollkommnung“, nämlich „einer mehr dynamischen Anschauungsweise, welche sich nicht damit begnügt, die rechtliche Natur der Verfassungsinstitutionen festzustellen, sondern bestrebt ist, die hinter ihnen stehenden, in ihnen wirkenden historisch-politischen Kräfte aufzuweisen. Nur eine solche Betrachtung ist imstande, mit dem Sinn und Zweck auch das Wesen der Institutionen dem staatsrechtlichen Verständnis voll zu erschließen.“44 Diese Gedanken leiteten ihn bereits bei der Abfassung des Kommentars zur Preußischen Verfassungsurkunde. Schon in der Einleitung zu seinem Habilitationsvortrag hatte Anschütz die politische Zielrichtung seiner dogmatischen Theorie des Gesetzes pole40

Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 289. Pauly (Fn. 4), XXXIX einen Brief an Carl Schmitt zitierend. 42 Vgl. z.B. Anschütz WRV-Kommentar (Fn. 8), Art. 109 Anm. 2 (523 ff.); ders. Disk., VVDStRL 3 (1927) 47 ff.; ders. Disk., VVDStRL 4 (1928) 74 ff. 43 Vgl. aber unten 4. seine Äußerungen zum Verwaltungsrecht. 44 Anschütz Paul Laband – Ein Gedenkblatt, DJZ 1918, 265 (268 f.); vgl. zur Abgrenzung auch Giese Gerhard Anschütz zum Gedächtnis, SJZ 1948, Sp. 333 (333 f.). 41

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misch zugespitzt zum Ausdruck gebracht, da die Schrift der Widerlegung „krypto-absolutistischer“ Vorstellungen dienen sollte.45 Im Vorwort zum Kommentar werden die politischen Intentionen noch deutlicher offen gelegt und damit zugleich der Abstand vom Labandschen Methodenpurismus entschieden kenntlich gemacht. „Politische Ausführungen sind nach Möglichkeit und nur da nicht vermieden worden, wo die Betrachtung der gegebenen Rechtslage oder Verwaltungspraxis den Ausspruch eines Werturteils geradezu herausforderte. Daß die politischen Anschauungen, von denen ich dann und im übrigen ausgehe, von dem stark unterstrichenen Konservatismus der meisten neueren Darstellungen des preußischen Staatsrechts [. . .] wesentlich abweichen, wird niemandem entgehen und ich leugne es nicht im mindesten.“ Anschütz stellt den Kommentar daher unter das Motto „Die Lage des Vaterlandes, die Weltlage erfordert ein starkes Preußen. Stark aber ist nur ein freies Preußen“.46 Methodisch grenzt Anschütz sich von der positivistischen Begriffsjurisprudenz daher dreifach ab. Erstens legt er seine politischen Präferenzen klar und deutlich offen, während die älteren Positivisten oft ihre politischen Ziele hinter juristischen Konstruktionen verschleierten und verfassungswidrige Praxis und Fakten mit dem geltenden Recht gleichsetzten.47 Zweitens dürfen politische Zwecke und Werturteile durchaus in die Interpretation einfließen, vor allem wenn sie durch die Entstehungsgeschichte sowie durch Sinn und Zweck48 der Verfassung gedeckt sind. Über die historische Auslegung wird die Verfassung repolitisiert. Anschütz’ Positivismus ist nicht vorrangig durch Begriffskonstruktionen, sondern vielmehr durch die historische Methode geprägt.49 Die Isolierung der Verfassungsnormen von ihrem politischen Kontext wird aufgegeben, an einer scharfen und präzisen Unterscheidung wird aber festgehalten, eine undifferenzierte Vermengung und Identifizierung politischer und verfassungsrechtlicher Argumente wird dezidiert bis in die Weimarer Republik abgelehnt. Der berühmte Satz „Das Staatsrecht hört hier auf“50 markiert die Grenze zwischen Recht 45

Anschütz (Fn. 21), 1, ebenda auch im Vorwort V. Anschütz (Fn. 24), VI; vgl. auch ders. in: Pauly (Fn. 4), 136. 47 Vgl. Anschütz (Fn. 21), 25 f., der diesen Vorwurf gegenüber Adolf Arndt (s.o. Fn. 26), erhebt; siehe auch Thoma (Fn. 2), 26. 48 Anschütz (Fn. 44), 269. 49 Stolleis (Fn. 38), 351 ff. qualifiziert diese Richtung daher als „historisch fundierten Positivismus“; seine historischen Interessen entfalten sich hier wie auch in seinen entsprechenden Vorlesungen, eigene wissenschaftliche Publikationen finden sich dazu jedoch praktisch nicht; sein Aufsatz „Das Reichskammergericht und die Ebenbürtigkeit des niederen Adels“, ZRG GA 27 (1906) 172 ff. ist lediglich ein Nebenprodukt seines Gutachtens „Der Fall Friesenhausen“, 1904, zum Lippeschen Thronstreit. 50 So erstmals Anschütz Lücken in den Verfassungs- und Verwaltungsgesetzen, Verwaltungsarchiv 14 (1906) 315 (336, 339); ders. Staatsrecht7 (Fn. 32), 191; Meyer/Anschütz (Fn. 13), 906. 46

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und Politik. Das Recht gewinnt auf diese Weise eine stärkere Autonomie51 gegenüber der konservativ-reaktionären Praxis, die im Namen des Rechts kritisiert werden kann, ohne sie bei der juristischen Beurteilung außer Acht zu lassen. Dahinter verbirgt sich eine liberale politische Auffassung, die der Interpretation der Verfassung zugrunde gelegt wird. Die Bekämpfung der konservativen, „in Wahrheit reaktionär gesinnten Gegner“ ist das Ziel, das Anschütz auch im Rückblick mit der Überzeugung verbindet, damit zugleich die Wahrheit verfolgt und eine Verfassungsauslegung durchgesetzt zu haben, „die nicht sowohl freiheitlich als vor allen Dingen richtig war“.52 Drittens erhalten die grundlegenden juristischen Begriffe und Konstruktionen einen anderen, geringeren Stellenwert. Vorrang gewinnt die „exegetische und analytische Untersuchung des Verfassungstextes“, während die juristischen Begriffsbildungen der Lehre vom Gesetzesbegriff zur Hilfsfunktion einer „erleichternden Terminologie“ absinken.53 Bereits im Kaiserreich hat Anschütz sich im Unterschied zur Begriffsjurisprudenz und zur positivistischen Radikalität Kelsens als gemäßigter Positivist profiliert.54 Obwohl Anschütz noch in Weimar die Rechtsentscheidung als „rechtslogisches Urteil, ein Tätigwerden nicht des Willens sondern des Verstandes“ qualifiziert,55 eröffnet er sich damit neue Interpretationsspielräume, die er zielstrebig nutzt.56 An diesen Grundanschauungen hat Anschütz Zeit seines Lebens festgehalten. Unter der Weimarer Verfassung hat er konsequent die Frage der Legitimität aus der verfassungsrechtlichen Diskussion ausgeklammert.57 Politisch und juristisch sollte damit allerdings das Argument der Illegitimität der Reichsverfassung entkräftet, die heiß umkämpfte und für die Durchsetzung der Verfassung hoch brisante Legitimitätsfrage neutralisiert werden.58 Politisch verteidigt Anschütz die demokratische Republik durch öffentliche Reden und Publizistik.59 Hier erweisen sich erneut die politischen Implikationen des methodischen Ansatzes von Anschütz, dessen uneingeschränkte Bejahung der Weimarer Verfassung nicht nur mit seiner politischen Auffassung kompatibel war, sondern geradezu ihre Vorausset51

Pauly (Fn. 4), XIX. Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 147. 53 Anschütz (Fn. 21), 19 f. 54 So die gemeinsame Einordnung von Anschütz und Thoma in Heun (Fn. 38), 379, 385 ff. 55 Anschütz WRV-Kommentar (Fn. 8), Art. 70, Anm. 2 (369). 56 Vgl. auch Dreier (Fn. 1), 37. 57 Anschütz WRV-Kommentar (Fn. 8), Einl. S. 5. 58 Vgl. näher Heun (Fn. 38), 388 ff. 59 Vgl. die Heidelberger Rektoratsrede Anschütz Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung, 1923, 21 ff.; sowie ders. Rede zur Verfassungsfeier 1929, in: Reichszentrale für Heimatdienst, 10 Jahre Weimarer Verfassung, 1929, 28 ff., bes. 37: „diese Verfassung ist gut“. 52

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zung bildete.60 Bei aller Kontinuität der Grundanschauungen ist diesbezüglich freilich eine erhebliche Entwicklung zu beobachten. Aufgewachsen ist Anschütz in einem auch nach eigener Erkenntnis unpolitischen, bürgerlichen Milieu.61 Anschütz durchläuft in der Folgezeit einen Prozess wachsender Politisierung,62 ohne seine bürgerlich liberalen Ursprünge ganz abzustreifen.63 Im Ausgangspunkt unpolitisch national wird er staatsrechtlich zum liberalen Anhänger einer konstitutionellen Monarchie, um schließlich zum überzeugten Republikaner und Demokraten zu werden.64 Seine juristischen Positionen spiegeln diese Entwicklung wider. 3. Staatsrechtliche Grundpositionen a) Nationalismus, Etatismus, Unitarismus Lebensgeschichtlich und theoretisch bildet die Gründung des deutschen Nationalstaats durch Bismarck für Anschütz den Ausgangspunkt. Der Nationalgedanke blieb für ihn unhinterfragte Grundlage des Gemeinwesens,65 selbst wenn er sich im 1. Weltkrieg zurückhaltend gegenüber den überbordenden Annexionsplänen und lediglich für die Beibehaltung der Kolonien aussprach, so vorsichtig, dass die betreffende Rede lange wegen der Zensur nicht erscheinen konnte.66 Untrennbar verbunden mit der Nationalidee ist für Anschütz – wie für das gesamte Bürgertum, dem er angehörte – der Staat als politische Lebensform der Nation und Garant ihrer politischen Einheit.67 Der Staat kann einen nahezu uneingeschränkten Souveränitätsanspruch erheben. Die Sicherung der Macht des Nationalstaats nach außen war die eine Seite dieser Souveränität, die seinem Staatskonzept zugrunde lag, ohne dass er sich mit ihr eingehend beschäftigt hätte. Der Souveränitätsanspruch wird von Anschütz vor allem nach innen bekräftigt. In der Berliner Zeit hat er ihn vornehmlich gegenüber kirchlichen Positionen verteidigt. In der Kommentierung des Art. 12 der Preußischen Verfassung, der die Religionsfreiheit gewährleistet, aber unter dem Vorbehalt der bürgerlichen und staatsbürger60 Aus diesem wie aus anderen Gründen ist es in hohem Maß verfehlt, gerade den Positivismus von Anschütz und anderen für den Absturz in den Nationalsozialismus verantwortlich zu machen. S. bereits Heun (Fn. 38), bes. 401 f.; Dreier (Fn. 1), 35 f. 61 Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 124, 204. 62 Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 131 f.; dementsprechend fordert er im Krieg „eine Politisierung unseres Volkes“, ders. Besprechung von Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, 1915, in: Preußische Jahrbücher 164 (1916), 339 (346). 63 Giese (Fn. 44), Sp. 334: „liberaler Grundzug“. 64 Vgl. auch Böckenförde (Fn. 1), 372 ff. 65 Vgl. auch Thoma (Fn. 2), 26; Giese (Fn. 44), Sp. 335. 66 Anschütz Zukunftsprobleme deutscher Staatskunst, 1917 (gehalten 1915), 5 ff. 67 Der nationale Einheitsstaat ist sein Ideal, wie er selbst sagt: Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 161; vgl. auch Böckenförde (Fn. 1), 369 ff.

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lichen Pflichten steht, wird der Vorrang des Staates und seiner Gesetze emphatisch betont. Dies bedarf keiner expliziten Normierung, „denn es ergibt sich mit einfacher Folgerichtigkeit aus dem Wesen des modernen Staates und seiner Souveränität; es ist in diesem Sinne selbstverständlich. Die Staatsgewalt ist allen in ihrem Herrschaftsbereich befindlichen Personen und Personenvereinigungen unbedingt übergeordnet, sie kann die Verbindlichkeit und Unverbrüchlichkeit ihrer Gebote an keinem Punkte abhängig machen von der Anerkennung ihrer Untertanen.“ Das wird in pointierter Weise zur Absolutheit gesteigert: „Es ist dem Staatsbürger nicht gestattet, dem Gott, an den er glaubt, mehr zu gehorchen als dem Staatsgesetz“.68 Dieser Vorrang des Staates, dem „der strikte Gehorsam gegen die Gesetze“ als „erste aller Bürgerpflichten“ korrespondiert,69 wird durch die prinzipiell unbeschränkte, freie Allmacht des Gesetzgebers zusätzlich gesteigert. „Darüber, was Bürgerpflicht und damit Schranke der Religionsfreiheit ist, hat die Staatsgesetzgebung in freiem Ermessen zu befinden; sie kann zur Bürgerpflicht erklären, was sie will.“70 Aus dieser Grundposition heraus wendet sich Anschütz bis in die Weimarer Republik gegen konkordatsartige vertragliche Vereinbarungen zwischen Staat und Kirche, die „ein innerstaatlicher, dem Staate untergeordneter Verband“ ist.71 In den zwanziger Jahren wird die Ablehnung von staatlichen Pakten mit den Kirchen bereits von der Sorge einer Ausweitung auf andere pluralistische innerstaatliche Mächte und Verbände getragen.72 Einen Pluralismus angelsächsischer Provenienz betrachtete Anschütz mit großer Skepsis. Pluralisierung, Parteienzersplitterung und Parteienwirtschaft sah er als bedauerliche Fehlentwicklungen an.73 Im Namen staatlicher Einheit und Souveränität bekämpfte er jede Form von Partikularismus.74 Deshalb profilierte er sich bereits im Kaiserreich wie später in der Weimarer Republik als Gegner föderalistischer Aufsplitterung und als Anhänger einer unitarischen Staatsorganisation.75 In seinem Verständnis schloss der Unitarismus eine Dezentralisierung nicht aus,76 wohl 68

Anschütz (Fn. 24), 229 f. Anschütz (Fn. 24), 229. 70 Anschütz (Fn. 24), 230. 71 Anschütz Die bayerischen Kirchenverträge von 1925, 1925, 5 f. 72 Anschütz (Fn. 71), 5. 73 Vgl. Böckenförde (Fn. 1), 371, der insoweit aus Briefen an Carl Schmitt zitiert, siehe ferner Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 165. 74 Anschütz Bismarck und die Reichverfassung, 1899, 38: „Partikularismus ist Sünde, preußischer Partikularismus aber ist Todsünde“. 75 Vgl. z.B. Anschütz Leitgedanken (Fn. 59), 12 ff.; ders. Die kommende Reichsverfassung, Deutsche Juristenzeitung 1919, Sp. 113 (116); ders. Der deutsche Föderalismus, VVDStRL 1 (1924), 11 (15, 17 ff.); ders. Das Problem der Vereinheitlichung des Reichs, in: Harms (Hrsg.) Volk und Reich der Deutschen, Band II, 1929, 261 (263 ff., 271 ff.). 76 Vgl. Anschütz Richtlinien preußischer Verwaltungsreform, in: FS von Marlitz 1911, 469 (473 ff.); ders. Das preußisch-deutsche Problem, 1922, 23; insoweit spricht er sich für 69

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aber eine starke bundesstaatliche Stellung der Länder. Politischer Hintergrund dieses lebenslangen Eintretens für den Unitarismus, das ihn indes nicht von der Verteidigung des Landes Preußen gegen den Preußenschlag vor dem Staatsgerichtshof abhalten konnte,77 ist allerdings die Dominanz und das außerordentliche Übergewicht Preußens in Kaiserreich und Weimarer Republik. Der Staat des Kaiserreichs war nur funktionsfähig aufgrund der weitgehenden Personalunion der Ämter Preußens und des Reiches.78 Zugleich führte der Gegensatz des demokratischen, egalitären Wahlrechts im Reich und des preußischen Dreiklassenwahlrechts zu starken Friktionen, die Anschütz mit der mehrfach geforderten Wahlreform in Preußen im Sinne einer „Gleichschaltung“ zu beseitigen hoffte.79 Sein Ziel war dabei „nicht die Verpreußung Deutschlands“, sondern die „Eindeutschung Preußens“.80 Umso enttäuschter war er, als in der Weimarer Republik trotz des gleichartigen Wahlrechts Preußen und das Reich spätestens seit dem Zerbrechen der Weimarer Koalition von unterschiedlichen politischen Mehrheiten geprägt waren und damit die erhoffte Homogenität der beiden Regierungen nicht erreicht wurde.81 Die nationalsozialistische Gleichschaltung konnte ihn freilich auch nicht überzeugen.82 b) Parlamentarisierung und Demokratisierung Während Anschütz’ Auffassung vom Ideal eines unitarischen Nationalstaats von großer Konstanz ist, lässt sich in seiner Einstellung zum Regierungssystem ein erheblicher Wandel vom liberalen Anhänger der konstitutionellen Monarchie zum Befürworter eines demokratischen, parlamentarischen Regierungssystems beobachten, der bereits in der Berliner Zeit einsetzt. Die Entwicklung während des 1. Weltkrieges, die das Volk ebenso bedrückte wie zusammenschweißte und zugleich die Schwächen und Unzulänglichkeiten des politischen Systems bloßlegte, zwang auch Anschütz zu Reformüberlegungen. Dabei leitete ihn durchaus der Gedanke einer Festigung und Stärkung der Macht des Staates. Parlamentarisierung und Demo-

einen „dezentralisierten Einheitsstaat“ aus, vgl. auch ders. Problem der Vereinheitlichung (Fn. 75), 262, 269 ff. 77 Vgl. seine Plädoyers in: Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof, 1933, 113, 124 ff., 161 ff., 301 ff. 78 S. Anschütz (Fn. 74), 37 und das Zitat in Fn. 74; vgl. generell Huber Deutsche Verfassungsgeschichte, Band III3, 1988, 825 ff.; zu Anschütz Position auch unten b. 79 Vgl. Anschütz Parlament und Regierung im Deutschen Reich, 1918, 13 f.; ders. Gedanken über künftige Staatsreformen, in: Thimme/Legien (Hrsg.) Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland, 1915, 42 (49 f., 53 ff.); zur Entwicklung der Wahlrechtsfrage näher Huber Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV2, 1982, 368 ff. 80 So anlässlich der Zabern-Affäre Anschütz Zabern, DJZ 1913, Sp. 1457 (1461). 81 Anschütz Problem (Fn. 76), 7. 82 Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 329 bringt seine ambivalente Haltung zum Ausdruck.

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kratisierung sollten die Einheit von Volk und Staat verwirklichen.83 Nationaler und demokratischer Gedanke waren für ihn kein Gegensatz, sondern Geschwister.84 Je weiter der Krieg fortschritt, umso mehr befürwortete er die Einführung des parlamentarischen Regierungssystems. Nachdem er am Anfang eher noch in einer Stärkung des Kaisers eine Lösung erblickt hatte,85 plädierte er gegen Ende des Krieges zunehmend für die Parlamentarisierung als einzig geeignetem Mittel, die notwendigen Aufgaben zu bewältigen: Die Parlamentarisierung müsse und werde kommen, „weil die Riesengröße der zu schaffenden Arbeit und die Wucht der Steuerlast, wie sie nach dem Kriege sich ergeben werden, ein Maß von Ansehen und Verantwortlichkeit verlangen, wie es keine Beamtenregierung, sondern nur eine im Volksvertrauen wurzelnde, d.h. eine parlamentarische Regierung aufbringen kann“.86 Die „Isolierschicht“ zwischen Reichstag und Regierung müsse zugunsten einer „organischen Verbindung“87 fallen. Im Gegensatz zu vielen Autoren bis in die Weimarer Republik hinein erkennt er scharfsichtig das Wesen des parlamentarischen Regierungssystems.88 Noch früher trat Anschütz für eine Demokratisierung ein, von der er sich eine „Stärkung der Staatsgewalt“ erhoffte.89 Das betraf vornehmlich Preußen, da für den Reichstag schon ein egalitäres Wahlrecht galt. Das preußische Dreiklassenwahlrecht kritisierte Anschütz als „ungerechtes Recht“ und „Widerspruch zu allen Forderungen politischer Ethik“:90 „Allgemeine Teilnahme des Volkes an Staat, politische Gleichberechtigung, Einheit von Volk und Staat, kurz Demokratie“,91 „eine Aussöhnung der Arbeiter mit dem nationalen Staat“92 sind das Ziel einer preußischen Wahlreform. Daneben tritt der Gedanke der notwendigen Homogenisierung der politischen Leitung 83

Anschütz Gedanken (Fn. 79), 57. Anschütz Gedanken (Fn. 59), 29 f.; ders. in: Pauly (Fn. 4), 163 f. 85 Anschütz Gedanken (Fn. 79), 50 f.; siehe auch ders. in: Pauly (Fn. 4), 162. 86 Anschütz Parlament und Regierung im Deutschen Reich, Vortrag in der Wiener Juristischen Gesellschaft am 13. März 1918, Allgemeine Österreichische Gerichtszeitung 69 (1918), 124 (124); siehe auch ders. Die Parlamentarisierung der Reichsleitung, DJZ 1917, Sp. 697 (698); ebenda 699 konstatiert er auch, daß faktisch schon damals eine Abhängigkeit der Regierung vom Parlament bestand; erstmals ders. Gedanken (Fn. 79), 51. 87 Anschütz Parlamentarisierung (Fn. 86), 699, 701; ders. Parlament-Vortrag (Fn. 86), 125; außerdem prognostiziert er dadurch eine von ihm erhoffte unitarisierende Wirkung siehe ders. Parlament (Fn. 79), 21 „parlamentarisieren heißt unitarisieren“. 88 Anschütz Parlament (Fn. 79), 22; ders. Parlament-Vortrag (Fn. 86), 125; ders. kommende Reichsverfassung (Fn. 75), 121 f.; eine Parteiregierung lehnt er indes 1918 noch strikt ab, ders. Parlament (Fn. 79), 23. 89 Anschütz Staatsaufsicht und Staatsverwaltung, JW 1916, 1147 (1148); ders. in: Pauly (Fn. 4), 160 f., 194 f. 90 Anschütz Gedanken (Fn. 79), 53, siehe auch ders. Die preußische Wahlreform, 1917, 3 „Schlimmeres als Unrecht, nämlich Scheinrecht“. 91 Anschütz Gedanken (Fn. 79), 57. 92 Anschütz Wahlreform (Fn. 90), 3. 84

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zwischen dem Reich und Preußen.93 Deutlich wird hier der Wandel vom nationalen, liberalen Anhänger der konstitutionellen Monarchie zum nationalen und liberalen Demokraten, der nicht mehr nur die „Freiheit vom Staat“, sondern die „Freiheit im Staat“ fordert.94 Folgerichtig lud Hugo Preuß ihn 1918 zusammen mit Max Weber zu einer Vorberatung des Entwurfs der Weimarer Verfassung ein.95 Zum Republikaner ist er freilich erst durch die Revolution von 1918 geworden, hat dann jedoch die Republik in seinen Publikationen bejaht und der Monarchie in keiner Weise nachgetrauert. In dem demokratischen Gedanken kollektiver Selbstbestimmung findet der Positivismus von Anschütz spätestens in der Weimarer Republik seine entscheidende Legitimation. Schon für die Bismarckverfassung lehnte Anschütz den Vorrang der Verfassung und dessen Begründung in der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ab. Verfassung und Gesetz stehen auf derselben Stufe, weil sie durch „dieselben Faktoren“ erlassen werden.96 In Weimar rechtfertigt dann der demokratische Gedanke die prinzipielle Gleichstellung von Verfassung und Gesetz. Die Verfassung vermag daher den Äußerungen des Volkswillens durch Volksentscheid wie parlamentarischer Gesetzgebung keine wirklichen Schranken zu ziehen. „Die Verfassung steht nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben“.97 Erst recht konnten einer Verfassungsänderung, sofern sie sich in den Formen des Art. 76 WRV vollzog, als Ausdruck des demokratischen Mehrheitswillens keine Schranken gezogen werden. Verfassungsänderungen sind daher möglich „ohne Unterschied des Inhalts und der politischen Tragweite. Nach Art. 76 WRV können Verfassungsänderungen jeder Art bewirkt werden“.98 Dieser unbedingte Vorrang des demokratischen parlamentarischen Gesetzgebers färbt auch ab auf Anschütz’ Auffassungen zum richterlichen Prüfungsrecht.99 Während des Kaiserreichs folgte Anschütz insoweit ganz der traditionellen Auffassung, die ein materielles Prüfungsrecht völlig ablehnte und ein formelles Prüfungsrecht nur hinsichtlich der Frage zuließ, ob überhaupt ein Gesetz vorlag. Da die verfassungsgebende Gewalt keine höhere Gewalt ausübte, sondern die Verfassungsänderung „denselben Faktoren“ wie die normale Gesetzgebung oblag, konnte ein richterliches Prüfungs93

Anschütz Wahlreform (Fn. 90), 4. Anschütz Preuß (Fn. 62), 344; siehe auch ebenda 345 wo er mit den Worten „wir, das Volk, sind der Staat“ eine „Neuorientierung“ verlangt. 95 Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 239 f.; seine Denkschrift zur Reichsverfassung wurde unter dem Titel „Die kommende Reichsverfassung“ (Fn. 75) veröffentlicht. 96 Meyer/Anschütz (Fn. 13), 744. 97 Anschütz WRV-Kommentar (Fn. 8), Art. 76 Anm. 1 (401). 98 Anschütz WRV-Kommentar (Fn. 8), Art. 76 Anm. 3 (403); Vorzüge und Nachteile dieser Haltung können hier nicht eingehend erörtert werden; siehe zusammenfassend hier nur Dreier (Fn. 1), 39 f. mwN. 99 Zu diesem Zusammenhang Meyer/Anschütz (Fn. 13), 744; Anschütz WRV-Kommentar (Fn. 8), Art. 76 Anm. 1 (401), Art. 102 Anm. 3 c (476). 94

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recht bei Reichsgesetzen nicht anerkannt werden.100 Im Prinzip hat Anschütz an dieser Auffassung festgehalten,101 allerdings trat nach 1918 der Schutz des demokratischen Volkswillens als Begründung in den Vordergrund. Er befürchtete eine „verfassungswidrige Erhöhung des Richters über den Gesetzgeber“,102 wobei wohl auch die Zweifel an der demokratischrepublikanischen Gesinnung der überwiegend konservativen Richterschaft mitspielten.103 Die Konzentration und „Monopolisierung des Prüfungsrechts in der Hand des Staatsgerichtshofs“, der aus demokratisch und republikanisch gesinnten Richtern zusammengesetzt sein würde, konnte deshalb seine Zustimmung finden.104 c) Grundrechte Das Staatsverständnis bildet auch die Grundlage seiner Grundrechtskonzeption. Der Staat ist nicht nur nationaler souveräner Machtstaat, sondern zugleich freiheitlicher Staat, auf die Freiheit der Bürger gegründet und ebenso Garant der Freiheit. Macht und Freiheit sind die beiden Medaillenseiten des Staates.105 Das Freiheitsmoment ist für Anschütz neben der nationalen Einheit die große Errungenschaft der Bismarckzeit. In den Erinnerungen heißt es: „Die Einheitsbewegung war zugleich eine freiheitliche Bewegung; zusammen mit der Einheit des deutschen Staatswesens wuchs die persönliche, politische, wirtschaftliche, soziale Freiheit seiner Bürger“.106 Rechtlich wird diese Freiheit aber in erster Linie durch „die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes, die anschließende Reichs- und preußische Gesetzgebung der beginnenden siebziger Jahre“ verwirklicht. Die Grundrechte, deren Kommentierung in der Preußischen Verfassungsurkunde das Zentrum seiner Berliner Zeit darstellt, sind Ausdruck dieser Freiheit, jedoch nicht ihr eigentlicher Garant, sondern vor allem Leitlinie der Gesetzgebung und Kompetenzgrundlage der Parlamentsgesetze, 100 Meyer/Anschütz (Fn. 13), 736 ff. mwN zur damaligen Diskussion; Anschütz (Fn. 32), 166; das galt freilich nur für Reichsgesetze, die ihrerseits einen richterlich überprüfbaren Vorrang vor Landesrecht wie vor Rechtsverordnungen beanspruchten. 101 Anschütz WRV-Kommentar (Fn. 8), Art. 70 Anm. 3 f. (369 ff.); Art. 102 Anm. 3 (475 f.). 102 Anschütz WRV-Kommentar (Fn. 8), Art. 102 Anm. 4 (477 f.). 103 Dreier (Fn. 1), 42 mwN. 104 Anschütz Verhandlungen des 34. DJT 1926, Band II, 1927, 194 ff.; dazu eingehend Dreier (Fn. 1), 42 ff. 105 Sein Autogramm zur Jahrhundertfeier der Berliner Universität legt diesen Gedanken explizit den Preußischen Reformern bei, „daß Macht nur des Staatsgedankens einer Teil, der andere aber, ganz ebenbürtig, die Freiheit ist“, in: Liebmann (Hrsg.) Die juristische Fakultät der Universität Berlin von der Gründung bis zur Gegenwart in Wort und Bild, in Urkunden und Briefen, 1916, 188; vgl. ebenso Sohm Die sozialen Aufgaben des modernen Staates, 1898, 29; vgl. auch Böckenförde (Fn. 1), 372 f. 106 Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 3.

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indem sie den Gesetzesvorbehalt begründen. In dem damaligen Streit, ob die Grundrechte nur Grundsätze für die Gesetzgebung sind oder subjektive Rechte begründen, nimmt Anschütz allerdings eine differenzierte Position ein.107 Eine Reihe von Verfassungsartikeln wendet sich danach „ausschließlich an den Gesetzgeber“; diese Normen enthalten „kein aktuell geltendes und anwendbares Recht, sie sind nicht schon gegebene, sondern Direktiven für zu gebende Gesetze“.108 Andere Grundrechtsbestimmungen „bringen unzweifelhaft aktuelles, aber rein objektives Recht“.109 Anschütz erkennt jedoch einigen Rechten auch den Charakter als subjektive Rechte zu. Sie sind insofern aber nur Ansprüche „auf ein negatives Verhalten, ein Nichttätigwerden der Staatsgewalt“. Sie sind als subjektive Rechte lediglich „im Kern ihres Wesens Ansprüche auf Unterlassung von Verwaltungsakten“110 und nicht gegen die gesetzgebende Gewalt gerichtet. Ebensowenig entfalten die Grundrechte eine Drittwirkung.111 „Ansprüche von Individuen gegen den Staat als Gesetzgeber, sei es auf Vornahme, sei es auf Unterlassung oder Zurücknahme eines legislativen Aktes, (gehören dagegen) nach unseren Rechtsanschauungen zu den Unmöglichkeiten“.112 Die objektivrechtliche Kehrseite dieser subjektiven Ansprüche „ist das Prinzip der gesetzmäßigen Verwaltung, es unterscheidet den Rechtsstaat vom Polizeistaat“.113 Die Garantie der persönlichen Freiheit in Art. 5 ist dementsprechend „hemmende Schranke für die Verwaltung, nicht aber für die Gesetzgebung“.114 Immerhin konstituiert sie das Freiheitsprinzip des modernen Verfassungsstaats, wonach „die persönliche Freiheit so weit als das Gesetz sie nicht beschränkt“ reicht.115 In einer an die Objektformel im Bereich der grundgesetzlichen Menschenwürde erinnernden Formulierung sieht Anschütz doch eine Schranke für den Gesetzgeber durch Art. 5 errichtet: „So ist hiermit der Mensch als handlungsfähiges Wesen, als Person vorausgesetzt, die Degradierung des Menschen zur Sache verboten und demzufolge 107 Die Ausdifferenzierung der verschiedenen Grundrechtswirkungen findet sich in Anschütz (Fn. 24), 94 ff.; vgl. auch Pauly (Fn. 4), XXIX f. 108 Anschütz (Fn. 24), 94. 109 Anschütz (Fn. 24), 95. 110 Anschütz (Fn. 24), 96. 111 Anschütz (Fn. 24), 136; Anschütz richtet sich hier gegen Schwartz (Fn. 26), Art. 5 Anm. B; von Rönne/Zorn Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie5, Band II, 1906, 151 f. 112 Anschütz (Fn. 24), 94. 113 Anschütz (Fn. 24), 97. 114 Anschütz (Fn. 24), 136. 115 Anschütz (Fn. 24), 136; siehe auch 133: „Persönliche Freiheit ist [. . .] Freiheit vom Staat“: sie ist als solche „kein Recht, sondern ein Status, kraft dessen der einzelne nicht nur tun darf, was ihm das Gesetz erlaubt, sondern alles, was ihm kein Gesetz verbietet“; vgl. bereits ALR, Einl. § 87.

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das Dasein von Menschen, welche die rechtliche Natur von Sachen haben, von Sklaven i.e.S., verfassungsmäßig ausgeschlossen“.116 In der Sache und im Kern hat Anschütz an diesen Grundpositionen in der Weimarer Republik und in seinem Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung festgehalten. Am prägnantesten zusammengefasst findet sich das in dem bekannten Zitat, wonach die Grundrechte zum großen Teil zu begreifen sind als „kasuistisch gefaßte Darlegung jenes allgemeinen formalen Prinzips, wonach die Verwaltungsorgane dem Leitgedanken des Rechtsstaats entsprechend in Freiheit und Eigentum des Einzelnen nur aufgrund und innerhalb der Schranken des Gesetzes eingreifen dürfen (Gesetzmäßigkeit der Verwaltung)“.117 Im Einzelnen schloss das weitere Differenzierungen der Grundrechte und hinsichtlich einzelner Grundrechte einen Auffassungswandel im Sinne einer Verstärkung ihrer Geltungskraft nicht aus, die schon 1912 nicht bloß auf Programmsätze reduziert werden konnten und nicht zur beliebigen Disposition des Gesetzgebers standen.118 In den grundlegenden Elementen seiner Grundrechtskonzeption überwog bei Anschütz indes die Kontinuität. Das gilt gerade auch für das große Streitthema des Gleichheitssatzes. Der Gleichheitssatz „ist eine Maxime nicht für den, der das Gesetz gibt, sondern für den, der es handhabt; Gleichheit vor dem Gesetz ist in Wahrheit Gleichheit vor dem Richter und der Verwaltung“, schreibt Anschütz 1912.119 Die Kommentierung des Art. 109 WRV greift diese Formulierungen fast wörtlich wieder auf und verweist explizit auf den früheren Kommentar.120 4. Verwaltungsrecht Im allgemeinen Bewusstsein und in den späteren wie früheren Würdigungen sind praktisch ausschließlich seine staatsrechtlichen Schriften, Thesen und Positionen gegenwärtig. Das steht in eigentümlichem Kontrast zu Anschütz’ eigener Auffassung, wenn er in seinen Erinnerungen das Verwaltungsrecht als sein „eigentliches Hauptfach“ bezeichnet.121 Nicht zuletzt seine Habilitationsschrift ist diesem Gebiet zuzurechnen. Darüber hinaus 116 117

Anschütz (Fn. 24), 136 f. Anschütz WRV-Kommentar (Fn. 8), Vorwort des Zweiten Hauptteils, Anm. 5b

(511). 118 Vgl. im Einzelnen für die Weimarer Zeit Dreier (Fn. 1), 44 f., sowie allgemein ders. Die Zwischenkriegszeit, in: HGR I, § 4, Rn. 12 ff. 119 Anschütz (Fn. 24), 109. 120 Anschütz WRV-Kommentar (Fn. 8), Art. 109 Anm. 1 (523). 121 Anschütz in: Pauly (Fn. 4), 73, daneben hält er auch regelmäßig Vorlesungen zum Kirchenrecht (siehe ebenda 74), publiziert auf diesem Gebiet mit Ausnahme des Aufsatzes von 1940 (o. Fn. 3) jedoch nicht; vgl. im Übrigen auch den Hinweis auf das Verwaltungsrecht von Ule Gerhard Anschütz – ein liberaler Staatsrechtslehrer des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Der Staat 33 (1994) 104 (106).

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hat Anschütz jedoch kein weiteres größeres Werk dem Verwaltungsrecht gewidmet, wenngleich zahlreiche kleinere Publikationen und Aufsätze verwaltungsrechtliche Themen behandeln. Außerdem tritt er auch hier durch meisterhafte Handbuchartikel hervor, die große, breite Themen wie die Polizei122 oder die Verwaltungsgerichtsbarkeit123 und das Verwaltungsrecht124 konzis und prägnant darstellen. Sieht man davon ab, dass von den verwaltungsrechtlichen Arbeiten kein wirklich erkennbarer Einfluss ausgegangen ist, der sich etwa mit dem Otto Mayers vergleichen ließe, zeichnen sich aus heutiger Perspektive viel eher die staatsrechtlichen Bezüge und Erkenntnisse als die genuin verwaltungsrechtlichen Thesen durch Originalität und Modernität aus. Anschütz betont in den Aufsätzen über die Polizei die Überwindung des Polizeistaats durch den Rechtsstaat,125 die durch die Begrenzung der polizeilichen Aufgaben von der umfassenden Wohlfahrtspflege auf die Gefahrenabwehr126 und die strikte Bindung an das Gesetz erreicht worden ist. Vom Rechtsstaatsgedanken durchdrungen ist auch seine Auffassung von der rechtlichen Bindung der Ermessensfreiheit127 und die Akzentuierung des staatlichen Polizeimonopols.128 Die Rechtsstaatlichkeit äußert sich ebenfalls in der in Preußen durchgesetzten Einordnung des Verwaltungsrechts in den Aufgabenbereich der Justiz129 und der Ausdifferenzierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die in der unterschiedlichen Zwecksetzung von Justiz und Verwaltung ihre Rechtfertigung findet.130 Anschütz sieht zudem, dass Verwaltung nicht bloß auf Gesetzesvollzug reduziert werden kann.131 Im Gefolge Otto Mayers erkennt er frühzeitig die Gewaltenteilung als Staatsprinzip an, da sie nicht im Widerspruch zur Einheit der Staatsgewalt stehe.132 Als Unitarist tritt er sogar noch im Kaiserreich für die Stärkung der 122 Anschütz Die Polizei, 1910 (Vorträge der Gehe-Stiftung, Band II, 221 ff.); ders. Polizei, in: Brix u.a. (Hrsg.) Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften, Band III, 1924, 455 ff.; Ergänzungsband 1927, 1044 ff. 123 Anschütz Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Laband u.a. (Hrsg.) Handbuch der Politik, Band I, 1914, 318 ff.; 2. Auflage 1920 (hrsg. von Anschütz u.a.), Band I, 302 ff.; ders. Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Brix Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften Band IV, 1924, 326 ff. und Ergänzungsband 1927, 1366 ff. 124 Anschütz Verwaltungsrecht, in: Stammler (Hrsg.) Systematische Rechtswissenschaft, 1906, 336 ff. 125 Anschütz Polizei (1910) (Fn. 122), 24 (= 242). 126 Anschütz Polizei (1910) (Fn. 122), 12, 14 f. (= 230, 232 f.); die Polizei ist daher „weder Geschmacks- noch Kunstrichter“ Anschütz Urteilsanmerkung JW 1931, 98 (99 f.) 127 Anschütz Polizei (1910) (Fn. 122), 18 (= 236). 128 Anschütz Polizei, Staat und Gemeinde in Preußen, in: FS Brunner 1914, 339 ff., was ein Plädoyer für eine partielle Kommunalisierung (347 ff.) nicht ausschloss. 129 Anschütz (Fn. 124), 340. 130 Anschütz (Fn. 124), 346 f. 131 Anschütz (Fn. 124), 345 f. 132 Anschütz (Fn. 21), 10 Fn. 8; ders. (Fn. 124), 337 f.; vgl. dazu auch Heun Das Konzept der Gewaltenteilung in seiner verfassungsgeschichtlichen Entwicklung, in: Starck (Hrsg.) Staat und Individuum im Kultur- und Rechtsvergleich, 2000, 95 (106 ff.).

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Verwaltungsgerichtsbarkeit durch ein Reichsverwaltungsgericht ein.133 Gerade im Bereich des Verwaltungsrechts kommt der Positivismus von Anschütz klar zum Ausdruck. Die Staatlichkeit äußert sich im Gesetz, das Kaiserreich ist „ein Staat des Gesetzesrechts“.134 Da es kein Naturrecht gibt,135 steht der Staat als Gesetzgeber über dem Recht.136 Folgerichtig ist auch die Eigentumsordnung eine Schöpfung des Staates. Das Eigentum ist „nicht Schranke des Staatswillens, vielmehr letzterer Schranke des Eigentums“,137 mit der Konsequenz, dass rechtmäßige Eingriffe in das Eigentum keine Aufopferungsansprüche begründen können.138 Deshalb kann Anschütz in seiner Habilitationsschrift im Kern die Eigentumskonzeption des Bundesverfassungsgerichts seit dem Nassauskiesungsbeschluss vorwegnehmen,139 denn für ihn ist „das Privateigentum keine konstante, sondern eine variable Größe“,140 mithin von der sich wandelnden Ausgestaltung des Gesetzgebers abhängig.

III. Resümee Obwohl das rechtliche und politische System mehrfach von tiefen Brüchen geprägt ist, überwiegt bei Anschütz die Kontinuität seiner Haltung und seiner Grundpositionen. Am stärksten wandelt sich die Einstellung vom liberalen Konstitutionalisten zum Verfechter eines demokratischen, parlamentarischen Regierungssystems. Diese Entwicklung vollzieht sich im Wesentlichen bereits in seiner Berliner Zeit. Die Abschaffung der Monarchie und die republikanische Staatsform der Weimarer Verfassung werden von Anschütz akzeptiert und bejaht, sind aber äußerlich vorgegeben und kein essenziell notwendiger Baustein seiner Konzeption. Ansonsten aber hält Anschütz mit großer Beharrungskraft und lediglich geringen Modifikationen oder Nuancierungen an seinen Grundthesen fest, dem Staat als Zentrum seines Denkens, seiner uneingeschränkten Gesetzgebungsmacht und einer Rechtstaatskonzeption, die ihr Vertrauen in die Sicherung der politischen 133 Anschütz Liegt ein Bedürfnis eines deutschen Reichsverwaltungsgerichts vor?, 30. DJT 1910, Band I, 489 ff., bes. 500. 134 Anschütz Allgemeine Begriffe und Lehren des Verwaltungsrechts nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts, PreußVerwBl. 22 (1900/1901) 83 (87). 135 Anschütz (Fn. 124), 340. 136 Anschütz (Fn. 124), 337. 137 Anschütz (Fn. 20), 15. 138 Anschütz (Fn. 20), bes. 24, 61, 133. 139 BVerfGE 58, 300 (328 ff.); vgl. dazu hier nur Rozek Die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung, 1998, 25 ff.; Appel Entstehungsschwäche und Bestandstärke des verfassungsrechtlichen Eigentums, 2004, 25 ff. 140 Anschütz (Fn. 20), 132; er verweist hier auch auf Jellinek System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, 79.

Gerhard Anschütz (1867–1948)

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und grundrechtlichen Freiheit in erster Linie in den parlamentarischen Gesetzgeber und die Bindung der Verwaltung an das Gesetz setzt. Anschütz’ Positivismus ist Ausdruck und Konsequenz seiner demokratischen Überzeugungen.

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James Goldschmidt (1874–1940) James Goldschmidt (1874–1940) Martin Heger

James Goldschmidt (1874–1940) MARTIN HEGER

I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Promotion: Materielles Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . 2. Habilitation: Verwaltungsstrafrecht . . . . . . . . . . . . . 3. Privatdozentur: Prozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Goldschmidt als Professor an der Juristischen Fakultät IV. Schritte zur Entrechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Goldschmidts wissenschaftliches Werk . . . . . . . . . . . VI. Goldschmidt als Rechtspolitiker . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Im ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anfangsjahre der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . 3. Krise 1922/23 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Vorbemerkung Der „Urberliner“1 James Goldschmidt begann sein Studium 1892 an der Berliner Juristenfakultät und wirkte hier bis zu seiner Zwangsemeritierung 1935 – von einem Studiensemester in Heidelberg und einer kurzzeitigen Versetzung 1934 nach Frankfurt abgesehen – als Doktorand, Habilitand, Privatdozent, außerordentlicher, dann ordentlicher Professor und schließlich Lehrstuhlinhaber. Sein ganzes Gelehrtenleben an einer Universität zu verbringen, ist ungewöhnlich. In Berlin galt schon ein Aufrücken vom Extraordinarius zum Lehrstuhlinhaber als Ausnahme.2 Die anderen Strafrecht Ordinarien seiner Zeit wurden aus dem ganzen Reich berufen: Wilhelm Kahl aus Bonn, Franz von Liszt aus Halle, Eduard Kohlrausch aus Straßburg; für Kahl und Kohlrausch war es die dritte Professur, für von Liszt gar 1

Wegner JR 1950, 706, 707. Gräfin von Lösch Der nackte Geist. Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, 1999, 88, verweist darauf, dass dies auch dem Völkerrechtler Viktor Bruns (1884–1943) gelungen sei; allerdings war Bruns vor seiner Berufung auf ein Berliner Extraordinariat 1912 in Genf Assistenzprofessor (Borchard 37 AJIL [1943] 658 ff.). 2

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die vierte. Schon das zeigt, dass Goldschmidts Aufstieg innerhalb dieser Institution Ausweis überaus großer Fähigkeiten gewesen sein muss. Dass er als Jude Ende 1935 endgültig die Fakultät verlassen musste, bereits ab Sommersemester 1933 keine Vorlesungen mehr halten und nicht mehr publizieren durfte, ihm schließlich die fast 35 Jahre zuvor erteilte Lehrbefugnis entzogen wurde, lag an den Umständen der damaligen Zeit. Nicht zu erklären vermag dies jedoch, warum sein Werk heutigen Juristengenerationen weitgehend unbekannt ist. Nach Ende der NS-Diktatur erlebte er zwar eine kurzzeitige Renaissance; die in Nachrufen zu seinem 10. Todestag3 und einem Aufsatz seines Sohnes Robert4 zum Ausdruck gekommene Erwartung, dass die deutsche Rechtswissenschaft sich wieder eingehender mit Goldschmidts Werk beschäftigen, ja auch sein fremdsprachiges Spätwerk mitberücksichtigen möge, hat sich jedoch nicht bewahrheitet. Zu seinem 100. Geburtstag gab es gerade noch eine deutschsprachige Würdigung;5 ein Jahr später schüttet der Marburger Strafrechtler Erich Schwinge über sein Hauptwerk „Der Prozeß als Rechtslage“ Kübel der Häme aus und stützt sich dabei vor allem auf eine „gründliche Würdigung“ des Buches von 1939 (!).6 Seither fällt der Name James Goldschmidt insbesondere, wenn es um jüdische Juristen geht.7 Sein Schicksal als Opfer des NS-Regimes überwölbt eine Würdigung seines wissenschaftlichen Werks und dessen Nachwirkungen. In Werken zum Strafrecht spielt sein Name selten eine Rolle; in größeren Büchern zum Straf- und Zivilprozessrecht findet sich zwar „Der Prozeß als Rechtslage“ regelmäßig bei den Literaturnachweisen, doch wird auf das darin entwickelte theoretische Gebäude nur am Rande eingegangen. Diese weitgehende Nichtbeachtung in der deutschen Rechtswissenschaft steht in einem Kontrast zur Beachtung, die er bis heute im spanischsprachigen Schrifttum findet, wo man ihn nicht nur rühmt als „gran jurista judío“, sondern ebenso als „Großen“ der Rechtswissenschaft, als Mitbegründer der normativen Schuldlehre, gar als „Vater der Prozessrechtswissenschaft“.8

3 Heinitz NJW 1950, 536; Eb. Schmidt SJZ 1950, 447; Schönke DRZ 1950, 275 f.; Wegner (Fn. 1), 706 ff. 4 R. Goldschmidt AcP 151 (1950/51), 363 ff. 5 Bruns ZZP 88 (1975) 121 ff. 6 Schwinge in: FS Hartmann 1976, 295, 298. 7 Sellert in: Heinrichs u.a. (Hrsg.) Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, 595 ff.; Göppinger Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich“2, 1990, 283. 8 López Barja de Quiroga James Goldschmidt, Un gran jurista judío perseguido por el Nazismo, 1; Peláez del Rosal Art. „James Goldschmidt“, in: Gran Enciclopedia Rialp, 1991.

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II. Anfänge James Paul Goldschmidt wurde am 17.12.1874 als Sohn des jüdischen Bankiers Robert Goldschmidt und seiner Ehefrau Emilie, geb. Bressler, in Berlin geboren.9 Ab 1881 besuchte er das Königliche Französische Gymnasium zu Berlin und bestand dort Ostern 1892 die Reifeprüfung. Daraufhin studierte er Rechtswissenschaften und legte am 31. Mai 1895 vor dem kgl. Kammergericht die erste juristische Staatsprüfung ab. Sein jüngerer Bruder Hans Walter (1881–1940) wurde ebenfalls Jurist und wirkte bis zu seiner Emigration nach England als Oberlandesgerichtsrat und außerordentlicher Professor in Köln. Die Schritte seines wissenschaftlichen Werdegangs lassen sich jeweils verbinden mit der Beschäftigung mit einem neuen Rechtsgebiet, so dass Goldschmidt Schritt für Schritt zu einem Strafrechtler, Verwaltungsstrafrechtler und Prozessualisten, schließlich zu einem bedeutenden Rechtspolitiker heranreifte. 1. Promotion: Materielles Strafrecht Am 17.6.1895 trat er in den Referendardienst ein; erste Station war das Amtsgericht Zossen. Zugleich fertigte er als Schüler Josef Kohlers eine Dissertation über „Die Lehre vom unbeendigten und beendigten Versuch“ an (veröffentlicht 1897); nach Genehmigung der Fakultät und Verteidigung der Thesen am 19.12.1895 wurde er – gerade 21-jährig – zum Dr. iur. promoviert. Schon dieses Erstlingswerk zeigt eine Struktur, die für spätere Monographien charakteristisch ist: Den beendeten Versuch untersucht er zunächst historisch (ausgehend vom delictum perfectum) und vergleichend (zum italienischen und französischen Recht); erst im letzten Drittel (41 ff.) stellt er das in Deutschland geltende Recht dar und unternimmt eine dogmatische Bestimmung des Verhältnisses von unbeendetem und beendetem Versuch.10 Ebenfalls 1897 publiziert er eine Schrift über „Die Strafbarkeit der widerrechtlichen Nötigung nach dem Reichsstrafgesetzgebung“. Goldschmidt kritisiert hier den weitergehenden Schutz des Vermögens gegen Erpressung als den höchstpersönlicher Rechtsgüter gegen Nötigung; weil § 240 RStGB die Drohung mit einem Vergehen oder Verbrechen fordere, sei derjenige straflos, der die Tochter eines Straftäters unter Androhung einer Anzeige gegen den Vater zu sexuellen Handlungen bewege, während das gleicher9 Nicht anders gekennzeichnete Hinweise zu seinem Werdegang und seinem Wirken an der Fakultät entstammen seiner Personalakte sowie anderen Aktenbeständen im Archiv der Humboldt-Universität. 10 Steinberg GA 2008, 516, 517 Fn. 6, lobt den „instruktiv-kritischen Überblick über das Theorien-Spektrum“.

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maßen motivierte Verlangen eines kleinen Geldbetrages nach § 253 RStGB – der jede Drohung genügen ließ – zu bestrafen sei (4 f.). Wieder argumentiert er rechtsvergleichend (35) und schließt intradisziplinär mit einem Blick auf die soeben verabschiedete Schadensersatznorm des § 825 BGB (39). 1908 verfasst Goldschmidt für die „Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts“ das Hauptkapitel über „Strafen (Haupt- und Nebenstrafrecht) und verwandte Maßregeln unter Berücksichtigung der den Inhalt der Strafe bestimmenden Grundsätze des Strafvollzuges“.11 Im Schulenstreit favorisiert er eine Berücksichtigung des Besserungsund Sicherungsgedankens sowie einen Ausbau der Maßregeln. Obwohl er die Todesstrafe für mit dem „Sicherheitszweck“ vereinbar hält und sich – wie er konstatiert – keine Mehrheit für ihre Abschaffung finde, spricht er sich gegen dieses „Vermächtnis einer sonst überwundenen Zeit“ aus, weil „der Zweck nicht jedes Mittel heiligt“.12 Nach Veröffentlichung des „Vorentwurfs zu einem neuen deutschen Strafgesetzbuch“ 1909 verfasst Goldschmidt mit von Liszt, Kahl und von Lilienthal 1911 einen „Gegenentwurf“, auf den er insbesondere durch seine normative Schuldlehre13 einwirkt, die er 1913 in seiner Schrift „Der Notstand, ein Schuldproblem“ vertieft.14 Neben Frank und Freudenthal gilt er deswegen als Begründer einer normativen Schuldtheorie, die er in der Festschrift für Reinhard Frank 1930 noch einmal zusammenfasste und verteidigte, womit er „sein strafrechtliches Lebenswerk gekrönt“ habe.15 2. Habilitation: Verwaltungsstrafrecht Nachdem er am 31.1.1900 die Große juristische Staatsprüfung abgelegt hat, wird Goldschmidt zum Gerichtsassessor ernannt und tritt in den preußischen Justizdienst ein. Noch im selben Jahr kann er seine Habilitationsschrift über „Das Verwaltungsstrafrecht“ abschließen. Die Fakultät bestimmt Kohler zum Erst- und Albert Friedrich Berner zum Zweitgutachter. Nachdem Kohler sein Gutachten erstellt hatte, sah sich Berner – laut Goldschmidt sein „alter Gönner“16 – außer Stande, das Zweitgutachten zu erstellen, wohl weil er gehofft hatte, das Erstvotum würde ihm die Begutachtung erleichtern, er sich in dieser Erwartung jedoch enttäuscht sah. Statt seiner schlug er von Liszt als Zweitgutachter vor, der am 28.3.1901 das Zweitgut11

Vgl. Sellert (Fn. 7), 601. Vgl. Goldschmidt in: von Birkmeyer u.a. (Hrsg.) Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allg. Teil, IV. Band, 1908, 81, 318 ff. 13 Dazu Jescheck/Weigend Strafrecht AT5, 1996, 420 f.; Safferling Vorsatz und Schuld, 2008, 49 ff. 14 Vgl. Sellert (Fn. 7), 602 f. 15 Wegner (Fn. 1), 706. 16 Goldschmidt ZStW 43 (1922) 411. 12

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achten erstellte. Goldschmidt schlug als Vortragsthema vor: „Die Vermögensbeschlagnahme nach der R.Str.Pr.O.“; im Mai 1901 tauschte er dieses gegen ein aktuelles Thema aus und wurde mit dem Vortrag über „Der Reichstags-Kommissions-Beschluß zur Fragestellung im Schwurgerichtlichen Verfahren“ am 24.6.1901 für die Fächer Strafrecht und Strafprozessrecht habilitiert. Ausweislich des Untertitels ist seine 1902 veröffentlichte Habilitationsschrift eine „Untersuchung der Grenzgebiete zwischen Strafrecht und Verwaltungsrecht auf rechtsgeschichtlicher und rechtsvergleichender Grundlage“. Dabei agierte Goldschmidt nicht nur in Bezug auf seinen Untersuchungsgegenstand als Grenzgänger, sondern auch methodisch, verglich er doch ausführlich horizontal und vertikal (1–528), bevor er seine „Theorie des Verwaltungsstrafrechts“ (529–584) entwickelte; damit schaffte er eine dogmatische Grundlegung für die Übertretungen der §§ 360 ff. RStGB wie auch die Strafnormen in Polizeigesetzen bzw. -verordnungen, wobei es ihm besonders auf die Verbindung solcher Strafnormen zum Verwaltungsrecht ankam. Zwei Jahre später untersucht er das Verhältnis des Verwaltungsstrafrechts zur modernen Staats- und Rechtslehre.17 Das juristisch intradisziplinäre Verwaltungsstrafrecht hatte er damit interdisziplinär mit dem ganzen Arsenal juristischer Grundlagenfächer traktiert – Rechtsgeschichte, Rechtsvergleich, Rechts- und Staatstheorie. Seine „Theorie des Verwaltungsstrafrechts“ war ihrer Zeit voraus, sollte aber die spätere Gesetzgebung befruchten, vom Erlass des preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931 – hierzu erstattete er der preußischen Regierung ein Gutachten18 – bis zum Erlass des Wirtschaftsstrafgesetzes 1949.19 3. Privatdozentur: Prozessrecht Als Privatdozent wurde er sogleich in die Lehre eingebunden, vor allem im Strafprozessrecht, das er in den ersten neun Semestern immerhin achtmal lesen sollte; sechsmal bot er ein „Konversatorium über Strafrecht und Strafprozeßrecht“ an, daneben vier „Übungen in der Carolina“ und im WS 1905/06 die Vorlesung „Presserecht“. Unter dem Eindruck guter Lehre beschloss die Fakultät auf Antrag von Kohler, Berner, von Liszt u.a. am 5.12. 1905 unter dem Dekanat von Emil Seckel, Goldschmidts Ernennung „zum außerordentlichen Professor des Strafrechts und Strafprozeßrechts in Vorschlage zu bringen“. Mit Seckel sollte ihn bis zu dessen Tode 1924 eine tiefe Freundschaft verbinden, seinem Angedenken widmete er den „Prozeß als Rechtslage“ (VI). 17 18 19

Goldschmidt in: FS Koch 1903, 415 ff. Goldschmidt ZStW 52 (1932) 497 ff. Schönke (Fn. 3), 275; Eb. Schmidt (Fn. 3), 447.

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Dieses Bemühen der Fakultät um Absicherung des Status von Goldschmidt ging einher mit der Gründung seiner Familie. Nachdem er am 7.8.1906 Margarete Lange (geb. am 13.3.1883), geheiratet hatte, wurde am 4.6.1907 sein erster Sohn Robert geboren; es folgten zwei weitere Söhne – Werner (9.2.1910) und Viktor (28.9.1914) – sowie die Tochter Ada (9.3. 1919). Die beiden älteren Söhne studierten Jura, waren bis 1933 Assistenten, Robert in Berlin, Werner in Kiel, und emigrierten nach Südamerika, wo sie später Professuren bekleideten.20 Victor lehrte in Frankreich Philosophie und Geschichte. Als Ende 1906 in Berlin die außerordentliche Professur eines Germanisten zur Wiederbesetzung anstand, beschloss die Fakultät am 17.12.1906, „die Professur für Zivilprozeß und Strafrecht neu zu bestimmen und mit dem Privatdozenten Dr. J. Goldschmidt zu besetzen“. Auf Anregung des Dekans beantragte Goldschmidt daraufhin die Erteilung der venia legendi auch für Zivilprozessrecht. Der Weg vom Strafrecht zum Zivilprozessrecht war dadurch vorgezeichnet, dass Goldschmidt den Zivilprozess nicht aus privatrechtlicher, sondern aus staatsrechtlicher Perspektive erforschte und das dafür notwendige „Rüstzeug … aus dem Arsenal der Staatsrechtswissenschaft“ bereits in seinen Arbeiten zum Verwaltungsstrafrecht und zum „Materiellen Justizrecht“ (1905) – vor allem zum Strafrecht, aber auch bereits zum Zivilprozess – entfaltet hatte.21 Goldschmidt wurde zwar (Zivil-) Prozessualist, nicht aber Zivilist; vielmehr „zog es [ihn] lange heimlich zum Verwaltungsrecht hin“.22 Die Anwendbarkeit der Figur eines materiellen Justizrechts auf den Strafwie Zivilprozess unterstrich er 1910 in einem Kurzbeitrag zur „Rechtskraftlehre beider Prozesse“.23 1914 folgten dann in der Festschrift für Brunner „Zwei Beiträge zum materiellen Ziviljustizrecht“. Seine Theorie eines materiellen Justizrechts beruhte auf der Erkenntnis, dass eine Übertragung der Begrifflichkeiten des materiellen Rechts auf das Prozessrecht und umgekehrt verfehlt sei.24 Der publizistische Ansatz war auch für seine erste zivilprozessuale Monographie – „Ungerechtfertigter Vollstreckungsbetrieb“ (1910) – maßgebend, wobei Goldschmidt Wert darauf legte, dass es ihm nicht prinzipiell um eine Ausweitung des öffentlichen zulasten des bürgerlichen Rechts gehe, weshalb er die Vollstreckungsgegenklage als Gegenstück zur Leistungsklage verstand, weil jene – wie diese – auch auf die Feststellung eines Privatanspruchs ziele (56 ff.). Und in seinem Beitrag „Rechtsgrund und Rechtsnatur der staatlichen Entschädigungspflicht gegenüber unschuldig Verhafteten und Bestraften“ will er diese nicht per se dem Öffentlichen 20 21 22 23 24

Göppinger (Fn. 7), 283. Goldschmidt Ungerechtfertigter Vollstreckungsbetrieb, 1910, VI f. Wegner (Fn. 1), 706. Goldschmidt DJZ 1909, 1132 f. Heinitz (Fn. 3), 536.

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Recht zuweisen; „auch die aus eigenstem staatlichen Handeln entspringende Entschädigungspflicht kann dem Privatrecht unterfallen“.25 „Der Prozeß als Rechtslage“ (1925) war dann zweifelsohne wissenschaftlicher Höhepunkt seines prozessualen Denkens, sein – nicht einfach zu lesendes – opus magnum, ja „die Summe des Goldschmidtschen Lebenswerkes“.26 Der Gedanke strikter methodischer Trennung zwischen Sach- und Prozessrecht wurde hier ausgebaut. Der ganz herrschenden Lehre vom Prozess als Rechtsverhältnis hielt er entgegen, die für das Entstehen eines Prozessrechtsverhältnisses erforderlichen Prozessvoraussetzungen seien in Wirklichkeit Sachurteilsvoraussetzungen.27 Für ihn ist die Rechtskraft das Ziel eines Prozesses, doch begründe die Rechtskraft des Urteils nicht neues materielles Recht. Vielmehr bezeichnet er Rechtskraft auch als „Gerichtskraft“ in dem Sinne einer bloß gerichtlichen Geltung des Anspruchs als rechtlich begründet oder unbegründet. Sie sei daher Erscheinungsform einer doppelten Rechtsordnung: Neben der materiell begründeten Rechtsordnung stehe die „Gerichtsordnung“, die mittels gerichtlicher Urteile rechtskräftig Ansprüche zuerkenne und dabei im Einzelfall auch in Widerspruch zur materiellen Rechtsordnung kommen könne. Vor diesem Hintergrund definiert Goldschmidt seinen prozessualen Schlüsselbegriff (255): „Rechtslage ist der Stand der Angelegenheit einer Person, betrachtet unter dem Gesichtspunkt des nach Maßgabe des Rechts zu erwartenden richterlichen Urteils, kürzer: die rechtlich begründete Aussicht auf ein günstiges oder ungünstiges richterliches Urteil und folgeweise auf die gerichtliche Geltung des geltend gemachten als rechtlich begründet oder unbegründet.“

Diese Rechtslage gestalte jede Partei mithilfe von Prozesshandlungen, die Erwirkungs- und Bewirkungshandlungen; deren „Entdeckung“ ist bis heute mit seinem Namen verbunden.

III. Goldschmidt als Professor an der Juristischen Fakultät Am 23.8.1908 – Goldschmidt weilte zur Sommerfrische auf Norderney – erfolgte seine „Bestallung zum etatmäßigen außerordentlichen Professor in der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität“ für die Fächer „Zivilprozeß, Strafrecht, Strafprozeß“. Nach mehreren Jahren als Extraordinarius beantragte von Liszt am 30.11.1915 die Verleihung eines persönlichen Ordinariats für Goldschmidt. Dagegen wandten sich einige in der 25

Goldschmidt in: FS Gierke 1910, 111, 153. Eb. Schmidt (Fn. 3), 447; vgl. auch Bruns (Fn. 5), 121 ff. 27 Vgl. Eb. Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege3, 1983, § 326; Kleinheyer/Schröder Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten5, 2008, 500. 26

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Fakultät, die entweder von persönlichen Ordinariaten generell nichts hielten oder eine „mögliche Minderung der eventuellen Neubesetzung der von Liszt´schen Professur mit einem künftig ausgewählten Kriminalisten“ befürchteten. So wurde die Entscheidung über von Liszts Antrag vertagt. Als dessen Professur zur Neubesetzung anstand, bewarb sich auch Goldschmidt, doch entschied sich die Fakultät 1918 gegen eine Hausberufung und für Kohlrausch. Goldschmidt wurde ein „persönliches Ordinariat für Zivilprozeßrecht, Strafrecht, Strafprozeßrecht“ verschafft; seine Ernennung erfolgte am 10.2.1919. Nach dem Ausscheiden Kahls wurde zum 1.4.1921 dessen Ordinariat an Goldschmidt übertragen, der damals – wie er es ausdrückte – „das Dekanat verwaltete“. Mit Kohlrausch zusammen leitete er das Kriminalwissenschaftliche Institut der Juristischen Fakultät, der er noch einmal 1931/32 als Dekan vorstehen sollte. Sein Grundgehalt wurde von 14.000 auf 17.000 Mark pro Jahr angehoben, musste aber bald dem rasanten Wertverfall angepasst werden; so betrug sein monatliches Grundgehalt ab 1.9.1923 „stolze“ 2.220.000 Mark. Nachdem sich die wirtschaftliche Lage wieder beruhigt hatte, zählte Goldschmidt mit einem Grundgehalt von jährlich 13.600 RM zu den „Geringverdienern“, doch wurde ein größerer Teil der Bezüge über Hörergelder erzielt.28 Goldschmidt galt als sehr guter Hochschullehrer; so schreibt Eberhard Schmidt, der vor dem ersten Weltkrieg in Berlin studiert hatte:29 „Seine Vorlesungen waren bis ins letzte durchgefeilt. Was sie – ebenso wie seine strafrechtlichen und prozeßrechtlichen Übungen – so wirkungsvoll machte, das war die phrasenlose, unerbittliche gedankliche Präzision, die keinerlei Vernebelung der Problematik und kein Hinwegreden über gedankliche Tiefen und Unterscheidungsnotwendigkeiten duldete und in ihrer Strenge und Sachlichkeit außerordentlich erzieherisch wirkte.“

Bei Heinitz, Student in der Nachkriegszeit, klingt es nicht ganz so „übermenschlich“:30 „Als Lehrer war Goldschmidt von großer Lebendigkeit und einem Temperament, das niemand, der ihn nicht genau kannte, bei ihm erwartet hätte. Er besaß ausgesprochenen Sinn für gesunden Humor und gestaltete die Vorlesungen lebhaft und interessant.“

Als Goldschmidts Schüler gelten heute u.a. seine Assistenten zu Beginn der 1930er Jahre Adolf Schönke (1908-1953) und Friedrich Karl Kaul (19061981);31 während Kaul als Jude und Kommunist mit Hilfe Goldschmidts noch nach dessen Zwangsemeritierung aus KZ-Haft freikam, aber nach Kolumbien emigrieren musste, habilitierte Schönke 1935 – der 1932 bei ihm 28

Vgl. von Lösch (Fn. 2), 106. Eb. Schmidt (Fn. 3), 447. 30 Heinitz (Fn. 3), 536. 31 Zu diesem Rosskopf Friedrich Karl Kaul, 2002. 29

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promoviert hatte32 – bei Kohlrausch über den Adhäsionsprozess33 – ein erst 1943 in die StPO aufgenommenes Verfahren, das aber bereits im Goldschmidt-Entwurf (§§ 400 ff.) vorgesehen war.34 Mit Goldschmidt blieb er auch nach dessen erzwungenem Abschied von der Berliner Universität verbunden.35 Goldschmidts didaktisches Geschick zeigte sich auch daran, dass sein 1929 in der „Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft“ erschienenes „Zivilprozeßrecht“ bereits 1932 eine zweite Auflage erlebte. Auf die Bedürfnisse der Studierenden zugeschnitten waren seine „Rechtsfälle aus dem Strafrecht“ (1925, 3. Auflage 1930). Für die Enzyklopädie sollte er zusammen mit Hermann Mannheim auch das „Strafprozeßrecht“ bearbeiten, doch konnte er nach Beginn der NS-Zeit nur noch ein Buch zum spanischen Strafverfahrensrecht publizieren.36 Goldschmidts Name wurde trotzdem zunächst nicht gänzlich totgeschwiegen; Schönke besorgte Anfang 1934 einen Nachtrag zum „Zivilprozßrecht“, der dieses den neuen Entwicklungen anpasste. Auch wenn Goldschmidt den damaligen Reformen Grundsätzliches entgegenzuhalten gehabt hätte – namentlich der in § 138 Abs. 1 ZPO verankerten Wahrheitspflicht der Parteien37 – ist anzumerken, dass weder Schönke noch der Verlag Springer den Versuch unternommen hätten, das Andenken an Goldschmidt zu schmälern. Allerdings ist es nicht frei von bitterer Ironie, wenn das Werk eines jüdischen Rechtsgelehrten seine Aktualität u.a. dem Hinweis verdankt, dass Richter und ihre Ehegatten „arischer Abstammung“ sein mussten und „Nichtariern“ grundlos die Zulassung als Rechtsanwalt versagt werden konnte.38

IV. Schritte zur Entrechtung Zu Beginn der 1930er Jahre zogen dunkle Wolken erst in wirtschaftlicher und dann auch in politischer Hinsicht auf. So wurde 1931 Goldschmidt ein Hörergeld von jährlich 20.000 RM garantiert, zugleich jedoch sein monatli32 Vgl. Miyazawa Deutsche Strafrechtswissenschaft, 1978, 567; Kielwein ZStW 85 (1973) 1017, 1018; Schubert Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, 1988, XXVIII. 33 Schönke Beiträge zur Lehre vom Adhäsionsprozeß, 1935. 34 Hilger in: Löwe/Rosenberg, StPO26, 2009, Vor § 403 Rn. 2 ff. 35 Vgl. Wendt Adolf Schönke, in: Juristen im Portrait, 1988, 663. 36 Goldschmidt Problemas jurídicos y políticos des proceso penal, Barcelona 1935. – Vgl. R. Goldschmidt (Fn. 4), 364 f. 37 Vgl. nur Goldschmidt Zivilprozeßrecht2, 1932, 107: „. . . diese Pflichten sind nur moralische. Rechtlich gibt es im Prozeß nur Lasten, d.h. Nötigungen, durch Vornahme einer Prozeßhandlung einen prozessualen Nachteil abzuwenden. . . . das schwerste Verschulden gegen sich selbst ist die verpasste Gelegenheit.“ 38 Nachtrag von Schönke 1934, 2 und 4.

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ches Grundgehalt (mit Zuschlägen) von 1.335,34 RM zunächst auf 1.179,25 RM, zum 1.1.1932 auf 1.089,09 RM und zum 1.7.1932 auf 1.055,73 RM gekürzt. Nach der NS-Machtübernahme wurden die Honorargarantien auf 7.000 RM pro Jahr begrenzt und um 24,5 % gekürzt;39 daher wurde Goldschmidts Kolleggeldgarantie für das WS 1933/34 auf 2.642,50 RM reduziert. Weil solche Garantien erst relevant wurden, wenn Professoren nicht genügend Hörergelder bekamen, wirkte deren Reduzierung besonders auf beurlaubte Ordinarien.40 Im März 1933 wurde Goldschmidt vorzeitig als Prodekan abgelöst und legte am 16.4.1933 – fünf Tage vor dem Gleichschaltungserlass des Kultusministers – sein Amt als Senatsmitglied nieder.41 Wenig später wurde an ihm geradezu ein Exempel statuiert. Während spätere Akte der Diskriminierung – wie die Entziehung der Lehrbefugnis – parallel auch gegenüber anderen „nichtarischen“ Kollegen vollzogen wurden (Kaufmann, Schulz, Wolff), galt der erste Schlag zur Entrechtung innerhalb der Juristenfakultät allein ihm.42 Mit Erlass vom 29.4.1933 wurde er aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 zwangsbeurlaubt, obwohl dieses Gesetz eine solche Rechtsfolge nicht vorsah und obendrein für vor dem 1.8.1914 ernannte Beamte eine Ausnahme machte. Auch war er nie parteipolitisch aktiv gewesen; in einem Fragebogen vom 26.12.1935 nannte er einzig seine Mitgliedschaft in der „Vereinigung deutscher Zivilprozeßrechtslehrer“. Nachdem eine Einigung auf eine Beschränkung des Lehrauftrags auf Prozessrecht am Einspruch des Ministeriums gescheitert war, beantragte Goldschmidt am 2.5.1933 „Studienurlaub für das Sommersemester 1933“, der ihm erteilt wurde. Letztlich zwang man ihn, das zu erbitten, was ihm zuvor ohne Rechtsgrundlage zwangsweise verordnet worden war. Warum so zunächst nur mit Goldschmidt umgesprungen wurde, ist nicht abschließend geklärt, dürfte aber verschiedene Gründe gehabt haben. Einerseits hatte der preußische Justizminister verlangt, dass „Nichtarier“ nicht mehr Staats- und Strafrecht unterrichten sollten, doch bleibt offen, warum das Ministerium dann nicht die Beschränkung auf Prozessrecht akzeptiert hat. Weiterhin bestand der Wunsch, den dem Nationalsozialismus nahe stehenden Wiener Strafrechtler Wenzeslaus Graf Gleispach nach Berlin zu rufen, doch fragt sich, warum dies Goldschmidts sofortige Beurlaubung begründen sollte, denn Gleispach sollte erst zum WS 1933/34 in Berlin anfangen. Schließlich sind politische Gründe nahe liegend, wofür spricht, dass Goldschmidt, der sich in der Weimarer Republik stets öffentlich als Libera39 40 41 42

Von Lösch (Fn. 2), 155 f. Von Lösch (Fn. 2), 156. Vgl. von Lösch (Fn. 2), 157. Von Lösch (Fn. 2), 179 ff.

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ler positioniert hatte, sich u.a. mit Hinweis auf seine durchgängig „nationale Einstellung“ verteidigte.43 Er sollte sodann zwangsversetzt werden, was erst zum Sommersemester 1934 an die Universität Frankfurt a.M. gelang, sah aber aufgrund feindseliger Einstellung des dortigen Lehrkörpers von einer Aufnahme der Lehrtätigkeit ab. Daraufhin wurde er zum WS 1934/35 nach Berlin zurückversetzt, zugleich aber – euphemistisch ausgedrückt – von seinen Verpflichtungen freigestellt und 1935 auf Grundlage des Reichsbürgergesetzes zwangsemeritiert. Zum 31.12.1935 wird ihm die Lehrbefugnis entzogen; darüber hinaus wird er – wie andere jüdische Professoren – zwangspensioniert, was zu einer massiven Reduzierung seines Ruhegehalts führte (auf jährlich 5.614 RM abzüglich gesetzlicher Kürzungen), wogegen er sich zur Wehr setzte. Dieser Erlass wird schließlich wieder aufgehoben, so dass er bis zu seinem Tod Emeritenbezüge erhielt. In den Jahren ab 1933 hat Goldschmidt, vermittelt durch den Liszt-Schüler Alcala Zamora y Castillo, Vorträge an verschiedenen spanischen Universitäten gehalten und auch auf Spanisch, Italienisch und Französisch publiziert. Nachdem er im März 1936 erneut anzeigte, in Barcelona und Valencia „einige Vorträge über Allgemeine Rechts- und Prozesslehre zu halten“, entgegnete das Ministerium, diese Vortragsreise bedürfe nach Entziehung der Lehrbefugnis einer Genehmigung, „die von Fall zu Fall einzuholen“ sei; auch angesichts des Ausbruchs des Bürgerkriegs endete damit seine Lehrtätigkeit in Spanien. Nachdem ihm im April 1938 die beantragte Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland ohne Aufnahme einer wissenschaftlichen Tätigkeit unter Fortzahlung der Bezüge verweigert wurde, wurden ihm und seiner Frau schließlich am 19.12.1938 „zur Auswanderung nach England Reisepässe erteilt“. Weil dies ohne Abstimmung mit dem Wissenschaftsministerium erfolgt war, wurde die Zahlung der Bezüge Ende Februar 1939 eingestellt; dagegen protestierte Goldschmidt von Cardiff aus und erreichte, dass ihm am 9.8.1939 deren Weiterzahlung bis Ende März 1941 bewilligt wurde, sofern er seinen Wohnsitz in England behält.44 Auf einer Vortragsreise nach Südamerika verstarb er schließlich am 28.6.1940 in Montevideo in Folge einer Erkrankung.

V. Goldschmidts wissenschaftliches Werk Betrachtet man die deutschsprachigen Schriften von Goldschmidt, so tritt von Anfang seines wissenschaftlichen Wirkens bis zur 2. Auflage des „Zivilprozeßrechts“ sein Interesse an Rechtsgeschichte und Rechtsvergleich hervor. Auch wenn sich die Gewichte verschieben – betrafen in Disserta43 44

Von Lösch (Fn. 2), 181. Nach seinem Tod erhält seine Witwe bis November 1941 Versorgungsbezüge.

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tion und Habilitation noch wenigstens zwei Drittel Rechtsgeschichte und Rechtsvergleich, sind es im „Prozeß als Rechtslage“ kaum ein Viertel und im „Zivilprozeßrecht“ ein Zehntel –, bleibt im „Prozeß als Rechtslage“ der dem römischen Prozessrecht gewährte breite Raum ebenso bemerkenswert, wie die auf weitgehende Vollständigkeit bedachte Zusammenstellung der „außerdeutschen Zivilprozeßrechtsquellen“ auf 14 eng bedruckten Seiten (etwa zu Afghanistan) in einem Lehrbuch zum Zivilprozessrecht.45 Inhaltlich scheint bei Goldschmidt immer wieder ein besonderes konstruktives Interesse auf. So kreiert er mit dem materiellen Justizrecht ein materielles öffentliches Recht, das in Form des Strafrechts oder eines zivilrechtlichen Rechtsschutzanspruchs die materielle Grundlage des Richterspruchs im Prozess bilden soll.46 Und seine normative Schuldtheorie stützt er auf die Verletzung einer neben der Rechtsnorm stehenden Pflichtnorm. Beide Normgebilde eigener Art sind wohl entbehrlich. Die für die Schuld maßgebliche Pflichtwidrigkeit kann sich auch an den Rechtsnormen selbst messen lassen; und ob es als Bindeglied zwischen dem bürgerlichen Rechtsanspruch und dessen prozessualer Zuerkennung wirklich der Figur eines materiell-öffentlichrechtlichen Rechtsschutzanspruchs mit zivilrechtlichem Inhalt bedarf, erscheint mir ebenfalls zweifelhaft. Beides wurde schon von Zeitgenossen kritisiert und konnte sich nicht durchsetzen. Goldschmidt selbst verwahrte sich zwar gegen Kritik, sein Versuch habe „ausschließlich konstruktiven Wert“, allerdings mit einem Zitat seines Lehrers Kohler, das eher seine Vorliebe für juristische Konstrukte erklärt: „Konstruktionen sind nun einmal für den Juristen die „Schachte welche in die Tiefe führen“.47

VI. Goldschmidt als Rechtspolitiker Vor dem ersten Weltkrieg wirkte Goldschmidt an wesentlichen Reformentwürfen zum Strafrecht mit und erwies sich auch sonst als rechtspolitisch engagierter Jurist, insbesondere im Rahmen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV). Allerdings enthielt er sich in seinen Fachbeiträgen Bemerkungen zur allgemeinen politischen Lage. 1. Im ersten Weltkrieg Diese Abstinenz gibt er im Weltkrieg auf, den er als nie dagewesene und unvorstellbare Herausforderung für das gesamte Staatswesen begreift. Gold45

Goldschmidt (Fn. 37), 31 ff. Dazu Kollmann Begriffs- und Problemgeschichte des Verhältnisses von formellem und materiellem Recht, 1996, 595 ff. 47 Goldschmidt in: FS Frank 1930, 428, 432 f. 46

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schmidt hat – wie in der „Nachweisung zur Anweisung der Versorgungsbezüge“ 1935 vermerkt – „nicht gedient“, wurde aber bereits am 1.8.1914 einberufen und absolvierte seinen „Zivildienst“ – er spricht von „Hilfsdienst während des Krieges“ – als Senatspräsident am Reichsschiedsgericht für Kriegsbedarf48 bis zum 31.12.1918. In dieser Zeit befasst er sich wissenschaftlich vor allem mit dem im Verordnungswege etablierten Kriegswirtschaftsstrafrecht und der „Kriegsrechtsprechung“.49 Nachdem der Gesetzgeber für diesen Bereich den Weg zur Anerkennung eines entschuldigenden Verbotsirrtums frei gemacht hatte, unternahm Goldschmidt eine Synthese seiner in der Vorkriegszeit entwickelten Lehren zur Schuld und zum Verwaltungsstrafrecht.50 In „einer Zeit, in der die Aufrechterhaltung der „staatlichen Ordnung“ Ziel und Inhalt jedes Einzeldaseins geworden ist, in der das „Gebot der staatlichen Selbsterhaltung“ das Einzelsein und Einzelhaben in einer Weise fordert, wie es keine Antike gekannt und kein Zukunftsstaat geahnt hat“,51 will er mit dem RG zwar einfache (Rechts)Fahrlässigkeit für eine Entschuldigung der Unkenntnis einer Kriegsstrafnorm genügen lassen, jedoch „mit der Maßgabe, dass an die Sorgfaltspflicht die „gegenwärtige Zeit“ besondere Anforderungen stellt, nicht nur für Gewerbetreibende, die „unter Umständen sogar die Einsichtnahme in das Reichsgesetzblatt nicht umgehen können“, sondern ebenso für Verbraucher, die „in einer Zeit, in der es gemeinkundig ist, daß nahezu alle Gegenstände des täglichen Bedarfs behördlicher Reglementierung unterworfen sind, jedenfalls nicht unbekümmert darauf los kaufen“ dürfen.52 Goldschmidt äußerte sich auch zu der von deutschen und österreichischungarischen Strafrechtlern geführten Debatte über eine Harmonisierung des Strafrechts der Mittelmächte. Sein Beitrag ist nicht frei von deutschem (Rechts-) Hegemonialanspruch; so will er die von der deutschen abweichende österreichische Strafzumessungspraxis anhand österreichischen Rechts korrigieren und vermag sich einen Ausgleich der Regelungen zum richterlichen Ermessen bei der Strafzumessung „– ohne hier den Vorwurf reichsdeutscher Voreingenommenheit zu fürchten – nur vorzustellen, wenn man dem deutschen Standpunkte entgegen kommt“. Letztlich sieht er trotz der Möglichkeit inhaltlicher Verständigung aber keine Chance für ein gemeinsames Mittelmächte-Strafrecht, solange kein gemeinsames Strafgesetzgebungsorgan existiere.53 Eine Strafrechtsannäherung sei zwar möglich, doch lohne sie die Mühe nicht; angesichts der Kriegsentwicklungen sei eine Schaffung gemeinsamer Organe immerhin denkbar: „Von einer so fruchtbaren 48 49 50 51 52 53

Boldt Leben und Werk von James Goldschmidt, 8. Goldschmidt JW 1915, 1226 f. und 1917, 183 ff. Goldschmidt 1917 (Fn. 49), 187. Goldschmidt 1917 (Fn. 49), 184. Goldschmidt 1917 (Fn. 49), 186 f. Goldschmidt ZStW 38 (1917), 417, 430 ff.

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Organisation Mitteleuropas zu träumen, sei mir am Tage der Einnahme Bukarests [6.12.1916], an dem ich diese Zeilen schreibe, vergönnt“.54 2. Anfangsjahre der Weimarer Republik Nach Kriegsende stellt sich Goldschmidt sogleich auf den Boden der republikanischen Verfassung und sieht diese als Chance zur Realisierung bereits vor dem Kriege – insbesondere im Umfeld der IKV – entwickelter strafprozessualer und strafrechtlicher Konzepte. Dabei wollte in enger Fühlung zur Strafverteidigung mithelfen. So wohnte er der Gründungsversammlung des „Bundes deutscher Strafverteidiger“ am 20.11.1918 bei; vor den Berliner IKV-Mitgliedern referierte er am 21.12.1918 über „Die Reform des Strafverfahrens“. Dabei betont er das Primat einer Prozessreform vor einer Erneuerung des materiellen Strafrechts und legt hierfür ein Programm vor. Auf auf Lebenszeit berufene Berufsrichter will er im „Volksstaat“ nicht verzichten; Schöffen- und Schwurgerichte sollen nebeneinander bestehen bleiben; die Ermittlungsarbeit möchte er nach englischem Vorbild der Kriminalpolizei übertragen, um „in der Hauptverhandlung das Anklageprinzip zur vollen Reinheit entfalten“ zu können; die Untersuchungshaft soll eingeschränkt, der Rechtsschutz verbessert werden. Er schließt mit Bemerkungen zur IKV: gerade weil sie „nach ihrer ganzen Vergangenheit über dem Verdacht steht, reaktionäre Kriminalpolitik zu treiben, ist sie dazu berufen, vor radikalen Elementen zu warnen“.55 Im Unterschied zu Kahl, der für die DVP der Weimarer Nationalversammlung und dem Reichstag angehörte, beschränkte sich Goldschmidt auf seine rechtspolitische Beratertätigkeit. Dass ihm nach Kriegsende die (liberal-)demokratische Position besonders nahe lag, zeigt sich bereits in diesem Vortrag, in dem er nur „das von Georg Bernhard entworfene demokratische Programm“ erwähnte.56 Im Oktober 1919 wurde Goldschmidt – wie erhofft57 – Berater des Reichsjustizministers Schiffer (DDP) und wirkte maßgeblich an den Ende 1919 vorgelegten Entwürfen für eine Reform des GVG sowie ein Gesetz über den Rechtsgang in Strafsachen. Die Entwürfe entsprechen mit gewissen Abstrichen seinem 1918 formulierten Programm einer konsequenten Durchsetzung des Anklageprinzips und einer Stärkung der Verteidigung. Auch wenn er selbst darauf hinwies, nicht alleiniger Urheber zu sein,58 spricht man bis heute vom Goldschmidt-Entwurf.59 Diesen verteidigte er vehement gegen erhebliche Kritik; in einem Vortrag vom 54 55 56 57 58 59

Goldschmidt (Fn. 53), 436. Goldschmidt JW 1919, 66, 69. Goldschmidt (Fn. 55), 67. Vgl. Goldschmidt JW 1920, 230. Goldschmidt (Fn. 16), 431 Fn. 23. Zu dessen Inhalten Rentzel-Rothe Der Goldschmidt-Entwurf, 1995, 79 ff.

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10.4.1920 vor der Berliner Juristischen Gesellschaft bezeichnete er ihn – Lucas (JW 1920, 258) zitierend – als Ausdruck der „Demokratisierung der Strafrechtspflege“ und „rechtspolitisch dem Geiste der neuesten Zeit seit der Revolution, wenigstens so wie er durch die parlamentarischen Mehrheitsparteien zum Ausdruck gelangt“ entsprechend an, betont aber zugleich, dass er aufbaue auf den „Ergebnissen, welche die deutsche Wissenschaft in einer großen, glücklichen Vergangenheit erarbeitet hat“. Da es ihm dabei nicht nur um die Anerkennung seiner Vorschläge in Wissenschaft und Rechtspraxis, sondern auch um deren politische Durchsetzung ging, weist er nunmehr auf die Koinzidenz zwischen dem nationalliberalen Rechtslehrer von Gneist und dem sozialdemokratischen Rechtsanwalt Heinemann hin.60 Nach dem Untergang der Monarchien in Deutschland und Österreich revidiert Goldschmidt seine zuvor kritische Einschätzung einer Angleichung des deutschen und österreichischen Strafrechts; auf einem Vortrag vor der Österreichischen Kriminalistischen Vereinigung am 30.3.1922 sieht er wegen der politischen Umwälzungen nunmehr die Zeit gekommen für eine Vereinheitlichung des deutschen und österreichischen Strafverfahrensrechts wie auch für eine staatliche Vereinigung:61 „Und mit dieser verheißungsvollen Aussicht lassen Sie mich schließen. Wir Juristen sind im allgemeinen nicht volkstümlich. Und das ist kein Wunder. Verdanken wir doch unsere Geburt dem Eindringen des römischen, des fremden Rechts in Deutschland. Jetzt oder nie haben wir Gelegenheit, den Makel unserer Geburt zu tilgen und volkstümlich zu werden. Die deutsche Einigung hat den Weg: ein Volk, ein Reich, ein Recht genommen. Der deutsch-österreichischen Einigung scheint das Geschick den Weg bestimmt zu haben: Ein Volk, ein Recht, ein Reich.“

Die Reform des Strafverfahrensrechts sah Goldschmidt als Teil eines grundsätzlichen Reformkonzepts: „Soziales Strafrecht, liberaler Strafprozeß“.62 Auf den StGB-Entwurf von 1919 reagierte er mit einem Gegenentwurf zu zwei grundlegenden Abschnitten des Allgemeinen Teils – „Die Straftat“ und „Täter und Teilnehmer“ –, worin er den Stoff systematisch anhand von Zurechnungsfähigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld neu ordnet, aber auch inhaltliche Änderungen vorschlägt.63 So will er einem Notstand außerhalb der §§ 208, 904 BGB nur entschuldigende Wirkung beimessen.64 Nachdem er bereits früher eine Entschuldigung durch Notstand auf das Prinzip der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhalten gestützt hatte,65 schlug er als weiteren Entschuldigungsgrund vor, dass „der Täter nach den 60 61 62 63 64 65

Goldschmidt (Fn. 57), 230. Goldschmidt (Fn. 16), 409, 444. Rentzel-Rothe (Fn. 59), 207. Goldschmidt JW 1922, 252 ff. Goldschmidt (Fn. 63), 256 f. Goldschmidt Der Notstand, 34.

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Umständen oder nach seinen persönlichen Verhältnissen nicht verpflichtet war, sich durch die Vorstellung der Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung vom Handeln abhalten zu lassen“. Erfassen wollte er damit den „Betrieb von Bergwerken, Steinbrüchen, Eisenbahnen, Kraft- und Luftfahrzeugen, Vorführungen im Zirkus, ärztliche Eingriffe“, wobei Gefahren für Leib und Leben nicht auszuschließen seien.66 Sein Schüler Hans Tarnowski leitet daraus einen allgemeinen Entschuldigungsgrund des „überwiegenden Gegenmotivs“ her.67 3. Krise 1922/23 Eine Zäsur bildete für Goldschmidt die Krise der Jahre 1922/23; im Vorwort zum „Prozeß als Rechtslage“ (VI) nennt er „die niederdrückenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse und die dadurch bedingte Furcht, die Schrift werde doch niemals erscheinen können“, als Hemmnisse für dessen Abschluss. Das – zunächst wohl nicht erwartete68 – Scheitern des Goldschmidt-Entwurfs69 sowie der politische Umgang mit dieser Krise hat seinen Optimismus in Bezug auf die Republik ins Mark getroffen. Er zieht sich aus der Tagespolitik auf eine grundsätzlich liberale Position zurück. So kritisiert er die „Verordnung über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 13. Februar 1924“, sie nehme „einen Teil der im Reichsjustizministerium vorbereiteten Zivilprozeßreform vorweg, zu denen die schon seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einsetzende Abkehr von der liberalen Staatsidee führen mußte“.70 In Auseinandersetzung mit Kantorowicz verwehrte er sich 1922 nachdrücklich gegen eine deutsche Kriegsschuld und plädiert in dieser Frage für eine wissenschaftliche „Einheitsfront“.71 Einen Prozess kann er sich aber weiterhin nur auf der Grundlage rechtsstaatlichliberalen Denkens vorstellen; im Vorwort zum „Prozeß als Rechtslage“ (V) schreibt er: „Die Grundgedanken dieser Arbeit haben sich in mir entwickelt, seit ich mich mit dem Prozeßrecht wissenschaftlich beschäftigt habe. Aber erst als der Krieg ausbrach, wurde in mir der Trieb, diesen Gedanken Form zu geben, übermächtig. Denn da drängte es sich mir in nicht mehr zu übersehender Weise auf, daß in letzter Linie unsere unantastbarsten Rechte nichts als Aussichten, Möglichkeiten und Lasten sind. Und der Ausgang des Krieges bewies, daß alles Recht schließlich zunichte wird infolge von verpaßten Möglichkeiten und versäumten Lasten. 66

Goldschmidt (Fn. 63), 257. Tarnowski Die systematische Bedeutung der adäquaten Kausalitätstheorie für den Aufbau des Verbrechensbegriffs, 1927, 109. 68 Vgl. die redaktionelle Fn. 1 zu Goldschmidt DJZ 1920, 161 (vom 1.2.1920). 69 Dazu Rentzel-Rothe (Fn. 59), 185 ff. – Mit den Zielen einer Strafprozessreform befasst sich Goldschmidt weiterhin (vgl. DJZ 1928, Sp. 1137 ff.). 70 Goldschmidt (Fn. 37), 20 f. 71 Goldschmidt DJZ 1922, Sp. 402 ff. 67

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So ist mir unter der Hand die „Kritik des prozessualen Denkens“ zu einer Kritik des politischen Denkens geworden. Es gilt eben für den einzelnen wie für das Volk, daß trotz Staat und Völkerbund, staatlicher und Schiedsgerichtsbarkeit alles Recht und daher auch sein Recht am Ende nichts ist als ein Inbegriff von Möglichkeiten und Lasten im Kampfe um das, was als recht gelten wird. Es ist mein heißer Wunsch, daß das deutsche Volk die Männer finden möge, welche aus dieser wissenschaftlichen Erkenntnis die Nutzanwendung für seine politische Führung ziehen. Daß eine völker-, also „individualrechtlich“ (E. Kaufmann) eingestellte Betrachtung des Prozesses innerpolitisch dem Liberalismus verwandt ist, leugne ich nicht. Aber das Prozeßrecht kann nur auf dem Boden des Liberalismus oder es kann gar nicht gedeihen.“

In einem Vortrag kritisiert er 1924 die seit Herbst 1923 – wie bereits im Weltkrieg – anzutreffende Ermächtigungsgesetzgebung, mit der wesentliche Entscheidungen im Straf- und Zivilrecht auf den Verordnungsgeber übertragen wurden. Goldschmidt hält die dadurch zur Gesetzgebung befugte Verwaltung für einen schlechten Gesetzgeber; doch zielt seine Kritik weniger auf die (Selbst-)Entmachtung des Parlaments als auf deren Inhalt, von dem er annimmt, dass er auch im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nicht anders geregelt worden wäre. Er konstatiert nunmehr einen grundlegenden Widerspruch zwischen einer Durchsetzung des Mehrheitswillens und dem Charakter des Rechts. Deswegen äußert er Sympathie für ein richterliches Prüfungsrecht der Verfassungskonformität eines Gesetzes, will aber mit dem Vorstand des Richtervereins des Reichsgerichts Gesetze auch auf ihre Sittlichkeit hin überprüfen lassen;72 unsittliche Gesetze könnten den Richter nicht binden. Anlass dafür war die politische Reaktion auf die Aufwertungsrechtsprechung der Zivilgerichte, die schließlich den Grundsatz „Mark ist gleich Mark“ angesichts dessen ungerechter Ergebnisse aufgegeben hatten, woraufhin ihnen im Verordnungswege aufgegeben wurde, am Nominalprinzip festzuhalten.73 Die Mehrheitsparteien sieht er nunmehr vor allem als Vertreter von Partikularinteressen. Demgegenüber glorifiziert er die „liberale Staatsidee“ der sich im 19. Jahrhundert formierenden bürgerlichen Gesellschaft; 1924 wendet sich Goldschmidt gegen einen „manchesterlichen laisser faire, laisser aller des Gesetzgebers in einem sonst alles verschlingenden Leviathan von Staat“,74 gegen „Gesetzesabsolutismus“, der die Freiheitsrechte nicht genügend achte, gegen „Parlamentsabsolutismus“.75 Dabei sieht er sich als Anwalt des Bildungsbürgertums, das zwischen Arbeiterklasse und Kapital zerrieben werde:

72 Goldschmidt JW 1924, 245 ff. – Auch nachdem das RG diese Position nicht übernommen hatte (vgl. Goldschmidt JW 1924, 343). 73 Ausf. Goldschmidt Die Aufwertungskrise, 1926. 74 Goldschmidt (Fn. 72), 246. 75 Goldschmidt (Fn. 72), 343.

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„Künstler und Schriftsteller, Gelehrte und höhere Beamte, Anwälte und Ärzte, darunter viele, deren Arbeit im Ausland die Achtung vor dem deutschen Namen selbst unter einer Hochflut des Hasses aufrechterhalten hatte, sahen und sehen sich der Verelendung preisgegeben. Mit dem deutschen Mittelstand droht die deutsche Kultur zu versinken . . . wenn der Gesetzgeber einen Stand nicht nach dem ihm zukommenden Wert behandelt, wenn er ihn gar der Willkür anderer anheimfallen lässt, so verstößt er damit gegen den Grundgedanken der Gerechtigkeit. Die Duldung der Vernichtung des Mittelstandes aber fällt auf Staat und Recht selbst zurück. Schon Aristoteles lehrt, daß der Staat der beste ist, in dem der Mittelstand die stärkste Partei ist.“76

Nach Einschätzung seines Sohnes Robert, war er in der Spätzeit der Weimarer Republik geleitet „vom Vertrauen in die Ideale des Liberalismus und Mißtrauen gegen eine Demokratie, in der die liberale Geisteshaltung verschwunden ist“.77 Dass er sich trotzdem bis zum Untergang der Weimarer Republik in seinen Schriften standhaft zum Liberalismus, zur liberalen Staatsidee bekannte, dürfte ihn angesichts der seit den 1920er Jahren zunehmend antiliberalen Stimmung in der deutschen Strafrechtswissenschaft78 nach der „Machtergreifung“ besonders angreifbar gemacht haben; der damalige Rektor Kohlrausch soll jedenfalls – so die Einschätzung seines Biographen Karitzky – „keinen Finger zu seiner Rettung gerührt“ haben.

VII. Rezeption Die Würdigung des rechtswissenschaftlichen Lebenswerks eines rund vier Jahrzehnte in Forschung und Lehre, aber auch in Rechtspolitik und Rechtspraxis im In- wie Ausland aktiven und zu seiner Zeit erfolgreichen Gelehrten könnte 70 Jahre nach seinem Tod daran ansetzen, was davon noch heute zum Bestand seiner Fächer zählt. Dann aber wird man eher ernüchtert feststellen müssen, dass Goldschmidt in den meisten Werken zum Strafverfahrensrecht lediglich in Bezug auf die Unterscheidung prozessualer Handlungen in Erwirkungs- und Bewirkungshandlungen genannt wird. In den grundlegenden Abschnitten zum Wesen des Straf- oder Zivilprozesses findet eine Auseinandersetzung mit seinem Grundmodell – dem Prozess als einer Aufeinanderfolge von Rechtslagen – fast nicht mehr statt. Bereits in den zeitgenössischen Rezensionen zum „Prozeß als Rechtslage“ findet sich allerdings grundlegende Kritik. Weil Goldschmidt einen empirischen Prozessbegriff zugrunde legt und in gewissem Sinne Macht vor Recht gehen lässt, wird ihm vorgehalten, er folge allein einer soziologischen und keiner rechtlichen Betrachtung des Prozesses. Die von ihm neben der mate76 77 78

Goldschmidt (Fn. 72), 246. R. Goldschmidt (Fn. 4), 366. Vgl. Marxen Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975.

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riellen Rechtsordnung errichtete prozessuale Gerichtsordnung sei gar keine Rechtsordnung; ein Jurist dürfe aber lediglich eine normative Betrachtungsweise, nicht auch die soziologische Methode verwenden.79 Mit Blick auf das heute im Strafrecht unter dem Stichwort „Kriminaljustiz-System“ zunehmend diskutierte Verhältnis von materiellem und prozessualem Recht wird Goldschmidt als Kriminalsoziologe wiederentdeckt.80 Sein theoretisches Verständnis von einem Prozess als einer Abfolge von Rechtslagen wird dabei aber nicht gewürdigt.81 Dagegen beginnt etwa Meyer-Goßner seine Ausführungen zum Wesen des Strafprozesses mit den Worten: „Der Prozess ist ein rechtlich geordneter, von Lage zu Lage sich entwickelnden Vorgang zur Gewinnung einer richterlichen Entscheidung“82 – allein: es fehlt ein Hinweis auf Goldschmidts Vermächtnis. Für das heutige Zivilprozessrecht wird Goldschmidts Bild vom Prozess als Rechtslage entgegengehalten, seine Theorie könne bestehende Handlungspflichten der Parteien im Zivilprozess nicht erklären (sondern nur als deren Lasten begreifen);83 dieser Vorhalt ist de lege lata berechtigt, muss aber Goldschmidt posthum ins Mark treffen, weil er die Statuierung echter prozessualer Handlungspflichten aus liberaler Warte stets bekämpft hat und diese erst zu Beginn der NS-Zeit in § 138 Abs. 1 ZPO aufgenommen worden sind.

79 80 81 82 83

Neuner ZZP 51 (1926) 44, 51. Lüderssen/Jahn in: Löwe/Rosenberg, StPO26, 2006, Einl. Abschn. M Rn. 29 f. Eine Ausnahme bildet Schroeder Strafprozessrecht4, 2006, Rn. 22. Meyer-Goßner StPO51, 2008, Einl. Rn. 2. MüKoZPO-Rauscher Einleitung Rn. 31.

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Heinrich Triepel (1868–1946) Heinrich Triepel (1868–1946) Christian Tomuschat

Heinrich Triepel (1868–1946) CHRISTIAN TOMUSCHAT

I. II. III. IV. V.

Lebensdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das schriftliche Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitgedanken des wissenschaftlichen Schaffens Triepels politische Grundeinstellung . . . . . . . Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Heinrich Triepel gehörte der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin vom 1. Oktober 1913 bis zu seinem Tode am 23. November 1946 an. Freilich war er bereits zum 1. April 1935 emeritiert worden. Immerhin stand er fast 22 Jahre im aktiven Dienst der Universität. Ernannt zu kaiserlicher Zeit, erlebte er in seiner Person sämtliche dramatischen Entwicklungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Revolution von 1918 und die Einführung der Republik wie auch nach wenigen Jahren die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und schließlich den Untergang geordneter Staatlichkeit nach der Gewaltherrschaft des Dritten Reiches im Feuersturm des II. Weltkrieges. Äußeres Anzeichen für die politische Wechselhaftigkeit seiner beruflichen Laufbahn war die Tatsache, dass er nicht weniger als viermal vereidigt wurde, am 2. April 1909 auf die Reichsverfassung von 1871, am 17. Januar 1920 auf die Weimarer Reichsverfassung, am 9. März 1921 auf die republikanische preußische Verfassung und schließlich am 27. August 1934 auf die Person von Adolf Hitler.1 Über das Leben und das Werk Triepels hat vor wenigen Jahren Ulrich M. Gassner eine vorzügliche, mit Akribie und Weitblick zugleich gefertigte Arbeit vorgelegt.2 Eine erkenntnisreiche und einfühlsame Würdigung seines Werkes liegt auch aus der Feder von Alexander Hollerbach vor.3 Meisterhaft hat vor allem Rudolf Smend als einer seiner Fakultätskollegen den Menschen und Juristen Heinrich Triepel in einem Rückblick aus Anlass seines 20. Todestages in der Festschrift für Gerhard Leibholz gezeichnet.4 Leibholz ist offen1

Quelle: Personalakten der Humboldt-Universität, T 102. Gassner Heinrich Triepel. Leben und Werk, 1999. Seine Darstellung wurde in dem vorliegenden Beitrag weitgehend als Grundlage benutzt. 3 Hollerbach Zu Leben und Werk Heinrich Triepels, AöR 91 (1966) 417–441. 4 Smend Heinrich Triepel, in: Die moderne Demokratie und ihr Recht. FS Leibholz, Band 2, 1966, 107–120, jetzt in: Smend Staatsrechtliche Abhandlungen2, 1968, 594–608. 2

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bar der einzige unter seinen Schülern, den seine akademische Laufbahn auf einen Lehrstuhl geführt hat. Insofern hätte der Ort für jenes Portrait nicht besser gewählt werden können. Überdies hat Triepels Tod eine Reihe von Nachrufen hervorgebracht, die sich nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur freimütig über seine Persönlichkeit, vor allem seine hartnäckige Distanzierung von dem Regime der Jahre 1933 bis 1945, äußern konnten.5 Der später Geborene, dem es nicht vergönnt war, Triepel während seiner Lebenszeit zu begegnen, kann sich nur auf schriftliche Erkenntnisquellen stützen, vor allem die zahlreichen Schriften von Triepel selbst, aber auch auf die über ihn abgegebenen Urteile seiner Zeitgenossen. Offensichtlich ist kaum etwas so aussagekräftig wie die lebendige Anschauung, die den Gewürdigten aus seinem beruflichen und familiären Umfeld und nicht nur auf Grund papierner Unterlagen kennt. Auf der anderen Seite ermöglicht die zeitliche Entfernung aber auch eine Nüchternheit der Beobachtung, die angezeigt ist, wenn es darum geht, ein Bild zu entwerfen, das möglichst vorurteilsfrei die Geschehnisse einer durch vielfältige Turbulenzen gekennzeichneten Zeitepoche wiedergibt. Unvermeidlich stand der Inhaber eines Lehrstuhls für Verfassungsrecht an der Friedrich-Wilhelms-Universität gleichzeitig auch mitten im politischen Leben. Er konnte sich nicht in einen Elfenbeinturm akademischer Selbstgenügsamkeit zurückziehen. So erscheint sein Leben exemplarisch für das Schicksal einer ganzen Generation, die sich ihr Leben wiederholt in einem radikal geänderten politischen Bezugsrahmen neu einrichten musste.

I. Lebensdaten Da die Studie von Gassner ausführlich über das Leben und den Werdegang von Triepel berichtet hat, genügt es an dieser Stelle, kurz die wesentlichen Lebensdaten zu rekapitulieren. Im Jahre 1868 wurde Triepel in einer großbürgerlichen, an Bildung interessierten Familie in Leipzig geboren. Er wurde im protestantischen Glauben erzogen und hielt zeit seines Lebens an dieser Bindung fest, die es ihm gleichzeitig erlaubte, sich eng an die preußische Monarchie anzulehnen. Nach Studium in Freiburg und Leipzig legte er im Januar 1890 mit 21 Jahren die erste juristische Staatsprüfung ab. Schon ein Jahr später (2. Juli 1891) folgte die Promotion mit einer Schrift über „Das Interregnum“,6 die dann wegen ihrer herausragenden Qualitäten auch als Habilitationsleistung anerkannt wurde (15. Februar 1893). Erst danach 5

Bilfinger Heinrich Triepel 1868–1946, ZaöRV 13 (1950/51) 1–13; Leibholz In Memoriam Heinrich Triepel (12.2.1968–23.11.1946), DeuV 2 (1949) 141–142; s. auch die Würdigung von Wehberg Heinrich Triepel 70 Jahre alt, FW 38 (1938) 39–41. 6 Triepel Das Interregnum. Eine staatsrechtliche Untersuchung, 1892.

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legte Triepel am 16. Juni 1894 die zweite juristische Staatsprüfung ab – für heutige Verhältnisse angesichts zunehmend bürokratisierter Berufslaufbahnen eine geradezu revolutionäre Umkehrung der üblichen Reihenfolge. Es folgte eine schwierige Zeit, wo Triepel gleichzeitig im richterlichen Dienst und als Privatdozent in der Lehre tätig war. Um seine wissenschaftliche Arbeit zu sichern und die Bürde der Doppelbelastung abzustreifen, musste er zum 31. Mai 1897 definitiv aus dem Justizdienst ausscheiden. Der Arbeit an dem großen Werk „Völkerrecht und Landesrecht“7 war der damit errungene Zeitgewinn äußerst förderlich. Das Werk erschien im Jahre 1899 und fand sogleich hohe Anerkennung, nicht nur in Deutschland, sondern auch im Kreise der Völkerrechtler weit über die deutschen Grenzen hinaus.8 Damit war der Boden für den akademischen Aufstieg aufs beste vorbereitet. Im Juni 1899 wurde Triepel zum außerordentlichen Professor an der Leipziger Juristenfakultät ernannt. Dort brauchte er nicht lange auszuharren. Schon wenige Monate später wurde ihm eine ordentliche Professur für allgemeines und deutsches Staatsrecht, Völkerrecht und Einleitung in die Staatswissenschaft an der Universität Tübingen angetragen, die er dann auch zum 16. August 1900 annahm. In Tübingen verbrachte Triepel fast neun volle Jahre. Prägend für ihn an der staatswissenschaftlichen Fakultät war die Begegnung mit den dortigen Hauptvertretern der Interessenjurisprudenz, Max von Rümelin und Philipp Heck, mit denen er in einem regen Gedankenaustausch stand.9 Schon in dieser Zeit kündigte sich seine Neigung an, sich von der herrschenden begriffsjuristischen Methodik abzuwenden, bei der Suche nach dem Recht teleologische Erwägungen anzustellen und entscheidendes Gewicht auf die mit einer Rechtsnorm verfolgten Zwecke zu legen. So wird etwa in der im Jahre 1907 erschienenen Abhandlung „Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche“10 die Verfassungsentwicklung seit der Reichsgründung im Jahre 1871 als ein ständig in Bewegung befindlicher Prozess dargestellt, in dem die beiden Pole „Unitarismus“ und „Föderalismus“ sich in einer strukturellen Spannungslage befanden. Offensichtlich hat sich Triepel während seiner Tübinger Jahre ein Rüstzeug angeeignet, auf das er von nun an mit großer Sicherheit zurückgreifen konnte. Im Jahre 1909 folgte ein Ruf nach Kiel, der für Triepel an sich keine Verbesserung in Status und Ansehen bringen konnte, da Kiel jedenfalls nach der 7

Triepel Völkerrecht und Landesrecht, 1899, unveränderter Nachdruck 1958. So schreibt Anzilotti in seinem Corso di diritto internazionale, Band I4, 1955, 51, im Einleitungssatz zu seinem Kapitel über Völkerrecht und staatliches Recht: “L’argomento dei rapporti fra diritto internazionale e diritto interno ha preso un posto prominente nella moderna letteratura, a partire dall’opera fondamentale del TRIEPEL (1899)”. 9 Gassner (Fn. 1), 59. 10 Triepel Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche. Eine staatsrechtliche und politische Studie, 1907. 8

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allgemeinen Überzeugung der Fachgenossen dem Range nach nicht über Tübingen stand. Mit einem Lehrstuhl in Preußen kam aber Triepel seinem Endziel, an die Berliner Universität berufen zu werden, einen wesentlichen Schritt näher. So nahm er den an ihn ergangenen Ruf zum Sommersemester 1909 an. Gleichzeitig übernahm er die Verpflichtung, dem Reichsmarineamt vor allem auf dem Gebiet des Völkerseerechts Hilfestellung zu leisten und Vorlesungen an der Marineakademie der Kaiserlichen Marine zu halten. So kam er von Amts wegen während seiner Kieler Zeit mit dem Seerecht und vor allem dem Seekriegsrecht in enge Berührung. Während des I. Weltkrieges, nachdem Triepel Kiel schon wieder verlassen hatte, fand diese Verknüpfung ihren Niederschlag in einer ganzen Reihe von Publikationen über die deutsche Seekriegsführung und die von Großbritannien, dem Hauptgegner auf der anderen Seite der Nordsee, in der militärischen Auseinandersetzung angewandten Methoden.11 Wie von Gassner berichtet worden ist, kam Triepel auf Grund seiner Lehrtätigkeit auch mit den höchsten Kreisen der deutschen Admiralität so wie auch mit dem Kaiserhaus in Berührung.12 Triepel hatte sich während seiner Jahre in Tübingen und dann in Kiel eine derart hohe wissenschaftliche Reputation verschafft, dass man bei der Schaffung eines neuen Lehrstuhls an der Berliner Juristischen Fakultät im Jahre 1913 geradezu zwangsläufig auf ihn stoßen musste. Eine der zentralen Passagen, mit denen die Fakultät in einem Schreiben an den Preußischen Minister vom 5. Dezember 1912 ihren Vorschlag begründete, Triepel an die erste Stelle einer Dreierliste zu setzen, lautete wörtlich wie folgt: „Namentlich möchten wir betonen, wie es in hohem Maße wünschenswert ist, dass die Berliner Fakultät ihrer bewährten Tradition, eine Pflanzstätte für die Wissenschaft des internationalen Rechts zu sein, auch in Zukunft treu bleibt.“ Die Überlegung, dass wegen des bevorstehenden Ausscheidens des Fakultätsmitgliedes Ferdinand von Martitz eine Stärkung der Lehrkapazität insgesamt erforderlich sei, fand offensichtlich bereitwilliges Gehör. Die Berufungsverhandlungen konnten noch im Dezember 1912 abgeschlossen werden. Triepel wechselte freilich erst zum 1. Oktober 1913 von Kiel an die Berliner Fakultät über, da er vor allem seine Lehrtätigkeit an der MarineAkademie nicht unvermittelt abbrechen wollte. Triepel war nun am Ziel seiner akademischen Wünsche angelangt. Allerdings standen ihm wie auch der ganzen Nation schwierige Jahre bevor. Zuerst galt es, den I. Weltkrieg zu überstehen, dessen Ende mit dem Sturz der 11 Hervorgehoben seien: Triepel Der Widerstand feindlicher Handelsschiffe gegen die Aufbringung, ZfV 8 (1914) 378–406; ders. Zum Lusitania-Fall, ZfV 9 (1915) 231–236; ders. Die Freiheit der Meere und der künftige Friedensschluss, 1917; ders. Konterbande, Blockade und Seesperre, Meereskunde 12 (1918) 3. Heft, 1-38. 12 Gassner (Fn. 1), 71.

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Hohenzollern-Dynastie gleichzeitig das bisher von Triepel hoch gehaltene Bild einer monarchischen Welt zum Einsturz brachte. Dennoch vermochte sich Triepel im neuen demokratischen System der Weimarer Republik zurecht zu finden, obwohl er wiederholt bekundete, dass er kein Freund des neuen republikanischen Systems sei. Seine Unterrichtsverpflichtungen an der Juristischen Fakultät nahm er mit großer Sorgfalt wahr, wobei er sich stets ein hohes zeitliches Ausmaß an Vorlesungen und Übungen im Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Völkerrecht mit einem gelegentlichen Maximum von 18 Semesterwochenstunden zumutete.13 Auch mit Ämtern in der akademischen Selbstverwaltung wurde er betraut. Zweimal fungierte er als Dekan seiner Fakultät (1916/17 und 1930/31), und den Höhepunkt äußerer Anerkennung erreichte er mit der Wahl zum Rektor der Universität im Amtsjahr 1926/27. Der Aufstieg des Nationalsozialismus überraschte Triepel. Nach der Machtergreifung durch die rechten Kräfte im Januar 1933 wollte er sich der neuen Führungsschicht nicht ideologisch unterordnen, was nicht unbemerkt bleiben konnte. Zumal ihm auch vorgehalten wurde, jüdisch „versippt“ zu sein – der von den nationalsozialistischen Behörden neu eingeführte Personalbogen wies für seine Frau in der Tat den Vermerk „nicht arisch“ aus –,14 und weil er sich für jüdische Kollegen und Schüler eingesetzt hatte, wurde er zum 1. April 1935 nach Ablauf seiner regulären Amtszeit gegen seinen Willen emeritiert, obwohl in vergleichbaren Fällen die Amtszeit seiner Kollegen fast durchweg großzügig verlängert worden war.15 Die insoweit aus der Mitte der Fakultät für ihn gestellten Anträge wurden hingegen sämtlich „brüsk“ abgelehnt. Die folgenden Jahre widmete Triepel intensiver wissenschaftlicher Tätigkeit. Es entstanden mehrere große Werke. Im Jahre 1938 erschien „Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten“,16 ein Werk, das im Jahre 1943, also noch während der Zeit des II. Weltkrieges, eine zweite Auflage erlebte. Triepel schrieb im Anschluss an diese wahrhaft monumentale Abhandlung eine Studie über „Delegation und Mandat im Öffentlichen Recht“,17 die, wie er in seinem Vorwort erwähnte, nach 30 Jahren an Vorarbeiten des Jahres 1911 anknüpfte. Durch die Kriegsereignisse wurde Triepel nach Untergrainau in Bayern in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen verschlagen. Trotz äußerer Not18 und einer schweren Augenerkrankung ließ er sich von seinen Forschungen nicht abbringen. Nach seinem Tode am 23. November 1946 erschien posthum noch seine Abhandlung „Vom Stil des Rechts. Beiträge zu einer Ästhe13 14 15 16 17 18

Genaue Aufstellung der Lehrveranstaltungen bei Gassner (Fn. 1), 80 f. Personalakten der Humboldt-Universität, T 102, Blatt 1. Ibid Brief Triepels an den Kurator der Humboldt-Universität, 28.12.1945, Blatt 49. Triepel Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, 1938. Triepel Delegation und Mandat im Öffentlichen Recht, 1942. S. dazu unten S. 25.

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tik des Rechts“,19 die sich auf ihren Schlussseiten (151–153) in ein Dokument der Erschütterung über die von den nationalsozialistischen Machthabern begangenen Verbrechen wandelt. Es gebe wohl „keine Periode der Rechtsgeschichte, in der sich der Staat oder der Personenkreis, der sich als Staat ausgab, oder der sich ihn zu beherrschen vermaß, so sehr mit der Vornahme von Akten befleckt hat, die als hässlich anzusehen sind, wie die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland, des Faschismus in Italien.“ Es sei wohl auch einzigartig, „dass ein Mörder, der zur Zeit gerade Regierungschef war, die von ihm und seinen Gehilfen verübten Missetaten auf ‚legalem’ Wege der Bestrafung entzog, durch ein Gesetz, dessen ungeheuerliche Unsittlichkeit und innere Unmöglichkeit dazu angetan waren, es von Anfang an als null und nichtig erscheinen zu lassen.“ Triepels Konsternation über all das, was er in seiner Entsetzlichkeit sicher erst nach Ende des Krieges in vollem Umfang erfuhr, musste um so tiefer dringen, als er ja maßgeblich an der Gestaltung der politischen Prozesse der Weimarer Republik beteiligt gewesen war, an deren Ende sich schließlich der Nationalsozialismus als die dominierende Kraft durchsetzte. Auf Grund seines Gefühls der Verantwortung für die Entwicklung von Staat und Gesellschaft übernahm Triepel auch zahlreiche Funktionen außerhalb der Universität. Um die Jahreswende 1918/1919 erarbeitete er im Rahmen des Vereins „Recht und Wirtschaft“ zusammen mit einer Reihe von Fakultätskollegen (Erich Kaufmann, Theodor Kipp) und anderen Verfassungsjuristen den Entwurf einer Reichsverfassung, der noch vor der ersten Lesung des Regierungsentwurfs in der Nationalversammlung veröffentlicht werden konnte und einen wesentlichen Einfluss auf die amtlichen Verfassungsberatungen gehabt hat.20 Später engagierte er sich mit hohem Einsatz in den Verbänden der juristischen Welt, wo in erster Linie rechtspolitische Fragestellungen behandelt wurden. Seiner Initiative ist es zu verdanken, dass die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer im Jahre 1922 gegründet wurde.21 Seit dem Jahre 1921 war er in die Arbeit des Deutschen Juristentages eingebunden, wo er zunächst auf der Bamberger Tagung und danach auf der Heidelberger Tagung von 1924 als Referent auftrat, später dann mehrfach in der Abteilung für öffentliches Recht den Vorsitz führte, um schließlich auf dem Lübecker Juristentag von 1931 zum Vorsitzenden der Ständi19

Triepel Vom Stil des Rechts. Beiträge zu einer Ästhetik des Rechts, 1947. Detailliert dargestellt von Gassner (Fn. 1), 106–119. 21 Vgl. Gassner (Fn. 1), 133–139; Hesse Zum 50. Jahrestag der Gründung der Vereinigung der Deutschen Staatssrechtslehrer, AöR 97 (1972) 345. 20

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gen Deputation gewählt zu werden.22 Beteiligt war er auch an der Gründung des Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht im Jahre 1924, das nicht nur der Forschung dienen, sondern gleichzeitig der jungen Republik in den zahlreichen aus dem Versailler Vertrag erwachsenen Streitigkeiten Hilfestellung leisten sollte. Dazu bedurfte es einer festen Unterstützung, die von den vorhandenen Universitätsinstituten mit ihren beschränkten Kräften nicht geleistet werden konnte.23 Auch bei den Fachzeitschriften auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts und des Völkerrechts engagierte sich Triepel als Herausgeber. So trat er im Jahre 1919 die Nachfolge Paul Labands beim Archiv des öffentlichen Rechts an.24 Die Zeitschrift des Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht begleitete er von ihrer Gründung an im Jahre 1929 bis zu ihrer letzten Ausgabe vor dem Ende des II. Weltkrieges im Jahre 1944. Auch im Jahrbuch des öffentlichen Rechts und der Deutschen Juristen-Zeitung, einem zwar der Tagesaktualität verpflichteten, aber dennoch auf hohem Niveau agierenden Blatt, nahm er die Rolle eines Mitherausgebers wahr. So war Triepel, dessen Lehrtätigkeit ja stets weiterlief, einem rastlosen Lebensrhythmus ausgesetzt, der ihn offenbar mit voller Zufriedenheit erfüllte. Dem Verfasser dieser Zeilen wurde etwa von Hans Schneider berichtet, dass Triepel in seinen Vorlesungen stets „guter Laune“ gewesen sei und niemals einen abgehetzten Eindruck gemacht habe.

II. Das schriftliche Werk Das von Triepel hinterlassene literarische Erbe ist umfangreich. Es umfasst alle Gattungen des juristischen Schrifttums, von der großen Monographie über den Zeitschriftenaufsatz und den Diskussionsbeitrag bis hin zum Zeitungsartikel. Schon allein diese Breite zeigt, dass Triepel sich nicht allein als Fachmann für die Fragen des öffentlichen Rechts verstand, sondern sich dazu berufen fühlte, Verantwortung für das Geschehen in Staat und Gesellschaft in einem umfassenden Sinne wahrzunehmen, auch was die politische Dimension der von ihm beherrschten Disziplinen angeht. Natürlich aber verdankte Triepel seinen überragenden Ruf in erster Linie seinen wissenschaftlichen Arbeiten, die durchweg hohe Anerkennung gefunden hatten. Seine Dissertation über „Das Interregnum“,25 wo zentral die Frage erörtert wurde, ob bei Wegfall, insbesondere Tod des Monarchen der Staat aufhöre zu existieren und bei wem während eines solchen Interregnums die Staats22 23 24

Vgl. Gassner (Fn. 1), 127–130. Vgl. Gassner (Fn. 1), 146–148. Dazu die eindrucksvolle Studie von Becker „Schritte auf einer abschüssigen Bahn“,

1999. 25

Triepel (Fn. 6).

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gewalt liege, ist aus heutiger Sicht freilich in eine weite Ferne gerückt. Eine Einzelperson als Träger der Staatsgewalt ist vom Boden demokratischer Denkweise aus undenkbar, und selbst seinerzeit konnte wohl ernstlich kein Zweifel daran bestehen, dass auch im monarchischen System das Staatsoberhaupt letztlich ein Organ des Staatswesens sei. Die in der Schrift an dieser Schlussfolgerung gehegten Zweifel hat Triepel später selbst in seinem Werk über die Reichsaufsicht als „begriffsjuristische Entgleisung“ bezeichnet.26 Insgesamt darf man feststellen, dass Triepel mit seinem Erstlingswerk fest in die Gedankenwelt des wilhelminischen Deutschland eingebunden war. Das Werk zeugte von Scharfsinn, konnte aber der Verfassungsdiskussion seiner Zeit keine neuartigen Impulse verleihen. Über diese noch wenig originellen Anfänge wuchs Triepel mit „Völkerrecht und Landesrecht“, dem Werk von 1899,27 also aus der Tübinger Zeit, weit hinaus. Noch heute ist „Völkerrecht und Landesrecht“ eine Abhandlung, die immer wieder zitiert wird. Ihre intellektuelle Überzeugungskraft beruht auf der Radikalität, mit der Triepel seine Konzeption vom gegenseitigen Verhältnis zwischen der Rechtsordnung des Völkerrechts auf der einen Seite und den zahlreichen staatlichen Rechtsordnungen auf der anderen Seite entwarf. Seiner These nach handelt es sich um Rechtssysteme, die sich zwar berühren, aber niemals schneiden können.28 Denn es gebe zwei grundlegende Gegensätze.29 Einerseits habe man es mit unterschiedlichen Rechtsquellen zu tun: im staatlichen Rechtsraum herrsche das Gesetz, während in den internationalen Rechtsbeziehungen der Vertrag die maßgebende Rechtsquelle sei. Andererseits bestehe auch eine prinzipielle Verschiedenheit der beteiligten Rechtssubjekte. Auf völkerrechtlicher Ebene sei nur der Staat als Träger von Rechten und Pflichten denkbar, während sich das nationale Recht im Wesentlichen an das Individuum richte. Andere Rechtsetzungsautoritäten als der Staat kommen Triepel nicht in den Sinn, da Recht lediglich aus einem überlegenen Willensakt fließen könne, den nur der Staat innerstaatlich allein oder im völkerrechtlichen Verkehr gemeinsam mit anderen Staaten setzen könne.30 Diese begriffliche Bestandsaufnahme entsprach den Realitäten der damaligen Welt. Die Macht des souveränen Staates war durch keinerlei Rechtsgebote eingeschränkt, und Triepel war demgemäß der Auffassung, dass eine

26 Triepel Die Reichsaufsicht. Untersuchungen zum Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1917, 537 mit Fn. 4. 27 Triepel (Fn. 7). 28 So das Bild, das Triepel in seiner Haager Vorlesung benutzt, wo er nach 24 Jahren nochmals seine Thesen aus dem Jahre 1899 bekräftigt: Triepel Les rapports entre le droit interne et le droit international, Recueil des cours de l’Académie de droit international (Recueil des cours) 1 (1923) 73, 83. 29 Triepel (Fn. 7), 9. 30 S. dazu die Kritik von Koskenniemi The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960, 2002, 190.

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völkerrechtliche Verpflichtung lediglich durch Willenseinigung zwischen den beteiligten Rechtssubjekten zustande kommen könne. Auch das Gewohnheitsrecht betrachtete er als eine Form stillschweigend vereinbarten Vertragsrechts, ähnlich der späteren sowjetischen Lehre,31 sich ausdrücklich gegen die These wendend, dass Gewohnheitsrecht auch durch Praxis und eine sie abstützende Rechtsüberzeugung entstehen könne.32 Zwar erkennt er scharfsinnig, dass Rechtsgeltung nicht rechtlich begründet werden könne,33 aber er vermag doch eigentlich nicht darzutun, worauf eigentlich die verbindliche Kraft eines beidseitigen Willensaktes beruhen solle, den er mit Bezug auf rechtsetzende Verträge als „Vereinbarung“ – im Gegensatz zu Geschäften mit Austauschcharakter als „Verträgen“ – qualifiziert. Richtig ist sicher die Bemerkung, dass einem Staat in Gestalt eines Vertrages, den er selbst abgeschlossen hat, nicht schlechthin ein fremder Wille entgegentritt, „sondern zugleich sein eigener Wille“,34 doch erklärt diese Beobachtung nicht eigentlich die von Triepel angenommene Bindungskraft, die mit dem Begriff des als generelle Grundlage dienenden „Gemeinwillens“ keine eigentliche Klärung findet. Die weiteren Ausführungen verlieren sich teilweise auch in Unterscheidungen und Differenzierungen, die für das Grundsatzproblem wenig an zusätzlichen Erkenntnissen bringen. Heute ist das Triepelsche Gedankengebäude in vielen Teilelementen durch den Fortgang der völkerrechtlichen Entwicklungen überwunden. Vor allem die Europäische Union stellt ein Amalgam zwischen traditionellen verwaltungsrechtlichen Rechtsfiguren und völkerrechtlichen Konstruktionen dar, das sich nicht mehr in zwei unterschiedliche Bestandteile zerlegen lässt. Aber auch das eigentliche Völkerrecht macht nicht mehr an den Grenzen des souveränen Staates halt. Vor allem mit dem Einzug der Menschenrechte hat sich sein Regelungsgegenstand grundlegend verändert. Es beschränkt sich nicht mehr darauf, typische zwischenstaatliche Rechtsbeziehungen zu normieren, sondern schreibt dem Staat teilweise in höchst detaillierter Form vor, wie er die seiner Zuständigkeit unterstehenden Personen zu behandeln habe. Selbst wenn man dem entgegenhalten kann, dass die völkerrechtlichen Übereinkünfte ihre innerstaatliche Geltung ja nach wie vor der Billigung durch staatlichen Rechtsbefehl verdankten, versagt dieser Einwand gegenüber zwingenden völkerrechtlichen Rechtsnormen (jus cogens), die Respekt verlangen, gleichgültig ob nun ein einzelner Staat ihnen zugestimmt hat oder auch nicht. Auch sonst haben sich völkerrechtliche Praxis und Lehre weithin vom Primat des staatlichen Willens gelöst.35 Ihren 31

S. Tunkin Völkerrechtstheorie (deutsche Übersetzung), 1972, 153–163. Triepel (Fn. 7), 98. 33 Triepel (Fn. 7), 82. 34 Triepel (Fn. 7), 82. 35 Dazu etwa Tomuschat Obligations Arising for States Without or Against Their Will, Recueil des cours 241 (1993–IV) 195–374. 32

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deutlichsten Ausdruck findet die Überwindung des staatlichen „Souveränitätspanzers“ in den Regelungen des Völkerstrafrechts, die, wie erstmals der Nürnberger Prozess gelehrt hat, unmittelbar nach dem schuldigen Individuum greifen, gleichgültig, welche Rangstellung der Betroffene in der Ämterhierarchie seines Staates innegehabt hat. Heute beruhen der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien wie auch der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda auf der intellektuellen Voraussetzung, dass es in der Tat ein Völkerstrafrecht gibt, das unabhängig von den Rechtsbefehlen irgendeiner nationalen Rechtsordnung Geltung beansprucht. Insgesamt verdichten sich die neueren Entwicklungen in dem Begriff der „Konstitutionalisierung“ des Völkerrechts, der eine entschiedene Absage an den souveränen Staatswillen als Quelle allen Rechts enthält. Dem Erkenntniswert der Triepelschen Schrift tun diese Veränderungen keinen Abbruch. Nach wie vor ist das Gros der staatlichen Verfassungen nach einem dualistischen Modell konstruiert, das dem Völkerrecht im Landesrecht nur einen von der jeweiligen Verfassung selbst bestimmten Platz zuweist. Insofern dominiert Triepels Theorie nach wie vor die Praxis der internationalen Beziehungen. In dem Maße freilich, wie der souveräne Staat durch Weltordnungsinstanzen aus seiner Rolle als alleiniger Entscheider verdrängt wird, verliert auch der Dualismus an Terrain, was im Jahre 1899 gewiss nicht leicht vorherzusehen war. Besondere Hervorhebung verdient von den völkerrechtlichen Schriften auch der Vortrag über „Die Zukunft des Völkerrechts“, gehalten während der Zeit des I. Weltkriegs im Jahre 1916.36 Triepel wandte sich gegen die in der Öffentlichkeit weit verbreitete Meinung, dass das Völkerrecht auf Grund der Kriegsereignisse zusammengebrochen sei. Zusammengebrochen sei nur der naive Glaube, dass es dieselbe Leistungsfähigkeit besitze wie das innerstaatliche Recht. Optimistisch äußert er, dass das internationale Kooperationsrecht, das auch schon im 19. Jahrhundert weit verzweigte Systeme gebildet habe, „nach Beendigung des gegenwärtigen Krieges genau in derselben Bahn sich bewegen wird, in der es zuvor gelaufen ist.“ Diese Hoffnung auf Überwindung nationalstaatlicher Enge verrät einen Weitblick, den Triepel sich sonst nicht durchweg bewahrt hat, auch nicht in den übrigen Ausführungen jenes Vortrags. Triepels großes Werk über „Die Reichsaufsicht“, abgeschlossen während seiner Zeit in Berlin, ist durch eine gewisse Tragik gekennzeichnet. Durchweg wird im Schrifttum diese monumentale Abhandlung als das beste Werk zur Reichsverfassung von 1871 bezeichnet, in seiner Qualität das Labandsche Reichsstaatsrecht noch überragend.37 Für das Kaiserreich war der Zu36 Triepel Die Zukunft des Völkerrechts. Vortrag gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 11. März 1916, Vorträge der Gehe-Stiftung zu Dresden, Band VIII, 1916. 37 So etwa Smend (Fn. 4), 599.

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sammenhalt der Einzelstaaten im bundesstaatlichen Gefüge ein zentrales Thema. Angesichts des Fehlens einer Verfassungsgerichtsbarkeit bildete die Reichsaufsicht das Handlungsmittel par excellence, um die Einheit des Staatswesens sicherzustellen. Der heutigen Juristengeneration mag der Gegenstand eher als etwas abgelegen erscheinen, doch konnte aus der Perspektive der Aufsicht fast das gesamte Rechtssystem der Verfassung von 1871 dargestellt werden, die ja im Wesentlichen nicht mehr als ein organisatorisches Gerüst darstellte und vor allem eines Grundrechtsteils entbehrte. Heute machen die durch Grundrechte geschaffenen Rechte und Pflichten das Schwergewicht des verfassungsrechtlichen Diskussionsstoffes aus, und dieser Ausweitungsprozess begann eben gerade mit der Weimarer Reichsverfassung.38 Trotz ihrer handwerklichen Solidität und ihrer Stofffülle, vor allem ihren breiten rechtsvergleichenden Untersuchungen zur Lage in den Vereinigten Staaten und in der Schweiz, vermochte „Die Reichsaufsicht“ doch nicht den Beifall zu finden, den sie an sich verdient gehabt hätte. Im Jahre 1917 zeichnete sich bereits das Ende des Kaiserreichs ab. Nachdem in der Republik die Weimarer Reichsverfassung in Kraft getreten war, musste sich das Werk mit einer Schattenexistenz begnügen. Eine unmittelbare Relevanz für die Praxis hatte es verloren. Triepels große Monographie über die Hegemonie aus dem Jahre 1938 ist die Frucht der zeitlichen Ungebundenheit, die ihm als Emeritus nach der Verdrängung aus seinem Amte erwachsen war. Berichtet worden ist, dass er die Studien dazu im Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht betrieb, das seinerzeit im Dachgeschoss des Berliner Schlosses untergebracht war. Auch über diesem Werk liegt ein Schatten. Obwohl es offenbar einen guten kommerziellen Absatz fand, der noch im Jahre 1943 eine zweite Auflage ermöglichte, konnte es doch in der Zeit kurz vor dem II. Weltkrieg nicht mehr die gebührende Aufmerksamkeit finden. Von nationalsozialistischer Warte aus wurde das Buch heftig kritisiert, da es nicht der Vorstellung der Machthaber von der Einheit von Führung und Herrschaft entsprach. Seine soziologisch orientierte Methode übersehe die „Selbständigkeit des politischen Führerbegriffs“, wie Carl Schmitt anmerkte.39 Triepel unterschied hingegen sorgsam zwischen beiden Phänomenen.40 Ihm zufolge zeichnet es den „echte(n) Führer“ aus, dass er „niemals mit echtem Befehl und echtem Zwang“ arbeitet. Eine solche Trennung musste vom Standpunkt des Nationalsozialismus aus als ein verdeckter Angriff auf den Führerkult empfunden werden. Geltend gemacht wurde, „der Befehl gehört unmittelbar zum Wesen des Führers“, Triepel denke an der „durch Art und 38

Dazu treffend Friedrich Der Methoden- und Richtungsstreit. Zur Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre, AöR 102 (1977) 161, 179. 39 Schmitt Führung und Hegemonie, Schmollers Jahrbuch 63 (1939) 513, 519. 40 Triepel (Fn. 16), 39.

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Blut bedingten Unterscheidung zwischen Herrschaft und Führung“ vorbei.41 Dennoch musste nach 1945 das Buch in den Verdacht geraten, letzten Endes doch eine Apologie der nationalsozialistischen Diktatur entfalten zu wollen. In der Tat kann es der Leser als eigenartig empfinden, dass Triepel seine Abhandlung in drei Teile gliedert, von denen der erste dem „führenden Mensch“ gewidmet ist, der zweite der „führenden Gruppe“, während erst der dritte von dem „führenden Staat“ handelt. Schon vom Anfang seines Schaffens an hatte sich Triepel mit der Erscheinungsform des führenden Staates befasst, für die ihm die Stellung Preußens im Reich von 1871 paradigmatisch zu sein schien.42 Gerade die Existenz einer Hegemonialmacht betrachtete er schon in seinen Schriften aus der Kaiserzeit als den Schlüssel für den Erfolg jenes föderalen Gebildes, und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass das Thema nun nochmals auf breiter Grundlage, sowohl rechtshistorisch wie auch rechtsvergleichend abgestützt, wieder aufgenommen wurde. Demgegenüber konnten Betrachtungen über den „führenden Menschen“ eigentlich nach dem Ende der Monarchien in keine der Gegenwart dienliche Staatsrechtslehre mehr einmünden, zumal man auf jenen Seiten vergeblich nach irgendwelchen Lehren sucht, die noch in Anknüpfung an die Zeit vor 1919 hätten gezogen werden können. Triepel spricht auch im Gegensatz zu einem gekorenen von einem „geborenen“ Führer, einem aus dem Volke erwachsenden und nicht genealogisch vorbestimmten „echten“ Führer, dem offenbar seine besondere Sympathie gilt.43 Auch wenn es sich bei alledem nur um soziologische Überlegungen handelt, kann der Leser sich einer gewissen Irritation nicht erwehren. Das neuere Schrifttum hat Triepel von dem Vorwurf, eine Anbiederung an die nationalsozialistischen Machthaber gesucht zu haben, freigesprochen.44 Aber natürlich drängt sich die Frage auf, wieso eigentlich Triepel sich entschlossen hat, sein Werk mit Passagen über den „echten Führer“ anzureichern. Auch der Abschnitt über die „führende Gruppe“ erscheint etwas ziellos. Eine der Zeit gemäße Erörterung der politischen Parteien im modernen Staat sucht man dort vergeblich, der Leser stößt lediglich auf ein Zitat aus dem Reichsgesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat,45 wo es hieß, dass „[n]ach dem Siege der nationalsozialistischen Revolution . . . die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei die Trägerin des deutschen 41

So Schmid-Burgk Rezension, AöR 71 (1941) 77, 81, 82. Triepel (Fn. 10), 111. 43 Triepel (Fn. 16), 16. 44 Eschenburg Aus dem Universitätsleben vor 1933, in: Flitner (Hrsg.) Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus, 1965, 24, 37; Gassner (Fn. 1), 350; Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 3, 1999, 389. Vgl. auch Friedrich Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, 348. 45 Vom 1.12.1933, RGBl. I, 1016. 42

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Staatsgedankens“ sei.46 Von einer offenen Kritik am deutschen Führerstaat kann also sicher nicht die Rede sein, zumal ja auch das Erscheinen des Buches nicht behindert wurde. Offenbar wurde von den Zensoren allein die Tatsache, dass in einem Werk eines anerkannten Verfassungsjuristen ausführliche Darlegungen dem Führerprinzip gewidmet wurden, als eine gewisse Legitimierung des vorhandenen Herrschaftsapparates gesehen. Insgesamt bleibt ein außerordentlich zwiespältiger Eindruck. Unvermeidlich liest man das Werk auch unter dem Gesichtspunkt, ob es nicht letzten Endes nur eine Legitimierung der von Carl Schmitt konzipierten völkerrechtlichen Großraumordnung47 bezwecke. Zutreffend weist Triepel darauf hin, dass die Großmächte im 19. Jahrhundert in Europa eine faktische Hegemonie ausgeübt hätten.48 Aber das 20. Jahrhundert stand unter anderen Vorzeichen, nachdem der Gedanke der Gleichheit der Staaten sich zunehmend in den Vordergrund geschoben hatte. Triepel argumentiert hier aber auf der Grundlage des tatsächlichen Befundes, dass Gleichheit nicht in einem absoluten Sinne zu verstehen sei, sondern dahin, dass gleich Behandlung genießen solle, „was gleiche Behandlung verdient“. Es gelte nicht „idem cuique“, sondern „suum cuique“. Demzufolge hat er nichts gegen völkerrechtliche Abhängigkeitsverhältnisse wie etwa Protektorate einzuwenden, betont aber, dass er lediglich die „Hegemonie echter Art, d.h. einer auf freiwillige Unterordnung einer Gefolgschaft beruhenden Führung durch eine größere Macht“ gutheiße.49 Ausdrücklich äußert sich Triepel nicht zur zukünftigen Rolle Deutschlands im Verhältnis zu seinen Nachbarstaaten. Imperialistische Thesen werden also nicht verfochten. Dennoch bleibt auch hier ein gewisser fader Nachgeschmack. In der letzten Phase seines Lebens wandte sich Triepel wieder eher unpolitischen Themen zu. Mit der Monographie über „Delegation und Mandat im öffentlichen Recht“ vollendete er im Jahre 1941 ein Projekt, zu dem die gedanklichen Wurzeln bereits drei Jahrzehnte früher gewachsen waren. Indem er „Delegation“ als echte Übertragung einer Kompetenz kennzeichnete, während „Mandat“ lediglich die Ermächtigung zur Ausübung einer fremden Kompetenz bedeute,50 vermochte Triepel überzeugend vor allem die Grenzen zulässiger Delegation aufzuzeigen. Als Kapitel einer allgemeinen zeitlosen Verfassungslehre lässt sich die Studie heute noch mit großem 46

Triepel (Fn. 16), 103. Schmitt Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht4, 1941. Dazu die Arbeit von Schmöckel Die Großraumtheorie: ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, insbesondere der Kriegszeit, 1994. 48 Triepel (Fn. 16), 204, 297. Vgl. auch Mosler Die Großmachtstellung im Völkerrecht, 1949, 13 ff. 49 Triepel (Fn. 16), 217. 50 Triepel (Fn. 17), 23. 47

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Nutzen in Grenzfällen heranziehen, wo die Praxis versucht, von einer vorgeschriebenen Kompetenzordnung abzuweichen. In dem bereits erwähnten, posthum erschienen Werk über die Ästhetik des Rechts ordnet Triepel das Recht in die Gesamtheit der Erscheinungsformen der „Gesamtkultur“ einer Gesellschaft ein51 und stellt vor allem vielfältige Betrachtungen über die Sprache des Juristen an. Gleichzeitig wird hier und dort mit gedrängten Worten eine Summe seiner Lebensarbeit gezogen.

III. Leitgedanken des wissenschaftlichen Schaffens Wenn heute Triepels Gestalt in Erinnerung gerufen wird, interessiert in erster Linie, welche seiner Gedanken und Überlegungen prägend auf seine Zeit bis in die Gegenwart gewirkt haben. Triepel war sich durchaus bewusst, dass der Jurist im Wesentlichen der Diener seiner Zeit ist und dass demzufolge auch seine literarische Produktion vielfach auf den Tag gemünzt ist und dementsprechend mit dem Ende des Tages auch wieder vergeht. Gerade in der Tagesarbeit können aber entscheidende Weichen gestellt werden, während die Monographie mit ihren bilanzierenden Rückblicken in die Gefahr geraten mag, sogleich mit ihrem Erscheinen als überholt abgestempelt zu werden. In einer Traditionslinie, die sich bis zum heutigen Tage hinzieht, wird Triepel weniger durch seine Werke zum Föderalismus in Erinnerung bleiben als durch seinen Einsatz für die Elemente der Rechtsstaatlichkeit, wie sie auch in das Grundgesetz eingegangen sind. Die Grundrechte hatten ursprünglich gar nicht zu Triepels Arbeitsfeldern gehören können, da ja die Reichsverfassung von 1871 keinen Grundrechtsteil enthielt. Mit der Weimarer Reichsverfassung eröffnete sich plötzlich für alle Verfassungsjuristen eine neue Dimension, für die sie gar nicht recht vorbereitet waren. Triepel bekannte auch freimütig, dass er sich in seiner bisherigen Arbeit wenig um die Grundrechte des Bürgers gekümmert, ja sie sogar „mit einer gewissen Geringschätzung“ angesehen habe.52 Bewusst wurde ihm nun, dass die Grundrechte nichts anderes als „legalisierte Wertungen“ enthalten, auf die bei der Suche nach Anhaltspunkten für das Telos einer Rechtsnorm zurückgegriffen werden könne.53 Größere Abhandlungen zu allgemeinen Grundrechtsfragen hat er freilich nicht vorgelegt; als Hauptarbeit in diesem Bereich erscheint ein Rechtsgutachten aus dem Jahre 1924 über die Goldbilanzen-Verordnung,54 wo er die Auffassung vertritt, dass die 51

Triepel (Fn. 19), 67. Triepel Diskussionsbeitrag, VVDStRL 4 (1927) 89. 53 Triepel (Fn. 52), 90. 54 Triepel Goldbilanzen-Verordnung und Vorzugsaktien. Zur Frage der Rechtsgültigkeit der über sogenannte schuldverschreibungsähnliche Aktien in den Durchführungsbestimmungen zur Goldbilanzen-Verordnung enthaltenen Vorschriften, 1924. 52

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umstrittene Verordnung die Eigentumsgarantie des Art. 153 WRV verletzt habe. Mutig ist Triepel dort vor allem mit der These hervorgetreten, dass der allgemeine Gleichheitssatz nicht nur für die Tätigkeit von Regierung und Verwaltung gelte, sondern auch den Gesetzgeber binde. Auch hier steht im Hintergrund die Erwägung, dass ein Damm gegen die Allmacht des Gesetzgebers errichtet werden müsse.55 Dass damit die legislative Gestaltungsfreiheit in unangemessener Weise eingeschränkt werde, ließ Triepel nicht gelten. Für die Frage, wann denn angesichts der vielfältigen Differenzierungen, die eine moderne Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung verlangt, ein Verstoß bejaht werden könne, fand er schon Formulierungen, die später in die Rechtsprechung des BVerfG eingegangen sind. Es komme darauf an, ob man für eine Differenzierung einen vernünftigen Grund angeben könne.56 Die Begründung müsse „in einem sachlichen Zusammenhange mit dem Wesen des geregelten Verhältnisses“ stehen, um dem Vorwurf der Willkürlichkeit zu entgehen.57 Seine Thesen aus dem Gutachten waren schon kurze Zeit später vor allem in der Dissertation von Gerhard Leibholz aufgenommen und näher ausgeführt worden.58 Auf der Staatsrechtslehrertagung von Münster im Jahre 1926 schloss sich auch Erich Kaufmann in seinem Hauptreferat der Auffassung an, dass selbst der Gesetzgeber den Bindungen des Gleichheitssatzes unterliege.59 Bedeutsam sind überdies sämtliche Folgerungen, die Triepel aus der Verbürgung der Grundrechte in der WRV zog. Er ließ keinen Zweifel daran, dass der Vorrang der Verfassung auch für die Grundrechte gelte und dass demgemäß Gesetze, die sich einer Verfassungsverletzung schuldig machten, mit dem Makel der Nichtigkeit behaftet seien.60 Unvermeidlich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage des quis judicabit. Bloße Aussagen zur materiellen Rechtslage müssen enttäuschend wirken, wenn sie nicht auch verfahrensrechtlich untermauert sind. Die Nichtigkeit eines grundrechtswidrigen Gesetzes bliebe hohles Pathos, würde nicht ein Mechanismus bereitgestellt, mit Hilfe dessen die Nichtigkeit geltend gemacht werden kann. Für Triepel gab es keinen Zweifel, dass die Logik des Systems deswegen nach einem richterlichen Prüfungsrecht auch gegenüber Gesetzen verlangte.

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Triepel (Fn. 54), 27 f. Triepel (Fn. 54), 30. 57 Triepel (Fn. 54) und ders. Diskussionsbeitrag, VVDStRL 3 (1927) 52. Auch in dem Gutachten nimmt Triepel wiederum sehr umfänglich auf die Rechtsprechung in den USA und in der Schweiz Bezug. 58 Leibholz Die Gleichheit vor dem Gesetz. Eine Studie auf rechtsvergleichender und rechtsphilosophischer Grundlage, 1925, 2. Auflage 1959. 59 Kaufmann Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, VVDStRL 3 (1927) 2 ff. 60 Triepel (Fn. 54), 28. 56

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Gleichzeitig sah er in einem solchen Prüfungsrecht auch eine Schutzvorkehrung gegen parlamentarische Willkürherrschaft: „Denn das richterliche Prüfungsrecht ist in der parlamentarischen Republik, wenn nicht der einzige, so doch der wichtigste Schutz der bürgerlichen Freiheit gegenüber einem machthungrigen Parlamente.“61 Diesen Gedanken führte Triepel konsequent fort. Fast schon in Vorahnung vor dem, was wenige Jahre später eintreten sollte, schrieb er im Jahre 1929, dass „[v]erfassungswidrige Willkür der Exekutive … nicht gebrochen werden [kann], wenn sich die Exekutive auf verfassungswidrige Willkür des Gesetzgebers zu stützen vermag.“62 Es ist nur folgerichtig, dass er im Rahmen von Streitigkeiten zwischen Ländern und dem Reich nach Art. 19 WRV auch die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen zulassen wollte.63 Einer denkbaren Allmacht des Gesetzgebers trat Triepel auch sonst entschieden entgegen. Er wandte sich auf dem 32. Deutschen Juristentag in Bamberg (1922) gegen die Zulässigkeit einer von der h.L. gebilligten Praxis, die zunehmend dazu tendierte, schwierige Rechtsetzungsvorhaben in vollem Umfang an die Exekutive zu delegieren. Triepels einsichtige These lautete, die Verfassung habe dem Gesetzgeber die Aufgabe der Rechtsetzung zugewiesen, der er sich nicht einfach durch Weiterüberweisung an die Exekutive entledigen könne. Das Gesetz dürfe eine Verordnungsermächtigung nur im Dienste begrenzter Zwecke für ein bestimmtes Lebensverhältnis erteilen.64 Damit prägte er vor, was heute in Art. 80 Abs. 1 GG seinen Niederschlag gefunden hat. Zusätzlich wurden diese Schlussfolgerungen durch die Erwägung abgestützt, dass jede Erteilung einer Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen den Rechtsetzungsprozess um die ihm innewohnenden checks and balances bringe: weder könne der Reichspräsident ein Veto einlegen, noch kämen die Volksrechte zum Zuge, 61 Triepel Der Weg der Gesetzgebung nach der neuen Reichsverfassung, AöR 39 (1920) 456, 537. Ähnlich im Gutachten für den 33. Deutschen Juristentag 1924 (Heidelberg), Zulässigkeit und Form von Verfassungsänderungen ohne Änderung der Verfassungsurkunde, Verhandlungen, 1925, 45, 59. 62 Triepel Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929) 2, 15. 63 Triepel Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern. Beiträge zur Auslegung des Artikels 19 der Weimarer Reichsverfassung, in: Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubiläum am 19. April 1923, Tübingen 1923, unveränderter reprographischer Nachdruck Tübingen 1965, 87–90. 64 Triepel Empfiehlt es sich, in die Reichsverfassung neue Vorschriften über die Grenzen zwischen Gesetz und Rechtsverordnung aufzunehmen?, in: Verhandlungen des 32. Deutschen Juristentages (Bamberg), 1922, 11, 17.

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und schließlich sei auch die Opposition von der Mitwirkung ausgeschlossen.65 Offensichtlich fielen diese Ermahnungen weithin auf taube Ohren, denn im darauf folgenden Jahre wurde die Reichsregierung durch ein erstes Ermächtigungsgesetz autorisiert, „die Maßnahmen zu treffen, welche sie auf finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet für erforderlich und dringend erachtet. Dabei kann von den Grundrechten der Reichsverfassung abgewichen werden.“66 Nach Triepels Ansicht ließ sich auch durch die These, dass das Gesetz in den Formen der verfassungsändernden Gesetzgebung nach Art. 76 WRV beschlossen worden sei, eine Rechtfertigung nicht konstruieren. Er hielt dem entgegen, dass die organisatorische Hauptstruktur der Verfassung auf solche Weise nicht aus den Angeln gehoben werden könne, da „die Abkehr von der Verfassung, obwohl sie sich in ein Gesetz kleidet, nicht Anwendung, sondern Verletzung der Verfassung ist. Auch die gesetzgebende Gewalt kann einen Staatstreich unternehmen.“67 Eindeutig fiel unter dem gleichen rechtlichen Gesichtspunkt auch die Verurteilung eines Gesetzentwurfs aus, der vorsah, Volksbegehren und Volksentscheid gegen die Aufwertungsgesetzgebung auszuschließen. Es sei an der Zeit, dem „Aberglauben“ entgegenzutreten, dass die Form der Verfassungsänderung ein „Wundermittel“ sei, mit dem man jede Rechtsverletzung heilen könne. Würde der Entwurf zum Gesetz werden, so würde sich das „Ungeheuerliche“ ereignen, dass ein in der Verfassung garantiertes Volksrecht bei der ersten Gelegenheit, wo es dem Parlament unbequem zu werden droht, beiseite geschoben würde.68 In der Tat musste die vorherrschende These, dass Verfassungsänderungen auch ohne ausdrückliche Verfassungstextänderungen zulässig seien, zu Verwirrung und Unsicherheit führen. Mit umso stärkerem Nachdruck stellte sich die Frage nach einem unverrückbaren Verfassungskern, der nicht angetastet werden darf. Ohne ein großes theoretisches Gebäude zu errichten, verteidigte Triepel damit die Kernsubstanz der Verfassung gegen Übergriffe des Gesetzgebers, der sich wegen des mangelnden Formzwanges häufig noch nicht einmal bewusst war, welch einschneidende Anordnungen er traf. Mit einer drastischen Formulierung 65

Triepel (Fn. 64), 23–29. Vom 13. Oktober 1923, RGBl. 1923 I, 943. Ein kurze Zeit später verabschiedetes zweites Ermächtigungsgesetz vom 8.12.1923, RGBl. I, 1179, ordnete hingegen ausdrücklich an, dass eine Abweichung von der Verfassung nicht zulässig sei. 67 Triepel Die Ermächtigungsgesetze, DJZ 1924, Sp. 2, 7. 68 Triepel Das Abdrosselungsgesetz, DJZ 1926, Sp. 845, Sp. 848–850. Ähnlich im Gutachten für den 33. Deutschen Juristentag 1924 (Fn. 61), 48. Auf Grund der erhobenen Kritik wurde der Entwurf des Abdrosselungsgesetzes von der Reichsregierung zurückgezogen. 66

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sagte Triepel, der Gesetzgeber gewöhne sich an, die Verfassung sozusagen „zwischen Fisch und Braten“ zu durchlöchern, ohne viel Aufhebens davon zu machen, gelegentlich in der Erwartung, „die Leute merken die Geschichte nicht, oder wenn doch, so wächst bald Gras darüber“.69 Allgemein wird Carl Schmitt die Urheberschaft der Lehre vom unveränderlichen Verfassungskern zugeschrieben, wie sie heute in Art. 79 Abs. 3 GG ihren Niederschlag gefunden hat.70 Rein zeitlich gesehen wird man aber in der Tat Triepel das Erstlingsrecht zubilligen müssen,71 auch wenn Carl Schmitt für seine Thesen umfassendere dogmatische Grundlagen gelegt hat. Auf jeden Fall aber ist die von Triepel an der formlosen Abänderung der Verfassung erhobene Kritik mitverantwortlich dafür, dass das Grundgesetz in Art. 79 Abs. 1 S. 2 in jedem Fall eine Textänderung verlangt. In Erinnerung bleibt Triepel ferner durch die von ihm befürwortete Methodik der Auslegung und Handhabung des Verfassungsrechts. Bekanntlich war während der Endphase des Kaiserreichs die von Carl Friedrich von Gerber72 und Paul Laband73 maßgeblich formulierte begriffspositivistische Methode zur dominierenden Lehre aufgestiegen.74 Früh hat sich Triepel gegen diese Verengung der Argumentationsbasis bei der Rechtssuche gewandt. Schon in der Abhandlung „Unitarismus und Föderalismus“ merkt er im Jahre 1907 an, dass es bei staatsrechtlichen Untersuchungen „ohne eine politische Grundanschauung“ doch nicht völlig ablaufe, und selbst bei „anscheinend ganz objektiv gehaltenen Ausführungen über Rechtsgrundlage und Rechtscharakter des Deutschen Reiches“ trete ein solches „Vorverständnis“75 oft recht deutlich hervor. In einem seiner ersten Aufsätze zur neuen Weimarer Reichsverfassung von 1920 wirft er Laband „willkürlichste Begriffsjurisprudenz“ vor. Weiter entfaltet Triepel seinen Standpunkt in seiner Erörterung des Art. 19 WRV im Jahre 1923, wo er feststellt, dass alles Recht im Dienste von Zwecken stehe: „Eine Rechtsfrage, d.h. die Frage, ob ein Verhalten dem Rechte entspricht oder widerspricht, ist deshalb stets auch eine Zweckmäßigkeitsfrage.“76 69

Triepel (Fn. 61), 56. Schmitt Die Diktatur des Reichspräsidenten, VVDStRL 1 (1924), 63, 74 f., 98; ders. Verfassungslehre, 1928, 25 f. 71 Vgl. Gassner (Fn. 1), 392–398. 72 Vgl. etwa von Gerber Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts2, 1869, Vorrede, VII. 73 Vgl. die programmatischen Sätze in seinem Vorwort zu: Laband Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band 15, 1911, IX. 74 So etwa Friedrich (Fn. 44), 223 ff. Diese Beobachtung ist freilich in einem relativierenden Sinne zu verstehen, vgl. Stolleis (Fn. 44), 171. 75 Der Begriff war seinerzeit noch nicht üblich. 76 Triepel (Fn. 63), 16. 70

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Am eindrücklichsten präzisiert Triepel seinen Standpunkt in der Rede über „Staatsrecht und Politik“, die er am 15. Oktober 1926 bei Antritt seines Amtes als Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität hielt.77 Hier wendet er sich nochmals gegen den Formalismus der Gerber/Labandschen Schule, die jede teleologische Betrachtung ablehnte, wie auch gegen den Formalismus der vor allem von Hans Kelsen vertretenen jung-österreichischen Schule.78 Die scheinbar rein logische Analyse und Synthese der Begriffe lasse sich, wenn sie Ertrag bringen solle, ohne Unterstützung durch Werturteile gar nicht vollziehen. In einem zusammenfassenden Satze heißt es: „Da das Recht selbst nichts ist als ein Komplex von Werturteilen über Interessenkonflikte, so ist die teleologische Methode die dem Gegenstande der Rechtswissenschaft adäquate Methode.“79 Es trifft zu, dass mit dieser Art und Weise der Norminterpretation neue Unsicherheiten entstehen.80 Triepel war sich aber durchaus bewusst, dass er kein Patentrezept gefunden hatte und dass der von ihm vorgeschlagene Weg der Gefahr ausgesetzt sei, „einem flachen Relativismus oder einem rohen Utilitarismus zu verfallen.“81 Er stellt daher fest, dass der Normanwender sich in erster Linie an die im Gesetz enthaltenen Wertungen halten müsse, ggf. so zu entscheiden habe, wie er es – in Analogie zur Vorschrift des Art. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs – als Gesetzgeber tun würde.82 Im gleichen Jahr ließ er bei der Jahrestagung der Deutschen Staatsrechtslehrer folgerichtig auch anklingen, dass er naturrechtlichen Gedanken nahe stehe: „Ohne den Glauben an irgend etwas ‚Überpositives‘ kommen wird nicht durch . . . Jeder muss doch schließlich rekurrieren auf Gedanken, die er im Gesetz nicht findet, die er entnimmt der überpositiven Lebensordnung.“83 Geradezu pathetisch äußerte er sich in seinem Festschriftbeitrag zur Auslegung des Art. 19 WRV: „Heilig ist nicht das Gesetz, heilig ist nur das Recht. Und das Gesetz steht unter dem Rechte.“84 77

Triepel Staatsrecht und Politik, 1927. Triepel (Fn. 77), 8, 16–18. 79 Triepel (Fn. 77), 36. 80 Teile der Abhandlung Triepel Die Kompetenzen des Bundesstaates und die geschriebene Verfassung, in: Staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe Laband 1908, Band 2, 247, 306, lesen sich wie die Rechtsprechung des EuGH zur Effektivität des europäischen Gemeinschaftsrechts. 81 Triepel (Fn. 77), 38. 82 Triepel (Fn. 77), 39. 83 Triepel (Fn. 57), 51. 84 Triepel (Fn. 63), 93. 78

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Auch in seinem großen Vortrag über „Staatsrecht und Politik“ äußert er am Schluss ähnlich pathetisch, auch für die Interessenjurisprudenz bleibe „der oberste Leitstern die Rechtsidee, die ewige Gerechtigkeit“.85 Der Rechtsvergleichung hat sich Triepel stets zur Klärung der von ihm behandelten Problemlagen bedient. Nicht nur seine Schriften zu föderalistischen Strukturfragen, aber diese in besonders intensiver Weise, gehen auf die rechtlichen Verhältnisse in den USA und in der Schweiz ein. Ein Meisterstück sind insofern seine Betrachtungen über ungeschriebenes Verfassungsrecht, wo er die in den USA entwickelte Lehre von den „implied powers“ für die Rechtslage nach der Reichsverfassung von 1871 fruchtbar macht.86 Er legt insofern eine erstaunliche Belesenheit an den Tag, die einen weiteren Höhepunkt im Werk über „Die Hegemonie“ findet, wo gleichzeitig noch ein profundes rechtshistorisches Wissen zutage tritt. Ausdrücklich weist er später in der Weimarer Zeit zur Rechtfertigung des methodischen Vorgehens auf die Verwandtschaft demokratischer Verfassungsstrukturen hin.87 Triepel war also methodisch ein im besten Sinne moderner Autor, dem es nicht auf die formale Geltung einer Norm, sondern auf die in ihre enthaltenen materiellen Gesichtspunkte zur Lösung einer bestimmten Rechtsfrage ankam. Nur zur Abrundung sei abschließend noch darauf hingewiesen, dass Triepel ein großer Stilist war, dem es durchweg gelang, seine Gedanken in eine überzeugende sprachliche Form zu kleiden. Der moderne Wissenschaftsjargon mit seiner abstrakten Unanschaulichkeit war ihm fremd. So vermochte er Zuhörer und Leser durch seine Ausführungen stets in seinen Bann zu schlagen.

IV. Triepels politische Grundeinstellung Nie hat Triepel ein Hehl daraus gemacht, dass für ihn die staatliche Ordnung ihren Idealzustand in der Monarchie gefunden habe. Besonders drastisch drückte er sich in dieser Hinsicht in der Arbeit über „Unitarismus und Föderalismus“ aus: „Ich bin z.B. weder Absolutist noch Demokrat. Aber wenn ich mich irgendwann unbedingt und ohne Umschweife für Absolutismus oder für Demokratie entscheiden müsste, so würde ich ohne Besinnen den monarchischen Absolutismus als das geringere Übel vorziehen . . . in der Überzeugung, dass es am Ende noch besser sein würde, unter dem aufgeklärten 85

Triepel (Fn. 77), 40. Triepel Die Kompetenzen des Bundesstaates und die geschriebene Verfassung, in: Staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe Laband 1908, Band 2, 247, 257 ff. 87 Triepel (Fn. 57), 50. 86

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oder nicht aufgeklärten Despotismus einer Einzelperson zu leben als unter dem Despotismus des niemals aufgeklärten Pöbels.“88 Abgerundet wurde dieses Glaubensbekenntnis durch die Erklärung: „Wir Deutsche sind ein monarchisches Volk, monarchisch ‚bis in die Knochen‘. Wir können ohne Monarchie nicht leben.“89 Trotz dieser persönlichen Vorliebe, und obwohl Triepel den Geist der Weimarer Reichsverfassung „innerlich ablehnte“,90 arbeitete er doch loyal am Aufbau der neuen Institutionen mit, wie vor allem seine Beteiligung an der Erarbeitung eines Privatentwurfs für eine neue republikanische Verfassung im Jahre 1918/191991 wie auch seine Publikationen aus der Zeit der Jahre 1919 bis 1933 bezeugen. Er wandelte sich zum „Vernunftrepublikaner“. Nur mit dem parlamentarischen System vermochte er sich nicht anzufreunden.92 Nach wie vor hielt er eine starke Exekutive für den Garanten einer Stabilität des Staatswesens. Vor allem in seiner Rektoratsrede vom 3. August 1927 über „Die Staatsverfassung und die politischen Parteien“93 wendet er sich in massiver Weise gegen das System der Parteiendemokratie. Seiner Ansicht nach zerstören die politischen Parteien das gewachsene System des liberalen Staates. Der einzelne Abgeordnete gerate in eine totale Abhängigkeit von seiner Partei und könne die ihm verfassungsrechtlich zugesicherte Unabhängigkeit gar nicht effektiv wahrnehmen: „Die Parteiorganisation greift den Parlamentarismus von außen und von innen an.“94 Alternativen vermag Triepel indes nicht aufzuzeigen. Offenbar war die Rede eine eher emotionale Antwort auf Missstände, die in der Tat im Parteiensystem aufgetreten waren und die Arbeit des Reichstages schwerwiegend behinderten.95 Eine genauere Analyse der Ursachen unterbleibt. Insbesondere unterlässt Triepel es, Erwägungen zum Wahlsystem anzustellen, das seinerzeit das Aufkommen von Splitterparteien begünstigte. Zu Recht hat die Rede daher kein sehr positives Echo gefunden. 88

Triepel (Fn. 10), 119. Triepel (Fn. 10), 124. 90 Brief Triepels an Otto Koellreutter vom 18.4.1933, wiedergegeben bei Becker (Fn. 24), 70, 71. 91 Vgl. oben S. 6. 92 So hatte Triepel in Unitarismus und Föderalismus (Fn. 10), geschrieben: „Zwar gibt es bisher in keinem Gliedstaate das, was man eine ‚parlamentarische Regierung‘ nennt, und es wird es auch, so Gott will, niemals geben.“ 93 Triepel Die Staatsverfassung und die politischen Parteien2, 1930. 94 Triepel (Fn. 93), 18. 95 Vgl. etwa Bracher Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, 1960, 77–83; ders. Demokratie und Machtvakuum: Zum Problem des Parteienstaats in der Auflösung der Weimarer Republik, in: Erdmann/Schulze (Hrsg.) Weimar: Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute, 109–134; Friesenhahn Zur Legitimation und zum Scheitern der Weimarer Reichsverfassung, ibid, 81–108. 89

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Vor dem Hintergrund des Zeitgeistes ist es sicher nicht verwunderlich, erscheint aber aus heutiger Perspektive dennoch hervorhebenswert, dass Triepel, wo immer er kollektive Anstrengungen lobt, immer nur von „Männern“ spricht, die ihr Bestes gegeben hätten. Dass das Verfassungswerk die Schöpfung des ganzen Volkes ist, also von Männern und Frauen, kommt bei ihm in den Formulierungen nicht zum Ausdruck. Freilich trifft zu, dass noch in der Weimarer Republik das politische Geschäft ganz überwiegend in den Händen von Männern lag. In der Professorenschaft gab es überhaupt noch keine Frauen. Triepel verstand sich als Patriot, für den es natürlich war, auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten mit möglichst ausgewogener Objektivität die Interessen des Deutschen Reiches zu vertreten.96 Bis zum Jahre 1918 war er Mitglied der Deutschen Reichspartei, bis zum Jahre 1929 gehörte er der Deutsch-nationalen Volkspartei an. Der NSDAP ist er niemals beigetreten, auch wenn nach 1933 sämtliche Professoren, etwa durch Aufforderung des Verwaltungsdirektors der Universität, sich zur Mitgliedschaft in der Partei zu äußern, indirekt dazu gedrängt wurden, die Mitgliedschaft zu erwerben. Polemisch trat er während des I. Weltkrieges gelegentlich für die deutsche Sache ein, wobei Rudolf Smend ihm allerdings im Rückblick bestätigte, es habe insoweit „der Kämpfer für das geltende oder ein besseres Völkerrecht“ gesprochen, „nicht der leidenschaftliche Patriot, der er zugleich war.“97 Aber es erstaunt doch, mit welcher Selbstgewissheit er in seinem Vortrag zur Zukunft des Völkerrechts im Jahre 1916 im Hinblick auf die während des Krieges begangenen zahlreichen Völkerrechtsverletzungen die Auffassung vertrat, „[w]ir Deutsche dürfen ruhigen Gewissens behaupten, dass die Schuld nicht auf unserer Seite liegt“.98 Nicht unerwähnt bleiben darf auch, dass Triepel zu den hunderten von Unterzeichnern der sog. IntellektuellenEingabe (oder „Seeberg-Adresse“) vom 20. Juni 191599 gehörte, die vor allem gegenüber Belgien und Russland offen annexionistische Ziele formulierte. In seiner Rede zur Zukunft des Völkerrechts tat er ferner den Pazifismus als eine unnütze Bewegung ab.100 Überdies sprach er sich mit etwa 1100 anderen Unterzeichnern gegen die Friedensresolution des Deutschen Reichstages vom 19. Juli 1917101 aus, mit der ein Frieden ohne Annexionen und 96 Vgl. etwa Triepel Eröffnungsansprache bei der ersten Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Jena am 14. April 1924, VVDStRL 1 (1924), 5–9. 97 Smend (Fn. 4), 600. 98 Triepel (Fn. 36), 6. Vgl. auch die Vorwürfe gegen England, Frankreich und Russland, 7. 99 Abgedruckt in: Böhme (Hrsg.) Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, 1975; auszugsweise auch: http://www.der-deutsche-intellektuelle.de/html/ body_dokumente.html. 100 Triepel (Fn. 36), 15. So heißt es auch bei Wehberg (Fn. 5), 40: „Von der Friedensbewegung hat Triepel zeit seines Lebens nichts wissen wollen.“ 101 Dazu Huber Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band V, 1978, 257–321.

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Reparationen gefordert worden war.102 Offenbar war es ihm bis dahin noch nicht gelungen sich von der einschnürenden Denkfessel nationaler Fixierungen zu lösen. Nicht zutreffend ist allerdings die Bemerkung von Martti Koskenniemi, Triepel sei 1920 aus Protest gegen den Versailler Vertrag aus dem Institut de droit international ausgetreten, in das er im Jahre 1910 gewählt worden war.103 Das Institut hatte auf einer außerordentlichen Sitzung in Paris (Mai 1919), zu der die deutschen und die österreichischen Mitglieder nicht eingeladen worden waren, auf Drängen der französischen und der belgischen Mitglieder eine nichtoffizielle Resolution („déclaration individuelle et publique“) verfasst, mit der die Missachtung der Neutralität Belgiens und Luxemburgs sowie die Verletzung der Regeln des Kriegsrechts getadelt wurden.104 Angeblich wurde gleichzeitig auch die Forderung nach einer persönlichen Entschuldigung der deutschen Mitglieder erhoben. Diese wollten, so wird berichtet, ein solches als ehrenrührig empfundenes Bekenntnis der Unterwürfigkeit nicht ablegen und traten darauf aus dem Institut aus.105/106 Triepels Fakultätsmitglied Franz von Liszt hatte sogar für die deutsche Seite den I. Weltkrieg als „une guerre sainte“ bezeichnet und war damit dem Generalsekretär des Instituts entgegengetreten, der von einer „guerre impie“ gesprochen hatte.107 Rätsel gibt dem heutigen Leser auch der Artikel aus der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 2. April 1933 auf,108 den Triepel nach dem Erlass des Ermächtigungsgesetzes schrieb. Dort bezeichnet er den Erlass dieses Gesetzes als eine „legale Revolution“, getreu seinen eigenen Vorarbeiten: Das Verfahren des Art. 76 WRV wurde eingehalten, dennoch handelte es sich um einen revolutionären Akt, da „das ganze System des in [der] Verfassungsurkunde vorgezeichneten konstitutionellen Lebens auf vier Jahre in Schlummer versetzt“ wurde.109 Triepel zeigt deutlich Sympathie für die Aussicht, dass der Teil „Grundrechte und Grundpflichten des deutschen Volkes“ im Zuge der Realisierung des Ermächtigungsgesetzes keinen Bestand mehr haben wird:

102 103 104

Gassner (Fn. 1), 178. Koskenniemi (Fn. 30), 211. Institut de droit international Annuaire de l’Institut de droit international 27 (1919)

344. 105

So Gassner (Fn. 1), 74. Vgl. im Übrigen die detailgenaue Darstellung von Münch Das Institut de Droit international, AVR 28 (1990) 76, 83, 89. 107 Bericht des Generalsekretärs, Annuaire de l’Institut de droit international 27 (1919) 305, 311. 108 Abgedruckt in: Hirsch/Majer/Meinck Recht, Verwaltung und Justiz im Nationalsozialismus, 1984, 116. 109 Hirsch/Majer/Meinck (Fn. 108), 117. 106

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„In diesem Kapitel steht manches Wunderliche, manches Kompromisslerische und manches ‚Marxistische‘. Soll es ausgemerzt werden, so weinen wir ihm keine Träne nach“.110 Andererseits fürchtet Triepel – zu Recht –, dass im gleichen Atemzuge manches Freiheitsrecht verschwinden könne, dass man nicht mit einer kurzen Geste als Erzeugnis eines überlebten „Liberalismus“ abtun dürfe. Demzufolge äußert er die Hoffnung, dass die zum Siege gelangte Partei das Kleid der Partei abstreifen und sie in eine das ganze Volk umfassende Gemeinschaft verwandeln möge, der sich ein jeder in Freiheit einzuordnen imstande ist. In einem wenige Tage späteren Brief an Otto Koellreutter heißt es in ähnlichen, schon sehr skeptischen Wendungen, es sei zu hoffen, dass der neue Staat „nicht nur ein Staat der Gewalt (sic!), sondern ein Staat des Rechts sein wird,“ der ein Verfassungsrecht haben wird.111 Die Befürchtungen, die schon in den zuletzt wiedergegebenen Äußerungen anklingen, verwirklichten sich nicht nur für das deutsche Volk in seiner Gesamtheit, sondern trafen auch Triepel in seiner Einzelexistenz schwer. Zunächst konnte er nach seiner Emeritierung zum 1. April 1935 seine Forschungsarbeit fortsetzen. Aber er wurde von der Fakultät doch offen brüskiert. Zu seinem 70. wie zu seinem 75. Geburtstag unterblieben die üblichen Höflichkeitsbekundungen, wie Triepel selbst in einem Brief an den Kurator der Universität vom 28. Dezember 1945 schreibt.112 Zu seinem 75. Geburtstag erhielt er lediglich ein Schreiben von Dekan Heymann mit dem Wunsch, „dass bald die Sonne eines sieghaften Friedens auch Ihrer Arbeit und Ihrem Leben leuchten möge“. Offenbar hat man auch gezielt die Herausgabe einer Festschrift anlässlich seines 70. Geburtstages verhindert. Im Februar 1944 wurde seine Wohnung in Berlin-Charlottenburg durch eine Fliegerbombe total zerstört. Seine gesamte Bibliothek ging verloren. Triepel musste danach mit seiner Familie in sein Ferienhaus im bayerischen Untergrainau umziehen, wo er das Kriegsende erlebte. Seine wirtschaftliche Existenz geriet durch die Abwesenheit von Berlin in äußerste Bedrängnis. Seit April 1945 hatte er keinerlei Emeritenbezüge mehr erhalten. Kühl teilte man ihm auf seine Bitten mit, Zahlungen könnten nach den geltenden Regelungen nur angewiesen werden, wenn er seinen Wohnsitz in Berlin nehme. Da Triepel dort aber keine Wohnung mehr besaß und wegen eines schweren Augenleidens reiseunfähig war, konnte er diese Bedingung nicht erfüllen. Triepel schrieb in seiner Verzweiflung in dem bereits erwähnten Brief vom 28. Dezember 1945 an den Kurator der Universität, die Mitteilung über die Bedingungen für die Weiterzahlung des Gehalts an die Emeriti bedeute für ihn „nicht weniger als ein Todesurteil“. Schließlich gelang es, ihm auf einem 110 111 112

Hirsch/Majer/Meinck (Fn. 108), 118. Brief Triepels an Otto Koellreutter (Fn. 90), 71. Personalakten der Humboldt-Universität, T 102, Blatt 57.

Heinrich Triepel (1868–1946)

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Umweg ein bescheidenes Einkommen zu sichern, indem ihm ab 1. Juli 1946 ein Forschungsauftrag mit einer monatlichen Vergütung von 600 Reichsmark erteilt wurde.113 Nicht zuletzt diese bedrückenden wirtschaftlichen Umstände waren es wohl, die mit zu seinem Tode am 23. November 1946 beitrugen.

V. Schlussbemerkungen Von einer zusammenfassenden Würdigung der Person Triepels soll an dieser Stelle Abstand genommen werden. Der Leser dieses Beitrags vermag selbst zu erkennen, dass nicht nur das Lebensschicksal Triepels, sondern auch seine Denkweise tief verwoben mit den Denkströmungen und Geschehnissen seiner Zeit waren. Seine Grundüberzeugungen waren sich über Jahrzehnte gleich geblieben. Hauptkennzeichen ist dabei auf der einen Seite sein Glaube an die überlegene Ordnungskraft eines monarchischen Systems, auf der anderen Seite seine bedingungslose Verteidigung eines Rechtsstaates, der sich aus materiellen Werten nährt und sich nicht in bloßen formalen Mechanismen erschöpft. Wie vielen anderen ist ihm zum Verhängnis geworden, dass er die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten als einen fruchtbaren Neuanfang sah, der Gesellschaft und Staat aus ihrer Zerrissenheit herausführen könne.114

113

Gassner (Fn. 1), 198. Dazu Lepsius Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, 1994, passim. 114

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Eduard Kohlrausch (1874–1948) Eduard Kohlrausch (1874–1948) Thomas Vormbaum

Eduard Kohlrausch (1874–1948) Opportunismus oder Kontinuität? THOMAS VORMBAUM

I. II. III. IV. V.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strafrechts-Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . Radikalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quantitative Radikalisierung . . . . . . . . . . a) Versuchsstrafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . b) Maßregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Nötigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Unterlassene Hilfeleistung . . . . . . . . . . e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Qualitative Radikalisierung (NS-Pathologie) a) Zwangs-Sterilisierung . . . . . . . . . . . . . b) Blutschutzgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Rechtsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung In einer Sammlung von Skizzen über Strafrechtslehrer der HumboldtUniversität kann eine solche über Eduard Kohlrausch nicht fehlen, gehörte dieser doch über viele Jahre hinweg zu den prominenten Vertretern des Strafrechts nicht nur dieser Fakultät, sondern der deutschen Strafrechtswissenschaft überhaupt. Da sie nicht fehlen darf, muss sie geschrieben werden, obwohl über Eduard Kohlrausch bereits vieles geschrieben worden ist – und nicht nur vieles: Mit der an der Humboldt-Universität am Lehrstuhl von Klaus Marxen als preisgekrönte Dissertation entstandenen voluminösen „strafrechtshistorischen Biographie“ von Holger Karitzky ist wahrscheinlich sogar fast alles Erfahrbare geschrieben.1 Eine Skizze über Kohlrausch 1 Karitzky Eduard Kohlrausch – Kriminalpolitik in vier Systemen, Eine strafrechtsgeschichtliche Biographie (Berliner Juristische Universitätsschriften, Strafrecht 15) 2002.

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muss sich daher, was die biographischen Fakten angeht, weitgehend auf Verweisungen auf das von Karitzky Erforschte und auf dessen gelegentliche Paraphrasierung beschränken, und sie kann allenfalls versuchen, da und dort einen eigenen Akzent zu setzen. Dass dabei das Interesse vor allem auf das Verhalten eines deutschen Strafrechtswissenschaftlers während der 12 Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft gerichtet ist, deutet der erste Teil der Überschrift dieses Beitrages an. Deren zweiter Teil stellt dagegen auf das rechtshistorische Geschehen ab, in das die Biographie Kohlrauschs und seiner Zeitgenossen eingebettet ist.

II. Zur Person2 Eduard Kohlrausch, am 4. Februar 1874 in Darmstadt geboren, entstammte einer Gelehrtenfamilie, promovierte 1898 mit einer Arbeit über die prozessuale Behandlung der Idealkonkurrenz und wurde im Jahr darauf Assistent bei Franz von Liszt in Halle, ging mit diesem im selben Jahr nach Berlin und war schon bald in jenen von von Liszt gegründeten Institutionen aktiv, „in denen die moderne Schule sich am wirkungsvollsten präsentierte“:3 Kriminalistisches Seminar zu Berlin; Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) und Internationale Kriminalistische Vereinigung (IKV). 1902 habilitierte er sich bei Karl von Lilienthal, einem Mitglied der „modernen“ Schule. 1903 außerordentlicher, 1906 ordentlicher Professor in Königsberg, wurde er bereits 1905 Mitherausgeber der ZStW, womit seine intensive Mitarbeit an dieser Zeitschrift honoriert wurde. 1912 folgte er einem Ruf an die Universität Straßburg. Aus dem I. Weltkrieg als Hauptmann zurückgekehrt, wurde er Anfang 1919 – also kurz nach Ausrufung der Republik – als Nachfolger Liszts an die Berliner Universität (damals Friedrich-Wilhelms-Universität) berufen. Der Ruf erging erst im zweiten Anlauf, weil das preußische Wissenschaftsministerium Wert darauf legte, Professoren der Universität Straßburg nach dem Verlust Elsaß-Lothringens „auf dem Boden des Heimatlandes eine neue akademische Existenz zu verschaffen“.4 In der Weimarer Zeit erlangte Kohlrausch, nicht zuletzt durch institutionelle Positionen wie das Direktorium des Kriminalistischen Instituts und die Schriftleitung der ZStW sowie durch Kontakte ins Ausland, eine dominierende Funktion in der Strafrechtswissenschaft. An der Universität war er mehrfach Dekan der juristischen Fakultät und gerade im Übergangsjahr 2

Die folgenden biographischen Angaben nach Karitzky (Fn. 1), 49 ff.; weitere Nachweise ebenda 49, Fn. 2. 3 Karitzky (Fn. 1), 51. 4 Preußisches Wissenschaftsministerium, zit. bei Karitzky (Fn. 1), 57.

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1932/33 Rektor. Politisch im engeren Sinne oder gar parteipolitisch scheint er nicht hervorgetreten zu sein, allerdings huldigte er in seinen Ansprachen als Dekan dem nationalistischen und kollektivistischen Zeitgeist. Trotz gelegentlicher Verteidigung des Liberalismus versuchte er, die Kompatibilität der Lisztschen Strafrechtsschule mit diesem Zeitgeist nachzuweisen, und stellte von Liszt als einen Wissenschaftler mit liberalen und „nationalsozialistischen“ Zügen dar. Vereinzelte Indizien für eine Sympathie mit rechten Kreisen lassen – so Karitzky (82) – „keinen Zusammenhang mit seinen Funktionen in der NS-Zeit [. . .] herstellen“. Karitzky (70) konstatiert „ein widersprüchliches, einer Gesamtbewertung entgegenstehendes Verhalten. Festzuhalten bleibt, dass Kohlrausch keineswegs konsequent als unpolitischer Wissenschaftler auftrat, geschweige denn als Repräsentant einer republikanisch-demokratischen Haltung“. Kohlrauschs Verhalten als Rektor bis zur Niederlegung des Amtes im Mai 1933 war trotz vereinzeltem mutigen Auftreten gegenüber Aktionen nationalsozialistischer Studentengruppen widersprüchlich und kann insgesamt nicht etwa – wie es geschehen ist – als widerständig charakterisiert werden.5 Auch während der Zeit der NS-Herrschaft konnte er sich zur Elite der Jurisprudenz im totalitären Staat zählen;6 er gehörte der amtlichen Strafrechtsreformkommission und danach der Großen Strafprozesskommission des Reichsjustizministeriums ebenso an wie als ordentliches Mitglied der Akademie für Deutsches Recht. Auch blieb er Direktor des Kriminalistischen Instituts; seine dortige Personalpolitik weist keine politisch relevanten Besonderheiten auf. Vereinzelt ist aber sein Eintreten für Verfolgte bezeugt – was man auch als Ausdruck seines relativ weiten Bewegungsspielraums deuten kann.7 Er selbst konnte 1939 trotz Erreichens der Altersgrenze aufgrund einer Intervention von höherer Stelle seine Tätigkeit als Hochschullehrer wegen seiner Mitwirkung in der Strafrechtsreformkommission fortsetzen. Insgesamt ergibt Kohlrauschs persönliches Verhalten in der Zeit der NSHerrschaft nach Karitzkys Würdigung (145) ein „non liquet“: „Das Verhalten dieses Intellektuellen im Unrechtsstaat war von Ambivalenz, Wechselhaftigkeit, Inkohärenz und Wandlungsfähigkeit geprägt“. Nach dem Ende der NS-Herrschaft setzte sich Kohlrauschs Tätigkeit zunächst so bruchlos fort, wie sie sich 1933 fortgesetzt hatte. Er galt – und verstand sich – als der renommierte Fachmann, der von den Alliierten (auch von den sowjetischen) als solcher für eine Strafrechtsreform benötigt wurde und sich in einschlägigen Kommissionen mit seinen Vorschlägen auch weitgehend durchsetzte. Als aber seine – allgemein bekannte und zunächst nicht 5 6 7

Karitzky (Fn. 1), 94. Karitzky (Fn. 1), 105. Karitzky (Fn. 1), 144.

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beanstandete – Mitgliedschaft in der Gürtnerschen Strafrechtskommission in die politische Bewertung geriet (womöglich infolge des sich abzeichnenden Kalten Krieges), wurde er von seinen Aufgaben entbunden; unermüdlich um seine Rehabilitation bemüht, starb er Anfang 1948. Damit kann, was die hier erörterte Frage angeht, bereits eines festgestellt werden: Im Hinblick auf das persönliche Verhalten erweisen sich hier wie auch sonst Versuche als reduktionistisch, das Verhalten eines Menschen, der unter den Rahmenbedingungen des NS-Regimes weder einerseits ein Widerstandskämpfer und/oder ein Opfer des Regimes noch andererseits dessen aktiver Förderer, Propagandist oder Ideologe (wie Carl Schmitt, Karl Larenz u.a.) war, eindimensional zu bewerten. Nach dem bekannten Diktum von Adorno gibt es „kein richtiges Leben im falschen“; dies gilt für Kohlrausch ebenso wie für die meisten seiner Zeitgenossen. Eine andere Frage ist, wie Kohlrauschs berufliche Tätigkeit als Strafrechtsprofessor zu bewerten ist. Hier geht es nicht mehr um sein persönliches bzw. privates Verhalten. Immerhin war Kohlrausch bereits in der Zeit der Weimarer Republik ein renommierter und prominenter Kriminalwissenschaftler, der noch vor dem 30. Januar 1933 Rektor der Berliner Universität wurde. Man kann daher schon vorab ausschließen, dass das Regime ihm einen „Aufstieg“ ermöglicht habe (eher schon wäre möglich, dass er ein Ende seiner Karriere und seiner wirtschaftlichen Sicherung vermeiden wollte). Zu fragen ist aber, wieso nicht nur Kohlrausch, sondern auch viele andere, wohl sogar die meisten, Strafrechtslehrer, soweit sie nicht durch das Raster des NS-Rassenwahnsystems fielen (wie Goldschmidt und Honig) oder sich in der „Systemzeit“ parteipolitisch links exponiert hatten (wie Radbruch), ihre Tätigkeit ohne weiteres fortsetzen konnten und hierzu nach dem Ende des Regimes, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ebenfalls in der Lage waren. An sich müsste dies erstaunen, ist doch das Strafrecht – jedenfalls in der Praxis – eine politiknähere Materie als etwa Physik oder Mathematik.8 Haben sich also die deutschen Strafrechtswissenschaftler, hat sich Eduard Kohlrausch in Lehre und Forschung an das vom jeweiligen Regime Verlangte angepasst, oder bedurfte es einer solchen Anpassung nicht, weil das Strafrecht sich in seiner Substanz nicht oder nur wenig verändert hat? Zur Beantwortung solcher Fragen bedarf es der Verknüpfung von Leben und Disziplingeschichte.

III. Verknüpfung Eine Geschichte der intertextuellen Bezüge in Buchtiteln zu schreiben wäre zweifellos reizvoll – vielleicht ist sie ja bereits geschrieben. Wie oft 8 Bei denen sich freilich, wie bekannt, spezifische Fragen der Berufsmoral – etwa in der Militärforschung – stellten.

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Nietzsches Stabreim vom „Nutzen und Nachteil“ in Buchtiteln und Kapitelüberschriften seine ewige Wiederkehr erlebt hat, auf wie vielen Buchumschlägen seit Nietzsche eine „Geburt von X aus dem Geiste von Y“ stattgefunden hat und wie oft seither etwas „jenseits von X und Y“ verortet worden ist, könnte – neben vielem anderen – Teil einer solchen Geschichte sein. Ähnliches könnte man sich für die Wanderungen von Widmungen und Motti vorstellen. Enger und deshalb überschaubarer sind derartige Motivwanderungen im Bereich des Strafrechts und der Strafrechtsgeschichte. Schlagen wir die elfte (und letzte) Auflage des Strafrechtslehrbuchs von Hans Welzel auf,9 so stoßen wir auf die Widmung: „Eberhard Schmidt, dem getreuen Eckart der Rechtsidee zugeeignet“. Wenden wir uns, um zu erfahren, was es mit dem getreuen Eckart auf sich hat, an die Literaturgeschichte, so treffen wir rasch auf die Brüder Grimm, welche in ihren Deutschen Sagen den (ge)treuen Eckart gleich mehrfach überliefern. In der Sage Nr. 710 findet sich jene Handlung, die in das bekannte gleichnamige Goethe-Gedicht11 eingegangen ist. Wer es noch auswendig gelernt hat, wird sich an den „alten Gesellen“ und „Wundermann“ erinnern, der „gern mit den Kinderlein spielt“ und ihnen gute Ratschläge erteilt. Gibt es eine Verbindung zwischen diesem biederen Kinderfreund und dem Destinatär jener Widmung, einem prominenten deutschen Strafrechtslehrer? Und welche Verbindung besteht weiter zwischen diesem und der Rechtsidee? Man könnte die Assoziationen, die das Goethe-Gedicht und die Grimmsche Sage Nr. 7 hervorrufen, ausspinnen: „Der alte Getreue, der Eckart“, empfiehlt den mit den Bierkrügen der Eltern nach Hause eilenden Kindern, das Bier den „Hulden“, die „von durstiger Jagd“ kommen, zu überlassen, es werde ihr Schade nicht sein. Die Hulden – das sind die in vielen Kulturen auftauchenden Göttinnen der Finsternis, die auch als Rachegöttinnen fungieren; ältestes und bekanntestes Beispiel: die Orestie. Sie tragen daher ihre Bezeichnung zu Unrecht; im Goethe-Gedicht heißt es denn auch gleich zu Beginn: „Sie sind’s, die unholden Schwestern“. Der Name „Hulden“ ist also eine Beschwörung,12 mit der man die Unholden hold 9

Welzel Das Deutsche Strafrecht, Eine systematische Darstellung11, 1969. Jakob und Wilhelm Grimm Deutsche Sagen (zuerst 1816/1818), 1982, Band 1, 37, Nr. 7: „Frau Holla und der treue Eckart“. 11 Johann Wolfgang Goethe Der getreue Eckart, in: Goethes Werke (Sophienausgabe), Band 1 (1890), 1999, 206 f. 12 Frau Holle (die „Huldreiche“ [?]) wird häufig mit Hel, der germanischen Göttin der Unterwelt („Hölle“), identifiziert; sie schwebt im gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm zwar in den Wolken, aus denen sie es schneien lässt, jedoch gelangt das Mädchen zu ihr, indem es (sich) in einen Brunnen stürzt – auch hier also eine zwischen Himmel und Finsternis changierende Existenz. – In der in Fn. 10 zitierten Sage „Frau Holla und der treue Eckart“ zieht denn auch der treue Eckart dem „Haufen“ der Frau Holle am Weihnachtstag voraus. Die Erzählung von den Kindern und den Bierkrügen weist gegenüber 10

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stimmen will. Auch hierfür bietet die Antike das Vorbild: Die Erynnien, die Rachegöttinnen, heißen bei Aischylos (und anderswo) „Eumeniden“, die „Wohlgesinnten“. Bekanntlich hat Jonathan Litell diese „Wohlgesinnten“ zum Titel eines voluminösen Romans über die NS-Herrschaft gemacht.13 Und so könnten wir uns bereits in unmittelbarer Nähe unseres Themas wähnen: Die „Unholden“ wohlgesinnt zu stimmen, ihnen „ihr Bier“ zu lassen, um jenes Bier, das dank ihrer Hilfe nicht aufhört zu strömen, genießen zu können, war gewiss die Verhaltensweise vieler Wissenschaftler, nicht zuletzt vieler Rechtswissenschaftler, in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Gilt dies auch für Eduard Kohlrausch? Anders stellt die Szenerie sich dar, wenn man bei der Annäherung an das Thema das zugrunde legt, was die Brüder Grimm in der Sage Nr. 314 über den getreuen Eckart berichten. Dort heißt es nämlich, er sitze vor dem – heute vor allem aus Wagners „Tannhäuser“ bekannten – Hö(r)selberg oder Venusberg14 und warne alle Leute, die hineingehen wollen; auch gehe er dem „wütenden Heer“ voran und heiße „die Leute aus dem Weg weichen, sie würden sonst Schaden nehmen“. Dem wilden Heer der Unholden ausweichen, nach Hause gehen und sich vor den Sirenenklängen der Verführung – hier nicht durch den Liebeszauber, sondern durch Ansehen und Macht – zu hüten, die aus dem Hörselberg tönen,15 war ein weiteres Verhaltensmuster von (deutlich weniger) Wissenschaftlern der NS-Zeit. Dort also Opportunismus, hier Rückzug. War dies das Verhaltens Kohlrauschs? Es gibt einen direkteren Weg zur Behandlung des Themas: Dankenswerterweise hat Hans Welzel nämlich im Vorwort des Strafrechts-Lehrbuchs den Text seiner Zueignung selbst erläutert. Diese Neuauflage, so schreibt er, widme er Eberhard Schmidt „mit den gleichen Worten, in denen er für die Leistung Eduard Kohlrauschs in schwerer Zeit dankte“. Inhaltlich ist damit zwar noch nichts gewonnen, aber wir können aus dem intertextuellen Verweis Hoffnung auf weitere Auskünfte schöpfen. Verwiesen werden wir nämlich, wie sich nach kurzem Suchen zeigt, auf § 360 in Eberhard Schmidts Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege.16 Dort heißt es: dem Goethe-Gedicht allerdings den nicht unbedeutenden Unterschied auf, dass Eckart den Kindern erst begegnet, als „Weiber aus der Rotte“ ihnen die Bierkannen bereits genommen und leergetrunken haben; jetzt erst erklärt er ihnen, sie könnten Gott danken, dass „sie kein Wörtchen gesprochen“ hätten. 13 Litell Die Wohlgesinnten (Les Bienveillants, 2006), dt. 2008. 14 Brüder Grimm (Fn. 10), 297 f., Nr. 314: „Der getreue Eckart“. – Auch Ludwig Tieck hat (bereits 1799) in seinem Poem „Der getreue Eckart und der Tannhäuser“ die Gestalt des getreuen Eckart verarbeitet; die Handlung stimmt weitgehend mit derjenigen der von den Brüdern Grimm überlieferten Sage Nr. 7 (Fn. 10) überein. 15 Nach einer weiteren, ebenfalls von den Brüdern Grimm überlieferten Sage lebt Frau Holle selbst im „Horselberg“ (Brüder Grimm [Fn. 10] 36, Nr. 5: „Frau Holla zieht umher“). 16 Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege3, 1965, 451.

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„So war Kohlrausch der getreue Eckart der Rechtsidee, hat er in der Stille eine Leistung vollbracht, die die Geschichte, will sie gerecht sein, zu verzeichnen hat“.17 Das „So“ am Anfang dieses Satzes verweist – diesmal innertextuell – auf vorhergehende Ausführungen des Autors. Es geht um die Tätigkeit und Haltung Eduard Kohlrauschs während der Zeit der NS-Herrschaft. Dessen berufliche Tätigkeit als Strafrechtslehrer erstreckte sich – wie es Holger Karitzky als Untertitel seiner großen Kohlrausch-Biographie formuliert – über „vier Systeme“: das Kaiserreich, die Republik von Weimar, das NS-Herrschaftssystem und die Zeit der Besatzungsherrschaft. Dies gilt bekanntlich für viele Juristen – von denen einer denn auch seiner Autobiographie den Titel „Jurist unter vier Reichen“ gegeben hat.18 Der Variantenreichtum der deutschen Verfassungsgeschichte des 20. Jahrhunderts19 schuf für die Staatsrechtslehrer in verhältnismäßig kurzen Abständen schon rein äußerlich jeweils neue Arbeitsobjekte in Form von neuen – formellen oder informellen – Verfassungstexten. Dass es nicht unbedingt neuer Texte bedurfte, um den Erwartungen der Unholden entgegenzukommen, zeigt vor allem das Zivilrecht – prominent exemplifiziert am „Umdenken“ der Rechtsbegriffe durch Karl Larenz.20 Wie aber war es im Strafrecht? Glaubt man der bereits zitierten Einführung von Eberhard Schmidt, so ist 17 Ebenda Fn. 16 – Schmidts Buch ist, wie er in dem (in der 3. Auflage erneut abgedruckten) Vorwort zur 1. Auflage, das mit einem Dank an Hans Welzel schließt, schreibt, „in den dunkelsten Tagen der deutschen Geschichte“ geschrieben. Aus den folgenden Sätzen geht hervor, dass mit dieser Charakterisierung nicht etwa die gerade zu Ende gegangene Zeit der NS-Herrschaft, der er selbst „Entartungserscheinungen“ der Strafrechtspflege und eine „entartete Zweckjurisprudenz“ bescheinigt, sondern die Zeit danach gemeint ist. (Auf die problematische Methode, nazistische Propagandabegriffe gegen ihre Erfinder zu wenden, die nicht nur bei diesem Verfasser, sondern auch bei Autoren, die eine ernsthafte kritische Auseinandersetzung mit den Juristen der NS-Zeit suchen, anzutreffen ist, kann hier nicht näher eingegangen werden; zum Begriff „Drittes Reich“ siehe immerhin die folgende Fn.). 18 Hartung Jurist unter vier Reichen, 1971. Den Titel möchte man einerseits loben, da er einer Bezeichnung, welche der NS-Ideologie entstammt, implizit widerspricht, denn diese Ideologie stellte (unter Anschluss an einen Buchtitel von Moeller van den Bruck) das „Dritte Reich“ in die Nachfolge des Mittelalterlichen Reiches und des HohenzollernReiches, ließ also die Republik von Weimar unberücksichtigt. Andererseits berührt allerdings die Bezeichnung der Bundesrepublik als viertes Reich merkwürdig – um so mehr, als im Hinblick auf das erste und das dritte der „vier Reiche“ das Verhältniswort „unter“ passend sein mag („unter dem Kaiser“, „unter dem Führer“), im Hinblick auf das zweite und vierte System (Weimar und Bonn) jedoch schwerlich. 19 Der durch das 19. Jahrhundert, wenn man die Zeit des Norddeutschen Bundes mitzählt, sogar noch übertroffen wird, wenn man im 20. Jahrhundert nicht wiederum – wie es ja Karitzky (mit Recht) tut – den Zeitraum von 1945 bis 1949 als eigene Einheit ausweist und damit die Parität wiederherstellt. Der Titel von Hartungs Autobiographie überspringt freilich diese Phase. 20 Dazu Rüthers „Wir denken die Rechtsbegriffe um . . .“, Weltanschauung als Auslegungsprinzip, 1987.

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„in den 12 Schreckensjahren der Hitler-Herrschaft bei nicht wenigen Strafrechtswissenschaftlern der Mut zu konzessionsloser Sachlichkeit nicht dahin[gesunken] und [. . .] somit die Kontinuität echter Strafrechtswissenschaft nicht abgerissen [. . .]“.21 Und das Verdienst an dieser Kontinuität, so schreibt der Verfasser, komme der Vorbildwirkung von Eduard Kohlrausch zu; es folgt dessen bereits zitierte Charakterisierung als „getreuer Eckart der Rechtsidee“. Wir wollen die genauere Analyse des Bildes vom getreuen Eckart nicht weiter verfolgen, denn die beiden Autoren, die sich seiner bedient haben, werden bei ihren Widmungen nicht den Grimmschen Sagenschatz nach den Konnotationen dieses Bildes befragt, sondern eher diffuse, aus zahlreichen literarischen und historischen Versatzstücken zusammengesetzte Vorstellungen von „Treue“ vor Augen gehabt haben. Interessant für uns ist allerdings, dass das ursprüngliche Zitat bei Eberhard Schmidt die Treue zur Rechtsidee mit der „Kontinuität echter Strafrechtswissenschaft“ in Verbindung bringt, denn damit stehen wir an einem Punkt, an dem die subjektive, biographische Komponente auf die objektive Gegebenheit einer Kontinuität der Strafrechtswissenschaft trifft.

IV. Strafrechts-Kontinuität Was hat es mit der von Eberhard Schmidt angesprochenen Kontinuität „echter“ Strafrechtswissenschaft auf sich? Wie verhält sie sich zur „Rechtsidee“? Und inwiefern war Eduard Kohlrausch eine Art von Wächter der Rechtsidee? In der strafrechtsgeschichtlichen Diskussion der letzten Jahre spielen Kontinuität und Diskontinuität durchaus eine beachtliche Rolle. Eine Kontinuität des Strafrechts im 20. Jahrhundert wird inzwischen sogar überwiegend bejaht. Ist dies nun jene Kontinuität „echter“ Strafrechtswissenschaft, welche Eberhard Schmidt im Auge hat und die er Eduard Kohlrausch zugute hält, ja als deren Wahrer er ihn bezeichnet? Auch hier muss eine Skizze des Forschungsstandes und einiger Markierungspunkte unter Verweis auf anderweitige, diesmal auch eigene, Themenbehandlung22 genügen. 21 Schmidt (Fn. 16), 451. – Karitzky (Fn. 1), 463 betont, dass der Zusammenhang zwischen dem Scheitern der NS-Reformpläne und dem Wirken Kohlrauschs erst in der 2. Auflage von 1951 auftaucht. Die Metapher ist bereits in der 1. Auflage von 1947 enthalten. Er lässt offen, ob die Aufnahme der Metapher mit Kohlrausch abgesprochen war. Jedenfalls war Kohlrausch bereits vor der Veröffentlichung davon informiert. 22 Der zeitlich erste Ansatz zur Überwindung der Parallelführung von politischer Geschichte und Strafrechtsgeschichte stammt von Marxen Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, Eine Studie zum Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre, 1975; ferner Naucke NS-Strafrecht: Perversion oder Anwendungsfall

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Die historische Forschung hat in den vergangenen Jahren zahlreiche „Normalitätsanteile“ an der Zeit des Nationalsozialismus festgestellt, die nicht nur aus dem trivialen Umstand herrühren, dass unter jedem politischen System die Menschen unterhalb der politischen Ebene ihr Alltagsleben so weit wie möglich fortführen, sondern auch aus der Ermittlung zahlreicher Modernisierungsfaktoren in der Zeit der NS-Herrschaft. Der Widerstand gegen diese Aussage resultiert zu einem guten Teil aus einem positiven Vorverständnis, das mit dem Begriff „modern“ verbunden ist. Dieses Vorverständnis teile ich nicht. Die bürokratisch-technische Perfektionierung des Massenmordes bis hin zur Fahrplangestaltung der in die Vernichtungslager fahrenden Güterzüge ist eben eine erschreckende Erscheinungsform von Modernität. Damit fügt sich die Herrschaft des Nationalsozialismus, ungeachtet ihrer verbrecherischen Exorbitanz, in eine Entwicklungsstruktur, die bereits vor 1933 angelegt gewesen und nach 1945 nicht abgerissen ist. Die Frage nach einer Kontinuität des Strafrechts im 20. Jahrhundert – eventuell noch länger – zu stellen, die Zeit des Nationalsozialismus also nicht als eine Zäsur anzusehen, erscheint aber vor allem deshalb als Provokation, weil das, was durch Stichworte wie „Konzentrationslager“, „Holocaust“ und „Vernichtungskrieg“ wachgerufen wird, die Vorstellung von jener Zeit so stark prägt – und dies zu Recht –, dass man leicht annimmt, diese Elemente müssten auf alle anderen Lebensbereiche ausgestrahlt haben. Diese Annahme verstellt aber den Zugang zu den Problemen. Inzwischen kann, wie gesagt, die Auffassung von einer strukturellen Kontinuität des Strafrechtsdenkens im 20. Jahrhundert als unter Rechtshistorikern herrschend bezeichnet werden. Das „Zäsurmodell („Perversion“ 1933 – „Gesundung“ 1945) wird inzwischen kaum noch vertreten. Im Wesentlichen lässt sich folgende Linie nachzeichnen: Obwohl problematische Kontinuitätslinien der modernen Strafrechtsgeschichte bis in das Zeitalter der Aufklärung zurückverfolgt werden könnten,23 genügt es für unsere Zwecke, auf den Ausgang des 19. Jahrhunderts zurückzugehen, wo das liberale, aber strenge Vergeltungsstrafrecht sich auflöst – nicht wegen seiner Strenge (gegen die auch ein mildes Vergeltungsstrafrecht hätte ins Feld geführt werden können), sondern wegen seiner tatmoderner Kriminalpolitik, in: Naucke Die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2000, 361 ff.; vom Verfasser dieses Aufsatzes Vormbaum Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2008, 269 ff. mit weiteren Hinweisen; Zusammenfassung der Problematik bei Vogel Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, 2004. 23 Siehe dazu Naucke Christliche, aufklärerische und wissenschaftstheoretische Begründung des Strafrechts (Luther – Beccaria – Kant), in: Naucke (Fn. 22), 3 ff.; Naucke Die Modernisierung des Strafrechts durch Beccaria, in: Naucke (Fn. 22), 13 ff.; Naucke Beccaria, Strafrechtskritiker und Strafrechtsverstärker, in: Beccaria Von den Verbrechen und von den Strafen, 2005, IX ff.; Vormbaum (Fn. 22), 32 ff.

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sächlichen oder vermeintlichen Unfähigkeit zu effektiver Kriminalitätsbekämpfung. Diese Auflösung ist eingebettet in wirtschaftliche und politische, insbesondere sozialpolitische Verschiebungen, zu denen geistes-, insbesondere wissenschaftsgeschichtliche Veränderungen hinzutreten. Die empirischen Wissenschaften schieben sich in den Vordergrund, Realismus und Naturalismus erobern Bühnen und Literatur. Darwin und Marx, Nietzsche und – etwas später – Freud sind die Repräsentanten der neuen, von „Genealogien“ ausgehenden, auf Entlarvung und Entzauberung überkommener Gedankenwelten zielenden Wissenschaften mit dem Positivismus als ihrer Quersumme. Jherings „Zweck im Recht“ gibt mit seinem zentralen Begriff der „Lebensinteressen“, auf deren Wahrung alles Recht zweckmäßig ausgerichtet sei (und sein müsse), das Leitmotiv vor. Franz von Liszt bricht den „Zweck im Recht“ herunter auf den „Zweckgedanken im Strafrecht“. Seine Programmschrift24 geht Hand in Hand mit der Einführung der Reichskriminalstatistik im Jahre 1882. Die Frage nach dem Wesen von Unrecht gehört bald einer vergangenen Epoche an. Auch die Frage nach der Legitimation des Strafrechts wird damit tendenziell zur bloßen Zweckfrage. Der Schub des Zweckdenkens, von dem Liszts Programm nur die strafrechtliche Facette bildet, bringt eine – sich kaum noch humanitär verbrämende – Ausweitung des Strafrechts hervor, deren ganzer Umfang erst klar wird, wenn man die Flut des den politischen Bedürfnissen folgenden Nebenstrafrechts berücksichtigt, und bewirkt eine schleichende Aufweichung strenger strafrechtlicher Gesetzlichkeit. Er zeigt freilich auch noch einmal Möglichkeiten der Rücknahme von zweckwidrigem Strafrecht und/oder Strafvollzug. Die kurz nach dem Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende Strafrechtsreform steht unter dem Banner der Lisztschen Forderungen: einerseits zwar Vermeidung der unzweckmäßigen kurzen Freiheitsstrafen, andererseits Ausweitung der richterlichen Ermessensspielräume auf Kosten gesetzlicher Bestimmtheit und Einführung der Sicherungsstrafe an Stelle der Schuldstrafe. Nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die kurz nach der Jahrhundertwende einsetzende Strafrechtsreform gerät zunehmend unter den Einfluss der Lisztschen Schule, insbesondere ihrer problematischen Züge, durch welche sie die Strafrechtsentwicklung des 20. Jahrhunderts prägt: Dass im Schoße der Reformdiskussionen nicht nur Milderungen des Strafrechts heranreiften, zeigte sich von Anfang an, wurde aber besonders deutlich während der Herrschaft des Nationalsozialismus. Hier traten, so die These von Kubink, „die negativen Seiten strafrechtlicher Reformbestrebun24 Der Text von 1882/83 ist 2002 mit einer Einleitung von Michael Köhler neu erschienen in Juristische Zeitgeschichte, Kleine Reihe. Band 6.

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gen“ hervor.25 Diese These erscheint für die Diskussion des Kontinuitätsproblems fruchtbar; sie ist der neuerdings vordringenden, von Vogel ausformulierten Auffassung von der „Radikalisierung“ einer vorhandenen strafrechtlichen Tendenz durch den Nationalsozialismus26 – auf die sogleich einzugehen ist – benachbart, könnte diese aber noch verfeinern. Programmatisch wurde 1933 zwar eine Gegenreform eingeläutet; jedoch wiesen die Vertreter der Liszt-Schule, z.B. Eberhard Schmidt,27 den gegen diese erhobenen Vorwurf der Knochenerweichung des Strafrechts mit Recht zurück. Mit guten Gründen läßt sich die These vertreten, dass in dieser Zeit faktisch „die rechtlich kaum mehr gebundene Verwendung des Strafrechts – also die radikale Liszt-Linie“ – dominant wurde.28 Der Gedanke der Kontinuität ist auch Kohlrausch durchaus vertraut, denn wiederholt macht er nach 1945 zur Verteidigung von Vorschriften, welche der NS-Strafgesetzgeber erlassen hat, nicht zuletzt solchen, die Kohlrausch in der NS-Strafrechtskommission selbst mit erarbeitet hat, geltend, die betreffenden Vorschriften besäßen Vorläufer in den Reformentwürfen der Zeit vor 1933. Und in der Tat ist es so, dass zahlreiche problematische Tatbestände und Merkmale, die in der Zeit der NS-Herrschaft eingeführt wurden, bereits in den Strafrechtsreformarbeiten der Weimarer Zeit, teilweise schon früher diskutiert worden sind. Sie sind eingebettet in Tendenzen der Strafgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft, die man mit den Elementen Materialisierung, Funktionalisierung, Ethisierung und Subjektivierung des Strafrechts charakterisieren kann. Materialisierung heißt: Abbau bzw. Vernachlässigung rechtsstaatlich schützender Formen gegenüber einer materiellen Betrachtungsweise. Funktionalisierung heißt: Dominanz der Zweckidee anstelle der Rechtsidee. Ethisierung heißt: Zurückdrängung der seit Immanuel Kant anerkannten strengen Trennung von Legalität einerseits und Moralität andererseits, von Recht einerseits und Ethik andererseits, von sittlicher Verurteilung einerseits und Verurteilung wegen Störung des menschlichen Zusammenlebens andererseits. Subjektivierung hängt mit der Ethisierung eng zusammen und heißt: Zunehmende Bewertung der Tat nach Maßstäben, die im Innern des Täters liegen; gesetzgebungstechnisch ausgedrückt: Zunahme subjektiver Tatbestandsmerkmale gegenüber objektiven Tatbestandsmerkmalen; strafrechtstheoretisch ausgedrückt: Zunahme gesinnungsstrafrechtlicher Elemente ge25

Kubink Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel, 2002, 233. Vogel (Fn. 22), 87, 105. 27 Schmidt MschrKrim 33 (1942), 205 ff., 222; Kohlrausch bezeichnete bereits 1932 seine eigene (!) Forderung nach dem unbestimmten Strafurteil als „geradezu antiliberal“; auch der Lisztsche Satz „Nicht die Tat, der Täter ist zu strafen“, sei „durchaus illiberal“; überhaupt habe die IKV „seit ihrem Bestehen gerade das Gegenteil von Milde gepredigt“ (alle Zitate bei Karitzky [Fn. 1], 265 f.); allen drei Aussagen kann man beipflichten. 28 Kubink (Fn. 25), 249; auch Karitzky (Fn. 1), 434. 26

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genüber tatstrafrechtlichen Elementen. Man kann diese vier Merkmale zwar unterscheiden, aber nicht trennen, denn sie sind unentwirrbar miteinander verschlungen. Dominant jedoch ist das Vordringen des Zweckgedankens im Strafrecht (und damit zugleich ein Sichausbreiten der Politik in das Strafrecht). In der Strafgesetzgebung konvergieren alle vier Merkmale in zwei Punkten: in der Zunahme der Zahl von Straftatbeständen, also in Kriminalisierung, und in der Zunahme unbestimmter Strafrechtsnormen. Dieser Zug der Strafgesetzgebung ist auch nach 1945 nicht verloren gegangen, und wenn man sieht, mit welcher Unbefangenheit Kohlrausch in den Reformdiskussionen der frühen SBZ diese Art des Strafrechts weiter betrieb und sich damit zu einem großen Teil auch durchsetzen konnte, kann man sich der Erkenntnis kaum verschließen, dass er sich in einem säkularen, politische Systeme übergreifenden Trend bewegte wie ein Fisch im Wasser. Und ebensowenig, wie der Fisch Distanz zu seinem Element Wasser hat, hatten dies Kohlrausch und seine Kollegen, die offenbar verständnislos gegen seine Disziplinierung durch die SBZ-Behörden protestierten. Karitzkys Einschätzung, Kohlrausch wäre wohl in der Großen Strafrechtskommission des Bundesjustizministeriums mit offenen Armen aufgenommen worden,29 erscheint plausibel.30

V. Radikalisierung Ungeachtet der Kontinuität erfuhr nun allerdings die kritisierte Entwicklung des Strafrechts während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft einen besonders kräftigen Schub. In der rechtshistorischen Diskussion wird versucht, dies mit dem Begriff der Radikalisierung oder Beschleunigung der Entwicklung zu erfassen. Dies hat den Vorteil, die Kontinuitätslinien im Blick zu behalten, gleichzeitig aber Besonderheiten jener Zeit zu berücksichtigen. Auch die Radikalisierungsthese ändert freilich nichts daran, dass die manifeste Rechtsstaatswidrigkeit des nationalsozialistischen Regimes und seine 29

Karitzky (Fn. 1), 467. Was hätte auch gegen seine Mitgliedschaft sprechen sollen, wenn sogar Edmund Mezger, über den an dieser Stelle nichts weiter ausgeführt zu werden braucht, stellvertretender Vorsitzender dieser Kommission werden konnte. – Zu Mezger ist von Muñoz Conde (Edmund Mezger, Beiträge zu einem Juristenleben, 2007) das Erforderliche ausgeführt. Zu den Äußerungen Bundesjustizminister Neumayers in der Großen Strafrechtskommission über die Bedeutung des Entwurfs von 1936 (Karitzky [Fn. 1], 465), kann der Verfasser dieses Beitrages aus eigener Sicht noch folgendes ergänzen: Das von ihm geleitete Institut für juristische Zeitgeschichte der FernUniversität in Hagen hat vor einiger Zeit die Arbeitsunterlagen des Bundesjustizministeriums zur Strafrechtsreform übernommen. Zu ihnen gehören, wie nicht erstaunen kann, auch der Entwurf von 1936 nebst Materialien – immerhin mit dem Vermerk „Nur für den Dienstgebrauch“ versehen. 30

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exorbitanten Untaten auch durch eine Tradition vorbereitet worden sind, dass also das „Anormale“ des Nationalsozialismus zu einem großen Teil nicht als Unterbrechung der Tradition, sondern als extreme Konsequenz wichtiger Traditionselemente zu verstehen ist, die im übrigen bis heute fortwirken. Die Feststellung der Radikalisierung einer vorhergehenden Entwicklung unter der Herrschaft des NS-Regimes wird – auch für die Zwecke der vorliegenden Betrachtung – besser greifbar, wenn man eine weitere Differenzierung einführt: Die Radikalisierung erfolgte quantitativ und qualitativ. Sie entwickelte in der Vergangenheit angelegte Entwicklungen besonders konsequent weiter,31 sie überschritt aber auch gedanklich und/oder durch die Tat Grenzen, welche bis dahin beachtet worden waren. Neben der bloßen Steigerung von Tendenzen die man problematisch finden kann – und die der Verfasser dieses Beitrages für problematisch hält – gab es qualitative Sprünge, in denen die Pathologie des NS-Regimes zum Ausdruck kam. Wie meistens beim Versuch, historische Vorgänge in Begriffe einzufangen, gibt es auch hier Grauzonen und Übergänge. Zur Pathologie des NS-Regimes gehört jedoch im Bereich des Strafrechts zweifellos die Rassengesetzgebung und ein Teil der Kriegsgesetzgebung. Innerhalb dieser Pathologie kann man noch eine Unterscheidung zwischen allgemeiner Pathologie und einer darüber hinausgehenden speziellen Pathologie des NS-Regimes treffen. Letztere erfasst jene Vorgänge, die Herbert Jäger als „Makrokriminalität“ in ihren Besonderheiten analysiert hat.32 Hierher gehören vor allem die Mordaktionen im Zusammenhang mit dem sog. Röhm-Putsch, die sog. Euthanasie-Aktion, d.h. der systematische Mord an Hunderttausenden von Geisteskranken, die Einsatzgruppen-Morde in Polen und der Sowjetunion, sowie die systematische Ermordung von ca. 6 Millionen Juden (sog. Holocaust, „Endlösung der Judenfrage“) und von weiteren „Fremdvölkischen“. Auf diese Ausdifferenzierung der Pathologie braucht hier aber nicht näher eingegangen zu werden, da die spezielle Pathologie im Fall Kohlrausch nicht relevant wird. Um das Verhalten Kohlrauschs genauer einordnen zu können, werden daher diese beiden Aspekte isoliert.

31 Markante Beispiele habe ich exemplarisch aufgeführt in: Vormbaum Aktuelle Bezüge nationalsozialistischer Strafgesetzgebung, in: Ostendorf (Hrsg.) Strafverfolgung und Strafverzicht, Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Staatsanwaltschaft Schleswig-Holstein, 1992, 71 ff.; auf sie komme ich weiter unten zurück. 32 Jäger Makrokriminalität, Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt, 1989; Jäger Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität (1967)2, 1982.

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1. Quantitative Radikalisierung Erkannte Kohlrausch das Problematische der skizzierten Entwicklung und gibt es zu ihr kritische Äußerungen von ihm? Dies ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil er vor, während und nach der Zeit der NS-Herrschaft führend an Strafrechtsreformarbeiten tätig war. Da aber die Möglichkeit besteht, dass er – wie er gelegentlich auch selbst behauptet hat – als „Bremser“ einer problematischen Entwicklung tätig gewesen ist, seien einige besonders repräsentative Beispiele dieser Entwicklung betrachtet. Herangezogen werden Normen, die schon vor 1933 diskutiert wurden, jedoch erst nach der Machterlangung der Nationalsozialisten eingeführt wurden und bis heute in Geltung geblieben sind: a) Versuchsstrafbarkeit § 23 Abs. 2 StGB normiert für die versuchte Straftat eine bloß fakultative Strafmilderung, d.h. Versuchstäter können auch aus dem Strafrahmen, der für die vollendete Straftat gilt, bestraft werden. Hingegen schrieb das Reichsstrafgesetzbuch von 1871, welches auf das preußische Strafgesetzbuch von 1851 zurückging, die Milderbestrafung zwingend vor. Der heutige Rechtszustand geht – in leicht veränderter Form – zurück auf die GewaltverbrecherVO von 1939 und wurde durch die Strafrechtsangleichungsverordnung von 1943 ins Strafgesetzbuch überführt. Damit wurde realisiert, was der 1936 fertiggestellte Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches vorgesehen hatte. In den Strafrechtsreform-Entwürfen vor 1933 war das Problem wechselnd geregelt worden; Radbruchs Entwurf von 1922 hatte erstmals die bloß fakultative Strafmilderung vorgesehen, der Entwurf von 1925 sie beibehalten, die Entwürfe von 1927 und 1930 aber die obligatorische Milderung wiederhergestellt. 1949 bezweifelte ein Standardkommentar zum Strafgesetzbuch, dass die Regelung mit dem post-nationalsozialistischen Denken noch vereinbar sei. Kohlrauschs Haltung zu dieser Frage ist wechselhaft. Im Zusammenhang mit den Entwürfen 1925 und 1927 kritisiert er die fakultative Strafmilderung und die ihr zugrunde liegende subjektive Versuchstheorie als „unerträglich“.33 1933 setzt er sich in seinem Antrag in der StGB-Kommission für die fakultative Strafmilderung als „sachliche Verbesserung“ ein, die mit dem Willensstrafrecht Ernst mache,34 und verteidigt den entsprechenden Beschluss der Kommission mitsamt dem Gedanken des Willensstrafrechts auch publizistisch.35 In seiner Textausgabe von 1947 gibt Kohlrausch den Text von 1933 wieder und bezeichnet die Regelung von 1939 als „eine dem Na33 34 35

Karitzky (Fn. 1), 250. Karitzky (Fn. 1), 341 f. Karitzky (Fn. 1), 358.

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tionalsozialismus entsprechende Überspannung des Willensgedankens bis zu einem Gesinnungsstrafrecht“.36 b) Maßregeln Die gesetzliche Regelung der Maßregeln der Besserung und Sicherung (heute §§ 61–72 StGB) geht auf eine der ersten Strafgesetzgebungsaktionen der Nationalsozialisten zurück, nämlich auf das GewohnheitsverbrecherGesetz vom 24. November 1933. Dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 war die „Zweispurigkeit“ der strafrechtlichen Rechtsfolgen – schuldabhängige Strafen und prinzipiell schuldunabhängige Maßregeln – unbekannt. Es war, alles in allem, ein Kind des liberalen Zeitalters und hielt deshalb streng am Schuldprinzip und am Prinzip der schuldabhängigen Sanktionen fest; schuldunabhängige, am bloßen Präventionszweck ausgerichtete Maßregeln als Folgen strafrechtswidriger Taten hatten in diesem System keinen Platz. Die Einführung schuldunabhängiger Maßregeln geht zurück auf die Forderung Franz von Liszts nach der Sicherungsstrafe;37 die Zweispurigkeit war das Kernstück des sog. „Kompromisses im Schulenstreit“. Kohlrausch als Liszt-Schüler verteidigte diese Regelung nicht nur, sondern ging sogar noch darüber hinaus,38 indem er kontinuierlich, auch noch nach dem Ende der NS-Herrschaft, die Forderung nach dem unbestimmten Strafurteil erhob, die nicht nur dem Schuldprinzip, sondern auch dem Grundsatz nulla poena sine lege widerspricht.39 c) Nötigung Der Nötigungstatbestand § 240 StGB bedroht mit Strafe denjenigen, der einen anderen mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einem Handeln, Tun oder Unterlassen nötigt, verlangt allerdings in Absatz 2 – als ausnahmsweise positiv formulierte Rechtswidrigkeitsregel – dass die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Diese Regelungsstruktur geht abermals zurück auf die Strafrechtsangleichungsverordnung von 1943. Die Regelung von 1871 bedrohte in § 240 (nur) denjenigen mit Strafe, der einen anderen durch Gewalt oder durch Bedrohung mit einem Verbrechen oder Vergehen zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt. Die AngleichungsVO von 1943 gab somit einem bis dahin klar umrissenen Merkmal („Bedrohung mit einem Verbrechen oder Vergehen“) eine viel weitere und vagere Fassung („Bedrohung mit einem empfindlichen Übel“). 36 37 38 39

Karitzky (Fn. 1), 409. Siehe z.B. Kubink (Fn. 25), 104 m.Nachw. Er bezeichnete sie sogar als „Etikettenschwindel“, Karitzky (Fn. 1), 251. Siehe z.B. Karitzky (Fn. 1), 250 ff., 392 ff.

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Diese wurde auch 1943 schon als sehr weit empfunden, deshalb fügte man die Rechtswidrigkeitsregel an. Sie lautete 1943: „Die Tat ist nur rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt oder des angedrohten Übels dem gesunden Volksempfinden widerspricht“. Das 3. Strafrechtsänderungsgesetz von 1953 ersetzte diese Formulierung durch die heutige Fassung. Der BGH bescheinigte der letzteren – wohl zu Recht –, dass sie sich von der alten Regelung40 „im wesentlichen durch die sprachliche Fassung“ unterscheide. In seiner Textausgabe von 1947 sah Kohlrausch – entgegen der Auffassung einiger Gerichte und Stimmen im Schrifttum – in der Fassung von 1943 kein Problem, verwies auf ähnliche Entwürfe der Weimarer Zeit und schlug lediglich für Absatz 2 die Ersetzung des „gesunden Volksempfindens“ durch die „guten Sitten“ vor.41 d) Unterlassene Hilfeleistung Der Tatbestand der Unterlassenen Hilfeleistung (heute § 323c StGB), in der Ursprungsfassung des Reichsstrafgesetzbuches ein Übertretungstatbestand, der nur bei Nichterfüllung der obrigkeitlichen Aufforderung zur Hilfeleistung eingriff, wurde 1935 als § 330c in einen allgemeinen Vergehenstatbestand umgewandelt und nur unter den Vorbehalt des „gesunden Volksempfindens“ gestellt. Seine Unbestimmtheit und seine nicht unproblematische Reichweite strafrechtlich sanktionierter Hilfspflichten wird von Kohlrausch – anders als vom Alliierten Kontrollrat – nicht problematisiert; vielmehr beruft er sich auf den zugrunde liegenden „anständigen und sehr guten Gedanken“, den er auf Goethes Forderung „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ bringt; lediglich das „gesunde Volksempfinden“ will er durch „Menschenpflicht“ ergänzen.42 e) Ergebnis Mit Ausnahme der bloß fakultativen Strafmilderung beim Versuch finden somit die genannten exemplarischen Vorschriften die Zustimmung Kohlrauschs und zum Teil sogar seine heftige Verteidigung; teilweise fordert er noch ihre Verschärfung. Er bewegt sich damit in den Bahnen der angesprochenen Kontinuität, und macht deren Radikalisierungen in der Zeit nach 1933 mit. Dass er in der Frage der Versuchsstrafbarkeit nach 1945 zu einem rechtsstaatlichen Grundsatz zurückkehrt, den er vor 1933 schon einmal ver40 Die der BGH 1951 (BGHSt 1, 86) mit zweifelhafter Begründung für gültig erklärt hatte (näher Dencker Kontinuität und Diskontinuität im materiellen Strafrecht am Beispiel des Nötigungstatbestandes, in: Pauli/Vormbaum (Hrsg.) Justiz und Nationalsozialismus, Kontinuität und Diskontinuität, 2003, 129 ff.). 41 Näher Karitzky (Fn. 1), 401 f. 42 Näher Karitzky (Fn. 1), 399 f.

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treten hat, verwundert, da die 1939 eingeführte Änderung durchaus in der Konsequenz der Lisztschen Lehre lag, der er bei der Frage des unbestimmten Strafurteils überaus treu blieb. 2. Qualitative Radikalisierung (NS-Pathologie) Als Beispiele aus dem Bereich der Pathologie des NS-Systems seien die Zwangs-Sterilisierung und die Rassengesetzgebung betrachtet. a) Zwangs-Sterilisierung Ob man den ersten Punkt, die Zwangs-Sterilisierung, bereits dem als „Pathologie“ bezeichneten Bereich des Strafrechts der Zeit der NS-Herrschaft zuordnen soll, kann zweifelhaft sein. Dafür spricht formal, dass es sich um eine Maßnahme im Rahmen der NS-Rassenhygiene handelte, die überdies – jedenfalls nach heutiger Auffassung – als Zwangsmaßnahme eine Verletzung der Menschenwürde bedeutet. Gegen die Einbeziehung scheint zu sprechen, dass der Gedanke einer Zwangssterilisierung nicht erst 1933 aufgekommen ist, sondern beispielsweise in einem Gesetzentwurf des preußischen Landesgesundsheitsrates aus dem Jahre 1932 vorgesehen war.43 Man mag bezweifeln, ob preußische Gesetzesproduktionen aus dem Jahre 1932 überhaupt noch Belege für die Unbedenklichkeit einer nach 1933 ergangenen Regelung sein können, denn zu dieser Zeit hatte bereits der „Preußenschlag“ stattgefunden, den man als Beginn jener Ereigniskette ansehen kann, die mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 endete.44 Auch ist inzwischen bekannt, dass eugenisches Denken – auch in seinen brutalen Konsequenzen – dem ausgehenden 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertraut war, und zwar parteiübergreifend.45 Alles in allem ein Grenzfall, soll die Zwangs-Sterilisierung hier der Kategorie der Pathologie zugeordnet werden, weil sie als eine Maßnahme anzusehen ist, die das NS-Regime aus seiner Ideologie heraus mit besonderem Eifer verfolgte und die nicht zuletzt aus diesem Grunde nach dem Ende des Regimes allseits in Misskredit geraten ist; auch Kohlrausch kann sich in den Reformdiskussionen nach 1945 mit seiner befürwortenden Auffassung nicht 43 Karitzky (Fn. 1), 246; ausführlich zuletzt Müller Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat, Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871–1933, 2004, 206 ff., 220 ff. (zu Kohlrausch 221 f.). 44 Zu dieser Ereigniskette, die den 30. Januar 1933 und den 24. März 1933 in eine Entwicklungslinie einfügt, statt sie als bloßen Bruch zu begreifen, zuletzt Thulfaut Jahrbuch JZG 10 (2008/2009). 45 Siehe z.B. Schwartz Einfallstore der „Euthanasie“, Deutsche Debatten über die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ 1895–1945, Jahrbuch JZG 2 (2000/2001), 131 ff.; ferner die Tagungsbeiträge von Schmuhl, Fuchs u.a., Schwartz, Kaminsky, Godau-Schüttke, Dencker und Große-Vehne, Jahrbuch JZG 7 (2005/2006).

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durchsetzen. Damit ist bereits gesagt, dass diese Maßnahme zu denen gehört, die er mit besonderem Nachdruck vertritt. Bereits 1932 erklärt er, dass „die sogenannten zivilisierten Staaten mit der Erhaltung und Förderung Minderwertiger auf Kosten der biologischen Aufartung eine verkehrte Politik treiben, die in absehbarer Zeit Selbstmord bedeutet“. Nur aus taktischen Gründen will er es bei der Einwilligung als „vorläufiger Schranke“ belassen.46 Im Oktober 1933 fordert er die Möglichkeit der Abtreibung bei eugenischer Indikation auch gegen den Willen der Schwangeren. Es dürfe „nach heutiger Anschauung nicht in ihr Belieben gestellt sein, ob sie das Volksganze mit schwer erbkranken Kindern belasten will“.47 Und auch noch nach 1945 bestreitet er entschieden, dass das sog. Erbgesundheitsgesetz von 1933 etwas mit nationalsozialistischem Gedankengut zu tun habe, und hält die Sterilisation auch für die Zukunft für ein zweckmäßiges Mittel zur Verbrechensbekämpfung.48 b) Blutschutzgesetz Dass das Blutschutzgesetz (Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935) in die Kategorie der Pathologie des NS-Regimes gehört, unterliegt selbst dann keinem Zweifel, wenn seine Merkmale sich – was hier nicht weiter verfolgt werden soll – formal in die beschriebene Kontinuitätslinie einfügen lassen mögen.49 Gibt es Äußerungen von Kohlrausch, die sich zu den Straftatbeständen dieses schändlichen Gesetzes verhalten? Kohlrausch äußerte sich 1938 zur Problematik der „Rassenschande zur Gesetzesumgehung im Ausland“. Obwohl das bis 1940 geltende deutsche Strafanwendungsrecht die Bestrafung einer im Auslands begangenen Tat nach § 2 des „Blutschutzgesetzes“ (BlutSchG) nicht zuließ, hatte der Große Senat des Reichsgerichts die Strafbarkeit bejaht, sich jedoch in der Begründung bedeckt gehalten, allerdings letztlich eine – sonst auch von Kohlrausch vertretene – weite teleologische Auslegung angedeutet. Kohlrausch argumentiert mit einer Parallele von Rasseverrat und Landesverrat und gelangt so zu einer Bejahung der Strafbarkeit, die sich „nicht von der Analogie unterscheidet“.50 In einem weiteren Beitrag aus dem Jahre 1941 äußerte sich Kohlrausch vorsichtiger zur selben Problematik.51 Vieles bleibt insofern unklar. Zum 46

Karitzky (Fn. 1), 258 f. Karitzky (Fn. 1), 352 f. 48 Karitzky (Fn. 1), 433, 432. 49 Nicht unerwähnt sei auch, dass bereits Franz von Liszt über eine spezielle Kriminalität der Juden nachgedacht und auch eine – eher skurrile – Kriminalität der deutschen Volksstämme entwickelt hatte: Karitzky (Fn. 1), 204 ff.; Kubink (Fn. 25), 97. 50 Karitzky (Fn. 1), 318. 51 Karitzky (Fn. 1), 325 ff. 47

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Gesamtbild gehört immerhin auch, dass Kohlrausch sich bei der Beratung des Rassestrafrechts in der Strafrechts-Reformkommission deutlich zurückhielt52 und dass er in seiner Ausgabe des StGB ab 1938 die Kommentierung des Blutschutzgesetzes einem Vertreter der jüngeren StrafrechtlerGeneration – Richard Lange – überließ, sei es, weil dieser aus Loyalität mit dem akademischen Lehrer zur Kommentierung bereit war, sei es, weil er weniger Berührungsängste gegenüber der Thematik besaß.53 Kohlrauschs Stellungnahme von 1938 bleibt jedenfalls bemerkenswert. Auch in der Zeit der NS-Herrschaft war kein Rechtslehrer genötigt, sich in einem Aufsatz – noch dazu ausgerechnet in der „Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht“, die Kohlrausch übrigens bei der Wahl seiner Publikationsorte auffällig bevorzugte54 – in dieser Weise zum Blutschutzgesetz zu äußern.55

VII. Rechtsidee Kehren wir nun zum „getreuen Eckart“ zurück – nicht, um den literarischen Gehalt der Figur abermals zum Gegenstand der Betrachtung zu machen, sondern um die von Eberhard Schmidt vorgenommene Verknüpfung dieser Figur mit der Rechtsidee, bezogen auf Eduard Kohlrausch, zu würdigen. Zwar ist anzunehmen, dass auch hier – wie schon für die Figur des Eckart selbst – weniger eine reflektierte Begrifflichkeit als eine vage Bildlichkeit die Feder geführt hat; doch sei wenigstens insoweit versucht, die – immerhin von einem Rechtswissenschaftler formulierte – Metapher beim Wort zu nehmen. Über das, was die Rechtsidee sei, kann man vieles sagen; eine pragmatische und dem Erfinder der Eckart-Metapher Eberhard Schmidt persönlich, zeitlich und geistig durchaus nahe stehende Bestimmung dieser Idee stammt von Gustav Radbruch, wie Schmidt und Kohlrausch ein Schüler von Franz von Liszts, im Gegensatz zu den beiden Genannten freilich während der Zeit der NS-Herrschaft zwangsemeritiert. Er fächert die Rechtsidee in ihre Elemente auf, und sieht als diese an: Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und 52 Siehe dazu Vormbaum Teil-Besprechung von Schubert/Regge, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, ZRG.GA 107 (1990) 680. 53 Seine Kommentierung ist jedenfalls nicht durch das Bemühen um restriktive Interpretation gekennzeichnet: In der Frage der Auslandstat folgt Lange bis in die Begründungsfeinheiten hinein dem Aufsatz Kohlrauschs; Kohlrausch/Lange StGB mit Nebengesetzen und Erläuterungen36, 1941, Anm. VIII zu § 2 BlutSchG. In der Frage der Auslegung des Begriffs „Geschlechtsverkehr“ referiert Lange ausgiebig die Fundstellen für die weite Auslegung durch die Rspr. und erwähnt nur pauschal die entgegenstehende „im Schrifttum vertretene Auffassung“ (a.a.O., Anm. I). 54 Karitzky (Fn. 1), 121. 55 So zu Recht Karitzky (Fn. 1), 319; siehe auch Rüthers Carl Schmitt im Dritten Reich, 1989, 57 ff.; Rüthers Entartetes Recht: Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, 1988, 159 ff. (ebenfalls zu Carl Schmitt).

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Zweckmäßigkeit. Ob Radbruch selbst in dem von ihm als Reichsjustizminister verfassten StGB-Entwurf von 1922 alle drei Elemente in angemessener Weise berücksichtigt hat, braucht und kann hier nicht näher untersucht werden.56 Eduard Kohlrauch jedenfalls wird man nicht bescheinigen können, dass er dies getan hat. Die zwangsweise Sterilisierung von Menschen zu fordern, widerspricht der Gerechtigkeit; unbestimmte Strafurteile zu fordern, widerspricht der Rechtssicherheit; die Zweckmäßigkeit freilich kam bei Kohlrausch zu ihrem Recht, denn für ein social engineering mögen die beiden Forderungen in der Tat positiv zu bewerten sein. Nimmt man daher die Charakterisierung Kohlrauschs durch Eberhard Schmidt beim Wort, so kann ihr nicht zugestimmt werden. Ein „getreuer Eckart der Rechtsidee“ war Kohlrausch zweifellos nicht. Ob der Erfinder dieser Metapher seinerseits dieses Etikett, das Welzel dann auf ihn gemünzt hat, verdient, ist hier ebenfalls nicht zu diskutieren.57

VIII. Schlussbemerkung Es ist mitunter auch in der Wissenschaft nicht zu umgehen, moralische Verdikte über Personen und deren Verhalten auszusprechen. Am ehesten werden sie sich aufdrängen, wenn es um die isolierte Erforschung der Lebensgeschichte einer Person geht. Insoweit haben die Forschungen von Karitzky, wie erwähnt, ein non liquet ergeben. Für die allgemein- und rechtshistorische Erkenntnis sind diese Verdikte meistens unergiebig, allenfalls als Exempel von Bedeutung – als Exempel beispielsweise für das Verhalten von Juristen in der Zeit des Nationalsozialismus. Edmund Mezger, der an der Erarbeitung des nationalsozialistischen Entwurfs eines Gemeinschaftsfremdengesetzes maßgeblich beteiligt war, erbat sich von der SS die Genehmigung zum Besuch des Konzentrationslagers Dachau, um, wie er schrieb, „gewisse Menschentypen in den Konzentrationslagern an Ort und Stelle an[zu]sehen“ – ein Antrag, der genehmigt wurde.58 An der Wannsee-Konferenz nahmen auffallend viele Juristen teil;59 56

Siehe dazu jetzt Goltsche Der Strafgesetzbuchentwurf von 1922 (Entwurf Radbruch),

2010. 57 Eine kritische Biographie steht auch nach der kürzlich erschienenen Monographie von Gräfin von Hardenberg Eberhard Schmidt (1891–1977), Ein Beitrag zur Geschichte unseres Rechtsstaats, 2009, noch aus. Nachzugehen wäre dem Hinweis von Georg Dahm in seinem Brief an Eberhard Schmidt vom 4. Februar 1948 (abgedruckt in Jahrbuch JZG 7 (2005/2006), 199 ff.), den die Verfasserin auf Seite 366 ff. recht wohlwollend im Sinne Schmidts interpretiert. 58 Muñoz Conde Die Besuche Edmund Mezgers im Konzentrationslager Dachau, in: Muñoz Conde (Fn. 30), 95 ff. 59 Jettinghoff Die Wannsee-Juristen, Journal der juristischen Zeitgeschichte (JoJZG) 1 (2007) 121 ff.

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amerikanische Juristen entwickelten nach dem 11. September 2001 eine regelrechte Folterdogmatik.60 Schon wegen der Knappheit des Raumes kann es nicht in der Absicht dieses Beitrages liegen, ein solches Verdikt auszusprechen. Denn selbst wenn man Menschen nicht zu bloßen Charaktermasken struktureller Probleme degradieren mag, ist doch immerhin richtig, dass im großen Strom geistesgeschichtlicher Trends allenfalls jene wenigen Repräsentanten persönliche Bewertungen rechtfertigen, die entweder sich diesen Trends entgegengestemmt (oder Grenzen des Mitschwimmens erkannt haben) oder die diesen Trend entscheidend mitbestimmt haben. Die erste Kennzeichnung trifft auf Eduard Kohlrausch zweifellos nicht zu, die zweite allenfalls vereinzelt. So bleibt festzuhalten: Er war ein Mensch mit seinen Widersprüchen – und das heißt auch: mit seinen Schwächen. Immerhin dürfte er repräsentativ für das Verhalten der Strafrechtswissenschaftler in der Zeit der NS-Herrschaft gewesen sein. Dass es auch Juristen gab, die sich obrigkeitsstaatlichem Denken widersetzt haben – wie Heinrich Heine – und die insbesondere in der Zeit der NS-Herrschaft Widerstand geleistet und dafür sogar mit ihrem Leben bezahlt haben – wie Hans von Dohnanyi –, verdient daher um so mehr Beachtung. Eine wissenschaftliche Betrachtung solcher Fälle hätte weiter zu ermitteln, inwieweit es gerade die juristische Profession war, die sie zu ihrer Haltung gebracht hat. Ohne die (unerlässlichen) formalen Fähigkeiten des Juristenstandes gering zu achten, ist festzuhalten, dass allein das juristische Prädikatsexamen, das Freisler möglicherweise auch heute noch absolvieren würde, nicht zu einer juristischen Ethik prädestiniert, die diesen Namen verdient. Eine Geschichte und Dogmatik der juristischen Berufsethik steht noch aus. Zu ihren zentralen Elementen müsste ein Begriffspaar gehören, das in Alessandro Manzonis Novelle „Die Geschichte der Schandsäule“ mit ragione e carità – Vernunft und Mitgefühl – bezeichnet wird.61 Eine mitleidlose Rechtswissenschaft verdient ihren Namen nicht.

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La Torre Ohne Erbarmen, Das Recht der Folter, JoJZG 3 (2009) 132 ff. Manzoni Die Geschichte der Schandsäule (Storia della colonna infame), in: Vormbaum (Hrsg.) Pest, Folter und Schandsäule, Der Mailänder Prozess wegen „Pestschmierereien“ in Rechtskritik und Literatur, 71 ff., 83; man kann diesen Gedanken, in ein anderes Bezugssystem eingebettet, aber letztlich gleichbedeutend, im Sinne einer „Aufklärung der Aufklärung“ diskutieren, d.h. einer Aufklärung, die sich selbst in ihrer Rationalität in Frage zu stellen bereit ist; dazu Vormbaum Der Judeneid im 19. Jahrhundert, Ein Beitrag zur juristischen Zeitgeschichte, 2006, 257 ff., 265 ff.; diese (berufs-)ethische Problematik hat ihre erkenntnistheoretische Parallele: Ulrich Knellwolf hat an Hand einiger literarischer Beispiele den Unterschied zwischen dem (zu lösenden) Rätsel und dem (zu bewahrenden) Geheimnis exemplifiziert: Knellwolf Der Doppelmord in der Rue Morgue und der Selbstmord Adalbert Stifters: Über Recht und Theologie in der Kriminalliteratur, in: Weber (Hrsg.) Recht, Literatur und Religion, 2010. 61

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Arthur Nußbaum (1877–1964) Arthur Nußbaum (1877–1964) Klaus J. Hopt

Arthur Nußbaum (1877–1964) K L A U S J. H O P T *

I. Arthur Nußbaum: Person und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begegnung mit Arthur Nußbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Person von Arthur Nußbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Überblick über das Werk von Arthur Nußbaum . . . . . . . . II. Arthur Nußbaum als Handels-, Bank-, Börsen- und Aktienrechtler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Handelsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bankrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Börsenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Aktienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Arthur Nußbaums prophetischer Blick in die Zukunft . . . . 1. Internationales Bank- und Kapitalmarktrecht . . . . . . . . . . 2. Publizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Außerrechtliche und außergerichtliche Regelungen . . . . . . IV. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Arthur Nußbaum: Person und Werk 1. Begegnung mit Arthur Nußbaum Arthur Nußbaum ist mir zum ersten Mal Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre bei der Arbeit an meiner Habilitationsschrift „Der Kapitalanlegerschutz im Recht der Banken“1 begegnet. Als juristische Kategorie existierte der Begriff des Anlegers bis dahin nicht, obschon investor protection in den USA, wo ich meinen Master gemacht und securities regulation entdeckt hatte, eine Selbstverständlichkeit war. Die Kluft zwischen dem Aktionär und dem Gläubiger schien juristisch unüberbrückbar und juristische * Herrn Dr. Fleckner, Max-Planck-Institut für Privatrecht, Hamburg, danke ich für rechtshistorische Gespräche über Nußbaum, ihm und Herrn Annoff, ebenfalls Hamburg, danke ich für die Hilfe bei der Findung des Materials. 1 Hopt Der Kapitalanlegerschutz im Recht der Banken, Gesellschafts-, bank- und börsenrechtliche Anforderungen an das Beratungs- und Verwaltungsverhalten der Kreditinstitute, 1975.

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Gemeinsamkeiten in einem Anlegerschutz von vornherein unmöglich zu machen. Auch ein Gebiet securities regulation gab es in Deutschland nicht, und das Börsenrecht galt selbst unter Handels- und Wirtschaftsrechtlern als Spezial- und Praktikermaterie. Im deutschen Universalbankensystem hatten die Banken die Schlüsselrolle. Aber über ihr Beratungs- und (Vermögens-) Verwaltungsverhalten war rechtlich wenig bekannt, in der Finanzpresse aufscheinende Missbräuche wurden als Ausreißer abgetan; wenn etwas geändert werden müsste, würden die Banken es schon selbst ordentlich regeln. Die Lektüre der Arbeiten von Nußbaum wurde für mich zur Offenbarung: Sein Börsenrechtskommentar von 19142 stellte die jüngeren Praktikerkommentare vollkommen in den Schatten, in beidem: Dogmatik und Realität. Von da stieß ich auf seine Rechtstatsachenforschung,3 die mir den Blick für die methodische Verbindung von beidem: Realität und Dogmatik öffnete. Der Schlüssel für den Zugriff auf das Verhalten der Banken waren dann sein Kommissionsrecht,4 die Behandlung des Kursschnitts seitens der Banken und die Einordnung des Bankiers als Vertrauensmann des Kunden,5 dies alles auf der Basis eines wachen Interesses für die geschichtliche Entwicklung.6 Damit war der Weg zum Kapitalanlegerschutz, zur Mittlerstellung der Banken und zur Relevanz von Vertrauen und Berufspflichten vorgezeichnet.7 2. Zur Person von Arthur Nußbaum8 Arthur Nußbaum wurde am 31.1.1877 in Berlin geboren. Nach einem sechssemestrigen Studium von 1894 bis 1897 an der Berliner Universität 2 Nußbaum Kommentar zum Börsengesetz . . . nebst einer Darstellung der Rechtsgrundsätze über den Effektenhandel zwischen Bankier und Kunden, 1910; ders. Die Börsengeschäfte, in: Ehrenbergs Handbuch des gesamten Handelsrechts, Band 4, II. Abt., 1918, 541–691. 3 Nußbaum Die Rechtstatsachenforschung, Ihre Bedeutung für Wissenschaft und Unterricht, 1914; ders. Die Rechtstatsachenforschung: Programmschriften und praktische Beispiele, 1968 (mit Einleitung von Rehbinder). 4 Nußbaum Tatsachen und Begriffe im deutschen Kommissionsrecht, 1917. 5 Nußbaum Kursschnitt und Kursregulierung beim Selbsteintritt, JW 1914, 15–19. 6 Z.B. Nußbaum Die Preußische Seehandlung, Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 1905, 31–53, 130–146 oder ders. (Fn. 4), 1–31. 7 Zur Entwicklung des Anlegerschutzes und des Kapitalmarktrechts in Deutschland Hopt WM 2009, 1873–1881. 8 Zum 80. Geburtstag von Nußbaum: Cheatham/Friedmann/Gellhorn/Jessup/Reese/ Wallace Arthur Nussbaum, A Tribute, 57 Colum.L.Rev. 1–7 (1957) und Domke Arthur Nussbaum, The Pioneer of International Commercial Arbitration, 57 Colum.L.Rev. 8–10 (1957), mit Schriftenverzeichnis 11–15; Nachrufe: Domke Am.J.Comp.L. 13 (1964) 664– 665; Ehrenzweig RabelsZ 29 (1965) 649–650; Mann NJW 1965, 577; Rehbinder JZ 1965, 225–226; Biographisches: Emmert Nußbaum, Arthur, in: Neue Deutsche Biographie, 1999, Band 19, 376–377; Rehbinder (Fn. 3), 9–17; Stiefel/Mecklenburg Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1933–1950), 1991, 62–64.

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wurde er dort 1898 promoviert und ließ sich 1903 in Berlin als Anwalt nieder. 1914 habilitierte er sich ebenda und nahm eine Lehrtätigkeit für Handels-, Bank- und Börsenrecht auf. 1920 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt. Einen Ruf nach Frankfurt am Main lehnte er ab. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zwang ihn zur Emigration.9 1933 wurde er zunächst für einen Kurs an der Académie de Droit International in Den Haag beurlaubt und ging, da der Weg zurück verschlossen war, 1934 als Gastprofessor an die Columbia University in New York. Das Angebot einer vollen Professur lehnte Nußbaum noch immer in der Hoffnung auf baldige Rückkehr ab, bis er schließlich 1939 Research Professor for Public Law wurde. Anlässlich seines 80. Geburtstags widmete ihm die Columbia Law Review einen großartigen „Tribute“. Am 22.11.1964 starb Nußbaum mit 87 Jahren in New York. Zur gleichen Zeit begannen in Deutschland eine Renaissance der Rechtstatsachenforschung und der Aufschwung der empirischen Soziologie.10 3. Überblick über das Werk von Arthur Nußbaum Die erste Arbeit von Nußbaum war seine Berliner Dissertation von 1898 über die Haftung für Hilfspersonen nach gemeinem und Landesrecht.11 Das Schriftenverzeichnis, das anlässlich des 80. Geburtstags von Nußbaum in der Columbia Law Review 1957 zusammengestellt wurde,12 nennt als erste Veröffentlichung einen Aufsatz über das Züchtigungsrecht der Dienstherrschaft.13 Schon darin zeigt sich ein rechtspolitischer Impetus für Gerechtigkeit gepaart mit Dogmatik und einem ernüchternden Blick auf Rechtsprechung und Praxis. 1903 und 1904 erschienen die ersten Veröffentlichungen über Bank- und Börsenrecht.14 Das Bank- und Börsenrecht ließ Nußbaum nicht mehr los. 1910 nannte er unlautere Geschäftsformen im Bankiergewerbe beim Namen;15 die Eigenhändlerklauseln, der Selbsteintritt des Ban9 Treffend Rehbinder (Fn. 8), 225: „Gerade den Juristen der jüngeren Generation erfaßt ein Gefühl maßloser Erbitterung über jene unsagbare Nazibarbarei, die uns eine so kraftvolle und reiche Gelehrtenpersönlichkeit wie Nußbaum hat verlieren lassen.“ 10 Röhl Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, 1974, zu Nußbaum 6 f., 16 ff.; Hartwieg Rechtstatsachenforschung im Übergang, 1975, zu Nußbaum 21–26. 11 Nußbaum Haftung für Hülfspersonen nach gemeinem und Landesrecht, 1898. 12 Oben Fn. 8; hierauf wird hinsichtlich der Schriften von Nußbaum verwiesen; eine korrigierte und ergänzte (u.a. unten Fn. 77) Fassung wäre wünschenswert. Im folgenden wird eine persönliche Auswahl für die Zwecke dieser Darstellung getroffen. 13 Nußbaum Das Züchtigungsrecht der Dienstherrschaft, ZgesStrafrechtswiss 20 (1900) 413–439. 14 Nußbaum Zur neueren Literatur über Effektenbanken, Zeitschrift für Socialwissenschaft 6 (1903) 763–773; ders. Die Novelle zum Börsengesetz, Kritik und Vorschläge, 1904. 15 Nußbaum Unlautere Geschäftsformen im Bankiergewerbe, 1910 (Sonderabdruck aus: Die Bank), 40 S.

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kiers und der Kursschnitt waren seither mehrfach Gegenstand seiner Kritik. Im gleichen Jahr erschien sein Kommentar zum Börsengesetz, gefolgt von der großen Erläuterung der Börsengeschäfte in Ehrenbergs Handbuch 1918.16 Von 1913 datiert sein Lehrbuch über das deutsche Hypothekenwesen.17 1914 kam dann die sehr einflussreiche Schrift über die Rechtstatsachenforschung.18 Das große Kommmissionsrecht erschien 191719 und im selben Jahr ein erster Aufsatz über das Schiedsgerichtswesen, dem viele weitere Arbeiten folgten. In der Kriegs- und Nachkriegszeit erschienen Arbeiten zur juristischen Bewältigung der Folgen: zur Schuldenregelung, zum Ausgleichsverfahren, zu Geld,20 Währung und Wirtschaftsrecht. Im Zuge der Vorbereitung der Aktienrechtsreform finden sich mehrere Vorträge und Schriften zum Aktienrecht.21 Nach der Emigration 1934 schreibt Nußbaum auf Englisch, etwa ein Case Book on the Law of Money, die Monographie über Money in the Law,22 bis hin zu seinen großen internationalprivatrechtlichen,23 völkerrechtlichen und völkerrechtshistorischen Arbeiten.24 Das letzte große Buch – von Neuauflagen abgesehen – war die Geschichte des Dollar 1957.25 Im Vorwort heißt es anrührend: „The research involved gave rise to a desire on my part to reach a fuller understanding of the spirit of this great, free, and hospitable country.“ Eine kurze kritische Bemerkung von 1955 über die Rolle der Studenten als Herausgeber von juristischen Zeitschriften zeugt davon, dass Nußbaum dennoch im Grunde Europäer geblieben ist.26 Die bis heute andauernde (zögerliche) Entwicklung spezialisierter amerikanischer Zeitschriften mit interdisziplinärer Grundlagenforschung, die von Fachleuten herausgegeben werden, gibt Nußbaum Recht. Der folgende Beitrag konzentriert sich auf Arthur Nußbaum als Handels-, Bank-, Börsen- und Aktienrechtler (die Reihung entspricht der Lehr16

Oben Fn. 2. Nußbaum Deutsches Hypothekenwesen, 1913. 18 Oben Fn. 3. 19 Oben Fn. 4. 20 Ferner unten Fn. 69. 21 Unten II 4. 22 Unten II 2 und Fn. 69. 23 Vor allem Nußbaum Principles of Private International Law, 1943, ins Deutsche übersetzt: „Grundzüge des internationalen Privatrechts, Unter besonderer Berücksichtigung des amerikanischen Rechts“ (1952), und mehrere speziellere Bücher, u.a. „Deutsches Internationales Privatrecht, Unter besonderer Berücksichtigung des österreichischen und schweizerischen Rechts“ (1932) und „American-Swiss Private International Law“ (1951). 24 Nußbaum A Concise History of the Law of Nations, 1947. 25 Nußbaum A History of the Dollar, 1957, siehe auch Fn. 72. Im Vorwort heißt es: „This book tries to indicate the political, economic, and psychological factors underlying the monetary history of the United States. Glimpses of contrasting foreign experiences have been added.“ 26 Nußbaum Some Remarks About the Position of the Student-Editors of the Law Review, 7 J. Legal Educ. 381–382 (1955). 17

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tätigkeit von Nußbaum an der Universität Berlin für Handels-, Bank- und Börsenrecht).27 Soweit ersichtlich sind die Leistungen Nußbaums in diesen Bereichen von der Literatur bisher weniger behandelt und gewürdigt worden, als sie es angesichts ihrer zeitgenössischen Bedeutung und späteren Wirkung verdient haben.

II. Arthur Nußbaum als Handels-, Bank-, Börsen- und Aktienrechtler 1. Handelsrecht Nußbaum war einer der ganz großen Handelsrechtler, wenn man Handelsrecht nicht nur als Rechtstechnik,28 sondern im weiteren Sinne von Handels-, Bank-, Börsen- und Aktienrecht versteht. Dabei ist daran zu erinnern, dass es ein Bankaufsichtsrecht erst seit dem KWG 1934 als Folge der Bankenkrise von 1931 gab und dass das Aktienrecht auch nach der Notverordnung 1931 noch Teil des HGB geblieben war und erst mit dem AktG 1937 selbständig kodifiziert wurde.29 Zum Handelsrecht als eigenes Gebiet äußerte sich Nußbaum schon ein Jahr nach seiner „Rechtstatsachenforschung“ skeptisch, er stellte die Dekommerzialisierung des Handelsrechts fest und nahm mit seiner Vorstellung eines Gewerbeprivatrechts bereits das moderne Unternehmensrecht vorweg.30 Das entsprach durchaus seiner Vorstellung von der Jurisprudenz.31 Ihn faszinierte ein „Stoff, der des strotzenden Lebens so voll ist wie das Handelsrecht“.32 Ein hervorragendes Beispiel für seine handelsrechtlichen Arbeiten ist seine Befassung mit dem Kommissionsrecht. Schon 1914 hatte Nußbaum unter Hinweis auf die Praxis der Banken beim Selbsteintritt als Kommissionärin die Gefahr des Kursschnittes beschrieben, dessen sich der Gesetzgeber des BörsG 1896 angenommen hat27

So Emmert (Fn. 8), 376. Das Aktienrecht war damals noch Teil des HGB (§§ 178–334

a. F.). 28 Zu der diesbezüglichen Kritik an Nußbaum vgl. Mann (Fn. 8), 577 und Heinitz bei Rehbinder (Fn. 3), 13 Fn. 19. Aber man darf das primär andere Erkenntnisinteresse von Nußbaum nicht übersehen, vgl. z.B. Nußbaum (Fn. 4), 80 mit Fn. 1, wo zahlreiche, dort nicht behandelte Rechtsfragen aufgelistet sind. Auch unten Fn. 78. 29 Überblicke bei GroßKommAktG/Assmann4, Band 1, 2004, Einl. Rn. 129 ff., 148 ff. und Fleckner Aktienrechtliche Gesetzgebung (1807–2007), in: Bayer/Habersack (Hrsg.) Aktienrecht im Wandel, Band 1, 2007, 999, 1054 ff., 1061 ff. 30 Nußbaum Die Auflösung des Handelsrechtsbegriffs, ZHR 76 (1915) 325–336; ders. Zur neueren Entwicklung der Lehre vom Unternehmen, in: FS Heymann, 1931, Band 2, 492–504. 31 Nußbaum Über Aufgabe und Wesen der Jurisprudenz, Zeitschrift für Socialwissenschaft 9 (1906) 1–17. 32 Nußbaum (Fn. 4), 84.

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te.33 Mit dem verbreiteten Selbsteintritt auch dann, wenn der Kommissionär die Waren nicht auf Lager hatte, hatte sich nämlich die Praxis des Kursschnitts bei den „weniger gefestigten Elementen“34 unter den Bankiers eingebürgert. Obwohl eine Straftat, sei es noch nie zu einer Strafverfolgung der Kursbeeinflussung zum Nachteil des Kommittenten gekommen. Kursschnittprobleme bestehen in all den Fällen, in denen die Banken als Eigenhändler auftreten, auch heute noch.35 Die US-amerikanische „shingle theory“ und die „5% mark-up policy“ der (damaligen) National Association of Securities Dealers (NASD) ab 1943 und (später) der SEC wurden auch für Deutschland vorgeschlagen.36 Der Tatbestand der Marktmanipulation wurde erst durch die Marktmissbrauchsrichtlinie und das WpHG 2003/04 gesetzlich erfasst. Die 1917 erschienene Monographie zum Kommissionsrecht37 war zugleich die erste Arbeit in der von Nußbaum begründeten Reihe „Sammlung von Beiträgen zur Kenntnis des Rechtslebens“.38 Die Arbeit schildert zunächst ausführlich die historischen Grundlagen des Kommissionshandels vom Ausgang des 18. Jahrhunderts über den Umschwung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Kriegszeit. Die Ersetzung der Kommission durch den Eigenhandel im Exportgeschäft nach hoch entwickelten Ländern, aber auch sonst im Zwischenhandel sieht Nußbaum scharfsinnig als Folge der modernen Verkehrsmittel und Informationsquellen, die die Ausschaltung des kostenträchtigen Mittlers ermöglichen.39 Dabei besticht die ungemein sorgfältige Auswertung der Rechtsprechung,40 zumal der des Oberappellationsgerichtes Lübeck, dem gemeinschaftlichen Obergericht für die vier freien Reichsstädte (Frankfurt, Hamburg, Bremen, Lübeck).41 Erst nach knapp der Hälfte des Buchs folgt die wirtschaftliche und technische Würdigung der verschiedenen gesetzlichen Bestimmungen und dann in zwei eigenen Paragraphen die Erörterung der Kommission für fremde Rechnung und des Kommissions- und Eigenhandels des Bankiers. Im Anhang werden fünf einschlägige AGB abgedruckt.42 33 Nußbaum (Fn. 5), 15–19. Zum Kommissions- und Eigenhandel des Bankiers dann ausführlich Nußbaum (Fn. 4), 67 ff. 34 Nußbaum (Fn. 5), 15. 35 Hopt (Fn. 1), 482 ff., sowie 54, 133, 197, 326, 353. 36 Hopt (Fn. 1), 483. Zu den Prozentsätzen bei der Kommission in verschiedenen Branchen Nußbaum (Fn. 4), 53 f. 37 Nußbaum (Fn. 4), 111 S. 38 Zu den mit dieser Reihe verfolgten Absichten Nußbaum (Fn. 4), Zur Einführung. 39 Nußbaum (Fn. 4), 15 f. 40 Nußbaum (Fn. 4), 4 ff. mit Fn. 7. Zur Berücksichtigung der Gutachtensammlungen, ebenda, 34, 57 f. 41 Nußbaum (Fn. 4), 6. 42 I. AGB für den Verkehr zwischen der Reichsgetreidestelle Geschäftsabteilung G.m.b.H. in Berlin (RG) und den Kommissionären (1916); II. AGB für den Verkehr zwi-

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Der Gegensatz zur damaligen Behandlung der Kommission in der juristischen Literatur, insbesondere bei Grünhut,43 hätte nicht größer sein können. Von der Ein- und Ausfuhrkommission, der Bankkommission und dem Börsenhandel ist bei Grünhut keine Rede, sehr wohl aber ausführlich bei Nußbaum. Vorweg genommen ist damit die heutige Feststellung, dass sich das Kommissionsrecht der §§ 383 ff. HGB – abgesehen von der Konsignationskommission vor allem bei Exportwaren, der Kommission im Kunst-, Antiquitäten- und Briefmarkenhandel und aus Steuerumgehungsgründen44 beim Gebrauchwagenhandel – im wesentlichen als Effektenkommission beim Wertpapiergeschäft der Banken abspielt.45 Aber auch die Heranziehung verschiedener gebräuchlicher AGB,46 die rechtliche Kritik an ihnen47 und ihr Abdruck im Wortlaut sind Pioniertaten, die der späteren AGB-Diskussion48 den Weg bereitet und die viel von dem vorweg genommen haben, was in der heutigen Literatur selbstverständlich erscheint. Zu den Gesetzesbestimmungen über das Kommissionärspfandrecht findet sich die Beobachtung, im bankund börsenmäßigen Verkehr pflegten so weitgehende vertragsmäßige Pfandbestellungen formularmäßig ausbedungen zu werden, dass erstere dahinter weit zurückträten.49 Das ist wie ein Vorgriff auf die langjährigen gerichtlichen Auseinandersetzungen um Nr. 13 ff. und namentlich Nr. 14 AGB-Banken.50 Geradezu frappierend modern ist es, wenn „der typische Schadensersatzprozeß des Kunden gegen den Bankier wegen schuldhafter Ratserteilung“ konstatiert und als notwendige Folge der Versuchung, „die Werte der ihnen nahestehenden Unternehmungen tunlichst im Publikum unterzubringen“, betrachtet wird.51 Man braucht dazu nur die Legion von zwischenzeitlich ergangenen Urteilen zur Aufklärung und Beratung der Banken anzusehen.52 schen der Reichs-Gerstengesellschaft m.b.H. (RGG) zu Berlin und ihren Geschäftsstellen (Geschäftsstellenvertrag); III. AGB für den Verkehr zwischen den Geschäftsstellen der Reichs-Gerstengesellschaft m.b.H. (RGG) zu Berlin und den Kommissionären (Kommissionsvertrag); IV. Bedingungen einer Berliner Großbank für den Kontokorrent- und Geschäftsverkehr (1913); V. Rundschreiben der Berliner Banken an ihre Kunden vom Mai 1915. 43 Grünhut Das Recht des Commissionshandels, 1879. 44 Zur Umgehungsfunktion der Kommission schon Nußbaum (Fn. 4), 9. 45 MüKoHGB/Häuser2, Band 6, 2007, § 383 Rn. 5 f.; Baumbach/Hopt/Hopt HGB34, 2010, § 383 Rn. 4. 46 Oben Fn. 42. 47 Auch wenn die Vorstellung eines Transparenzgebots, d.h. der nachträglichen Einwendung, die Klausel nicht verstanden zu haben, noch als im Verkehr untragbar erscheint, Nußbaum Die Eigenhändlerklausel in den Geschäftsbedingungen der Bankiers, HoldhMSchr 19 (1910) 161, 162. 48 Raiser Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1935. 49 Nußbaum (Fn. 4), 39, 74. 50 Vgl. Baumbach/Hopt/Hopt (Fn. 45), (8) AGB-Banken, in den verschiedenen Auflagen. 51 Nußbaum (Fn. 4), 68. 52 Dazu die Kommentare zu § 676 BGB und zu § 347 HGB, z.B. Baumbach/Hopt/ Hopt (Fn. 45), § 347 Rn. 23 ff.

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2. Bankrecht Für das Geschäft der Banken und seine staatliche Regelung interessierte sich Nußbaum von Anfang an. In einer seiner ersten Veröffentlichungen befasste er sich 1903 mit neueren Arbeiten über Effektenbanken, signifikanterweise in einer sozialwissenschaftlichen Zeitschrift.53 Ein paar Jahre später, 1910, prangerte er unlautere Geschäftsformen im Bankiergewerbe an, dieses Mal in einer Bankenfachzeitschrift.54 Es ging ihm dabei um eine Praktik, die ihn mehrfach beschäftigt hat: die Eigenhändlerklausel, die sich im Handel mit nicht notierten Werten bei den Banken allgemein zum Brauch entwickelte und in die Geschäftsbedingungen der Banken Eingang fand.55 In seinem großen Werk über das Kommissionsrecht behandelte er dann diesen Problemkreis allgemeiner in einem eigenen Teil über den Kommissions- und Eigenhandel des Bankiers.56 Interessant ist auch heute noch die Beobachtung von Nußbaum, wie sich solche kundenunfreundlichen Praktiken allmählich durchsetzen und Abhilfe nur von der Rechtsprechung zu erwarten ist. Angesichts der mit der Klausel verbundenen wirtschaftlichen Vorteile tauchte zuerst 1905 der Vorschlag auf, eine allgemeine Eigenhändlerklausel einzuführen, damit werde der Bankier allen „Fußangeln des Kommissionsgeschäfts“ entgehen.57 Nußbaum schreibt dazu, dass die „vollwertigen Mitglieder des Bankierstandes“ dem sich zunächst versagten, während dies „bei Bucketshops und anderen unreellen Bankiers bald allgemein Verständnis und Aufnahme“ fand, aber dass sich die Praktik im Zuge der Kriegswirtschaft allgemeiner durchsetzte.58 Zu dieser Zeit hatte die Vereinigung der Berliner Banken und Bankiers (Stempelvereinigung) die Klausel in ihre Bedingungen aufgenommen.59 Nußbaum stellt dazu lapidar und zutreffend fest: „Das Formular ist in einseitiger Weise auf die Interessen des Bankiers zugeschnitten.“60 Indessen griff die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte korrigierend ein und sorgte durch die Umdeutung der Eigenhändlerklausel in einen Selbsteintritt dafür, dass der 53

Oben Fn. 14. Oben Fn. 15. 55 Nußbaum (Fn. 47), 161–164; ders. Die Eigenhändlerklausel in den Geschäftsbedingungen der Bankiers, JW 1916, 1263–1264. 56 Nußbaum (Fn. 4), § 6 (67–80). 57 Zadig (zitiert nach Bernstein Der Bankier als Eigenhändler während der Einstellung des amtlichen Börsenverkehrs, Bank-Archiv 1915, 310, 311). 58 Nußbaum (Fn. 4), 70. 59 Vgl. Bedingungen einer Berliner Großbank für den Kontokorrent- und Geschäftsverkehr, oben Nußbaum (Fn. 4), Anl. IV, Nr. 5 „Dem Auftraggeber gegenüber tritt die Bank stets als Selbstkontrahent ein, auch wenn die Anzeige der Ausführung in einer Form geschieht, die den Abschluß mit Dritten vermuten läßt. . . .“ Auch Nr. 14: „Auskünfte, Berichte und Empfehlungen erteilt die Bank nur unter Ausschluß jeder Verantwortlichkeit.“ 60 Nußbaum (Fn. 4), 70/71. 54

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Schutz des Kommissionsrechts erhalten blieb.61 Das Reichsgericht stellte das Kommissionsgeschäft und das Propergeschäft hinsichtlich der Aufklärungsund Beratungspflichten der Bank gleich, allerdings ohne nähere Begründung.62 Eine allgemeinere, über die nicht tragende Analogie hinweg gehende, auf die Mittlerfunktion der Kreditinstitute abhebende Begründung wurde erst viel später nachgeliefert.63 Die Kernproblematik des modernen Einleger- und Anlegerschutzes erfasste Nußbaum scharfsichtig schon damals, wenn er davon sprach, es gelte, „den Kunden als Laien gegen einen Vertrauensmißbrauch des durch seine Sachkunde überlegenen Bankiers zu schützen“, aber auch: nicht jeder, z.B. der Provinzbankier bedürfe der besonderen Fürsorge für Unerfahrene in gleichem Maße; „das Rechtsverhältnis zwischen Bankiers und Privatkunden“ müsse „als ein besonders geartetes charakterisiert“ werden, aber auch der Selbsteintritt sei in bestimmten Grenzen privat- und volkswirtschaftlich nicht zu entbehren.64 Vorweg genommen werden damit moderne Konzepte wie die Unerfahrenheit und fachliche Unterlegenheit der Anleger und die Mittlerfunktion der Kreditinstitute (financial intermediary),65 die Informationsasymmetrie zwischen den Marktgegenseiten und nach den Kategorien der Informationsökonomie die Eigenschaft der Wertpapiere als „Vertrauensgüter“,66 die durch die europäische Finanzmarktrichtlinie (MiFID) 2004 vorgegebene Differenzierung zwischen verschiedenen, mehr oder weniger schutzbedürftigen Anlegertypen (professionelle Kunden und Privatkunden),67 die besondere Funktion der Banken und Börsen und in nuce, wenn von „berechtigtem Vertrauen“ gesprochen wird, sogar die später zum Kern des dogmatischen Begründungsarsenals gewordene Vertrauens- und Berufshaftung der Kreditinstitute.68 Waren die genannten Untersuchungen aus der frühen Berliner Zeit noch mehr dem geltenden Recht, seiner Praktizierung durch die Banken und dem 61 OLG Dresden, OLG Köln, OLG Hamburg, Nachweise bei Nußbaum (Fn. 4), 71 Fn. 2. 62 RGZ 42, 125, 131 aus 1898; RG, JW 1903, 151 Nr. 7; RG, DR 1909 Nr. 1867; OLG Braunschweig, LZ 1909, 485, 487. 63 Hopt (Fn. 1), 246 ff., 259 f., 375 ff. 64 Nußbaum (Fn. 4), 72, 78; ders. (Fn. 47), 161, 162: „Da nun der Kunde als Laie in dem Bankier seinen sachverständigen Berater und Vertrauensmann zu sehen berechtigt ist . . .“; 163: „berechtigtes Vertrauen“. 65 Hopt (Fn. 1), 88 ff. 66 Fleischer Empfiehlt es sich, im Interesse des Anlegerschutzes und zur Förderung des Finanzplatzes Deutschland das Kapitalmarkt- und Börsenrecht neu zu regeln? Gutachten F zum 64. Deutschen Juristentag, Berlin 2002, F 23. Zur ökonomischen Begründung des Anlegerschutzes durch zwingende Offenlegung Kraakman/Armour/Davies/Enriques/ Hansmann/Hertig/Hopt/Kanda/Rock The Anatomy of Corporate Law2, 2009, 277 et seq. 67 Heutige Definitionen in § 31a II, III WpHG. 68 Canaris Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971; weitere Nachweise bei Baumbach/Hopt/Hopt (Fn. 45), § 347 Rn. 22.

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notwendigen Kundenschutz gewidmet, befasste sich Nußbaum in seiner amerikanischen Zeit mit allgemeineren Geld- und Finanzfragen. Exemplarisch dafür steht sein großes Buch über „Money in the Law“,69 das nach Mann alles, was Nußbaum in Amerika geschrieben hat, auch seine großen internationalprivatrechtlichen und völkerrechtlichen Monographien, „weit übertroffen“ hat, in Amerika völliges Neuland erschloss und in der 2. Auflage die ungemein befruchtende Wirkung der Rechtsvergleichung bewies.70 „International Antagonism – International Cooperation“,71 darum geht es auch in unseren Tagen bei der Regelung der Finanzkrise. Zu erwähnen ist dazu auch die letzte größere Monographie von Nußbaum über die Geschichte des Dollar.72 3. Börsenrecht 1896 erließ das Reich erstmals ein Börsengesetz;73 bereits 1904 äußerte sich Nußbaum zur Notwendigkeit seiner Novellierung.74 Der große Wurf gelang ihm dann 1910 mit seinem Kommentar zum Börsengesetz, später quasimonographisch vertieft in seiner Abhandlung über die Börsengeschäfte in Ehrenbergs Handbuch.75 Der Kommentar war trotz der Vorarbeiten der Börsen-Enquête-Commission von 189376 eine Pionierleistung, die auch heute noch Interesse und Bewunderung hervorruft.77 Der Kommentar zeichnet sich nicht nur durch die metikulöse Behandlung einer Fülle von Rechtsfragen aus,78 sondern strebt bei der Berücksichtigung der Rechtsprechung Vollstän69 Nußbaum Money in the Law, 1939, und völlig revidiert ders. Money in the Law, National and International, A Comparative Study in the Borderline of Law and Economics2, 1950. Zuvor schon ders. Das Geld in Theorie und Praxis des deutschen und ausländischen Rechts, 1925. 70 Mann (Fn. 8), 577. In Rechnung zu stellen ist, daß Mann Autor des berühmten „The Legal Aspect of Money“ (erstmals 1938) ist. 71 So der Titel von Buch 2 Kapitel 3. 72 Oben Fn. 25, und zuvor schon Nußbaum The Law of the Dollar, 37 Colum. L.Rev. 1057–1091 (1937). 73 Zum Kontext Fleckner/Hopt Entwicklung des Börsenrechts, in: Handelskammer Hamburg (Hrsg.) Die Hamburger Börse 1558–2008, 2008, 249–282, zum Börsengesetz 265–268. 74 Nußbaum Novelle (Fn. 14). 75 Oben Fn. 2. 76 Börsen-Enquête-Commission, Bericht und Beschlüsse 1893, Aus dem Reichs- und Staatsanzeiger besonders abgedruckt, 1894. 77 Unverständlich ist, dass der Kommentar in dem Schriftenverzeichnis in der Columbia Law Review (Fn. 8) nicht enthalten ist. 78 Ein Beispiel für ein nur ganz selten behandeltes Problem ist die Zwangsregulierung (Selbsthilfekauf und -verkauf), Nußbaum Kommentar zum Börsengesetz (Fn. 2), 386 ff., auch schon ders. Die sogenannte Zwangsregulierung bei Börsengeschäften, ZHR 74 (1913) 266–328; dazu heute Fleckner WM 2009, 2064–2073. Kein Problembewusstsein existierte damals aber z.B. hinsichtlich des delisting, vgl. Nußbaum Kommentar zum Börsengesetz (Fn. 2), 163 f.; dazu heute die Nachweise bei Baumbach/Hopt/Hopt (Fn. 45), (14) BörsG § 39 Rn. 3 f., 5 ff.

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digkeit an, berücksichtigt Börsenordnungen, Usancen und nichtjuristisches Schrifttum und greift auf zahlreiche briefliche und persönliche Gespräche – heute würde man sagen: Interviews – zurück.79 Kurz: ein Musterbeispiel für moderne Kommentierungsarbeit. Bemerkenswert ist der enge Bogen, den Nußbaum zwischen dem Börsengesetz und dem Kommissionsrecht schlägt, was nicht nur in einem Anhang, sondern programmatisch schon im Untertitel zum Ausdruck kommt80 und modernem Verständnis entspricht. Ein besonderer Schwerpunkt des Kommentars liegt mit einem Viertel des Buchs auf dem Börsenterminhandel.81 Die Erläuterungen dieser hochkomplizierten Materie waren Grundlage für alles Schrifttum dazu bis zur Aufhebung der §§ 50 ff. aF BörsG durch das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz 2002 und bis zur Neuregelung der Finanztermingeschäfte im WpHG.82 Es ist hier nicht der Platz, auf Einzelheiten einzugehen, doch sei beispielhaft die Kommentierung der Börsenprospekthaftung83 erwähnt. Nußbaum sieht sie als quasikontraktlich an.84 Die Emissionshäuser, die den Prospekt nicht unterschrieben, sondern eine Zusatzerklärung abgaben, behandelt er als für den Prospekt verantwortlich, die Zusatzerklärung sei Teil des Prospekts bzw. wirke grundsätzlich haftungserzeugend.85 Interessant ist es, dass dieselbe Strategie, durch Vermeidung der Unterschrift sich der Haftung entziehen zu wollen, später – zu Recht erfolglos86 – von den emissionsbegleitenden Banken beim Unternehmensbericht verfolgt wurde. Die Haftung der Gesellschaft selbst lehnte Nußbaum wegen des Verbots der Einlagenrückgewähr ab,87 was lange Zeit streitig war, aber heute auch international überwiegend anders gesehen wird.88 Beschrieben werden auch schon die besonderen Probleme der Kausalität mit der Anlagestimmung und des Schadensersatzes mit Rückabwicklung oder Differenzhaftung.89

79 Nußbaum Kommentar zum Börsengesetz (Fn. 2), Vorrede. Nach wie vor gültig auch: „Die ergiebigste Fehlerquelle liegt in dem weitverbreiteten Irrtum, ohne hinreichende Kenntnis der wirtschaftlichen und technischen Zusammenhänge die börsenrechtlichen Probleme mit den Mitteln einer formalen Dogmatik bewältigen zu können.“ Nußbaum Börsengeschäfte (Fn. 2), 542. 80 Nußbaum Kommentar zum Börsengesetz (Fn. 2), Anh. II, 368–388: Rechtsgrundsätze über den Effektenhandel zwischen Bankier und Kunden. 81 Nußbaum Kommentar zum Börsengesetz (Fn. 2), 230–327. 82 Zur Rechtsentwicklung Fleckner/Hopt (Fn. 73), 266–268. 83 §§ 45 ff. aF BörsG. Vgl. dazu heute umfassend Ehricke in: Hopt/Voigt (Hrsg.) Prospekt- und Kapitalmarktinformationshaftung, 2005, 187–325. 84 Nußbaum Kommentar zum Börsengesetz (Fn. 2), 191. 85 Nußbaum Kommentar zum Börsengesetz (Fn. 2), 192. 86 BGHZ 139, 225 = WM 1998, 1772 (Elsflether Werft AG) und zuvor Baumbach/ Hopt/Hopt HGB29, 1995, (14) BörsG § 77 Rn. 1. 87 Nußbaum Kommentar zum Börsengesetz (Fn. 2), 193. 88 Hopt/Voigt in: dies. (Fn. 83), 60 ff. 89 Hopt/Voigt (Fn. 88), 195 f., 199 f.

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4. Aktienrecht In mehreren Beiträgen, zumeist im Zusammenhang mit der Vorbereitung der großen Aktienrechtsreform, die dann erst 1937 kam, befasste sich Nußbaum mit aktienrechtlichen Fragen. Ab 1926 bis 1933 erschienen in der von ihm herausgegebenen Schriftenreihe „Gesellschaftsrechtliche Abhandlungen“ nicht weniger als 23 Bände.90 Zwei größere Arbeiten von Nußbaum aus den Jahren 1926 und 1928 seien kurz durchgemustert, eine weitere aus dem Jahr 1932 über Publizität wird unter III 2 näher betrachtet. In einem Vortrag von 1926 erwiderte Nußbaum auf einen Vortrag von Schlegelberger, der als Abteilungsleiter im Reichsjustizministerium für die Vorbereitung der Aktienrechtsreform zuständig war.91 Nußbaum kritisierte darin den mangelnden Mut Schlegelbergers, gegen starke Kräfte, die Reform so weit wie nur irgend möglich hinauszuschieben, die Stimmrechts- und Verwertungsaktien zu regeln. Der Selbstregelung durch die Bankiers, die der Reichswirtschaftsminister auf dem Bankiertag 1925 angemahnt hatte, traut er nichts zu, darauf zu vertrauen, sei „Illusionspolitik“.92 Bemerkenswert ist es, dass Nußbaum die Regelung des Problems nicht nur wegen der Missbrauchsgefahr forderte, sondern auch auf die Notwendigkeit eines Aktienrechts nach den Bedürfnissen des Kapitalmarktes hinwies.93 „Aktionär und Verwaltung“ ist der Titel einer 1928 erschienenen Untersuchung,94 in der Nußbaum die Problematik der Stimmrechts- und Verwertungsaktien zusammen mit der der Legitimationszession und des Bankenstimmrechts behandelt und vertieft. Das Thema ist ausgesprochen modern und erinnert an die heute zentrale Kategorie des principal agent conflict im Aktienrecht.95 Nußbaum sieht bereits das, was man heute die rationale Apathie der Kleinaktionäre nennt. Er stellt fest, dass die Banken mit ihrem Depotstimmrecht gemeinsam mit der Verwaltung stimmen,96 und beklagt das Fehlen einer wirksamen Rechenschaftspflicht, was letztlich zur vollen Unabhängigkeit der Verwaltung von der Aktionärsschaft führe.97 Seiner Zeit weit voraus ist er mit seiner Kritik am System der stillen Reserven, „welches in Deutschland, abweichend insbesondere von der geschäftlichen Praxis in den Vereinigten Staaten, planmäßig und radikal durchgeführt wird“ und das 90

Vgl. die Liste bei Rehbinder (Fn. 3), 8 (14 Fn. 21). Nußbaum Erwiderung, in: Probleme der Aktienrechts, Schriften der Studiengesellschaft für Währungs- und Finanzreform e.V., 1926, 21–28. 92 Nußbaum (Fn. 91), 22, 26, 27. 93 Nußbaum (Fn. 91), 28. 94 Nußbaum Aktionär und Verwaltung, 1928. 95 Dazu Kraakman et al. (Fn. 66), passim. 96 Nußbaum (Fn. 94), 2 und zum Bankenstimmrecht 26 ff. 97 Nußbaum (Fn. 94), 2. 91

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es der Verwaltung gestattet, Fehlschläge zu verbergen.98 Modern mutet auch die Kritik an den Schutzargumenten der Abwehr von Eindringlingen und Überfremdung an, bei der er auch auf die volkswirtschaftlichen Vorteile der Auslese und der Kapitalallokation am Markt hinweist.99 Er tritt dafür ein, dass jeder Aktionär den Einfluss und die Rechte bekommt, welche dem „Verhältnis seines Besitzes zu dem gesamten Kapital, und zwar zu dem wirklich investierten Kapital der Gesellschaft“ entsprechen,100 und geißelt den „erbitterten Widerstand“ der Interessenten gegen eine Beschränkung oder gar Beseitigung des Mehrstimmrechts, was an die Reaktion auf die diesbezüglichen Vorschläge von Kommissar McCreevy erinnert.101 Nach Nußbaum geht es darum, das Vertrauen zur Aktie zu stärken und Schäden für die kleinen Aktiensparer zu verhindern.102

III. Arthur Nußbaums prophetischer Blick in die Zukunft 1. Internationales Bank- und Kapitalmarktrecht Dem internationalen Börsen- und Bankrecht widmete Nußbaum bereits 1912 eine erste Abhandlung.103 Damals ging es um das internationale Privatrecht der Banken und Börsen, ein Gebiet, das auch heute noch nicht ausgeschöpft ist und zu dem eine eigenständige Monographie immer noch fehlt.104 Das Bankaufsichtsrecht entstand, wie bereits erwähnt, erst viel später im 98 Nußbaum (Fn. 94), 2. Auch schon ders. Die Stillen Reserven der Aktiengesellschaften in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, LZ 21 (1927) 1334–1335 (Vortragsbericht). 99 Nußbaum (Fn. 94), 5. 100 Nußbaum (Fn. 94), 10, im Original gesperrt gedruckt; vgl. dazu heute High Level Group of Company Law Experts Report on Issues Related to Takeover Bids, European Commission, Brussels, 10 January 2002, sub 4.1: Response to a takeover bid, shareholder decision-making, proportionality between risk bearing capital and control. 101 Problemnachweise bei Hopt Obstacles to corporate restructuring: observations from a European and German perspective, in: Tison et al. (eds.) Perspectives in Company Law and Financial Regulation, Essays in Honour of Eddy Wymeersch, 2009, 373 at 392 et seq. 102 Nußbaum (Fn. 94), 9. 103 Nußbaum Internationales Börsen- und Bankrecht, 1 Jb.f.d. Internationalen Rechtsverkehr 1912, 210–223. 104 Vgl. aber Einsele Bank- und Kapitalmarktrecht, 2006, mit vielen internationalprivatrechtlichen Einschüben. Wichtige Einzeluntersuchungen z.B. von Kegel Die Bankgeschäfte im deutschen internationalen Privatrecht, FS Rudolf Schmidt 1966, 215; Lorenz Kollisionsrechtliche Betrachtungen zum Rembours beim Dokumentenakkreditiv, FS Steindorff 1990, 405; ders. NJW 1990, 607 (fehlerhafte Banküberweisung); Grundmann RabelsZ 54 (1990) 283 (Anlegerschutz); Vortmann WM 1993, 581 (Aufklärungs- und Beratungspflichten); Thorn IPRax 1996, 259 (Akkreditiv); Reuschle RabelsZ 68 (2004) 687 (Effektengiroverkehr) und viele andere mehr.

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Gefolge der Bankenkrise von 1931 und ist bekanntlich heute in der großen Finanzmarktkrise das schlechthin zentrale Thema geworden. Die Akzentverlagerung vom materiellen Bankrecht zum Bankaufsichtsrecht und innerhalb des letzteren vom nationalen zum europäischen und internationalen105 bedurfte erst weiterer leidvoller Erfahrungen. Dagegen nahm Nußbaum mit einer Abhandlung über US-amerikanische und ausländische Börsengesetzgebung von 1935106 in gewisser Weise vorweg, dass sich das amerikanische Kapitalmarktrecht zu einem Siegeszug nach Europa und in die Welt anschicken würde.107 Ähnlichkeiten zur heutigen Finanzkrise sind frappierend: „The breakdown of investment did not leave any capitalistic country untouched, and, right or wrong, the blame was cast upon the banking business and upon big capitalism in general.“108 Der Widerstand gegen übergreifende Regelungen erinnert an heute, zumal an den Widerstand gegen die Forderung nach einer europäischen Bankenaufsicht, nämlich gegründet in „selfish interests connected with the maintenance of such multiplicity, and constitutional difficulties“.109 2. Publizität In einem Aufsatz von 1932 geht es um die aktienrechtliche Publizität und ihre Durchsetzung.110 Nußbaum geißelt die Regelung durch die Notverordnung mangels Beschlussanfechtungsmöglichkeit mit Hachenburg als lex imperfecta. Den Abschlussprüfern traut er nicht viel zu. Um ihre Unabhängigkeit sei es nicht zum Besten bestellt, da sie faktisch von den Verwaltungen und den mit dem Depotstimmrecht ausgestatteten Banken bestellt würden. Die Verwaltung werde in einer Krise zu allem bereit sein in der Hoffnung, „bei Verschweigen der Tatsache noch über die Klippe hinwegzukommen und die Gesellschaft zu retten“.111 Wertvoll ist ein Geschäftsbericht aber nur, wenn er auch über die ungünstigen Daten Auskunft gibt. Bemerkenswert ist es, dass Nußbaum auch schon zwischen kapitalmarktorientierten und anderen Gesellschaften unterscheidet – ein Problemkreis, dem sich der 67. Deutsche Juristentag 2008 in Erfurt mit seiner Frage nach einem Börsengesellschaftsrecht gewidmet hat – und dass Nußbaum ganz klar sieht, 105 Dazu die Regelungsvorschläge der Europäischen Kommission vom 23.9.2009 und die Beschlüsse des Finanzgipfels der G 20 in Pittsburgh vom 24./25.9.2009. 106 Nußbaum American and Foreign Stock Exchange Legislation, 21 Va.L.Rev. 839– 875 (1935). 107 Dazu Hopt ZHR 140 (1976) 201 und ders. Comparative Company Law, in: Reimann/Zimmermann (eds.) The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 1161 at 1178 et seq. 108 Nußbaum (Fn. 106), 839. 109 Nußbaum (Fn. 106), 840. 110 Nußbaum Garantien aktienrechtlicher Publizität, JW 1932, 2583–2586. 111 Nußbaum (Fn. 110), 2584.

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dass mit Publizitätsvorschriften allein die Wurzel des Übels nicht getroffen werden kann.112 3. Außerrechtliche und außergerichtliche Regelungen Nußbaum hat sich Zeit seines Lebens auch mit der Rolle außerrechtlicher und außergerichtlicher Regelungen beschäftigt. Was die Selbstregelung durch die beteiligten Kreise angeht, ist er allerdings kritisch, hatte er doch von Anfang an das Eigeninteresse der Beteiligten an bestimmten Gestaltungen, die Einbürgerung von Klauseln, die zunächst als missbräuchlich galten und später sich doch allgemeiner durchsetzten, und die Versuche der Banken, durch möglichst gering gehaltene Selbstregelung Gesetzesreformen zu verhindern, zur Genüge beobachtet.113 Deswegen plädierte er auch für eine gesetzliche Aktienreform statt nur freiwilliger Maßnahmen.114 Die bis heute gemachten Erfahrungen mit Selbstregelung sind durchwachsen. Neben eindeutigen Fehlschlägen wie den Insiderhandels-Richtlinien stehen positivere Erfahrungen etwa mit dem Deutschen Corporate Governance Kodex, auch wenn letzterer zu kritischen Punkten, bei denen die Empfehlungen der Kodexkommission keine bzw. keine hinreichende Gefolgschaft in der Praxis gefunden hatten, etwa zur individuellen Offenlegung und zur Angemessenheit von Vorstandsbezügen, vom Gesetzgeber (im Ergebnis zu viel) nachgebessert werden musste. Die seit der Finanzkrise vordringende Abwertung der Selbstregelung ist so generell jedenfalls nicht gerechtfertigt. Es gilt jeweils die Vor- und Nachteile für die konkrete Regelungsproblematik gegeneinander abzuwägen.115 Dagegen ist Nußbaum schon sehr früh für die Schiedsgerichtsbarkeit, die nationale und internationale, eingetreten.116 In einer Denkschrift im Auftrag und unter Mitwirkung der Handelskammer zu Berlin hat er 1918 für eine Reform des Schiedsgerichtswesens plädiert.117 Von 1926 bis 1934 erschienen in den von ihm in Verbindung mit der American Arbitration Association herausgegebenen vier Bänden des Internationalen Jahrbuchs für Schiedsgerichtswesen in Zivil- und Handelssachen maßgebliche Beiträge zum anwendbaren Recht, zur materiell- oder prozessrechtlichen Natur der Schieds112

Nußbaum (Fn. 110), 2586. Oben bei Fn. 33, 34, 57–59, 92. 114 Nußbaum (Fn. 91), 22, 26, 27, und schon ders. Freiwillige oder gesetzliche Aktienreform, Magazin der Wirtschaft 2 (1926) 35–39. 115 Nachweise bei Hopt (Fn. 7), 1873, 1880 f. 116 Nußbaum Neuere Entwickelung und Ausbau des Schiedsgerichtswesens, ZZP 42 (1912) 254–306; ders. Schiedsgerichte als Mittel zur Entlastung der ordentlichen Gerichte, Recht und Wirtschaft 6 (1917) 67–70; ders. Der gegenwärtige Stand der Schiedsgerichtsfrage, ZHR 83 (1920) 275–291. 117 Nußbaum Die gesetzliche Neuordnung des Schiedsgerichtswesens, Denkschrift im Auftrage und unter Mitwirkung der Handelskammer zu Berlin, 1918. 113

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abrede, zum ordre public und zur Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche.118 Im ersten Band hat sich Nußbaum selbst mit den Problemen des internationalen Schiedsgerichtswesens auseinandergesetzt.119 Auch in seiner amerikanischen Zeit hat er sich mehrfach mit Schiedsproblemen, insbesondere mit den internationalen Abkommen über die Anerkennung von Schiedssprüchen, befasst. Nußbaum ist denn auch in der Columbia Law Review aus Anlass seines 80. Geburtstags zu Recht als der Pionier der internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit gewürdigt worden.120

IV. Schluss Arthur Nußbaum war einer der ganz großen deutschen, amerikanischen und internationalen Rechtsgelehrten mit einem methodisch innovativen Ansatz, einer profunden Sachkenntnis und einer sein ganzes Leben bis ins hohe Alter prägenden wissenschaftlichen Neugier, die weit über die Rechtswissenschaft hinaus reichte. Seine Beiträge zum Handels-, Bank-, Börsen- und Aktienrecht waren wegweisend und haben vieles von dem vorweg genommen, was heute diskutiert wird. Die Berliner Humboldt-Universität kann stolz sein, ihn zu den Ihrigen zählen zu können.

118 1926, 1928, 1931 und 1934; der 1. Band wurde 1928 ins Englische übersetzt: International Yearbook of Civil and Commercial Arbitration 1928. 119 Nußbaum Probleme des internationalen Schiedsgerichtswesens, Internat. Jb. für Schiedsgerichtswesen in Zivil- und Handelssachen 1 (1926) 7–37. 120 Domke Arthur Nussbaum (Fn. 8).

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Martin Wolff (1872–1953) Martin Wolff (1872–1953) Gerhard Dannemann

Martin Wolff (1872–1953) GERHARD DANNEMANN

I. II. III. IV. V. VI.

Biographie . . . . . . . . . . . Lehre . . . . . . . . . . . . . . Forschung . . . . . . . . . . . Schüler und Schülerinnen Persönliches . . . . . . . . . . Späte Würdigung . . . . . .

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Martin Wolff gehört zweifellos zu den bedeutendsten Rechtswissenschaftlern, die an der hiesigen Fakultät gewirkt haben.1 Die britische Dictionary of National Biography würdigt ihn als „[o]ne of the greatest jurists of his age, he influenced deeply a whole generation of pupils and colleagues.“2 Sein ein1 Neben der sehr gründlichen Monographie von Hansen Martin Wolff (1872–1953), 2009, die mir leider erst nach Abgabe des Manuskripts zugänglich war, ist folgende Literatur zu Martin Wolff zu nennen: Dannemann Martin Wolff (1872–1953), in: Beatson/ Zimmermann (Hrsg.) Jurists Uprooted, 2004, 441–461; ders. Rechtsvergleichung im Exil: Martin Wolff und das englische Recht, Humboldt-Universität zu Berlin, Reihe Öffentliche Vorlesungen, Heft 135 (2004); Dölle Martin Wolff gestorben, RabelsZ 18 (1953) 680–681; Hallstein ‚Martin Wolff †‘, JZ 1953, 580; Kleinheyer/Schröder (Hrsg.) Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten4, 1996, 520; Koffka Zum Gedächtnis von Martin Wolff, JR 1953, 419; Lewald ‚Martin Wolff zum Gedächtnis‘, NJW 1953, 1253; Lawson Martin Wolff, in: The Dictionary of National Biography 1951–1960, 1971, 1071 f.; Mann Martin Wolff (1872–1953), Journal du droit international 1953, III–VII; Medicus Martin Wolff (1872–1953): Ein Meister an Klarheit, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.) Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, 543–553; Neumann Obituary for Martin Wolff, The Times 28.7.1953; Raiser Martin Wolff 26.9.1872–20.7.1953, Archiv für die civilistische Praxis 172 (1972) 489–497; ders. Zum 80. Geburtstag Martin Wolffs, JZ 1952, 573; Rürup Schicksale und Karrieren: Gedenkbuch für von den Nationalsozialisten aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vertriebenen Forscherinnen und Forscher, 369–375 (Marguerite Wolff, geb. Jolowicz und Martin Wolff). An unveröffentlichten schriftlichen Quellen standen dem Verfasser zur Verfügung: Breunung/Walther Deutsche Rechtswissenschaft(ler) in der Emigration – Eine Bio-Bibliographie, Band I, Nr. 2. Die Autoren haben mir dankenswerterweise ihren umfangreichen Eintrag zu Martin Wolff (Stand November 1996) im Manuskript zur Verfügung gestellt; Memoiren von Francis Mann Chapter 5. Herrn David Mann danke ich dafür, dass er mir Auszüge aus diesem wichtigen Dokument hat zukommen lassen. Ich danke auch den studentischen Hilfskräften am Großbritannien-Zentrum und insbesondere Laura Benjamin für ihre Unterstützung in der Recherche und Beschaffung von Literatur. 2 Lawson (Fn. 1), 1072.

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zigartiges Talent zur Lehre ist legendär. In der Forschung hat er vor allem mit grundlegenden Lehrbüchern zum deutschen Sachenrecht und zum rechtsvergleichenden Internationalen Privatrecht über ein halbes Jahrhundert hinweg einen dominanten Einfluss ausgeübt. Er gilt nach den treffenden Worten von Medicus als „Meister an Klarheit“.3 Martin Wolff lehrte von 1901–1910 und ab 1921 an der Berliner juristischen Fakultät, bis er 1935 aus rassistischen Gründen aus seinem Amt entfernt wurde. 1938 emigrierte Wolff nach Oxford.

I. Biographie Martin Wolff stammt aus einer Berliner Kaufmannsfamilie. Er wurde am 26. September 1872 geboren. Seine Eltern, Wilhelm Wolff und Selma Wolff, geb. Ball,4 erzogen ihn im jüdischen Glauben. Er wuchs in Berlin auf und besuchte das zweisprachige Königlich-französische Gymnasium,5 das damals über die Hugenotten-Gemeinde hinaus vermehrt von Kindern von Diplomaten und Kaufleuten in Anspruch genommen wurde.6 Martin Wolff studierte von 1890 bis 1894 Rechtswissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin und verbrachte zwischendrin je ein Semester an den Universitäten Freiburg (SS 1891) und München (SS 1893).7 Wie Wolff später angab, prägten ihn als Lehrer vor allem Heinrich Brunner, Otto Gierke, Karl von Amira (München) und Alfred Pernice;8 seinem Schüler Ludwig Raiser zufolge nannte Wolff auch noch den Pandektisten Ernst Eck,9 den Wolff selbst als außergewöhnlich begabten Lehrer lobte.10 Die Erste Juristische Staatsprüfung legte Wolff im Mai 1894 mit „gut“ ab.11 Obwohl er das Referendariat direkt anschloss, erfolgte schon im November desselben Jahres seine magna cum laude bewertete Promotion 3

Medicus (Fn. 1). Hansen (Fn. 1), 6; Lawson (Fn. 1), Nr. 2. Siehe aber auch Breunung/Walther (Fn. 1), wonach Wolffs Mutter mit Vornamen Lehna hieß. 5 Breunung/Walther (Fn. 1), Nr. 3. 6 Http://www.fg-berlin.de/WebObjects/FranzGym.woa/wa/CMSshow/1064384, zuletzt besucht am 10.7.2009. 7 Hansen (Fn. 1), 7–12; Breunung/Walther (Fn. 1), Nr. 4. 8 Records of the Society for the Protection of Science and Learning, Bodleian Library, Oxford, Akte 276/4, 127; Raiser Martin Wolff (Fn. 1), 491. 9 Raiser Martin Wolff (Fn. 1), 491. 10 Die juristische Fakultät der Kgl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, in: Aus dem Berliner Rechtsleben. Festgabe zum XXVI. Deutschen Juristentage (1902), 113–129, 125. Wolffs Worte könnten ihm selbst auf den Leib geschrieben sein. Sie rühmen „den Meister, der es, wie wenige, verstand, durch die lichte Klarheit und lebendige Frische seiner Vorlesungen . . . in den Hörern die Liebe zur Rechtswissenschaft und das Verständnis für ihre Probleme zu wecken.“ 11 Breunung/Walther (Fn. 1), Nr. 4. 4

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mit dem pfandrechtlichen Thema „De beneficum excussionis realis“.12 Die Zweite Juristische Staatsprüfung absolvierte Wolff im Januar 1899 „mit Auszeichnung“, gut ein Jahr später (Mai 1900) habilitierte er als Schüler Otto Gierkes in Berlin mit einer Arbeit zu „Grenzüberbau und Inädifikation“, die unter dem Titel „Der Bau auf fremdem Boden“ im selben Jahr veröffentlicht wurde. In seinem Habilitationsvortrag befasste Wolff sich mit der „Neugestaltung des deutschen Urheberrechts“. Die Fakultät beurteilte die Habilitationsschrift einstimmig mit „gut“, und Wolff erhielt eine Venia Legendi für „Deutsches Bürgerliches Recht, deutsches Privatrecht, deutsche Rechtsgeschichte“. Bis Ende März 1903 lehrte Wolff als Privatdozent an der Berliner Universität. Zum 1. April 1903 wurde er „planmäßig beamteter außerordentlicher Professor“.13 Am 15.3.1906 heiratete Wolff in London die dort geborene Marguerite Jolowicz, Tochter des deutschstämmigen Seidenhändlers Hermann Jolowicz.14 Martin und Marguerite Wolff hatten zwei Kinder: Konrad Wolff, geboren 11.3.1907, und Viktor, geboren 10.4.1911. Die lange Wartezeit zwischen Wolffs Habilitation und seinem erstem Lehrstuhl war seinerzeit für bekennende Angehörige des jüdischen Glaubens nicht ungewöhnlich. Immerhin stand Wolff schon 1902 auf der ersten Stelle einer Berufungsliste für eine außerordentliche Professur an der Universität Freiburg. Der Hinweis in der Liste, dass Wolff „Israelit“ sei, mag seine Ernennung vereitelt haben.15 1914 wurde Wolff schließlich als Nachfolger von Ernst Heymann auf einen Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte, deutsches Privatrecht, Handelsrecht und Bürgerliches Recht an der Universität Marburg berufen.16 1918 erhielt Wolff zwei weitere Rufe. Er entschied sich gegen Göttingen und für den Lehrstuhl in Deutscher Rechtsgeschichte, deutsches Privatrecht, Bürgerliches Recht, Handelsrecht und Konkursrecht an der Universität Bonn.17 Ein Jahr später, 1919, wurde in Berlin der Lehrstuhl von Josef Kohler vakant. Die Fakultät wollte die Stelle zunächst mit einem prozessuale Profil besetzen, für das Wolff weniger in Frage kam, und stellte eine entsprechende Berufungsliste auf.18 Das preußische Wissenschaftsministerium intervenierte 12

Breunung/Walther (Fn. 1), Nr. 5, 8. Zum wissenschaftlichen Werdegang Wolffs bis 1906 Hansen (Fn. 1), 13–24. 13 Breunung/Walther (Fn. 1), Nr. 8. 14 Hermann Jolowicz wurde 1849 in Pleschen (in der Gegend von Posen) geboren, lernte in Lyon im Seidenhandel und emigrierte dann nach London: J.A. Jolowicz (Neffe von Marguarete Jolowicz) Interview, 6. Februar 2002, Brief vom 11. August 2002. Die Familien Wolff und Jolowicz waren seit langem freundschaftlich verbunden: Rürup (Fn. 1), 369. Siehe auch Hansen (Fn. 1), 24 f. 15 Breunung/Walther (Fn. 1), Nr. 10; Hansen (Fn. 1), 21. 16 Hansen (Fn. 1), 42 f. 17 Hansen (Fn. 1), 43-45. 18 Hierzu und im folgenden Hansen (Fn. 1), 50–59.

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und gab Wolff in einem Schreiben vom 29.12.1920 seine Absicht bekannt, ihn auf den Kohlerschen Lehrstuhl zu berufen. Wolff war dazu gerne bereit, die Fakultät auch, letztere aber unter der Bedingung, dass die deutsche Rechtsgeschichte von seinem Lehrauftrag ausgeschlossen blieb. So wurde Wolff noch im April 1921 ernannt und übernahm zum 1. Oktober 1921 seinen Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Internationales und ausländisches Privatrecht.19 Ein Jahr später übertrug man ihm das Dekanat für das akademische Jahr 1922/23.20 Als 1926 das Kaiser-Wilhelm-Institut (heute: Max-Planck-Institut) für ausländisches und internationales Privatrecht gegründet und Wolffs Fakultätskollege Ernst Rabel zum Direktor ernannt wurde, übernahm Wolff das Amt eines Wissenschaftlichen Beraters;21 auf seine dortigen Tätigkeit wird unten noch einzugehen sein. Wolff trat damit in gewisser Hinsicht in die Fußstapfen seiner Frau, die, obwohl sie keine formelle juristische Ausbildung besaß, 1925 zur „Gründungsmannschaft“ des KWI für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht berufen wurde, wo sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin, später als Referentin beschäftigt wurde und an der Schriftleitung der Institutszeitschrift mitwirkte.22 Wolff war auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Karriere, als die Nationalsozialisten die Macht ergriffen. Der gleichermaßen renommierte wie populäre Wolff war ein offensichtliches Ziel für Aktivisten der SA und des NS-Studentenbundes. Francis Mann, damals Assistent von Wolff, berichtet in seinen unveröffentlichten Memoiren, dass er mit einem Kollegen einen heimlichen Begleitschutz für Wolff organisierte. So wurde er Zeuge, wie Wolff in einer überfüllten Vorlesung zum Wechselrecht einen Zeitung lesenden Studenten in NS-Uniform aufforderte, den Hörsaal zugunsten einer der zahlreichen stehenden Personen zu verlassen.23 Am 4. April 1933 boykottierten NS-Aktivisten seine Vorlesung. Robert Krawielicki, damals ebenfalls Assistent, berichtete davon wie folgt: „Von der Mehrzahl der Hörer wurde er stürmisch begrüßt, die anderen lärmen und schreien. Auf der Tafel steht: Hört nicht bei Juden, boykottiert die Juden. Und als Wolff zum Schluß den Hörsaal verläßt, muß er durch eine Reihe von SA-Leuten Spießruten laufen, die ihm Pfuirufe ins Gesicht schreien, und ‚Juda verrecke‘ “.24 Für den folgenden Tag berichtete die Vossische Zeitung, dass Wolff seine Vorlesung abbrechen musste.25 Jedoch schritt der Rektor der Universität, 19

Breunung/Walther (Fn. 1), Nr. 8 mit ausführlichen Zitaten aus der Korrespondenz. Breunung/Walther (Fn. 1), Nr. 15. 21 Hierzu Hansen (Fn. 1), 64–69. 22 Rürup (Fn. 1), 371. 23 Unveröffentlichte Memoiren von F. Mann (Fn. 1), 24. 24 Brief Robert Krawielicki an Renate Fuchs, 4.4.1933. Ich danke Herrn Stefan Krawielicki, der mir eine Leseabschrift dieses Briefs zur Verfügung gestellt hat. 25 Zitiert nach Schottlaender Verfolgte Berliner Wissenschaft, 1988, 33. 20

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der Strafrechtler Eduard Kohlrausch, energisch gegen diese Übergriffe ein. Wolffs Lehrveranstaltungen wurden auch im Folgenden immer wieder unterbrochen,26 wie beispielsweise im Herbst 1933.27 Auch danach hielten die Studierenden ihm aber die Treue.28 Die nationalsozialistische Regierung, die zahlreiche von Wolffs Kollegen aus rassistischen und politischen Gründen aus den Ämtern hatte entfernen lassen, ließ den berühmten und zudem bekannt unpolitischen Wolff vergleichsweise in Ruhe. Dennoch war seine Situation an der Fakultät prekär geworden. Wie Wolff später selbst sagte, sei Kohlrausch der einzige an der Fakultät gewesen, der „aktiv zu meinen Gunsten tätig war“.29 Doch wird andererseits auch über Wolff anekdotisch berichtet, er habe vorgeschlagen, Assistenten jüdischer Herkunft zu kündigen.30 Der Anstoß zu Wolffs Entlassung kam nicht von der nationalsozialistischen Regierung, sondern von seiner eigenen Fakultät. Der im April 1935 ernannte, linientreue Dekan Gleispach unternahm beim Ministerium einen entsprechenden Vorstoß. Unter dem Vorwand einer Umstrukturierung der Fakultät wurde Wolffs Lehrstuhl durch einen in antiker Rechtsgeschichte ersetzt.31 Damit konnte Wolff rückwirkend zum 30. Juni 1935 von seinen amtlichen Verpflichtungen entbunden32 und im Dezember zwangsweise in den Ruhestand versetzt werden.33 Marguerite Wolff zog kurz darauf mit dem jüngeren Sohn Viktor, mittlerweile promovierter Jurist, nach London und arbeitete dort als freie Übersetzerin, später für die BBC und nach dem Krieg auch als Übersetzerin bei den Nürnberger Prozessen.34 Der ältere Sohn Konrad emigrierte schon 1933 26

Ausführliche Darstellung bei Hansen (Fn. 1), 102–109, 114. Göppinger Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich“, Entrechtung und Verfolgung2, 1990, 195; Schottlaender (Fn. 25), 65 (Bericht von Anselm Glücksmann). Die Berichte stimmen darin überein, dass bei diesen Gelegenheiten Studierende, die am Boykott nicht teilnehmen wollten, systematisch fotografiert und mit Konsequenzen bedroht wurden. 28 Neue Zürcher Zeitung, 9. Juli 1935. Ein Auszug mit diesem Datum befindet sich in den Records of the SPSL (Fn. 8) Akte 276/4, 130. 29 Brief von Wolff an Hans Peters vom 25.2.1947, zitiert nach Gräfin von Lösch Der nackte Geist, 1999, 132. Dabei war laut von Lösch (173) selbst das Verhalten von Kohlrausch bestenfalls ambivalent. 30 Laut von Lösch (Fn. 29), 152 soll Wolff diesen Vorschlag in einer Fakultätssitzung unterbreitet haben. Der bekannt lokalpatriotische Sachse Triepel soll daraufhin vorgeschlagen haben, allen Assistenten sächsischer Herkunft zu kündigen. Kohlrausch soll seiner Assistentin Lohre Ehrlich davon berichtet haben, diese wiederum ihrem Kollegen Werner Flume, der wiederum die Begebenheit von Lösch erzählt hat. 31 Hansen (Fn. 1), 124–127; von Lösch (Fn. 29), 362 f. 32 Erlaß des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 3. Juli.1935, Amtsblatt der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1935, 41, zitiert nach von Lösch (Fn. 29), 363. 33 Rürup (Fn. 1), 373. 34 Rürup (Fn. 1), 374. 27

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nach Paris und anschließend nach New York. Obwohl gleich doppelt promovierter Jurist,35 wechselte er das Fach und wurde als Schüler von Arthur Schnabel ein erfolgreicher Konzertpianist sowie Lehrer und Autor musikalischer Fachliteratur.36 Viktor ließ sich in London zum Barrister ausbilden und verfolgte, unterbrochen vom Dienst in der Royal Air Force, diesen Beruf bis zu seinem frühen Tod am 30.5.1944.37 Marguerite Wolff nutzte ihre Kontakte in London – ihr Bruder Herbert F. Jolowicz war seinerzeit Professor an der juristischen Fakultät von University College London – sowie die Dienste der 1933 gegründeten Society for the Protection of Science and Learning, um Martin Wolff eine Stelle in England zu verschaffen.38 Warum es trotz Wolffs herausragenden, auch für die englische Wissenschaft und Lehre direkt verwendbaren Qualifikationen im internationalen und vergleichenden Handelsrecht mehr als drei Jahre benötigte, um für ihn eine Stelle zu finden, ist an anderer Stelle ausführlicher behandelt worden.39 Vor allem sprachen drei Gründe gegen Wolff: sein fortgeschrittenes Alter, sein für den Lehrbetrieb eher schwaches gesprochenes Englisch40 sowie ein bei der SPLS vorherrschender Eindruck, dass er über seine Pension, seine Frau und Schwägerschaft ein wirtschaftliches Auskommen habe sowie sich mit den Machthabern in Berlin gut arrangiert und wenig zu befürchten habe.41 Im Dezember 1936 hielt er einen – wohl von Herbert F. Jolowicz vermittelten – Vortrag am University College London über „The Choice of Law by the Parties in an International Contract“. Etwa ein Jahr später lud All Souls College, Oxford, ihn zu einem Vortrag ein, den er im Februar 1938 an der juristischen Fakultät der Universität Oxford zum Thema „The Nature of Legal Persons“ hielt.42 Der Vortrag war ein großer 35 Konrad Wolff promovierte 1930 an der Berliner Universität sowie 1935 an der Sorbonne: Gillen (Hrsg.) The Writings and Letters of Konrad Wolff, 2000, xxii. 36 Konrad Wolff, Pianist And Author, Dies at 82, New York Times, 26.10.1989, http:// www.nytimes.com/1989/10/26/obituaries/konrad-wolff-pianist-and-author-dies-at-82. html, zuletzt besucht am 13.7.2009. 37 Wolff erwähnt den Tod seines Sohns im Vorwort zur ersten Auflage seines Private International Law, 1949, v. 38 Die SPLS wurde 1933 unter dem Namen Academic Assistance Council gegründet und konnte zahlreichen verfolgten Wissenschaftlern eine Lebensgrundlage in Großbritannien vermitteln. Die Archive der SPLS befinden sich in der Bodleian Library, Oxford. Die Akte für Martin Wolff trägt die Nummer 276/4. 39 Dannemann (Fn. 1). 40 Wolff machte gegenüber der SPSL die Angabe “Speaking Knowledge: German, French and a little English”, während seine Frau sich weitaus positiver zu seinem gesprochenen Englisch äußerte: Records of the SPSL (Fn. 8), Akte 276/4, 127. 41 Records of the SPSL, Akte 176/4, 154, 3.2.1936, Notiz: “[Fritz]Demuth says Wolff spoke against the Jews two years before the Revolution – he is completely discredited in Germany and outside among the refugees.” AaO 156, 3.12.1936, anläßlich eines Besuchs von Wolff in London: “obtained permission from German authorities quite easily; some official still favourable to him”. 42 Oxford University Gazette 19. Januar 1938, 373.

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Erfolg. Er wurde im angesehenen Law Quarterly Review veröffentlicht.43 Und All Souls College entschied sich im Frühjahr 1938, Wolff ein Forschungsstipendium und ein eigenes Büro anzubieten.44 Es gelang Wolff, wie auch den anderen betroffenen Fakultätskollegen,45 sich diesen Wechsel von den deutschen Behörden genehmigen zu lassen und damit die Weiterzahlung seiner Pension auf ein deutsches Sperrkonto zu sichern.46 Wolff trat sein Forschungsstipendium in Oxford im September 1938 an,47 in etwa zu seinem 66. Geburtstag. Die fünfzehn verbleibenden Jahre seines Lebens sollte dieses Arrangement mit All Souls fortdauern. In mancher Hinsicht sah es so aus, als ob er das große Los gezogen hätte. All Souls war damals und ist noch heute eines der schönsten, reichsten und berühmtesten von den Colleges, die zusammen die Universität Oxford ausmachen. Es hat keine Studenten, nur Wissenschaftler in seinen Reihen. Dennoch war in mancher Hinsicht Wolffs Zeit in Oxford alles andere als einfach. Zunächst ist eine gewisse Feindseligkeit oder zumindest großes Misstrauen zu erwähnen, welches damals viele Briten nicht nur gegenüber deutschen Emigranten hegten, sondern gegenüber allem Ausländischen.48 Auch finanziell ging es vielen Emigranten nicht gut. Vor 1933 war Wolff der bestverdienende Lehrer seiner Fakultät gewesen.49 Jetzt lebte er von einem bescheidenen Stipendium.50 In der vorlesungsfreien Zeit wohnte er 43

Wolff On the Nature of Legal Persons, 54 Law Quarterly Review (1938) 494–521. W.G.S. Adams, Warden of All Souls College, teilt W.A. Adams von der SPSL diese Nachricht mit Brief vom 1. August 1938 mit, ohne allerdings ein Datum für die Entscheidung des Colleges anzugeben, Records of the SPSL (Fn. 8), Akte 276/4, 158. Die Entscheidung scheint sich im März 1938 abgezeichnet zu haben, als Adams eine Förderung von Grünhut mit der Begründung ablehnte, das Stipendium sei für Wolff reserviert: Hood Hermann Mannheim (1889–1974) and Max Grünhut (1893–1964), in: Beatson/Zimmermann (Hrsg.) (Fn. 1), 709–738, 721. Wahrscheinlich hatte der Governing Body von All Souls seine letzte Sitzung vor der Sommerpause gegen Ende von Trinity Term 1938, also etwa Mitte Juni. Das passt zeitlich auch zu Wolffs Antrag vom 15. Juni 1938, die Verlegung seines Wohnsitzes nach England zu genehmigen, siehe von Lösch (Fn. 29), 365. 45 Hansen (Fn. 1), 136. 46 Von Lösch (Fn. 29), 364 f.; Breunung/Walther (Fn. 1), Nr. 21. Die Pension wurde auf ein Konto gezahlt, das von einem Treuhänder (Wolffs Schüler Robert Krawielicki) verwaltet wurde, und konnte nicht ins Ausland transferiert werden. Zwar wurde Wolffs Vermögen 1940 von der Gestapo beschlagnahmt, die Pension aber dennoch bis zum 19. Januar 1942 weiter ausgezahlt. Sie wurde zu diesem Zeitpunkt aus dem Grund eingestellt, dass Wolff aufgrund der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 seine deutsche Staatsangehörigkeit verloren hatte, siehe von Lösch (366) und Breunung/Walther (Nr. 20). 47 Breunung/Walther (Fn. 1), Nr. 21. 48 Kerr As Far As I Remember, 2002, 134. Michael Kerr, Sohn des bekannten Schriftstellers Alfred Kerr, kam 1936 nach Großbritannien, etwa um seinen 15. Geburtstag, aaO 92. Ähnlich auch J.A. Jolowicz (Fn. 14). 49 Von Lösch (Fn. 29), 106. 50 Nicht gesichert ist die Behauptung, sein Stipendium habe „zu wenig mehr als zum Überleben“ gereicht (Rürup [Fn. 1], 374). Laut F. Manns unveröffentlichten Memoiren 44

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zwar einigermaßen komfortabel in London mit seiner Frau und seinem Sohn Viktor im Dachgeschoss des Hauses seiner Schwiegereltern. Ansonsten lebte er aber alleine in Oxford in gelegentlich wechselnden, stets sehr bescheidenen Wohnungen, war dort anfangs vergleichsweise isoliert und lebte wohl ganz für seine Arbeit.51 Ein begnadeter und leidenschaftlicher Lehrer wie Wolff musste den Verlust der Lehre als schmerzlich empfinden. Auch der soziale Abstieg vom Berliner Professor zum Oxforder Stipendiaten war deutlich. Wolff wurde nie Mitglied der Oxforder juristischen Fakultät oder von All Souls College;52 noch heute wäre das ein Stigma für einen Wissenschaftler in Oxford. Doch Wolff hat sich, soweit ersichtlich, nie im Geringsten über seine Lebensverhältnisse oder Gastgeber beschwert, insbesondere auch nicht gegenüber Familienangehörigen wie seinem Neffen Tony Jolowicz, inzwischen selbst emeritierter Professor für Rechtsvergleichung in Cambridge.53

II. Lehre Aus dem Kreis der anderen in dieser Festschrift einzeln gewürdigten Rechtswissenschaftler hebt sich Martin Wolff durch seine besonderen Verdienste um die Lehre hervor. So schrieb Rudolf Smend: „Die Lehrerpersönlichkeit von einzigartiger Leuchtkraft in der Fakultät . . . war Martin Wolff (. . .). Das Urteil ist wohl richtig, daß seit Vangerow kein deutscher Jurist einen solchen Lehrerfolg gehabt hat, die Leipziger „großen Vier“, Windscheid, Sohm, Wach, Binding eingerechnet.“54 Es gibt mehr begeisterte Beschreibungen von Wolffs Vorlesungen, als man hier wörtlich zitieren (Fn. 1), 42, erhielt Wolff £300 jährlich. Das wäre derselbe Betrag gewesen, den sein Oxforder Kollege J.C. Morris als Lecturer in Private International Law bezog: Oxford University Gazette 22 February 1939, 444. Allerdings ist auch die von Mann genannte Zahl nicht verifiziert, und er geht irrtümlich davon aus, dass dieses Stipendium von Clarendon Press gezahlt wurde. 51 J.A. Jolowicz (Fn. 14). 52 Nicht gesichert ist die Behauptung, Wolff habe „nie irgendeinen anderen Status im College“ erhalten (Rürup [Fn. 1], 374). Wolff war möglicherweise Member of the Senior Common Room (SCR) an All Souls. Dazu Dannemann (Fn. 1), 444 Fn. 23; nachzutragen ist das Zeugnis von Nicholas German Refugees in Oxford-Some Personal Recollections, in: Beatson/Zimmermann (Hrsg.) (Fn. 1), 743–747, 745, wonach Wolff im College hätte essen können, aber aus gesundheitlichen Gründen davon Abstand nahm. Hansen (Fn. 1), 140 Fn. 20 erhielt von All Souls die Auskunft, Wolff sei Mitglied des SCR gewesen, während Verf. zuvor auf Anfrage erfahren hatte, dass man mangels Aufzeichnungen das nicht mehr feststellen könne. 53 J.A. Jolowicz (Fn. 14). 54 Smend Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert, in: Leussing/Neumann/Kotowski (Hrsg.) Studium Berolinense, 1960, 118. Der Vergleich mit Vangerow stammt von Lewald (Fn. 1), 1253.

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könnte.55 Kurt Lipstein schrieb dem Verfasser: „Die grosse Sachenrechtsvorlesung im Auditorium Maximum . . . war ein Erlebnis – etwa tausend Hörer, alle mäuschenstill, während der kleine Mann mit der dünnen Stimme die Aufmerksamkeit von allen hatte“.56 Hans Lewald führte aus: „Es war ein seltenes Fluidum, das von ihm ausging: die wunderbare Prägnanz seiner Formulierungen, der streng logische Aufbau seiner Ausführungen, alles dies verlieh dem Wolffschen Kolleg eine höchstpersönliche Note, deren Einfluß sich der Hörer nicht entziehen konnte“.57 Francis Mann ergänzte: „He did this, not by cheap jokes or by superficial elegance of presentation, but because both his written and his spoken word bore the hall-mark of absolute authenticity. He knew above all how to initiate the student in the method of approach to legal problems.“58 Else Koffka rühmte in ihrer Beschreibung vor allem Wolffs prägnante Sätze: „So begann er etwa eine Vorlesung über das ‚Internationale Privatrecht‘ mit den Worten ‚Das Internationale Privatrecht ist weder international noch ein Privatrecht‘, um dann anschließend die wahre Natur dieses Rechtsgebietes als eines nationalen Kollisionsrechts zu erläutern. Oder er leitete seine Ausführungen über das Fundrecht des BGB mit den Worten ein, die Überschrift über diesen Fundvorschriften sollte lauten: ‚Finde nie‘.“59 Selbst die Tagespresse berichtete über den phänomenalen Zuspruch seiner Lehrveranstaltungen.60 Noch zwölf Jahre nach der letzten Vorlesung in Berlin rühmte der Tagesspiegel Wolffs einzigartige Lehrbegabung wie folgt: „Zusammenhänge ganz unübersichtlicher Natur, denen der Student nur durch qualvolles Auswendiglernen beikommen zu können vermeinte, erhielten durch Wolff eine kausale Transparenz, die zugleich etwas ästhetisch Befriedigendes hatte. Immer war er bemüht, verständlich zu sein. Nach jeder Vorlesung forderte er die Studenten auf, ungeniert Fragen zu stellen. Oft verließ er das Katheder, ging durch die Bankreihen zu dem Fragesteller und sprach so lange und intensiv auf ihn ein, bis jener begriffen hatte.“61 Der Verfasser ist bei seinen Recherchen auch auf großformatige Fotografien von Otto Salomon aus Wolffs Vorlesung gestoßen, die offenbar in einer Illustrierten erschienen sind – eines davon mit der treffenden Unter55 Weitere Beschreibungen findet man bei Schottlaender (Fn. 25), 64 f.; Hallstein (Fn. 1), 580; Raiser Zum 80. Geburtstag (Fn. 1), 573; ders. Martin Wolff (Fn. 1), 490 f.; Dölle (Fn. 1), 690; Lawson (Fn. 1), 1072; Vossische Zeitung 18.2.1933, Nr. 84 S. 5 sowie bei Hansen (Fn. 1), 69–73. Dort wird auch Flume (71) mit der Behauptung zitiert, Wolff habe „im Sachenrecht sein Lehrbuch im Diktatstil“ exakt wiedergegeben; interessant sei lediglich sein ständiges Extemporieren gewesen. 56 Lipstein Brief an den Verfasser, 4. Juni 2003. 57 Lewald (Fn. 1), 1253. 58 Mann (Fn. 1), III. 59 Koffka (Fn. 1), 419. 60 Vossische Zeitung 18.2.1933, Nr. 84 S. 5. 61 Tagesspiegel vom 10.4.1947, „Das Portrait“. Ich danke Ernst K. Pakuscher, Präsident des Bundespatentgerichts a.D., für die freundliche Übersendung dieses Artikels.

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schrift „Das überfüllte Auditorium Maximum: selbst der Kasten des Projektionsapparats muß als Sitzplatz dienen“.62 Selbst in der mündlichen Prüfung glänzte Wolff durch seine Methoden.63 Man gewinnt aus diesen Beschreibungen den Eindruck, dass es Wolff in der Vorlesung gelang, die wissenschaftliche Faszination in der Erschließung komplexer Rechtsfragen zu verbinden mit dem Gefühl der sicheren Stoffbeherrschung, die Repetitoren vermitteln wollen. Zudem verkörperte Wolff das Humboldtsche Ideal der Einheit von Forschung und Lehre. Seine Vorlesungen konnten auf die systematischen, in sich geschlossenen und widerspruchsfreien Darstellungen ganzer Rechtsgebiete zurückgreifen, die seine Lehrbücher erschlossen hatten.64 Letztlich wird aber der besondere Zauber von Wolffs Vorlesungen ein Geheimnis bewahren. Francis Mann, dessen Beschreibung oben auszugsweise zitiert wurde, schreibt in seinen unveröffentlichten Memoiren: „For a life-time I have asked myself: how did he do it?“.65 Sicherlich gab das damalige System der Hörergelder auch finanzielle Anreize für gute Lehre, die Wolff zum bestverdienenden Mitglied der Juristischen Fakultät machten.66 Für Wolff war aber das Unterrichten eine Leidenschaft. Jedenfalls hat er nach dem übereinstimmenden Bericht von zwei Schülern nie eine Vorlesungsstunde ausfallen lassen.67 Als Lehrstuhlinhaber an der Fakultät begann Wolff im akademischen Jahr 1921–22 mit einem Lehrprogramm, das ihn auch über die kommenden Jahre an der Fakultät beschäftigen sollte. Im Wintersemester 1921/22 hielt er Vorlesungen zum Schuldrecht, Besonderer Teil, und Sachenrecht (inklusive Agrarrecht) und bot im folgenden Sommersemester Bürgerliches Recht für Juristen und Nationalökonomen, Handels- und Schifffahrtsrecht, Bürgerliches Recht für Vorgerückte, Einführung ins französische Zivilrecht sowie den Kauf nach den wichtigsten europäischen Privatrechten an.68 Zum Wintersemester 1924/25 hielt Wolff erstmals eine Vorlesung zum Internationalen 62 Leider können diese Bilder nicht einer bestimmten Publikation oder Datum zugeordnet werden. Der Fotograf Otto Salomon (1913–2006) studierte 1931–1933 Rechtswissenschaften in Berlin, musste ebenfalls emigrieren und nahm später den Namen „Peter Hunter“ an: http://www.nederlandsfotomuseum.nl/component/option,com_nfm_creator/ sub,detail/Itemid,161/detail,50/lang,en/, zuletzt besucht am 14.7.2009. 63 Einer seiner Mitprüfer, Kammergerichtsrat Ernst Pakuscher, berichtete nach jeder gemeinsamen Prüfung mit Wolff zuhause bewundernd von Wolffs Prüfungsmethode und Persönlichkeit: Brief des Sohns Ernst K. Pakuscher (Präsident des Bundespatentgerichts a.D.) an den Verfasser, 7.7.2003. Siehe auch unten bei Fn. 122 für eine Prüfungsanekdote. 64 Die umgekehrte Reihenfolge ist für Internationales Privatrecht zu verzeichnen, das Wolff erstmals im Wintersemester 1924/25 las (s.u.); die erste Auflage seines Lehrbuchs erschien 1933. 65 F. Mann unveröffentlichte Memoiren (Fn. 1), chapter 5, S. 23. 66 Von Lösch (Fn. 29), 106. 67 Hallstein (Fn. 1), 580; Raiser Martin Wolff (Fn. 1), 490. 68 Ausweislich der Vorlesungsverzeichnisses vom WS 1921/22 und SS 1922.

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Privatrecht69 und wechselte sich in den nachfolgenden Jahren für diese Vorlesung mit Arthur Nussbaum ab. Auch Familienrecht, Wechsel- und Scheckrecht und Privatversicherungsrecht gehörten zu Wolffs Repertoire.70 Wolffs Leidenschaft für die Lehre ist in Verbindung zu setzen mit seinem besonderen Interesse für die Juristenausbildung, die auch in seinem wissenschaftlichen Werk einen Niederschlag gefunden hat.71 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Korrespondenz im Rahmen seiner Berufung nach Berlin. Dort legt Wolff sein besonderes Interesse an einer Juristenausbildung dar, die stärker an der anwaltlichen und wirtschaftlichen Praxis orientiert ist. Juristen, so Wolff, würden ausgebildet „als wären fehlerhafte Waren das Haupthandelsobjekt, unerkennbar Geisteskranke und nichtige Gesellschaften die wichtigsten Träger von Handel und Verkehr“.72 Daran hat sich bis heute wohl weniger geändert, als Wolff lieb gewesen sein dürfte. In Oxford hat Wolff nach seinem erwähnten Vortrag im Februar 1938 keine einzige Vorlesung mehr gehalten, wenngleich er an Seminaren mitgewirkt, vermutlich auch in Tutorials unterrichtet und eine Vielzahl von Studierenden und Wissenschaftlern beraten hat.73 Francis Mann beklagt den Umstand, dass Wolff in Oxford keine Vorlesungen hielt, mit großer Verbitterung als eine ewige Schande für die Universität Oxford.74 Vielleicht hat Oxford tatsächlich Wolff vernachlässigt. Vielleicht hat er sich aber auch anfangs in der englischen Sprache nicht sicher genug gefühlt. Vielleicht fühlte er sich durch sein Stipendium verpflichtet, seine ganze Arbeitskraft der Forschung zu widmen. Und Mann wusste wohl auch nicht, dass Wolffs deutsche Rente von der Bedingung abhing, dass er im Ausland nicht lehrte.75

III. Forschung Auch als Forscher genoss Martin Wolff einen Ruf, der weit über seine Universität und Deutschland hinaus hallte. Sein Cambridger Kollege Harold Gutteridge schrieb 1935 in einem vertraulichen Gutachten: 69

Vorlesungsverzeichnis WS 1924/25; nicht ganz richtig also die Erinnerung von Raiser Martin Wolff (Fn. 1), 495, wonach Wolff diese Vorlesung erstmals 1928 gehalten haben soll, ihn zitierend Hansen (Fn. 1), 119; Medicus (Fn. 1), 551. Zuletzt hatte in Berlin Kaufmann im Wintersemester 1921/22 IPR gelesen. 70 Vorlesungsverzeichnis WS 1926/27. 71 Daude/Wolff Die Ordnung des Rechtsstudiums und der ersten juristischen Prüfung in den Deutschen Bundesstaaten, 1903. 72 Brief von Wolff an das preußische Ministerium vom 2.1.1921, zitiert nach Breunung/ Walther (Fn. 1), Nr. 8. 73 Dannemann Martin Wolff (Fn. 1), 458. 74 F. Mann unveröffentlichte Memoiren (Fn. 1), 42. 75 Von Lösch (Fn. 29), 365; Breunung/Walther (Fn. 1), Nr. 21. Siehe auch Fn. 46.

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„His reputation stands very high: he was in the front rank of German academic lawyers & was considered by many to be the foremost of them all. I have before me, at the time of writing, the list you sent me of displaced German jurists. His name does not figure on it but he has higher claims than any of them.“76

Martin Wolff hat ein in jeder Hinsicht umfangreiches wissenschaftliches Werk hinterlassen. Thematisch spannt es sich von Rechtsgeschichte und allgemeinem Zivilrecht über Handels- und Wirtschaftsrecht (einschließlich Gesellschaftsrecht, Versicherungsrecht, Urheberrecht und Bankenrecht), Familienrecht, Rechtsvergleichung, ausländischem Recht (französischem, englischem und italienischem) und Internationales Privatrecht, mit gelegentlichen Ausflügen in andere Rechtsgebiete wie Erbrecht, Zwangsvollstreckungsrecht und sogar Verfassungsrecht.77 Ähnlich vielfältig sind die Publikationsformen: Lehrbücher, Monographien, Aufsätze, Rezensionen, Urteilsanmerkungen, Wörterbücher, Mitherausgeberschaft von Zeitschriften, Reihen und Serien, aber auch Gerichtsgutachten sind zu nennen. Sogar eine Art Vorgänger zu der vorliegenden Festschrift, „Die juristische Fakultät der Kgl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin“, stammt aus seiner Feder.78 Martin Wolff hat selbst in drei Sprachen geschrieben (deutsch, englisch und französisch) und auch häufig italienische Bücher rezensiert; zwei seiner eigenen Bücher sind darüber hinaus in spanischer Übersetzung erschienen. Die jüngst erschienene Monographie von Thomas Hansen enthält eine umfassende Würdigung des wissenschaftlichen Gesamtwerks von Martin Wolff; eine weitere, kurzgefasste stammt von Dieter Medicus.79 Sie erlauben es, vorliegend Schwerpunkte zu setzen. Denn lässt man das wissenschaftliche Wirken von Martin Wolff Revue passieren, sind eine Publikationsform (Lehrbuch), zwei Sprachen (deutsch und englisch) und zwei Sachgebiete (Sachenrecht und Internationales Privatrecht) besonders hervorzuheben, wenn auch seine Autorität auf den Gebieten des Handelsrechts, Familienrechts und der Rechtsvergleichung ebenfalls gewürdigt wird. In welchem dieser Gebiete Wolff am nachhaltigsten gewirkt haben soll, hängt vom Auge des Betrachters ab. Die deutsche Literatur sieht in Wolff 76

Records of the SPLS (Fn. 8), Akte 276/4, 134. Die erwähnte Liste dürfte identisch mit derjenigen sein, die sich in den Akten für die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland (119/2) auf S. 310 befindet. 77 Ein von Gisela von der Trenck besorgtes Schriftenverzeichnis von Martin Wolff findet man in der Festschrift zu seinem 80. Geburtstag, hrsg. von von Caemmerer/Hallstein/Mann/Raiser, 1952, 401–413 sowie bei Hansen (Fn. 1), 317–331, der die letzten Publikationen von Wolff nachgetragen hat. 78 Wolff Aus dem Berliner Rechtsleben. Festgabe zum XXVI. Deutschen Juristentage, ueberreicht vom Ortsausschusse, 1902, 113–129. Wolff weist in diesem Artikel (129) auf die geplante (und tatsächlich 1910 erschienene) Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der Fakultät hin. 79 Hansen (Fn. 1); Medicus (Fn. 1).

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vor allem den Autor eines Lehrbuchs zum Sachenrecht, das über ein halbes Jahrhundert lang Wissenschaft und Praxis gleichermaßen dominiert hat, nämlich Band 2 (später Band 3) des von Ludwig Enneccerus, Theodor Kipp und Martin Wolff herausgegebenen „Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts“, der in 1. Auflage 1910, in der 9. Auflage 1932 und posthum in einer von Ludwig Raiser mitbesorgten 10. Auflage 1957 erschien. Die besonderen Verdienste von Wolffs „Sachenrecht“ hat schon Walter Hallstein in seinem Nachruf treffend zusammengefasst: „Es ist ein klassisches Buch der Rechtswissenschaft seiner Zeit, von vornherein von beinahe kanonischer Geltung für die Lehre, auf die Praxis von steigendem Einfluß. Die Eleganz des Stils hat schwerlich ein Beispiel; ihr Geheimnis sind die Einfachheit, die der Aussage etwas vom künstlerischen Zwang der Notwendigkeit gibt, die rechte Proportion zwischen Aufwand und Ertrag des Ausdrucks, der Verzicht auf das „Literarische“, d.h. auf das Spiel mit dem Ausdruck. Die inhaltliche Struktur des Werkes wird nicht so sehr bestimmt durch eine ins Große gehende systematische Leistung . . . als vielmehr durch die methodische Strenge, Schärfe und Sauberkeit, die eine bis ins letzte Detail widerspruchsfreie und unzweideutige Darstellung des Stoffes gewährleisten.“80

Die geschilderten Stärken des Buchs spiegeln Wolffs Talent als Lehrer wieder. Sie erklären auch, warum dieses Buch eine so gleichermaßen hohe Anerkennung in Wissenschaft wie Praxis erhalten hat. Der ebenfalls nach England emigrierte deutsche Jurist Ernst Cohn schrieb dazu: „Today the handbook by Enneccerus-Kipp-Wolff is the one great remaining contribution of academic theory to the standard library of the practitioner in this field.“81 Zur Würdigung des Buchs hilft vielleicht ein rechtsvergleichender Blick. Das deutsche Schuldrecht und insbesondere Vertragsrecht wird letztlich oft davon bestimmt, was Gerichte für mit Treu und Glauben vereinbar halten, während im Sachenrecht der strenge numerus clausus und das starke Bedürfnis nach Rechtssicherheit dominieren und für Billigkeitserwägungen kaum Raum lassen. Das folgt nicht zwingend aus der unterschiedlichen Natur von Schuld- und Sachenrecht, denn im englischen Recht ist die Tendenz genau umgekehrt.82 Die Anlagen für diese bemerkenswerte Überkreuzung sind sicherlich älter als das BGB. Doch hätte die deutsche Entwicklung möglicherweise eine andere Richtung genommen, wenn nicht gerade Martin Wolff mit seinem Ordnungssinn und seiner Abneigung gegen alles Wolkige 80 Hallstein (Fn. 1), 581, zustimmend Medicus (Fn. 1), 548. Zur Kritik von Raiser Martin Wolff (Fn. 1), 492 f. siehe unten. 81 Cohn German Legal Science Today, 2 International and Comparative Law Quarterly (1953) 169–191, 186. Siehe auch Lorenz Ernst J. Cohn (1904–1976), in: Beatson/Zimmermann (Hrsg.) (Fn. 1), 325–344. 82 Dannemann The German Law of Unjustified Enrichment and Restitution, 2009, 127 f.

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das Sachenrecht des BGB so sauber analysiert und dargestellt hätte, dass – mit namentlicher Ausnahme der Sicherungsübereignung – die erforderliche Rechtsentwicklung sich im Sachenrecht deutlich stärker am Gesetz orientierte als die im Schuldrecht. Doch war Wolffs Sachenrecht weit davon entfernt, das neue Recht positivistisch anzuwenden. Hansen hat detailliert nachgewiesen, wie Wolff Spielräume im Sachenrecht für eine an Verkehrsinteressen, wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit und Privatautonomie orientierte Rechtsentwicklung genutzt hat.83 Gelegentlich konnte das Reichsgericht auch strenger sein als Wolff. So hat es in seiner berühmten Entscheidung zum von Wolff propagierten Nebenbesitz diesen nicht für einen gutgläubigen Erwerb nach § 934 BGB ausreichen lassen und darüber hinaus Wolffs Gutachten (sowie Lehrbuch) dafür kritisiert, dass er mit der Analogie zu einem Gesamtgläubigerverhältnis „in die sachenrechtliche Erörterung unzulässigerweise schuldrechtliche Gesichtspunkte hinein“getragen habe.84 So musste sich selbst der „Meister an Klarheit“ einmal eine Abfuhr einhandeln. Im Ausland ist Wolff vor allem als Autor des im Oxforder Exil verfassten Private International Law bekannt, das 1945 in der ersten und 1950 in der zweiten Auflage erschien. Auch die Bedeutung dieses Buchs ist an anderer Stelle ausführlicher gewürdigt worden.85 Was es so einzigartig machte, war seine Suche nach Prinzipien in einem Rechtsgebiet, in dem der führende englische Kommentar keine weiteren Ambitionen hatte, als vorhandenes Fallrecht in einem systematischen Zusammenhang zu präsentieren.86 Besonders gelobt wurde, dass das Buch englischen Autoren und Gerichten mit unerreichter Autorität87 den Erfahrungsschatz kontinentaleuropäischer Rechtssysteme erschloss.88 Halb bewundernd, halb konsterniert stellten Rezensenten in England fest, dass Wolff sogar Probleme erörterte, die englische Gerichte noch nie beschäftigt hatten.89 Eine Rezension listet etwa 83

Hansen (Fn. 1), 164–234; siehe auch Medicus (Fn. 1), 552. RG 5.2.1932, RGZ 135, 75, 84. 85 Dannemann (Fn. 1). 86 H.C.G. [Harold Cooke Gutteridge] Besprechung von Martin Wolff, Private International Law, 1945, 9 Cambridge Law Journal (1945) –270, 269: “‘digest of systematic arrangement’ of rules derived from decisions by English courts”. Das Zitat im Zitat bezieht sich auf Diceys eigene Zielbeschreibung für sein führendes Lehrbuch zum Conflict of Laws. 87 Carter Besprechung von Martin Wolff, Private International Law2, 1950, 4 International Law Quarterly (1951) 135–140, 135 f.; Lipstein Besprechung von Martin Wolff, Private International Law, 1945, 22 British Year Book of International Law (1946) 327–332, 327 f. 88 Morris Besprechung von Martin Wolff, Private International Law, 1945, 62 Law Quarterly Review (1946) 88–92, 88. 89 Unger Besprechung von Martin Wolff, Private International Law2, 1950, 15 Modern Law Review (1952) 120–123, 120; Morris Besprechung von Martin Wolff, Private International Law2, 1950, 68 Law Quarterly Review (1952) 125–128, 128: “The great merit of Dr. 84

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zwanzig solcher Probleme auf, darunter so fundamentale wie die Fragen nach dem Recht, welches die persönlichen Rechtsverhältnisse zwischen Eheleuten beherrscht, oder Rechte und Pflichten von Eltern gegenüber ihren Kindern, die Aufrechnung mit einer Gegenforderung oder das Verhältnis zwischen Beweislast und materiellem Recht.90 Alles das konnte man bei Wolff nachlesen – und sonst wohl in keinem anderen Lehrbuch zum englischen Internationalen Privatrecht. Kontinentale Größen des Internationalen Privatrechts wie Batiffol, Lewald und Kegel bewunderten das Buch für seine wohl bis heute unerreichte Brückenfunktion zum common law.91 Ein Teil dieses Ruhms gebührt zweifellos Marguerite Wolff, „whose skill in rendering the author’s thoughts into precise, technical but eminently readable language is a triumphant success”, wie John Morris kommentierte.92 Besonders aufschlussreich für Rechtsvergleicher ist zudem die direkte Gegenüberstellung von Private International Law mit Wolffs Lehrbuch zum deutschen Internationalen Privatrecht.93 Hans Dölle hat dazu gesagt: „Man macht sich keiner Übertreibung schuldig, wenn man diese, zwei so verschiedene Rechte mit derselben Meisterschaft und demselben Erfolg bewältigende, Doppelleistung als einzigartig in unserer Wissenschaftsgeschichte bezeichnet.“94 Wolff konnte in seinem Private International Law aus seiner umfangreichen methodischen Erfahrung in der Rechtsvergleichung schöpfen, die auch sonst sein wissenschaftliches Werk bestimmt. Er war wie erwähnt seit der Gründung 1926 aktiv am Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht tätig und hat zusammen mit Franz Schlegelberger, Carl Heinrici und Julius Magnus das vierbändige Rechtsvergleichende Handwörterbuch für das Zivil- und Handelsrecht des In- und Auslandes (1927-1933) besorgt, das noch um 1960 als „the nearest thing that has yet appeared to a comprehensive encyclopedia of comparative private law“ galt.95 Wolff war auch von der Gründung im Jahr 1927 bis 1935 Mitherausgeber der Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht (heute Rabels Zeitschrift) sowie von der Sammlung „Die Zivilgesetze der GegenWolff’s book is its discussion of situations in which the English authorities are scanty or non-existent.” 90 Lipstein (Fn. 87), 332. 91 Batiffol Les tendances doctrinales actuelles en droit international privé, 72 Recueil des Cours 1948 I 2–66, 25; Lewald (Fn. 1), 1254. Kegel empfahl Wolffs Buch bis 1995 als erste Pflichtlektüre zum englischen IPR: Kegel Internationales Privatrecht2, 1964, 82; 7. Auflage 1995, 216. Die erste Auflage 1960, 70, führt Wolffs Buch an zweiter Stelle an hinter Graveson The Conflict of Laws, 1948. 92 Morris (Fn. 88), 92. 93 Wolff Internationales Privatrecht, 1. Auflage 1933. Die 3. Auflage erschien posthum 1954 unter dem Titel „Das Internationale Privatrecht Deutschlands“. 94 Dölle RabelsZ 17 (1952) 21–22 (Vorwort zu einem dem 80. Geburtstag von Wolff gewidmeten Heft). 95 Lawson (Fn. 1), 1070.

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wart“, die europäische und außereuropäische Privatrechtsquellen mit deutscher Übersetzung und Bearbeitung versah. In seiner Oxforder Zeit entstand auch sein mit Arminjon und Nolde verfasster dreibändiger Traité de droit comparé.96 An diese Stelle ist auf Wolffs Verhältnis zu rechtswissenschaftlicher Methodik einzugehen. Seinem Schüler Ludwig Raiser galt Wolff als Positivist und an methodischen Fragen wenig interessiert. Er sei für die politische und sozialwissenschaftliche Dimension des Rechts nicht blind gewesen, habe es aber nicht als Aufgabe von Juristen angesehen, sie auszuleuchten.97 Raisers Bemerkungen, die im Rahmen einer ansonsten von „Verehrung und Liebe, aber nicht Nachahmung“ geprägten Würdigung von Wolff anlässlich seines 100. Geburtstags erschienen,98 haben einen anderen Schüler von Wolff, Francis Mann, verärgert.99 Medicus und Hansen haben mittlerweile umfassend nachgewiesen, dass die Kritik so nicht stimmt. Gerade in seinem Aufsatz „Reichsverfassung und Eigentum“ hat Wolff mit politischen Argumenten und unter Absage an eine „unzulässige Buchstabenwissenschaft“100 ein Recht auf Eigentum propagiert, das über einen Programmsatz hinausgeht und materiellen Schutz vor staatlichem Handeln bietet. Gegen die damals vorherrschende Meinung sah Wolff dabei auch die Gesetzgebung an diese Garantie gebunden.101 Im Familienrecht hat Wolff sich zudem nachdrücklich für eine Gleichstellung von Mann und Frau eingesetzt und die Aufgabe des scheidungsrechtlichen Schuldprinzips zugunsten des modernen Zerrüttungsprinzips gefordert.102 Methodik war sicherlich für Wolff kein Hauptanliegen. Dennoch hat Raiser die methodologischen Komponenten von Wolffs Werk unterschätzt. Die von Wolff praktizierte „verkehrswissenschaftliche Methode“ bedeutet eine Abwendung von der an Dogmatik und Begrifflichkeit orientierten zivilrechtlichen Methode des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die Sachverhalte bevorzugt in Form von Kathederfällen einband, hin zu einer an echten Fällen und oft auch rechtstatsächlichen Erhebungen orientierten Methode, die ihre Wertungen aus der jeweiligen Verkehrsanschauung, wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit sowie Leitbildern von Freiheit, Gleichheit und Privatautonomie gewann, in der aber auch Sozialbindung sowie Schutz der schwächeren Partei nicht vernachlässigt wurden.103 Diese verkehrswissenschaftliche 96

Wolff/Arminjon/Nolde Traité de droit comparé, Bände I und II, 1950, Band III, 1952. Raiser Martin Wolff (Fn. 1), 496. 98 Raiser Martin Wolff (Fn. 1), 497. 99 F. Mann unveröffentlichte Memoiren (Fn. 1), 24 f. 100 Wolff Reichsverfassung und Eigentum, in: Berliner Juristische Fakultät (Hrsg.) Festgabe für Wilhelm Kahl, 1923, 3–30, 3; Medicus (Fn. 1), 552. 101 Wolff (Fn. 93), 6. 102 Detaillierte Analyse bei Hansen (Fn. 1), 246–275. 103 Dazu ausführlich Hansen (Fn. 1), 164–316. 97

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Methode übertrug Wolff auch auf das stark zur Abstraktheit neigende Kollisionsrecht. In seinem Private International Law mahnt er den Leser, dass alle Regeln des Internationalen Privatrechts “should consider how they will affect social and economic intercourse between any persons, be they its own nationals or aliens.“104 Zudem verwenden mehrere Arbeiten von Wolff Methoden, die man eher bei Rechtssoziologen vermuten würde. Ein Aufsatz zu „Das Bürgerliche Gesetzbuch und die deutschen Lebensgewohnheiten“ stützt sich auf eine „Umfrage bei Praktikern, zumal Notaren und Richtern der freiwilligen Gerichtsbarkeit“.105 Wolff hatte auch die Idee, den HGB-Kommentar von Düringer-Hachenburg um eine Studie zu ergänzen, in der die Satzungen aller 689 an der Berliner Börse notierten Aktiengesellschaften Satz für Satz untersucht und die dabei verwendeten Klauseln systematisch geordnet werden. Die Konzeption für diesen Band entwickelte Wolff, die Ausführung überließ er seinem Schüler Maximilian Schmulewitz, besser bekannt unter seinem nach der Emigration angenommenen Namen Clive Schmitthoff.106 Wolffs Arbeit über die Berliner Juristische Fakultät erhebt und analysiert zudem Statistiken zu Studierenden, Promotionen, Habilitationen sowie zur Arbeit der Fakultät als Spruchkollegium.107 Schließlich umfasst Wolff Œuvre auch eine methodische Arbeit. Der Traité de droit comparé erläutert zunächst eine Methode, nämlich die Rechtsvergleichung, und wendet sie auf einen Vergleich von Rechtssystemen und großen Teilen des Zivilrechts an.108 Rechtsvergleichende Methodik prägt auch viele von Wolffs Arbeiten zum deutschen materiellen Recht.

IV. Schüler und Schülerinnen Mehrere Schüler von Martin Wolff sind schon erwähnt worden. Habilitiert haben bei ihm Walter Hallstein und Ludwig Raiser; die bis auf den Vortrag abgeschlossene Habilitation von Robert Krawielicki wurde von der nationalsozialistischen Regierung aus politischen Gründen verhindert.109 104

Wolff Private International Law2, 1950, 17. Wolff Das Bürgerliche Gesetzbuch und die deutschen Lebensgewohnheiten, JW 1906, 697–700. 106 Flechtheim/Wolff/Schmulewitz Die Satzungen der deutschen Aktiengesellschaften. Ergänzungsband zur Erläuterung des Handelsgesetzbuchs von Düringer-Hachenburg, 1929. 107 Wolff (Fn. 78), 114, 124 f., 127–129. 108 Wolff/Arminjon/Nolde (Fn. 96), siehe insbesondere Band I, 1re Partie (10–53); 23 f. zur Abgrenzung von Rechtsvergleichung als Methode und Rechtsvergleichung als Wissenschaft. 109 Dazu von Lösch (Fn. 29), 226, 230–232. Die Fakultät hatte schon zu seinem Habilitationsvortrag eingeladen. Krawielicki wurde zunächst Anwalt, arbeitete dann als Referatsleiter im Bundesministerium der Justiz und nachfolgend als Leiter der Rechtsabteilung 105

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Francis (damals Fritz) Mann und Clive Schmitthoff (damals Maximilian Schmulewitz) hatten bei Wolff promoviert und mussten ihre Laufbahn ebenfalls nach England verlegen, wo es keine Habilitationen gibt.110 Promoviert haben bei Wolff außerdem die Rechtswissenschaftler Ernst von Caemmerer, Hans Dölle und Heinrich Kronstein; Ernst von Caemmerer, Hans Dölle und Werner Goldschmidt (der bei Wolff lediglich mehrere Vorlesungen gehört hat) zählten sich selbst zum Kreis der Schüler Wolffs.111 Neben dieser beeindruckenden Zahl akademischer Schwergewichte finden sich unter den Wolff-Schülern auch bedeutende Jurist(inn)en in Politik und Richteramt. Genannt wurde schon der erste Präsident der Europäischen Kommission, Walter Hallstein, vormals Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Else Koffka, eine der ersten Richterinnen am Bundesgerichtshof,112 hatte bei Wolff promoviert und wurde danach, als erste Frau, Fakultätsassistentin und Lehrbeauftragte an der Berliner Juristischen Fakultät.113 Nicht nur Else Koffka demonstriert, dass Gleichberechtigung für Wolff kein rein familienrechtliches Anliegen war. Er hat, für seine Zeit nicht selbstverständlich, Frauen auch als Wissenschaftlerinnen ernst genommen. Margarethe Scherk promovierte bei Wolff über „Die Einrede aus dem Recht zum Besitz gegenüber dem Eigentumsanspruch auf Herausgabe der Sache“ und bekehrte damit Wolff zu der Ansicht, dass § 986 BGB von Amts wegen zu beachten sei.114 Zu seinen Hörerinnen, die von Wolff besonders geprägt wurden, gehören auch die CDU-Politikerin Elisabeth Schwarzhaupt115 und die Mitbegründerin des Kreisauer Kreises, Marion Gräfin York von Wartenburg.116 Die Behauptung von Raiser, Wolff habe keine eigene Schule hervorgebracht,117 ist wohl im Zusammenhang mit Raisers anderer methodischer der Hohen Behörde der EGKS (on-line-Bibliographe bei www.bundesarchiv.de). Wie Mann betätigte auch Krawielicki sich weiterhin wissenschaftlich. 110 Francis Mann war hauptberuflich Solicitor, zählt aber infolge seiner umfangreichen und einflussreichen Forschungstätigkeit zu den bekanntesten Wissenschaftlern auf dem Gebiet des IPR. Siehe auch Collins F.A. Mann (1907-1991), in: Beatson/Zimmermann (Hrsg.) (Fn. 1), 382–440; Adams Clive M. Schmitthoff (1903-1990), ebenda 367–380. 111 Von Caemmerer Vorwort zur FS Wolff (Fn. 77); Goldschmidt Die philosophischen Grundlagen des Internationalen Privatrechts, ebenda 203–223, 203. 112 Koffka (Fn. 1); von Lösch (Fn. 29), 65, 85 Fn. 378; Protokoll der 191. Kabinettsitzung am 11. Dezember 1951 (Bundesregierung), erhältlich unter www.bundesarchiv.de. 113 Hansen (Fn. 1), 71 Fn. 89. 114 Scherk Die Einrede aus dem Recht zum Besitz gegenüber dem Eigentumsanspruch auf Herausgabe der Sache, Diss. Marburg 1917; dies. Iherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts 67 (1917) 301–403. 115 Mundzek/Schwarzhaupt in: Deutscher Juristinnenbund (Hrsg.) Juristinnen in Deutschland. Eine Dokumentation (1900–1984), 119-124, 111 f. 116 Obituary, The Times, 19.4.2007, http://www.timesonline.co.uk/tol/comment/ obituaries/article1674047.ece, zuletzt besucht am 9.7.2009. 117 Raiser Martin Wolff (Fn. 1), 497; anders Mann (Fn. 1), III.

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Ausrichtung zu verstehen. Bei vielen Wolff-Schülern (und oft auch deren Schülern) lassen sich einige für Wolff typische Vorlieben ebenfalls feststellen: ein an konkreten Sachverhalten orientierter, funktional rechtsvergleichender Ansatz, der vor rechtlichen Transplantaten dann nicht zurückscheut, wenn sie sich behutsam in den Kontext des empfangenden Rechtssystems einbetten lassen,118 einen Hang zu prägnanter Sprache und Sinn für Ordnung sowie ein ausgeprägtes Interesse an wirtschaftlich und sozial relevanten Aspekten, das eher über Kontakte mit der Praxis bedient wird als über andere wissenschaftliche Disziplinen. Das trifft allerdings nicht nur auf Wolff und Wolff-Schüler zu, sondern auch auf viele andere Wissenschaftler, die mit dem KWI bzw. MPI für ausländisches und internationales Privatrecht verbunden waren. Die Einflüsse von Rabel und Wolff lassen sich oft nicht trennen, wie Ernst von Caemmerer symbolisiert.119

V. Persönliches Aus den Berichten von Zeitzeugen lässt sich nicht wenig zur Persönlichkeit von Wolff rekonstruieren, die naturgemäß auch seinen wissenschaftlichen Stil geprägt hat. Raiser sagte, ihm sei „jede Art von Unordnung und Dummheit zuwider“ gewesen; „mit zudringlichen, faulen oder nachlässigen Studenten konnte er schroff umgehen“. Dazu passen der für Berliner typische „Schuß von Schnoddrigkeit“120 und eine Abneigung gegen Gefühlsäußerungen.121 Weniger als Berliner Eigenart bekannt ist Wolffs anekdotisch belegtes Einfühlungsvermögen in andere Kulturen. Gerhard Kegel berichtet, wie Rabel und Wolff zusammen einen chinesischen Kandidaten mündlich prüften. „Der schwieg auf Rabels Fragen. Wolff wiederholte die Fragen, machte jedoch stets eine Pause, und immer kam die richtige Antwort. Der

118 Symptomatisch für die Vorsicht ist folgendes Beispiel: Jenks’ Digest of English Civil Law stellte den sehr ehrgeizigen Versuch dar, das englische Privatrecht in die Struktur des – damals ganz modernen – Bürgerlichen Gesetzbuchs zu pressen. Auf Wolffs Anraten verlagerten die Herausgeber der 4. Auflage viel Stoff vom angeblichen Allgemeinen Teil des englischen Privatrechts zurück ins Vertragsrecht. Winfield/Bailey/Ellis Lewis/Latey/Orr/ Thomas Jenks’ English Civil Law4, 1947, Vorwort zu Band I, ix. 119 Ernst von Caemmerer hat sich erst nach dem Krieg habilitiert, augenscheinlich bei dem Wolff-Schüler Hallstein: Coing Ernst v. Caemmerer und die Wissenschaft vom Privatrecht, in: FS von Caemmerer 1978, 1–9. Er war Mitarbeiter von Rabel am KWI. Die von Caemmersche Methode, die Coing ebenda, 5–9 schildert, weist bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit der von Wolff auf. 120 Raiser Martin Wolff (Fn. 1), 491; Medicus (Fn. 1), 551 gibt Beispiele aus Wolffs Werken dafür, dass ihm Unordnung und Dummheit zuwider waren. Ausweislich von bei Hansen (Fn. 1), 69 Fn. 79, 72 zitierten Dokumenten trug Wolff seine spitze Zunge an Universität und KWI den Spitznamen „Giftzwerg“ ein. 121 Mann (Fn. 1), III; Hallstein (Fn. 1), 580.

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Prüfling nachher: in China sei es unhöflich, auf eine Frage sofort zu antworten.“122 Im Umfeld von Familie, Freunden und vertrauten Kollegen zeigte sich Wolff als warmherzige Person mit einem stark ausgeprägten Sinn für Humor.123 Seine Neffe Tony Jolowicz sagte, dass er bei jeder Begegnung mit seinem Onkel unweigerlich etwas Neues lernte und sein Onkel ihn ebenso unweigerlich zum Lachen brachte.124 Zugleich war Wolff „the most modest and unpretentious of men“;125 von „Eitelkeit, die er als die Berufskrankheit der Professoren zu bezeichnen pflegte, war er frei.“126 Barry Nicholas schrieb dem Verfasser: “He was a delightfully humorous and unpretentious person (he once gave me a pantomime of a typical German Professor receiving a student).“127 Das sah dann so aus: “He would sit, said Wolff, at a large table in a large room and when the student first knocked, he would make no reply; at the student’s second attempt, he would shout ‘Herein!’ in a loud voice, but when the student came in, he would continue writing – and so on.”128 Wolff verfügte über ein phänomenales Gedächtnis.129 Kurt Lipstein, der bei Wolff Vorlesungen gehört hatte und von ihm im Staatsexamen schriftlich wie mündlich geprüft worden war, berichtete von ihrer nächsten Begegnung, die viele Jahre später in der Squire Law Library in Cambridge stattfand. Wolff erblickte Lipstein und sagte sinngemäß: „Sie hatten doch diese kleine krakelige Handschrift.“130 Wolff war zudem vielfältig musisch begabt. Er galt als vorzüglicher Pianist mit einer Vorliebe für Bachsonaten.131 Selbst mitten in den Wirren der Emigration fanden er und sein eng befreundeter Kollege Fritz Schulz noch Zeit, sich brieflich über eine Komposition von Schulz auszutauschen, für die Wolff eine Verbesserung vorschlug.132 Darüber hinaus war Wolff ein talentierter Dichter. Als sein Sohn Konrad in die USA emigrierte, schrieb Wolff als Gedächtnisstütze ein Gedicht, in dem alle Staaten der USA aufgeführt werden. Konrad Wolff schickte dieses Gedicht an The New Yorker Magazi122 Kegel Ernst Rabel (1874–1955) Vorkämpfer des Weltkaufrechts, in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft (Fn. 1), 571–594, 589. 123 Neumann (Fn. 1). 124 J.A. Jolowicz (Fn. 14). 125 Mann (Fn. 1), III; ebenso Hallstein (Fn. 1), 580. 126 Raiser Martin Wolff (Fn. 1), 491. 127 Nicholas e-mail an den Verfasser vom 27.3.2001. 128 Nicholas (Fn. 50), 745. 129 Neumann (Fn. 1). 130 Lipstein Interview, 6. Februar 2002. 131 Raiser Martin Wolff (Fn. 1), 497. 132 Brief von Wolff an Schulz, 29. März 1939. Ich danke Prof. Wolfgang Ernst für eine Kopie dieses Briefs, dessen Original im Fritz-Schulz-Archiv in Bonn verwahrt wird.

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ne, wo es auch prompt abgedruckt wurde. Die Herausgeber fragten sogar nach, ob dieser Autor noch etwas anderes geschrieben habe.133 Schließlich war Wolff ein ausgesprochener Familienmensch und konnte besonders gut mit Kindern umgehen.134 Ein damals wohl sechs Jahre altes Kind, Harry Lawsons Tochter Isabel, hatte ein halbes Jahrhundert später ihre Begegnung mit Wolff noch lebhaft im Gedächtnis. Er begrüßte sie zum Scherz mit einem beidseitigen Händedruck über Kreuz und gab ihr das Gefühl, dass er die Lawsons vor allem besucht hatte, um sich mit ihr zu unterhalten.135

VI. Späte Würdigung Erst spät wurde man sich auf beiden Seiten des Ärmelkanals bewusst, dass man diesen großen Gelehrten nicht immer so behandelt hatte, wie er es verdient gehabt hätte. Sein Heimatland, das ihn vertrieben, und sein Gastland, das ihn nur zögerlich aufgenommen hatte, ließen ihm nun die gebührenden Ehren zuteil werden. 1952 wurde er zunächst zum Honorarprofessor, dann zum Emeritus an der Freien Universität Berlin ernannt.136 Zu seinem 80. Geburtstag im September 1952 präsentierten ihm Schüler, Kollegen und Freunde eine Festschrift.137 Bei dieser Gelegenheit überreichte ihm Walter Hallstein, damals Staatssekretär im Auswärtigen Amt, den höchsten Verdienstorden der Bundesrepublik.138 Kurz darauf zeichnete ihn die Universität Oxford mit ihrer höchsten wissenschaftlichen Ehrung aus, dem Doctor of Civil Law.139 Trotz angeschlagener Gesundheit führte Wolff seine Arbeit fort; ganz zum Schluss hielt ihn der schiere Wille zur Arbeit am Leben.140 So arbeitete Wolff an der 10. Überarbeitung seines Sachen133

J.A. Jolowicz (Fn. 14). J.A. Jolowicz (Fn. 14). 135 Isabel Raphael, geb. Lawson, e-mail vom 25. März 2001 an den Verfasser. Das jüngste Kind der Lawsons wurde Wolff zu Ehren auf den Namen Martin getauft. 136 Hansen (Fn. 1), 158 f. Wolff stellte in Aussicht, bei Besserung seines Gesundheitszustandes an der FU eine Vorlesung zu halten. Dazu kam es allerdings nicht. 137 FS Wolff (Fn. 77). 138 Hallstein (Fn. 1), 580; Hansen (Fn. 1), 159. Wolff erhielt das Große Verdienstkreuz mit Stern. 139 Oxford University Gazette, 18. Dezember 1952, 320. Die Verleihung fand am 13. Dezember statt. Die Tatsache, dass der Public Orator, der bis heute seine Laudatio in lateinischer Sprache hält, irrtümlich Wolffs Verdienste im “ius gentium” (Völkerrecht; in anderem Zusammenhang: spekulativ begründetes Vernunftrecht) ansiedelte, tat der Würde dieser Zeremonie offenbar keinen Abbruch. Einen kurzen Bericht eines Zeitzeugen findet man bei Nicholas (Fn. 50), 745. Weitere Ehrendoktorwürden erhielt Wolff augenscheinlich in Marburg und Thessaloniki: Breunung/Walther (Fn. 1), Nr. 12; die Zeitpunkte sind offenbar unbekannt. 140 J.A. Jolowicz (Fn. 14). 134

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rechts,141 vollendete den Traité de Droit Comparé142 und schrieb die dritte Auflage von Das internationale Privatrecht Deutschlands.143 Am 20. Juli 1953, zwei Wochen nach Abschluss seines letzten großen Manuskripts, starb Wolff in London.

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Die 10. Bearbeitung wurde von Raiser mit Unterstützung von M. Wolff besorgt und erschien 1957. 142 Oben Fn. 96. 143 Oben Fn. 93.

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Rudolf Smend (1882–1975) Stefan Korioth

Rudolf Smend (1882–1975) STEFAN KORIOTH

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Integration – der Zentralbegriff der Staats- und Verfassungstheorie Smends . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Smends Themen und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Ausgangslage: Staatslehre und Staatsrechtswissenschaft im Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Präludien der Integrationslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Entfaltung der Integrationslehre in den 1920er Jahren . . . 5. Der Zusammenhang mit dem staatsrechtlichen Methodenund Richtungsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Jahre nach 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Smend-Rezeption nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Wer in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein Ordinariat an der Juristischen Fakultät der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität erhielt, der durfte für sich beanspruchen, an der preußischen Juristenfakultät mit dem höchsten Ansehen zu lehren und der vielleicht bedeutendsten Hochschule in Deutschland überhaupt anzugehören.1 Ihr Ansehen als modellhafte Reformuniversität Humboldtscher Prägung hatte, allen Entfernungen vom ursprünglichen Leitbild zum Trotz, bis 1933 Bedeutung. Die Besonderheiten der Berliner Juristischen Fakultät zwischen 1900 und 1933 sah Rudolf Smend in seiner Würdigung anläßlich ihrer 150 Jahre zurückliegen1 Vgl. etwa Landau Juristen jüdischer Herkunft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Heinrichs u.a. (Hrsg.) Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, 133 (211); Gräfin von Lösch Der nackte Geist. Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, 1999, 34 f. (mit zeitgenössischen Nachweisen). Bereits für das 19. Jahrhundert Rebenich Theodor Mommsen, 2002, 105: „Um die Jahrhundertmitte hatte sich bereits eine Rangordnung der preußischen Universitäten herauskristallisiert. Während man in Greifswald die Karriere begann, waren Breslau, Halle und Königsberg Etappen auf dem Weg zu den Großuniversitäten Bonn und Berlin, an die berufen zu werden die Krönung einer akademischen Laufbahn bedeutete.“

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den Gründung in der fortdauernden Verpflichtung auf die Savignysche Anschauung der Rechtsgeschichte als Bildungsmacht und in ihrer Zuordnung zum Staat.2 Letzteres hatte, ganz praktisch verstanden, in der Weimarer Zeit besonderes Gewicht. Mitglieder der Fakultät beteiligten sich in vielfacher Weise an rechtspolitischen Projekten, vor allem des Straf- und Arbeitsrechts, wirkten als Gutachter und Berater von Ministerien, auch als völkerrechtliche Berater in der besonders heiklen Materie des Versailler Vertrages. Ging es um die ewige Reform der Juristenausbildung, dann verstand es sich fast von selbst, daß die anderen Fakultäten nach Berlin sahen. Zugleich hatte die Fakultät in den 1920er Jahren eine für die damalige Zeit beispiellose Ausbildungslast zu tragen: Fast durchweg gab es mehr als 3.000 Studierende, im Wintersemester 1929/30 sogar mehr als 4.200.3 Als Rudolf Smend vierzigjährig im Jahre 1922 in der Nachfolge von Erich Kaufmann den Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Kirchenrecht übernahm, hatte die Fakultät 13 Ordinariate, darunter drei öffentlich-rechtliche. Heinrich Triepel vertrat seit 1913 diese Teildisziplin in voller Breite. Der 1922 vakante völkerrechtliche Lehrstuhl wurde 1923 mit Viktor Bruns besetzt. Smend hatte 1922 bereits eine ungewöhnlich geradlinige und stationsreiche akademische Karriere vorzuweisen. 22jährig war er in Göttingen promoviert worden, 1908 folgte die Habilitation in Kiel, 1909 der erste Ruf auf ein Extraordinariat in Greifswald; 1911 wechselte Smend nach Tübingen, um anschließend, zwischen 1916 und 1922, in Bonn zu lehren. Als er 1922 nach Berlin kam, galt er, noch vor seinen wichtigen Veröffentlichungen der zwanziger Jahre, schon als einer der Großen seines Faches, von dem viel erwartet wurde. Diese Erwartungen hat Smend durchaus erfüllt: In seine Berliner Jahre, die er selbst als die am meisten befriedigende Zeit seines Lebens bezeichnet haben soll,4 fallen die wichtigsten seiner staatsrechtlichen Schriften, vor allem das Hauptwerk „Verfassung und Verfassungsrecht“ (1928). In der Fakultät gehörte Smend dennoch zu den zurückhaltenden und eher zurückgezogenen Mitgliedern. An rechtspolitischen Debatten beteiligte er sich nicht. Seine Erfolge in der Lehre hielten sich in bescheidenen Grenzen. Übereinstimmend berichten seine Hörer, sein Vortrag sei leise und wenig strahlend gewesen.5 Seine Kolleggelder, die sich an der Hörerzahl orien-

2 Smend Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert (1960), in: ders. Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze2, 1968, 527 (528). 3 Zahlen nach: von Lösch (Fn. 1), 481 ff. 4 Leibholz In memoriam Rudolf Smend, 1976, 18. 5 Der spätere Germanist und Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der 1930 bei Fritz Stier-Somlo in Köln die erste juristische Dissertation über Smend verfaßte, berichtet in seinen Lebenserinnerungen, daß „der in sich gekehrte, etwas fahrig herunterlesende Staatsrechtler“ Smend auf ihn keinen „großen Eindruck gemacht hätte“ (Mayer Ein Deutscher auf Widerruf, Band 1, 1982, 144). Anders für die Zeit nach 1945 in Göttingen R. von Weizsäcker Vier Zeiten, 1997, 103.

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tierten und damals einen wichtigen Bestandteil der Besoldung ausmachten, mußten zeitweise durch eine Honorargarantie aufgefüllt werden, weil sie nicht den abgesicherten Mindestbetrag erreichten.6 Smends Stärke lag in dem, was sich prätentiös in heutiger Begrifflichkeit als juristische Grundlagenforschung beschreiben läßt. Hier haben seine Thesen zu den Grundfragen von Staat und Verfassungsrecht tiefen Eindruck hinterlassen.7 Smends Berliner Wirken endete abrupt mit dem Wechsel nach Göttingen zum Wintersemester 1935/36. Die Gründe für Smends letzten Wechsel der akademischen Wirkungsstätte sind, auch wenn die einschlägigen Akten fast vollständig erhalten sind, nicht restlos geklärt. Smend hat in seiner Darstellung der Berliner Juristenfakultät den Vorgang so geschildert: Er sei, nachdem der Nationalsozialismus „dem Charakter der Fakultät ein Ende“ bereitet habe, „gegen seinen Wunsch nach Göttingen versetzt worden“.8 Politische Gegnerschaft zum Nationalsozialismus behauptet Smend an dieser Stelle nicht ausdrücklich, deutet sie aber an. Eine neuere Untersuchung bewertet die Vorgänge anders: Smend habe unter mäßigem Druck des Preußischen Kultusministeriums einen Ruf nach Göttingen angenommen; das Ministerium habe zu dieser Zeit versucht, die Berliner Fakultät zu verjüngen und habe im Öffentlichen Recht Platz für den entschiedenen NS-Juristen Reinhard Höhn schaffen wollen.9 Fest steht, daß Smend keinerlei Engagement für den NS-Staat zeigte, sich nach 1933 in das Kirchenrecht und die Rechtsgeschichte vertiefte und deshalb den neuen Machthabern auf seinem exponierten Berliner Lehrstuhl offenbar als Fehlbesetzung erschien. In Göttingen lehrte Smend, der 1945 erster Nachkriegsrektor der Universität wurde, weit über seine Emeritierung hinaus. Sein „Staats- und Verfassungstheoretisches Seminar“ bestand bis 1969;10 im Jahre 1975 ist Smend in Göttingen verstorben. Sein Nachkriegsseminar versammelte eine wichtige Gruppe jüngerer Staatsrechtler und Politologen der frühen Bundesrepublik (Konrad Hesse, Horst Ehmke, Peter Häberle, Henning Zwirner, Wilhelm Hennis11 u.a.). Die „Smend-Schule“ der 1950/60er Jahre gilt heute, neben dem Kreis um Carl Schmitt, als zweiter wichtiger Ausgangspunkt, Impulsgeber und „Denkkollektiv“ der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik12 mit 6

v. Lösch (Fn. 1), 106. Dazu etwa Morlok/Schindler Smend als Klassiker: Rudolf Smends Beitrag zu einer modernen Verfassungstheorie, in: Lhotta (Hrsg.) Die Integration des modernen Staates. Zur Aktualität der Integrationslehre von Rudolf Smend, 2005, 13 ff.; Korioth Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, VVDStRL 62 (2003) 117 (126 f.). 8 Smend (Fn. 2), 527 (543). So auch Friedrich Rudolf Smend (1882–1975), AöR 112 (1987) 1 (3); von Campenhausen Zum Tode von Rudolf Smend, JZ 1975, 621 (622). 9 v. Lösch (Fn. 1), 396 ff. 10 Dazu Günther Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, 2004, 159 ff. 11 Zu Hennis’ Verwurzelung im Smend-Kreis Schlak Wilhelm Hennis, 2008, 35 ff. 12 Günther (Fn. 10), 34 ff., 112 ff. 7

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besonderer Ausstrahlung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,13 ihr Haupt als einer der Säulenheiligen deutschen Staats- und Verfassungsdenkens im 20. Jahrhundert. Wie und warum es dazu kam, soll im folgenden zumindest in Umrissen beschrieben werden.

II. Integration – der Zentralbegriff der Staats- und Verfassungstheorie Smends 1. Smends Themen und Vorgehensweise Smends Themen waren das Verfassungsrecht, die Verfassungsgeschichte und Staatslehre, seit den 1930er Jahren mit zunehmendem Gewicht auch das Staatskirchen- und Kirchenrecht. Er gehört zu denjenigen unter den bedeutenden deutschen Verfassungsjuristen des zwanzigsten Jahrhunderts, deren Lehren auch Soziologen, Politologen und politische Philosophen beschäftigt haben und beschäftigen. Der Grund liegt in Smends ganz spezifischem Ansatz, eine kohärente Theorie des Staates, der Verfassung und des Verfassungsrechts zu entwickeln. In deren Zentrum steht der Begriff der Integration. Integration, so meinte Smend, sei der den Staat konstituierende Vorgang, die Aufgabe einer Verfassung und der Sinn der einzelnen Verfassungsnormen. In ersten Ansätzen erscheint dieser schillernde Gedanke, wenn auch noch nicht der Schlüsselbegriff der Integration, in Smends früheren Arbeiten am Ende des Kaiserreichs. Die Integrationslehre entfaltet Smend in den zwanziger Jahren. Unter völlig veränderten Bedingungen verpflanzt Smend diese Lehre nach 1945 in die Bundesrepublik, zugleich übt sein Verfassungsverständnis großen Einfluß auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und eine Richtung innerhalb der Staatsrechtslehre aus. 1975, in seiner letzten Veröffentlichung, resümiert der 93jährige Smend: „Die Integrationslehre ist keine soziologische, sondern eine juristische Theorie richtiger und vollständiger Auslegung der Verfassung. Es ist streitig, ob ihre polemische Aufgabe gegenüber dem überkommenen formalistischen Positivismus, einem Verfassungsverständnis aus der ‚immanenten Logik‘ ihrer Bestimmungen, schon ganz überholt und erledigt ist. [. . .] Die sozio-ökonomischen Probleme der Gegenwart waren vor 50 Jahren noch nicht bewußter Gegenstand der Verfassung, und eine Sozialwissenschaft, die ihre Auseinandersetzung mit einer juristischen Verfassungsauslegung erfordert hätte, gab es noch nicht. Heute ist diese

13 Vgl. Hennis Integration durch Verfassung? (1999), in: ders. Regieren im modernen Staat, 2000, 353 (356).

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Auseinandersetzung [. . .] unvermeidlich. Sie wird an den Argumenten der Integrationslehre nicht ganz vorbeigehen können [. . .].“14 Hier deutet Smend in der ihm eigenen aphoristischen Darstellungsweise Entwicklung, Gegenstand, polemische Ausrichtung und Wirkung seiner Lehre an. Zugleich scheinen in diesem späten Überblicksaufsatz manche der stilistischen (und methodischen) Eigenarten Smends auf. Seine Texte sind zumeist kurz, tragen ihren Gegenstand thesenartig und dennoch zurückhaltend vor, betten ihn zumeist aber auch in historische Perspektiven ein. Das hat für den Leser bis heute häufig einen ganz eigenen Reiz. Ein dunkler, schwer verständlicher Stil, der Smend häufig vorgehalten wurde,15 findet sich im Grunde allein in seinem Hauptwerk „Verfassung und Verfassungsrecht“ (1928). 2. Die Ausgangslage: Staatslehre und Staatsrechtswissenschaft im Kaiserreich Smends Verfassungsdenken wurzelt im ausgehenden Kaiserreich, zwischen der Jahrhundertwende und 1918. Um zu verstehen, was ihn damals beschäftigte und wovon er sich abgrenzen wollte, ist ein kurzer Blick auf die Staatsrechtslehre dieser Zeit erforderlich. Das Kaiserreich verband als letzte Ausprägung der deutschen konstitutionellen Monarchie in merkwürdig oszillierender Weise fortwirkende Elemente des Ancien Régime und der modernen Demokratie. Seine Verfassungsordnung ruhte im Grundsatz auf Bindungen, die sich die Monarchen selbst auferlegt hatten, ergänzte aber die monarchisch-exekutivische Prärogative durch demokratische Elemente, repräsentiert vor allem durch den aus allgemeinen, gleichen und freien Wahlen hervorgehenden Reichstag. Die dualistische Struktur der Reichsverfassung von 1871 spiegelte den bürgerlich-monarchischen Kompromiß wider. Sie sicherte den gesellschaftlichen Freiraum zur kulturellen und ökonomischen Entfaltung des Bürgertums, bewahrte aber – bei rechtlicher Rationalisierung – das Machtzentrum des Staates in Verwaltung und Militär vor gesellschaftlicher Einwirkung. Die Staatsrechtslehre tat sich schwer damit, diese Schwebelage zu erfassen. Sie trennte Staat und Gesellschaft. Den Begriff des Staates löste sie vom natürlichen (monarchischen) Inhaber der Staatsgewalt. Sie konstruierte den Staat als juristische Person. Zu interessanten Folgerungen führte dies, als sich nach 1870 in methodischer Hinsicht das Programm des staatsrechtlichen Positivismus durchzusetzen begann. Der führende Staatsrechtler des Kaiserreichs, Paul Laband (1838–1918), erläuterte die danach in mehreren Stufen verlaufende Erkennt-

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Smend Art. „Integration“, in Evangelisches Staatslexikon2, 1975, Sp. 1023 (1026 f.). Vgl. etwa Kelsen Der Staat als Integration, 1930, 2.

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nis des geltenden Verfassungsrechts. Der Sammlung des Rechtsstoffes, des Normenmaterials, folge seine Erfassung als „Rechtsinstitute“ und die „Auffindung der allgemeinen Rechtsbegriffe, denen sie untergeordnet sind“. Mittels der Logik lassen sich aus diesen Begriffen Folgerungen ziehen, zuletzt müssen die Ergebnisse auf ihre „Übereinstimmung mit den tatsächlich bestehenden Einrichtungen und den positiven Anordnungen der Gesetze“ geprüft werden. Laband klassifiziert dies als „rein logische Denktätigkeit“. Neue Rechtsinstitute zu schaffen, die nicht auf allgemeine Rechtsbegriffe rückführbar seien, sei „gerade so unmöglich wie die Erfindung einer neuen logischen Kategorie oder die Entstehung einer neuen Naturkraft“. Staatsrechtliche Dogmatik soll sich in rein logischer Konstruktion erschöpfen, für sie sind „alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen [. . .] ohne Belang“.16 Nach diesem eher fragmentarischen Methodenprogramm soll das Recht auf sich selbst gestellt werden, Staatsrechtslehre eine möglichst exakte Wissenschaft mit berechenbaren Ergebnissen sein, die subjektive Beliebigkeit, politische und philosophische Voreingenommenheit möglichst ausschließen soll. Die grundlegenden allgemeinen Rechtsbegriffe des Staatsrechts sind für Laband die Qualifizierung des Staates als juristische Person mit für ihn handelnden Organen, die Auffassung der Staatsgewalt als Willensäußerung der juristischen Person Staat und das Verständnis des Rechtssatzes als Abgrenzung der Willenssphären von natürlichen oder juristischen Personen. Dieser staatsrechtliche Positivismus, der kein naiver Gesetzespositivismus war, sondern mittels der „allgemeinen Rechtsbegriffe“ das dogmatische Gebäude errichten und das positiv geltende Recht systematisieren wollte, beherrschte, wenngleich niemals unangefochten, das öffentliche Recht im Kaiserreich.17 Die Wurzeln, die Zeitbedingtheit, die Stärken und Schwächen dieses methodischen Konzepts18 interessieren an dieser Stelle nur im Blick auf seine Weiterentwicklung und die vor seinem Hintergrund entwickelten Gegenentwürfe – unter ihnen derjenige Smends. 16 Laband Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band 15, 1911, VI f. (Vorworte zur 1. und 2. Auflage); dazu Herberger Logik und Dogmatik bei Paul Laband, in: Heyen (Hrsg.) Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Régime, 1984, 91 ff. 17 Triepel Staatsrecht und Politik, 1927, 9, bemerkte im Rückblick, Labands Staatsrecht habe „eine Generation deutscher Publizisten vollständig beherrscht“. 18 Dazu die brillante Untersuchung von Schönberger Das Parlament im Anstaltsstaat, 1997, 83 ff. In der zeitgenössischen Kritik hat vor allem von Gierke Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft (1883), Nachdruck 1961, auf die Problematik der logischen Konstruktion und der Allgemeinbegriffe hingewiesen: „Die Abweisung der philosophischen Grundfragen bedeutet also nur, daß irgend eine Weltanschauung, die durch das philosophische Denken zwar vielleicht ebensowenig zu wissenschaftlicher Evidenz gebracht, mindestens aber zu wissenschaftlich geschulter Aufzeigung und Erprobung ihres Gehaltes gezwungen würde, in unmethodischer und fragmentarischer Weise zur Geltung gelangt“ (23).

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Das imposante Gebäude des staatsrechtlichen Positivismus geriet ab 1900 ins Wanken. Zunächst gab es leichte bis mittlere Erschütterungen; gelegentlichen und manchmal offenbar unbewußten Infragestellungen folgte nach der Zäsur des Jahres 1918 der große Methoden- und Richtungsstreit und der Durchbruch zu neuen Leitorientierungen des Staatsrechts. Die Gründe des im Kaiserreich beginnenden Wankens waren vielfältig. Der staatsrechtliche Positivismus war vor allem nicht in der Lage, die konstitutionellen und politischen Verschiebungen seit 1870, die sich praktisch ohne Veränderung des geschriebenen Verfassungsrechts vollzogen, aufzunehmen und Krisensymptome in Staat und Gesellschaft zu verarbeiten. Dazu rechneten die Verfestigung der staatlichen Struktur des Reichs mit der Entwicklung von einem stark föderalistischen zu einem deutlich unitarischen Staat, die sich wandelnden Rollen des Kaisertums und des Reichstags, die Rolle der Sozialdemokratie. Paul Laband, der in Nebenarbeiten sein politisches Gespür unter Beweis stellte, konstatierte zwar „Wandlungen der Reichsverfassung“, ihm gelang es aber nicht, diese Wandlungen mit seinen juristisch-dogmatischen Kategorien einzufangen.19 Von Bedeutung für den sich vorbereitenden Paradigmenwechsel war außerdem die allgemeine Aufbruchstimmung in Wissenschaft und Kultur um 1900. Verstädterung, Industrialisierung und technischer Fortschritt veränderten soziale, kulturelle und religiöse Lebensbedingungen, die Naturwissenschaften expandierten, das Großexperiment der klassischen Moderne begann.20 Die Isolierung des Staatsrechts von den Nachbardisziplinen schließlich geriet mit dem Wiedererstarken der Philosophie, besonders im Zuge der von zahlreichen Neophilosophemen geprägten neuen Grundlagendiskussion in der Rechtsphilosophie,21 zunehmend unter Rechtfertigungszwang. Ganz grob unterschieden, begann die Staatsrechtslehre sich in zwei Richtungen zu spalten. Die eine Richtung bewahrte den formalistischen Charakter des staatsrechtlichen Positivismus. Sie rezipierte das Wertfreiheitspostulat Max Webers und verschärfte, aus der rechtsphilosophischen Grundlagendebatte neukantianisch inspiriert (Hermann Cohen, Paul Natorp), die im staatsrechtlichen Positivismus angelegte, aber noch nicht konsequent durchgeführte Dichotomie von Sein und Sollen, Wirklichkeit und Norm. Georg Jellinek unterschied zwei Seiten, die juristische und soziologische, von Staat 19 Laband Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, 1895; ders. Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung seit der Reichsgründung, JöR 1 (1907) 1 ff.; dazu Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2, 1992, 376 ff.; Korioth Integration und Bundesstaat. Ein Beitrag zur Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smends, 1990, 63 ff. 20 Ullmann Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, 1995, 126 ff., 173 ff.; vgl. ferner Evans (Hrsg.) Society and Politics in Wilhelmine Germany, 1978. 21 Klenner Rechtsphilosophie im Deutschen Kaiserreich, in: Sprenger (Hrsg.) Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900, 1991 (ARSP-Beiheft 43) 11 (15 ff.).

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und Recht.22 Zuletzt erklärt Hans Kelsen Staat und Recht für identisch und das Recht ausschließlich zum Gegenstand einer Sollensbetrachtung. Kelsen warf Laband nicht Positivismus vor, sondern den Positivismus nicht konsequent durchgehalten zu haben.23 Die andere Richtung, philosophisch im weitesten Sinne neohegelianisch geprägt, setzte auf eine Rematerialisierung der Staatsrechtslehre, auf die offene Hereinnahme von Soziologie, Geschichte und Politik in das Verständnis der Normen. Sie versuchte die Annäherung von soziologischem und juristischem Verständnis des Rechts. Ihre Grundlinie war die deutliche Politisierung und Ethisierung des Rechts. Zu dieser Richtung gehören die Arbeiten Rudolf Smends. 3. Präludien der Integrationslehre Im Jahre 1904 wurde Smend, gerade 22 Jahre alt, mit einer Untersuchung über Die Preußische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der Belgischen in Göttingen promoviert. Das Thema verlangte die durchgehende Gegenüberstellung des deutschen monarchisch-konstitutionellen Staatsrechts mit der auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhenden belgischen Verfassung. Das Interessante dabei war, daß die preußische Verfassung von 1850 in vielen Artikeln wörtliche Übersetzungen der entsprechenden, dort aber im Kontext des demokratischen Staatsrechts stehenden belgischen Verfassungsartikel enthielt. Das zwang Smend, bei der Herausarbeitung der Unterschiede hinter den Verfassungstext und über ihn hinaus zu fragen. Das Ergebnis ist eine Erkenntnis, in der ein Leitmotiv Smendschen verfassungsrechtlichen Denkens anklingt: „[. . .] die Sätze des belgischen Rechts brauchen, wenn das preußische Staatsgrundgesetz sie auch wörtlich übernommen hat, deshalb im Zusammenhang des preußischen Staatsrechts doch durchaus nicht dieselbe Bedeutung zu haben [. . .].“24 Hier werden Ansätze eines eigenen und neuen Verfassungsverständnisses sichtbar. Es erschöpft sich für Smend schon in seiner ersten Arbeit nicht in 22

Jellinek Allgemeine Staatslehre3, 1914 (7. Nachdruck 1960), 10 f.; Weber Wirtschaft und Gesellschaft5, 1980, 181, unterschied zwischen einem juristischen und einem soziologischen Begriff des Rechts: Die juristische Betrachtungsweise „fragt, was als Recht ideell gilt. Das will sagen: [. . .] welcher normative Sinn einem als Rechtsnorm auftretenden sprachlichen Gebilde logisch richtigerweise zukommen sollte.“ Die soziologische Betrachtungsweise „dagegen fragt: was innerhalb einer Gemeinschaft faktisch um deswillen geschieht, weil die Chance besteht, daß am Gemeinschaftshandeln beteiligte Menschen bestimmte Ordnungen als geltend subjektiv ansehen und praktisch behandeln, also ihr eigenes Handeln an ihnen orientieren.“ 23 Kelsen Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911, 2. Auflage 1923, Nachdruck 1960; ders. Allgemeine Staatslehre, 1925. 24 Smend Die Preußische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der Belgischen, 1904, 3.

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der Textinterpretation und begrifflichen Konstruktion. Das Verstehen der Verfassungsnorm bedarf vielmehr der Einsicht in die geschichtlich-politischen Hintergründe. Diesen Ausgangspunkt wird Smend später Stück für Stück entfalten.25 1908 habilitierte sich Smend in Kiel mit einer Arbeit über das Reichskammergericht,26 1909 folgte die erste Berufung auf eine außerordentliche Professur in Greifswald, 1911 wechselte Smend nach Tübingen. Die dortige Antrittsvorlesung „Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts in der deutschen Staatstheorie des 19. Jahrhunderts“27 nimmt mittelbar in der verfassungspolitischen Wahlrechtsdiskussion des ausgehenden Kaiserreichs Stellung. Sie will durch historisch-ideengeschichtliche Analyse zur Klärung der maßgeblichen Kriterien eines angemessenen Wahlrechts beitragen. Das Ergebnis, ein weiterer Baustein Smendschen Denkens, besteht – ganz in der Tradition Hegels – in einer schroffen Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft samt etatistischer Einfärbung. Die Verfassung müsse zwar den „gesellschaftlichen Machtverhältnissen entsprechen“, aber: „Der Staat bestimmt [. . .], in welcher Weise er der Gesellschaft durch das Parlament Einfluß auf sein eigenes Leben gewähren will. [. . .] Der Staat beruft durch das Wahlgesetz diejenigen Schichten der Gesellschaft, von deren Anerkennung und tätigen Mitarbeit er getragen sein will.“28 Dies ist keine Aussage zum geltenden Recht – sie spiegelt aber einen staatstheoretischen Standort, vielleicht sogar das Vorverständnis, von dem aus das geltende Recht von Smend gesehen und interpretiert wird. Smend ist Etatist. Die Existenz des Staates ist für ihn systematisch und historisch das Erste. Staatsform und Verfassung folgen dem nach. Die wichtigste Arbeit Smends im Kaiserreich, zugleich ein direkter Vorläufer der Integrationslehre der zwanziger Jahre, entstand 1916, kurz nach der Übernahme eines Bonner Lehrstuhls, den Smend bis 1922 innehat. In der Studie „Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat“29 analysiert Smend zunächst die politische Praxis des bundesstaatli25 45 Jahre später wird Smend noch einmal ausdrücklich auf die These, gleichlautende Verfassungssätze könnten unterschiedliche Bedeutung haben, zurückkommen. Zu Art. 140 GG (Übernahme der Weimarer Kirchenartikel ins Grundgesetz) schreibt er: „Aber wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, dann ist es nicht dasselbe“. Smend Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz, in: ders. (Fn. 2), 411 (411). 26 Smend Das Reichskammergericht. Erster Teil. Geschichte und Verfassung, 1911 (Neudruck 1965). Die Arbeit entstand bei Albert Hänel, einem positivismusimmanenten Kritiker und Gegenspieler Paul Labands. 27 Smend (Fn. 2), 19 ff. 28 Smend Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts in der deutschen Staatstheorie des 19. Jahrhunderts, in: ders. (Fn. 2), 35 f. 29 Smend Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, in: ders. (Fn. 2), 39 ff.

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chen Systems im Kaiserreich und stellt manche Widersprüche zu den Normierungen der Reichsverfassung von 1871 fest. Dann setzt das Neuartige der Vorgehensweise Smends ein. Er ignoriert, ohne dies methodisch vertieft zu erörtern oder zu begründen, das Verbot Labands, bei der Analyse des geltenden Rechts nichtnormative Erkenntnisse zu berücksichtigen. Statt dessen vermittelt Smend zwischen der Rechtsnorm und der politischen Wirklichkeit. Bei der Frage, was rechtens ist, bezieht Smend die Anschauungen der politischen Akteure in die Normauslegung und Rechtsfortbildung mit ein. Damit ist die immanente Logik des Positivismus verlassen, wenngleich das theoretische Fundament eines Gegenentwurfs noch fehlt. Der inhaltliche Ertrag der Arbeit Smends liegt in der Entwicklung „ungeschriebener“ bundesstaatlicher Rechte und Pflichten. Diese gipfeln in der „Bundestreue“ – eine politische Verhaltensmaxime und Forderung Bismarcks, die Smend in das Verfassungsrecht wendet. Bundestreue, Rücksichtnahme schulden Reich und Einzelstaaten einander auch da, wo es der Verfassungstext nicht ausdrücklich normiert. Erst mit der Anerkennung ungeschriebener Rechtspflichten erhalten „einige magere Abschnitte der Reichsverfassung ihr eigentliches Leben“.30 Mit dem Versuch, das Verfassungsrecht von der Verfassungswirklichkeit her zu begreifen, ihre wechselseitige Bedingtheit aufzuzeigen, wird das Recht bei Smend von einer statischen vorgegebenen zu einer dynamischen Ordnung, die unterschiedliche politische Bedürfnisse und Zweckgesichtspunkte berücksichtigen und aufnehmen kann. So unterscheidet Smend den organisatorischen und funktionellen Gehalt von Rechtssätzen, und etwas später, 1919, beschreibt er seine Vorgehensweise dahin, daß es darum gehe, die Verfassung als „rechtliche Regelung des Spiels der politischen Kräfte“ zu begreifen. Das Verständnis von Staat und Verfassung dürfe sich nicht auf die „anatomische Gestalt“ beschränken, sondern müsse das Funktionieren der Verfassung, die „Physiologie des Staats“ deutlich machen und als Ziel der Verfassungsinterpretation zugrunde legen.31 Die politischen und empirischen Elemente finden Eingang in das Staatsrecht. Nur am Rande sei vermerkt, daß Smends Dynamisierung der Verfassung in ihren Auswirkungen im Kontext der Bismarckschen Verfassung nicht unproblematisch war. Smends Ergänzung der Verfassungsurkunde durch ungeschriebenes Verfassungsrecht betonte im Ergebnis einseitig die monarchischen Kräfte und Elemente dieser Verfassung.32

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Smend (Fn. 29), 52. Smend Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl, in: ders. (Fn. 2), 60 (67). Dazu Korioth Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, AöR 117 (1992) 212 f. 32 Dazu näher Korioth (Fn. 19), 62 ff., 79 ff. 31

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4. Die Entfaltung der Integrationslehre in den 1920er Jahren Der verlorene Weltkrieg und der schwierige Übergang in das republikanisch-demokratische Staatsrecht bedeutete für Smend wie für viele andere das jähe Ende der vertrauten, harmonischen Welt, mit der man sich weitgehend in Einklang befand.33 Erich Kaufmann, einer der antipositivistischen Mitstreiter Smends in den zwanziger Jahren, stellte fest: „Die Erlebnisse, die unser Volk, und wir mit ihm, im Kriege, im Zusammenbruche, in der Revolution und unter dem Versailler Vertrag innerund äußerpolitisch gehabt hat, haben uns gewaltig aufgerüttelt und zu einer großen Selbstbesinnung geführt.“34 Was in allen Lebensbereichen, in der Kultur und Wissenschaft, lange vor 1918 begonnen hatte, brach jetzt mit aller Macht und Deutlichkeit hervor: die ständige Infragestellung alles Hergebrachten, die teils als vielfältiges Experiment, viel öfter aber auch als Werk der Zersetzung wahrgenommen wurde.35 Krise war das beherrschende Empfinden und das Modewort.36 Die Unsicherheit aller Lebensbereiche war das wissenschaftsexogene Umfeld der Staatsrechtslehre. Wissenschaftsendogen ging es zunächst um das neue Verfassungsrecht und seine steigende reale Bedeutung, die einen deutlichen Praxisbezug der Disziplin bewirkte.37 Die damit verbundenen Aufgaben konnten zwar noch in den gewohnten Gleisen gelöst werden; es gab Verfassungsjuristen in Weimar, die den überkommenen Positivismus, angereichert durch zweckorientiertes und Interessen bewertendes Denken, weiterführten.38 Aber häufig wurde doch gerade der introvertierte positivistische 33 Schönberger (Fn. 18), 210 Fn. 92, zitiert aus einem Brief von Ernst Robert Curtius vom 1. Dezember 1918, der Smends Reaktionen auf die Ereignisse der Revolution kommentiert: „Smend hat nur sarkastische Kritik und sittliche Entrüstung für die Revolution. Er ist Legitimist und kann den Bruch historischen Rechts nicht ertragen.“ 34 Kaufmann Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Artikels 109 der Reichsverfassung (1926), in: ders. Gesammelte Schriften, Band III, 1960, 246 (247). 35 Winkler Weimar 1918–1933, 1993, 285 ff. 36 Zur Lage der Philosophie vgl. Heinemann Neue Wege der Philosophie, 1929, 1: „Heute erleben wir die Auflösung aller mythos- und religionsgebundenen, autarken und schulmäßigen Formen. Chaos und Richtungslosigkeit scheint das Signum der Zeit. Hie Kant, hie Nietzsche, hie Marx, hie Hegel, Untergang der Wissenschaft, Lebensphilosophie, Mystik, Metaphysik, Phänomenologie – wie ein Jahrmarktsgeschrei mischt sich der wüste Chor der Stimmen. Es ist wie bei einem Erdbeben, wo der sichere Halt des mütterlichen Bodens sich löst und die Menschen wie aufgescheuchtes Geflügel wirr durcheinander rennen und niemand weiß, wohin er sich retten soll. Die Not ist groß.“ 37 Friedrich Der Methoden- und Richtungsstreit, AöR 102 (1977) 161 ff.; ders. Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, 320 ff.; März Der Richtungs- und Methodenstreit, oder der staatsrechtliche Antipositivismus, in: Nörr u.a. (Hrsg.) Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, 75 ff. 38 Dazu Heun Der staatsrechtliche Positivismus in der Weimarer Republik, Der Staat 28 (1989) 377 (377).

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Ansatz angesichts der Krise der Zeit als ungenügend und unbefriedigend empfunden. Der offene „Methoden- und Richtungsstreit“ in der Staatsrechtslehre brach nach 1925 aus, Hauptursache dürfte die Entwicklung der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens gewesen sein. Das erkenntnistheoretische Credo Kelsens lautete, daß die Methode den Gegenstand hervorbringe. Die Kategorien, die den Erkenntnisprozeß leiten, bestimmten den Gegenstand. Kelsen anerkennt zwei Erkenntniskategorien: die naturwissenschaftliche Kausalität und das geisteswissenschaftliche Sollen. Die Rechtswissenschaft ist Normwissenschaft, Normen sind hypothetische Urteile, die in einem hierarchischen Ableitungs- und Zurechnungszusammenhang stehen, der Staat ist identisch mit der Rechtsordnung.39 „So ist der Staat als Gegenstand einer spezifischen, von der Psychologie verschiedenen Betrachtung, ein spezifischer geistiger Gehalt, nicht aber das Faktum des Denkens und Wollens solchen Inhalts, ist er eine ideelle Ordnung, ein spezifisches Normensystem, nicht aber das Denken und Wollen dieser Normen.“40 Kelsens scharfe Trennung von Sein und Sollen verhängte über die Rechtswissenschaft das absolute Verbot ethischer, politischer und metaphysischer Erwägungen. Diese Idee von der Rechtswissenschaft als der „Mathematik der Geisteswissenschaften“ war für Smend – seit 1922 Berliner Ordinarius – eine Provokation. 1928 erschien sein Hauptwerk und antipositivistischer Gegenentwurf Verfassung und Verfassungsrecht.41 Smends Vorwürfe gegen Kelsen lauteten, eine Rechtswissenschaft ohne Recht zu etablieren, einen Staat ohne Leben und Rechtsbegriffe ohne Inhalt.42 Der cartesianische Ansatz bei Kelsen, die unüberbrückbaren Dualismen von Natur und Geist, Wirklichkeit und Wert, Kausal- und Naturgesetz, gelten Smend als „aufklärerische Zerstörung der sachgemäßen Sicht der Einordnung des Menschen in die Gemeinschaft, vor allem den Staat, durch die Objektivierung des Gemeinwesens einer-, des Menschen andererseits.“43 Diese Dualismen und Trennungen müßten überwunden werden. Kelsens Staatstheorie erscheint als Endpunkt „echt deutscher Staatsfremdheit“ und „liberal im Sinne letzter innerer Unbeteiligung am Staat“.44 39 Kelsen Reine Rechtslehre2, 1960; ders. Allgemeine Staatslehre (Fn. 23), 10 ff., 95 f., 376 ff.; dazu Dreier „Sein und Sollen“, in: ders. Recht – Moral – Ideologie, 1981, 217 ff. 40 Kelsen Allgemeine Staatslehre (Fn. 23), III. 41 Smend Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders. (Fn. 2), 119 ff. 42 Smend (Fn. 41), 122. 43 Smend Das Problem der Institutionen und der Staat (1956), in: ders. (Fn. 2), 501 f. 44 Smend (Fn. 41), 122.

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Smends Gegenentwurf stützt sich auf die phänomenologische Methode der Lebensphilosophie von Theodor Litt und auch in inhaltlicher Sicht auf dessen soziologische Grundannahmen. Nach Litts Buch Individuum und Gemeinschaft45 setzt Geisteswissenschaft methodisch an den intuitiv und erlebnishaft gegebenen Phänomenen an, um aus deren Formen das Wesen der Erkenntnisgegenstände zu gewinnen. Es geht um innere Wirklichkeiten, Erlebnisse, wobei schon „am einzelnen Erlebnis [. . .] eine Gliederung sichtbar wird, die der Analyse ihren Weg vorzeichnet“.46 Neben dem phänomenologischen Sein der Objekte postuliert Litt aber auch ein überempirisches Wesen, eine eigene Wertgesetzlichkeit, die Litt als Sinnsphäre fasst.47 In inhaltlicher Sicht hat Litt die soziologischen Grundbegriffe des „geschlossenen Kreises“ und der „sozialen Verschränkung“ geprägt.48 Unter Berufung auf seinen philosophischen Gewährsmann Litt hält Smend der Radikalisierung des Positivismus bei Kelsen eine phänomenologische Strukturanalyse entgegen. Sie will soziale Wirklichkeit als Sinnzusammenhang auffassen, dessen Gesetze durch einfühlendes Verstehen zu begreifen sind. Auf dieser Grundlage will Smend ein „geisteswissenschaftliches“ Verständnis von Staat, Verfassung und Verfassungsrecht entwickeln, das Sein und Sollen, Wirklichkeit und Norm, Empirie und Wert zusammenführt. Smend beginnt so: „Die phänomenologische Struktur des Ich der Geisteswissenschaften ist nicht die eines objektivierbaren Elements des geistigen Lebens, das zu diesem Leben in kausalen Beziehungen stände. Es ist nicht an und für sich, vorher, und dann als kausal für dieses Leben denkbar, sondern nur, sofern es geistig lebt, sich äußert, an der geistigen Welt Anteil hat, das heißt auch in irgendwelchem allgemeinsten Sinne Gemeinschaftsglied, intentional auf andere bezogen ist.“49 Smends Lehre versucht deshalb, Staat und Verfassung als einen in stetiger Entwicklung stehenden Zusammenhang von geistigen, sozialen, individuellen und kollektiven Faktoren zu „verstehen“. Auf dieser methodischen Grundlage setzt sich Smend inhaltlich entschieden von der positivistischen Reduktion des Staates auf den Begriff der juristischen Person ab, auf ein mit Rechten und Pflichten ausgestattetes Subjekt, das als solches Träger des staatlichen Willens sei; genauso scharfe Zurückweisung findet aber auch Kelsens Identifizierung des Staates mit der Rechtsordnung, die Staatslehre per definitionem zur Normwissenschaft erklärt. Smend begreift den Staat demgegenüber als Teil der geistigen Wirklichkeit, die sich aus der Wechselwirkung individueller Lebensvorgänge ergibt, das heißt „integriert“. „Integ45 46 47 48 49

Litt Individuum und Gemeinschaft3, 1926. Litt (Fn. 45), 5. Litt (Fn. 45), 215 ff. Litt (Fn. 45), 239, 265 ff. Smend (Fn. 41), 125.

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ration“ bedeutet den dauernden einigenden Zusammenschluß der Bürger im Staat, nicht im Sinne eines hypothetischen oder historischen Gesellschaftsvertrags, sondern als geistiges Erlebnis der Zusammengehörigkeit und geistigen Zusammenfassung der Staatsbürger. Diese geistige Realität der Staatlichkeit ist nichts Statisches und auch keine „natürliche Tatsache, die hinzunehmen ist“,50 nichts Vorgegebenes, sondern sie entsteht permanent neu, indem Handlungen und Erlebnisse der Staatsbürger als Ereignisse staatlicher Einheit zusammenwirken. Der Staat „lebt und ist nur da in diesem Prozeß beständiger Erneuerung, dauernden Neuerlebtwerdens; er lebt [. . .] von einem Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt“.51 Smend entwickelt ein dynamisches und zugleich auf Harmonie bedachtes Staatsverständnis. Staatlichkeit ist ein beständiger Prozeß, in dem die Staatsbürger teils durch aktives Tun, teils passiv durch Erlebnisse staatlichen Handelns (bis hin zu Aufmärschen, Flaggen und anderen staatlichen Symbolen) in den Staat integriert werden. Durch die Zusammenschau deskriptiver und normativer Elemente versucht dieser Staatsbegriff eine Überwindung der Entzweiung von Individuum und Gemeinschaft. Dem krisengeschüttelten und durch weltanschauliche Gegensätze seiner Bürger zerrissenen Weimarer Staat hält dieses Staatsverständnis, zumindest auf staatstheoretischer Ebene, das positive Gegenbild der Einigkeit entgegen. Die Integrationslehre reflektiert aber auch die traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, die vielfach als Zusammenbruch der aufklärerischen Fortschrittsidee empfunden wurden. Der „Sackgasse der Aufklärung“ (Smend) mit ihrem Rationalitätsvertrauen setzt Smend bewußt die – zumindest teilweise – Irrationalität des Integrationserlebnisses entgegen. Integration ist bei Smend in den zwanziger Jahren das theoretische Gegenbild zu Pluralismus, Parteienzersplitterung und Klassenkampf. Der Integrationsbegriff Smends bewahrt auch im neuen demokratisch-republikanischen Staat einen etatistischen Standpunkt. Integration stehe für „die lebendigste Durchdringung aller gesellschaftlichen Sphären durch den Staat zu dem allgemeinen Zweck, alle vitalen Kräfte des Volkskörpers für das Staatsganze zu gewinnen“.52 Wesen und Funktion der Verfassung bezieht Smend auf die Dynamik des Staates als Sinneinheit menschlichen Lebens und Erlebens. Die Verfassung ist die rechtliche Ordnung des Integrationsprozesses, sie soll diesen Prozeß anregen, kanalisieren, Möglichkeiten zur Weiterentwicklung des staatlichen Systems offenhalten und schließlich Werte normieren, in denen sich die Staatsbürger einig sind. „Die Verfassung ist die Rechtsordnung des Staates, genauer des Lebens, in dem der Staat seine Lebenswirklichkeit hat, nämlich seines Integrations50 51 52

Smend (Fn. 41), 134. Smend (Fn. 41), 136. Smend (Fn. 41), 206 Fn. 3.

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prozesses. Der Sinn dieses Prozesses ist die immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates, und die Verfassung ist die gesetzliche Normierung einzelner Seiten dieses Prozesses.“53 Besonders wichtig ist Smend, daß die Dynamik der staatlichen Lebensvorgänge sich auf den inhaltlichen Bestand der Verfassung auswirken kann. Smend erlaubt eine fließende inhaltliche Weiterentwicklung der Verfassung auch ohne förmliche Verfassungsänderung. Der „politische Lebensstrom“ dürfe von „verfassungsmäßigen Bahnen“ abweichen, wenn dies nur dem Sinn der Verfassung entspreche. „Es ist also der Sinn der Verfassung selbst, ihre Intention nicht auf Einzelheiten, sondern auf die Totalität des Staates und die Totalität seines Integrationsprozesses, die jene elastische, ergänzende, von aller sonstigen Rechtsauslegung weit abweichende Verfassungsauslegung nicht nur erlaubt, sondern diese sogar fordert.“54 Hier liegt zugleich die zentrale Problematik dieses Verfassungsverständnisses: Die Dynamisierung der Verfassung bringt ihre Normativität in Gefahr. Smend unterschätzt die rechtliche Ordnungsaufgabe der Verfassung. Die Stabilität des Verfassungsrechts, die Berechenbarkeit verbürgt, tritt hinter die Elastizität des sich ständig wandelnden Verfassungssystems zurück. Wenn der Staat die Summe von Integrationsvorgängen ist und die Verfassung eine Funktion des Staates bildet, dann ist die Verfassung eine bewegliche Ordnung, der Verfassungswandel ohne Änderung des Normtextes ist ein notwendiges Element des Verfassungsbegriffs. Smends Verfassungsverständnis distanziert sich insgesamt entschieden von dem Formalismus des staatsrechtlichen Positivismus, der die Verfassung als starres Organisationsstatut verstand, deren Aufgabe es sei, staatliche Organe einzurichten, deren Kompetenzen zu bestimmen und abzugrenzen und schließlich die Rechte und Pflichten des Bürgers gegenüber dem Staat festzulegen. Während Kelsens Rechtspositivismus die Überwindung des Naturrechts will und dem Recht ethischen Indifferentismus zuspricht – dies gipfelt bei Kelsen später in berühmten Formeln wie der, Recht könne jeden beliebigen Inhalt haben, es gebe kein menschliches Verhalten, „das als solches, kraft seines Gehalts ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein“55 – will Smend ein materiales Rechtsverständnis begründen, das dem „Leben“, der sozialen Verschränkung des Ichs, Rechnung trägt. Es dürfte zu weit gehen, dies als Neuauflage einer politischen Romantik zu deuten. Aber die Integrationslehre ist Ausdruck massiver Kritik an der Vielfalt und Kälte der Moderne und der ihr gemäßen Wissenschaftsform der Distanz und Ra53 54 55

Smend (Fn. 41), 189. Smend (Fn. 41), 189 ff. Kelsen Reine Rechtslehre (Fn. 39), 201.

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tionalität. Den Rechtstheoretikern in der Tradition Kants geht es um die Möglichkeiten der Darstellung von Wirklichkeit und deren Bedingungen; Smends phänomenologisch-idealistischer Ansatz will den Zugriff auf die Sachen selbst. 5. Der Zusammenhang mit dem staatsrechtlichen Methoden- und Richtungsstreit Wissenschaftsgeschichtlich bildet die Integrationslehre damit einen wichtigen Teil der in den zwanziger Jahren in der deutschen Staatsrechtslehre zum Durchbruch kommenden Gegenströmung zum staatsrechtlichen Positivismus. Diese Frontstellung teilt die Lehre mit den antipositivistischen Konzeptionen von Schmitt, Heller und Kaufmann. Bei der inhaltlichen Neuausrichtung der Staats- und Verfassungslehre beschreitet Smend aber einen ganz eigenen Weg, der mit den Konzeptionen der meisten anderen Neuerer kaum Berührungspunkte aufweist. Die Integrationslehre wurde in den letzten Jahren Weimars stark beachtet und lebhaft diskutiert. Neben der fundamentalen staats- und verfassungstheoretischen Auseinandersetzung – kaum überraschend ist, daß Kelsen 1930 eine vehemente und polemische Ablehnung der Integrationslehre verfaßte56 – ging es der juristisch-dogmatischen Diskussion vor allem um die Frage, welche Bedeutung die Integrationslehre bei der Verfassungsinterpretation habe. Dies ist für Smends Normverständnis besonders aufschlußreich. „Integration“ fungierte nach Smends eigenem Bekunden hier als Schlüsselbegriff, um das Staatsrecht insgesamt von einem System der formalrechtlichen Willensverhältnisse in ein Verständnis als Ordnung des „nach Sinn und Wesen richtig verstandenen politischen Lebens“57 zu verwandeln. Damit waren – so Smend im Rückblick des Jahres 1973 – „alle Bestandteile der politischen Ordnung“ nach dem „neuen Struktursystem umzudenken“.58 Die Verfassung soll Werte und Überzeugungen aufnehmen, berücksichtigen, aber auch prägend auf den politischen Prozeß einwirken. Was Smend damit meint, wird deutlich vor allem im Bereich der Grundrechte. Während die positivistische Auffassung Grundrechte als Garantien einer staatsfreien Sphäre des Bürgers verstand, meinte Smend, Grundrechte 56 Kelsen (Fn. 15), 1930. Die scharfe Ablehnung bezog sich nicht nur auf die Thesen Smends, sondern auch auf dessen Darstellungsweise: „[. . .] ein völliger Mangel systematischer Geschlossenheit, eine gewisse Unsicherheit der Auffassung, die klaren eindeutigen Entscheidungen ausweicht, sich am liebsten nur in Andeutungen ergeht und jede einigermaßen faßbare Position mit vorsichtigen Einschränkungen belastet.“ 57 Smend Deutsche Staatsrechtswissenschaft vor hundert Jahren – und heute, in: Ehmke u.a. (Hrsg.) FS Arndt 1969, 451 (459). 58 Smend Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer und der Richtungsstreit, in: FS Scheuner 1973, 575 (586).

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seien nicht nur Schranke, sondern auch Anregung für den Staat. In den Grundrechten kämen die Werte zum Ausdruck, in denen sich ein Staatsvolk einig sei.59 Was dies bedeutet, hat Smend sehr nachdrücklich bei der Auslegung des Grundrechts der Meinungsfreiheit in der Weimarer Verfassung (Art. 118 WRV) demonstriert. Der Verfassungstext garantierte die Meinungsfreiheit – das Grundgesetz hält dies heute genauso (vgl. Art. 5 I, II GG) – „innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze“. Die Weimarer Lehre verstand die „Allgemeinheit“ der schrankenziehenden Norm zunächst dahin, daß Gesetze nicht speziell Meinungsäußerungen und nicht spezielle Meinungen beschränken dürften. Als Beispiele unzulässiger Gesetze nennt Gerhard Anschütz solche, die „die Verbreitung kommunistischer oder faszistischer oder atheistischer oder bibelwidriger Lehrmeinungen“ verbieten.60 Diese Auslegung weist Smend als „formallogisch“, aus dem Gegensatz von „allgemein“ und „besonders“ entwickelt, zurück. Sein eigener Lösungsansatz lautet: „Wenn es richtig ist, daß die Grundrechte zu bestimmten sachlichen Kulturgütern in einer bestimmten geschichtlich bedingten Wertkonstellation von Verfassungswegen Stellung nehmen, so sind sie dementsprechend geisteswissenschaftlich, insbesondere geistesgeschichtlich zu verstehen und auszulegen.“ Das Wort „allgemein“ bezeichne „einen alten sachlichen Gedanken aus dem überlieferten Gedankenkreis der Grundrechte: [. . .] Die ‚Allgemeinheit‘, um die es sich [. . .] handelt, ist [. . .] selbstverständlich die materiale Allgemeinheit der Aufklärung: die Werte der Gesellschaft, die öffentliche Ordnung und Sicherheit, die konkurrierenden Rechte und Freiheiten der anderen, – Sittlichkeit, öffentliche Ordnung, Staatssicherheit – an ihnen haben die Grundrechte ihre Schranke [. . .]. Das ist auch die Allgemeinheit des Art. 118: die Allgemeinheit derjenigen Gemeinschaftswerte, die als solche den ursprünglich individualistisch gedachten Grundrechtsbetätigungen gegenüber den Vorrang haben [. . .].61 ‚Allgemeine‘ Gesetze [. . .] sind also Gesetze, die deshalb den Vorrang vor Art. 118 haben, weil das von ihnen geschützte gesellschaftliche Gut wichtiger ist als die Meinungsfreiheit.“62 So wird die Verfassung zum Reservoir der Werte, der Verfassungsinterpret aktiviert wertend die Integrationsfunktion der Verfassung; das Interpretationsergebnis muß Konsens stiften und widerspiegeln. Dies war 59

Smend Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: ders. (Fn. 2), 89 (91). Anschütz Die Verfassung des Deutschen Reichs. Kommentar14, 1933, Nachdruck 1960, Art. 118 Anm. 3 (554). 61 Smend (Fn. 59), 96. 62 Smend (Fn. 59), 97 f. 60

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natürlich auch Smends ganz eigener Vorschlag, den formalen, rationalen, wertrelativistischen, aber wenig geliebten, wenig einheitsstiftenden Normen der Weimarer Verfassung Inhalt, Rückhalt und Prägekraft zu geben. Die Kontroverse um die Auslegung des Begriffs der allgemeinen Gesetze fokussiert wie durch ein Brennglas die unterschiedlichen Sichtweisen der Weimarer Verfassung und des Weimarer Staates überhaupt. Auf der einen Seite steht die konsequent freiheitliche Auslegung. Sie korrespondiert der positivistischen Trennung von Recht und Moral. Auf der anderen Seite steht Smends Mißtrauen gegen den freien Kampf der Meinungen. Sein Verfassungsverständnis hält es für möglich, Meinungsäußerungen wegen eines Inhaltes zu beschränken, der elementaren Gemeinschaftswerten widerspricht. Smends Staats- und Verfassungstheorie schwankt dabei zwischen durchaus demokratischen und modernen Ansätzen und einer neoidealistischen, metaphysischen Fundierung des Staates. „Integration“ kann als bewußte Gestaltung, aber auch als irrationales Erlebnis verstanden werden. Smends Arbeiten der Weimarer Zeit belassen es bei diesem Schwebezustand. Fast resignierend kommentierte Kelsen 1932 Umfeld und politische Wirkung der Materialisierung der Staatsrechtslehre und hatte dabei wohl auch Smend im Blick. Es verstehe sich „in den Kreisen der Staatsrechtslehrer und Soziologen [. . .] heute von selbst, von Demokratie nur mit verächtlichen Worten zu sprechen [. . .]. Und diese Wendung der ‚wissenschaftlichen‘ Haltung geht Hand in Hand mit einem Wechsel der philosophischen Front: Fort von der jetzt als Flachheit verschrieenen Klarheit des empirisch-kritischen Rationalismus, diesem geistigen Lebensraum der Demokratie, zurück zu der für Tiefe gehaltenen Dunkelheit der Metaphysik, zum Kultus eines nebulosen Irrationalen [. . .].“63

III. Die Jahre nach 1933 Nach 1933 wurde ganz vereinzelt der Versuch unternommen, den nationalsozialistischen Staat mittels eines gegenüber Smend modifizierten, autoritär gewendeten Integrationsbegriffes zu deuten und als Beispiel eines funktionierenden Integrationssystems darzustellen. Smend selbst hat sich daran nicht beteiligt. Er akzeptierte 1935 die Verdrängung von seinem exponierten Berliner Lehrstuhl. Die von anderer Seite unternommenen Versuche der Anwendung der Integrationslehre auf den neuen Staat endeten allerdings abrupt; die nach 1933 maßgebenden Juristen waren sich in der Zurückweisung

63 Kelsen Verteidigung der Demokratie (1932), in: ders. Demokratie und Sozialismus, 1967, 60 ff.

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der Integrationslehre einig.64 Zu Unrecht haben nach 1945 Kritiker der Integrationslehre eine unausgesprochene Neigung zum nationalsozialistischen Staat von Führer und Volksgemeinschaft unterstellt. Smend hat zwar in Verfassung und Verfassungsrecht den italienischen Faschismus gelegentlich erwähnt, vielleicht sogar für möglich gehalten, daß dort Integrationsformen entstünden, die wirksamer sein könnten als die des parlamentarisch-demokratischen Staates. Aber dabei blieb es. Nach 1933 hat Smend keine Zeile publiziert, der Zustimmung zu der neuen Staatsordnung entnommen werden konnte. Daß aber von anderer Seite Versuche, wenngleich zaghafte, unternommen wurden, die Integrationslehre in diesem Sinn zu instrumentalisieren, beleuchtet ein grundlegendes Problem: Die Integration der Staatsbürger in den Staat erscheint bei Smend in einseitiger Betonung als das Schicksalsproblem der Staatlichkeit – auf welche Weise die Herstellung staatlicher Einheit sich vollzieht, tritt demgegenüber zurück. Klar ist bei Smend allein, daß Integration nicht Kampf bedeutet, nicht Unterscheidung von Freund und Feind, sondern Sinnerfahrung in der Gemeinschaft. Diese sehr sanfte und ästhetisierende Lehre war eine durchaus verständliche Reaktion auf den Weimarer Staat, aber: Smends Orientierung am Modell des harmonischen Normalfalles staatlicher Einheit überschätzte die Möglichkeit, staatliche Wirklichkeit auf die bewußte Einordnung des einzelnen in den Staat zu gründen. Der Fixierung auf den Staat als Einheitsgefüge mangelte es zudem an einer klaren Perspektive auf die spezifischen Probleme des demokratischen und pluralistischen Staates – die Integrationslehre reflektierte weder Probleme der Ökonomie noch fanden in ihr Parteien und Verbände Berücksichtigung, Gruppierungen, die sich zwischen den Staat und den einzelnen stellen. Die Integrationslehre war staatszentriert und blieb dem Verhältnis von einzelnem und Staat verhaftet. Damit stellte sich Smend vielen Aspekten der tatsächlichen Verhältnisse und Probleme des Weimarer Staates nicht.65 Dessen Krise wird diagnostiziert, aber die verlorene Harmonie und Normalität wird in einem theoretischen Konzept staatlicher Einheit wiederhergestellt, das beim Aufzeigen der Voraussetzungen und Schwierigkeiten der Einheitsbildung einerseits zu kurz greift, andererseits „kaum 64

Huber Wesen und Inhalt der politischen Verfassung, 1935, 23 ff., kritisierte an der Integrationslehre die Dynamisierung von Staat und Verfassung, die mit der Notwendigkeit fester Befehlsstrukturen im neuen Staatssystem nicht vereinbar sei, ferner den individualistischen Ansatz Smends und die Deutung der Integration als rein geistiges Phänomen. Vgl. dazu Stolleis Im Bauch des Leviathan – Staatsrechtslehre im Nationalsozialismus, in: ders. Recht im Unrecht, 1994, 126 ff.; Dreier Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60 (2001) 9 (15 ff.). 65 Dazu auch Lhotta Rudolf Smend und die Weimarer Demokratiediskussion: Integration als Philosophie des „Als-ob“, in: Gusy (Hrsg.) Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000, 286 ff.; Lehnert Desintegration durch Verfassung? – Oder wie die Verfassung der Nationalversammlung von 1919 als Desintegrationsfaktor interpretiert wurde, in: Vorländer (Hrsg.) Integration durch Verfassung?, 2002, 237 ff.

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erfüllbare Ansprüche an die Integrationskraft der fragmentierten Gesellschaft“66 richtet. Die Frage, ob es überhaupt möglich ist, im zwanzigsten Jahrhundert den Staat als Formierung eines einheitlichen Willens der Staatsbürger, als Zusammenfassung heterogener Interessen zu begreifen, wird von Smend überhaupt nicht gestellt.67

IV. Die Smend-Rezeption nach 1945 Nach 1945 ist die Integrationslehre Smends noch stärker als andere staatsund verfassungsrechtliche Entwürfe der Weimarer Zeit zur (Selbst-)Beschreibung des politischen Systems der Bundesrepublik herangezogen worden.68 Das Bundesverfassungsgericht hat Teile seiner Verfassungsinterpretation im Anschluß an Smend entwickelt. Die Entwicklung der objektiven Grundrechtsfunktionen und das Verständnis der Grundrechte als sachliche Grundentscheidungen69 rezipieren Smends Verständnis der Grundrechte als Normierung von Werten. Im Staatsorganisationsrecht lebt die Smendsche Bundestreue als Pflicht zu „bundesfreundlichem Verhalten“70 weiter. Das Verfassungsgericht hat überdies Verfassungsfragen des Wahlrechts mit dem Topos der „Integrationsfunktion der Wahlen“71 zu lösen gesucht. In der Staatsrechtslehre bildet die „Smend-Schule“ eine einflußreiche Richtung. Fast immer wird jedoch die Normativität der Verfassung stärker als bei Smend betont; nur vereinzelt findet sich die prononcierte Forderung nach 66

Dreier (Fn. 64), 13. Dies geschieht in Weimar – betrachtet man den Kreis der antipositivistischen Neuerer – ausschließlich bei Hermann Heller. Dazu Vesting Staatslehre als Wirklichkeitswissenschaft?, Der Staat 31 (1992) 161 ff. Wenig überzeugend und überraschend daher die Einschätzung von Hennis (Fn. 13), 356, 363, Smend sei ein „reformierter Altliberaler, Freisinniger“ und „radikal moderner Denker“ gewesen. 68 Dazu Günther (Fn. 10), 159 ff., 234 ff.; Korioth (Fn. 19), 228 ff. 69 Zuerst BVerfGE 7, 198 – Lüth, dort auch (208 ff.) die Anknüpfung an Smends Bestimmung der „allgemeinen“ Gesetze als Schranke der Meinungsfreiheit: Es handelt sich um solche Gesetze, „die nicht eine Meinung als solche verbieten [. . .], die vielmehr dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsgutes dienen, dem Schutz eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat“. Bei genauer Betrachtung diese Schrankenformel zeigt sich, daß die beiden Weimarer Ansätze – obwohl disparat – vom BVerfG einfach kombiniert werden. Differenzierend zur Anknüpfung des BVerfG an Smend Ruppert Geschlossene Wertordnung? Zur Grundrechtstheorie Rudolf Smends, in: Henne/Riedlinger (Hrsg.) Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, 2005, 327 ff. 70 BVerfGE 12, 205 (254 f.); 42, 103 (117); 81, 310 (377); 103, 81 (88); Bauer Die Bundestreue, 1992. 71 BVerfGE 95, 408 (419 f.) – Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Grundmandatsklausel: „Funktion der Wahl als eines Vorgangs der Integration politischer Kräfte“, „Anliegen einer effektiven Integration des Staatsvolkes“; kritisch Heintzen Die Bundestagswahl als Integrationsvorgang, DVBl. 1997, 744 ff. 67

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einer „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“.72 Faszinierend war nach 1945 offenbar, daß Smends Verfassungstheorie eine gute Grundlage bot, Diskurse über Werte in die Verfassungsnormen hereinzutragen – ein nach den Erfahrungen der NS-Zeit verständliches Bestreben. Außerdem: Die Annäherung von Recht und Politik bei Smend korrespondierte in starkem Maße der politischen Kultur der Bundesrepublik, ihrer Neigung zur Verrechtlichung politischer Fragen. Was die Staatslehre angeht, war aber spätestens seit den sechziger Jahren statt von Integration, die den Beiklang des passiven Erfaßtwerdens hat, stärker vom „Konsens“ die Rede.73 Integration wird zur pluralistischen Integration. Von ferne schien schließlich die Integrationsfunktion der Verfassung in der Diskussion um den „Verfassungspatriotismus“74 auf. Seit etwa Mitte der 1970er Jahre ist die Diskussion dann noch einmal in zwei Schritten weitergegangen. Zunächst traten theoretische Vergewisserungen über den Staat als Voraussetzung des Staatsrechts zurück.75 Zunehmende soziale und kulturelle Differenzierungen der Gesellschaft, pluralistische Desintegration in den Begriffen Smends, Europäisierung und Globalisierung ließen zunehmend die Einheit des Staates als Bezugspunkt juristischen Denkens, der noch in der Weimarer Zeit allen staatstheoretischen Konzeptionen gemeinsam war, zum Mythos werden. Dennoch ist nicht zu befürchten, daß Smends Grundfrage nach den Voraussetzungen gelingender Gemeinschaftsbildung ihre Bedeutung verliert. Daß man hier an den „Argumenten der Integrationslehre nicht ganz [wird] vorbeigehen können“,76 diese vorsichtige Hoffnung des späten Smend hat sich bislang erfüllt und wird sich weiterhin erfüllen. Smend bleibende Erkenntnis – und zugleich Mahnung – liegt darin, den Staat als Kulturleistung und Kulturaufgabe77 zu begreifen, deren Gelingen und Lösung sich nicht von selbst verstehen, sondern beständiger Bemühung bedürfen. Eine Weiterführung des Methoden- und Richtungsstreits der zwanziger Jahre, die Entwicklung staatsrechtlicher Positionen aus rechtsphilosophischen Grundlagendebatten, hat es nach 1945 nicht gegeben. Das Bundesver72

So aber der programmatische Titel eines Aufsatzes von Häberle JZ 1975, 297 ff. Vgl. Haltern Integration als Mythos. Zur Überforderung des Bundesverfassungsgerichts, JöR n.F. 45 (1997) 32 ff. 74 Vgl. Sternberger Verfassungspatriotismus (1979), in: ders. Schriften, Band 10, 1990, 13 ff. Kritisch Isensee Die Verfassung als Vaterland, in: Mohler (Hrsg.) Wirklichkeit als Tabu, 1986, 11 ff.; Grimm Verfassungsrechtlicher Konsens und politische Polarisierung in der Bundesrepublik Deutschland, in: ders. Die Zukunft der Verfassung, 1991, 287 ff. 75 Böckenförde Der Staat als sittlicher Staat, 1978, 9 f., beklagte etwa, der 1977 erschienene erste Band des Staatsrechts von Klaus Stern enthalte ein „Staatsrecht ohne Staat“. 76 Oben Fn. 14. 77 Hennis (Fn. 13), 380. Hierzu auch Lhotta Ethischer Institutionalismus und sittliche Pflicht zur Integration. Der Schatten Hegels in der Integrationslehre, in: ders. (Fn. 7), 91 ff.; Korioth Integration und staatsbürgerlicher Beruf: Zivilreligiöse und theologische Elemente staatlicher Integration bei Rudolf Smend, ibid, 113 ff. 73

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fassungsgericht ist zu der „integrierenden“ Instanz geworden, deren Auslegungen der Verfassung – der gelegentliche heftige Widerspruch richtet sich gegen einzelne Entscheidungen des Gerichts, nicht gegen seine Rolle insgesamt78 – grundlegende Auseinandersetzungen zurücktreten läßt.

78 Anschließend vor allem an BVerfGE 93, 1 – Kruzifix-Beschluß; BVerfGE 93, 266 – Strafbarkeit der Äußerung „Soldaten sind Mörder“.

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Ernst Rabel (1874–1955) Ole Lando

Ernst Rabel (1874–1955)1 OLE LANDO

I. Academic Career . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rabel at Work . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. The Driving Forces . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. B Comparative Approach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. The laws of the entire world? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Legal realism, functionality and undogmatism . . . . . . . . . . 5. Style . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. The Warenkauf and the International Sale of Goods . . . . . . 1. Unification of the substantive rules . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Contents and System of the Warenkauf . . . . . . . . . . . . . . 3. Scope of a Uniform Sales Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Some issues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. The influences of the Warenkauf, the Uniform Sales Laws of 1964 and CISG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. The Conflict of Laws . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. How was Rabel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Rabel’s Nachwuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Berlin and The Max Planck Institute after Rabel . . . . . . . . .

605 607 607 608 609 610 612 612 612 614 614 617 619 620 622 623 624

I. Academic Career Ernst Rabel was born in Vienna, ‘the spirited city’,2 where in the latter part of the 19th century Sigmund Freud, Stefan and Arnold Zweig, Gustav Klimt and Arnold Schönberg grew up. He was the son of a distinguished member of the Vienna bar. His parents were ethnic Jews who had converted to Catholicism. Rabel studied in France and Germany and graduated from the University of Vienna. His scholarly work was then dedicated to comparative legal his1

I am indebted to the Max Planck Institute in Hamburg, and notably to Mrs Elke Halsen-Raffel for providing me with works of Ernst Rabel and literature on him. 2 Rheinstein In Memory of Ernest Rabel, 5 American Journal of Comparative Law (1956) 185–196.

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tory. He wrote on ancient Egyptian, Roman and Greek law and the history of French and German law. His first major work was a historical and comparative account of the seller’s liability for lack of title.3 Rabel became professor at the law faculty of Leipzig in 1904. After that he joined one Swiss and two German faculties till he came to Munich in 1916, where he stayed till 1926. He was now also interested in the comparison of the laws of his own time, and he was active in establishing the World’s first Institute of Comparative Law. Here in Munich he had close contacts with the trade and industry, and he taught young lawyers the foreign laws in practice, their authorities, courts and procedures, and their problems and weaknesses. The Institute became a success. In 1926 he joined the prestigious law faculty of the Friedrich-Wilhelms University in Berlin (now the Humboldt University) and became the first director of the Kaiser Wilhelm Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, which from its start in 1926 till 1944 had its premises in the old Castle in Berlin. The institute was dedicated to research and to providing information on foreign laws and on private international law to the German Foreign Office, to legislators, courts, lawyers and business. Rabel was the founder and the editor of the Journal of Foreign and Private International Law, Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, which was first published in 1927 and which soon came to be known as an outstanding law review. At that time Berlin was one of the centres of European culture. Art in Berlin was extremely active, expressionist and experimental. Dadaism and Surrealism defied the conventions. The Dreigroschenoper by Bertold Brecht and Kurt Weill equated capitalism with crime. It is most unlikely that Rabel sympathised with these movements. On the other hand, people are seldom quite unaffected by their environment. As the German member of the governing council of the Roman Institute for the Unification of Private Law (the UNIDROIT), he persuaded the council to establish a team of scholars to prepare a Uniform Sales Law. He became a leading member of that team and thus started the work, which about 50 years later was crowned by the adoption of the United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods (CISG), which in May 2010 had been ratified by 74 countries. In 1936 Rabel published the first volume of Das Recht des Warenkaufs4 (hereinafter Warenkauf), which was an outstanding work.5

3 Rabel Die Haftung des Verkäufers wegen Mangels im Rechte. Band 1. Geschichtliche Studien über den Haftungserfolg, 1902. 4 Rabel Das Recht des Warenkaufs, Vol I, first published in 1936 (reprint 1957), Vol II, 1958. 5 See section III below.

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Early in 1937 the Nazi regime forced Rabel, who was of Jewish descent, to abandon his chair and the Institute. He remained for some time in Germany, but he was not allowed to publish, and not allowed to work in the Library of the Institute; his salary was cut and eventually cancelled. His friends then persuaded him to leave the country with his family. In September 1939 he arrived in the United States, where he got a grant from the American Law Institute and the University of Michigan to prepare a treatise on the Conflict of Laws. His Conflict of Laws, A Comparative Study6 came out in four volumes in the United States after the war. Temporarily back in Germany in 1950–1952, he almost finished the Second Volume of the Warenkauf, which was published in 1958 after his death. The bibliography of his writings in the Festschrift to him on the occasion of his 80th birthday in 1954 covers twenty pages. This testifies that he was a hard-working man with considerable organisational skills and working discipline. Rabel seized upon the opportunities he could get to combine academic with judicial work. After graduation he spent a few months as a junior member of the Austrian Bar. During his time as a professor in Basel, he acted as a member of the Appellate Court of the Canton. In Munich he was part-time judge of the appellate court from 1920 to 1925. On occasions he was the German judge in international arbitral tribunals. Legal practice taught him which problems were of importance for the practitioners and which theories were useful within the frame of courtroom reasoning.

II. Rabel at Work 1. The Driving Forces As Samuel Johnson said, “a generous and elevated mind is distinguished by nothing more certainly than an eminent degree of curiosity”7 and Rabel possessed this eminent degree. “At the head of the purposes of comparative law is the acquisition of knowledge”, he wrote.8 Like other academics Rabel felt an urge: “We lawyers . . . obsessed by the wish to improve the law as we are, are simply not capable of denying us the 6 Rabel The Conflict of Laws. A Comparative Study, Vol 1, 1945, 2nd edition 1958, Vol 2, 1947, 2nd edition 1960, Vol 3, 1950, 2nd edition 1964, Vol 4, 1958. See section IV below. 7 Here quoted from the preface to Zweigert/Kötz Introduction to Comparative Law3, 1998, V. 8 „An der Spitze ihrer Zwecke steht die Vertiefung unseres Wissens“, see Rabel Gesammelte Aufsätze II 24, here quoted from Neuhaus, Was nicht im Kürschner steht, Angehörige und Freunde des Instituts von Z–A, Stand 1982.

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prospects of the better law”.9 He supplied the information he gave on the laws with conclusions where he told the reader which in his opinion was the better rule of law. To make uniform the laws and notably the sales laws was Rabel’s ideal. He envisaged that it would take time to reach that goal, but that the devotion to the task of those who worked for it would be powerful.10 2. Comparative Approach Rabel attacked the parochialism and isolationism of the lawyers in and outside of Germany, who ‘took the Chinese Wall as their model’.11 In his view there was ‘no true legal science which can shut itself up in the study of only one legal system’.12 It was one of Rabel’s main theses that the rules and the concepts of private international law were to be developed upon a basis of comparative research. Qualification was for many years a favourite obsession of scholars in the field of conflict of laws. Many lawyers wanted to demonstrate their shrewdness by producing a disquisition on that subject. In simple words, qualification is a question of interpretation. How do you interpret terms used in rules on private international law? If a choice of law rule provides that the effects of a contract are to be decided by the law of the place of its performance, you have to decide what is effects, what is performance and where is the place of performance. These concepts may have different meanings in the various laws. In some countries the place of performance of a money debt is the place of business of the creditor, in others the place of business of the debtor. In Rabel’s time it was widely held that the law of the forum country (the lex fori) decided the meaning of the concepts. If we assume that England and Germany both applied the choice of law rule mentioned above to an insur9 Here cited from Drobnig Die Geburt der modernen Rechtsvergleichung. Zum 50. Todestag von Ernst Rabel, Zeitschrift für europäisches Privatrecht 2005, 822, 830. 10 „Au reste, il ne faut pas oublier le but suprême de nos efforts: il est idéaliste. Nous cherchons à ouvrir une voie au droit modnial des obligations tout entier. Cette oeuvre est lente, mais le dévouements qui lui seront consacrés seront puissants en eux-mêmes”, see Rabel Observations sut l’utilité d’une unification du droit de vente au point de vue des besoins du commerce international, 22 RabelsZ (1957) 122, 123. 11 Rabel Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung, Münchener Juristische Vorträge 1925, 2, here cited from Coester-Waltjen Ernst Rabel, Ein Leben für die Rechtsvergleichung, in: Landau/Nehlsen (eds.), Große jüdische Gelehrte an der Münchener Juristischen Fakultät, 2002, 77, 79. 12 I have the proverb from René David, who told me that he had it from Rudolph Iehring but never disclosed to me where Iehring had written it.

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ance contract,13 an English court would qualify the place of performance of an insurance amount as being the place of the business of the insured party and apply the law of that party; the German courts would determine the place of performance to be the law of the insurance company and apply the law of that party. In an article in the Zeitschrift on “Das Problem der Qualifikation”,14 Rabel proposed to replace the qualification by the lex fori by a comparative method. The concepts should be interpreted by taking the meaning of the concept of the various laws into consideration in order to find the most appropriate interpretation. The conflict of laws must make its own concepts.15 Rabel was ahead of his time. In 1931 such a “globalised” method was unheard of. It was argued against it that conflicts of law was national law and had to abide by the national legal tradition and culture. In addition it was a too heavy burden on the national courts to make a comparative study of the concepts in order to find the most appropriate one. To the ‘nationalist’ argument Rabel replied that the purpose of the choice of law rules was to achieve uniformity among the nations. To the second objection Rabel said that that is not the task of the courts; it is the task of the scholars to apply the comparative method. Today the concepts of the EC Treaty and legislation must have one meaning, and that should be determined on the basis of a comparison of the laws of the Member States. The Court of Justice of the EC has used Rabel’s method. It has adopted an autonomous interpretation of most of the terms of the Convention on Jurisdiction and the Recognition and Enforcement of Judgments in Civil and Commercial Matters, now the Regulation No 44 of 22 December 2000. And it has made the national courts do the same. 3. The laws of the entire world? Rabel demanded that the writer on comparative law encompass the law of the whole World. When you wish to prepare a Law for the World, you must account for the laws of the World. In the Warenkauf he almost followed this requirement. In the 1960ies Konrad Zweigert launched the International Encyclopaedia of Comparative Law, a gigantic undertaking of the Max Planck Institute scheduled to cover 17 sizeable volumes, which June 2009, more than 40 years after it was started, is well on the way but not yet finished.16 13 They do not anymore, see the EC Regulation 2008 on the Law Applicable to Contractual Obligations art 7. 14 Das Problem der Qualifikation, 5 ZAUSL (1931) 241–288. 15 Idem 283. 16 Published under the auspices of the International Association of Legal Sciences. The first issue appeared in 1971.

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Zweigert and his co-editor Ulrich Drobnig17 wanted their reporters to treat all the laws that make contributions to the problems being studied. That is an ambitious demand, but the Encyclopaedia was so amply financed that the many comparatists from all over the world who worked as chief reporters could buy books, make short law finding travels and get help from national reporters so as to comply with this wish of the editors. However, as Hein Kötz has pointed out, comparisons made by individuals may also be useful and their research must of necessity be confined to a limited number of legal systems. If they deal with a specific topic, they should only cover those systems which bring solutions that are worth while treating; either because they are to be found in the major legal systems such as England, USA, France and Germany, or because they add something to the discussion.18 And as we shall see, when Rabel wrote his Conflict of Laws he was less ambitious. 4. Legal realism, functionality and undogmatism In Scandinavia and in the USA, legal realism emerged in the first half of the 20th century. To many lawyers it came as a revelation. It freed the law of the superstition and a priorism which so far had clung to it. Rabel pointed to all the factors which create the laws of the nations: “Students of the problems of law must encompass the law of the whole world, past and present, and every thing that affects the law such as geography, climate, soil, race, developments and events shaping the course of a country’s history with its wars and revolutions, how the state was founded, subjugations, religious and ethical ideas, the ambitions and creativity of individuals, patterns of production and consumption, the interests of groups and classes, all kinds of currents like feudalism, liberalism and socialism, legal ideas adopted, and, last but not least, the search for a political and legal ideal. All that makes the social, economic and legal output. Thousandfold plays and trembles under sun and wind the law of each developed people.”19 This, it is submitted, was realism. In the old days the professors in the civil law countries held that the law was to be found in the statutes. The decisions of the courts were not proper sources of law, and hardly worth mentioning.20 That view was still widely 17 Drobnig Methodenfragen der Rechtsvergleichung im Licht der “International Encyclopedia of Comparative Law”, in: Ius Privatum Gentium, FS Rheinstein I 1969, 221; and Zweigert 33 RabelsZ (1969) 539. 18 Zweigert/Kötz (Fn. 7), 40 ff. 19 Rabel (Fn. 11), 5. 20 In 1810 Anselm Feuerbach had written in his text book on criminal law p ix: “The author thinks that he has acted wisely in not entirely passing over judicial decisions much

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held in the 1920ies. In 1925 Rabel wrote briefly and emphatically: “The statute without the case law that accompanies it is like a skeleton without muscles”.21 Rabel included the muscles when he stated the laws, and in 1945 in the Conflict of Laws22 he could note that in the 1930ies German writers on the Conflict of Laws had adopted this approach. One of them, Arthur Nussbaum, wrote in 1932: “The court decision is in fact more important than doctrine or principle. When deciding a case the judge feels his responsibility for the living individuals before him whom his judgment will affect economically and often also mentally. The problems of the case force themselves upon him with the power of the direct and immediate experience. The response which his sense of justice will give to this challenge will often lead the judge to the right result even though he does not arrive at cognition of the pertinent arguments”.23 In all his writings Rabel fought conceptualism and a priorism.24 In his Conflict of Laws, he quoted the American Walter Wheeler Cook, who in his writings on the conflict of laws attacked the conceptualism from the point of view of logical empiricism, and who was counted as a realist. However, as far as I know, Rabel never openly subscribed to the philosophy of the realists. Konrad Zweigert said Rabel despised Legal Philosophy, which he regarded as “a happy hunting ground for lunatics”.25 However, his explanation of the genesis of the laws just mentioned was philosophical, and his article on “Das Problem der Qualifikation” in private international law was, as mentioned above, one dressage of legal methodology. What Rabel probably disliked were some philosophers’ abstruse writings. Rabel was bestowed with inventiveness and originality. He would probably have agreed with the Danish realist Alf Ross, who in his criticism of the concepts of jurisprudence wrote that we do not see things as they are, but as we have been taught to see them. A scholar should be able to forget what he has been taught.26 Rabel is credited for having pointed to functionality as the true staring point for a comparatist’s investigation. Instead of taking a legal rule as the point of departure, the comparatist should look at the problem which the rule takes care of. You do not get a true picture of the law of a country if though he hates that cushion of literary indolence, that support of blind arbitrariness (here quoted from Wolf Private International Law2, 1950, 33 note 2). 21 Rabel (Fn. 11), 4. 22 Rabel (Fn. 6), Vol 1, 1945, 22. Rabel mentions Hans Lewald, Melchior, Arthur Nussbaum, Martin Wolff and Leo Raape. 23 Nussbaum Deutsches Internationales Privatrecht, 1932, Preface. 24 Rheinstein (Fn. 2), 187: “Rabel . . . avoided participation in the methodological controversy by which German juristic thought was agitated”. 25 Neuhaus (Fn. 8), 49. One may wonder how Rabel distinguished between Rechtsphilosophie and Allgemeine Rechtslehre. 26 Ross Virkelighed og Gyldighed i Retslæren, 1934, 17.

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you only study the succession right of the surviving spouse. You should ask about his or her position in the estate. Some systems do not give the surviving spouse any or very modest succession rights, but grant him or her a right to receive in advance a certain amount of the community property or of the deceased spouse’s property or to select certain assets out of his or her property or of his or her share of the community property. Some systems give the surviving spouse a right to an undivided possession of the entire community property etc. In Germany, the country of dogmatism, Rabel made it a virtue to be undogmatic. In his Warenkauf he praised the empirical approach of the common lawyers and wrote with appreciation of the practical outlook of the Scandinavians. He gained followers. When in 2005 Hein Kötz, another great German comparatist, reached 70, a book consisting of 20 articles of his was published by the Max Planck Institute. The title of the book was “Undogmatisches”.27 5. Style In his writings Rabel argued with an ardour born of conviction and with a considerable force of persuasion. His style was clear, succinct and often colourful, suggesting that he had enjoyed the writings of the poets. “The comparatists”, he wrote, “are used to penetrate into the foreign thickets and to expect that under each bush a native lies in wait with his poisonous arrows”,28 and about the US law: “It is a breathtaking sea with enormous waves . . . a sea which no one masters”.29 When Rabel came to the United States he was close to retiring age, and his English is said not to have been very good. Several American colleagues helped him with the English language of the Conflict of Laws, and among them Professor Hessel E. Yntema who was a fine stylist. The book is a pleasure to read.

III. The Warenkauf and the International Sale of Goods 1. Unification of the substantive rules The work at a uniform sales law underwent several stages. It started around 1930 with the preparatory work in UNIDROIT. A first draft was 27 Kötz Undogmatisches, Rechtsvergleichende und rechtsökonomische Studien aus dreißig Jahren, 2005. 28 Rheinstein Mitteilungen der Max Plack Gesellschaft 1967, 6–8, here quoted from Coester-Waltjen (Fn. 11), 82. 29 Rabel Deutsches und Amerikanisches Recht, 15 RabelsZ (1951) 340.

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published in 1935,30 a Second in 1939,31 both in the French language. The work came to a standstill during the World War II but was resumed after the War. In the autumn of 1951, a Conference on the Unification of International Sales of Goods was held in the Hague. On this Conference the 1939 draft with slight amendments of 1951 was discussed. A new draft of the Uniform Law of International Sales was prepared in 1956 by a special commission appointed by the Hague Conference.32 At the second Hague Conference in April 1964, French and English texts of the Uniform Law of International Sales and the Uniform Law on Formation of International Sales, the ULIS and the ULFIS, were adopted. The ULIS and the ULFIS only came into force in Belgium, Germany, Italy, Netherlands and a few other countries. That was unsatisfactory, and new efforts were needed to being about an International Sales Law. A final stage was the preparation and holding of the UNCITRAL Conference in 1980, where CISG, which came to replace ULIS and ULFIS, was adopted in six original languages.33 Rabel and his team of prominent lawyers in the UNIDROIT had set the tone and established the framework. Rabel’s ideas were developed in Das Recht des Warenkaufs. This book is his main literary achievement. The Warenkauf describes in great detail the sales law and the law of formation of contracts in almost all the legal systems of the world.34 Rabel also proposed the rules which were later incorporated in the drafts of the Uniform Sales Law. Several of them are provided in the CISG. Why did Rabel want to draft substantive rules on sales? Rabel was an expert on private international law. In the 1920ies and 1930ies, the Hague Conference on Private International Law was preparing uniform choice of law rules for the sales contract. He could have joined that conference. Rabel welcomed the efforts of the Hague Conference, “but”, as he wrote, “under the reign of a uniform private international law it will be more strongly realized how difficult it is for a foreign judge to procure detailed information on the doctrine and case law of the various countries, and how unjustified it is that issues which have little to do with the national character are decided differently in the various countries or that the same or very similar solution are reached in very different ways”.35 I first read the Warenkauf in 1958, and I did not then pay attention to this passage. Had I done that I would have realized that long before I did it, Ra30

See Rabel (Fn. 4), Vol II, 374 ff. See Rabel (Fn. 4), Vol II, 395 ff. 32 See Rabel (Fn. 4), Vol II, 416 ff. 33 Arabic, Chinese, English, French, Russian and Spanish. 34 It does not contain the rules on the validity of the sales contract and on the effects of the sales upon third parties, and these subjects were also excluded in ULIS ULFIS and CISG. 35 Rabel (Fn. 4), Vol I, 36. 31

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bel had pointed to the shortcomings of the choice of law rules36 and to the fact that contract law is not folklore. In the Preface of the Warenkauf, Rabel paid tribute to his Colleagues in the UNIDROIT with whom he had had a “most profitable exchange of knowledge” on the laws of the world. He profited from the knowledge he got from among others Algot Bagge, an internationally known Swedish Supreme Court Justice, Professor Henri Capitant, one of the most outstanding French scholars of the 20th Century, and the famous Cambridge professor H.C. Gutteridge. 2. Contents and System of the Warenkauf Volume 1 of the Warenkauf has four parts. The first is dedicated to the scope and object of the unification; the second to the formation and form of contracts; the third to a general survey of the parties’ duties; and the fourth part, which covers about ¾ of the book, to the duties of the seller to deliver the goods. That part is divided into two sections. The first is devoted to Länderberichte. Here, Rabel gives a coherent description of the seller’s duties in the various laws. In the second section on Rechtsvergleichung, he makes a comparative analysis of the attitude to the various issues, the delivery of the goods, the liability for non-performance, the remedies of the buyer in case of non-performance, conditions for and scope of damages, termination etc. On each of these problems, Rabel gives his opinion. After the War and notably on his prolonged visit to the Institute in Tübingen in 1950–1952, Rabel prepared Volume 2. It only contains a comparison of the particular problems. In part five it treats the duties of the buyer, in part six the liability for non-conformity of the goods and ‘related doctrines’, and in part seven the passing of risk. Rabel managed to grant his imprimatur to parts five and six. Part seven was completed after his death. 3. Scope of a Uniform Sales Law Rabel begins in §§ 1 and 2 of the Warenkauf with a survey of the codifications of the law of sales. He makes a tour d’horizon. He lists and treats the laws of more than 70 countries, many of which have several sales laws, and he arranges them in ‘families’. The Mid-European family more or less corresponds to the Germanic Legal Family in Zweigert & Kötz, Introduction to Comparative Law, and as in that book the Romanistic, the Anglo-American, the Nordic and the Islamic laws are treated as separate families. In § 3 Rabel shows that the sale can be given separate treatment. You do not have to unify the law of obligations. This approach had been followed in 36

E.g. Lando The eternal crisis, in: FS Drobing 2008, 361.

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the Nordic and Anglo-American sales laws and the sales sections in the former German Allgemeine Handelsgesetzbuch of 1861 (allg.HB). He also points out that the sales sections of the allg.HB had been adopted in several countries outside of Germany whose laws were very diverse. An International Sales Law can, he claimed, stand alone without disturbing or being disturbed by the legal environment. Rabel was probably right. Today, even in a ‘hostile’ environment, where the law of obligations differs widely from CISG, the latter can stand alone. There has, however, been problems with the application of CISG. In some countries in the Arab World37 and in China,38 the courts have failed to apply CISG, and this may be due either to ignorance or to resistance. In order to avoid a homeward trend, art 7(1) of CISG provides that “in the interpretation of this Convention, regard is to be had to its international character and to the need to promote uniformity in its application”. In some countries, however, the courts have let the domestic laws influence the interpretation of CISG. Some US courts have for instance interpreted the rules of CISG in light of the rules of the Uniform Commercial Code. On the other hand, one also finds US courts and courts in other countries39 giving the rules of CISG an ‘international’ interpretation.40 In § 3 Rabel proposed to exclude the law of property (Sachenrecht) from the uniform law of sales, and this idea has been adopted in ULIS art 4 and CISG art 4(b). He proposed not to restrict the scope of the law to commercial contracts and not to establish rules which treat commercial and non commercial contracts differently. This idea was also adopted in ULIS and in CISG art 1(3), where it is provided that the civil or commercial character of the parties or of the contract is not to be taken into consideration in determining the application of CISG. However, in CISG art 2 consumer sales are excluded. In § 4 Rabel let be known that he had persuaded the UNIDROIT to restrict the scope of the uniform rules to cover only international sales. To introduce rules to cover the domestic sales would, he wrote, encounter a too strong resistance. The Uniform Sales Laws of 1964 and CISG cover international sales only. To determine the criteria of what is an international sale

37 See El-Shagir The Interpretation of CISG in the Arab World, in: Janssen/Meyer (eds.) CISG Methodology, 355. 38 See Wei Li The Interpretation of CISG in China, in: Janssen/Meyer (Fn. 37), 343. 39 Both trends are reported by Ferrari Homeward Trend: What, Why and Why Not, in: Janssen/Meyer (Fn. 37), 171. See also the Home page of UNILEX on CISG art 7 Select Cases by Articles and Issues. 40 See Unilex on CISG art 7 Select Cases by Articles and Issues 1.2.1 Recourse to foreign case law and scholarly writing, where arbitrators and courts of nine countries and among them Germany and the United States have made reference to foreign court decisions and scholarly writings.

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was more difficult. Each of the drafts of 1935 and 1939, ULIS and CISG rely on different criteria. Rabel probably had a preference for the rule in the 1935 Draft under which a sale of goods was international when the parties had their places of business in different States, and the goods were to be carried from one State to another.41 CISG art 1(1) has omitted the carryingfrom-one-State-to-the-other requirement. It provides that it applies to contracts of sale of goods between parties whose places of business are in different States: (a) when the States are Contracting States; or (b) when the rules of private international law lead to the application of the law of a Contracting State. In § 4 Rabel also discussed the relationship between a future Uniform Sales Law and the standard terms of business. They had established their own legal system and to some extent made the national laws superfluous. He asked himself whether it is appropriate to have a Uniform Sales Law in addition to the standard forms. Will it not be as ailing as the national sales laws? Will it not be an impediment to the ongoing unification of the standard terms? He rejected these objections. There are trades which have no forms. Many of the existing standards forms are obscure and incomplete and contain conflicting provisions. The forms of the commodity trade are often too formalistic, allowing for instance a party to terminate the contract even in case of a trifling breach by the other party, a pretext which a party often uses where the contract has turned out to be unprofitable for him. To some extent the courts have met these defects by interpreting the standard terms in light of their sales laws. A modern Uniform Sales Law can remedy their defects better than the national laws, which are often incomplete and outdated. In the about 20 years that CISG had been in force in 2009, the tendency to replace its rules by standard forms or a national law has as far as is known not increased, and the steady growing number of cases where CISG has been applied seem to confirm that CISG is a much used instrument.42 41 On CISG see now art 1. In the 1956 draft and ULIS art 1 where a sale was international when the parties had their places of business in different States and the goods were to be carried from one State to another or offer and acceptance have been effected in different States or delivery was to be made in a State other than that in which the offer and the acceptance had been exchanged. ULIS art 2 excluded rules of private international law to decide the application of ULIS. CISG art 1 provides (1) This Convention applies to contracts of sale of goods between parties whose places of business are in different States: (a) when the States are Contracting States; or (b) when the rules of private international law lead to the application of the law of a Contracting State. 42 See Meyer Constructive Interpretation, Applying the CISG in the 21st Century, in: Janssen/Meyer (Fn. 37), 319 ff. The CISG database of the Pace Law School has listed more than 2000 cases on CISG.

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4. Some issues Of the many issues treated in the book a few shall be mentioned. 1 Rabel advocated informality for the sales contract. He reported how unpopular in England the formal requirement in section 4 of the Statute of Frauds from 1677 was. Its purpose had been to avoid claims based on perjured evidence, but its rules promoted rather than prevented fraud. A former Lord Chief Justice, who passed for being conservative, was cited for his strong opposition to section 4. “I shall rejoice, when this statute goes”, he said. In fact it went in England in 1954.43 Rabel proposed that a sales contract need not be concluded or evidenced in writing or be subject to any other requirement as to form. It may be proved by any means, including witnesses.44 This rule was adopted in art 15 of the first Draft of 193545 and is now in art 11 of CISG. In 2009 only 10 of the 74 Member States had made use of the option provided in art 96 of CISG to derogate from this rule.46 2 Rabel did not advocate the Roman rule that in sales risk passes when property passes. He preferred the position taken in the Scandinavian Sale of Goods Act that risk passes when the seller loses control of the goods, when he hands them over to the buyer or the first carrier.47 3 The Draft of 1939 and Rabel’s comments to it lays down that the liability of the defaulting party shall be strict. Fault is not required, only an impediment beyond his control can free him from liability in damages. And even if the defaulting party is relieved by an impediment beyond his control, the aggrieved party may still in case of his non-performance terminate the contract or demand a reduction of the price.48 This approach has also been taken in CISG.49 4 In discussing how to shape a force majeure rule, Rabel admitted that in addition to cases of force majeure, there might be rare situations (spärliche Ausnahmefälle) where severe hardship should give a debtor relief. Some support for a hardship rule could be found in the ‘devaluation’ cases and other cases decided by the German Supreme Court in the years after 1920. Rabel, however, was cautious.50 He stressed the importance of reliance and 43

By the Law Reform (Enforcement of Contracts Act) 1954. See Rabel (Fn. 4), Vol I, § 16. 45 Projet d’une Loi Internationale sur la Vente S.D.N. (1935) UDP Projet I. Reprinted in Rabel (Fn. 4), Vol II, 374 ff. 46 See Uncitral’s Homepage: http://www.uncitral.org/uncitral/en/uncitral_texts/sale_ goods/1980CISG_status.html. 47 Rabel (Fn. 4), Vol II, Part VII, 291 ff. See now CISG Part III chapter IV arts 66–70. 48 See Rabel 17 RabelsZ (1952) 212–224; Rabel (Fn. 4), Vol I, 359 – and the 1939 draft art 77 (Vol II, 409 f.). 49 See CISG art 45 and 79. 50 Rabel (Fn. 4), Vol I, 148 ff., 153. 44

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security in times of peace. Even considerable price rises should not permit a seller to escape the contract.51 When CISG art 79 was discussed in UNCITRAL, it was proposed to allow a party faced with events that made his performance “excessively onerous” to have the contract amended or avoided. This proposal was not retained. The courts having applied art 79 appear to have followed the strict approach, although in 2004 Peter Winship wrote that he had not yet seen a reported case of extreme hardship.52 However, the Unidroit Principles of International Contract (UPICC), the Principles of European Contract Law (PECL) and the Draft Common Frame of Reference 2009 (DCFR) have introduced hardship as a ground for relief or for modification of the contract.53 The Civil Codes of the Netherlands54 and Germany55 have codified hardship, and the French, whose Supreme Court for a long time rejected hardship in civil and commercial matters, have now included a hardship rule in a proposed amendment of the Civil Code.56 5 When treating foreseeability of damages, Rabel confronts the German doctrine on the adequate causation (Die Lehre vom adäquaten Kausalzusammenhang)57 with the Anglo-American doctrine of remoteness. The German idea is that it is the probability of the harm, not what the debtor foresaw or ought to have foreseen, that is decisive. A harm follows adequately from a breach, if the breach has been a factor which in general favours the occurrence of the harm. To ascertain that you will rely on the knowledge of a person who has all the information accessible (der beste Beobachter), Rabel found ‘the Anglo-Saxon contract theory a more useful basis for further development.58 He referred to Alderson’s dictum in Hadley v. Baxendale59 that the damages for breach of contract should be such as may be considered either arising naturally, i.e., according to the usual course of things, from such breach of contract itself, or such as may reasonably be supposed to have been in the contemplation of both parties, at the time they 51

Rabel (Fn. 4), Vol I, 157, 353, 356. Winship Exemptions under article 79 of the Vienna Sales Convention, 74 RabelsZ (2004) 495, 510. 53 PECL art 6:111, UPICC art 6.2.1.–6.2.3 and DCFR III 1:110. See on this instrument section III 5 below. 54 BW Book 6 art 6:258. 55 BGB § 313. 56 Ministère de la Justice, Projet de Réforme du Droit des Contracts, (juillet 2008) art. 136. 57 See Weitnauer in: Dölle (ed.) Kommentar zum Einheitlichen Kaufrecht, 1976, 529 ff., 534 and Treitel Remedies for Breach of Contract, 1988, nos. 137–139. To which extent this theory still prevails in Germany is uncertain. 58 Rabel (Fn. 4), Vol I, 496. 59 (1854) 9 Ex 341. 52

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made the contract, as the probable result of the breach of it. Rabel approved of this approach, which was introduced in ULIS and CISG60 and which since then has gained ground.61 6 Rabel did not give good faith, Treu und Glauben as much attention as later German authors have done. He mentioned that the § 157 BGB had been used by the German courts and art 1134(3) of the French Civil Code by French courts62 to interpret the contract in accordance with goods faith.63 He mentioned the Treuepflicht,64 the general duty of loyalty as a Nebenpflicht, an accessory duty, in German and other laws which inter alia prevent an abuse of right. It appears that Rabel did not join those who proclaimed the Treu und Glauben rule in § 242 BGB a “king”. The Principles of Europane Contract Law65 (PECL) art 1:201 and the Principles of International Commercial Contacts66 (UPICC) art 1:7 have made good faith and fair dealing into an overarching principle, a fundamental idea underlying both sets of Principles. 5. The influences of the Warenkauf, the Uniform Sales Laws of 1964 and CISG Volume 1 of the Warenkauf had, as Hans Dölle wrote in the preface to Volume 2, a world-wide effect. Today its method and approach have been adopted to a large extent. The system, Länderberichte, followed by a comparative treatment of each of the problems is in my view the ideal one, but I do not know of many comparatists who have done both. What Dölle wrote still holds true. In 2009 the 73-year-old Volume 1 and the 51-year-old Volume 2 are still studied by students of sales and contracts law. My copies have come unstuck, and I use tape and glue to keep them together. In this context it is worth mentioning that the Uniform Sales Laws of 1964 and notably CISG have influenced several modern laws on sales and contracts. The Nordic Sale of Goods Act (1989 ff.) is in many respects a reproduction of CISG. Books 3, 6 and 7 of the Dutch Civil Code of 1992 have 60

ULIS art 82 and CISG art 74. However with the proviso that the test of foreseeability was that which was in the contemplation of the defaulting party and not of both parties. 61 See PECL art 9:503, UPICC art 7.4.4, DCFR III 3:703 and Treitel (Fn. 57), sections 130 ff. 62 Rabel (Fn. 4), Vol I, 196. 63 Rabel (Fn. 4), Vol I, 356. 64 Rabel (Fn. 4), Vol I, 521. 65 Lando/Beale (eds.) Principles of European Contract Law, Part I & II, 2000; and Lando/Clive/Prüm/Zimmermann (eds.) Principles of European Contract Law, Part III, 2003. 66 Published 2004 by UNIDROIT Rome.

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been influenced by the Uniform Sales Laws of 1964 and by CISG, not only in the rules on sales proper but also in its sections on the formation and on the non-performance of contracts in general. The rules on contracts and sales of the Chinese Contract Act of 1999 have received strong influences from CISG. Also the new or amended Codes of the former socialist countries of Central Europe bear strong traces of CISG. The French July 2008 draft revision of the law of contracts of the Civil Code, the Projet de reforme du droit des contrats, elaborated by the Ministry of Justice has been inspired by CISG. Finally, the rules on non-performance of sales and contracts in general of the German Reform of the Law of Obligations of 2001 have adopted important rules of CISG and in doing so have embraced ideas originally put forward by Rabel. Finally, CISG was in more than one respect the ‘godfather’ of the Principles of European Contract Law67 (PECL) 2000 and 2003, the Unidroit Principles of International Contract68 (UPICC) and the Draft Common Frame of Reference (DCFR) 2009.69 Their initiators were inspired by CISG that had unified an important part of the contract law. And most of the rules of CISG on formation, performance, non- performance and remedies for nonperformance of contracts were adopted by the Working Groups that prepared the PECL, the UPICC and the DCFR.

IV. The Conflict of Laws When it was published the Conflict of Laws was, as far as is known, the most extensive comparative treatise on the choice of law rules of private law.70 67

Lando/Beale (Fn. 65), Principles of European Contract Law, Parts I & II, 2000. Published by UNIDROIT in Rome 2004. 69 Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law, Draft Common Frame og Reference (DCFR). Prepared by the Study Group on a European Civil Code and the Research Group on EC Private Law, Based in Part on a revised version and the Principles of European Contract Law (ed. by von Bar/Clive/Schulte-Nölke 2009). 70 Rabel (Fn. 6), Vol 1–4: Volume 1: I: Introduction II: Personal Law of Individuals III: Marriage IV: Divorce and Annulment V: Parental Relations Volume 2: VI: Corporations and Kindred Organizations VII: Torts VIII: Contracts in General 68

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It bears the impress of Rabel’s practical sense. In his introduction to Volume 1, he refused the deductive methods and argued against the principle of nationality and other relics.71 In commercial matters he favoured those rules which were useful for the business community such as the parties’ freedom to choose the law applicable to a contract. This, he wrote “endeavours to obviate the unpredictable findings of unpredictable tribunals and to consolidate the contract under one law, while negotiation is in course.”72 When treating the law applicable to a contract in the absence of a choice of law by the parties, Rabel rejected the dépécage which at that time was practiced by the courts of some countries. The law governing a contract should in principle apply to all aspects of the contract and to the obligations of both parties. To find the proper law of the contract he asked; in what jurisdiction is a certain type of contract centred?73 This approach was later adopted in the Rome Convention on the Law Applicable to Contractual Obligations of 1980 and its successor the EC Regulation of no. 593/2008 on the same subject. Among the several solutions to the problem of the law governing the authority of an agent to bind his principal, Rabel favoured the application of the law of the place where the agent was authorised to act. The customers with whom the agent deals must be able to ascertain his authority easily.74 Rabel treated the legal systems less exhaustively than in the Warenkauf. He gave an account of the rules of those countries that presented typical models to a problem. In doing so he only covered the rules of some countries. If you wanted to know the rule on a specific topic of a legal system, you did not always find it. That made The Conflict of Laws less valuable as a reference book. The French scholar Henri Batiffol was one of those who in the 1930ies came to learn in Rabel’s Institute in Berlin. In his book from 1938, Les Conflits de Lois en Matière de Contrats, with the subtitle Étude de droit internaVolume 3: IX: Special Obligations X: Modification and Discharge of Obligations Volume 4: XI: Property XII: Bills and Notes XIII: Inheritance XIV: Trusts XV: Application of Foreign Law XVI: Intertemporal Relations 71 Rabel (Fn. 6), Vol 1, 1945, 68. 72 Rabel (Fn. 6), Vol 2, 1947, 363. 73 Rabel (Fn. 6), Vol 2, 1947, 480 ff. 74 Rabel 3 ZAUSL (1929) 813 and Rabel (Fn. 6), Vol 3, 1950, 123.

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tional privé comparé, Batiffol made a careful account of the case law of the United States, England, Germany, Italy, Switzerland and France. Henri Batiffol explained the positions of the courts and showed the trends. In my view, this approach was preferable to that which Rabel had adopted in the Conflict of Laws. In the magnificent library of the Michigan Law School, Rabel probably had had the material at his disposal necessary for giving a full account of the rules of the legal systems.75 However, such a work would have been even more demanding than to treat the world’s sales laws, and Rabel did not dispose of a team of comparatists to help him undertake this task. There has also been criticism of Rabel’s accounts of the rules of some national legal systems. I still remember Phocion Francescakis76 who warned me against Rabel’s treatment of French law. “Do not trust Monsieur Rabel!”, he said. The book may not have gained the same reputation as the Warenkauf, but it was an important work and a remarkable achievement by an immigrant septuagenarian. The three first volumes of the book came out in a second edition after Rabel’s death, where the references were brought up to date by Ulrich Drobnig and Herbert Bernstein.77

V. How was Rabel? Rabel was often talked about in the Max Planck Institute. He was also well remembered in the University of Michigan Law School in Ann Arbor. Unfortunately, most of the information I have got from people who knew Rabel personally comes from persons who had met him during and after the World War II. Professor Poul Heirich Neuhaus was for many years (1942-1982) one of the pillars of the Max Planck Institute, a strict monitor of the private international law concepts, and a wise and helpful Socrates for young lawyers from far and near who came to seek his advice. In an unpublished book, Was nicht im Kürschner steht, Angehörige und Freunde des Instituts78 von Z–A Stand 1982,79 48–53, Neuhaus gave a short and kaleidoscopic picture of 75 I saw that in comparative studies I made there in 1955–1956 on the conflict of laws of contracts. 76 Francescakis (1910–1992) war an editor of the French Revue critique de droit international privé. 77 See footnote 6 supra. 78 ‘What you do not find in Kürschner, fellows and friends of the Institute’, which is the Max-Planck-Institute for Foreign and International Private Law. Kürschner is a German “Who is who” of the learned world. 79 The book was distributed to the members of the “Freunde des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht,” an association of lawyers supporting the Max-Planck- Institute in Hamburg.

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Rabel. He had met him when Rabel worked in the Institute from 1950 till 1952. Rabel was reported not to have been overly modest. To a bright young fellow of the Institute he said “We understand each other, as we have it difficult with the less gifted persons”. In a conversation with Konrad Zweigert in 1952, he passed conflicts lawyers in review and said about almost everyone that he was a nice person who did not understand anything of the subject. Neuhaus told me that when he so wished, Rabel could be charming and at other times very mean. There had been younger colleagues who openly disliked him. It was my impression that Neuhaus had admired Rabel, but that he had not been very fond of him, Vera Bolgar was a Hungarian lawyer, who came to Ann Arbor in 1949 to assist professor Hessel E. Yntema. She told me that both Rabel and Yntema were passionate people, and that Yntema and Rabel sometimes disagreed so loudly about the Conflict of Laws that it could be heard in the corridors and neighbouring offices. Yntema told me that it had not always been so easy to work with Rabel.80 I have tried in vain to find out whether they disagreed on issues of principle. However, these ‘human traits’ do not overshadow Rabel’s greatness. In the preface to Volume 1 of the Warenkauf, Rabel praised the enjoyable collaboration in the Institute with his young colleagues. He gave an account of how each of them had contributed. At that time it was not common that a professor so generously paid tribute to his young assistants.81 Rabel had other qualities. As mentioned his style seems to show that he appreciated poetry. He was a pleasant man to have at a party, a good dancer, and in his youth a piano player and a mountaineer.82 He met his wife while mountain climbing.

VI. Rabel’s Nachwuchs In Berlin Rabel is said to have been sparing of praise vis-a-vis his assistants but in conversations with others to have lauded them to the skies. And he had reason to do so. Rabel gathered around him eminent young lawyers and among them Ernst von Caemmerer, Ludwig Raiser, Friedrich Kessler and Max Rheinstein. Von Caemmerer became one of Germany’s leading authors and comparatists and made the law faculty of the University of 80 Several of Yntema’s colleagues in Ann Arbor told me that Yntema was not very easy to work with either. 81 This appears to have been contrary to common practices; in those days the normal German professor would not mention the contributions of his assistants. Today the general opinion is that such behaviour is contra bonos mores. 82 Coester-Waltjen (Fn. 11), 89.

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Freiburg im Breisgau famous. In 1935 Ludwig Raiser published a book on the law of general conditions of contracts, which changed the law in Germany and in the world.83 Friedrich Kessler came to the Yale and later Harvard Law School. He professed to the legal realism and became an important and influential writer. One famous article of his was about ‘Contracts of Adhesion’,84 where as Raiser he pointed to the supplier’s unfair standard terms. Max Rheinstein came to work in the University of Chicago Law School and made important contributions to family law, the law of succession, the conflict of laws and comparative law. In the preface to Volume 1 of the Conflict of Laws, Rabel hailed him as the most faithful of friends. Rabel was happy to see him represent in the USA ‘our common scientific ideals’. In an article “In Memory of Ernst Rabel”,85 Max Rheinstein writes that “Rabel was careful in the election of his staff, exacting in his demands and inspiring in his leadership…. In rapidly rising numbers chairs of private law was filled with former members of the staff of Rabel’s Institute”. Rheinstein, who liked to make statistics, listed one cabinet minister, one secretary of State of the Federal Republic of Germany, fourteen full professors in Germany and the United States and a number of other Rechtshonoratioren who all had been working at Rabel’s institute. Also foreign students came to the Institute in Berlin to learn from him and his colleagues and use the impressive library. In this way Rabel’s influence reached numerous academics, who later became professors in Greece, Italy, France, Spain, the United States and other countries.

VII. Berlin and The Max Planck Institute after Rabel When in the Second World War bombs fell over Berlin, plans were made to evacuate the Institute and its treasure of books. In 1944 the Institute and its library were evacuated to Tübingen. In February 1945 the old Castle in Berlin was completely bombed out. In Tübingen the Max Planck Institute, as it was now called, was housed in constrained emergency quarters. When the Wirtschaftswunder came to Germany, the out-going city of Hamburg invited the Institute to move to a new and spacious building on the Mittelweg. This new home, which was financed partly by the Hansestadt Hamburg and partly by the Max Planck Gesellschaft, was inaugurated in 1956, and has since then repeatedly been enlarged. 83

Raiser Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1935. Kessler Contracts of Adhesion, Some Thoughts About Freedom of Contract, 43 Columbia Law Review 629 (1943). 85 See footnote 2 supra. 84

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Rabel’s successor as director of the Institute was Ernst Heymann, who was a professor at the Friedrich-Wilhelms University in Berlin. He never was a member of the Nazi Party, but he was an obedient servant of the rulers. He was not removed after the War, but died of cancer in 1946. Hans Dölle became director after Heymann. On his relation to the Nazi Régime we have conflicting testimonies. Neuhaus points to his critical attitude,86 whereas Jessurun d’Oliveira refers to the anti-Semitism and Nazi sympathy to be found in some articles by Dölle. They speak their own language, and one must state that Dölle’s mind had been poisoned. One must also regret the clumsy attempts by Neuhaus and others to suppress Jessurun d’Oliveira’s unmasking of Dölle.87 However, Hans Dölle reset the tone and the standard of the Institute. He was demanding, but also respected for his sense of quality, fairness, energy and organizing ability. And he did not try to hide his unfortunate past. Since then the Institute has been directed by scholars of skill and energy. It has continued to breed notorieties and among them professors to German and foreign chairs. Numerous lawyers from near and far have come and still come there to study and to learn. For the comparatists, it is the hub of the universe. The Institute has held innumerable seminars and published hundreds of books in Beiträge, Studien and Materialien zum ausländischen und internationalen Privatrecht. In 2009 it brings out volume 72 of the Zeitschrift, since 1961 called Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht. I came for the first time to the Institute in 1956, when it had recently moved to Hamburg, and I have studied there in many periods since then. I have worked with several of its staff and have breathed the generous, hospitable, tolerant, thirst-for-knowledge and quality-conscious atmosphere of the Institute. Ernst Rabel brought this atmosphere to the Institute, and his successors have known to maintain it. The history of Berlin has been dramatic and so has the history of the law faculty of the Friedrich-Wilhelms University. For more than 40 years after the World War II the Humboldt University, situated in East Berlin as it was, suffered under the oppressive regime of the GDR. The Reunification, however, revitalized the law faculty. Today Berlin is the cultural capital of a great democracy, and a new great period for the law faculty of Ernst Rabel’s University has come. In 2010 it can celebrate its 200th anniversary in his spirit.

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Neuhaus (Fn. 8), 125. Ulrich/d’Oliveira An Anecdote, A Footnote, FS Jayme 2004, Vol 1, 387 ff.

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Max Rheinstein (1899–1977) ULRICH DROBNIG

I. Persönlicher Lebensweg . . . . . . . . . . . 1. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wissenschafliches Werk . . . . . . . . . . . . 1. Anfang in Deutschland . . . . . . . . . . . 2. Neuanfang und Vollendung in Amerika

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Ein so welterfahrener und kritischer Geist wie Kurt Lipstein hat Max Rheinstein in der Mitte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts als den „best living lawyer“ bezeichnet,1 und Ole Lando hat dies aus eigener Anschauung bestätigt.2 Wer ist dieses in Deutschland aufgewachsene, aber hier weniger bekannte Wunderkind?

I. Persönlicher Lebensweg Äußerlich gesehen scheint sich das Leben und Wirken von Max Rheinstein auf zwei deutlich geschiedene Perioden aufzuteilen: Den ersten, gut dreißigjährigen Lebensabschnitt in Deutschland und einen zweiten von gut vierzig Jahren in den U.S.A. Dass der jeweilige Schwerpunkt der Lebensumstände und des Wirkens diese Zweiteilung rechtfertigen, ist evident. Dennoch wäre eine scharfe Zweiteilung dieser Art, jedenfalls für den 2. Lebensabschnitt, äußerlich und oberflächlich, wie sich zeigen wird. 1. Deutschland In seinem 1. Lebensabschnitt (1899–1933) liegt der Schwerpunkt des Lebens von Max Rheinstein in Deutschland und, genauer, in Bayern. Zwar gehört der Geburtsort Bad Kreuznach zu Rheinhessen, wo Max Rheinstein am 5. Juli 1899 als einziger Sohn aus der 2. Ehe des Weinhändlers Ferdinand Rheinstein geboren wurde. Jedoch nach dem frühen Tod seines Vaters im 1 2

Mündliche Mitteilung von Professor Ole Lando, Kopenhagen. Professor Lando in einem Brief vom 24. April 2009.

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Jahr 1904 kehrte die Mutter mit ihrem Sohn Max nach München zurück und lebte dort im Hause ihrer eigenen Mutter. Seine prägenden Jugendjahre verlebte Max Rheinstein daher in der bayerischen Hauptstadt. Er war mit ganzem Herzen ein „königlicher Bayer“; noch 1971 bezeichnete er sich in einem Vortrag, den er unter dem Titel „Royal Bavarian“ vor einer deutschen Gesellschaft in Chicago hielt,3 mit Stolz als „königlich bayerischer Grundschüler“ bzw. als „königlich bayerischer Gymnasiast“(!) im humanistischen Wittelsbacher Gymnasium in München.4 Als Gymnasiast fand Rheinstein zu den Pfadfindern und reussierte dort als Leiter einer Jugendgruppe. Nach seinem Abitur diente Rheinstein vom Mai 1917 bis November 1918 noch als Soldat. Einzelheiten dieses Kriegseinsatzes sind nicht bekannt geworden – außer über die letzten Kriegstage im Oktober/November 1918. Rheinstein selbst hat diese Tage des zu Ende gehenden Weltkriegs sehr lebendig und farbig dort beschrieben, wo er ihn aus eigener Anschauung erlebte – den Zusammenbruch der deutsch-österreichischen Militärfront auf dem Balkan, die Auflösung der k.u.k.-österreichischen Armee und das Chaos, das dadurch in Österreich entstand. Er diente damals in der „Gemischten Bayerischen Gebirgsbrigade Nr. 2“ in der Nähe von Salzburg. Auf dem Rückweg nach München löste sich diese Brigade auf; die Soldaten suchten sich den Weg in ihre Heimatorte. Nur ein Kern von 50 Männern aus den 2000 Angehörigen der Brigade bestieg für die letzte Strecke noch den Zug zurück nach München; bevor sie noch die bayerische Hauptstadt erreicht hatten, trennten sie sich und suchten jeder für sich seinen eigenen Weg nach Hause.5 Mit München war Rheinstein so tief verwurzelt, dass er entgegen guter deutscher Übung sein gesamtes juristisches Studium an der dortigen Universität absolvierte. Dort hörte er u.a. Vorlesungen bei Ernst Rabel. Seine Vorlesungen waren zwar für Anfänger wenig geeignet, weil er die Kenntnis des positiven Rechts voraussetzte; für Fortgeschrittene aber waren sie um so

3 Die beste Quelle dieses Abschnitts ist Freiherr von Marschall Max Rheinstein, in: Lutter/Stiefel/Hoeflich (Hrsg.) Der Einfluss deutscher Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den U.S.A. und in Deutschland, 1993, 333–341. Ergänzend und allgemein ist auf die eingehende Würdigung von Max Rheinstein durch Konrad Duden hinzuweisen: Max Rheinstein – Leben und Werk, in: von Caemmerer/Mentschikoff/Zweigert (Hrsg.) Ius Privatum Gentium – FS Max Rheinstein I–II, 1969, 1–14 sowie auf die Sammlung der Aufsätze, Rezensionen und kleine Schriften: Leser (Hrsg.) Max Rheinstein, Gesammelte Schriften, 2 Bände, 1979. 4 Rheinstein Royal Bavarian, in: Gesammelte Schriften II (Fn. 3), 403–412. Dazu auch Freiherr von Marschall (Fn. 3), 333. In einem späteren Vortrag hat Rheinstein erwähnt, wie tief es ihn beeindruckt habe, dass bei einer Familienfeier der Prinzregent seine Hand auch auf seinen Kopf gelegt habe (Freiherr von Marschall ebenda, 334). 5 Siehe näher Rheinstein Inside Germany 1914–1918 (ein Vortrag, den Rheinstein im April 1941 in einem deutschen Club in Chicago hielt), in: Gesammelte Schriften II (Fn. 3), 413–427, 422–427.

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fruchtbarer, ließ er doch seine Hörer an seinen rechtspolitischen, rechtshistorischen und rechtsvergleichenden Überlegungen teilhaben und bezog sie soweit als möglich ein. Ein anderer einflussreicher Lehrer war Max Weber, der Rechtssoziologe, dessen Hauptwerk Rheinstein später übersetzen sollte. Rechtsvergleichung und Rechtssoziologie sollten das spätere Wirken von Max Rheinstein entscheidend prägen. Den ersten Schritt in die Wissenschaft setzte Rheinstein bereits als junger Student. Im Herbst 1920 bewarb er sich für eine Stelle als „Bücherwart“ an Rabels 1915 gegründetem Universitäts-Institut für Rechtsvergleichung, dem ersten seiner Art nicht nur in Deutschland, sondern in der Welt. Dieser Schritt in die Tür eines wissenschaftlichen Instituts legte den Samen für ein Verhältnis, das für seinen weiteren Lebensweg bestimmend sein sollte, aber auch für seinen Lehrer in dessen letzter Lebensphase lebenswichtig wurde. Im Jahr 1922 bestand Max Rheinstein sein Erstes Staatsexamen und wurde Assistent von Rabel; 1925 folgte das Zweite Staatsexamen. Seine wissenschaftliche Laufbahn eröffnete Rheinstein 1924 mit einer Dissertation zu einem anspruchsvollen Thema des englischen Rechts: „Störung der freien Erwerbstätigkeit durch rechtswidrige Beeinflussung Dritter (Conspiracy, Interference with Business or Occupation, Inducing Breach of Contract). Eine Studie aus dem englischen Recht.“6 Die Arbeit errang ein summa cum laude. 1926 trennte sich Rheinstein von München und ging mit Ernst Rabel nach Berlin an das neu gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht; Rabel war der Gründungsdirektor. Rheinstein übernahm als Referent und Leiter der neu aufzubauenden Bibliothek eine Kernposition im Institut. Neben den gewiss nicht einfachen Aufgaben, die Verwaltung und die Bibliothek des neuen Instituts aufzubauen, sowie der Beteiligung an laufenden wissenschaftlichen Projekten fand er die Zeit und Kraft, seine Habilitationsarbeit voranzutreiben und abzuschließen. Im November 1931 wurde Rheinstein mit seiner Schrift über „Die Struktur des vertraglichen Schuldverhältnisses im englischen Recht“ an der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin habilitiert. Er erhielt die venia legendi für das Fach „Deutsches und ausländisches bürgerliches Recht“ – übrigens ohne Mitwirkung von Rabel. Die Tätigkeit im Institut stellte aber auch eine private Verbindung her: Rheinstein lernte Lilly Abele kennen, die Bibliothekarin des Schwesterinstituts, des Kaiser-Wilhelm-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht; aus der 1929 geschlossenen Ehe ist ein Sohn John hervorgegangen, der als promovierter Chemiker in den U.S.A. lebt. Der politische Machtumbruch am 30. Januar 1933 beendete alle Aussichten auf eine akademische Karriere in Deutschland. Rheinstein, als Mitglied 6

Teilabdruck in RheinZ 14 (1926) 60–109.

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der SPD auch politisch aktiv und wach, musste befürchten, dass er wegen seiner jüdischen Abstammung zumindest keine Aussichten auf eine akademische Karriere in Deutschland haben würde. Bereits Anfang Februar beantragte Max Rheinstein bei dem Berliner Vertreter der Rockefeller Foundation ein Stipendium für ein Studium in den U.S.A., das Ende Juni 1933 zunächst für ein Jahr bewilligt wurde. 2. Amerika Der zweite, zeitlich längere (1933–1977) und inhaltlich gewichtigere Lebensabschnitt Max Rheinsteins begann, als er am 20. September 1933 in New York eintraf. Bereits am folgenden Tag nahm er seine Tätigkeit an der Law School der Columbia University auf. Er beteiligte sich zusammen mit Professor Cheatham an einem Seminar zu dem Problem der „Constitutional Aspects of Conflict of Laws“ und unterstützte Professor Karl Llewellyn bei mehreren Vorlesungen. Den 2. Teil des Stipendiums verbrachte er von Mitte bis Ende 1934 an der Harvard Law School; dort arbeitete er mit Spitzenforschern wie Roscoe Pound und Joseph Beale zusammen. Im Rahmen eines neuen Programms, das die Rockefeller Foundation zur Unterstützung von aus Deutschland vertriebenen Forschern aufgelegt hatte, erhielt Rheinstein nochmals finanzielle Hilfe für zwei weitere akademische Jahre; neuer Tätigkeitsort und Mittelpunkt des weiteren Lebens in den U.S.A. wurde die University of Chicago Law School. Im Jahr 1936 erhielt Rheinstein die neu eingerichtete Max-Pam-Professur für Rechtsvergleichung – beginnend mit dem „assistant“ über den „associate“ bis schließlich zum „full“ Professor (1942). Nach Ende des Zweiten Weltkrieges war Rheinstein von Herbst 1945 bis Frühjahr 1947 bei einer Abteilung des Alliierten Kontrollrates der vier Mächte in Berlin tätig. Er sollte dort u.a. an einer Reform des deutschen Rechts arbeiten. Verständlicherweise hielt er es für „absurd“, dass die Vertreter von vier ausländischen Staaten das deutsche Recht reformieren sollten, und kehrte deshalb nach Chicago zurück. Im Jahr 1968 emeritiert, blieb Rheinstein zunächst in Chicago, bis er 1976 aus gesundheitlichen Gründen nach Palo Alto in Kalifornien übersiedelte. Für seine angeschlagene Gesundheit suchte er regelmäßig im Sommer Heilung in Badgastein. Am 9. Juli 1977, also wenige Tage nach seinem 78. Geburtstag, ist er in der Klinik von Schwarzach-St. Veit in Österreich verstorben.7

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Leser Vorwort zu den Gesammelten Schriften I (Fn. 3), XIII.

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II. Wissenschafliches Werk Die beiden persönlichen Lebensphasen Max Rheinsteins spiegeln sich natürlich und erst recht in seinem wissenschaftlichen Werk. Es liegt daher nahe, zwischen einer – naturgemäß kurzen – ersten deutschen und einer zweiten, amerikanischen Phase zu unterscheiden. 1. Anfang in Deutschland Die deutsche Phase des wissenschaftlichen Werkes von Max Rheinstein umfasst die Veröffentlichungen des angehenden Wissenschaftlers. Neben der Dissertation zum englischen Recht (oben I 1) stehen die typischen Produkte eines wissenschaftlichen Assistenten an einem rechtsvergleichenden Institut: Länderberichte zu Rechtsprechung, Gesetzgebung und Literatur insbesondere Englands und Irlands sowie Italiens und der Niederlande in der Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht. Zu einer wesentlich höheren Stufe zählen die Beiträge zum „Rechtsvergleichenden Handwörterbuch“: Über die Haftung für Kraftfahrzeuge und für Tiere8 sowie zum Nießbrauch;9 über das auf Verträge anzuwendende Recht;10 und ferner die unspezifizierte Mitarbeit an dem Gemeinschaftsbeitrag des Kaiser-Wilhelm-Instituts zum Kaufvertrag.11 Das Hauptwerk der deutschen Phase von Rheinsteins akademischer Arbeit ist seine Habilitationsschrift über „Die Struktur des vertraglichen Schuldverhältnisses im anglo-amerikanischen Recht“ (1932). Unter Verarbeitung eines breiten historischen Materials aus common law und equity stellt der Verfasser den völlig anderen Ausgangspunkt des englischen Rechts zu den Sanktionen für Vertragsverletzungen heraus: Grundsätzlich sind keine Klagen auf Vertragserfüllung zugelassen, also auf Sachleistungen und selbst nicht auf Zahlung versprochener Geldbeträge. Die Hauptsanktion für Vertragsverletzung ist vielmehr ein Anspruch auf Schadenersatz. Von daher lässt sich auch eine Brücke schlagen zu der Lehre von der „consideration“ als Voraussetzung eines verbindlichen Vertrages: Der Gläubiger muss ein finanzielles Opfer bringen, um die Verbindlichkeit einer vertraglichen Leistungszusage der anderen Partei zu erreichen.

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Rechtsvergleichendes Handwörterbuch IV, 1933, 81 ff. sowie 99 ff. Rechtsvergleichendes Handwörterbuch V (Fn. 8), 431 ff. 10 Rechtsvergleichendes Handwörterbuch IV (Fn. 8), 359–371. 11 Rechtsvergleichendes Handwörterbuch IV (Fn. 8), 727 ff. Die Mitautoren – eine Blütenlese der deutschen Zivilrechtslehre: Neben Rabel selbst namentlich von Caemmerer, Kessler, Raiser und Wahl. 9

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Dieser kurze Überblick über die ersten sieben Jahre bis zur Auswanderung in die U.S.A. ist eindrucksvoll. Er lässt das Potential ahnen, das in dem jungen Rechtsgelehrten schlummert. 2. Neuanfang und Vollendung in Amerika In seiner neuen amerikanischen Heimat hat Rheinstein dieses Potenzial voll zur Entfaltung bringen können. Seine professionelle Hauptaufgabe, den Rechtsunterricht, hat er mit großer Tatkraft und Breite erfüllt. Seine Vorlesungen deckten insbesondere das Familien- und Erbrecht ab, Fächer, die zugleich das Hauptfeld seiner großen Veröffentlichungen bildeten. Aber auch vergleichendes Vertrags-, Kauf- und Deliktsrecht sowie internationales Privatrecht hat er unterrichtet.12 In der Nachkriegszeit waren aus europäischer Sicht vielleicht noch bedeutsamer die nicht dokumentierten Lehrveranstaltungen für deutsche und andere europäische fortgeschrittene Studenten und Referendare, die der Einführung in das amerikanische Recht dienten. Später wurden diese Kurse ergänzt durch ein „Gegenprogramm“, nämlich Kurse zur Einführung amerikanischer Graduates in die beiden wichtigsten europäischen Rechtsordnungen, also das deutsche bzw. das französische Recht. Darüber kann ich aus eigener Anschauung berichten: Die Dozenten, junge Nachwuchswissenschaftler mit guter Kenntnis der englischen Sprache, hatten die Aufgabe, den meist kleinen – höchstens 10 Personen umfassenden – Kreis der Hörer in eine der beiden hauptsächlichen Rechtsordnungen Kontinentaleuropas einzuführen; diese Einführung sollte die Hörer vorbereiten auf einen Studienaufenthalt von jeweils zwölf Monaten in Deutschland bzw. Frankreich. Diese Studienaufenthalte stellten sich zur Aufgabe, die amerikanischen Teilnehmer in die Lage zu versetzen, anspruchsvollere Vorlesungen des Zivilrechts in der Originalsprache zu hören und zu verarbeiten. Aus diesen Kursen sind einige bekannte, rechtsvergleichend orientierte amerikanische Hochschullehrer hervorgegangen.13 Die Schwerpunkte von Rheinsteins Vorlesungen markieren auch die Richtpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit. Über 30 Aufsätze sind Themen des Familienrechts gewidmet. Im Mittelpunkt steht die Stabilität der Ehe und deren Bedrohung durch Ehescheidung.14 Das Hauptwerk ist „Marriage Stability and the Law“ (1972); vergleichende Vorläufer sind zwei Bei12 Siehe den Nachweis der vervielfältigen Unterrichtsmaterialien in Sprudsz A Bibliography of Max Rheinstein’s Writings, University of Chicago Law Review 45 (1978) 489– 510, 509 f. 13 Näher dazu aus eigener Erfahrung Freiherr von Marschall (Fn. 3), 337 ff. 14 Siehe die Bibliographie von Sprudsz (Fn. 12), 489–491 mit nahezu 35 Titeln sowie rund 15 Buchbesprechungen.

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träge aus den Jahren 1953 und 1956.15 Diese Veröffentlichungen richteten sich, wie die engste Mitarbeiterin seiner späteren Jahre dargetan hat, gegen die Alleinherrschaft des Verschuldens als Scheidungsgrund in der Ehegesetzgebung der amerikanischen Einzelstaaten und plädierten für die Einführung einer verschuldensunabhängigen Scheidung.16 Das internationale Ansehen, das Rheinstein auf diesem Felde genoss, fand auch darin Ausdruck, dass er Chief Editor von Band IV der International Encyclopedia of Comparative Law wurde, der dem vergleichenden Familienrecht gewidmet ist.17 Rheinstein hat zunächst die Autoren der 11 Kapitel dieses Bandes ausgewählt – jeweils die besten international angesehenen Fachleute – und die jeweiligen Arbeitsprogramme mit beraten. Er selbst hat auch die juristischen und sozialen Teile der Einleitung abgefasst und außerdem – zusammen mit M.A. Glendon – das Kapitel über die persönlichen Ehewirkungen. Das 2. große Arbeitsfeld neben dem Familienrecht war das benachbarte Gebiet des Erbrechts. Dazu hat Rheinstein ein Casebook (mit Entscheidungen und anderem Material) in zwei Auflagen von 1947 und 1955 veröffentlicht.18 Dem folgte 1971 ein neues Buch unter demselben Titel, jedoch gemeinsam mit M.A. Glendon verfasst.19 Neben diesen gedruckten Unterrichtsmaterialien stehen acht Beiträge zu wissenschaftlichen Werken sowie ein Dutzend erbrechtlicher Stichworte in der Encyclopedia Britannica; dazu kommen einige Buchbesprechungen.20 Weniger ausgebaut war wohl das Deliktsrecht. Immerhin umfasste das Lehrmaterial zu diesem Gebiet ausdrücklich neben dem Common Law auch das Civil Law.21 Auch für das Gebiet des internationalen Privatrechts (Conflict of Laws) gab es Lehrmaterial.22 In einem Bundesstaat wie den U.S.A., in dem einerseits 50 Einzelstaaten mit jeweils eigener Gesetzgebung und Rechtsprechung koexistieren und andererseits die Binnenwanderung der Menschen sowie der Austausch von Gütern pulsiert, spielt das internationale – wir würden sagen: das interlokale, rechtstechnisch heute das Interstate-Privatrecht – eine erhebliche Rolle. Mangels bundesgesetzlicher Kollisionsnormen haben bis 15 Rheinstein Trends in Marriage and Divorce Laws of Western Countries, Law and Contemporary Problems 18 (1953) 3–19, später mehrfach abgedruckt. Rheinstein The Law of Divorce and the Problem of Marriage Stability, Vanderbilt Law Review 9 (1956) 633– 664. 16 Glendon The Influence of Max Rheinstein on American Law, in: Lutter/Stiefel/ Hoeflich (Fn. 3), 171–181, 173. 17 International Encyclopedia of Comparative Law, Band IV, 2004. 18 Rheinstein Cases and Other Materials on the Law of Decedents’ Estates, 1947; die 2. Auflage unter dem kürzeren Titel The Law of Decedents’ Estates, 1955. 19 Rheinstein/Glendon The Law of Decedents’ Estates, 1971. 20 Nachweise bei Sprudsz (Fn. 12), 492 f. 21 Sprudsz (Fn. 12), 510 Nr. 342 und 345. 22 Siehe wiederum Sprudsz (Fn. 12), 510 Nr. 341 und 346.

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heute Rechtsprechung und -lehre des Conflict of Laws große praktische Bedeutung behalten. Die Reputation, die sich Rheinstein auch auf diesem Gebiet erworben hat, ist freilich in Europa weniger bekannt. Der Grund dafür ist wohl, dass er im Wesentlichen für einen Ansatz gekämpft hat, der seit Wächter und von Savigny kontinentaleuropäisches Gemeingut ist. Dagegen wurden in den U.S.A. die Gerichtspraxis wie die Lehrbücher im Wesentlichen noch durch die Grundsätze der Statutentheorie beherrscht.23 Bei gesetzlichen Abweichungen vom Common Law wurde die Frage gestellt, welches der (von dem jeweiligen bundesstaatlichen Gesetzgeber) beabsichtigte räumliche, sachliche oder persönliche Anwendungsbereich des Gesetzes sei? Rheinstein hingegen bestand auf der Frage, welche der verschiedenen mit dem Fall verbundenen Rechtsordnungen auf das zivilrechtliche Verhältnis der Parteien anzuwenden sei; gesetzliche Eingriffsnormen hingegen hätten ihren eigenen, im Zweifel eng zu ziehenden Anwendungsbereich. Ein eindeutiges Zeichen für das Ansehen, das Rheinstein auf diesem Gebiet besaß, ist die Rolle, die er in einer Vortragsreihe der University of Michigan Law School, Ann Arbor, gespielt hat. Es handelt sich um die in der amerikanischen Fachliteratur noch heute, also nach 45 Jahren, lebendige, obgleich fingierte Podiumsdiskussion zu fünf fiktiven Fällen, die Professor D.F. Cavers im Rahmen eines Vortragszyklus gestellt hatte und zu denen er die amerikanischen IPR-Spitzen der Zeit in der Form von Urteilsvoten Stellung beziehen ließ: neben Cavers selbst Currie, Griswold, Reese (der Reporter des Restatement of Conflict of Laws Second) sowie Rheinstein.24 Dass Rheinstein zu diesem erlauchten Kreis gebeten wurde, spricht für sich. Die Voten, die der Redner Cavers seinen vier Mitdiskutanten in den Mund gelegt, ihnen aber zuvor zur Korrektur vorgelegt hatte, lassen die durchaus unterschiedlichen Grundauffassungen deutlich hervortreten. Die Voten von Rheinstein25 spiegeln recht deutlich seinen kontinentaleuropäischen Ansatz: Sie beruhen auf einer sorgfältigen Abwägung der staatlichen Interessen der Gesetzgeber einerseits, soweit es um die Anwendung von „Eingriffsnormen“ geht (wie etwa der gesetzlichen Freistellung von Ansprüchen Dritter gegenüber privaten Vereinigungen), aber auch der Interessen, Erwartungen und Handlungsmöglichkeiten der Privatleute andererseits (z.B. Hinweise auf die Möglichkeiten der privaten Versicherung von Risiken aus Geschäften und Handlungen mit und von staatlich geschützten privaten Vereinigungen). Zu dem besonders heftig diskutierten Problemkreis der grenzüberschreitenden Deliktshaftung hatte Rheinstein in einem großen 23 Siehe die Analyse und Kritik der Rechtsprechung zum “internationalen“ Deliktsrecht in Rheinstein The Place of Wrong: A Study in the Methods of Case Law, Tulane Law Review 19 (1944/1945) 4–31, 165–193 (nicht in den Gesammelten Schriften [Fn. 3]). 24 Cavers The Choice-of-Law Process, 1965. 25 Cavers (Fn. 24), 24 f., 32 f., 36 f., 45, 56.

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Aufsatz seine Meinung entwickelt,26 aber auch in Rezensionen hatte er etwa zu Thesen von Ehrenzweig Stellung bezogen. Ein etwas jüngeres Mosaik von Rheinsteins neuerer Auffassung zum Kollisionsrecht hat er in einer späteren Sammelbesprechung zu kollisionsrechtlichen Beiträgen beigesteuert; sie ist 1962 unter dem merkwürdigen Titel „How to Review a Festschrift“ erschienen und kommentiert recht ausführlich Beiträge von Cavers, Hancock, Ehrenzweig, von Mehren und Reese.27 Nahezu 20 Aufsätze zu den unterschiedlichsten Themen – von den verfassungsrechtlichen Grundlagen des internationalen Privatrechts bis zur Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche – runden das Bild ab und erlauben den Schluss, dass das internationale Privat- und Zivilprozessrecht in Rheinsteins Werk einen hohen Rang einnimmt. Dass auch die Rechtsvergleichung als solche eine zentrale Rolle in seinen Veröffentlichungen spielt, liegt auf der Hand. Ihr hat er 1974 ein kleines einführendes Buch in deutscher Sprache gewidmet28 und zahlreiche Aufsätze – sei es zu Methode und Zweck sowie anderen allgemeinen Problemen, sei es zu konkreten Themen. Dazu kommen nicht weniger als rund 40 (!) Buchbesprechungen.29 Den Zweiten Weltkrieg und Rheinsteins eigene Erfahrungen aus der Tätigkeit im besetzten Deutschland reflektieren auch ein halbes Dutzend Veröffentlichungen aus der Zeit zwischen 1944–1955.30 Rheinsteins Blick ist aber nicht nur über das deutsche Recht hinaus auf fremde Rechtsordnungen gerichtet gewesen sowie vom amerikanischen Recht auf das Recht der europäischen Länder. Er hat vielmehr auch über das Recht hinaus auf andere Gebiete menschlichen Zusammenlebens und Forschens geblickt, namentlich solche mit indirekter Ausstrahlung auf das Recht. Das gilt insbesondere für die Rechtssoziologie. Als Student hatte Rheinstein in München Vorlesungen des Soziologen Max Weber gehört.31 Der im anglo-amerikanischen Case Law System angelegte Akzent auf die rechtserheblichen Tatsachen stellt quasi von Natur aus sicher, dass nicht nur Anwalt wie Richter, sondern auch Professor und Student von den Rechtstatsachen ausgehen. Diese innere Einstellung fehlt hingegen weitgehend – wenn heute auch weniger als früher – in Europa. Man darf annehmen, dass aus diesem Grund der junge Student Max Rheinstein in München besonderes Interesse an den rechtssoziologischen Vorlesungen Max Webers gefun26

Rheinstein (Fn. 23). Rheinstein American Journal of Comparative Law 11 (1962) 632 ff., 655–665, in: Gesammelte Schriften II (Fn. 3), 74–117. 28 Rheinstein Einführung in die Rechtsvergleichung, 1974; 2. unveränderte Auflage 1987. 29 Nachweise bei Sprudsz (Fn. 12), 488–505. 30 Siehe Sprudsz (Fn. 12), 505. 31 Siehe oben I 1. 27

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den hatte. Und diese Faszination – anders als in Deutschland und Kontinentaleuropa – durch das anglo-amerikanische case law gleichsam bestätigt, mag das Motiv für das intensive Interesse Rheinsteins an dem rechtssoziologischen Hauptwerk Max Webers gewesen sein. Es wird berichtet, dass er enorme Zeit und Kraft in die Übersetzung und insbesondere in die Erläuterung des nach allgemeiner Ansicht außerordentlich schwer verständlichen und hinsichtlich der Belege lückenhaften Weber’schen Textes gesteckt hat. Nach verbreiteter Meinung ist die Übersetzung – einschließlich der sehr ausführlichen Einleitung durch Rheinstein selbst32 – verständlicher als Webers deutscher Urtext!33 Max Rheinstein hat zahllose Einladungen zu Vorträgen und Seminaren, insbesondere aus Europa, erhalten und diese mit Freuden und großem Erfolg wahrgenommen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass er dank seiner profunden Kenntnisse des europäischen wie des amerikanischen Zivilrechts einen verdienten Ruf als transatlantischer juristischer Brückenbauer erworben hat. Zeugnis dieser Reputation sind fünf Ehrendoktorate (Stockholm [1956], Basel [1960], Louvain [1964], Brüssel [1965] sowie Aix-Marseille [1968]) sowie eine deutsche Ehrenprofessur (Freiburg) und ein Großes Bundesverdienstkreuz (1953).34 Am Ende des wissenschaftlichen Teils dieser Skizze lässt sich auch der Ring schließen, an dessen Anfang die Begegnung Rheinsteins mit Ernst Rabel gestanden hatte. Der frühzeitig emigrierte Schüler war in der Lage, seinem im Alter von 65 Jahren ebenfalls in die U.S.A. verdrängten Lehrer so gut als eben möglich Hilfe zu leisten. Die Einzelheiten dieser Unterstützung sind zwar nicht bekannt; aber wie sie der Empfänger empfunden hat, hat dieser festgehalten: „Finally, it is my privilege to thank publicly Prof. Max Rheinstein of the University of Chicago, the most faithful of friends, for the help he has freely given to this book as well as to me and my family. I am happy to see him represent in this country our common scientific ideals.”35

32 Max Weber on Law in Economy and Society (edited with introduction and annotations by Max Rheinstein), 1954. 33 Zweigert Max Rheinstein, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 42 (1978) 1–3, 2. Für amerikanische Leser der englischen Übersetzung ausdrücklich ebenso Glendon (Fn. 16), 177 f. 34 International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933–1945, Band II 2, 1983, 965. 35 Rabel The Conflict of Laws I, 2nd ed. 1958, xxv. An anderer Stelle dankt der Verfasser seinem Schüler für “personal encouragement” (xxiv). Diesen Hinweis verdanke ich meinem Freund Professor Ole Lando.

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Hermann Heller (1891–1933) Hermann Heller (1891–1933) Claudio Franzius

Hermann Heller (1891–1933) Hermann Heller: Einstehen für den Staat von Weimar CLAUDIO FRANZIUS*

I. Warum Heller? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Heller als Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Heller und die Relativität der Perspektive . . . . . . . . 3. Die Gegenspieler: Von Hans Kelsen zu Carl Schmitt . II. Heller und die Fakultät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Politische Ernennung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Positionierungen in der Weimarer Republik . . . . . . . 3. „Kein Plagiatsvorwurf im Rechtssinne“ . . . . . . . . . . III. Heller und seine Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verteidigung der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Leitmotiv: Materieller Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . 3. Ein Staatsrechtslehrer als Vater der Politikwissenschaft

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I. Warum Heller? Hermann Heller war von 1928 bis 1932 außerordentlicher Professor an der Fakultät, einer der spannendsten Zeiten der deutschen Staatsrechtslehre. Nicht nur, weil man am drohenden Abgrund stand, sondern auch, weil die Rechtswissenschaft von der zeitbedingten Politisierung nicht unbeeinflusst bleiben konnte. Zwar war man sich relativ einig in der Zurückweisung des Labandschen Positivismus. Aber auch die klassische Staatslehre hatte ihren Zenit bereits überschritten. Die Staatsrechtswissenschaft stand im Bann der Anziehungskraft für etwas Neues, das in der Überwindung des Kaiserreichs stand, ohne zu wissen, was mit der Demokratie an seine Stelle getreten war. In seiner Biografie, seinem Stand an der Fakultät (unten II.) und dem Werk (unten III.) zählt Heller zu den herausragenden Persönlichkeiten, der nicht anders als seine Gegenspieler Hans Kelsen und Carl Schmitt polarisierte, aber mit ihnen eine der „großen“ Epochen des Öffentlichen Rechts sym* Mein Dank geht an Tobias Herbst, Christoph Müller, Ulrich K. Preuß und Christoph Schönberger für Anregungen und wichtige Hinweise.

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bolisiert. Seine Berliner Zeit liegt zwischen dem Münchener Staatsrechtslehrerreferat zum Gesetzesbegriff (1927) und der Verteidigung der Republik auf Seiten des sozialdemokratischen Preußens vor dem Staatsgerichtshof (1932). Während aus heutiger Sicht sein methodischer Zugriff nicht unproblematisch ist und neben allen gepflegten Unterschieden auch nicht eingestandene Gemeinsamkeiten zu den Kollegen erkennbar werden, ist sein beherztes Eintreten für die demokratische Struktur der Weimarer Republik im Kreise der deutschen Staatsrechtslehrer singulär geblieben. 1. Heller als Person Geboren am 17. Juli 1891 im damals österreicherischen Teschen an der Olsa, wuchs Hermann Ignaz Heller in einer Region auf, welche den Vielvölkerstaat der Habsburger Monarchie in der Verschiedenheit der Kulturen bewußt erleben ließ. Heller studierte in Wien, Graz, Innsbruck und Kiel Rechts- und Staatswissenschaften; während des Kriegsdienstes in der österreicherischen Armee wurde er 1915 an der Universität Graz promoviert. 1920 heiratete er die damals berühmte Tänzerin Gertrud Falke. Aus der Liason mit der Schriftstellerin Elisabeth Langässer stammt die 1929 geborene Tochter Cordelia Edvardson, die Auschwitz überlebte, nach Schweden zog und heute in Israel lebt.1 Das Frühjahr 1920 brachte wegweisende Ereignisse für Heller. Am 9. März trat er der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands unter dem ausdrücklichen Vorbehalt bei, den Internationalismus der Partei nicht anzuerkennen. Einen Tag später wurde er, nachdem er wesentliche Prägungen von Richard Schmidt in Leipzig erfahren hatte, in Kiel habilitiert. Hier beteiligte er sich mit Gustav Radbruch während des Kapp-Putsches an der Organisation des Widerstands der Arbeiterschaft. Um ein Blutvergießen zu vermeiden, versuchten beide einen Waffenstillstand auszuhandeln, wurden jedoch verhaftet und blieben von der Vollstreckung eines bereits ausgefertigten Todesurteils nur verschont, weil der Putsch in sich zusammenbrach.2 Die enge Freundschaft mit Radbruch war nicht von Dauer. Nachdem sie an der Gründung der Kieler Volkshochschule beteiligt waren, wechselt Heller 1921 wieder nach Leipzig, wo er die Leitung des neuen Volksbildungsamtes übernahm. Hier wurzelt sein bildungspolitisches Engagement. Theorie allein ist seine Sache nicht. Es geht ihm um die Lösung praktischer Probleme innerhalb des bestehenden Staates, angeleitet durch eine antiliberale, auf Hegel zurückgeführte, aber unscharf gehaltene Zusammenschau der 1

Autobiografisch: Edvardson Gebranntes Kind sucht das Feuer, 1986. Zur Person: Meyer Hermann Heller. Eine biografische Skizze, PVS 7 (1967) 293; Müller Hermann Heller (1891–1933), in: Kritische Justiz (Hrsg.) Streitbare Juristen, 1988, 268; Fiedler Das Bild Hermann Hellers in der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1994. Zu Facetten seiner Staatstheorie Müller/Staff (Hrsg.) Der soziale Rechtsstaat, 1984. 2

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Perspektiven.3 Nicht nur, dass Heller schwankt, ob er sich stärker der akademischen Arbeit widmen soll. Auch die Einordnung seiner Arbeiten fällt schwer, weist die Beschäftigung mit der wirklichkeitsorientierten Staatslehre doch nach eigener Einschätzung über die rechtswissenschaftliche Arbeit hinaus. Größeren Einfluss gewinnen die Arbeiten von Hans Freyer, worüber eine Hinwendung zu den Sozialwissenschaften stattfindet. Hellers kulturwissenschaftliche Staatslehre profitiert vom Entstehen der modernen Soziologie.4 1926 holt ihn Viktor Bruns an das Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht nach Berlin. Daneben lehrt er an der Deutschen Hochschule für Politik und veröffentlicht mit dem Band zur Souveränität eine gegen Kelsen gerichtete Kampfschrift für den Staat.5 Wurde er hierfür geschätzt, so ließ er sich doch keiner Richtung zuordnen. Ohne Zweifel ein streitbarer Jurist, schützt ihn das Einstehen für den Staat der Weimarer Republik nicht vor politischen Anfeindungen und verborgenen antisemitischen Ressentiments.6 Hiervon ist auch seine Zeit an der Berliner Fakultät betroffen, eklatant der Widerspruch zwischen der Anerkennung seiner wissenschaftlichen Beiträge und dem Bestreben der Fakultätskollegen, ihm eine ordentliche Professur zu verweigern. Heller hatte 1928 seiner Ernennung zum Ordinarius in Königsberg das vier Tage später angetragene Extraordinariat in Berlin vorgezogen, wurde aber hier nicht unterstützt und nach sechs Semestern – den Weg der Fakultät in den Nationalsozialismus vorzeichnend – vertrieben.7 1932 wurde Heller ordentlicher Professor für öffentliches Recht an der Universität Frankfurt am Main. Auch hier drohte die Ernennung am politischen Engagement zu scheitern, eine Reihe von Fakultätsangehörigen präferierte Carl Schmitt, dem Heller auf der Gegenseite im Oktober 1932 als Prozeßvertreter der preußischen Landtagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei im Verfahren „Preußen contra Reich“ vor dem Staatsgerichts3 Heller beruft sich auf eine dialektische Methode, worüber die Realität des Politischen einbezogen werden könne. Es spricht vieles dafür, dass Heller zum Erhalt der Einheit einem Mißverständnis Hegels unterliegt, vgl. Lepsius Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, 181 (mit Fn. 91). 4 Vgl. Üner Soziologie als „geistige Bewegung“, 1992. Zu Heller als Sozialwissenschaftler auch Schluchter Die Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, 1968 und Vesting Politische Einheitsbildung und technische Realisation, 1990. 5 Heller Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts, 1927. 6 So für die Staatsrechtslehrervereinigung Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 3, 1999, 185. Auffallend ist, wie häufig sich in den Biografien Hinweise auf das Temperament Hellers finden. Akademische Laufbahn und politischer Kampf, so scheint es, gehören auch am Vorabend des Untergangs nicht zusammen. Für eine zeitgenössische Wiederbelebung des politischen Konflikts Mouffe On the Political, 2005. 7 So nach Durchsicht der Fakultätsakten von Lösch Der nackte Geist: Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, 1999, 92, die von einem Offenbarungseid der Fakultät spricht.

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hof begegnete. Selbst in einer wohlwollenden Interpretation der Bundesexekution hatte die Regierung Papen mit juristisch kaum tragfähigen Argumenten8 die Preußische Landesregierung unter Braun und Severing abgesetzt, die Weimarer Reichsverfassung ihre Normativität zugunsten der Macht verloren.9 Spätestens jetzt musste Heller um seine berufliche Existenz fürchten, auch sein Leben war in Gefahr. Von Gastvorträgen in Oxford und an der London School of Economics kehrte Heller nicht nach Deutschland zurück, sondern ging auf Einladung des spanischen Kultusministers nach Madrid. Einen Ruf an die New School for Social Sciences in New York lehnte er ab. Sein Vaterland wollte er freiwillig nicht verlassen, bis zuletzt hoffte er auf eine Wende, doch nachdem er aus dem Staatsdienst entlassen worden war, starb Hermann Heller im Alter von 42 Jahren an den Spätfolgen eines Herzleidens, das er sich im Krieg zugezogen hatte, am 5. November 1933 in Madrid. 2. Heller und die Relativität der Perspektive Sein Leben spiegelt sich in seinem Werk. Zu weiten Teilen können seine Arbeiten als Beiträge im Weimarer Methoden- und Richtungsstreit gelesen werden. Heller ist für seine eklektische Perspektive kritisiert worden.10 Nicht gesehen wird dabei, dass er seinen Gegenstand, den Staat, als historisches Gebilde versteht und im Rahmen des Systems zu argumentieren sucht. Richtig ist aber, dass es ihm leichter fiel, fremde Positionen zu kritisieren als seinen eigenen Standort zu schärfen. Dazu mag beigetragen haben, dass Heller anders als Rudolf Smend, Erich Kaufmann oder Gerhard Leibholz seiner Begriffsbildung keine Philosophie, sondern die politische Wirklichkeit zugrundelegt. Er zielt auf eine Überwindung der „positivistischen Fragmentierung der Wirklichkeitserkenntnis“11 ohne zu sagen, wie das geschehen soll. Wie einer Reihe seiner Zeitgenossen ist Heller der Neukantianismus zuwider. Für ihn bestimmt der Gegenstand die Methode und nicht umgekehrt. Der Staat wird als Seins-, das Recht als Sinngebilde verstanden. Neben Relations- müsse es auch Substanzbegriffe geben.12 Heller bekämpft den Agnos8 Heller Ist das Reich verfassungsgemäß vorgegangen?, in: Gesammelte Schriften2, 1992, 405; dagegen Schmitt Schlussrede vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig, in: Positionen und Begriffe, 1988, 180. 9 Resümierend Anschütz Aus meinem Leben, hrsg. von Pauly, 1993, 326 f. „Macht wird nur durch Macht bezwungen, das ist eine harte Tatsache, die der Jurist anerkennen, mit der er sich, ob gern oder ungern, abfinden muss.“ 10 Schluchter (Fn. 4), 119. Zur Verteidigung Robbers Hermann Heller: Staat und Kultur, 1983, 28. 11 Lepsius (Fn. 3), 193 f. 12 Heller Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, AöR 16 (1929) 321, 349 f.

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tizismus Kelsens, der als Gegner der eigenen Position ausgewiesen wird, dafür aber nicht immer taugt. Die Nähe zu einem modernen Konzept sozialwissenschaftlichen Denkens wird an der klaren Zurückweisung der naturalistischen Methode deutlich. Heller lehnt für die Staatslehre, dem Kernanliegen seines Denkens, die kausalwissenschaftliche Methode ab, will damit aber nicht dem geisteswissenschaftlichen Lager zugerechnet werden. In dieser Individualität setzt er sich ungeachtet aller Fragen nach seinem Temperament zwischen alle Stühle und kann für seine Position keine Unterstützung erwarten.13 Traditionell wird man Heller im Vorwurf des Methodensynkretismus nicht gerecht.14 Gäbe es nur eine Methode, müsste die Wissenschaft als imperialistisch bezeichnet werden.15 Paradoxerweise trennt Heller die Perspektiven stärker als andere aus dem geisteswissenschaftlichen Lager und vielleicht ist er deshalb seinem späteren Kontrahenten Schmitt näher als es die politischen Differenzen vermuten lassen. Heller unterscheidet zwei Ebenen und hält die meta-juristischen Fragen aus der Rechtswissenschaft heraus. Während Kelsen in dieser Distanz eine methodische Tugend16 sah, wendet sich Heller in der Staatslehre den Zusammenhängen zu. Auch nichtjuristische Fragen müssen behandelt werden.17 Das provoziert die Frage, welchen Sinn es macht, diese Fragen auch dann von Juristen stellen zu lassen, wenn sich ihre Integration in die Rechtstheorie als zweifelhaft erweist.18 Heller will nicht, dass die Staatslehre juristisch ursupiert wird.19 Der hierfür zu zahlende Preis ist hoch, denn im Grunde ist sein Anliegen, eine Ana13 Krit. Badura Die Methoden der neueren allgemeinen Staatslehre, 1959; Pauly Die Krise der Republik: Hermann Heller und Carl Schmitt, in: Dicke/Kodalle (Hrsg.) Republik und Weltbürgerrecht, 1998, 311, 317 f. In der Schweiz ist die Kritik milder, vgl. Hebeisen Recht und Staat als Objektivationen des Geistes in der Geschichte, 2004, 1139 ff. 14 Beißende Kritik am „verwerflichen Synkretismus der Methoden“ bei Kelsen Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, 1921, 18. 15 Heller (Fn. 12), 354. Für einen Methodenpluralismus Schuppert Staatswissenschaft, 2003, 17 ff. Konsequenzen: Schulze-Fielitz Staatsrechtslehre als Wissenschaft: Dimensionen einer nur scheinbar akademischen Fragestellung, Die Verwaltung, Beiheft 7 (2007) 11. 16 Vgl. Kelsen JW 1929, 1723, 1724: „Wissenschaft treiben zwingt ja nicht, auf politische Werturteile zu verzichten, verpflichtet nur: das Eine vom Anderen, Erkennen und Wollen, voneinander zu trennen.“ Die Kelsen-Rezeption droht zu übersehen, dass erkenntnistheoretische Konzepte seit dem linguistic turn an Grenzen stoßen. 17 Das wird in Jellineks Staatslehre vermisst, vgl. Ridder Georg Jellinek, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Band 2, 1978, Sp. 295, 298. 18 Zum prekären Status der Staatslehre als Wissenschaftsdisziplin Möllers Staatslehre, in: Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe, 2006, Sp. 2318, 2320 f.; Schönberger Der „Staat“ der Allgemeinen Staatslehre: Anmerkungen zu einer eigenwilligen deutschen Disziplin im Vergleich mit Frankreich, in: Beaud/Heyen (Hrsg.) Eine deutsch-französische Rechtswissenschaft?, 1999, 111 ff. 19 Möllers Staat als Argument, 2000, 86. Zuvor galt das Bemühen eher in umgekehrter Richtung. Zur Bewahrung des „juristischen Konstruktionsreservats“ Kersten Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000, 31 ff.

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lyse des Staates, nach den eigenen Prämissen rechtswissenschaftlich nicht mehr thematisierbar. Heller begnügt sich nicht mit einer Kritik des seinsentwurzelten Denkens. Mag die Verschmelzung von Sein und Sollen im Begriff der Wirklichkeit des Staates20 analytisch brauchbar sein, so bleibt sie mit dem Risiko behaftet, die normative Maßstabsfunktion des Rechts auch dort zu verlieren, wo deren Pflege unverzichtbar ist. Hier liegt das Problem. Heller betont die Verschiedenheit von Staat und Recht mit dem Ziel, der von Metaphysik befreiten Jurisprudenz einen eigenen Bereich zu erhalten.21 Es geht ihm aber nicht um die Ausscheidung des Nicht-Juristischen, sondern um deren Behandlung als gesolltes Sein.22 Dieser Zugriff kann im Ringen darum gelesen werden, das Maß der (Un-)Verbundenheit zwischen der Rechtswissenschaft und ihren Nachbardisziplinen zu bestimmen. Es variieren in den Beiträgen die Ansätze im Maß der Unterscheidung, nicht die Unterscheidungen an sich. So will Hellers staatstheoretische Konzeption die Jurisprudenz umfassen und – aus heutiger Sicht methodologisch halbherzig – doch von ihr geschieden sein. Seine Polemik gegen den formalen Relativismus hat zur Reintegration des Politischen beigetragen, ist aber nur punktuell – etwa im einheitlichen Gesetzesbegriff23 – juristisch kleingearbeitet worden. Heller verband mit dem Einbruch der Politik von rechts und links die Hoffnung, dass die Staatsrechtslehre sich auf ihre Bewußtseinsvoraussetzungen besinne und aus dem positivistischen Logismus herauskomme.24 Deshalb bedürfe es der Staatslehre. Sie wird normativ verstanden, doch dahinter verbirgt sich kein Erkenntnisverfahren, sondern die Wirklichkeit politischer Ideen. Staatslehre ist Wirklichkeitswissenschaft, nicht Geisteswissenschaft. Und obwohl es in der Frühzeit der Ausdifferenzierung von Rechts- und Politikwissenschaft das besondere Verdienst Hellers ist, die politischen Wertungen nicht hinter philosophischen Zwangsläufigkeiten zu verstecken, bleibt die reale Welt wissenschaftstheoretisch eigentümlich unbestimmt.25 Eine Theorie der politischen Tat liefert Heller nicht, wenngleich in der Hervorhebung der Entscheidung das anklingt, aber nicht die Schärfe des Dezisionismus Schmitts erhält. Von den juristischen Wurzeln kann und will sich Heller nicht lösen. Seine Perspektive knüpft an reale Entwicklungen an, wobei sich methodische und

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Lepsius (Fn. 3), 190 f. Robbers (Fn. 10), 23. 22 Vgl. Heller (Fn. 12), 348. So noch heute Hoffmann-Riem Rechtsformen, Handlungsformen, Bewirkungsformen, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.) Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 2, 2008, § 33 Rn. 57. 23 Heller Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, VVDStRL 4 (1928) 98. Das Referat muss als Abkehr von der dualistischen Struktur des Kaiserreichs gelesen werden, das Monarch und Parlament in eine Balance gebracht hatte. 24 Heller (Fn. 23), 203 f. 25 Angemessene Würdigung: Lepsius (Fn. 3), 194 f. 21

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politische Frontlinien nicht decken. Die meisten seiner Kollegen konnten Heller methodisch nicht kritisieren. Der Methodensynkretismus, so Heinrich Triepel, sei kein Majestätsverbrechen.26 Und die antipositivistische Stoßrichtung Rudolf Smends deckt sich mit der Position Hellers.27 Wissenschaft konnte nicht allein dogmatisch arbeiten, darin war man sich im Prinzip einig.28 Aber was – auf welchem Wege – hinzutrat, war schwer zu greifen und bleibt bis heute in der Staatslehre überaus heterogen. Ist es für Kelsen die Theorie des Rechts und für Schmitt die Theorie des Politischen, so ist es für Heller die Beschäftigung mit dem Staat, den er als organisierte Handlungsund Entscheidungseinheit begreift. Damit bleibt Heller in der alteuropäischen Suche nach Einheit29 wissenschaftlich erstaunlich konservativ. 3. Die Gegenspieler: Von Hans Kelsen zu Carl Schmitt Hellers politischer Gegenspieler an der Fakultät, Rudolf Smend, steht methodisch auf seiner Seite. Beide sehen im Staat eine Einheit, die, wenn sie nicht vorgegeben, so doch aufgegeben ist. Hellers eigene Position ist nicht mit der unpolitischen Betrachtung des Staates durch Smend gleichzusetzen, wird aber erst in der Konfrontation mit seinen wissenschaftlichen Gegenspielern deutlich. Dazu gehören ungeachtet häufig übersehener Gemeinsamkeiten zuerst Hans Kelsen, später Carl Schmitt.30 Kelsen hat durchaus Gemeinsamkeiten mit Heller.31 Beide sind Österreicher und Juden, zudem sind es die beiden exponierten Sozialdemokraten32 unter den Weimarer Staatsrechtslehrern. Dennoch zählt ihre Auseinandersetzung auf der Münchener Staatsrechtslehrertagung 1927 zu den Highlights der deutschen Staatsrechtslehre. Heller nutzte sein Referat zu einer Brandmarkung Kelsens, sorgte bei ihm aber für keinen Widerspruch, sondern erhielt Zustimmung.33 Das wird man kaum als österreicherische Umarmungs26

Triepel Staatsrecht und Politik, 1926, 17 f. Freudige Zustimmung: Heller (Fn. 23), 98. Stolleis (Fn. 6), 172, meint, dass schon Mitte des 20. Jahrhunderts, jedenfalls vor dem Krieg, die Mehrheit der Staatsrechtslehrer zu den Antipositivisten gerechnet werden könne. 28 Dahinter steht das Bedürfnis, ihre Leistungen zu erklären. Die juristische Dogmatik, so gibt Heller Staatslehre, 378 zu verstehen, ist „weder völlig autark noch autonom. Ihr Sinn sowie ihre Methode lassen sich nicht normimmanent, sondern nur meta-juristisch, nämlich politisch-historisch, d.h. aber wirklichkeitswissenschaftlich verstehen und erklären“. 29 Dazu Waechter Studien zum Gedanken der Einheit des Staates, 1993, 130 ff. 30 Vgl. Robbers (Fn. 10), 23, 47, 50, 82. 31 Grundlegend Müller Kritische Bemerkungen zur Auseinandersetzung Hermann Hellers mit Hans Kelsen, in: Müller/Staff (Hrsg.) Staatslehre in der Weimarer Republik, 1984, 128 ff. 32 Das wird mit Blick auf Kelsen nicht so gern gesehen, vgl. Blau Sozialdemokratische Staatslehre in der Weimarer Zeit. Darstellung und Untersuchung der staatstheoretischen Konzeptionen von Hermann Heller, Ernst Fraenkel und Otto Kirchheimer, 1980. 33 Im Stil eines Koreferates Kelsen VVDStRL 4 (1928) 176 ff. 27

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strategie verstehen können, sondern hat mit dem Umstand zu tun, dass Heller ein überzeugendes Referat gehalten hatte. Er verwehrte sich gegenüber einer Vereinnahmung für die formale Position Kelsens, zeigte auf diese Weise aber nur, dass es seines staatstheoretischen Überbaus augenscheinlich nicht bedarf, um zu juristisch vom Gegner geteilten Ergebnissen zu gelangen. Heller ist die politische Dimension der Reinen Rechtslehre nicht unbemerkt geblieben, meinte diese Dimension aber nur im Staatsbegriff finden zu können. Er sieht nicht die Vorzüge funktionaler Einheitsbildung, die in rechtswissenschaftlicher Bescheidenheit die politische Abänderbarkeit von Recht spiegeln. Erklärbar werden die unterschiedlichen Positionen Hellers und Kelsens vor dem Hintergrund ihrer Herkunft aus dem brodelnden Vielvölkerstaat der auseinanderfallenden Doppelmonarchie.34 Während Kelsen die harte Normativität braucht, um die rechtswissenschaftliche Konstruktion nicht der Faktizität der nationalen Widersprüche preiszugeben, nimmt Heller die soziale Homogenität des Nationalstaates, um das Recht an die Empirie heranzuführen und seine Steuerungskraft zu erhalten. So wundert es nicht, dass Kelsen nach dem Krieg über das Völkerrecht35 seinen Ruf als führender Rechtstheoretiker festigt und das Bundesverfassungsgericht in der Sorge vor einem Souveränitätsverlust des Staates durch die europäische Integration auf Heller zurückgreift.36 Auch der Verdacht, im Maastricht-Urteil sei Heller genannt, aber Carl Schmitt gemeint, ist nicht völlig aus der Luft gegriffen.37 Heller steht der Begrifflichkeit Schmitts nahe. Hatte er gegenüber Kelsen noch den schöpferischen Willen in Stellung gebracht, um die Identität von Staat und Recht zu bekämpfen, so wird in seiner Überhöhung durch den Faschismus nun eine Gefahr gesehen, die einer strengen Einbindung durch das Recht bedarf. Anders gesagt: War die Staatslehre gegen Kelsen gerichtet, so verlangt die Abwehr unbegrenzter Macht, wie sie am Horizont der Weimarer Republik

34 Die Herkunft Kelsens thematisiert neben Stolleis (Fn. 6), 167 auch Schönberger Die Verfassungsgerichtsbarkeit bei Carl Schmitt und Hans Kelsen: Gemeinsamkeiten und Schwachstellen, Manuskript. 35 Vgl. Fassbender Hans Kelsen und die Vereinten Nationen, in: FS Tomuschat 2006, 763; s. auch Brunkhorst/Voigt (Hrsg.) Rechts-Staat. Staat, internationale Gemeinschaft und Völkerrecht bei Hans Kelsen, 2008. 36 BVerfGE 89, 155, 186. Für Heller ist Europa nur als Staat denkbar. Dass die hM einem non sequitur erliegt, wird daran deutlich, dass die aus demokratischen Gründen für erforderlich gehaltene Staatswerdung ihrerseits an Art. 79 Abs. 3 GG scheitern soll. Zu Kippbildern der Integration Leibfried Das Schiff Europa: Über eine Kippfigur der Integration, FAZ vom 4.3.2009, N 3. 37 Vgl. Pernice Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995) 100. Zur aktuellen Debatte: Joerges/Mahlmann/Preuß (Hrsg.) „Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit“ und der Prozess der Konstitutionalisierung Europas, 2008.

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aufzieht, die Aktivierung des Staatsrechts. Sein Hauptgegner wird Schmitt weniger in methodischer als in politischer Hinsicht. Es geht ihm um die Verteidigung der Einheit mit unterschiedlichen, aber wechselseitig aufeinander angewiesenen Mitteln. Als sich die beiden vor dem Staatsgerichtshof gegenüberstehen, war der juristische Kampf verloren, die Schmitt vorgeworfene „situationsgemäße“ Auslegung der Reichsverfassung bereits Realität. Heller, für den politische Macht durch Recht hervorgeht, musste im Preußenschlag den Anfang vom Ende sehen. Der Wille zum Staat ist nicht identisch, aber untrennbar verknüpft mit dem Willen zum Recht. Zwar bringt das Recht den Staat hervor, der Staat ist aber auch notwendige Bedingung der Existenz des Rechts. Politische Macht nimmt Heller ernst, sieht in ihr aber eine Ambivalenz. Stets bestrebt, rechtliche Formen anzunehmen, bildet doch umgekehrt erst die Macht das Recht heraus. Heller ist realistisch genug, um zu erkennen, dass ein formaler Rechtsstaatsbegriff die Republik nicht sichert. Den Ausweg sieht er in der Überwindung der Scheidung von Norm und Willen, sei es der willenlosen Norm Kelsens oder der normlosen Willensmacht Schmitts. Während die positivistische Normlogik eine passive Beobachtung begünstige, die einer mehrheitlich nur widerwillig akzeptierten Republik schlecht bekomme, führe die Ablösung der Macht vom Recht in die aktive Zerstörung des Staates. Heller sucht eine Lösung dazwischen und denkt an die Kultur. An der verfassungsrechtlich geführten Debatte über den Hüter der Verfassung beteiligt er sich nicht direkt, eine gewisse Präferenz für die Gerichtslösung ist aber erkennbar.38

II. Heller und die Fakultät 1. Politische Ernennung? Als Heller 1928 an die Fakultät berufen wurde, hatte er als Privatdozent das viel beachtete Referat auf der Staatsrechtslehrertagung in München gehalten. Das in den wesentlichen Grundzügen verfassungsrechtsdogmatisch ausgerichtete Referat war sein Entrée in eine mehrheitlich antipositivistisch eingestellte Fakultät, weshalb die Ablehnung durch die Kollegen nicht darin gesehen werden kann. Rückblickend sprach Smend ebenso böse wie zutreffend von einer politischen Ernennung, doch im Kern liegt die Gängelung tiefer. Für den Staat, den Heller verteidigte, wollte sich niemand einsetzen. Wer nicht dem Kaiserreich nachtrauerte, sah die Zukunft des Staates häufig in der Diktatur der Exekutive, aber nur selten in der republikani38 Vgl. Wendenburg Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, 1984, 195 ff.

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schen Demokratie.39 Heller bekam die latente oder offene antidemokratische Haltung seiner Kollegen zu spüren. Die Rückkehr Erich Kaufmanns in die Fakultät hatte dort keinen Protest ausgelöst40 und mit Viktor Bruns war in der Fakultät jemand, der Heller nicht prinzipiell abgetan war. Heinrich Triepel und Rudolf Smend, die eigentlichen Wortführer, konnten mit Heller aber nicht viel anfangen. Das erstaunt, sprach die um sich greifende Kritik am Neukantianismus41 und die Sehnsucht nach Seins-Kategorien ebenso wie das Interesse an der Politik im Grunde eher für als gegen ihn. Auf Drängen des Ministeriums hatte die Fakultät eine Liste erstellt, die Heller nur aufnimmt, um ihn abzulehnen. Weder für das positive Recht noch für die rechtsphilosophischen Grundlagen sei er geeignet. Seine Ablehnung wird vor allem mit seiner „persönlichen Eigenart“ begründet: „Dr. Heller ist eine äußerst schwierige Persönlichkeit, die bisher noch nie längere Zeit die Voraussetzungen amtlicher Zusammenarbeit zu erfüllen verstanden hat. Im Falle einer Berufung von Dr. Heller an die hiesige Fakultät würden wir nach allem Vorangegangenen mit Bestimmtheit auch hier innere Unerträglichkeiten und öffentliche Konflikte erwarten – eine Gefahr, die gerade die Berliner Universität angesichts des Interesses der Öffentlichkeit an ihren Verhältnissen nicht ausgesetzt sein sollte“. Fakultätsintern war klar, dass Heller verhindert werde müsse.42 Letztlich ging es um die Nachfolge Carl Bornhaks mit einem staats- und rechtsphilosophisch interessierten Vertreter des Öffentlichen Rechts, doch wurde zunächst ein Zivilrechtler genannt und später Verwaltungsrechtler auf die Liste gesetzt. Unmißverständlich gab die Fakultät zu verstehen, dass dem zu Berufenden keinerlei Aussicht auf ein Aufrücken zum Ordinarius in der Fakultät gemacht werden dürfe. Der preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Carl Heinrich Becker, ernannte Heller dennoch mit Erlaß vom 13. November 1928 zum außerordentlichen Professor für das öffentliche Recht.43 Die Fakultät hatte ihren Einfluß überschätzt und sah ihr Ansehen gefährdet:

39 Statt vieler Georg Jellinek, der den Wandel in der Staatsform, nicht aber in der demokratischen Abkehr vom Autoritatismus des Kaiserreichs festmachte, vgl. Breuer Georg Jellinek und Max Weber. Von der sozialen zur soziologischen Staatslehre, 1999, 25 f.; grundlegend Hofmann Legitimität gegen Legalität2, 1992, 24 ff. 40 Stolleis (Fn. 6), 256. 41 Scharf Kaufmann Kritik der neukantianischen Rechtsphilosophie, 1921. In seiner Person spiegelt Kaufmann wie kaum ein anderer die Öffnung der Staatsrechtslehre für materiale Werturteile, vgl. Rennert Die geisteswissenschaftliche Richtung in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987, 160 ff. 42 Alle Nachweise bei von Lösch (Fn. 7), 93 ff. 43 Gleichzeitig wurde Hans Peters berufen.

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„Dass trotzdem diese Persönlichkeit u.z. ohne nochmalige Fühlungnahme mit der Fakultät ernannt worden ist, stellt sich als ein Ereignis dar, wie es in der Geschichte unserer Fakultät, ja der preußischen Juristenfakultäten und Universitäten überhaupt kaum einen Vorgang hat, und ist geeignet, das Ansehen der Fakultät, die doch mit größter Gewissenhaftigkeit und nach bestem Wissen und Gewissen zu fahren bestrebt war, in bedauerlicher Weise zu gefährden.“ Augenscheinlich gefährdet war die konservative Berufungspolitik. Den Vorwurf einer politischen Ernennung durch Smend, einer treibenden Kraft hinter der Ablehnung soll Schmitt als schweres Unrecht gegen Heller zurückgewiesen haben. Hier spreche auch das Kapitel der inneren Lage der damaligen Staatsrechtswissenschaft mit.44 2. Positionierungen in der Weimarer Republik Vieles spricht dafür, dass die Staatsrechtslehre mit ihrer eigenen Politisierung in der Weimarer Republik nicht zu Recht kam. Aber das dürfte die fortdauernde Ablehnung Hellers durch die Fakultät kaum allein erklären. Es ging in politisch bewegten Zeiten um die Wahrung der überlieferten Etikette und die Sehnsucht nach überpolitischen Werten, die im mehr oder weniger deutlich protestantisch-nationalkonservativen Profil der Fakultät jemanden wie Heller fremd bleiben ließen. Insbesondere agitatorische Fähigkeiten schienen verdächtig. Als Heller 1931 auf Drängen des Ministers zum persönlichen Ordinarius an der Fakultät ernannt werden sollte, erhebt die Fakultät schwere Vorwürfe zur Person: „Professor Hellers ungewöhnliche, wenngleich sehr einseitigen Anlagen wirken sich nicht in dauerhaft fruchtbaren Leistungen aus. Er ergeht sich dauernd in der wissenschaftlichen und moralischen Verurteilung Anderer, ist aber außerstande, irgendwelche Kritik an sich selbst zu ertragen. Er sucht überall in möglichst weiten Wirkungskreisen beherrschenden persönlichen Einfluss zu gewinnen, unterstützt durch seine grosse agitatorische Fähigkeit, letzten Endes aber auch in dem Bedürfnis, sich agitatorisch und nicht wissenschaftlich auszuwirken. Bei diesen Bestrebungen und den zahlreichen daraus hervorgehenden Konflikten lässt er es am einfachsten Rechtssinn und zugleich an dem Wahrheitssinn fehlen, der für den ruhigen wissenschaftlichen Forscher und vor allem für den Juristen unerlässlich ist.“ Am Ende seiner meistens großen Anläufe stehen Versagen und Zerflattern, so die Fakultät. Sie gelangt 44 Vgl. Meyer Hermann Heller, in: Müller/Staff (Fn. 2), 81. Soweit die Berufung in den Ruch einer parteipolitische Bevorzugung gestellt wird, droht übersehen zu werden, dass Carl Heinrich Becker parteilos war.

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„bei aller Bereitwilligkeit, auch in einer wenig sympathischen Persönlichkeit Gutes anzuerkennen, zu dem Urteil, dass Professor Heller schlechterdings nicht die wissenschaftlichen Leistungen auszuweisen hat oder auch nur für die Zukunft zu vollbringen verspricht, die es gestatten würden, ihn auf eine ordentliche Professur in Berlin zu berufen“. Nimmt man die Stellungnahmen der Fakultät zur Kenntnis, geht es weniger um Hellers Beteiligung im Richtungsstreit seiner Zeit. Das Argument fehlenden Interesses am positiven Recht ist erkennbar vorgeschoben und die Werteorientierung der Staatslehre war geradezu erwünscht. Aber die negativen Auswirkungen des Richtungswechsels scheinen gesehen worden zu sein, zumal verfassungsrechtliche Streitigkeiten – am Ende symbolisiert durch die unklare Entscheidung des Staatsgerichtshofs im Preußenschlag – den Verlust der Kontrollfunktion von Dogmatik andeuten. Das Pendel sollte jedoch nicht zum Positivismus45 zurückschlagen, vielmehr die integrativen Formen stärken. Zur Abwehr übermäßiger Politisierungen, aber wohl auch in Ermangelung demokratischer Wurzeln46 drohte die Staatsrechtslehre in nebulöses Fahrwasser abzugleiten.47 Und die Integrität der Disziplin, die sich allmählich der Konkurrenz durch die Politikwissenschaft bewußt wurde, musste durch Kollegen gesichert werden, deren Einbindung in Tradition und Ethos außer Zweifel stand.48 Hier passte Heller, obgleich den Brückenschlag zum politischen Gegner suchend, nicht hinein.49 3. „Kein Plagiatsvorwurf im Rechtssinne“ Die Fakultät bezieht sich aber auch auf die Arbeiten Hellers. Obgleich von einer hohen Produktivität wird an grundlegenden Arbeiten – bemerkenswert die Herausnahme der Souveränitätsschrift – kein gutes Haar gelassen. Kritik wird gegenüber Vorträgen geäußert, die auf den Ton von Reden in Massenveranstaltungen abgestimmt seien. Als perfide muss das Verhalten 45 Zur Abkehr Korioth Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, AöR 117 (1992) 212. 46 Differenzierend Gusy Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000. 47 Wirkungsmächtig die Staatsvoraussetzungslehre Smends, die nach dem Krieg in vielen Facetten aufgegriffen und ein Fundament der Bonner Republik wird. Zuspitzend Günther Denken vom Staat her, 2004. 48 Für Triepel in diesem Sinne etwa Stolleis (Fn. 6), 173. Aus diesem Grund hatte es auch Schmitt im Kreise der Staatsrechtslehrer nicht leicht. 49 Nicht zu viel, sondern auch zu wenig Konfliktbereitschaft kann das Fundament des Staates untergraben. Für eine positive Deutung von Konflikten Frankenberg in: Schuppert/ Bumke (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, 2000, 31, 37 ff. Für eine Zurückhaltung hinsichtlich Homogenitätserfordernisse jetzt Hanschmann Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft, 2008.

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der Fakultät im Fall des Plagiatsvorwurfs bewertet werden, der von der Fakultät zum Anlaß genommen wird, das von Heller nicht selbst betriebene Verfahren einer ordentlichen Professur zu untergraben. Heller hatte 1919 bei Reclam eine Ausgabe von Hegels „Die Verfassung Deutschlands“ veröffentlicht. Sie enthielt eine von ihm verfasste Einführung, doch die ebenfalls darin enthaltenen Anmerkungen waren einer anderen Ausgabe entnommen. In einem Schreiben an den Minister schildert die Fakultät den Vorfall als Plagiatsfall, was zur Folge hatte, dass die Akten der Leipziger Staatsanwaltschaft beigezogen wurden. Diese hatte 1921 das Verfahren gegen Heller eingestellt, der Strafantrag war zurückgezogen worden und die Schuld wurde beim Verlag gesehen. Dennoch teilt die Fakultät dem Ministerium mit, dass es „für die Fakultät (. . .) nicht darauf ankommt, ob Hellers Verhalten in der Anlegenheit den Strafgesetzen, sondern ob es dem Gesetzen des literarischen und akademischen Anstands zuwiderlief. Dass sein Verfahren in den Augen literarisch anständig denkender Leute das gewesen ist, was man allgemein ein Plagiat nennt, wird man nicht bestreiten können“. Dem Ministerium wurde es offensichtlich zu viel. Es stellte nach Durchsicht der Akten und der Stellungnahme von Richard Schmidt aus Leipzig sowie einem Schreiben des Reclam-Verlags fest, dass der Plagiatsvorwurf unbegründet sei. Im Übrigen habe man Heller einen ordentlichen Lehrstuhl in Frankfurt angeboten und er habe diesen Ruf angenommen. Von Frankfurt aus forderte Heller im April 1932 die Berliner Fakultät auf, den Plagiatsvorwurf zurückzunehmen. Nachdem der Dekan vorgeschlagen hatte, nicht zu reagieren und die Fakultät sich entschloß, überhaupt nicht zu antworten, schrieb Heller erneut und erhielt – gleichsam zum Abschied aus seiner Berliner Zeit – die Erklärung, dass von der Fakultät der „Vorwurf des Plagiats im Rechtssinne“ nicht erhoben worden sei.50

III. Heller und seine Themen 1. Verteidigung der Republik Gegenüber der kanonisierten Staatslehre Jellineks51 unterscheidet sich Hellers Staatslehre durch ihren klaren Politikbezug, hinter dem eine demokratische Grundüberzeugung steht. Daraus bezieht seine Staatsvorstellung eine normative Stoßrichtung, die über das lediglich beschreibende Muster der Integrationslehre Smends hinausgeht. 50 51

Hilfreich die Auswertung der Fakultätsakten durch von Lösch (Fn. 7), 97 ff. Zur Zwei-Seiten-Lehre Kersten (Fn. 19), 145 ff.

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Mit Kelsen gemeinsam ist Heller die Verteidigung der Republik. Obwohl beide die Verfassung primär als normativen Maßstab anerkennen, bleibt für Heller das Politische auch im Rechtsdiskurs von Bedeutung, um die Einheit des Staates gegenüber der kritisierten „Leere“ logischer Ableitungen verteidigt werden. Dass er auf diese Weise den Staat als Gegenstand des Rechts überhöht, sieht er nicht. Das liberale Denken kann Heller, insofern Schmitt nahestehend, nicht akzeptieren. Für ihn bleibt aus juristischer Sicht die Frage nach dem Maß an Homogenitätsanforderungen zu stellen. Da er jedoch von einer unhintergehbaren Heterogenität des Volkes52 ausgeht, ist die Einheitskonzeption differenziert.53 Sie wird nicht mit einer Ursprungs- und Schicksalsmythologie überfrachtet, sondern auf die staatliche Organisation beschränkt, wenngleich in dieser „Gestalt“ die von ihm verteidigte, aber nicht mehr in einem eigenen Kapitel der Staatslehre aufgegriffene Souveränität „ortlos“ wird.54 Auch deshalb kann er im großen Prozeß, den Preußen 1932 gegen das Reich führt, bestehen.55 2. Leitmotiv: Materieller Rechtsstaat Die Staatslehre, Hellers 1934 posthum erschienenes Hauptwerk, ist ein Kind ihrer Gattung: Juristen schreiben für Juristen zu einem Gegenstand, der über das Recht hinaus weist. Es hat den Anschein, als habe die Staatslehre gerade dadurch ihr Gewicht neben dem verfassungsrechtlichen Denken bewahren können.56 Staatslehren übersetzen soziologische Perspektiven für den juristischen Hausgebrauch. Vor allem die konzeptionelle Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat wird Heller zugeschrieben, wenngleich der staatstheoretisch interessantere Aspekt im Staatsbegriff als solchem liegt. Statt der juristischen Person wählt Heller – im Banne Hegels – die Struktur für die normative Ordnung des Staates. In der Kritik an Hobbes ist sich Heller mit Smend einig. Vermieden wird aber die Funktionalisierung der Person, wie sie bei Smend angelegt ist und später in der Europarechtswissenschaft prominent Einzug hält.57 Das 52

Er spricht von einem Pluralismus der politischen Willensrichtungen, vgl. Heller (Fn. 28), 163. 53 Unterschiedliche Anknüpfungen: Böckenförde Demokratie und Repräsentation, 1983, 25 ff.; Preuß Zum staatsrechtlichen Begriff des Öffentlichen, 1969, 134, 148 f., 159. 54 So auch Waechter (Fn. 29), 115, 126. Gute Übersicht zur Ambivalenz des Souveränitätsbegriffs: Stein/Buchstein/Offe (Hrsg.) Souveränität, Recht, Moral, 2007. 55 Näher Kaiser Preußen contra Reich, Hermann Heller als Prozeßgegner Carl Schmitts vor dem Staatsgerichtshof 1932, in: Müller/Staff (Fn. 2), 287 ff. 56 Dazu Hofmann Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung?, JZ 1999, 1065. Die Probe aufs Exempel macht die Europäische Union, vgl. Wahl Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, JZ 2005, 916. 57 Masing Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1998.

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Individuum geht in seinen sozialen Verpuppungen nicht in der kollektiven Figur des Volkes auf. Vielmehr wird das Maß an erforderlicher sozialer Homogenität bewußt niedrig gehalten und über den Gestaltbegriff versucht, eine Form der Einheit zu benennen, welche die Heterogenität des Volkes zuläßt. Auch der heute gerne als Etatist kritisierte Heller ist deshalb für die soziale Ausdifferenzierung des Ganzen, die bei Smend noch obrigkeitliche Züge trägt, in Bezug genommen worden.58 Das verwundert nicht, erschwert es das als dialektisch ausgewiesene Denken Hellers doch, zu einem erkenntnistheoretischen apriori zu gelangen.59 Hellers Staatslehre ist eine Lehre vom materiellen Rechtsstaat, dem unter Einbeziehung der Geschichte eine Zukunftsperspektive verliehen werden sollte.60 Die methodische und theoretische Perspektive auf den Staat als organisierter Entscheidungs- und Wirkungseinheit61 nimmt Heller aber juristisch nur schwach in der Unterscheidung zwischen (positiven) Rechtssätzen und (überpositiven) Rechtsgrundsätzen auf.62 Letztere erweisen sich als die offene Flanke seiner Theorie, die das Maß der Autonomie des Staates von anderen gesellschaftlichen Teilbereichen – und das heißt in Stoßrichtung gegen Kelsen auch vom Recht – nicht bestimmen kann.63 Heller kann politische Macht in der Produktion von Recht nur auf den Staat bezogen denken. Seine Lehre von den Rechtsgrundsätzen, deren Funktion nicht in den positiven Verfassungsbindungen aufzugehen scheint, trägt eher zur Verdunkelung als zur Erhellung der Abhängigkeit des Rechts vom Staat bei.64 Weil soziologische, juristische und moralische Argumente miteinander verwoben werden, bleibt die Grenze zwischen Normativität und Empirie flüssig und wenig belastbar. Heller spürt, dass der vernunftrepublikanische Idealismus das Ende der Republik nicht aufhalten kann. Er kann als Verfassungsjurist zwar ohne Staatstheorie argumentieren, sieht aber, dass sich rechtswissenschaftliches Denken, zumal in Krisenzeiten, nicht darauf beschränken kann. Heller steht damit für den guten Etatismus, der nicht im Naturrecht wurzelt, aber an ethische Inhalte, juristisch Rechtsgrundsätze genannt, gebunden ist, um deren Verwirklichung zu kämpfen sich lohnt. 58 Die Autonomie des Staates gegenüber der Wirtschaft und dem Recht erinnert an die Theorie sozialer Systeme, vgl. den Hinweis von Luhmann Grundrechte als Institution, 1986, 17. 59 Siehe aber Lepsius (Fn. 3), 185 ff.; Robbers (Fn. 10), 54 sieht Hellers apriori in der Kultur. 60 Würdigung: Fiedler Materieller Rechtsstaat und soziale Homogenität, 1984, 201, 207 ff. 61 Heller (Fn. 28), 259. 62 Robbers (Fn. 10), 52 ff. 63 Möllers (Fn. 19), 91 f. 64 Die Kritik an der Konzeption der Rechtsgrundsätze ist Legion, aber gerade in jüngerer Zeit wird eine Moralisierung des Rechts wieder erkennbar, krit. Volkmann Gute policey oder Das Recht als Vehikel der Mehrheitsmoral, FAZ vom 29.4.2008, 9.

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3. Ein Staatsrechtslehrer als Vater der Politikwissenschaft Dass sich nicht Heller, sondern Smend in der Bonner Republik durchgesetzt hat, liegt an vielen Gründen, sicherlich auch an mangelnden Alternativen.65 Heller starb, auch von den persönlichen Anfeindungen erschöpft, 1933. Seine Staatslehre teilt das juristisch nebulöse der Integrationslehre Smends, obgleich beide Richtungen in den Arbeiten Konrad Hesses eine Verbindung fanden.66 Erinnert sich die Rechtswissenschaft nur ungern an Heller, dann liegt das weniger an der Zentralität des Staatsbegriffs, sondern an methodischen Unsicherheiten des apostrophierten Wirklichkeitsbezugs. Heller ging es um eine positive Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Politik unter der Einheit von Theorie und Praxis. Auch für eine nicht streng positivistisch arbeitende Rechtswissenschaft ist das in der hingenommenen Unschärfe ein großer, vielleicht ein zu großer Elefant.67 Hans Mommsen hat Heller nicht ohne Grund als Vater der Politikwissenschaft bezeichnet.68 Sie hat mit der beschworenen Ganzheitlichkeit weniger Probleme als die Rechtswissenschaft, der eine Bescheidenheit nach wie vor gut bekommt.69 Verabschiedet die Rechtswissenschaft Heller, gäbe sie in falsch verstandenem Respekt vor der juristischen Methode aber zu viel Terrain an die wirklichkeitsorientierte Politikwissenschaft preis. Die Staatslehre Hellers mag in vielen Punkten auch deshalb nicht überzeugen, weil sie unentschieden bleibt zwischen Analyse und Normativität. Damit kämpft heute Governance.70 Jedoch das Ringen darum aus dem Kanon der Rechtswissenschaft auszuscheiden, würde zur Verarmung der Disziplin beitragen.71 Für das, was Heller mit seiner Staatslehre nicht mehr fertigstellen konnte, bleibt ein Bedarf bestehen, ob dem nun in einer neuen Staatswissen65

Zu einfach macht es sich Günther (Fn. 47) mit der Carl Schmitt-Folie. Robbers (Fn. 10), 116 f. 67 Zum Bild von den blinden Männern und dem Elefanten siehe die durch John Godfrey Saxe populär gewordene Parabel http://en.wikisource.org/wiki/The_Blindmen_and_ the_Elephant. Aufgegriffen für Europa: Puchala Of blind men, elephants and European integration, Journal of Common Market Studies 10 (1972) 267. 68 Mommsen Zum Verhältnis von politischer Wissenschaft und Geschichtswissenschaft in Deutschland, in: Schneider (Hrsg.) Aufgabe und Selbstverständnis der politischen Wissenschaft, 1967, 283, 297. 69 Ob die Staatsrechtslehre als Sozialwissenschaft begriffen werden kann, bleibt die Frage: Trute in: Schulze-Fielitz (Fn. 15), 115. Der Praxisbezug spricht eher dafür als dagegen. 70 Vgl. Trute/Denkhaus/Kühlers Governance in der Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 37 (2004) 451. 71 Näher Franzius Funktionen des Verwaltungsrechts in der Steuerungsperspektive der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 39 (2006) 335. Eine jüngere Verteidigung auch bei Loughlin In Defence of Staatslehre, Der Staat 48 (2009) 1, 16 f.: Hellers Staatslehre als „juristic logic of droit publique, which serves the function of sustaining the public sphere as an autonomous way of viewing the world“. 66

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schaft72 oder mit einer Theorie der Herrschaftsformen73 entsprochen wird. Im ungebrochenen, neuerdings wieder stärker kulturwissenschaftlich formulierten Bedürfnis nach einer Abstützung funktionaler Ausdifferenzierungen des Zugriffs kann an Heller angeknüpft werden. Ob es freilich gelingt, die Einheit als Projektionsfolie für juristische Operationen zu erhalten oder wiederherzustellen, steht auf einem anderen Blatt.74 Antworten hierauf gehen über die historische Würdigung hinaus75 und bleiben den Zukunftsperspektiven in dieser Festschrift vorbehalten.

72 Schuppert (Fn. 15), 43 ff. Eine Renaissance macht Voßkuhle Die Renaissance der „Allgemeinen Staatslehre“ im Zeitalter von Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 aus. 73 Lepsius Braucht das Verfassungsrecht eine Theorie des Staates?, EuGRZ 2004, 370. 74 Zweifelnd Vesting Staatslehre als Wirklichkeitswissenschaft?, Der Staat 31 (1992) 161, 183 ff. 75 Es ist nicht ausgemacht, ob sich die Dichotomie von Genese und Geltung kulturwissenschaftlich für eine juristisch brauchbare Staatstheorie auflösen lässt. Auch die theoretische Vereinnahmung der Rechtsgeschichte stößt an Grenzen. Das führt in ein Paradox: Theorie wird mehr denn je gebraucht, ist aber in schwerer Zeit untunlich. Davon ist auch die Erinnerungskultur betroffen.

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Max Alsberg (1877–1933) Max Alsberg (1877–1933) Alexander Ignor

Max Alsberg (1877–1933) „Unter den wissenschaftlich arbeitenden strafrechtlichen Praktikern weitaus an erster Stelle“ – Max Alsberg ALEXANDER IGNOR

I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.

Eine seltene Ehre . . Würdigungen . . . . Strafverteidiger . . . Wissenschaftler . . . Hochschullehrer . . Juristischer Essayist Das Ende . . . . . . . Das Vermächtnis . .

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I. Eine seltene Ehre Die Antrittsvorlesung von Max Alsberg am 7. November 1931 anlässlich seiner Ernennung zum Honorarprofessor an der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin fand eine ungewöhnlich große Aufmerksamkeit. Im Auditorium maximum, das siebenhundert Personen Platz bot, versammelten sich bereits lange vor Beginn um 10.00 Uhr über eintausend Hörer, darunter auch Vertreter der Berliner Presse, die über dieses Ereignis anschaulich berichteten. „Die Galerien, die Gänge, der Platz um das Katheter, – alles war überfüllt, schwarz von Menschen.“ Dass sie dem Vortrag nicht nur mit „höchster Aufmerksamkeit“, sondern auch „in voller Ruhe“ verfolgten, fand das „Berliner Tageblatt“ „heute zu sagen, nicht überflüssig“. „Außer dem beifälligen Getrampel am Anfang und am Ende, war kein Laut aus dem Auditorium zu hören.“1 1 Originalausschnitte des Artikels im „Berliner Tageblatt“ vom 8.11.1931 sowie des Artikels im „Berliner Börsen-Courier“ vom 7.11.1931 befinden sich in dem im Archiv der Humboldt-Universität unter der Signatur 50-/ Band 2 vorhandenen Dokumenten der Handelshochschule zu Berlin, „Akten betr. Rechtsanwalt Dr. Alsberg“. Auszüge aus Originalakten der Universität betreffend die Ernennung Alsbergs zum Honorarprofessor sind im Universitätsarchiv auf Mikrofiche vorhanden in: Archivalische Quellennachweise zur

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Die ungewöhnlich große Aufmerksamkeit galt einem ungewöhnlichen Mann. Mit Max Alsberg war erstmals ein praktizierender Rechtsanwalt zum Honorarprofessor an der Berliner Juristischen Fakultät ernannt worden, zudem der seinerzeit national wie international wohl bekannteste deutsche Rechtsanwalt, der es als Strafverteidiger zu größtem Ruhm und Ansehen gebracht hatte. Der „Berliner Börsen-Courier“ schrieb: „In ganz Deutschland hat Dr. Alsberg in den letzten 20 Jahren in der Mehrzahl der großen Strafprozesse als Verteidiger gewirkt und beinah regelmäßig die von ihm vertretene Sache zum Siege geführt. Vor allem waren es die großen Handelsstrafprozesse und sensationellen Mordsachen, in denen Dr. Alsberg als Verteidiger in Anspruch genommen wurde. Er hat den früheren Kaiser und Kronprinzen in verschiedenen Prozessen vertreten, den Herzog von Ratibor in der Anklagesache wegen fahrlässiger Tötung auf der Jagd, den Vizekanzler Minister Helfferich im Beleidigungsprozess gegen Erzberger, den Hauptmann von Kessel in dem großen politischen Meineidsprozess. In fast keinem der großen Wucherprozesse der Kriegszeit und Nachkriegszeit fehlte er am Verteidigertisch.“ Großes Aufsehen erregt hätten die Freisprechung des Fabrikanten Treiber in Dresden, angeklagt seine Frau im Ortlergebiet von einem Felsen gestürzt zu haben, die Freisprechung von Hugo Stinnes jr. in dem großen Kriegsanleiheprozess und schließlich die Freisprechung der Hamburger Reeder, die sich wegen der Expedition des Dampfers „Falke“ nach Venezuela eine Anklage wegen Menschenraubes zugezogen hatten.2 Die Aufzählung im „Börsen-Courier“, die sich um zahlreiche Fälle verlängern ließe, könnte den Eindruck erwecken, als habe sich der Ruhm Max Alsbergs insbesondere auf Sensationsprozesse und die Prominenz seiner Mandanten gegründet. Dies wäre eine einseitige Sicht. Gewiss war Alsberg in der Weimarer Republik nach heutigen Begriffen ein „Staranwalt“, der über große „mediale“ Fähigkeiten verfügte, insbesondere über ein bestrickendes Redetalent. Auch war er im Laufe der Jahre zu einem Mann der gehobenen Gesellschaft aufgestiegen, der ein großes Haus und einen aufwendigen Lebensstil führte, den Umgang mit illusteren Persönlichkeiten seiner Zeit pflegte, darunter berühmten Schauspielern, und der auch selbst zwei Theaterstücke schrieb.3 Sein hohes Ansehen als Strafverteidiger beruhte aber weniger darauf, Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin Teil 2: Berufung und Ernennung des Lehrkörpers der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät 1810–1945. 2 Näher zu den Prozessen siehe die Biografie von Riess Der Mann in der schwarzen Robe. Das Leben des Strafverteidigers Max Alsberg, 1965. 3 Das Drama „Voruntersuchung“, 1927 gemeinsam mit Otto Ernst Hesse geschrieben, 1931 verfilmt, und das Drama „Konflikt“, 1933. Zu letzterem siehe Jungfer Max Alsberg: Konflikt – Bremen, 3.3.1933 – eine Dokumentation (abrufbar unter http://www.alsberg. de/konflikt/dokumentation/index).

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wie er sich selbst öffentlich inszenierte, als auf der Art und Weise, wie er seine Mandate führte, die im Einzelnen recht unterschiedlich und nicht immer prominent waren. Er tat es mit außergewöhnlicher Hingabe an die Sache und mit Fähigkeiten, die er, mögen sie ihm auch als Talente in die Wiege gelegt worden sein, zielstrebig kultivierte. Dazu gehörte, was er selbst als unentbehrliche Voraussetzungen eines Verteidigers ansah: die „Freude, im Kampf ums Recht Mitstreiter zu sein“, das „Gefühl eines ernsten erhabenen, kraftvoll erregenden Mitleids“ mit dem Angeklagten4 sowie „intuitives Verständnis und Menschenkenntnis“.5 Nicht zuletzt war sein Ansehen aber auch das Ergebnis einer jahrelangen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Strafrecht, insbesondere mit dem Strafprozessrecht. „Rechtsanwalt Alsberg“, so der „Berliner Börsen-Courier“, „hat es verstanden, neben seiner umfangreichen anwaltlichen Tätigkeit sich den Namen eines allerersten Wissenschaftlers zu schaffen“. Seine Ernennung zum Honorarprofessor an der Friedrich-Wilhelms-Universität brachte dies deutlich zum Ausdruck. Dies war, wie das „Berliner Tageblatt“ zutreffend bemerkte, „eine seltene Ehre“. II. Würdigungen Max Alsbergs Leben und Werk, vor allem sein Wirken als Strafverteidiger, sind vielfach gewürdigt worden, auch schon zu Lebzeiten. Als er im Jahre 1931, nach dem von ihm erkämpften Freispruch von Hugo Stinnes jr. auf der Höhe seines Ruhmes stehend, von einem Anwaltskollegen bezichtigt wurde, sich hierbei unlauterer Machenschaften bedient zu haben, gab Alfred Apfel (1882–1940), der Alsberg seit Studienzeiten kannte und selbst ein prominenter Verteidiger in Berlin der 1920er Jahre war, für den von ihm hoch geschätzten Kollegen eine Ehrenerklärung in der Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“ ab, die er mit einer Würdigung von Alsbergs Arbeitsweise verband. „Das Groteske“ sei, dass Alsberg am eigenen Leibe erfahren müsse, wie alles, was er eindringlich in Wort und Schrift gelehrt habe, bei der Behandlung seines eigenen Falles außer Acht gelassen wurde. Immer wieder habe Alsberg darauf hingewiesen, „zunächst einmal die Quellen zu sichten, zu vergleichen, die Zusammenhänge zu durchdenken und sich von oft falschen Umrissen und leuchtenden Nebensächlichkeiten eines Tatbestandes freizumachen“.6 Apfel gab sich überzeugt, dass eine Untersuchung gegen 4 Alsberg Die Philosophie der Verteidigung (1930), in: Taschke (Hrsg.) Max Alsberg – Ausgewählte Schriften, 1992, 336. 5 Alsberg Der Verteidiger hat das Wort, in: Uhu. Das neue Ullstein-Magazin (Jahrgang?) 43; abrufbar unter http://www.alsberg.de/beitraguhu. Siehe dort auch Alsbergs Beitrag „Ich beantrage Freispruch . . . Aus der Praxis eines Verteidigers“. 6 Apfel Alsberg, Weltbühne 1931/2, 758 ff. Näher zum „Fall Glade“ – die Vorwürfe gegen Alsberg stammten von einem Ehepaar Glade – siehe Riess (Fn. 2), 260 ff. Alsberg selbst nahm dazu in einer (unveröffentlichten) Broschüre „Der Fall Glade“ umfassend Stellung.

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Alsberg mit einer glänzenden Rehabilitierung enden würde. Tatsächlich kam es nicht einmal zur Einleitung einer solchen.7 Im selben Jahr bezeichnete „Das Kriminal-Magazin“, eine von 1929 und 1936 erschienene Zeitschrift, die es sich zum Ziel setzte, in zugleich anspruchsvoller und unterhaltsamer Weise über Kriminalistik im weitesten Sinne zu berichten, Alsberg als den anerkanntesten und erfolgreichsten Berliner Strafverteidiger und vermittelte einen Eindruck von seinem Auftreten bei Gericht. „Schlang und biegsam wie seine Erscheinung ist die Beweglichkeit seiner Taktik. Aus seinem schwarzgescheitelten, feingeschnittenen Kopf blickt ein gespanntes Augenpaar, dem so leicht keine Blöße des Gegners entgeht. Schneidend wie Peitschenhiebe fallen seine Worte, scharfgespitzte Pfeile, die immer ins Schwarze treffen.“8 Die hohe Wertschätzung, die Alsberg bei der anwaltlichen Kollegenschaft genoss, kommt in dem Glückwunschschreiben zum Ausdruck, das die Strafrechtliche Vereinigung der Berliner Rechtsanwälte anlässlich seines fünfundzwanzigjährigen Berufsjubiläums, ebenfalls im Jahre 1931, an ihn richtete: „Seit 25 Jahren stehen Sie in unseren Reihen. 25 Jahre lang waren Sie unser Mitstreiter im Kampf um die höchsten Güter der Menschheit, um Recht und Gerechtigkeit [. . .] Wir sind stolz darauf, dass wir Sie vom Tage der Gründung unseres Vereins zu den unsrigen und zu einem unserer Führer zählen durften. Möge ein freundliches Geschick Sie uns noch eine lange Reihe von Jahren in voller Lebensfrische und Tatkraft erhalten, als schaffenden Gelehrten und vorbildlichen Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit!“9 Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung. Die Herrschaft des Nationalsozialismus trieb Max Alsberg schon kurz nach der „Machtergreifung“ 1933 in die Flucht aus Deutschland und bald danach in den Suizid. Es fehlte nicht an Versuchen, seine Person, sein Werk und die Erinnerung daran zu verunglimpfen. So hielt der Göttinger Strafrechtslehrer Karl Siegert (1901–1988) 1937 eine antisemitische Rede gegen Alsberg, in dessen Person er das „jüdische Wesen im Strafverfahrensrecht [. . .] am stärksten und verhängnisvollsten [. . .] wirken“ sah.10 Das Andenken an Max Alsberg auslöschen konnten solche Angriffe nicht. Bald nach Kriegsende, 1953, verfasste Günter Spendel (1922–2009) einen biographischen Artikel über Alsberg für die Neue Deutsche Biographie, worin er ihn als „bedeutenden Strafverteidiger und zugleich eine Gelehr7

Riess (Fn. 2), 265. Lachmann Das Kriminal-Magazin 1931, abrufbar unter http://www.anwaltsge schichte.de/kriminal-magazin. 9 Zitiert nach Jungfer Max Alsberg (1877–1933). Verteidigung als ethische Mission, in: Taschke (Fn. 4), 41. 10 Siegert Das Judentum im Strafverfahrensrecht, in: Das Judentum in der Rechtswissenschaft, Band IV, 1937, 32 ff., zit. nach Krach Jüdische Rechtsanwälte in Preußen, 1991, 104. 8

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tenpersönlichkeit“ bezeichnete.11 Etwa zur gleichen Zeit übernahm der Berliner Oberstaatsanwalt Karl-Heinz Nüse die Bearbeitung und Aktualisierung von Alsbergs wissenschaftlichem Hauptwerk „Der Beweisantrag im Strafprozess“, angeregt von der hohen Qualität des Buches. (Nüse wörtlich: „Ich fand das Buch fabelhaft.“12) Die Neubearbeitung wurde später von dem Richter am Berliner Kammergericht Karl-Heinz Meyer fortgeführt.13 Im Jahre 1965 erschien im Deutschen Bücherbund eine veritable Biografie Alsbergs unter dem Titel „Der Mann in der schwarzen Robe – Das Leben des Strafverteidigers Max Alsberg“. Ihr Verfasser, Curt Riess (1902–1993), war kein Jurist, sondern Journalist und ein auf Prominentenbiografien für ein breites Publikum spezialisierter Schriftsteller. Riess, der Alsberg persönlich begegnet war, war fasziniert von dessen Persönlichkeit und Wirken als Strafverteidiger, das in nuce die Geschichte der Weimarer Republik abbildete, einschließlich ihres tragischen Endes. Im Zentrum der Darstellung stehen folglich die Person Alsbergs und seine großen Prozesse, über die sich Riess aus Zeitungen und zahlreichen Interviews mit Familienangehörigen, Freunden, Wegbegleitern und weiteren Zeitgenossen informierte. Insgesamt ein sehr farbiges, spannend geschriebenes und nach wie vor lesenswertes Buch, freilich keine wissenschaftliche Biografie, die es aber auch nicht sein will.14 Der Verein Deutsche Strafverteidiger e.V. nahm im Jahre 1977 die 100. Wiederkehr des Geburtstages von Max Alsberg zum Anlass, regelmäßige gemeinsame Tagungen von Richtern, Staatsanwälten und Strafverteidigern als Alsberg-Tagungen zu institutionalisieren, die seither alle zwei Jahre durchgeführt werden und die Erinnerung an seinen Namen wach halten. Das Selbstverständnis des Namensgebers als Strafverteidiger und dessen Bedeutung als Wissenschaftler hob der langjährige Vorsitzende des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs Werner Sarstedt (1909–1985) in seinem Festvortrag auf der ersten Tagung am 13. Oktober 1977 in Bonn hervor. Gleichsam nebenbei, so Sarstedt, habe Alsberg ein wissenschaftliches Werk von einem Umfang, einem Weitblick und einer praktisch fortwirkenden Durchschlagskraft geschaffen habe, dass ihn mancher Ordinarius darum beneiden könnte.15 Eine neue Biografie Alsbergs, der sich ein vollständiger Abdruck der Schriften anschließen soll, hat vor Jahren der Berliner Rechtsanwalt Gerhard Jungfer in Angriff genommen, der sich bereits vielfältig um die Erfor11

Spendel NDB 1 (1953) 205. Bei Riess (Fn. 2), 339. 13 Die letzte Auflage erschien 1983. 14 Kritisch zur Biografie von Riess: Sarstedt Max Alsberg, ein deutscher Strafverteidiger, in: Taschke (Fn. 4), 29. 15 Sarstedt (Fn. 14), 43. 12

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schung der Anwaltsgeschichte verdient gemacht hat.16 Leider sind die Arbeiten noch nicht zum Abschluss gekommen. Einen kleinen Einblick in den großen Fundus seiner Vorarbeiten hat Jungfer in einem Porträt Alsbergs gegeben, das er 1988 für den Band „Streitbare Juristen“ gefertigt hat. Die bewusst persönlich eingefärbte Würdigung Alsbergs ist von der Bewunderung für den großen Kollegen getragen, der „Verteidigung als ethische Mission“ betrieben habe und dessen Name bis heute „leuchtet“.17 Der Verein Deutsche Strafverteidiger e.V. unternahm eine erneute Rückbesinnung auf das Wirken Max Alsbergs, als er im Jahre 1992 den ersten Band seiner Schriftenreihe für einen Abdruck ausgewählter Veröffentlichungen zur Verfügung stellte. Die von Jürgen Taschke zusammengestellten Aufsätze, Vorträge und Monographien geben Einblick in Alsbergs vielseitiges rechtsliterarisches Schaffen. Neben den biografischen Skizzen von Sarstedt und Jungfer enthält der Band ferner einen Auszug aus dem 1999 erschienenen Buch von Tillmann Krach über „Jüdische Rechtsanwälte in Preußen“, der sich Alsberg widmet. Fast ein halbes Jahrhundert nach seiner knappen Würdigung Alsbergs in der Neuen Deutschen Biographie hat Günter Spendel in seinem im Jahr 2001 erschienen Band „Kriminalistenporträts“ ein ebenso dichtes wie einfühlsames Bild von dessen Leben und Wirken gezeichnet. Leitmotiv dieser Darstellung ist die ungewühnliche Doppelbegabung Alsbergs als Theoretiker und Praktiker seines Berufs, der „im Denken und Handeln gleich Bemerkenswertes geleistet und so zwischen beidem einen Lebensgleichklang erreicht“ habe.18 Spendels Skizzen und mehr noch die Biografie von Riess lassen freilich auch erahnen, dass Alsbergs ungewöhnliche Schaffenskraft keiner ausgeglichenen Persönlichkeit entsprang, sondern einem permanent angespannten Geist, der auf sein berufliches Wirken fixiert war und mit dem Verlust der Möglichkeiten, sich in dieser Weise zu betätigen, seinen inneren Antrieb verlor. Und sie machen deutlich, dass sein juristisches Genie mit einem fatalen Mangel an politischem Gespür einherging. Was bis heute fehlt, ist vor allem eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den wissenschaftlichen Arbeiten von Max Alsberg, die deren rechtshistorischen Standort und dogmatischen Gehalt näher in den Blick nimmt. Die Aufgabe stellt sich um so mehr, als die Erinnerung an den Rechtswissenschaftler Max Alsberg in unseren Tagen zu verblassen droht. In einem Auf16 Für den vorliegenden Beitrag hat Rechtsanwalt Jungfer dem Verfasser zusätzlich einige Unterlagen aus seinem Alsberg-Archiv zur Verfügung gestellt, wofür ihm herzlich gedankt sei, insbesondere die Abschrift eines Briefes von Ernst Heinitz an Rechtsanwalt Jungfer vom 30.7.1984. 17 Jungfer in: Kritische Justiz (Hrsg.) Streitbare Juristen. Eine andere Tradition, 1988, 141 ff., abgedruckt auch in Taschke (Fn. 4), 33 ff. 18 Spendel Max Alsberg in: ders. Kriminalistenporträts. Neun biografische Miniaturen, 2001, 51.

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satz über „Die Entwicklung des Beweisantragsrechts“ aus jüngster Zeit, findet sich nicht einmal mehr ein Hinweis auf Alsbergs große Schrift über den Beweisantrag.19 Dies manifestiert einen Verlust an historischem Bewusstsein, der durchaus nicht von Nutzen für den heutigen Standard der strafprozessualen Dogmatik ist. Von einer Bewahrung der Erinnerung an das Werk Max Alsbergs kann die Strafrechtswissenschaft auch künftig nur profitieren.

III. Strafverteidiger Max Alsberg wurde am 16. Oktober 1877 in Bonn geboren. Er entstammte einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die es zu einigem Wohlstand gebracht hatte. Einer seiner Vorfahren soll Staatsanwalt unter König Jérôme von Westfalen gewesen sein. Wie Alsberg zur Juristerei gekommen ist, ist nicht bekannt. Sein Vater soll gesagt haben: „Ich habe zwei Söhne, einen gescheiten und einen dummen. Der Gescheite kommt natürlich zu mir ins Geschäft. Der Dumme soll studieren.“20 Das war gewiss als Scherz gemeint. Alsberg legte sein Studium breit an. Er studierte in Bonn, Leipzig und Berlin. Einer seiner akademischen Lehrer war der berühmte Karl Binding (1841–1920). Binding lehrte von 1873–1913 in Leipzig. Es ist gut möglich, dass Binding im jungen Alsberg das Interesse am Strafrecht weckte. Viele Jahre nach seinem Studium, 1930, kam Alsberg in einem Plädoyer auf Binding zu sprechen, wofür ihm eine Bemerkung des Staatsanwalts Anlass bot: „Herr Staatsanwalt Dr. Stein hat gestern vielleicht den bedeutsamsten Kriminalisten des vergangenen Jahrhunderts, Binding, zitiert. Er hat Worte von ihm zitiert, die einen goldenen Gehalt haben. Wer einmal in seinem Leben Binding gesehen und gehört hat, der wird sein ganzes Leben den Eindruck dieses Mannes nicht vergessen. Nicht oder jedenfalls nicht nur, wegen seiner Lehren. Was er an juristischer, an logischer Schärfe brachte (das ist vielleicht anderen ähnlich geglückt, wie ihm), – sondern wegen des heiligen Feuers, das in diesem Manne glühte.“21 Das Strafrecht nahm damals in der universitären Ausbildung keinen großen Raum ein, was Alsberg sehr beklagte.22 Um so mehr hing die Beschäftigung junger Juristen mit diesem Rechtsgebiet von der Ausstrahlung seiner

19 Foth Die Entwicklung des Beweisantragsrechts. Bemerkungen – Überlegungen, in: FS Widmaier 2008, 223 ff. 20 Riess (Fn. 2), 20. 21 Zitiert bei Jungfer (Fn. 9), 39 f. 22 Alsberg in der Zeitschrift Uhu (Fn. 5), 42.

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akademischen Lehrer ab.23 Eine besondere Anziehungskraft muss Ernst Zitelmann (1852-1923) besessen haben, bei dem Alsberg nach bestandenem Referendarexamen als Assistent arbeitete. Zitelmann lehrte zu dieser Zeit in Bonn vornehmlich Zivilrecht und schrieb nebenbei schöne Literatur. Man kann sich gut vorstellen, dass sich Zitelmann glänzend mit seinem Assistenten verstand, der ebenfalls als Jurist und Schöngeist Bewunderung auf sich zog, wie Alfred Apfel in seinem Porträt Alsbergs überliefert hat: „Bonn 1902. Wir scharen uns um Zitelmann, den berühmten Rechtslehrer. Der Andrang der Studenten ist so groß, dass er nicht alle unsere Arbeiten selbst korrigieren kann. Er bedient sich eines jungen Assistenten, den wir mit staunender Ehrfurcht betrachten. Das war der Referendarius Max Alsberg, von dem man sich Wunderdinge erzählte. Er sei ein Polyhistor, hieß es, bewandert in allen Geisteswissenschaften, gleichbedeutend als Theoretiker und Praktiker des Rechts. Der alte Eccius, der Prüfungsleiter der Assorenkommission, publizierte sogar Alsbergs wissenschaftliche Examensarbeit wegen ihrer besonderen Qualitäten. Bonn bot ihm einen Lehrstuhl an, er zog es aber vor, Anwalt in Berlin zu werden.“24 Die Entscheidung fiel 1906, nachdem Alsberg mit einer Dissertation über Meineidsprobleme promoviert worden war. Er war gerade 29 Jahre alt. Vier Wochen, nachdem er in Berlin eingetroffen war, hatte er eine eigene Kanzlei und verteidigte in seinem ersten Strafprozess. Ernst Heinitz (1902–1998), der in den 1960er und 1970er Jahren als Strafrechtsprofessor an der Freien Universität und als Richter in Berlin wirkte, wo er in den Zwanziger Jahren studiert hatte und Assistent im Kriminalistischen Seminar der Universität gewesen war, erinnerte sich noch im hohen Alter an Erzählungen von Eduard Kohlrausch (1874–1948) und James Goldschmidt (1874–1940), „dass Alsberg einen völlig neuen Stil der Verteidigung geschaffen habe: Kein Pathos, wie ‚Tränen-Friedmann‘, ein damals bekannter, pathetischer Verteidiger, (wie heute noch der Stil vielfach in Italien ist!! Redsamkeit, Rührung, Erschütterung, usw.), sondern juristisch fundierte Sachlichkeit“.25 Alsberg war sich dieses neuen Stiles wohl bewusst und hat ihn mehrfach propagiert, zuletzt in einem Beitrag über „Das Plaidoyer“ zur Festschrift für seinen Kollegen Martin Drucker (1869–1947).26 „Die Sachlichkeit“, schreibt er dort unter Hervorhebung, „ist der feste Boden, auf dem jedes Plaidoyer, 23 Vgl. z.B. den Eindruck, den Franz von Liszt (1851–1919) auf den mit Alsberg fast gleichaltrigen Gustav Radbruch (1878–1949) gemacht hat. Dazu Radbruch Der innere Weg, in: Gustav Radbruch Gesamtausgabe Band 16, 208 ff. 24 Apfel (Fn. 6), 758. 25 In einem Brief an Rechtsanwalt Gerhard Jungfer vom 30.7.1984, vgl. oben Fn. 16. 26 Alsberg Das Plaidoyer in: Taschke (Fn. 4), 358 ff. Die Festschrift wurde erst nach Alsbergs Tod 1934 veröffentlicht.

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soll es seine Aufgabe erfüllen und nicht fruchtlose Bewunderung Unzuständiger erzeugen, fußen muss. In seinem grundlegenden historischen Teil steht das Plaidoyer auf einer gründlichen Durchforschung des Tatsachenmaterials, auf einer wohl abwägenden Wertung aller Details, auf einer Befreiung des Gesamtbildes von seinen leuchtenden Nebensächlichkeiten.“27 Keine erlernbaren Tricks würden die Rede vorwärtstreiben. Die Sprache dürfe nicht verrenkt und mit schwülstiger Künstelei überladen werden. Die Phantasie dürfe nicht rauschend mit den Flügeln schlagen, um in rechten Schwung zu kommen. Die Kunst des Erzählens, das sei einfach die Kunst, den Hörer zum Zuhören zu zwingen.28 Der Zwang, so gibt Alsberg unmissverständlich zu verstehen, müsse aus der Sache und den Gedanken des Redners kommen. „Es gibt keinen tiefen Ausdruck für einen flachen Gedanken.“29 „Urvoraussetzung“ für das Wirken des Verteidigers sei „die juristische Durchbildung“. Wem diese fehle, der sei von Anfang an verloren, weil er, soweit es sich nicht um das reine Geschworenengericht handele, vor hochqualifizierten Berufsgenossen spreche und nur für sie. Allerdings schreibt er an anderer Stelle: „Selbst allerbeste Kenntnis der strafrechtlichen Lehren hat noch niemanden zum Kriminalisten, geschweige denn zum Verteidiger gemacht.“30 Denn das Denken des Praktikers bewege sich in ganz anderem Gleise als das des Theoretikers. „Seine Aufgabe ist keineswegs in erster Linie die, das Gesetz auszulegen – die Auslegung steht meist für den Richter durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts fest –, sondern während der Beweisaufnahme und sodann in dem Plädoyer das durchzuführen und zur Geltung zu bringen, worauf es rechtlich ankommt.“31 Dies erfordere neben der Beherrschung der Rechtsmaterie sorgfältige Kenntnisse in den Hilfswissenschaften, namentlich der Kriminaltechnik, der Kriminalpsychologie, der gerichtlichen Medizin, speziell der Psychiatrie; vor allem aber „intuitives Verständnis und Menschenkenntnis“, die kein Lehrfach seien und ein solches nie werden können. „Man hat sie oder hat sie nicht“. Überhaupt sei Verteidigen keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. „Eine Kunst, in der man vieles ablernen kann, die sich aber nicht erlernen lässt.“32 Diese und andere Einsichten in den Beruf des Strafverteidigers hat Alsberg u.a. in einem Beitrag gegeben, den er in den Zwanziger Jahren für das Ullstein-Magazin „Uhu“ geschrieben hat, ein Medium, das sich an ein breiteres Publikum richtete. Man darf annehmen, dass er den Beitrag nicht ohne Bedacht mit vielen Beispielen gelungener Verteidigungstätigkeit aus seiner eigenen Praxis versah und davor warnte, „dass sehr häufig dem Angeklagten 27 28 29 30 31 32

Alsberg (Fn. 26), 369. Alsberg (Fn. 26), 369. Alsberg (Fn. 26), 368. Alsberg in der Zeitschrift Uhu (Fn. 5), 42. Alsberg (Fn. 5), 42. Alsberg (Fn. 5), 43, 40.

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ein ‚Verteidiger‘ zur Seite steht, der gar kein Verteidiger ist.“33 Sein Erfolg gab ihm ja recht, und bis heute kann man als Strafverteidiger von Alsbergs Einsichten nur profitieren. Manchen heutigen Verteidiger wird überraschen, wie deutlich sich Alsberg dafür aussprach, Konflikte mit dem Gericht nach Möglichkeit zu vermeiden. Zwar könne nicht immer eine „scharfe Wahrung der prozessualen Rechte der Verteidigung vermieden werden“. Aber das seien Ausnahmen. „Im Allgemeinen wird jeder verständige Verteidiger bis zum Äußersten bemüht sein, einen Konflikt zu vermeiden, und nicht, um meine persönliche Friedfertigkeit hervorzuheben, sondern um den herrschenden guten Ton in den Strafgerichtssälen zu kennzeichnen, darf ich sagen, dass meine eigene Verteidigertätigkeit an Zusammenstößen außerordentlich arm ist.“34 Vermutlich war es aber nicht nur sein Temperament, das Alsberg, der durchaus „scharf“ werden konnte, wie seine Plädoyers zeigen,35 zu dieser Empfehlung bewog, sondern die Einsicht, dass in der Hauptverhandlung alles darauf ankommt, das Ohr der Richter zu haben, um sie zu überzeugen.36

IV. Wissenschaftler Max Alsberg wäre nicht zum Honorarprofessor ernannt worden, hätte er sich nicht durch wissenschaftliche Leistungen hervorgetan. Eine sehr gelungene, bis heute gültige Würdigung dieser Leistungen findet sich im Schreiben der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität vom 13. März 1931 an den preußischen Kultusminister,37 worin sie ihre Vorschläge für die Besetzung neuer Lehrstellen unterbreitete, darunter die Ernennung von Alsberg zum Honorarprofessor:38 „Wenn die Fakultät vorschlägt, ihn zum Honorarprofessor zu ernennen, so bleibt sie damit ihrem oft vertretenen Standpunkt treu, dass nur solche Personen zu Honorarprofessoren ernannt werden möchten, welche die Fakultät auch zu ordentlichen Professoren vorschlagen würde. Alsberg gehört zu den nicht sehr zahlreichen strafrechtlichen Praktikern, welche jedes Ordinariats würdig wären. Er steht unter den wissenschaftlich arbeitenden strafrechtlichen Praktikern weitaus an erster Stelle.“ 33

Alsberg (Fn. 5), 40. Alsberg (Fn. 5), 46. 35 Beispiel bei Jungfer (Fn. 9), 37 f. 36 Alsberg in der Zeitschrift Uhu (Fn. 5), 46; ders. (Fn. 26), 368. 37 Preußischer Kultusminister war damals Adolf Grimme (1889–1963). 38 Das Schreiben befindet sich bei dem im Universitätsarchiv vorhandenen Akten zu Alsberg vgl. Fn. 1. 34

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Der Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Leistungen, so die Fakultät, liege auf dem Gebiet des Strafprozessrechts. Zahlreich seien die Aufsätze, zahllos die Anmerkungen zu höchstrichterlichen Entscheidungen, die Alsberg auf dem genannten Gebiet veröffentlicht habe. „Ganz besonders bahnbrechend“ sei Alsbergs schriftstellerische Tätigkeit in der Beweislehre. In dem 1930 erschienenen Werk „Der Beweisantrag im Strafprozess“ habe er das Fazit seiner jahrzehntelangen Sammel- und Forschungstätigkeit gezogen. „Die Schrift ist ein Werk von unvergleichlichem Wert. Nicht nur inbezug auf die Fülle des gesammelten Stoffes, sondern auch inbezug auf dessen scharfsinnige Durchdringung. Sie wird auf lange Zeit hinaus für Theorie und Praxis des strafprozessualen Beweises richtunggebend sein.“ Von den selbständigen strafprozessualen Veröffentlichungen Alsbergs nennt die Fakultät weiterhin das Sammelwerk „Justizirrtum und Wiederaufnahme“ (1913) und die „Untersuchungshaft“, einen mit dem Senatspräsidenten am Reichsgericht Lobe gemeinsam verfassten Kommentar. Sehr verdienstlich seien auch die von Alsberg herausgegebenen drei Bände strafprozessualer Entscheidungen der Oberlandesgerichte. Die Würdigung von Alsbergs Hauptwerk „Der Beweisantrag im Strafprozess“ durch die Fakultät war nicht übertrieben. Wenige Jahre nach dem Erscheinen des Buches, 1935, führte der Reichsgesetzgeber erstmals eine abschließende Aufzählung der Gründe ein, aus denen ein Beweisantrag abgelehnt werden konnte, die sich an der von Alsberg vorgenommenen Systematik orientiert.39 Diese Systematik war an sich nicht neu, aber Alsberg hatte die Ablehnungsgründe anhand der Rechtsprechung des Reichsgerichts dogmatisch präzisiert und die ebenso umfangreiche wie heterogene und unübersichtliche Rechtsprechung geordnet. Die Wissenschaft war, wie Alsberg im Vorwort zu seinem Buch beklagte, an dieser Aufgabe nahezu blind vorübergegangen. Ihm selbst sei diese Arbeit „im wahrsten Sinne des Wortes zur Lebensaufgabe“ geworden.40 Mit der Schaffung eines Numerus clausus 39 Mit dem Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28.6.1935, RGBl. I 844. Die Regelung galt allerdings nur für erstinstanzliche Landgerichtsverhandlungen. Nachdem später durch § 24 Vereinfachungsverordnung vom 1.9.1939 allen Strafgerichten einschränkungslos gestattet wurde, einen Beweisantrag abzulehnen, wenn sie die Beweiserhebung nach freiem Ermessen zur Wahrheitserforschung nicht für erforderlichen hielten, knüpfte 1950 das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit an diesen Rechtszustand an, nahm jedoch die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze als für alle Gerichte verpflichtend als Absätze 2 bis 5 des § 244 in das Gesetz auf. Dabei sind für die Behandlung von Beweisanträgen auf Vernehmung eines Sachverständigen und auf Augenscheineinnahme in den Absätzen 4 und 5 wiederum Sonderregelungen geschaffen worden, siehe Becker in: Löwe/Rosenberg25, § 244 StPO, Entstehungsgeschichte. 40 Alsberg Der Beweisantrag im Strafprozess, 1930, III f.

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von Ablehnungsgründen anerkannte der Gesetzgeber das dogmatische Kernstück von Alsbergs Beweisantragslehre, den Beweiserhebungsanspruch der Prozessbeteiligten. Alsberg hatte ihn folgerichtig aus dem Verbot der Beweisantizipation abgeleitet, den das Reichsgericht rechtsschöpferisch kreiert hatte. In unübertroffener Weise führte er aus, weshalb es sich bei der Möglichkeit, in die Beweisführung durch Stellung von Beweisanträgen einzugreifen, um ein „Parteirecht“ und zwar das Wichtigste handele: „Es ist das einzige Mittel, das die Partei hat, um den Richter zu zwingen, zu bestimmten, hier wichtig erscheinenden Gesichtspunkten ausdrücklich Stellung zu nehmen, sowie von ihr für bedeutungsvoll erachtete Beweismittel nicht, ohne sie geprüft zu haben, beiseite zu lassen. Nur mit Hilfe des Beweisantrages kann die Partei einen Einfluss auf die Erstreckung der Wahrheitsermittlung des Richters und die Richtung seiner freien Beweiswürdigung gewinnen und sich weiter auch dagegen sichern, dass der Revisionsinstanz die Nachprüfung wesentlicher rechtlicher Einwände dadurch versperrt ist, dass sie vom Urteil nicht als von der Partei geltend gemacht wiedergegeben werden. Zugleich bietet dem Antragsteller aber auch der Beweisantrag, soweit seine Bescheidung vor der Urteilsverkündung begehrt wird, eine Handhabe, um, wenn auch im begrenzten Maße, die Stellungnahme des Gerichts zur rechtlichen und tatsächlichen Bedeutung des bisherigen Beweisergebnisses in einem Zeitpunkt erkennen zu können, indem eine Abänderung dieser Stellungnahme durch weitere Anträge und Ausführungen noch angestrebt werden kann.“41 Noch ca. 50 Jahre nach dem Erscheinen des Buches war der Bundesrichter und Strafprozessualist Werner Sarstedt voll des Lobes. „Die lebendige Kraft und die Wirkung dieses Buches“, schrieb er, „kann gar nicht überschätzt werden. Es ist heute noch unentbehrlich, und es ist heute noch so aktuell wie bei seinem Erscheinen; und das, obwohl inzwischen der Gesetzgeber das Versäumte nachgeholt und die Materie ausdrücklich geregelt hat.“ Die Rechtsprechung sei bis heute froh, eine so fundierte, so ausführliche und dabei so leicht lesbare Darstellung dieses schwierigen Stoffen zu besitzen. Er wisse keinen anderen Fall zu nennen, in dem die Privatarbeit eines einzelnen Verfassers Wissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsprechung „mit einem Schlage derart – man kann nur sagen – überwältigt hätte“.42 Dass sich Alsberg wissenschaftlich vor allem dem Strafprozessrecht zuwandte, war gewiss eine Folge seiner beruflichen Haupttätigkeit als Rechtsanwalt. Wissenschaft war für Alsberg kein Selbstzweck, sondern hatte dem Leben zu dienen.43 An Wilhelm Kahl (1849–1932), einem der bedeutendsten 41 42 43

Alsberg (Fn. 40), 12. Sarstedt (Fn. 14), 21. Alsberg (Fn. 40), III.

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und vielseitigsten deutschen Rechtsgelehrten seiner Zeit, dem Alsberg ein mit Respekt und Zuneigung gezeichnetes biografisches Porträt widmete, rühmte er, dass ihm „die Förderung der Wissenschaft das war, was auch Nietzsche in ihr erblickte: Dienst an der Menschheit“.44 Aus seiner Rechtspraxis heraus gelangte Alsberg zu den Rechtsproblemen, denen er sich widmete, und mit Blick auf die Rechtspraxis entwickelte er seine Rechtsgedanken. Das gilt für seine erste größere Veröffentlichung „Justizirrtum und Wiederaufnahme“ (1913) ebenso wie für alle weiteren größeren und kleineren rechtlichen Abhandlungen. Stets war ihm die Praxis nicht nur Anlass für eine Publikation, sondern auch inhaltlicher Ideengeber. Es war Alsbergs feste Überzeugung, die er oft bekundete, dass Wissenschaft „in steter Fühlung mit der Praxis“ stehen müsse.45 „Ohne Versenkung in die Empirie“ schreibt er in seinem Buch über den Beweisantrag, gebe es „keinen Vergeistigungsprozess, der einen wahrhaften, in Einheit zu Ende gedachten ‚Begriff‘ schaffen könnte“. Nur von einer intimen Kenntnis der tatsächlichen Vorgänge sei ein Rechtsanspruch, wie ihn der Beweisantrag verwirklichen soll, in seinem Bedeutungsgehalt zu begreifen. „Nie von einem rein formalen Denken aus, das scharfsinnig in die innerste Atomstruktur der Rechtsinstitutionen einzudringen sucht und das durch eine Klassifizierung um jeden Preis in Wahrheit die Jurisprudenz nur in die äußerste Wirklichkeitsferne bringt.“46 Das war, dem Zug der Zeit entsprechend, eine deutliche Absage an die später abschätzig so bezeichnete „Begriffsjurisprudenz“ und ein Plädoyer für eine „Interessenjurisprudenz“, wie sie sich in der deutschen Rechtswissenschaft seit Rudolf von Jhering entwickelt hatte. Zu den Vertretern dieser Richtung zählte Alsbergs Lehrer Zitelmann,47 weshalb es naheliegt, dass Alsberg insoweit (auch) durch diesen geprägt wurde. Das Interesse, dem sich Alsberg als Anwalt und Autor in besonderem Maß verschrieben hatte, war, selbstredend, das Interesse des Beschuldigten an der Wahrung seiner Rechte, insbesondere seinem Rechtsanspruch, nicht schuldlos verurteilt zu werden. „Die Wahrheit ans Licht zu bringen“, schrieb er, „ist das Ziel eines jeden Prozesses, in besonders hervorragendem

44 Alsberg Wilhelm Kahl, 1929, 8. Das Porträt erschien als erster Band der Reihe „Meister des Rechts“. 45 Alsberg (Fn. 40), VIII. Bezeichnend dafür beispielsweise auch sein Gutachten (Mit welchen Hauptzielen wird die Reform des Strafverfahrens in Aussicht zu nehmen sein?) auf dem 35. Deutschen Juristentag in Salzburg (1928), abgedruckt in: Taschke (Fn. 4), 181 ff. 46 Alsberg (Fn. 40), VII. 47 Vgl. Radbruch Rechtswissenschaft als Rechtsschöpfung. Ein Beitrag zum juristischen Methodenstreit, erstmals erschienen in AfS 22 (1906) 355 ff.; hier zitiert nach dem Abdruck in Gustav Radbruch Gesamtausgabe (Fn. 23), 409 ff., 421.

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Maße des Strafprozesses“; denn es entspreche „der Idee des Strafrechts“, „dass jeder, der sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht hat, aber auch nur er bestraft wird“. Deshalb müssen die Feststellungen, die die Grundlage eines verurteilenden Erkenntnisses bilden, absolut der Wahrheit entsprechen.48 Von dieser bis heute weitgehend unbestrittenen Prämisse ausgehend nahm Alsberg die strafprozessualen Institutionen und Regelungen danach in den Blick, inwiefern sie einerseits den Weg zur Erkenntnis der Wahrheit sichern, andererseits Fehler oder Irrtümer befördern und damit Gefahren für die Wahrheitsfindung beinhalten. Diese Fragestellung durchzieht bereits seine erste größere Monografie „Justizirrtum und Wiederaufnahme“, in der Alsberg in einer beeindruckenden Zusammenschau von Rechtslehre und -wirklichkeit „die Gefahren des Strafprozesses“, „die Unvollkommenheit des Rechtsmittels der Revision“ und „den begrenzten Wert der Wiederaufnahme für die Beseitigung von Justizirrtümern“ aufzeigte. Wie auch die späteren Veröffentlichungen Alsbergs bezieht die Darstellung ihre bis heute ungebrochene Faszination daraus, dass sich Alsberg niemals in praktischen Einzelheiten oder allgemeinen Grundsätzen verlor, sondern stets auf das, im wahrsten Sinne, Wesentliche konzentrierte, Theorie und Praxis ständig in Bezug zueinander setzte und dadurch zu Einsichten von bleibendem Wert gelangte. Das gilt auch für Alsbergs Vorschläge zur Reform des Strafverfahrens, die er in seinem Gutachten für den 35. Deutschen Juristentag in Salzburg im Jahre 1928 entwickelt hat.49 Gewiss haben sich manche seiner Vorschläge überholt, weil sich der Strafprozess seither in Manchem verändert hat. Aber in Vielem ist er sich gleich geblieben und damit sind auch die Probleme die gleichen geblieben, die Alsberg aufgezeigt und einer Lösung zuzuführen versucht hat. So sind beispielsweise Alsbergs Überlegungen zur freien richterlichen Beweiswürdigung und zum Institut der Revision bis heute beachtlich. Für die „Befriedigung des Vertrauensanspruchs der Strafrechtspflege“, schrieb er, hänge alles davon ab, „ob die Urteile der Strafgerichte verständlich sind und auch als verständlich durch ihre Begründung nachgewiesen werden können“. Daher müsse „eine verstehende Kontrolle nach der Richtung zulässig sein, ob die Gründe des Urteils wirklich verstehbar sind oder ob sie unverständlich bleiben“.50 Das Prinzip der freien Beweiswürdigung gestatte dem Richter nicht, die „sorgfältige Prüfung jeder Beweistatsache [. . .] durch ein subjektives Meinen zu ersetzen“.51 Notwendigerweise folge daraus ein 48 49 50 51

Alsberg Justizirrtum und Wiederaufnahme (1913), in: Taschke (Fn. 4), 122. Alsberg (Fn. 45), 181 ff. Alsberg (Fn. 45), 202. Alsberg (Fn. 45), 204.

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strenger Begründungszwang. „Ist der Richter verpflichtet, die logischen und psychologischen Grundlagen der Urteilsfindung anschaulich darzustellen, und zugleich zu schildern, welche Überlegungen er bei Wertung des Tatsachenmaterials angestellt hat, so zwingt ihn diese Forderung, sich selbst Rechenschaft über das einwandfreie Zustandekommen seines Urteils zu geben“. Nur so werde er vor allem zur Kritik an seinen eigenen Gründen erzogen, ehe es im Einzelfall zu spät sei. Neben dieser „pädagogischen Wirkung“ des Begründungszwangs, sei die revisionsrechtliche Bedeutung sogar von untergeordnetem Belang.52 Letztere Einschätzung mag daher rühren, dass Alsberg dem Institut der Revision im Allgemeinen und der Rechtsprechung des Reichsgerichts in Vielem kritisch gegenüberstand. Er hielt die Nachprüfungsmöglichkeit der Revisionsinstanz grundsätzlich für eine zu eingeschränkte und die Rechtsprechung des Reichsgerichts für unberechenbar. „Selbst derjenige, dem die Revision keine ‚Geheimlehre‘ ist, kann nur selten die Aufhebung eines Urteils in der Revisionsinstanz mit Sicherheit voraussagen.“53 Man wird sagen dürfen, dass sich das in den fast 100 Jahren, die seither vergangen sind, nicht geändert hat. Für grundsätzlich verfehlt hielt Alsberg die von der Reichsstrafprozessordnung geschaffene inquisitorische Struktur der Hauptverhandlung, also die Eigentümlichkeit, dass das Strafgericht nicht nur als Urteilsgremium fungiert und hierbei die in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise würdigt, sondern dass es namentlich in der Person des Vorsitzenden diese Beweise selbst erhebt und hierbei auf die Akten zurückgreift. „Seiner Idee nach muss einem akkusatorischen Strafprozess eine inquisitorische Gestaltung der Hauptverhandlung fremd sein. Nicht aufgrund des Akteninhalts soll der Richter in der Hauptverhandlung entscheiden, sondern allein aufgrund des Eindrucks, den er unmittelbar aus dem Beweismaterial schöpft, das ihm mündlich vorzuführen ist, und das mündlich vor ihm verhandelt werden muss“.54 Als besonders problematisch erachtete Alsberg die Vernehmung des Angeklagten durch den Vorsitzenden Richter. Dadurch stehe der Vorsitzende „in dem Kampf, der sich in foro abspielt, an vorderster Stelle“.55 Es könne keine Rede davon sein, dass – wie die Rechtslehrer betonen – in der praktischen Handhabung die Vernehmung des Angeklagten nur dem Zweck diene, die gegen den Angeklagten vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen 52

Alsberg (Fn. 45), 205. Alsberg (Fn. 48), 99, 98. Den Begriff „Geheimlehre“ entnahm Alsberg einem Vortrag seines Rechtsanwaltskollegen Martin Drucker über „Die Verteidigung nach dem Entwurf der Strafprozessordnung“, Leipzig 1909. 54 Alsberg (Fn. 45), 182. 55 Alsberg (Fn. 45), 183. 53

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und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen. Dem Vorsitzenden komme zwangsläufig die Aufgabe zu, die gegen den Angeklagten sprechenden Momente herauszuarbeiten. „Der Richter, der mit der Kenntnis der Akten in die Verhandlung eintritt, der anhand dieser Akten die Vernehmung der Zeugen und Sachverständigen, die Erhebung des Urkundenbeweises leitet, muss das Bedürfnis haben, sich mit dem Angeklagten darüber auseinanderzusetzen, wie er sich gegenüber diesem Material verhält“.56 Alsberg teilte die Auffassung, dass „der Sache nach noch heute das Inquisitorium des gemeinrechtlichen Untersuchungsprozesses im Wesentlichen unverändert fortbesteht“.57 Demgegenüber könne nur dort, „wo die Parteien über die Beweise selbst disponieren, selbst die Beweise erheben“, ein Richtergeschlecht entstehen, das gegenüber dem Angeklagten so verfahre, wie man es als dem Geist der Strafprozessordnung entsprechend fordert. „Nicht aber an einem Strafprozess, der so gestaltet ist wie heute der unserige“.58 Konsequenterweise forderte Alsberg die Aufnahme der Beweise in den Formen des Kreuzverhörs. Auch liebäugelte er mit einer Wiederherstellung des alten Schwurgerichts, welches 1923 durch die sog. Lex Emminger abgeschafft worden war.59 Von den Schöffengerichten hielt er nicht viel, insbesondere deswegen nicht, weil die Schöffen keine Verhandlungsinstruktion erhielten. Auch sprach er sich für eine Erhöhung der Zahl der Berufsrichter auf fünf aus, „weil bei einer Besetzung der Gerichte mit drei Berufsrichtern, von denen der eine der Vorsitzende, und der andere der Berichterstatter ist [. . .] sich innerhalb des Kollegiums zu wenig wirksamer Widerstand gegen die Meinung herausbilden kann, den diese beiden Richter aufgrund ihres Aktenstudiums gewonnen haben.“60 In unseren Tagen wird die Auffassung vertreten, die Schöpfer der Reichsstrafprozessordnung hätten ein Hauptverhandlungsmodell entwickelt, das in einer quasi dialektischen Überwindung und Verbindung des alten Inquisitionsverfahrens und des angloamerikanischen Parteiprozesses den unter pragmatischen Aspekten „bestmöglichen Weg zur Auffindung der materiellen Wahrheit“ und damit zur Erreichung des schlechthin fundamentalen Verfahrensziels beschreibt.61 Das ist eine Sicht, die Alsberg vermutlich nicht

56

Alsberg (Fn. 45), 185. Alsberg (Fn. 45), 183 f. Zu dieser Beurteilung aus früherer und heutiger Sicht siehe Koch Die gescheiterte Reform des reformierten Strafprozesses. Liberale Prozessrechtslehre zwischen Paulskirche und Reichsgründung, ZIS 2009, 542 ff. 58 Alsberg (Fn. 45), 185. 59 Zur Lex Emminger siehe Vormbaum Die Lex Emminger vom 4. Januar 1924. Entstehung, Inhalt und Auswirkungen, 1988; ders. Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2009, 180 („Wendepunkt der modernen Strafprozessentwicklung“). 60 Alsberg (Fn. 45), 188 ff., 192. 61 Schünemann StraFo 2010, 91. 57

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geteilt hätte. „Kein Gesetz ist so reformbedürftig wie die Strafprozessordnung“, befand er 1928.62

V. Hochschullehrer Wie es im Einzelnen zur Ernennung Alsbergs zum Honorarprofessor an der Berliner Universität gekommen ist, lässt sich den im Universitätsarchiv befindlichen Personalakten63 nicht entnehmen. Ernst Heinitz erinnerte sich daran, dass James Goldschmidt die Ernennung betrieben habe, der sich Eduard Kohlrausch wegen seiner Meinung von der „Persönlichkeit“ Alsbergs widersetzt habe.64 Für eine Initiative Goldschmidts spricht, dass der Prozessualist Goldschmidt den Strafprozessualisten Alsberg geschätzt haben wird, auch wenn dieser mit ihm nicht immer einer Meinung war.65 Alsberg war an seiner Ernennung zum Honorarprofessor alles andere als uninteressiert und hatte lange darauf hingearbeitet. Seit 1923 hielt er an der Handels-Hochschule Berlin Vorlesungen über Handels- und Wirtschaftsstrafrecht sowie gesetzliche Preisbeschränkungen. Zu diesem speziellen Thema war er im Laufe des ersten Weltkrieges gelangt, der im Deutschen Reich zu einer staatlichen Planwirtschaft führte, die ein spezielles „Kriegswucherstrafrecht“ in Form zahlreicher Gesetze und Verordnungen mit sich brachte. Alsberg ordnete und kommentierte die Normen in einer Monografie, die auf Anhieb ein großer Erfolg wurde66 und es auf mehrere Auflagen brachte. In ihrer Begründung für die vorgeschlagene Ernennung Alsbergs zum Honorarprofessor vom 13. März 1931 führte die Juristische Fakultät der Universität dazu aus: „In diesem Werke ist es Alsberg gelungen, einen aus der Not der Zeit wild erwachsenen, unübersehbaren Rechtsstoff in ein wissenschaftliches System zu bringen und gerade dadurch für die Rechtsanwendung erst brauchbar zu machen. Besonderes Aufsehen hat damals das tiefe wirtschaftliche Verständnis erregt, mit dem Alsberg das Zentralproblem des Wirtschaftsstrafrechts der Kriegs- und Nachkriegszeit, die kaufmännische Gewinnkalkulation, behandelt hat.“ Nach mehrjähriger Vorlesungstätigkeit an der Handelshochschule hielt Alsberg seine dortige Ernennung zum Honorarprofessor für angemessen. In einem Schreiben an den Geheimrat Dr. Fritz Demuth, ein Mitglied des Ku62

Alsberg (Fn. 45), 181. Siehe oben Fn. 1. 64 Im Brief an Gerhard Jungfer vom 30.7.1984, vgl. oben Fn. 16. 65 Bereits in der ersten Fußnote seines Werks „Der Beweisantrag im Strafprozess“ (Fn. 40) setzt sich Alsberg kritisch mit Goldschmidt auseinander. 66 Dazu Riess (Fn. 2), 81 f. 63

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ratoriums, vom 6. Januar 193067 gab er unmissverständlich sein Interesse daran zu verstehen, seine „Stellung an der Handelshochschule etwas mehr stabilisiert zu sehen, vor allem dadurch, dass ich eine entsprechende Professur bekomme“. Die Abhaltung der Vorlesungen mache ihm gewiss große Freude, aber sie bedeute naturgemäß auch ein gewisses Opfer. Um seinem Bestreben Nachdruck zu geben, wies Alsberg darauf hin, dass seitens der Kölner Universität an ihn die Anfrage gerichtet worden sei, ob er bereit sei, alle vierzehn Tage in Köln zweistündig Handelsstrafrecht zu lesen; wenn er zustimmte, würde man eine Honorarprofessur beantragen. Auch das Preußische Kultusministerium habe ihn in der Person von Professor Windelband68 gefragt, ob er einen Lehrauftrag für Handelsstrafrecht an der Universität annehmen würde. Auch dies würde er nur als Honorarprofessor tun, woran das Projekt scheitern werde. „Mir liegt auch, offen gesagt, mehr daran, Handels- und Wirtschaftsstrafrecht an der Handelshochschule zu lesen, würde ich an der Universität lesen, was ich aufgrund eines Lehrauftrages nicht tun würde, so würden mich nur andere Gebiete interessieren.“ Nun, aus dem „Projekt“ Universität ist doch etwas geworden, und das, was dort zu lesen ihn interessierte, unterbreitete er dem Publikum in seiner Antrittsvorlesung am 7. November 1931, in der er das Thema seines Colloquium publicum vorstellte: „Psychologie und Soziologie der Strafrechtspflege“. Im Verlaufe der Vorlesung, kündigte er an, werde er drei Fragen behandeln: Die Frage nach dem Nutzen der Psychologie für die Strafrechtspflege; die Frage, inwieweit Psychologie für den Strafprozess eine Rolle spiele; und schließlich die Frage, ob Psychologie Gegenstand einer Wissenschaft und ob sie lehrbar sein könne.69 Was er vortrug, so das „Berliner Tageblatt“, „war sehr ruhig, sehr abgeklärt, sehr logisch, sehr einfach: Daß nicht die naturwissenschaftliche, experimentelle, sondern allein die geisteswissenschaftliche Psychologie zur Aufklärung in der Strafrechtspflege herangezogen werden könne und daß ihre Bedeutung nicht überschätzt werden dürfe. So wichtig die Rolle der psychologischen Phänomene seien, so bleibe die Methodik der Wissenschaft doch machtlos, da es stets individuelle Züge seien, die der Strafrichter beurteilen müsse“.70 67

In den Alsberg betreffenden Akten der Handelshochschule, siehe oben Fn. 1. Wolfgang Windelband (1886–1945), Sohn des Philosophen Wilhelm Windelband (1848–1915), der eine Universitätslaufbahn als Historiker eingeschlagen hatte und seit 1925 im Preußischen Kultusministerium Personalreferent für die Universitäten war. Zu Wolfgang Windelband siehe René Wetker: Das historische Seminar der Berliner Universität im „Dritten Reich“ unter besonderer Berücksichtigung der ordentlichen Professoren, abrufbar unter http://www.renebetker.de. 69 „Börsen-Courier“, Ausgabe vom 7.11.1931 (vgl. Fn. 1). 70 „Berliner Tageblatt“, Ausgabe vom 8.11.1931 (vgl. Fn. 1). 68

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Man kann es nur bedauern, dass Manuskripte, zumindest Mitschriften der Vorlesungen Alsbergs, soweit ersichtlich, nicht überliefert, jedenfalls nicht publiziert sind. Es wäre hoch interessant, im Einzelnen zu erfahren, was Alsberg unter der „geisteswissenschaftlichen Psychologie“ einerseits und der „naturwissenschaftlichen Psychologie“ andererseits verstand und worauf sich seine Geringschätzung letzterer gründete. Inwieweit war er mit der Materie vertraut? Welchen Stellenwert hatte sie damals überhaupt? Fragen, die einer Beantwortung harren.

VI. Juristischer Essayist Einen gewissen Aufschluss über Alsbergs Verständnis geisteswissenschaftlicher Psychologie geben drei kleinere Schriften, die er in einer von ihm herausgegebenen Reihe „Schriften zur Psychologie der Strafrechtspflege“ publiziert hat: „Der Prozess des Sokrates im Lichte moderner Jurisprudenz und Psychologie“ (1928),71 „Die Philosophie der Verteidigung“ (1930),72 und „Das Weltbild des Strafrichters“ (1930).73 Bei diesen Publikationen handelt es sich um die Veröffentlichungen von Vorträgen, die Alsberg bei verschiedenen Gelegenheiten gehalten hat. Sie haben weniger den Charakter streng methodischer Abhandlungen als den persönlicher Betrachtungen und Auseinandersetzungen, nähern sich ihrem Thema weniger systematisch als assoziativ und sind in einem elegant kunstvollen Stil verfasst. Man kann sie daher als juristische Essays bezeichnen und Alsberg insoweit als juristischen Essayisten. Nicht zuletzt diese Schriften fand die Berliner Juristische Fakultät in ihrer Begründung für die vorgeschlagene Ernennung Max Alsbergs zum Honorarprofessor einer besonderen Würdigung wert: „Diese Schriften haben weit über die Fachkreise hinaus Beachtung gefunden. Besonders feinsinnig sind die beiden letztgenannten, in denen Alsberg in blendender Antithese durchzuführen sucht, wie der Verteidiger vorzugsweise auf die individualethische, der Strafrichter vorzugsweise auf die sozialethische Seite der Strafrechtspflege eingestellt ist. Sie legen Zeugnis davon ab, dass Alsberg ein tiefes psychologisches Verständnis mit sicherem Blick für höchste und allgemeinste Gesichtspunkte verbindet.“ In der Schrift „Das Weltbild des Strafrichters“, dessen Titel heutzutage vielleicht etwas ironisch anmuten mag, aber mitnichten so gemeint war, analysiert Alsberg mit dem Gespür des erfahrenen Praktikers eine Reihe speziell berufsbedingter Faktoren (straf-)richterlicher Entscheidungsfindung, solche, die, 71 72 73

In: Taschke (Fn. 4), 303 ff. Alsberg (Fn. 4), 323 ff. Alsberg Das Weltbild des Strafrichters (1930), in: Taschke (Fn. 4), 340 ff.

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wie er sagt, „aus der Atmosphäre der richterlichen Berufsgemeinschaft“ erwachsen, aus der „sozialen Struktur der Gemeinschaft des Richtertums“.74 Jeder Beruf, so der Ausgangspunkt seiner Betrachtung, habe mehr oder weniger seine eigene Psychologie, er wirke „als größerer Organismus“ persönlichkeitsbildend und bilde in der Praxis „eine eigentümliche Autonomie“ heraus.75 Zu diesen Faktoren zählt Alsberg im Wege der Praxis gewonnene Vorstellungen darüber, „wie die Strafe auf den Verurteilten wirkt, auf die Mitwelt, auf das gesamte sittliche und kulturelle Leben und damit – auf die Existenzbedingungen der Strafrechtspflege überhaupt“.76 Gegen praktische Grundsätze und Anschauungen, die sich hierzu bei einem Richter herauskristallisiert hätten, könnten wissenschaftliche Programmschriften oder Kongressreden nicht viel ausrichten, wenn ein Richter in seiner Erfahrung eine Bestätigung dafür zu finden glaubt, „dass rein auf den Vergeltungsgedanken abgestellte Strafen im Sinne der Abschreckung nicht nur eine praktische Wirkung haben, sondern zugleich die Strafrechtspflege rechtfertigen“. Ein solcher Richter werde vor einer lediglich auf die Besserung des Täters abstellenden Theorie bestenfalls eine respektvolle akademische Verbeugung machen.77 Alsberg tritt uns hier als Strafjurist einer Zeit entgegen, in der die namentlich von Franz von Liszt begründete sogenannte moderne Strafrechtsschule wissenschaftlich lautstark auf den Plan getreten war und – anders als die sogenannte klassische, streng am Vergeltungsgedanken orientierte Strafrechtswissenschaft – unter anderem die „Besserung der Besserungsfähigen“ propagierte, sich gesetzgeberisch und praktisch allerdings nur begrenzt durchgesetzt hatte.78 Auch danach dauerte es noch geraume Zeit, bis mit dem am 1. Januar 1977 in Kraft getretenen Strafvollzugsgesetz erstmals eine Regelung geschaffen wurde, die den Vorrang der Resozialisierung vor den sonstigen Aufgaben des Vollzugs festgeschrieben hat. Doch selbst heute noch erscheinen die Beobachtungen Alsbergs aktuell, wenn man anstelle des Vergeltungsgedankens die Lehre von der positiven Generalprävention und ihre Varianten in den Blick nimmt, die sich im juristischen Alltagsdenken oftmals problemlos mit dem Abschreckungsgedanken verbinden und, in dieser Kombination, als Zweck und Rechtfertigung des Strafens verstanden werden. Dagegen scheinen spezialpräventiv ausgerichtete strafrechtliche Überlegungen nur nachrangige Bedeutung zu haben.79 74

Alsberg (Fn. 73), 340 ff., 340. Alsberg (Fn. 73), 341, 343. 76 Alsberg (Fn. 73), 342. 77 Alsberg (Fn. 73), 343. 78 Siehe dazu Koch Binding vs. v. Liszt – Klassische und moderne Strafrechtsschule, in: Hilgendorf/Weitzel (Hrsg.) Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung, 2007, 127 ff. 79 Zur wissenschaftlichen Kritik an spezialpräventiven Theorien Roxin Strafrecht AT I 4. Aufl. 2006 § 3 Rn. 11 ff. 75

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Auch eine weitere Beobachtung Alsbergs erscheint zeitlos aktuell: Dass Richter Freude an der Macht hätten, vom Streben nach Macht beherrscht seien, dass dem Richter wie dem Staatsmann ein Machtgefühl im Geblüt sitze,80 was sich weniger aus dem subjektiven Drang der Persönlichkeit, etwas zu bedeuten, erkläre, als vor allem aus der Erkenntnis, dass die Verwirklichung der Ziele, die anzustreben ihm obliegt, nur möglich ist, wenn ihm möglichst weitgehende Souveränität verliehen wird.81 Alsberg hat daran nicht die Sorge geknüpft, dass der Richter in seiner Machtfülle „den Willen zur Objektivität“ verliert, sehr wohl aber diejenige, dass er „nur allzu leicht die Fähigkeit der Objektivität“ verlieren kann. Demgemäß hat er an Gesetzgebung und Verwaltung appelliert, das „psychologische Problem des Machtstrebens des Richters“ klarer ins Auge zu fassen als es meistens geschieht.82 In seiner Schrift „Die Philosophie der Verteidigung“, die, wie schon der Titel ankündigt, ebenfalls weniger eine dogmatische Abhandlung ist als eine reflektierende Betrachtung über die „Idee der Verteidigung“, kommt am deutlichsten und eindrucksvollsten zum Ausdruck, worin Max Alsberg die eigentümlichen Aufgaben des Strafverteidigers gesehen hat, seine spezifische Funktion in einem Strafverfahren, das die staatlichen Strafrechtspflegeorgane zur Aufklärung der Wahrheit und, im Falle der Schuld des Angeklagten, zu einer gerechten Strafe verpflichtet. Es sind dies für Alsberg insbesondere zwei Aufgaben. Zum einen erblickt er in der Strafverteidigung eine institutionelle Sicherung der Wahrheitsfindung, deren spezifische Bedeutung gerade darin besteht, dass sie der staatlichen Wahrheits- und Rechtsfindung kritisch gegenübertritt. Alsberg wörtlich: „Suchen wir danach, die besondere Sinnform der Verteidigung zu begreifen, so werden wir sie darin zu erblicken haben, dass ihr die Aufgabe zufällt, die prinzipielle und allgemeine Problematik der Wahrheits- und Rechtsfindung aufzuzeigen. Die historische Gewissheit, und nur um diese, nicht um die mathematische Gewissheit handelt es sich ja gerade im Strafprozess, wird nicht axiomatisch, sondern durch einen wertenden Schluss gewonnen. Die Wertglieder dieses Schlusses, auch soweit sie latent sind, zu erkennen, und auf ihre Begründbarkeit hin kritizistisch zu durchleuchten, ist das primäre Sinnmoment der Wirksamkeit des Verteidigers. Diese kritizistische Haltung darf keineswegs gleichgesetzt werden der zerstörerischen Negativität eines unfruchtbaren Skeptizismus: sie ist vielmehr ein schöpferisches, sicherndes und deshalb unentbehrliches Prinzip der Wahrheitsfindung. Dass das Bewusstsein des ‚Nichtwissens‘ ein positiver Wert ist, das hatte schon die grie80 81 82

Alsberg (Fn. 73), 346. Alsberg (Fn. 73), 346. Alsberg (Fn. 73), 349.

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chische Philosophie erkannt. Niemand wird das allerdings leichter übersehen, als der, dessen Wirken nur den einen Sinngehalt hat, die Autorität des Rechts zur Geltend zu bringen – und das ist der Richter. Die Leidenschaft des Wahrheitssuchens kennt keine Leidenschaftslosigkeit. Nicht im Einzelfall zur Wahrheit durchgedrungen zu sein, wird Demut unbekümmert aussprechen, – aber die Besinnung auf solche Demut kann fehlen. Den hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit hemmen will der Kritizismus des Verteidigers“.83 Es gibt bis heute in der gesamten, sich stetig vermehrenden Literatur zur Strafverteidigung wohl keine andere Passage, die derart konzise, tiefsinnig und schön die Bedeutung der Strafverteidigung für den Strafprozess beschreibt. Alsberg ist es hier wirklich gelungen, eine „Idee der Verteidigung“ zu formulieren, einen geistigen Fixpunkt, der sowohl jeder rechtlichen Ausgestaltung der Strafverteidigung als auch jedem individuellen Wirken als Verteidiger oder Verteidigerin Sinn und Richtung gibt. Die andere Aufgabe, die Alsberg den Verteidigern zuweist, ist weniger prozess- als materiellrechtlicher Art. Alsberg beschreibt sie u.a. mit den Worten, der Verteidiger habe den Willen, „den an den Richter vielleicht von Außen herantretenden Sühnegedanken der Allgemeinheit zu hemmen, zugunsten der Idee der individuellen Gerechtigkeit.“ Insoweit sind seine Ausführungen weniger konzise als die zum „Kritizismus“ des Verteidigers, ausschweifender, auch suchender. Es geht um die Schuld des Angeklagten, wenn sie festgestellt ist, um deren individuelle Genese und Bewertung. Alsberg verlangt hier vom Verteidiger eine „Einfühlung in die Seele des Angeklagten“, in seine Psychologie. „Dass, was juristisch Schuld ist, ist menschlich gesehen oft Schicksal, tragisches Schicksal. Tragisch darum, weil das, worin das Strafrecht die Schuld erblickt, nur zu häufig aus dem Innersten der Täterpsyche mit Notwendigkeit hervorgegangen ist.“ Für Alsberg steht dem, der nach einem konkreten Gesetz schuldig ist, ein Rechtsanspruch zur Seite, den das Recht nicht negieren wolle und könne: „Der Rechtsanspruch des schuldigen Individuums, das seine Tat nicht nur als eine Verwirklichung des Unrechts, sondern auch als eine Fügung begriffen wird, die aus der Tiefe und Notwendigkeit dieses Einzelschicksals geboren ist“.84 Bei diesen Ausführungen sieht man den berühmten Schwurgerichtsverteidiger Alsberg bildlich vor Augen. Wie er mit Einfühlungsvermögen und Rednergabe ein gebanntes Publikum in die Verästelungen des Seelenlebens seines Mandanten führt und Geschworene wie Berufsrichter so anspricht, dass sie zu einer Strafe gelangen, die weit unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft liegt. Solche Erfolge Alsbergs sind vielfach überliefert und trugen zu seinen Ruhm bei.

83 84

Alsberg (Fn. 4), 327 f. Alsberg (Fn. 4), 338.

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Unser heutiger Strafprozess gibt einem solchen Wirken des Verteidigers immer weniger Gelegenheit und Raum. Dazu haben die Abschaffung der Geschworenengerichte und die Ausdünnung der Spruchkörper ebenso beigetragen wie die (Wieder-)Verschriftlichung des Strafprozesses, die Zunahme der Bedeutung von Sachverständigengutachten, die (tatsächlichen oder gefühlten) Beschleunigungs- und Verständigungszwänge, denen sich die Beteiligten ausgesetzt sehen, sowie der Rückgang der Redekunst und das Misstrauen ihr gegenüber. Kaum ein Richter dürfte seine Entscheidung von den Wirkungen abhängig machen, welchen die Schlussvorträge auf ihn haben. Er wird es vielleicht sogar als einen Kunstfehler ansehen, wenn es ihm bis zum Schluss der Beweisaufnahme nicht gelungen ist, sich eine bestimmte Meinung von der Schuld oder Unschuld des Angeklagten und das eventuelle Maß seiner Bestrafung gemacht zu haben. Gegenüber dieser Entwicklung hat allerdings der von Alsberg geforderte „Kritizismus“ des Verteidigers nichts von seiner Bedeutung verloren.

VII. Das Ende Das Ende der glänzenden Karriere Max Alsbergs kam über Nacht und war tragisch. Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler im Rahmen einer Koalitionsvereinbarung zwischen der NSDAP und der Deutschnationalen Volkspartei zum Reichskanzler ernannt. In der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933 brannte der Reichstag, was zu einer ersten großen Verhaftungswelle von Regimegegnern führte, unter denen sich mit Alfred Apfel, Ludwig Barbasch und Hans Litten auch prominente Berliner jüdische Anwälte befanden.85 Am 23. März 1933 beschloss der Reichstag das am nächsten Tag verkündete sog. Ermächtigungsgesetz, das die Reichsregierung unter Hitler in die Lage versetzte, Gesetze ohne Zustimmung des Reichstags und anderer Institutionen zu schaffen. Als eines der ersten Gesetze dieser Art trat am 7. April 1933 das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in Kraft,86 am 10. April folgte das ihm nachgebildete „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“.87 Paragraph 3 schloss „Personen, die sich in kommunistischem Sinne betätigt“ hatten, von der Zulassung bzw. vom Beruf des Rechtsanwalts aus. Unter Berufung auf diese Vorschrift übersandte der am 22. April 1933 außer Turnus neu „gewählte“ Vorstand der Berliner Rechtsanwaltskam85

Königseder Recht und nationalsozialistische Herrschaft. Berliner Anwälte 1933– 1945, 2001, 20. 86 RGBl. I 1933, 175 ff. 87 RGBl. I 1933, 188.

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mer88 mit Schreiben vom 11. Mai 1933 dem preußischen Justizministerium „z. Hd. des Herrn Ministerialdirektor Dr. Freisler“ eine „Liste derjenigen Rechtsanwälte, hinsichtlich derer Tatsachen bekannt sind, aus denen auf die Unterstützung kommunistischer oder staatsfeindlicher Bestrebungen geschlossen werden kann“. Darauf stand auch der Name von Max Alsberg.89 Dass sich der Name Max Alsbergs auf dieser Liste befand, mag vielleicht insofern überraschend erscheinen, als Alsberg seit 1919 Mitglied der nationalliberalen Deutschen Volkspartei war,90 und als unpolitischer Anwalt galt. Letzteres sehr zum Bedauern von Alfred Apfel, der in seinem Aufsatz über Alsberg bemerkte: „Wenn sich Alsberg mit dem Glanz seines internationalen Ansehens in die Phalanx der politischen Verteidiger einreihte, so würde dies beispielgebend wirken.“91 Tatsächlich hat Alsberg nur in zwei politischen Prozessen verteidigt. Doch waren gerade diese beiden von schicksalhafter Bedeutung für ihn. Im Jahre 1920 verteidigte er Karl Helfferich (1877–1924), einen Bankier und deutschnationalen Politiker, der in den Kriegsjahren zum Vizekanzler des Deutschen Reiches aufgestiegen war und mit der Entlassung des Kanzlers Bethmann-Hollweg im Jahr 1917 sein Amt räumen musste. Dies war ein Umstand, den Helfferich nicht verwinden konnte und den er namentlich dem Zentrums-Politiker Matthias Erzberger (1875–1921) zuschrieb. Nach Kriegsende attackierte er Erzberger, seit 1919 Reichsfinanzminister, in eine Serie von Artikeln, die dieser zum Anlass einer Strafanzeige wegen Beleidigung nahm. Es kam zum Prozess gegen Helfferich. Dessen Verteidigung durch Alsberg bestand in dem Versuch, für die inkriminierten Behauptungen den Wahrheitsbeweis zu führen, „streng vom Standpunkt des Rechts und allein vom Standpunkt des Rechts aus“, wie Alsberg sagte und wohl auch glaubte.92 Doch gelang der Wahrheitsbeweis nur in wenigen Fällen. Vor allem aber ermöglichte die Hautpverhandlung Helfferich, das Ansehen Erzbergers nachhaltig zu beschädigen. Am Ende wurde Helfferich zu einer lächerlich gringen Geldstrafe verurteilt; Erzberger sah sich gezwungen, noch am Tag des Urteils zurückzutreten. Einen Tag später brach der KappPutsch aus. Alles in allem trug der Prozess nachhaltig dazu bei, antirepublikanische Ressentiments zu schüren und fanatische Potenziale freizusetzen. Bereits währen des Prozesses wurde Erzberger durch ein Attentat verletzt, ein Jahr später verlor er durch ein weiteres Attentat sein Leben. Die tragische Verstrickung in das Schicksal Erzbergers schein Alsberg erst spät be88

Dazu Königseder (Fn. 86), 67. Faksimile der Liste in: Gerhard Jungfer/Stefan König (Hrsg.), 125 Jahre Rechtsanwaltskammer Berlin, 2006, 214 ff. Näher hierzu Königseder (Fn. 86), 73 ff. 90 Von Lösch Der nackte Geist: Die juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, 1999, 210. 91 Apfel (Fn. 6), 759 f.; dazu Krach in: Taschke (Fn. 4), 45. 92 Riess (Fn. 2), 114. 89

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wusst geworden zu sein. Einige Jahre nach dem Prozess soll er gesagt haben: „Vielleicht hätte ich besser auf der anderen Seite kämpften sollen“.93 Elf Jahre nach dem Helfferich-Prozess stand Alsberg tatsächlich „auf der anderen Seite“ und verteidigte zusammen mit den Rechtsanwälten Alfred Apfel und Ludwig Barbasch einen Vertreter des linksbürgerlichen Spektrums, nämlich den Publizisten und Pazifisten Carl von Ossietzky (1889– 1938) im sog. Weltbühne-Prozess. In diesem Verfahren ging es um einen Artikel in der von Ossietzky herausgegebenen Zeitschrift „Weltbühne“, der ihm den Vorwurf des Hochverrats eingebracht hatte.94 Wie stets argumentierte Alsberg auch in diesem Prozess streng juristisch, überzeugt davon, dass dies zum Erfolg führen würde. Seine Erwartungen wurden vorhersehbar enttäuscht, was ihn gleichermaßen überraschte und erschütterte.95 Die Verteidigung Ossietzkys bildete im Mai 1933 für den Vorstand der Berliner Rechtsanwaltskammer den vorgeblichen Grund, Alsberg kommunistischer Bestrebungen zu bezichtigen. Tatsächlicher Grund war dessen jüdische Herkunft. Sie zwangen ihn zur Flucht aus Deutschland, schon bevor die Liste eingereicht war. Die Bedrohung der Juden, speziell jüdischer Anwälte, im Zuge der „Machtergreifung“ war alsbald unübersehbar geworden. Trotzdem hätte Alsberg, dem sein Judentum nicht viel bedeutete, sie wohl nicht zum Anlass genommen, Berlin zu verlassen, wenn nicht er Ende März 1933 einen Anruf eines ehemaligen Mandanten erhalten hätte, der inzwischen der SA beigetreten war. Er drängte Alsberg, so schnell wie möglich zu verreisen; in Berlin sei er nicht mehr sicher.96 Alsberg verließ die Stadt umgehend. Es versteht sich fast von selbst, dass sich Alsberg auch von seiner Stellung als Hochschullehrer nichts erhoffen konnte. Als Folge des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ mussten alle Hochschullehrer im April 1933 einen Fragebogen ausfüllen, in dem umfassende Angaben zur Herkunft und zur Konfession der Familie inklusive Eltern und Großeltern verlangt wurden. Die Frage nach seiner Konfession beantwortete Alsberg, bereits aus der Schweiz, mit „Dissident“. Dem Preußischen Wissenschaftsministerium galt er jedoch nach Auswertung seiner Fragebögen als „100 % nicht arisch“. Er fiel unter keinen der Ausnahmetatbestände des Gesetzes und war somit zu entlassen.97 93

Riess (Fn. 2), 106. Zu diesem Prozess Riess (Fn. 2), 267 ff.; Krach (Fn. 92), 45 ff. m.w.N.; ausführlich Hanten Publizistischer Landesverrat, 1999, 158 ff. 95 Dazu Riess (Fn. 2), 267 ff. 96 Riess (Fn. 2), 327. 97 Jasch Das Preußische Kultusministerium und die „Ausschaltung“ von „nichtarischen“ und politisch missliebigen Professoren an der Berliner Universität in den Jahren 1933–1934 aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 94

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Allerdings kamen dem zuständigen Staatssekretär im Preußischen Kultusministerium Stuckart bei näherer Prüfung wohl Bedenken. Nachdem er am 4. September 1933 zunächst die Entpflichtungsurkunde für Alsberg ausgestellt hatte, übermittelte er dem Minister Rust zwei Tage später eine konträre Stellungnahme, in der er um Erwägung einer Ausnahme bat.98 „Nach Ziff. 2 zu § 3 der 3. Durchführungsverordnung kann einem planmäßigen Beamten gleichgestellt werden, wer am 1.8.1914 sämtliche Voraussetzung für die Erlangung seiner ersten planmäßigen Anstellung erfüllt, insbesondere die hierfür erforderliche letzte Prüfung abgelegt und sich während seiner Tätigkeit als Beamter in hervorragendem Maße bewährt hat. Die erste Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn man die Habilitation als erforderliche letzte Prüfung für die Laufbahn des Hochschullehrers ansieht. Dagegen ist die Voraussetzung der hervorragenden Bewährung m.E. zweifelsfrei gegeben. Alsberg ist ein weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannter und anerkannter Strafrechtler und Strafprozessrechtler. Seine Entlassung würde ganz zweifelsfrei im In- und Ausland größtes Aufsehen erregen. Es ist daher m.E. zu erwägen, ob hier nicht eine Ausnahme gemacht werden kann, indem man die hervorragende Bewährung allein entscheiden lässt.“ Für eine „Ausnahme“ war es jedoch zu spät. Am 11. September 1933 nahm sich Max Alsberg in der Schweiz das Leben. Dazu Günter Spendel: „So tragisch endete das Leben dieses glänzenden Kriminalisten, der so vielen Menschen, ob schuldig oder nicht, ein Beistand in ihren Nöten gewesen war, sich nun aber selbst nicht mehr zu helfen wusste, der bei der prozessualen Wahrheitserforschung für sein Denken als Strafverteidiger den Zweifel zum Prinzip erhoben hatte, sich jetzt aber bei der persönlichen Auseinandersetzung mit seinem Schicksal der Verzweiflung überließ. Man wird an den Vers Friedrich Rückerts erinnert: ‚Zu immer höherer Höhe gibt dir der Zweifel Schwung, doch in den Abgrund stürzt dich die Verzweiflung‘.99 Dokument dieser Verzweiflung ist einer der letzten Briefe Alsbergs aus dem Exil, in dem er schrieb: „Alles, woran ich hing, ist zusammengebrochen. [. . .] Ich lebe nun einmal in der deutschen Jurisprudenz. Nichts hat mich so ausgefüllt wie die Beschäftigung in ihr.“100 7. April 1933, Rn. 59, 71 (abrufbar unter http://www.forhistiur.de/zitat/0508jasch.htm; siehe auch von Lösch (Fn. 89), 211. 98 Jasch (Fn. 98), Rn. 71. 99 Spendel (Fn. 18), 62 m. Hw. a. Rückert Die Weisheit des Brahmanen, 4. Aufl. 1857, S. 140 (5. Buch, Nr. 16 a. E.), und Alsberg Die Philosophie der Verteidigung (Fn. 4). 328 („‘Ich muss zunächst damit anfangen, an allem zu zweifeln.‘ Dieses Losungswort, das Descartes an die Eingangspforte der Philosopie der Neuzeit geschrieben hat, muss auch der Auftakt zu allem Denken des Verteidigers sein.“). 100 Riess (Fn. 2), 331 f.

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VIII. Vermächtnis Die Beschäftigung mit Leben und Werk Max Alsbergs ist für jeden Strafrechtler, der sich ihr widmet, ungewöhnlich lohnend. Viele seiner Schriften sind im Bereich des Strafrechts Quellen, von denen sich mit Jacob Burckhardt sagen lässt, dass sie jeder wieder lesen muss, weil sie jedem Leser „ein besonderes Antlitz weisen und auch jeder Altersstufe des Einzelnen“.101 Aus ihnen lassen sich sowohl spezielle Erkenntnisse über die Entwicklung des Strafrechts gewinnen, mit dem wir es zu einem großen Teil heute noch zu tun haben, wie auch Einsichten in die Welt des Strafrechts und der Strafrechtspflege überhaupt. Nicht zuletzt vermitteln sie das „Weltbild“ eines ungewöhnlich engagierten und reflektierten Strafverteidigers. Möge die Erinnerung an Max Alsberg und sein Werk erhalten bleiben!

101 J. Burckhardt Weltgeschichtliche Betrachtungen. Über geschichtliches Studium, 1978, 15.

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Fritz Schulz (1879–1957) Fritz Schulz (1879–1957) Josef Schermaier

Fritz Schulz (1879–1957) Fritz Schulz’ Prinzipien: Das Ende einer deutschen Universitätslaufbahn im Berlin der Dreißigerjahre MARTIN JOSEF SCHERMAIER

I. II. III. IV. V.

Bild und Worte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Bunzlau nach Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ende von Forschung und Lehre in Deutschland Flucht und keine Rückkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Geist des römischen Rechts . . . . . . . . . . . . . 2. Anachronismen und Projektionen . . . . . . . . . . . . 3. Kritik am Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . 4. Verteidigung des römischen Rechts . . . . . . . . . . . 5. Anbiederung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die „Krallen der Gegnerschaft“ . . . . . . . . . . . . . . VI. Un manifesto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Bild und Worte Zuerst ziehen die klaren, wachen Augen hinter den runden Brillengläsern die Aufmerksamkeit auf sich. Herausfordernd ist der Blick in die Ferne gerichtet, am Betrachter vorbei. Dann fällt der schmale Mund auf, der dem Gesicht einen entschlossenen, fast strengen Zug gibt. Dieser Mund und das leicht vorgeschobene Kinn verraten, dass der Mann hart zu sich selbst sein kann; hart oder konsequent, was dasselbe ist, wenn es gilt, eigene Zweifel und Schwächen zu überwinden. Trotzdem wirkt das Gesicht sensibel und ein wenig nachdenklich. Und da ist wieder dieser Blick, der irgendwie ins Leere geht, die leicht hochgezogenen Brauen – ist da Neugier und Tatendrang, oder ist da nicht auch etwas Wehmut, gar Enttäuschung? Wir werden es nie erfahren. Kaum jemand lebt noch, der diesen Mann persönlich kannte. Die Fotografie mag entstanden sein vor 60 Jahren, vielleicht ist sie auch älter. Der Mann stand damals schon hoch in den Sechzigern. Nur wer genau

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hinsieht, mag das Alter erahnen. Auf den ersten Blick deuten das volle Haar und die angegrauten Schläfen auf einen Mann in seinen besten Jahren. Wer über dieses Bild1 mehr erfahren will, muss die Geschichten hören, die über Fritz Schulz erzählt werden, muss Nachrufe2 und Biographien3 lesen. Aber Geschichten neigen zur Verklärung, je öfter sie erzählt werden. Ein Bild dagegen bleibt immer dasselbe. Wer ein Bild betrachtet, sieht immer etwas Neues, oft auch etwas Anderes als die, die es vor ihm betrachtet haben. Wieder anders ist es mit den Schriften, die ein Autor hinterlässt. Die Wahl der Themen, die Sprache und die Art und Weise zu erzählen, verraten viel über ihn. Dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte, gilt hier nicht. Mit dem, was er schreibt, offenbart ein Wissenschaftler mehr, als man ihm ansehen kann – wenn er denn ein Wissenschaftler ist, also sein Herz an die Sache hängt. Bei Fritz Schulz dürfte das in ganz besonderer Weise zutreffen. Werner Flume schreibt in seinem Nachruf, der Leser erlebe einen „Autor, dessen Werke weit mehr, als dies sonst im wissenschaftlichen Schrifttum üblich ist, eine Emanation seiner Persönlichkeit sind“.4 In der Zeit, die Schulz in Berlin verbrachte, ist eines seiner Hauptwerke entstanden, die „Prinzipien des römischen Rechts“.5 Daraus lässt sich in der Tat viel über Fritz Schulz erfahren. II. Von Bunzlau nach Berlin Die wenigen Jahre, die Fritz Schulz in Berlin verbrachte, lassen sich in zwei Perioden teilen: die Zeit vor der Machtergreifung und die Zeit danach. Nur für die erste Periode lässt sich ohne Einschränkung sagen, Schulz sei Mitglied der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität gewesen. Nach der Machtergreifung blieb er zwar formell Mitglied, doch wurde er alsbald beurlaubt, dann versetzt und schließlich, nach Berlin zu1

Die Fotografie ist entnommen der FS Schulz I 1951 (hrsg. von Niedermeyer/Flume). Etwa Flume SZ 75 (1958) 496 ff.; weitgehend wortgleich ders. Fritz Schulz – Gedenkrede gehalten bei einer von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn am 25.7.1958 veranstalteten Gedächtnisfeier, Schriften der Universität Bonn, Dritte Reihe: Alma Mater, 9. Heft, 1959; Lauria Labeo 4 (1958) 237 f.; Archi Fritz Schulz, SDHI 24 (1958) 451–459; Wolff Fritz Schulz †, JZ 1958, 186. 3 Am ausführlichsten und am besten recherchiert ist die Biographie von Ernst Fritz Schulz (1879-1959), in: Beatson/Zimmermann (eds.) Jurists Uprooted – German-speaking Emigré Lawyers in Twentieth-century Britain, 2004, 105 ff.; kürzer ders. Neue Deutsche Biographie, Band 29, 2007, 714–715. Anlässlich des Nachdrucks der „Prinzipien“ (2003) ist eine ausführliche Anzeige von Ernst auf der Seite des Forum Historiae Iuris erschienen (http://www.forhistiur.de/zitat/0405ernst.htm). Das von Ernst ausgewertete „SchulzArchiv“, eine Sammlung von Briefen und Manuskripten, befindet sich jetzt in Zürich. – Aufschlussreiche Details über Schulz’ Zeit in Berlin notiert Gräfin von Lösch Der nackte Geist – Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, 1999, insbes. 183 ff., 192 ff. 4 Flume (Fn. 2), 505. 5 Schulz Prinzipien des römischen Rechts – Vorlesungen, 1934 (Nachdruck 1954; 2003). 2

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rückbeordert, von seinen Verpflichtungen entbunden. „Gerade drei Semester war er in Berlin, als seine Demontage begann“, schreibt Gräfin von Lösch.6 Doch der Reihe nach. Fritz Heinrich Schulz wurde am 16. Juni 1879 in Bunzlau (Schlesien7) geboren als zweites von insgesamt sieben Kindern des Ehepaares Julius Schulz und Clara Maria Schulz (geb. Landsberger). Der Vater war Protestant, die Mutter Jüdin; sie ließ sich allerdings 1888 taufen. Drei der sieben Kinder verstarben früh.8 Im Alter von 18 Jahren verlor Fritz Schulz den Vater; die Mutter erlitt darüber einen Nervenzusammenbruch. Fritz Schulz war damit auf einen Schlag vor die Aufgabe gestellt, für sich, seine Mutter und seine jüngeren Geschwister zu sorgen. Die Erschütterung über dieses schicksalhafte Ereignis und die auf ihn geladene Verantwortung dürften seinen Charakter wesentlich geprägt haben. Flume berichtet, dass ihn wohl deshalb „die Ahnung einer ihm persönlich bevorstehenden Katastrophe nie verlassen“ habe.9 Mit zwanzig Jahren bestand er in seiner Heimatstadt das Abitur und ging daraufhin nach Berlin, um zunächst hier (1899–1901) und dann in Breslau (1901/02) Jura zu studieren. Die Familie übersiedelte er nach Freiburg, um seinen Geschwistern an der dortigen Universität das Studium zu ermöglichen.10 In Berlin waren es vor allem Alfred Pernice und Emil Seckel, die den jungen Studenten beeindruckten und prägten.11 Den juristischen Vorbereitungsdienst brach Schulz nach einem Jahr ab, um sich ganz der Wissenschaft widmen zu können. 1905 wurde er in Breslau promoviert, und noch im selben Jahr habilitierte er sich mit einer Arbeit über die Klagenabtretung im klassischen römischen Recht.12 Die Habilitation erfolgte in Freiburg, unter Fridolin Eisele und Alfred Schultze. Hier, in Freiburg, arbeitet Fritz Schulz – wieder im Kreis seiner Familie – vier Jahre als Privatdozent. In dieser Zeit erscheinen oder entstehen die Schriften, die den jungen Romanisten und Zivilrechtler bekannt gemacht haben.13 In Freiburg lernt er auch seine spätere Ehefrau kennen, die Medizinstudentin Martha Plaut, auch sie – wie seine Mutter – Jüdin. Die Ehe wird

6

Gräfin von Lösch (Fn. 3), 185. Damals deutsch, heute polnisch (Bolesławiec). 8 Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 106 berichtet, dass Fritz als zweites Kind des Ehepaares geboren wurde, erwähnt den oder die Erstgeborene aber nicht; wahrscheinlich verstarb er oder sie als Kind. Zwei jüngere Schwestern (Käthe und Else) starben jedenfalls noch im Kindesalter. 9 Flume (Fn. 2), 496. 10 Nachweis bei Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 108. 11 Zum Verhältnis von Schulz zu Emil Seckel, der mitunter als Lehrer von Schulz angesehen wurde, Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 111 f. 12 Schulz Klagen-Cession im Interesse des Cessionars oder des Cedenten im klassischen römischen Recht, SZ 27 (1906) 82–150. 13 Einerseits – für das römische Recht – Schulz Sabinusfragmente in Ulpians SabinusCommentar, 1906, andererseits – für das Zivilrecht – ders. System der Rechte auf den Eingriffserwerb, AcP 105 (1909) 1–488 (die Arbeit nimmt den ganzen Band ein). 7

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erst 1914, nach der Promotion von Martha, geschlossen werden. 1909 folgt Schulz einem Ruf nach Innsbruck, wo er zunächst außerordentlicher, dann (1910) ordentlicher Professor für Römisches Recht wird, 1912 wechselt er nach Kiel, 1916 nach Göttingen und 1923 nach Bonn. Einen Ruf nach Wien (1928) lehnt Schulz ab.14 1931 erreicht ihn ein Ruf nach Berlin, als Nachfolger von Theodor Kipp, der seinerseits einem Ruf nach Bonn gefolgt war. Schulz war von der Fakultät nur secundo loco gereiht worden, doch zog das Ministerium Schulz vor.15 Auch soweit es um das Gehalt ging, scheint das Angebot des Ministeriums die Forderungen von Schulz übertroffen zu haben.16 So verliefen die Verhandlungen schnell und Schulz konnte seine Lehrtätigkeit schon zum Wintersemester 1931/32 aufnehmen. Die Berufung an die Berliner Fakultät war die Aufnahme in einen „elitären Kreis“.17 Von zivilrechtlicher Seite gehörten ihm etwa Ernst Rabel, Ernst Heymann, Martin Wolff, Ulrich Stutz und Heinrich Titze an. In diesen Kreis sich einzureihen war für Fritz Schulz der Gipfel seiner bisherigen Karriere als Wissenschaftler.

III. Das Ende von Forschung und Lehre in Deutschland Das darauf folgende Wintersemester endete mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Das Sommersemester 1933 begann mit der Publikation des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (BBG),18 das den Zweck hatte, politisch unliebsame Beamte und solche jüdischer Abstammung aus ihrem Beruf zu entfernen. War Schulz nach nationalsozialistischer Doktrin zwar „nicht arischer Abstammung“ (§ 3 Abs. 1 BBG), so konnte er als „Vorkriegsbeamter“ doch nicht in den Ruhestand versetzt werden (§ 3 Abs. 2 BBG); mit seiner Berufung nach Kiel (1912) war er schon vor dem Ersten Weltkrieg in ein Beamtenverhältnis aufgenommen worden. Auch eine Entlassung wegen politischer Unzuverlässigkeit (§ 4 BBG) kam kaum in Frage. Zunächst wurde ihm – ohne gesetzliche Grundlage – das Gehalt gekürzt, indem Lehrauftragsgelder gestrichen wurden.19 Kurz vor Beginn des Wintersemesters 1933/34, am 30. September, erhielt Schulz die Mitteilung aus dem Ministerium, dass er versetzt würde – eine Möglichkeit, die § 5 BBG vorsah, doch wurde das darin geforderte „dienstli14 Zu seiner Zeit in Freiburg, Innsbruck, Kiel, Göttingen und Bonn ausführlich Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 114 ff. 15 Erlaß des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 19.5.1931, siehe den Nachweis bei Gräfin von Lösch (Fn. 3), 184 Fn. 275. 16 „He had to be urged to ask for more“, Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 122. 17 So die Formulierung von Gräfin von Lösch (Fn. 3), 48. 18 Verlautbart am 7.4.1933, RGBl. 1933 Nr. 34, 175 ff. 19 Nachweise bei Gräfin von Lösch (Fn. 3), 185 Fn. 185.

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che Bedürfnis“ nicht erläutert. Weil eine Stelle an einer anderen Universität nicht zur Verfügung stand, wurde Schulz zunächst ersucht, im Wintersemester keine Vorlesungen anzubieten.20 Unter dem Damoklesschwert des BBG und seiner Durchführungsbestimmungen und im Schatten der von radikalisierten Studenten angezettelten Provokationen21 hatte Fritz Schulz im Sommersemester eine Serie von Vorlesungen zu den „Prinzipien des römischen Rechts“ gehalten. Das Wintersemester verbrachte er mit der Vorbereitung der Drucklegung der „Prinzipien“. Im April 1934, kurz vor Beginn des Sommersemesters wurde Schulz aufgefordert, seinen Dienst an der Universität Frankfurt anzutreten. Die Stiftungsuniversität litt unter finanziellen Schwierigkeiten, ihre Aufhebung war geplant. Die Versetzung nach Frankfurt bedeutete nicht nur berufliche Ungewissheit, sondern auch eine sogleich wirksame Gehaltseinbuße. So wollte man Schulz und vier andere zwangsversetzte Professoren22 bewegen, „freiwillig“ ihre Versetzung in den Ruhestand zu beantragen. Die Frankfurter Fakultät lehnte es ab, dass die fünf neuen nicht-arischen Professoren Vorlesungen anboten; man befürchtete Proteste der Studentenschaft. Im Sommersemester blieb Schulz deshalb beurlaubt, zu Beginn des Wintersemesters 1934/35 beantragte er seine Rückversetzung nach Berlin unter gleichzeitiger Versetzung in den Ruhestand. Diesem Gesuch kam das Preußische Wissenschaftsministerium gerne nach.23 Ab 1. Dezember 1934 gehörte er wieder der Berliner Fakultät an, zum 1. April 1935 wurde er in den Ruhestand versetzt.24 Carl Schmitt soll es zu verdanken sein, dass Schulz auch nicht mehr lehren, nicht einmal eine Vorlesung im Römischen Recht anbieten konnte, die das Ministerium ihm noch zugestehen wollte.25 Am 22. Februar 1936 wurde ihm die Lehrbefugnis endgültig aberkannt.26 Auch das Forschen und Publizieren wurde schwieriger. Schon Ende 1934 wies ihn Hans Kreller, Herausgeber der romanistischen Abteilung der Savigny-Zeitschrift, darauf hin, dass die Zeitschrift in Zukunft „die deutsche

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Vgl. Gräfin von Lösch (Fn. 3), 187; Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 126 f. Geschildert bei Gräfin von Lösch (Fn. 3), 128 ff.; sie gipfelten in der öffentlichen Verbrennung „jüdischer und judenfreundlicher Bücher“ am 10.5.1933 auf dem Opernplatz (dort 134 f.). 22 James Goldschmidt (Berlin), Heinrich Hoeniger (Kiel), Gerhart Husserl (Göttingen), Eugen Rosenstock-Huessy (Breslau); vgl. Gräfin von Lösch (Fn. 3), 192 f.; Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 128. 23 Der zuständige Referent, Karl August Eckhardt, wurde von Himmler gelobt, weil er, „als die Juden noch geschützt waren, in sehr geschickter Weise, ohne daß das Ausland Einspruch erheben konnte, sämtliche Juden auf deutschen Lehrstühlen dazu gebracht (hat), selbst ihre Entpflichtungsanträge zu stellen“; zitiert nach Nehlsen Karl August Eckhardt †, ZRG GA 104 (1987) 497, 510; Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 130. 24 Vgl. Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 129. 25 Details bei Gräfin von Lösch (Fn. 3), 196 f. 26 Vgl. Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 130. 21

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Eigenart zu betonen“ habe. Er, Schulz, solle seine Beiträge, die nach wie vor willkommen seien, kurz halten.27 Einmal noch, 1951, publizierte Fritz Schulz in der Savigny-Zeitschrift,28 bereit, „alle erlittene Unbill“ zu vergessen, wie er an Helmut Coing schrieb.29 Außer dieser sind nach 1934, dem Erscheinen der „Prinzipien“, in Deutschland keine wissenschaftlichen Arbeiten von Fritz Schulz erschienen. Drei Auslandsreisen, zwei nach Italien, zur Vierzehnhundertjahr-Feier von Digesten und Codex,30 eine nach England, hat man Fritz Schulz noch bewilligt; eine in die Niederlande untersagt. 1937 wurde Schulz der Zugang zu öffentlichen Bibliotheken verwehrt.31

IV. Flucht und keine Rückkehr Weil das um etwa 60% gekürzte Gehalt nicht mehr ausreichte, das Haus in Dahlem zu unterhalten, wurden zunächst Zimmer untervermietet, 1937 wurde die Villa verkauft. Die Familie kommt in der Wohnung eines Schweizerischen Unternehmens unter; doch auch dieser Mietvertrag muss, auf Drängen der Gestapo, Ende März 1939 aufgelöst werden.32 Die vier Kinder, Renate, Thomas, Johann und Dorothea, waren ab 1936 nach und nach bei Freunden und Bekannten in England untergebracht worden, besuchten dort die Schule oder nahmen ein Studium auf.33 Fritz Schulz knüpfte Kontakte nach England, Schottland und den USA und bemühte sich um einen Ruf oder wenigstens eine Position als lecturer.34 Nach dem Novemberprogrom und mit der Vertreibung aus der Wohnung Ende März 1939 spitzt sich die Lage dramatisch zu. Das Ehepaar Schulz erhält eine Ausreisegenehmigung für die Niederlande und verlässt am 11. April 1939 Deutschland. Auch in den Niederlanden, wo Schulz von Kollegen freundschaftlich aufgenommen und unterstützt wird, ist kein Bleiben. Vor allem seine Frau drängt ihn zur weiteren Flucht nach England. Dort wird ihm, unter maßgeblicher Beteiligung von Oxford University Press und dem Balliol College, zunächst für die ersten beiden Jahre eine bescheidene Geldsumme zugesagt; sein Schwager bürgt für ihn.35 Am 26. August 1939 brechen die Schulzes nach England auf, sechs Tage vor Kriegsbeginn. 27

Vgl. Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 133. Schulz Die Ulpianfragmente des Papyrus Rylands 474 und die Interpolationenforschung, SZ 68 (1951) 1–29. 29 Zitiert bei Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 192 Fn. 644. 30 1933 in Rom und Bologna und 1934 in Rom. 31 Hinweis bei Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 140. 32 So Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 148. 33 Genauer Bericht bei Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 136 ff. 34 Ausführlich Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 138 ff. 35 Einzelheiten bei Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 144 ff. und 151 ff.; der Wortlaut des Affidavit seines Schwagers, Dr. Alfred Plaut, ist abgedruckt dort 156 Fn. 407. 28

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In Oxford kommt das Ehepaar Schulz unter, doch liegt eine schwere, von Armut geprägte Zeit vor ihm. Fritz Schulz findet keinen Anschluss an das akademische Leben in der berühmten Universitätsstadt,36 doch kann er wenigstens die großzügigen Bibliotheksverhältnisse nutzen, um hier seine nächsten beiden großen Werke, „The History of Roman Legal Science“ (1946) und „Classical Roman Law“ (1950), zu schreiben. Beide Bücher werden – wie die englische Übersetzung der „Prinzipien“ – bei OUP verlegt. Schon vor der „History“ erscheinen in knapper Folge die Arbeiten zu Bracton.37 Das Honorar für seine Bücher, Spenden verschiedener Stiftungen und schließlich die Einkünfte aus „tutorials“, die Schulz seit 1948 am Balliol College hielt, mussten für den Unterhalt der Familie reichen. Auch nach Kriegsende verbesserten sich die materiellen Verhältnisse zunächst nicht: Preußen existierte formal zwar noch bis zum 25. Juli 1947, doch verweigerte die Verwaltung der Sowjetischen Besatzungszone Pensionszahlungen. An das Intermezzo an der Universität Frankfurt ließ sich nicht anknüpfen, weil Schulz vor seiner Flucht wieder der Berliner Fakultät angehörte. Erst als die Bonner Fakultät Schulz zum Honorarprofessor ernannte (1951) und Schulz regelmäßig Vorlesungen in Bonn hielt, konnte er wieder mit einem festen monatlichen Einkommen rechnen. Das Bundesentschädigungsgesetz, das 1956 – allerdings rückwirkend mit 1. Juli 1953 – in Kraft trat, kam für Fritz Schulz zu spät. An eine Rückkehr nach Deutschland war für Fritz Schulz nicht mehr zu denken; nicht auf Grund von Ressentiments gegen die immer noch oder doch wieder in Amt und Würden befindlichen Kollegen, die Täter oder Mitläufer, sondern weil er seine letzten Jahre der Forschung widmen wollte, für die er eine sehr gute Bibliothek ebenso wie internationale Kontakte benötigte.38 Auch die Erfahrung, erst „hier im freien England und vor allem im herrlichen Oxford, das eben auf der Welt nicht seines gleichen hat“39 zu voller wissenschaftlicher Reife gediehen zu sein, einer Reife, die er – wie Schulz 36

Ausführlich Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 168 ff. Schulz Critical Studies in Bracton’s Treatise, LQR 59 (1943) 172–180; ders. A New Approach to Bracton, Seminar (Beilage zu The Jurist) 2 (1944) 41 ff.; ders. Bracton on Kingship, English Historical Review 60 (1945) 136–176 (= in: L'Europa e il diritto romano: studi in memoria di Paolo Koschaker I, 1954, 21–70); ders. Bracton as a computist, Traditio 3 (1945) 265–305; ders. Bracton and Raymond de Peñaforte, LQR 61 (1945) 286– 292. 38 So schreibt er in einem Brief (vom 27.8.1946) an seine Bonner Assistentin Dr. Helga Arnold; abgedruckt bei Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 198 ff. (hier 199 f.): „Definitiv gehe ich bestimmt nicht zurück, nicht aus Verbitterung oder Ressentiment, sondern einfach, weil ich wichtigeres zu tun habe, nämlich meine wissenschaftliche Ernte einzubringen habe, ‚gleichsam Wintervorräte für die Zukunft‘ wie Savigny (Vom Beruf etc.) sagte. . . . Ich . . . brauche für meine Arbeit die internationale Literatur und den Verkehr mit englischen, Franz., italien. und holländischen Kollegen: das alles ist zur Zeit in Deutschland unmöglich“. 39 So im Fn. 38 erwähnten Brief (bei Ernst in: Jurists Uprooted [Fn. 3], 198 f.). 37

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meinte – in Deutschland nie erreicht hätte, wird für diese Entscheidung wichtig gewesen sein. Spät wurden Schulz die akademischen Ehrungen zuteil, die hervorragende Wissenschaftler schon in ihrer aktiven Zeit erhoffen dürfen: 1949 verleiht ihm die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Frankfurter Universität die Ehrendoktorwürde, 1952 wird er in die Accademia Nazionale dei Lincei (Rom) aufgenommen. 1951 erscheint, aus Anlass seines 70. Geburtstags (1949) eine zweibändige Festschrift, an der sich Romanisten und Zivilisten aus Deutschland, Italien, England, Frankreich, Spanien, Polen, Belgien, der Türkei und den USA beteiligen. Die Ehrungen kamen spät, aber sie kamen gerade noch rechtzeitig. Am 12. November 1957 starb Fritz Schulz, nach mehreren Schlaganfällen, die ihm schon mehrere Jahre zuvor „die Feder aus der Hand genommen“ hatten.40 V. Prinzipien Über die Entstehung des Buches, dessen englische Übersetzung ihm die Emigration erleichtert hatte, ist wenig bekannt. Die einzelnen Kapitel geben Vorlesungen wieder, die Fritz Schulz im Sommersemester 1933 in Berlin gehalten hat. Das Konzept dieser Vorlesung scheint nicht einer spontanen Idee entsprungen, sondern seit längerem erdacht und überlegt. Vielleicht waren die aktuellen politischen Ereignisse aber Anlass, die Vorlesung im Sommer 1933 anzukündigen. Es war die letzte Vorlesung, die Schulz als Berliner Professor halten konnte. Insofern ist sie nicht nur ein politisches Manifest, sondern auch ein wissenschaftliches Vermächtnis. Das sollte man im Blick behalten, wenn man das Werk heute liest. Wer es nur als rechtshistorisches Werk betrachtet, kann heute und konnte schon damals41 nicht alles, was Schulz als „Prinzipien“ beschrieb, unwidersprochen lassen. Später, im englischen Exil, hat Schulz die „Prinzipien“ durch „Classical Roman Law“42 und „History of Roman Legal Science“43 ergänzt – Lehrbücher im klassischen Sinn. Obwohl die „Prinzipien“ zuerst erdacht und geschrieben wurden, ziehen sie doch eine Summe aus dem, was die Lehrbücher im Einzelnen darlegen. 1. Der Geist des römischen Rechts Fritz Schulz sah sein Buch in der Tradition von Iherings „Geist des römischen Rechts“.44 Mit „Prinzipien“ meinte er die geistigen Grundlagen des 40

Formulierung von Flume (Fn. 2), 496. Beachtenswert ist die durchaus positive, aber zugleich recht kritische Rezension von Lauria SDHI 1 (1935) 219 ff. 42 1951. 43 1953; deutsche Ausgabe: Schulz Geschichte der Römischen Rechtswissenschaft, 1961. 44 Ihering Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Band 1–4, 1852–1865. 41

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römischen Rechts, die „Grundanschauungen der an der Rechtsbildung beteiligten Römer von Recht und Gerechtigkeit“ (Seite 1). Es ging ihm nicht um das römische (Privat-)Recht in seinen Erscheinungsformen, sondern um die Ideen und Werte, die in diesen Formen verkörpert sind, den gesellschaftlichen Konsens, der dieses Recht schaffen konnte. Das Buch ist aber keine überschwängliche Apotheose des römischen Rechts, eher eine nüchterne, auf gründliche Kenntnis der juristischen und literarischen Quellen gestützte Analyse. Die elf Prinzipien sind rasch genannt: Gesetz und Recht, Isolierung, Abstraktion, Einfachheit, Tradition, Nation, Freiheit, Autorität, Humanität, Treue, Sicherheit. Auswahl und Abfolge dieser Prinzipien überrascht: Schon die erste Vorlesung, „Gesetz und Recht“, schildert keinen rechtsgestaltenden Grundgedanken, sondern enthält die schlichte Beschreibung, dass die Römer gesetzlicher Fassung des Rechts abhold waren. Man kann das als ein „formales“ Prinzip des römischen Rechts ansehen oder als eine Voraussetzung dafür, dass andere Prinzipien sich überhaupt entwickeln und entfalten konnten. Auch sonst liegen die Prinzipien auf verschiedenen Ebenen. „Isolierung“ und „Abstraktion“ beziehen sich auf die Methodik der klassischen Juristen, „Tradition“ und „Autorität“ auf die gesellschaftliche Verfassung der römischen Republik, „Freiheit“ und „Treue“ auf Wesenszüge des materiellen Privatrechts. Brennpunkt ist ohnehin immer das Privatrecht, seine Grundstrukturen, seine Ideen und Anlagen. Mit den unterschiedlichen „Prinzipien“ wechselt Schulz nur die Blickrichtung, wie in einem Kaleidoskop ändert sich das Bild, ohne doch seinen Gegenstand zu ändern. So hinterlässt das Buch noch heute einen grandiosen Eindruck, auch und vor allem bei Fachvertretern. Mit Interpolationsvermutungen geht Schulz – gemessen an der Mode der Zeit – recht vorsichtig um. Zu Fehlurteilen in den großen Linien des römischen Rechts führen diese Vermutungen kaum.45 Anders als Schulz aber wird man heute den Einfluss der griechischen Philosophie auf Struktur und Inhalt des römischen Privatrechts beurteilen. Seine Vermutung, dass die „Aufnahme philosophischer Anregungen (mitunter) erst der nachklassischen Zeit“ angehöre, ist indes unbestimmt genug und führt Schulz zu dem unangreifbaren Urteil, dass sich über den philosophischen Einfluss „noch nichts Abschließendes sagen“ lasse.46 Die Vermutung, es seien im „Privatrecht . . . verschwindend wenige und nicht fundamentale Sätze, die man mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit auf das griechische Recht zurückführen kann“ (86 f.), war allerdings schon zu seiner Zeit über45 Typisch ist etwa die Behauptung von Schulz, die Wendung bonae fidei iudicio exceptiones pacti insunt (so oder ähnlich etwa D. 18,5,3; D. 2,14,7,5–6) enthielte eine contradictio in adiecto, weil das klassische Recht mit exceptio nur den Formelbestandteil, nicht die materielle Einrede bezeichnet habe; Schulz (Fn. 5), 64 Fn. 44. Dagegen etwa Knütel Die Inhärenz der exceptio pacti im bonae fidei iudicium, SZ 84 (1967) 133 ff. 46 Beide Zitate Schulz (Fn. 5), 88.

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holt oder wenigstens unscharf.47 Wenn man solche Einflüsse nur dann annehmen möchte, wenn ein römischer Jurist sich auf ein griechisches Vorbild beruft, ist ihre Zahl in der Tat recht klein. Die „Reinhaltung“ des römischen Rechts von nichtrömischen Einflüssen, ist für Schulz’ Prinzipien eine zwar unausgesprochene, in dem Kapitel „Nation“ aber deutlich hervortretende Arbeitshypothese. Ob dies, dem politischen Zweck seines Buches entsprechend, beabsichtigt war, oder ob es sich aus Fritz Schulz’ wissenschaftstheoretischer Position ergab, soll hier dahin gestellt bleiben. 2. Anachronismen und Projektionen Der Gefahr, mit der Benennung und Definition der „Prinzipien“ modernes Verständnis in die antike Welt zu projizieren, mag Schulz sich bewusst gewesen sein; thematisiert hat er sie nicht. Was ist uns, was war Schulz zu seiner Zeit „Freiheit“, und was verstanden darunter die Römer? Ist die „individualistische Gestaltung des Privatrechts“ (99) tatsächlich Ausdruck von „Freiheit“? Wenn wir Freiheit verstehen als Ausdruck privatautonomer Rechtsgestaltung, also der Möglichkeit rechtliche Beziehungen nach freiem Gutdünken zu gestalten, ist das richtig. Diese Vorstellung von „Privatautonomie“, die den Begriff des „freien Willens“ voraussetzt, ist aber eine recht moderne. Die Römer meinen mit „Freiheit“ (libertas) die Freiheit von einem dominus – sei es im privatrechtlichen oder im öffentlichrechtlichen Sinn. So ist ein Sklave ebenso unfrei wie ein unterdrücktes Volk. Von diesem Freiheitsbegriff geht in der Tat auch Schulz aus (95 ff.). Solche „Freiheit“ lässt sich aber auch ohne weiteres ohne den Individualismus vorstellen, den Schulz als wesentliches Kennzeichen des römischen Privatrechts ansieht (99 ff.). Diese Art „Freiheit“ wird von den römischen Juristen nicht auf den Willen bezogen und wurde daher auch nicht als „Freiwilligkeit“ im modernen Sinn gedeutet. Ähnlich anachronistisch ist der Umgang mit dem Begriff der „Treue“ (151 ff.). Die Wahrhaftigkeit, das Worthalten, die fides, ist für die Römer in der Tat ein gleichermaßen soziales wie rechtliches „Prinzip“. Die Parallelen des fides-Verständnisses in Völkerrecht und Privatrecht sind verblüffend.48

47 Schulz selbst führt einige in der zeitgenössischen Forschung vermutete Anleihen im griechischen Recht an, bezweifelt sie aber durchwegs. Unter den programmatischen Schriften, auf die er nicht eingeht, sind zu nennen Wenger Römische und antike Rechtsgeschichte (Akademische Antrittsvorlesung an der Universität Wien, gehalten am 26.10.1904), 1905; Mitteis Antike Rechtsgeschichte und romanistisches Rechtsstudium (Vortrag gehalten im Verein der Freunde des humanistischen Gymnasiums, am 3.6.1917), 1917 (ital. Übersetzung in Ann. Pal 12, 1929, 477 ff.); zu beiden jetzt Höbenreich À propos „Antike Rechtsgeschichte“: Einige Bemerkungen zur Polemik zwischen Ludwig Mitteis und Leopold Wenger, SZ 109 (1992) 547 ff. 48 Vgl. nur Nörr Die fides im römischen Völkerrecht, 1990.

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Hier wie dort sind die beiden Grundbedeutungen von fides, treu sein und Vertrauen haben, von Anfang an nachzuweisen.49 Aber dass die Bindung des Magistrats an sein Edikt und die Regel, dass Gesetze nicht zurückwirkten, Ausfluss dieser fides seien (155 f.), lässt sich nur behaupten, nicht belegen. Wenn man von einer Bindung des praetor an sein Edikt spricht, dann besteht es überhaupt nur darin, dass proponierte Rechtsbehelfe auch zur Verfügung gestellt, nicht aber darin, dass keine anderen als diese angeboten werden. Überhaupt bestand insofern keine rechtliche Bindung, sondern höchstens eine politische.50 3. Kritik am Nationalsozialismus Gerade an diesem Punkt wird deutlich, was man bei genauer Betrachtung an vielen Stellen bemerkt, dass die „Prinzipien“ zur Kritik der politischen Verhältnisse eingesetzt werden. Im April 1933 war durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“51 in bestehende Beamtenverhältnisse eingegriffen worden, hatte der Staat sich gegenüber denen, die sich in seinen Dienst gestellt hatten, als „treulos“ erwiesen. Berufungszusagen wurden, auch gegenüber Fritz Schulz, nicht eingehalten,52 sein Gehalt ohne rechtliche Grundlage gekürzt. Die Ausführungen in den „Prinzipien“ über die fides des Staates gegenüber seinen Bürgern, hatte wohl den Zweck zu zeigen, dass zwar die Römer, nicht aber die Nationalsozialisten, die lautstark „Treue“ für sich in Anspruch nahmen, diesem Prinzip gehorchten. Was man hier beobachten kann, rückt viele Passagen des Buchs in ein anderes Licht. Als Echo auf seine Beobachtungen zur fides ertönt es am Ende des Kapitels über die „Sicherheit“ (162 ff.), womit die Rechtssicherheit gemeint ist: „Nicht die ‚Sicherheit des Verkehrs‘, sondern die Sicherheit des erworbenen Rechts ist es, die den Römern am Herzen liegt; von dieser Sicherheit scheint ihnen die Sicherheit des Staates (!) abzuhängen; die an ihr rütteln, erschüttern, so meinen sie, die Fundamente des gemeinen Wesens“ (171). Fritz Schulz hatte gar nicht erst versucht, seinen Protest zu verbergen, ihn zu chiffrieren in Andeutungen und Wendungen, die nur Eingeweihten vertraut sind. „Das ‚Volk des Rechts‘ ist nicht das ‚Volk des Gesetzes‘ “ heißt es gleich zu Anfang (4). Schulz sagt damit nicht weniger, als dass auch Gesetz Unrecht sein kann, und er präsentiert mit dem Römischen Recht das 49 Dazu etwa Nörr Aspekte des römischen Völkerrechts – Die Bronzetafeln von Alcantara, 1990, 150; so bereits Heinze Fides, in: Hermes – Zeitschrift für klassische Philologie 64 (1929) 140, bes. 150 ff. 50 So bereits Lauria in seiner Rezension (Fn. 41), 224. 51 Dazu oben Fn. 18. 52 Vgl. Gräfin von Lösch (Fn. 3), 155 und 185 mit Hinweis auf einen ministeriellen Erlass vom 15.6.1933.

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Recht einer Gesellschaft, die zwar „Nationalität“ (74) und „Tradition“ (57) hochhielt, dabei aber „Freiheit“ (95) und „Humanität“ (128) wahrte. Sensibel geworden für die Anspielungen von Schulz, kann man auch in seinen Ausführungen über den Einfluss des Humanitätsprinzips (128 ff.) im Strafrecht Bezüge zu tagespolitischen Ereignissen sehen. Die Einschränkung der Todesstrafe wird zwar auf die Humanitätsidee zurückgeführt, aber mit dem Satz Ciceros (Rab. perd. 10) unterstrichen, dass es „tapfere Männer“ waren, „die sich zutrauten, ohne die Todesstrafe auszukommen“ (137). Ist es nicht Zeichen mangelnder Tapferkeit (fortitudo), ja Feigheit, eine Vielzahl alter und neuer Straftatbestände mit der Todesstrafe zu sanktionieren? Zu solcher Ausweitung der Todesstrafe war es durch das „Gesetz zur Abwehr politischer Gewalttaten“ vom 4. April 193353 gekommen und, dieses vorwegnehmend, durch die unmittelbar nach dem Reichstagsbrand (27./28. Februar 1933) ergangene „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“.54 § 5 dieser Verordnung bedrohte etwa auch die Brandstiftung mit der Todesstrafe, und das als „Lex van der Lubbe“55 bekannt gewordene „Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe“ vom 29. März 193356 machte diesen § 5 auch auf den Monat Februar 1933 anwendbar. Schulz’ beherztes Votum, die Rückwirkung von Gesetzen widerspreche der fides, die der Staat seinem Bürger schulde (156 f.), mag auch dieses Ereignis im Blick gehabt haben. Für den Satz „nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege“ konnte Schulz das römische Recht jedenfalls nicht ins Feld führen (118 f.). Das Reichsgericht hatte geurteilt, dass die „Lex van der Lubbe“ jedenfalls nicht gegen Art. 116 der Weimarer Reichsverfassung57 verstoße, weil diese Bestimmung ein Rückwirkungsverbot nur für die Strafbarkeitsvoraussetzungen enthalte, nicht aber für das Strafmaß.58

53 RGBl. 1933, 162; dazu etwa Werle Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989, 75 ff. 54 RGBl. 1933, 83; dazu Werle (Fn. 53), 65 ff. 55 Der Niederländer Marinus van der Lubbe wurde im brennenden Reichstagsgebäude festgenommen, wegen Hochverrats und Brandstiftung angeklagt, am 22.12.1933 zum Tod verurteilt und am 10.1.1934 hingerichtet. 56 RGBl. 1933, 151; dazu Werle (Fn. 53), 73 ff.; Epping Die Lex van der Lubbe – zugleich ein Beitrag zur Bedeutung des Grundsatzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“, Der Staat 34 (1995) 243 ff.; Deiseroth (Hrsg.) Der Reichstagsbrand und der Prozess vor dem Reichsgericht, 2006. 57 Art. 116 WRV: „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde“. 58 RG vom 22.12.1933 – 15 J 86/33, XII H. 42/33. Ein Auszug aus dem Urteil (allerdings nicht diese Passage) ist reproduziert bei Kaul Geschichte des Reichsgerichts, Band 4: 1933–1945, 1971, 341 ff.

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4. Verteidigung des römischen Rechts Es gilt aber auch einen anderen Aspekt zu beachten. Schulz ging es nicht nur darum, den neuen Staat – im Vergleich zum antiken Rom – als Unrechtsstaat zu entlarven. Er versuchte gleichzeitig oder sogar vorrangig, die kruden historischen Begründungen der nationalsozialistischen Ideologie zu widerlegen und die Diffamierung des römischen Rechts zu bekämpfen. Die Propaganda hatte sich auch des im späten 19. Jahrhundert auf wissenschaftlicher wie rechtspolitischer Ebene ausgetragenen Streits zwischen Germanisten und Romanisten bemächtigt.59 Die verzerrende, ja lächerliche Idealisierung des Germanentums war die Bastion, von der aus man das der „materialistischen Weltordnung dienende römische Recht“60 bekämpfte. Dagegen anzukämpfen mag aus heutiger Sicht, die den Lauf der Geschichte kennt, sinn- und aussichtslos und deswegen naiv gewesen sein. Wie aber sollte ein Wissenschaftler, der zeitlebens auf hohem intellektuellen Niveau Studenten unterrichtete, sich mit Kollegen austauschte, dabei Widerspruch und Zustimmung fand, auf einmal akzeptieren, dass ein gutes Argument kein Echo finde? In der Art redlicher wissenschaftlicher Diskussion räumt Schulz ein, dass einerseits der römische „Individualismus“ Voraussetzung dafür war, Begriffe und System des modernen Privatrechts auszuprägen.61 Gleichzeitig betont er, als er von der römischen fides spricht, die vielfältigen „Treueverhältnisse“, in die der Einzelne eingebunden ist; deswegen sei „der römische ‚Individualismus‘ . . . eine Legende“.62 Beispielsweise sei „der römische Eigentumsbegriff . . . kein anderer als der deutsche“ (102). Anders als das römische Recht in seiner Einfachheit und Klarheit, erscheine das mittelalterliche deutsche Recht vielfältig und verwickelt (45 f.). Das deutsche Strafrecht, das noch bis ins 18. Jahrhundert auch für den Diebstahl die Todesstrafe kannte,63 sei im Vergleich zum römischen inhuman gewesen (137). Das Rücktritts- oder Kündigungsrecht sei dem römischen Recht unbekannt gewesen, vielmehr sei es aus „deutschrechtlichen Wurzeln gewachsen“.64 Überhaupt seien „sämtliche charakteristische Rechtsinstitute des modernen Kapitalismus“ nicht aus dem römischen Recht hervorgegangen (107).

59 Dazu etwa Luig Die sozialethischen Werte des römischen und germanischen Rechts in der Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts bei Grimm, Stahl, Kuntze und Gierke, in: Köbler (Hrsg.) Wege europäischer Rechtsgeschichte – FS Kroeschell 1987, 281 ff. 60 So Punkt 19 des Parteiprogramms der NSDAP (24.2.1920). 61 Schulz (Fn. 5), vor allem im Kapitel „Freiheit“, dort bes. 99 ff. 62 Schulz (Fn. 5), 161 unter Hinweis auf Biondi Romanità e Fascismo, 1929, 37. 63 Schulz könnte sich auf Art. 160 (Schwerer Diebstahl) der Peinlichen Halsgerichtsordnung (Constitutio Criminalis Carolina, 1532) bezogen haben. 64 Schulz (Fn. 5), 153 unter Hinweis auf Gierke.

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Dass diese wissenschaftliche Ehrenrettung des römischen Rechts teilweise auf Interpolationsannahmen gestützt ist, die heute nicht mehr geteilt werden,65 ändert auch hier nichts an der Richtigkeit der großen Linien. Bemerkenswert ist aber, dass Schulz in den historisch-vergleichenden Passagen nicht nach neuen Erklärungen dafür sucht, wie das römische Recht Grundlage des modernen Rechts werden konnte und welche Faktoren verantwortlich dafür waren, dass es sich in den damals bekannten Formen entwickelte. Vielmehr bleibt er der seit dem 19. Jahrhundert stilisierten Gegenüberstellung von „römischem“ und „germanischem“ Recht treu. Das macht sein Anliegen umso deutlicher, die Verdrehungen und Halbwahrheiten der nationalsozialistischen Propaganda zu bekämpfen. 5. Anbiederung? Schulzes Bemühen hat man auch anders gedeutet, es etwa in die verschiedenen Versuche eingereiht, dem römischen Recht seine „Fremdheit“ zu nehmen, es als den deutschen Idealen entsprechend zu beschreiben und es so den neuen Machthabern anzudienen. So vermutet Stolleis hinter den „Prinzipien“ die „Intention, dem römischen Recht durch Unterstreichung seiner imperialen Züge und seiner Gemeinschaftswerte Unterstützung in einer veränderten politischen Landschaft zu geben“.66 Tatsächlich könnten manche von Schulz eingesetzte Wendungen einen solchen Verdacht wecken. Schon dass er eines der Kapitel und also eines der „Prinzipien“ des römischen Rechts „Nation“ nennt (74 ff.), ein anderes „Autorität“ (112 ff.), gibt dafür Anlass. Wenn dann noch (91) von der „Nation des römischen Imperium“ die Rede ist, klingt das ganz nach Anbiederung an die neuen politischen Verhältnisse.67 Das ist aber nicht alles. Einmal meint Schulz, Gierke habe „die echt deutsche Forderung nach einer Gesamtschau (des Rechts) großartig zum Ausdruck gebracht“ (26); dann schreibt er wieder vom „völkischen Gegensatz“ zwischen Römern und Germanen (46), und davon, dass es keinen Einfluss des „jüdisch-talmudischen Rechts“ auf das Römische Recht gegeben hätte, höchstens umgekehrt (89). Im Rahmen einer ausführlichen Widerlegung von Spenglers Vermutung,68 dass die klassischen Juristen allesamt 65 Das betrifft insbesondere die Ausführungen zum römischen „Rücktritts- und Kündigungsrecht“ (das es in der Tat im modernen Sinne nicht gab), Schulz (Fn. 5), 153 f. 66 Stolleis „Fortschritte der Rechtsgeschichte“ in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Stolleis/Simon (Hrsg.) Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus – Beiträge zur Geschichte einer Disziplin, 1989, 177, 186. 67 Noch dazu, wenn man – wie Geltzer in seiner Rezension (Gnomon 11, 1935, 1, 3 f.) hervorhob – weiß, dass die Bevölkerung des römischen Imperium nie eine „Nation“ im von Schulz definierten Sinne war, und auch nicht dadurch wurde, dass Caracalla allen Reichsbewohnern das römische Bürgerrecht verlieh. 68 Spengler Der Untergang des Abendlandes, 2. Band, 1922, 78 ff.; in der Ausgabe 1963 (mit durchgezählten Seiten), 635 ff.

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„aus dem Osten“ stammten, meint Schulz (91): „Selbst wenn unsere Juristen blutmäßig keine Italiker gewesen sein sollten“, hätte doch ihr Wirken römischen Geist geatmet. Schließlich fällt noch die Bemerkung, Augustus habe sich um die „rassische Reinerhaltung“ der römischen Nation bemüht (82). Das klingt, zugegeben, alles etwas seltsam. Schulz macht sich hier und in anderen Passagen, und scheinbar ohne Vorbehalt, die Diktion der nationalsozialistischen Rassenideologie zu Eigen. Wenn man aber genauer hinsieht und den Zusammenhang beachtet, stellt man fest, dass dies wohl nicht geschah, um sich anzubiedern, sondern, um Sprache und Verständnis der entsprechend verunbildeten Leser zu treffen. Vielleicht spielte auch eine gewisse Arglosigkeit eine Rolle, ein Nicht-wahrhaben-wollen oder Nicht-fürmöglich-halten der furchtbaren Konsequenzen, die solche Sprache andeutete. Gräfin von Lösch vermerkt, dass sich Fritz Schulz in dem Personalbogen, der der Erfassung der Daten zur Anwendung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verwendet wurde, nationalsozialistischer Terminologie bediente und von sich sagte, er sei „väterlicherseits arisch, mütterliche Seite jüdisch“.69 Wie man aus anderen Personalblättern weiß, ließ sich das durchaus vermeiden.70 Schulz vertraute offenbar darauf, dass das Gesetz korrekt angewendet werde, seine Stellung als Vorkriegsbeamter nicht gefährdet war.71 Warum also sollte er sich widerspenstig zeigen, indem er andere als die erwarteten Begriffe verwendete? Ähnliche Arglosigkeit mag die manchmal auffallend angepasste Terminologie in den „Prinzipien“ erklären. 6. Die „Krallen der Gegnerschaft“ Selbstverständlich ging es Schulz auch darum sein Fach zu verteidigen und damit im Chor der zeitgenössischen Diskussion nicht ungehört zu bleiben. Seine bisweilen recht offene Kritik an den herrschenden politischen und rechtlichen Verhältnissen erhebt ihn aber über den Vorwurf, sich den neuen Machtverhältnissen angepasst zu haben. Wer die Prinzipien im Kontext liest, versteht einen seiner letzten Sätze: „Neues staatlich-politisches Erleben läßt uns auch das römische Reich und sein Recht neu erleben und zeigt uns vieles in neuem und klarerem Lichte“ (172), keineswegs als „captatio benevolentiae“ gegenüber den neuen Machthabern und als einen Versuch „der bevorstehenden Vertreibung zu entgehen“.72 Eher besiegelt der Satz die auf den Seiten davor teils unterschwellig, teils offen vorgetragene Kritik an den zeitgenössischen Verhältnissen. Dass sich diese Kritik mit dem Versuch 69 70 71 72

Gräfin von Lösch (Fn. 3), 185. Vgl. Gräfin von Lösch (Fn. 3), 184 f. zu Goldschmidt. Siehe dazu oben Fn. 3. So das Urteil von Stolleis (Fn. 66), 185 f.

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paart, das römische Recht vor einer nationalsozialistischen Rechtslehre zu rehabilitieren, ändert am Charakter des Werks als Streitschrift nichts. Heute mag man das eine als mutig, das andere als naiv deuten, doch gehört beides zusammen.73 Mut hat immer etwas mit Naivität zu tun, wenn es als klug gilt, sich vor den Mächtigen mit Kritik zurückzuhalten. In der Sache selbst blieb Schulz ohne Konzessionen. Die Wahl des Themas und des Titels, die Auswahl der einzelnen „Prinzipien“, deren Reigen mit „Gesetz und Recht“ anhebt und mit „(Rechts-)Sicherheit“ endet, seine offene Rede und nicht zuletzt die Widmung des Buchs an seine Ehefrau, die – nach nationalsozialistischer Terminologie – „Volljüdin“ war, alles ist ein entschlossen gesetztes Zeichen gegen die Rechtlosigkeit und Menschenverachtung der nationalsozialistischen Herrschaft. Wie die Vorlesungen und das Buch gemeint waren, so wurden sie auch verstanden, und zwar – wie Flume formulierte – von „Freund und Feind“.74 Berüchtigt ist die Rezension von Heinrich Lange,75 der urteilte: „Die Schrift von Schulz . . . spiegelt die Unverbundenheit des Verf. mit dem neuen Staate wider und läßt von der Widmung bis zum Schlußwort unter dem Samte neutraler wissenschaftlich. Objektivität die Krallen der Gegnerschaft leise fühlen“.76 Es ist bemerkenswert, dass Lange die Widmung an die Ehefrau („coniugi carissimae consorti fidissimae vitae“) und das Schlusswort benennt. Er hätte, ohne dass der Stil darunter gelitten hätte, schreiben können: „vom Anfang bis zum Ende“ oder „von der ersten bis zur letzten Seite“ oder ähnlich. Offenbar kannte er die persönlichen Verhältnisse; und offenbar empfand er das Schlusswort keineswegs als „captatio benevolentiae“, sondern ähnlich, wie auch wir es verstehen: als Bekräftigung der aus den einzelnen Vorlesungen gezogenen Summe, dass ein Volk, das Nation und Tradition, Treue und Autorität verpflichtet war, eine andere als die zeitgenössische Rechtspraxis hervorbringen kann.

VI. Un manifesto Ob Langes Feststellung, wie Jakobs meinte, 1935 „lebensgefährdend“ war,77 mag hier dahinstehen. Zweifellos hat sie Schulz’ prekäre Situation 73 In anderer Absicht aber auch in diesem Sinne treffend formuliert Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 123: „It was a courageous, if not outright foolhardy thing to do so“. 74 Flume (Fn. 2), 505; einen Freund (nämlich F.A. Mann) zitiert Ernst in: Jurists Uprooted (Fn. 3), 123: „. . . a course of lectures on Principles of Roman law, which in truth und substance was nothing but a veiled attack on Nazi despotism and lawlessness“. 75 Lange Deutsche Romanistik? Grundsätzliche Bemerkungen zu Fritz Schulz „Prinzipien des römischen Rechts”, JZ 1934, 1493 ff. 76 Lange (Fn. 75), 1494. 77 Jakobs lucrum ex negotiatione – Kondiktionsrechtliche Gewinnhaftung in geschichtlicher Sicht, 1993, 104 Fn. 212; ähnlich (Jakobs zitierend) Knütel Anzeige zur italienischen Neuauflage (I Principii del Diritto Romano, 1995), SZ 114 (1997) 627 Fn. 2.

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nicht verbessert. Unbestreitbar ist der Mut, der dazu gehörte, diese Vorlesungen abzuhalten und gar zu publizieren. Solchen Mut vermissen wir Spätgeborenen heute bei vielen anderen Wissenschaftlern jener Zeit, die häufig ganz andere Töne anschlugen.78 Hätte es mehr Juristen, mehr Wissenschaftler, mehr Leute vom Schlage Schulz’ gegeben, wäre dem deutschen Recht, der deutschen Wissenschaft, wäre der ganzen Welt möglicherweise vieles erspart geblieben. Zu jeder Zeit gibt es zu viele Menschen, die keine Prinzipien haben oder – was dasselbe ist – sie nicht verfechten; nicht immer aber hat das so dramatische Folgen wie im Deutschland der Dreißigerjahre. Dass Fritz Schulz seinen Prinzipien treu geblieben ist, hat er persönlich teuer bezahlt. Uns hat er dadurch nicht nur ein Zeugnis des geistigen Widerstands hinterlassen, sondern auch ein großes wissenschaftliches Dokument, ein „‚manifesto’ in difesa di una grande tradizione“.79 Schulz geht es in den „Prinzipien“ um den geistesgeschichtlichen Grund des römischen Rechts, um die Bedingungen, unter denen eine Rechtsordnung entstehen konnte, die über Jahrhunderte und noch heute als modellhaft angesehen wird. Dass er dafür die verfügbaren Quellen insgesamt auszuschöpfen suchte, reiht ihn in die Tradition der modernen, von Mommsen begründeten Historiographie ein. Gleichzeitig stellte sich Schulz mit dem Buch aber gegen eine historisierende, nur Textkritik und Institutionengeschichte pflegende Romanistik, wie sie die ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dominierte. Sein inhaltliches Anliegen, das Modellhafte des römischen Rechts zu zeigen, kann am besten in den Worten von Ihering beschrieben werden, in dessen Nachfolge Schulz sich sah: „Mein Augenmerk ist nicht das römische, sondern das Recht, erforscht und veranschaulicht am römischen, m.A.W. meine Aufgabe ist mehr rechtsphilosophischer und dogmatischer Art als rechtshistorischer, den letzten Ausdruck in dem Sinn genommen, in dem unsere heutige Wissenschaft die Aufgabe der Rechtsgeschichte erfaßt und zu lösen sucht“.80

78 Vgl. etwa Stolleis (Fn. 66), 184 ff. (zu Schönbauer und Kaser) und ders. Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 3. Band: 1914–1945, 1999, 338 ff.; Kohlhepp Franz Wieacker und die NS-Zeit, SZ 122 (2005) 203 ff. 79 So Archi in: Schiavone/Cassandro (Hrsg.) La giurisprudenza romana nella storiografia conemporanea, 1982, 98, 100. 80 Ihering (Fn. 44), Vorwort zur 2. Auflage, 1. Theil, 1866, IX.

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Hugo Preuß (1860–1925) Privat-Dozent Dr. Hugo Preuß CHRISTOPH MÜLLER I. II. III. IV. V. VI.

VII. VIII. IX. X.

Entwicklung bis zur Promotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Grundorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Habilitation 1889 und erste Zeit als Privat-Dozent . . . . . . . Konflikt des Stadtverordneten Preuß mit dem Kultusminister Bosse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Antrag von Preuß auf Ernennung zum außerordentlichen Professor 1896 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Disziplinarfälle Arons und Preuß . . . . . . . . . . . . . . . 1. Disziplinarverfahren gegen den Privat-Dozenten Dr. Arons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Disziplinarverfahren gegen den Privat-Dozenten Dr. Preuß Zweiter Antrag 1902/03 auf Ernennung von Preuß zum a.o. Professor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ausweichen an die Handelshochschule 1906 . . . . . . . . Dritter Antrag 1910 auf Ernennung von Preuß zum a.o. Professor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Letzter Versuch 1925 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1889 habilitierte sich Hugo Preuß an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin für Öffentliches Recht1 mit einer Arbeit über Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften.2 Seitdem gehörte er als Privat-Dozent zum Lehrkörper der Universität. Drei Versuche scheiterten, ihn als außerordentlichen Professor an die Juristische Fakultät zu berufen. In Zusammenhang mit den Entwicklungen der Universität gegen Ende des Kaiserreichs ist das voller Merkwürdigkeiten, denen hier etwas nachgegangen werden soll. 1 Für Verwendung von Archivalien danke ich dem Universitätsarchiv Göttingen, dem Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Den ersten Zugang zu einem Nachweis aus Akten verdanke ich Gillessen Hugo Preuß. Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik (1955), hrsg. von Friedrich, 2000. Seit 1955 hat sich die Aktenlage allerdings deutlich verbessert. 2 Preuß Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer Staatskonstruktion auf der Basis der Genossenschaftstheorie, 1889, gewidmet Otto von Gierke, „dem Vorkämpfer deutscher Genossenschaftstheorie“.

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I. Entwicklung bis zur Promotion Hugo Preuß wurde am 28. Oktober 1860 in Berlin geboren. Sein Vater Louis Preuß (1821–1862) war Inhaber einer lithographischen Anstalt, eines eher mittelständischen Unternehmens. Er verstarb bald nach der Geburt seines Sohnes, im Jahre 1862. Von seiner Mutter, Minna Preuß, geb. Israel (1826–1899), wissen wir so gut wie nichts. Der Bruder des Vaters, Leopold Preuß (1827–1905), der als Getreidehändler zu einigem Vermögen gekommen war, kehrte aus den USA zurück, heiratete 1866 die Witwe seines Bruders und nahm sich des vaterlosen Kindes an. Erst als Student hat Hugo Preuß vom frühen Tod seines Vaters erfahren. In der Familie wird berichtet, dass ein herzliches und freundschaftliches Verhältnis zu seinem Stiefvater bestand, der nach den ersten, wohl etwas beengten Lebensjahren dafür sorgte, dass Hugo Preuß in „gutbürgerlichen“ Verhältnissen aufwachsen konnte, sicherlich im Geiste eines aufgeklärten Liberalismus. Er besuchte das Louisenstädtische Gymnasium und legte hier 1879 die Reifeprüfung ab. Von 1879 bis 1883 studierte er Rechtswissenschaft, zunächst drei Semester in Berlin, leistete in den ersten beiden Semestern seinen Militärdienst als „Einjähriger“ beim 2. Garde-Dragoner-Regiment ab, ging dann für drei Semester nach Heidelberg und kehrte im Herbst 1882 nach Berlin zurück. Sein Studium war kurz und zugleich weitgespannt: Er hörte in Berlin bei Rudolf von Gneist Pandektenrecht und Staatsrecht, bei dem „Kathedersozialisten“ Adolf Wagner volkswirtschaftliche und bei Gustav Droysen und Heinrich von Treitschke historische Vorlesungen, in Heidelberg bei Johann Caspar Bluntschli und August von Bulmerinq Staats- und Völkerrecht, und bei Kuno Fischer Vorlesungen über Goethes Faust, Arthur Schopenhauer und Geschichte der Philosophie. Am 11. Mai 1883 legte er am Königlichen Kammergericht zu Berlin sein Erstes Juristisches Staatsexamen ab und wurde am 30. November 1883 in Göttingen promoviert, ohne dort studiert zu haben, als Externer, mit einer zivilrechtlichen Arbeit.3 Das Thema seiner Disserta3 Preuß Über den Eviktionsregreß des in possessorio unterlegenen Käufers, handgeschrieben (Universitätsarchiv Göttingen, Jur. Prom. 0.2772). Sie ist, wie wir von Romanisten hören (Horst Eitner), eine glänzende, primär aus Quellen gearbeitete Studie, die z.T. vorwegnimmt, was in seiner Habilitationsschrift Rabel Die Haftung des Verkäufers wegen Mangels im Rechte, 1902, abschließend dazu geschrieben hat. Beide Arbeiten sind durch das BGB vom 1.1.1900, § 440 II a.F., gegenstandslos geworden. Vgl. Schefold in: Preuß Gesammelte Schriften, Band 2 – Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich (hrsg. und eingeleitet von Schefold) 2009, Einleitung 1 Fn 1. – Die Promotion von Externen war zulässig. Die Veröffentlichung der Dissertation war nicht obligatorisch, der damalige Göttinger Dekan Hartmann bestätigte für das Habilitationsverfahren in Berlin, dass die Arbeit sich „durch Selbständigkeit der Auffassung und Formgebung bedeutend über das gewöhnliche Niveau erhebt“, für einen Abdruck dieser druckwürdigen Arbeit in einer Fachzeitschrift aber hätte sie stark gekürzt werden müssen, so dass damals ein Druck nur

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tion erscheint als Fremdkörper in seinem ganz und gar dem öffentlichen Recht und der politischen Publizistik gewidmeten Leben. Das bedeutete aber keinen Bruch in seiner Lebenslinie. Das Thema war nicht selbstgewählt; es handelte sich um die Hausarbeit, die ihm vom Kammergericht für das Große Staatsexamen aufgegeben worden war.4 Bevor am 1. Januar 1900 das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) in Kraft trat, stand ein Jurastudium ganz im Zeichen des römischen Rechts. Die Dissertation zeigt, dass er in der pandektistischen Welt vor Erlass des BGB völlig heimisch war. In der Zeit zwischen 1883 und 1885 war er im juristischen Referendariat in Wittenberge und Berlin tätig, ließ sich aber, wegen wissenschaftlicher Studien, im Februar 1885 für ein Jahr beurlauben, schied im Februar 1886 endgültig aus dem Justizdienst aus und legte deshalb auch kein Zweites Staatsexamen ab. Nach Berichten aus der Familie hatte ihm sein Stiefvater auf seine Bitte eine Rente ausgesetzt, um ihm die unabhängige, für einen Juden aber höchst unsichere Existenz eines Gelehrten zu ermöglichen. Der junge Intellektuelle heiratete 1890 Else Liebermann, die Tochter des berühmten Chemieprofessors und Entdeckers Carl Liebermann, enge Verwandte des Malers Max Liebermann, und Enkelin des großen Unternehmers Ferdinand Reichenheim. Es soll eine sehr erfüllte, glückliche Ehe gewesen sein. Wenn ihm die Umstände seines Lebens auch eine KassandraRolle aufnötigten – „Warum gabst du mir zu sehen/Was ich doch nicht wenden kann“5 – so war er doch als Mensch ganz dem Leben zugewandt, freundlich, humorvoll, kämpferisch und umgänglich.

II. Politische Grundorientierung Im jenem Urlaubsjahr 1885/86 legte er innerhalb kurzer Zeit eine ganze Serie von Veröffentlichungen vor.6 Schon im zweiten Jahrgang der Zeit„auf eigene Rechnung“ hätte geschehen können (Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv, Jur.Fak. 144, Bl. 65/66). Der von Preuß angebotene nachträgliche Druck wurde ihm von der Berliner Fakultät erlassen. 4 Die Dissertation war „eine etwas erweiterte Bearbeitung derjenigen Arbeit, auf Grund deren ich bei dem königl. Kammergericht im Mai d. J. das erste juristische Staatsexamen bestanden habe. Ich bitte dieselbe als Inaugural-Dissertation genehmigen zu wollen“, Antrag auf Promotion an Dekan Hartmann vom 30.10.1883, Universitäts-Archiv Göttingen (Fn. 3). 5 Diese Verse Schillers rief er 1909 seinem Freund Theodor Barth bei dessen Tod nach, siehe Preuß Gesammelte Schriften, Band 1 – Politik und Gesellschaft im Kaiserreich (hrsg. und eingeleitet von Albertin) 2007, Einleitung 1. 6 Preuß Deutschland und sein Reichskanzler gegenüber dem Geist unserer Zeit (1885), in: Preuß Schriften 1 (Fn. 5), 69–94; ferner in Band 2 (Fn. 3): Eine Entwicklungsgeschichte der deutschen Einheit (1885), 94-98; Kolonialpolitik und Reichsverfassung (1885), 273– 281; Ein neues Handbuch des Völkerrechts (1885), 281–285; Die russischen Auslieferungsverträge und die Reichskompetenz (1885), 285–291.

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schrift „Die Nation“ des freisinnigen Theodor Barth gehörte er zu ihrem Autoren- und Freundeskreis. Er schrieb auch in einer Schriftenreihe, die Rudolf Virchow und Franz von Holtzendorff, ebenfalls Vertreter des Freisinns, herausgaben. Er vertiefte sich insbesondere in das Schicksal von Franz Lieber,7 der mit 15 Jahren als Freiwilliger in den Freiheitskrieg gegen Napoleon gezogen und dort schwer verwundet worden war, nun aber erleben musste, wie die Freiheitshoffnungen seiner Generation bitter enttäuscht wurden. Die Polizeischikanen der „Demagogen“-Verfolgung vertrieben ihn. Er emigrierte nach einigen Irrungen und Wirrungen in die USA und wurde dort, auf einem verschlungenen Lebensweg, zu einem führenden Staatswissenschaftler und Völkerrechtler. Preuß war nicht nur von dem Lebensweg eines Opfers der Karlsbader Beschlüsse beeindruckt, sondern vor allem von den englischen und amerikanischen Freiheiten der neuen Heimat fasziniert, die Franz Lieber gerühmt hatte: „Amerikanische Freiheit gehört zu dem großen Stamm der Englischen Freiheit“, sie ist gegründet auf „Schranken, Schutzwehren und die Selbstverwaltung“. „Das Schwurgericht, die Volksvertretung, das gemeine Recht, die Selbstbesteuerung, Oberherrschaft des Gesetzes, Öffentlichkeit, Unterwerfung des Heeres unter die Gesetzgebung [. . .] bildet einen Theil unserer Freiheit.“ Dazu kamen – aus dem gleichen Geist – noch speziell amerikanische Errungenschaften: „Freistaatliche Bundesverfassung, scharfe Trennung des Staats von der Kirche, größere Gleichheit und Anerkennung von Bürgerrechten an sich, und ein mehr volksmäßiger demokratischer Geist des ganzen Staatswesens.“8 Preuß schreibt: „Selten oder nie hat die Verfassung eines Staates die ganze Menschheit so bereichert, als jene Urkunde, die mit den stolzen Worten beginnt: ‚We, the people of the United States‘!“.9

Wichtig und prägend wurde für Hugo Preuß die enge freundschaftliche Verbindung mit Theodor Barth, der sich 1884 der Deutschen Freisinnigen Partei angeschlossen hatte und zur Seele der Opposition gegen den „deutschnational“ gewordenen Liberalismus wurde. Von Haus aus war Barth Anhänger des Freihandels. Als Wirtschaftsliberaler war er entschiedener Gegner des sog. „Staatssozialismus“. Mit seinem Politikwechsel von 1878/79 hatte sich Otto von Bismarck von der nationalliberalen „Reichsgründungspartei“ mehr und mehr abgewandt, um im Bunde mit „Kathedersozialisten“ und einem Teil des Zentrums eine Art von „sozialem Königtum“ zu entwickeln. Hatte er den preußischen Liberalismus im Budgetkonflikt spalten und damit 7 Preuß Aus den Denkwürdigkeiten eines Deutsch-Amerikaners (1885), in: Preuß Schriften 2 (Fn. 3), 291–296; ferner: Bluntschli und Lieber (1886), in: Preuß Schriften (Fn. 3), 297– 310; Franz Lieber, ein Bürger zweier Welten (1886), in: Preuß Schriften 2 (Fn. 3), 310–333. 8 Lieber Über Bürgerliche Freiheit und Selbstverwaltung (Original amerik.: On Civil Liberty and Selfgovernment, 1859), 1860, 216 f. Vgl. dazu Ohno Selbstverwaltung, Selbstregierung und Freiheit. Franz Lieber und Rudolf Gneist in Deutschland und Japan, Jahrbuch des öffentlichen Rechts 56 (2008) 75 (78, 88). 9 Preuß Schriften 2 (Fn. 3), 342.

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schwächen können, so marginalisierte er nun, auf Reichsebene, die „Reichsgründungspartei“. Auf der Suche nach einem Ausweg, wie die von Bismarck ruinierte liberale Bewegung ihre Schwäche überwinden könnte, sahen Barth und Preuß nur noch eine Chance: die liberalen „Revisionisten“ mussten mit den sozialdemokratischen „Revisionisten“, dem reformorientierten Flügel der Sozialdemokratie, Wege der Kooperation suchen.10 Im liberalen Lager, besonders Norddeutschlands, fanden diese frühen Bemühungen um eine sozialliberale Koalition keineswegs allgemeine Billigung. Trotz scharfer Kritik an ihren utopischen Zielsetzungen war die Sozialdemokratie für Barth und Preuß Erbin vieler liberaler Forderungen. Die Zusammenarbeit der „bürgerlichen“ Schichten mit dieser Säule der Demokratie wäre nötig und ausreichend gewesen, um den Zivilisationsbruch von 1933 zu verhindern, war aber weder zu Lebzeiten Bismarcks, noch unter dem „persönlichen Regiment“ Wilhelms II. denkbar und scheiterte später unter Hindenburg. Wer die Ziele von Barth und Preuß verfolgte, stand noch über ein halbes Jahrhundert außerhalb der „Volksgemeinschaft“, wie sie der Obrigkeitsstaat definiert hatte.

III. Habilitation 1889 und erste Zeit als Privat-Dozent Als sich Preuß an die Ausarbeitung seiner Habilitationsschrift machte, hatten sich seine politischen Grundpositionen schon weitgehend geklärt und gefestigt. Aber er wollte tiefer graben, um ein tragfähiges theoretisches Fundament zu finden. Er fand seinen „Leitstern“ in der Genossenschaftstheorie Gierkes, ging aber über ihn hinaus.11 Weder Gierke noch der Erstgutachter Bernhard Hübler und der Zweitgutachter Rudolf von Gneist teilen die Meinung von Preuß, der „Begriff der Souveränität“ könne aus der Staatsrechtslehre eliminiert werden. Aber sie waren von dieser überaus gründlichen, tief in die Probleme eindringenden Arbeit beeindruckt.12 10 Albertin Liberaler Revisionismus: Theodor Barth und Hugo Preuß, in: Lehnert/ Müller (Hrsg.) Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft. Symposion zum 75. Todestag von Hugo Preuß am 9. Oktober 2000 im Rathaus von Berlin, 2003; jetzt vor allem Albertin in seiner Einleitung in: Preuß Schriften 1 (Fn. 5), 1–70 (15). 11 „Freilich erlaubten auch die Lehren Gierke’s, weil sie doch hauptsächlich an Fragen des Privatrechts ausgebildet und entwickelt worden, keine unveränderte Uebertragung auf die staatsrechtliche Konstruktion“. Aber er fährt fort: „Nirgends mehr, als wo ich ihn bekämpfe, fühle ich mich als Gierke’s Schüler“, Preuß (Fn. 2), VII. 12 Zwar rühmt Gneist sie als eine „reife Arbeit“, die in „tief durchdachter“ Darstellung die schwierigsten Fragen der bundesstaatlichen Struktur des Reiches verarbeitet, „was ohne langjähriges Studium nicht möglich ist“; aber mit Hübler ist er der Meinung, „daß man den Begriff der Souveränität nicht eliminieren kann, ohne das Wesen des Staats in seiner beherrschenden Stellung über der Gesellschaft aufzuheben“ (Archiv HumboldtUniversität (Fn. 3, Bl. 71 R).

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Über nahezu alle wesentlichen Punkte seines Vorlesungsprogramms liegen Veröffentlichungen vor, so dass wir sein Profil als Privat-Dozent ziemlich genau rekonstruieren können. Auch seine späteren praktisch-politischen Positionen, gerade auch in seiner Funktion von 1918/19 als „Verfassungsminister“, hat er in seiner frühen akademischen Zeit als Forscher und Lehrer des öffentlichen Rechts an der Berliner Juristenfakultät durchdacht. Als einziger Lehrer der Fakultät kündigt er seit dem SW 89/90 einige Male Vorlesungen an über „Allgemeines und vergleichendes Bundesstaatsrecht (Deutsches Reich, Schweizer Eidgenossenschaft, Vereinigte Staaten von Nordamerika)“, erneut im WS 90/92 und SS 93. Die letzte Vorlesung wurde „nicht gelesen“, vermutlich mangels Interesse der Studenten (tres faciunt collega). Vielleicht störte es, wenn Preuß das Staatsrecht weniger von dem obligaten preußischen Standpunkt aus auffasste, sondern eher aus der Perspektive einer neuartigen „Reichspublizistik“, etwa in der Linie von Althusius, Pufendorf, des Frh. vom Stein und der Paulskirchenbewegung. Er schwenkte jetzt jedenfalls auf die allgemeine Linie ein, in der das Staatsrecht auf das Deutsche Reich und auf Preußen beschränkt blieb. Die ihn am meisten beschäftigenden – innovativen – Ideen zur Bundesstaatsthematik waren in verfassungshistorischen und staatstheoretischen Veranstaltungen weniger anstößig, als im positiven Staats- und Verwaltungsrecht. In den Jahren von 1889 bis 1906 entwickelte der Privat-Dozent Hugo Preuß ein breit angelegtes Programm, mit dem er u.a. neben Gneist, der 1895 starb, neben Otto von Gierke und ab 1897 kurze Zeit auch neben Gerhard Anschütz, die Lehre im öffentlichen Recht an der Fakultät mittrug. Der Privatdozent Conrad Bornhak las mehrfach über die Stein-Hardenbergsche Periode und versuchte offenbar ein Kontrastprogramm zu Preuß zu entwickeln. Aber während Preuß diese Reformer als Impulsgeber für eine Entwicklung zur „Kulturhöhe“ des voll entwickelten Verfassungsstaats beschrieb, bemühte sich Bornhak um ihre „Borrusifizierung“.13 War es im Sommersemester 1889 nur eine einstündige Veranstaltung über Leben und Wirken hervorragender deutscher Staatsgelehrter,14 so folgten 13 Preuß bezeichnet seinen Kollegen Bornhak als „enfant terrible“ der reaktionärsten Traditionslinien des Staatsrechts „von [Karl Ludwig von] Haller über [Romeo] Maurenbrecher bis zu [Max von] Seydel“, Preuß Über Organpersönlichkeit. Eine begriffskritische Studie (1902), in: Preuß Schriften (Fn. 3), 153. 14 Schon über die erste Vorlesung des Privatdozenten, „Leben und Wirken hervorragender deutscher Staatsgelehrter“, versuchte Althoff, der Leiter der Hochschulabteilung des Ministeriums, sich ein Bild zu machen. Der mit der Visite betraute Beamte verstand aber offensichtlich nicht, worum es bei Preuß ging. Er berichtet über die Vorlesung vor 14 Zuhörern: „Dr. Preuß trug, anknüpfend an die Wirksamkeit des in der vorigen Stunde behandelten Staatsgelehrten Altusius (? Namen wurden in der ganzen Stunde nicht angeschrieben) über den Professor Arumaeus (?), welcher 1600 in Jena gelebt hat, vor und stellte seine Souverenetätslehre dar. Darauf kam der Professor Johannes Limnaeus (?) an die Reihe und seine neuen Bücher Iuris publici imperii Romani Germanici; und nach ihm sein

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bald Vorlesungen, Konversatorien und Übungen über das Staatsrecht der deutschen Gliedstaaten und des Deutschen Reichs, vor allem aber – was aus dem normalen Lehrprogramm völlig herausfiel – unter besonderer Berücksichtigung der Schweiz und der USA. Am erfolgreichsten waren seine Vorlesungen zur Verfassungsgeschichte Deutschlands und zu der der Europäischen Staaten, namentlich über die Entstehungsgeschichte des Europäischen Konstitutionalismus und die Geschichte der politischen Theorien seit der Renaissance. Neben Rechtsphilosophie, Allgemeiner Staatslehre und dem Positiven Staatsrecht standen auch Lehrveranstaltungen über Deutsches und Preußisches Verwaltungsrecht, über die Preußische Verwaltungsorganisation, und staatswissenschaftliche Grenzgebiete wie das Steuerwesen des Reichs, Preußens und der Gemeinde. Gegen Ende der Vorlesungstätigkeit an „seiner“ Universität – 1906 – las er über Deutsches Städterecht. Preuß folgte zunächst Beseler und Gierke darin, dass er sein Konzept mit Begriffen der damals sog. „germanistischen“ Schule entwickelte, die sich gegen die sog. „romanistische“ Schule wandte. Aus heutiger Sicht ging es dabei vor allem um Rechtsaltertümer einer vor-absolutistischen Epoche in Deutschland, sofern sie entwicklungsfähige Elemente enthielt, wie etwa Einungswesen, Eidgenossenschaften, Schöffengerichte und andere „Volksrechte“. Dabei weitete Preuß seinen Blick in die Schweiz und in die angelsächsische Welt aus. Wegweisend war für ihn Rudolf von Gneist, der Schöpfer der preußischen Verwaltungsgerichtsbarkeit. In den Konflikten um die Preußische Heeresreform war Gneist ein Gegner Bismarcks gewesen. Für ihn empfand Preuß große Achtung. Ihn beeindruckte seine Humanität15 und seine rechtsstaatliche Gesinnung.16 Vor allem bewunderte er dessen profunde Studien zur Gegner Theodor Reinken (?) [. . .]. Daneben wurde auf die Lehren des Podirp (?) [gemeint vermutlich Bodin], Altusius (?), Conring Bezug genommen, lauter Namen, die wenigstens der nicht juristisch gelehrten Welt unbekannt sind und m.E. den Studirenden auch gar nicht bekannt zu werden brauchen. Nebenher polemisirt Preuß gegen den dominirenden Einfluß des römischen Rechts und glorificirt die Wissenschaft des öffentlichen Rechts. Nach meiner Ansicht wurde in der ganzen Stunde nur leeres Stroh gedroschen. Die Studirenden waren auch so vernünftig, nicht mitzuschreiben, bis auf zwei von wenig intelligentem Gesichtsausdruck, von denen der Eine zu stenographieren schien. Dr. Preuß hatte ein Heft vor sich liegen, aus dem er größere Partien in freier Weise ablas“, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), Rep. 92 Althoff A I Nr. 126 Bl. 10 f.). Auch andere Hochschullehrer, auch Gneist, wurden „visitiert“, aaO Bl. 232. 15 So war Rudolf von Gneist zusammen mit Heinrich Rickert [dem gleichnamigen Vater des Philosophen] Mitgründer des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, Zeiß-Horbach Der Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Zum Verhältnis von Protestantismus und Judentum im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, 2008. 16 Von Gneist Verwaltung, Justiz, Rechtsweg (1869), Neudruck Osnabrück 1978; ders. Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland2, 1879), Neudruck Darmstadt 1966.

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Englischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte.17 Das gab den Anregungen, die er von Lieber erhalten hatte, neue Nahrung. Allerdings erkannte Gneist nicht, dass die von ihm so eindrucksvoll beschriebene Wandlungsfähigkeit des englischen Parlamentarismus sich gerade auch in der Anpassung an den entstehenden modernen Industriestaat bewährte. Er betrachtete die großen englischen Wahlrechtsreformen des 19. Jahrhunderts, die das vordemokratische System Englands schrittweise demokratisierten, als destruktiv. Auch der große österreichische Gelehrte Josef Redlich, der der „Fabian Society“ nahestand, bewunderte, was Gneist in seinen regelmäßig in England durchgeführten Feldforschungen herausgefunden hatte. Aber er unterzog Gneist auch einer radikalen Kritik18 und wertete die Wahlrechtsreformen und die Demokratisierung des Parlaments positiv. Dem schloss sich Hugo Preuß an. Die sehr spezifische organische Theorie, für die Gierke den Grund gelegt hatte, entwickelte Preuß auf ganz eigenständige Weise weiter, auch und gerade gegen Gierke selbst. Beide lehnten sich an die revolutionäre Evolutionstheorie von Charles Darwin an. Sie gingen von vorgefundenen sozialen Strukturen aus, die sich aber „organisch“ weiterentwickeln und dann auch modifiziert werden konnten.19 Für sie waren vergesellschaftete Formen menschlichen Zusammenlebens ein Primärphänomen. Besonders Preuß ging immer wieder auf die Definition des Aristoteles von Zoon Politikón zurück, um naturrechtliche Vertragstheorien zu bekämpfen, die versuchten, soziale Strukturen auf individuelle Willenserklärungen zurückzuführen. Ihr Grundkonzept wurde aber von den Fachkollegen meist missdeutet und ihre sehr spezifische Begriffsbildung oft mit anderen Varianten einer organischen Theorie gleichgesetzt, etwa der Bluntschlis, obwohl sich schon Gierke und erst recht Preuß von dessen „Naturalismus“ und „Mystizismus“ deutlich distanziert hatten. In diesem ersten „Methoden- und Richtungsstreit“ der deutschen Staatsrechtslehre ging es nicht um „Positivismus“ vs. „AntiPositivismus“. So kritisierte Preuß an Carl Friedrich von Gerber und Paul Laband im Grunde nur die individualrechtliche Denkweise, die aus dem römischen Zivilrecht stammte, und die ihm willkürlich erscheinende – „aprioristische“ – Begriffsbildung. Für die juristische Erfassung sozialer Strukturen und als Grundlegung für ein neuartiges Öffentliches Recht hielt er ihre methodische Orientierung für unbrauchbar. 17 Von Gneist Das englische Parlament in tausendjährigen Wandlungen vom 9. bis zum 19. Jahrhundert, 1886. 18 Redlich Englische Lokalverwaltung. Darstellung der inneren Verwaltung Englands in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrer gegenwärtigen Gestalt, 1901. 19 Das Stichwort von einem „organischen“ Verständnis des Lebens, das aus dem Themenkreis der naturwissenschaftlichen Entwicklungstheorie stammt, findet sich bei Preuß schon sehr früh, Preuß Ein neues Handbuch des Völkerrechts (1885), in: Preuß Schriften 2 (Fn. 3), 282. Zum „Darwinismus der Jurisprudenz“, siehe Schefold (Fn. 3), 23.

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Das gilt, um das nur an einem Beispiel zu erläutern, vor allem für die Art und Weise, wie Preuß die Diskussion des Begriffs „Bundesstaat“ ganz neu thematisierte. Er lehnte es ab, die juristische Konstruktion in der Art scholastischer Dogmatik aus dem „Begriff“ von Staat abzuleiten, unterzog die herrschende Jurisprudenz einer immanenten Ideologiekritik und suchte speziell für das Problem des Bundesstaats einen ganz anderen Ausgangspunkt. Er knüpfte bei seiner juristischen Arbeit an empirisch-verfassungsgeschichtliche Entwicklungen an. In enger kritischer Verbindung von praktischer Politik und theoretischer Wissenschaft kam er zu der heute plausibel erscheinenden Annahme, die damals hochkontrovers war, dass die sozialökonomische und sozialkulturelle Entwicklung auf den westeuropäischen demokratischen Verfassungsstaat zuläuft.20 In Zusammenhang damit stand sein Bemühen, Entwicklungsmomente zu finden und konstruktive Theoreme zu entwickeln, um die Verfassungsstrukturen, von der Basis der von Bismarck geschaffenen Tatsachen aus, in dieser Richtung weiterzuentwickeln. Dem „Schein-Föderalismus“ des Deutschen Reichs, wie ihn Bismarck konzipiert hatte, setzte Preuß als Kontrastmodell den amerikanischen und bald auch den schweizerischen Bundesstaat gegenüber, die untereinander in Größe und sozialökonomischer Struktur so verschieden waren, aber eine neue, höhere Stufe der politischen Organisation darstellten. Preuß wird gelegentlich vorgehalten, er habe nicht genug Verständnis für die Verfassung des „Föderalismus“ gehabt. Sein Konzept des „dezentralen Einheitsstaats“, das er schon in seiner Zeit als Privat-Dozent entwickelte, orientierte sich aber nur an einem neuen Modell von Föderalismus, wie er im nordamerikanischen und im schweizerischen „Bundesstaat“ entstanden war, und der sich von einem „Staatenbund“, etwa nach Art des Deutschen Bundes oder von dem Schweizerischen Bundesvertrag zwischen den souveränen Kantonen von 1815, grundlegend unterschied. Modell USA: Geschaffen wurde der Bundesstaat des „neuen Typus“ in den USA in einem jahrzehntelangen Ringen zwischen den Südstaaten, die auf ihren Plantagen Sklavenwirtschaft betrieben, und den Nordstaaten, die – natürlich nicht ohne Ausbeutung – bereits mit freier Arbeit wirtschafteten. In dem überaus blutigen Sezessionskrieg von 1861–1865 wird neu definiert, was unter „Föderalismus“ zu verstehen sei, und im Sinne der „Federalist Papers“ von 1788 entschieden. Schon in seiner frühen Beschäftigung mit Franz Lieber war Preuß auf das Thema der „Sezession“ gestoßen. Preuß rühmt den glänzenden Brief von Lieber an John C. Calhoun,21 der für die Südstaaten das Recht postuliert hatte, 20 Georg von Below kritisierte, verwundert und fast amüsiert: Preuß „lässt sich offenbar von dem Glauben an ein historisches Gesetz leiten, nach dem die Demokratie zu einer gewissen Zeit die Herrschaft erlangen muss, falls nicht die allgemeine Kultur Rückschritte machen soll“, Below Bürgerschaften und Fürsten, Historische Zeitschrift, 102 (1909) 528. 21 Preuß Franz Lieber, ein Bürger zweier Welten (1886), in: Preuß Schriften 2 (Fn. 3), 325.

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Gesetze des Kongresses nicht anzuwenden, wenn sie Interessen eines Einzelstaates verletzten (Nullifikationskrise 1832).

Wenn sich später in den Krisen der Weimarer Republik etwa Bayern weigerte, das Republikschutzgesetz anzuwenden, das der Reichstag nach der Ermordung Rathenaus beschlossen hatte, so hatte Preuß die verfassungsrechtlichen Probleme schon als Privat-Dozent durchdacht: Lieber stand auf der Seite von Daniel Webster, der gegen John C. Calhoun definiert hatte: „Die Unionsverfassung ist kein Vertrag zwischen den Einzelstaaten, sondern ein Grundgesetz über ihnen, dem sie unbedingten Gehorsam schulden; es gibt kein Recht der Nullifikation von Bundesgesetzen oder der Sezession aus dem Bunde; die Einzelstaaten haben ihren Status in der Union, sie haben keinen anderen Status.“22

Auf der gleichen Ebene liegt es, wenn Preuß später postulierte, eine „Nullifikation“ des Republikschutzgesetzes durch Bayern hätte mit der von ihm in der Weimarer Reichsverfassung (WRV) vorgesehenen Reichsexekution beantwortet werden müssen.23 Modell Schweizer Eidgenossenschaft: Ein ganz ähnliches Verständnis von Bundesstaat, wie es sich nach dem Sezessionskrieg in der Interpretation der nordamerikanischen Verfassung von 1789 durchsetzte, ließ sich auch in der Schweiz beobachten. Die Schweizerische Eidgenossenschaft blieb nicht verschont von den Konflikten der Zeit: die religiöse Einheit als Fundament des politischen Systems war zerbrochen, und die sozialökonomischen Strukturen veränderten sich dramatisch. Zwischen ländlich-agrarischen und städtisch-urbanen Interessen, zwischen städtischer Zunftverfassung und der sich entwickelnden „industriellen“ Gesellschaft mit ihren liberalen Strömungen waren Spannungen entstanden. Die Erschütterungen der Französischen Revolution hatten auch die22

Preuß Um die Reichsverfassung von Weimar (1924), in: Preuß Gesammelte Schriften, Band 4 – Politik und Verfassung in der Weimarer Republik (hrsg. und eingeleitet von Lehnert) 414. 23 Lehnert Einleitung in: Preuß Schriften 4 (Fn. 22), 35 f., 47 f.; Preuß kritisiert die „dilettantische Fahrigkeit“ bei der Nichtanwendung von Art. 48 WRV gegen das abtrünnige Bayern, den die Verfassungsberatungen in dritter Lesung allerdings auch deutlich verschlechtert hatten, vgl. hier Preuß Schriften (Fn. 22), 382. Für ihn ging es um das gleiche Phänomen wie in der „Sezessionsproblematik“ der USA. Durchdacht hatte Preuß das Problem der Reichsexekution schon in Preuß Friedenspräsenz und Reichsverfassung (1887), in: Preuß Schriften 2 (Fn. 3), 393 f. Hinter der „Nullifikation“ des Republikschutzgesetzes in Bayern stand die mit Calhoun übereinstimmende Theorie von Max von Seydel, der dem Bundesstaat des neuen Typus, wie er nach dem Sezessionskrieg in den USA und dem Sonderbundskrieg in der Schweiz entstanden war, die „wissenschaftliche“ Berechtigung absprach, Seydel Der Bundesstaatsbegriff. Eine staatsrechtliche Untersuchung, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 28 (1872) 224. Schon 1887 steht Preuß deutlich vor Augen, dass Verfassungssätze, ohne Unterstützung durch eine politische Kultur, machtlos sind: „Gegen den Verfassungsbruch seitens eines Faktors der Gesetzgebung kann die Verfassung wohl Schutzmittel geben [. . .]; gegen den gemeinsamen Verfassungsbruch beider ist dies unmöglich.“ „Das Wunderliche dabei ist nur, daß man sich darüber wundert, [. . .] daß eine Maschine, aus der man das Triebrad herausnimmt, stehen bleibt“ Preuß Schriften 3 (Fn. 3), 394.

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ses Land erreicht, das von Napoleon in eine zentralistische „Helvetische Republik“ verwandelt worden war, aber 1830 erneut in den Sog revolutionärer Entwicklung geriet. Die wechselvollen Kämpfe zwischen freisinnig oder konservativ regierten Kantonen führten dazu, dass katholisch-konservative Kantone einen „Sonderbund“ schlossen. Auf der Tagsatzung24 1846 beantragte Zürich, den Sonderbund für aufgelöst zu erklären. Als 1847 in weiteren Kantonen liberale und radikale Parteien zur Macht kamen, beschloss die Tagsatzung zu Bern 1847, militärisch gegen den Sonderbund vorzugehen, der die Einheit der Conföderation mit Sezession bedrohte. Dabei traf es juristisch nicht zu, diese Entscheidung mit dem Schweizerischen Bundesvertrag von 1815 zu begründen, der völkerrechtliche Einstimmigkeit vorsah.25 Diese veraltete Rechtsordnung wurde im Sonderbundskrieg revolutionär zerbrochen. General Guillaume-Henri Dufour besiegte die Truppen des Sonderbundes.26 Auch das war ein „Sezessionskrieg“, der einen Austritt aus der Conföderation als Bruch der Verfassung ansah und ihn unter Einsatz von Zwangsmitteln verhinderte. Zwar erklärten Österreich, Preußen und Russland in einer diplomatischen Note, Veränderungen des Schweizerischen Bundesvertrags von 1815 nicht zulassen zu wollen, machten aber wegen eigener politischer Probleme – französische Februarrevolution und deutsche Märzrevolution – ihre Interventionsdrohung nicht wahr. Die Tagsatzung für die Bundesrevision setzte sich über die alte Revisionsregel der Einstimmigkeit hinweg, hob das quasi-völkerrechtliche Prinzip der Gleichheit aller Kantone auf – auch wenn man das „Wort“ von der Souveränität der Kantone weiter tolerierte –, und erklärte den Austritt aus der Eidgenossenschaft, einer Organisation der Gesamtheit des Schweizer Volkes, für unzulässig. Die „Regeneration“ der Schweiz schuf einen Ständerat, einen Nationalrat, einen Bundesrat, ein Bundesheer und ein Bundesgericht, also – neben der Autonomie der Kantone – auch neuartige zentrale Instanzen. So verdankt auch die Schweiz ihre moderne Verfassung einer revolutionären Neugründung, unter Bruch und der Überwindung alten Rechts.27 Die Grundstrukturen dieser damals geschaffenen Verfassung haben sich bis heute bewährt.28 24

Bezeichnung bis 1848 für den auf einen „Tag festgesetzen“ Zusammentritt der „bevollmächtigten Boten“ der souveränen „Orte“ zu einem „eidgenössischen Gesandtenkongress“, um gemeinsame Geschäfte zu beraten (Historisches Lexikon der Schweiz). 25 Der Bundesvertrag zwischen den XXII Kantonen der Schweiz vom 7.8.1815, abgedruckt in: Bluntschli Geschichte des schweizerischen Bundesrechts von den ersten ewigen Bünden bis auf die Gegenwart, Band II (Urkundenbuch)2, 1875 (Nachdruck Vaduz 1977), 358–368. 26 General Dufour sorgte in diesem Krieg von 27 Tagen für die Einhaltung humanitärer Grundsätze und hatte vor Augen, dass nach den kriegerischen Verwicklungen ein Zusammenleben wieder möglich sein musste. Aber es handelte sich um eine kürzere, mildere, von vornherein auf Versöhnung gerichtete Form von Sezessionskrieg gegen abtrünnige Kantone. 27 Vor der Regeneration waren die Delegierten der Kantone Träger imperativer Mandate gewesen, wie auf einem Gesandtenkongress. Nachdem die Volkssouveränität sich nun aber auf die Eidgenossenschaft als „Gesamtheit des Schweizer Volkes“ bezieht, entsteht – mit Rousseau und über Rousseau hinaus – auf revolutionärem Wege eine repräsentative Versammlung mit freiem Mandat. Zu den Einzelheiten dieser Entwicklungen, siehe Schefold Volkssouveränität und repräsentative Demokratie in der schweizerischen Regeneration. 1830–1848, 1966, 220 ff., vgl. auch 17 ff., 235 ff. 28 Die schweizerische „Regeneration“ stand im Zeichen moderner, liberaler Ideen, verfolgte aber zugleich den Ausgleich mit den Unterlegenen. Sie führte, wie die USA, Gewis-

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Das neue, über den alten Typus des „Staatenbundes“ zum „Bundesstaat“ hinausführende Element war die nordamerikanische Lehre von den „Implied Powers“. Damit sind ungeschriebene „Annexkompetenzen“ gemeint, die mit den juristisch formalisierten Kompetenzen – als Denkvoraussetzungen – notwendig verknüpft sind. Hier lag für Preuß auch nach 1918 der eigentliche Grund, unbedingt an den zentralen Strukturen festzuhalten, die die Bismarck-Verfassung immerhin durchgesetzt hatte, um sie gegen sog. „föderale“ Einwände im Sinne des von Bismarck überwundenen Deutschen Bundes zu verteidigen. Preuß resümiert: auch „das wirkliche Staatsleben des deutschen Reichs hat sich in erheblichstem Maße aus jenen Implied Powers entwickelt“.29 An diesem Modell von Bundesstaat, mit dem er sich als Privat-Dozent in Forschung und Lehre seit seiner Habilitationsschrift auseinandergesetzt hatte, nahm Preuß Maß für seinen jahrzehntelangen Kampf um eine Weiterentwicklung der Bismarck-Verfassung. Eine „Regeneration“, wie sie der Schweiz 1848 gelang, scheiterte 1848 in Deutschland an den Machtstaaten Preußen und Österreich. Was Preuß als „dezentralen Einheitsstaat“ verstand, entsprach dem neuen Modell von Föderalismus, wie ihn die „Volksstaaten“ der USA und der Schweiz gegen alle Widerstände durchgesetzt hatten. Freunde konnte sich Preuß damit weder unter den Kollegen in seiner Fakultät noch im Kultusministerium erwerben, wenn er, der Gegner der Bismarck-Verfassung, gerade an solchen dem Reich seit 1871 zugewachsenen Verfassungsstrukturen festhielt, und mit denen er – als Reichspublizist – über das Preußen-Deutschland Bismarcks hinausdenken konnte. Niemand verstand die „Regeneration“, die ihm vorschwebte. Nachdem er als Privatdozent sieben Jahre lang die Lehre der Fakultät mitgetragen hatte, war Hugo Preuß der Meinung, seine Berufung zum außerordentlichen Professor sei eigentlich gerechtfertigt, auch wenn die Fakultät das offensichtlich anders sah. Während eine solche „Beförderung“, wie man damals auch sagte, gewöhnlich von der Fakultät beantragt wurde, stellte Hugo Preuß, was auch zulässig war, im Jahre 1896 diesen Antrag selbst. Das deutet immerhin auf erhebliche Schwierigkeiten in der Fakultät hin, was sich dann auch bestätigte. Hier schürzte sich ein Knoten, der sich nicht mehr lösen ließ.

sensfreiheit und Religionsfreiheit ein, gab also den Jahrtausende alten staatskirchenrechtlichen Gewissenszwang auf, und bewies, dass diese neuen Menschen- und Bürgerrechte die zerstörerischen und religionsfeindlichen Züge gar nicht besaßen, die ängstliche Gemüter befürchtet hatten. 29 Preuß Rezension von Trieps Das deutsche Reich und die deutschen Bundesstaaten in ihren rechtlichen Beziehungen (1891), in: Preuß Schriften 2 (Fn. 3), 773; dazu Schefold (Fn. 3), 26.

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IV. Konflikt des Stadtverordneten Preuß mit dem Kultusminister Bosse 1892 hatte Robert Bosse die Nachfolge des Kultusministers Robert von Zedlitz-Trützschler (1891–1892) angetreten, der mit seinem ultrakonservativen Volksschulgesetz gescheitert war. Reichskanzler Leo von Caprivi hatte 1891 die Ernennung von Zedlitz, eines protestantischen „Zeloten“,30 beim Kaiser durchgesetzt. Auf die taktischen Überlegungen, weshalb der eher etwas liberal eingestellte Caprivi einen konservativ-klerikalen Kurs steuern und sich dabei auf das „ultramontane“ Zentrum stützen wollte, was in Preußen sehr kontrovers war, gehe ich hier nicht ein. Zedlitz machte sich sogleich an die Ausarbeitung eines neuen Volksschulgesetzes, mit dem er die liberale Ära Falk (1870–1891) beenden wollte. Adalbert Falk war in der Zeit des Kulturkampfs Bismarcks Kultusminister gewesen und hatte u.a. mit dem Schulaufsichtsgesetz von 1872 die Aufsicht der evangelischen und katholischen Kirche über die Volksschule aufgehoben. Durch Falks Reskript vom 8. Juli 1875 war zwischen dem Ministerium und dem Magistrat der Stadt Berlin klargestellt, dass die Gemeindeschulen, als Träger des öffentlichen Schulzwangs, keinen konfessionellen Charakter tragen sollten, aber neben dem gemeinsamen Unterricht aller Kinder, neben dem evangelischen auch ein katholischer und ein jüdischer Religionsunterricht von Lehrkräften der entsprechenden Religionsgemeinschaften stehen sollte.

Zedlitz „erklärte die Religion zum höchsten Bildungsgut und räumte der Kirche die Stellung der obersten Bildungsautorität ein; der Schulvorstand sollte konfessionalisiert und Dissidentenkinder gezwungen werden, am Religionsunterricht teilzunehmen“.31 Das löste einen Sturm der Entrüstung aus, der auch die Nationalliberalen und Freikonservativen erreichte, so dass sich der Kaiser gezwungen sah, seinen Kultusminister Zedlitz-Trützschler zurückzuziehen; auch Caprivi wurde geschwächt und musste sein Amt als Preußischer Ministerpräsident aufgeben. Als nach dem Sturz von Zedlitz als neuer Kultusminister Bosse ernannt wurde, entspannte das die Situation aber nicht, sondern verschärfte sie. Allerlei Maßnahmen hatten den Eindruck entstehen lassen, „daß sich ein planmäßiger Angriff der Regierung“ gegen den seit 1875 bestehenden Zustand vorbereite. Der freisinnige Stadtverordnete Rudolf Virchow hatte 1895 beantragt, einen Ausschuss einzurichten, um das zu untersuchen. Der Magistrat hielt am nicht-konfessionellen Charakter der allgemeinen Gemeindeschulen fest. Der frischgewählte Stadtverordnete Preuß nahm sich der Sache mit Energie an. 30 31

Röhl Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie. 1888–1900, 2001, 492 ff. Röhl (Fn. 30), 493, 496.

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Preuß kritisierte Bosse: Wenn der Minister Zedlitz mit seinem gescheiterten Volksschulgesetz die Verhältnisse der Schule, wie sie seit 1875 bestanden, habe ändern wollen, so habe er wenigstens versucht, es „auf dem offnen ehrlichen Wege der Gesetzgebung“ durchzusetzen. Unter dem Minister Bosse dagegen würden die alten Ziele, die zum Sturz von Zedlitz geführt hatten, nicht etwa preisgegeben; sondern, anders als bei Zedlitz, nun auf administrativem Wege verfolgt, durch „Willkür der Verwaltung im Geheimniß der Akten“, wobei „die Kenntnis dieser Vorgänge“ öffentlich überhaupt nicht mehr zugänglich war. Preuß argumentierte: Wären die Schulen konfessionell, dann dürften andersgläubige Lehrkräfte nicht angestellt werden. Es sei aber unvertretbar, „sie zwar anzustellen, nachher jedoch als minderwerthig zu behandeln, sie zu maltraitieren“.32 Preuß berief sich dabei vor allem auf Rudolf von Gneist, dass nach dem geltenden preußischen Recht allein „eine gemeinschaftliche Schule der weltlichen Gemeinden mit Parallelklassen für den Religionsunterricht“ vereinbar sei.33

Kultusminister Bosse, der 1896 für eine Ernennung des Privat-Dozenten Dr. Preuß zum a.o. Professor zuständig war, wurde im Jahre 1895 zum politischen Gegner des Stadtverordneten Dr. Preuß. Man wird es nicht als haltlose Spekulation abtun können, wenn vermutet wird, dass diese Gegnerschaft beiderseitig war. Parallel zum Konflikt um den Versuch, die kommunalen Volksschulen zu rekonfessionalisieren, entwickelte sich ein anderer Konflikt an der Universität, der als Kampf um die „Lehrfreiheit“ betitelt wird, sich aber speziell auf die Elimination von politisch missliebigen Wissenschaftlern richtete, nachdem die Verlängerung von Bismarcks Sozialistengesetz im Reichstag gescheitert war. Auch dieser Konflikt hatte seinen Dreh- und Angelpunkt im Kultusministerium. Hier wurde ein Gesetzentwurf, „Die Disziplinarverhältnisse der Privat-Dozenten betreffend“ vorbereitet. In der Zuständigkeit von Bosse verhakten sich zwei Disziplinarfälle von Privat-Dozenten: – der „Fall Arons“ und der „Fall Preuß“.

V. Erster Antrag von Preuß auf Ernennung zum außerordentlichen Professor 1896 1895 hatte sich Preuß ein neues, außeruniversitäres Betätigungsfeld gesucht und sich in die Stadtverordnetenversammlung wählen lassen. In krisenhafter Überschneidung seiner wissenschaftlichen, universitären Ambitionen mit seinem Engagement in der Berliner Kommunalpolitik wollte 32 Preuß Die Maßregelung jüdischer Lehrerinnen an den Berliner Gemeindeschulen. Rede des Stadtverordneten Dr. Preuß, gehalten in der Sitzung der Stadtverordneten am 1. Dezember 1898 (Stenographischer Bericht nebst einer orientirenden Vorbemerkung), 1898, 25 f. 33 Von Gneist Die confessionelle Schule: ihre Unzulässigkeit nach preußischen Landesgesetzen und die Nothwendigkeit eines Verwaltungsgerichtshofes, 1869; ders. Die staatsrechtlichen Fragen des Preussischen Volksschulgesetztes, 1892.

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Preuß es 1896 offenbar wissen, woran er mit der Universität war. Preuß wird nicht nur gewusst haben, dass sein Rückhalt in der Fakultät – zumal nach dem Tod von Gneist – brüchig war. Seine Wahl zum Stadtverordneten wird ihm auch in der Fakultät keine neuen Freunde verschafft haben; denn Preuß arbeitete dort – horribile dictu – mit Sozialdemokraten zusammen.34 Vor allem war aber seine Bewerbung um Ernennung zum Extraordinarius, über die Bosse entscheiden musste, nicht nur riskant, sondern aussichtslos, nachdem er mit „seinem“ Kultusminister in einer Frage politisch zusammengestoßen war, die für Bosse politisch ganz im Zentrum stand. Gleichzeitig mit seinem „Gesuch“ lag dem Minister auch die Bewerbung von Conrad Bornhak vor, eines Kollegen, Altersgenossen und Konkurrenten von Preuß, der sich zum zweiten Mal als Privat-Dozent um eine „Beförderung“ zum a.o. Professor bewarb.35 In der Einschätzung einiger Mitglieder der Fakultät sprach für ihn sicher auch, dass er ein unbezweifelbarer Anhänger des monarchischen Prinzips war. Aber auch wenn Preuß gefühlt haben wird, dass es in der Fakultät beträchtlichen Widerstand gegen ihn gab, trat ein, womit er in dieser Form doch wohl nicht gerechnet hatte. Die Fakultät, die sich gutachtlich zu beiden Bewerbungen äußern musste, lehnte seine Ernennung zum a.o. Professor einstimmig ab, während sie die Bewerbung von Bornhak einstimmig befürwortete. Lange Wartezeiten waren damals gang und gäbe. Aber die Begründung muss für Preuß niederschmetternd gewesen sein, auch wenn die Fakultät die Klausel eingefügt hatte, seine weitere literarische Entwicklung abwarten zu wollen. „Die gehorsamst unterzeichnete Fakultät hat nach eingehender Berathung einstimmig beschlossen, das Gesuch des Herrn Dr. Preuß nicht zu befürworten und sich gegen die Ernennung des Gesuchstellers zum Extraordinarius an der 34 Die Stadtverordnetenversammlung wurde als „Hort von Liberalen, Juden und Sozialdemokraten“ beschimpft („Der Reichsbote“, GStA PK I HA, Rep 76, Nr. 49 Band 3 Bl. 32/33); Gustav Schmoller über Preuß: „Er ist einer der Häuptlinge des Berliner kommunalen Freisinns geworden, der, sozial auf semitischer Millionärsbasis beruhend, unsere Hauptstadt mehr oder weniger beherrscht. Und es will mir immer vorkommen, daß in diesen Kreisen, so tüchtig und ehrbar sie sind, der politische Horizont und das politische Urteil doch zu sehr von dem einen Gedanken erfüllt ist: in ihren Kreisen sei eine solche Überlegenheit von Intelligenz, Charakter und Talent, daß es ungerecht und schädlich für Staat und Gesellschaft sei, daß ihr eng zusammenhaltender Kreis die Universitäten, das Heer, das hohe Beamtentum noch nicht so unbedingt beherrsche, wie das bezüglich der Stadt Berlin und ihrer Verwaltung der Fall sei“, in: Schmoller Walther Rathenau und Hugo Preuß. Die Staatsmänner des Neuen Deutschland (1916), 1922, 25. Das meinte wohl auch die Deutsche Kaiserin, wenn sie von den „Schäden“ sprach, an denen die Reichshauptstadt krankt (Fn. 53). 35 Bornhak Geschichte des preußischen Verwaltungsrechts, 3 Bände, 1884–1887; ders. Allgemeine Staatslehre, 1896. 1933 erklärte er, er habe „die Ideen des Nationalsozialismus vertreten, ehe an Nationalsozialismus zu denken war“, Heiber Universität unterm Hakenkreuz, 1991, 386; Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2 (Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914), 1992, 303 Fn. 159.

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hiesigen Fakultät auszusprechen“. Zur Begründung führt das Gutachten aus, dass von den sechs literarischen Arbeiten, auf die das Gesuch Bezug nahm, die ersten drei nicht berücksichtigt werden könnten, weil sie schon zur Begründung der Habilitation gedient hatten. Sie galten damit gewissermaßen als verbraucht. Der Aufsatz „Über die organische Bedeutung der Art. 15 und 17 Reichsverfassung“ wird auch inhaltlich scharf missbilligt; er „deckt sich mit der von ihm gehaltenen Habilitationsvorlesung und enthält [. . .] den mißlungenen Versuch, einen geistvollen Gedanken Hänels für die Konstruktion des heutigen deutschen Reichs als einer Monarchie zu verwerthen“. Was die drei nach der Habilitation erschienenen Schriften anbelange, „so bewegen sich die Abhandlungen über „Das Völkerrecht im Dienste des Wirtschaftslebens“ und über „Bodenbesitzreform“ lediglich auf dem Gebiete der theoretischen Nationalökonomie. [. . .] Für die Verleihung einer Professur in der juristischen Fakultät können sie nicht in Betracht kommen. Ebenso hat die [. . .] Abhandlung über „Reichs- und Landesfinanzen“ nicht einen staatsrechtlichen, sondern einen wesentlich finanzpolitischen und finanztechnischen Charakter. Sie kritisiert im Anschluss an die Tagespresse das Unfertige des heutigen Reichsfinanzwesens und den 1894 dem Reichstage vorgelegten Finanzreform-Entwurf und plädiert für eine organische Verbindung der preußischen und der Reichsfinanzverwaltung. Der Verfasser bekundet darin zwar gute finanzwissenschaftliche Kenntnisse, aber der juristische Gehalt der Arbeit ist so untergeordnet, daß die finanzpolitische Kernfrage, ob die sogenannte Franckensteinsche Klausel eine Verfassungsänderung bewirkt hat, nur nebenbei erörtert und mehr berührt als entschieden wird.“36

Das harsche Urteil über diese gewichtigen Arbeiten erstaunt. Es würde doch gerade für die besondere Spannweite von Preuß sprechen, dass er außer den bewiesenen juristischen Fähigkeiten sich auch in staatswissenschaftlichen Fragen gut auskannte. Die Begründung der Fakultät, mit der sie das Gesuch von Preuß ablehnte, erscheint aus heutiger Sicht nicht gerade überzeugend. Preuß bekämpfte die Theorie Labands, das Reich sei keine Monarchie, sondern eine Staatenrepublik, was heute eher skurril wirkt. Die Argumentation von Preuß über die innere Verbindung der Rolle von Reichskanzler und Preußischem Ministerpräsidenten und seine Versuche, die Entwicklung zu einer „nationalen Monarchie“ zu fördern, erscheinen heute als scharfsichtig und, im Sinne eines – damals allerdings allgemein missbilligten – Versuchs, die Bismarckverfassung dem westeuropäischen Verfassungsstaat anzunähern, gut durchdacht.37 Die 36

GStA PK, I HA Rep 76 Nr. 49 Band 2, Bl. 284–286. Preuß hat sich lange darum bemüht, die Reichsverfassung Bismarcks rechtzeitig wenigstens noch an die entwicklungsfähigen „parlamentarischen Monarchien“ Englands, Belgiens, der Niederlande und Skandinaviens anzupassen. Was seinen als „mißlungen“ bezeichneten Versuch angeht, das Reich als Monarchie zu deuten, so hat Preuß an seiner Kritik Labands immer festgehalten, der „dienstwillig“ auf die Intentionen des Scheinföderalismus der Bismarck-Verfassung eingegangen war: „Diese Konstruktion betonte die Staatlichkeit der landesfürstlichen Monarchien so nachdrücklich, daß dem Kaisertum der monarchische Charakter gerade von den strengen Monarchisten und im Namen des deutschen monarchischen Prinzips abgesprochen wurde“ Preuß Deutschlands Republikanische Reichsverfassung (1923), in: Preuß Schriften (Fn. 22), 324. 37

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sozialökonomische Begründung für eine notwendige Verknüpfung des herkömmlichen Staatsrechts mit dem Völkerrecht erscheint ebenfalls heute juristisch als wegweisend, war aber damals eine Minderheitsposition. Schließlich haben die sozialpolitischen Fragen der damals viel erörterten „Bodenbesitzreform“ starke Anknüpfungspunkte im öffentlichen Recht. Am meisten verwundert das negative Urteil über die eindrucksvolle Art, wie Preuß die verfassungsrechtlichen Fragen der Reichsfinanzverwaltung durchdacht hat, die auch juristisch nicht ohne intime Kenntnis ökonomischer Zusammenhänge gelöst werden können. Es klingt in dem Fakultätsgutachten fast so, als sei schon die Berücksichtigung von wirtschafts- und sozialpolitisch aktuellen „Tagesfragen“ prima facie ein Beweis dafür, dass die Arbeit „juristisch“ nicht relevant sein könne. Heute scheint das eher für innere Schranken des auslaufenden Pandektenzeitalters zu sprechen, als überzeugend zu sein.

Dem kurzen, apodiktischen Votum der Fakultät, vermutlich von dem Dekan Heinrich Brunner verfasst, hatte auch Gierke zugestimmt, der mit Brunner eng verbunden war, aber auch Preuß, den Verteidiger der Genossenschaftstheorie, durchaus schätzte.38 Das bedarf einer besonderen Erklärung, die ich aber einen Moment zurückstellen möchte. Als Grundlage für die Entscheidung der Fakultät wurden auch die Lehrerfolge beider Kandidaten eingehend gewürdigt, indem für jede Vorlesung zwischen 1889 und 1896 die Zahlen der eingeschriebenen Studenten in einer „Frequenzliste“ aufgeschlüsselt wurden.39 Die Fakultät kommentiert das eigentlich recht günstige Ergebnis für Preuß, indem sie mitteilt, daß zwar die seminaristische Tätigkeit von Preuß gelobt wird; „trotzdem ist die Fakultät insbesondere mit Rücksicht auf [...] aus Zuhörerkreisen zugegangene Urteile nicht in der Lage, die Lehrthätigkeit des Herrn Dr. Preuß für eine erfolgreiche zu erklären“.

Es trägt nicht gerade das Zeichen von Sachlichkeit an der Stirn, wenn das objektive Zahlenwerk auf diese Weise von nicht spezifizierten subjektiven 38 Das Fakultätsgutachten trägt die Unterschriften des Dekans Heinrich Brunner und der Professoren Heinrich Dernburg, Alfred Pernice, Paul Hinschius, Otto von Gierke, Joseph Kohler, Albert Berner, Bernhard Hübler, es fehlen die Unterschriften von Levin Goldschmidt und Wilhelm Kahl (Fn. 36, Bl. 284-289). 39 Für die Vorlesungen von Preuß ergaben sich folgende Hörerzahlen: Deutsche Verfassungsgeschichte (WS 90/1: 89 Studenten; SS 92: 147; SS 93: 108; SS 94: 55; SS 95: 100), englische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (WS 92/3: 52; WS 94/5: 75), Europäischer Konstitutionalismus und staatsrechtliche Theorien des 19. Jahrhunderts (WS 90/1: 63; WS 91/2: 111; WS 93/4: 172). Daneben gab es auch weniger beliebte Vorlesungen mit geringer Hörerzahl, wie Deutsches Staatsrecht (SS 94: 11), Bundesstaatsrecht (WS 90/1: 3), staatsrechtliche Übungen (WS 90/1: 3), Verwaltungsrecht (WS 92/3: 18; WS 93/4: 8; WS 94/5: 11), Rechtsphilosophie (WS 94/5: 23; SS 95: 22). Aus dem Rahmen fällt, dass Preuß als einziger einige Male Vorlesungen über „Allgemeines und vergleichendes Bundesstaatsrecht (Deutsches Reich, Schweizer Eidgenossenschaft, Vereinigte Staaten von Nordamerika)“ ankündigte; (Fn. 36) Bl. 291 u.R.

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Eindrücken fast ganz entwertet wird. Auch widerspricht das den späteren Urteilen der Fakultät. Die Zusammenstellung der Hörerzahlen von Bornhak stellen sich demgegenüber etwas bescheidener dar, wenn man davon absieht, dass er – außerhalb seines Spezialgebiets – in Vorlesungen über „Colonialrecht“ und „Deutsche Socialgesetzgebung“ offenbar einen „Nerv“ getroffen hatte, was als Indiz für den „Zeitgeist“ nicht ohne Interesse ist.40 Das Ministerium geht auf die Frequenzlisten – nach außen erkennbar – nicht ein, und argumentiert lediglich, dass weder für das spezifische Forschungs- und Lehrprofil von Preuß noch für das von Bornhak eine besoldete „Stelle“ im formellen Fakultätsetat verfügbar sei. Dieses Argument hätte allerdings nicht unüberwindlich sein müssen, denn eine Stelle konnte, wenn ein Bedarf dargetan wurde, unter Umständen auch eingerichtet werden.41 Das Ministerium versuchte sich ein eigenes Bild zu verschaffen und unterzog beide Kandidaten einer erneuten Visitation: Visitation bei Preuß: „am 5. Mai 1896 hospitierte ich bei dem Privat-Dozenten Dr. Preuß in dessen Vorlesung ‚Rechtsgeschichte‘. Das Kolleg war von 6 Zuhörern besucht von denen 4 dem Aussehen nach offenbar Juden waren. Preuß sprach über die Entwicklung der Staatstheorie in Griechenland und erwähnte insbesondere eingehend, wie sich dort, wo der Bürger völlig im Staate aufging und von einem Familien-, kirchlichen- und Gemeindeleben keine Rede war, der Staatsbegriff ganz anders entwickeln musste, als in der Jetztzeit. Preuß trägt nicht uninteressant vor; er versteht es, durch geschickt gewählte Beispiele und passende Vergleiche seinen Vortrag zu würzen. Indessen bewegen sich seine Ausführungen wesentlich nur auf der Oberfläche und lassen die wünschenswerte Tiefe vermissen. Ich glaube nicht, daß seine Schüler mit vielem Nutzen für die juristische Ausbildung das Kolleg verlassen.“42 Visitation bei Bornhak: Vorlesung zum Preußischen Verwaltungsrecht: „Anwesend waren 5 Zuhörer. Sein Vortrag ist nicht besonders. Schon seine überaus hohe, etwas krächzende Stimme ist recht störend; dazu kommt, dass er auch nicht ganz fließend spricht. Ich glaube nicht, daß Bornhak seine Schüler wirklich 40 Preußisches Verwaltungsrecht (SS 88: 9 Hörer; SS 89: 11; WS 89/90: 7; SS 90: 6; SS 91: 8; SS 92: 6); Verwaltungsrechtliche Übung (SS 88: 2; WS 88/9: 2; SS 91: 4); Preußische Rechtsgeschichte (WS 92/3: 183; WS 95/6: 7); Stein-Hardenberg (SS 88: 31; WS 88/9: 28; SS 90: 43; SS 91: 96); Staatsrecht (WS 88/9: 3; WS 89/90: 3; WS 90/1: 2; WS 91/2: 4); Staatsund Verwaltungsrecht (WS 92/3: 9; SS 93: 4); Prakticum des öffentlichen Rechts (WS 92/3: 3; SS 93: 13; SS 95: 8); Französisches Verfassungsrecht (WS 90/1: 19); Prakticum des öffentlichen Rechts (SS 92: 8; SS 93: 13; SS 95: 8); Staat und Kirche (SS 92: 55); Colonialrecht (WS 88/9: 76; WS 91/2: 148); Deutsche Socialgesetze (WS 88/9: 130; WS 90/1: 5; WS 93/4: 116; WS 95/6: 400), (Fn. 36) Bl. 290. 41 (Fn. 36) Bl. 215-216. Als sich Bornhak schon einmal, im Jahre 1892, um eine a.o. Professur beworben hatte, erklärte die Fakultät von sich aus, dass es nicht nötig sei, eine solche „Stelle“ für ihn zu schaffen. Der Arbeitsschwerpunkt „Preußische Verwaltungsgeschichte“ rechtfertige das nicht, weil die preußische Rechtsgeschichte normalerweise in der deutschen Rechtsgeschichte mitbehandelt wird. 42 (Fn. 36) Bl. 293.

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zu fesseln vermag. Da er ziemlich schnell spricht, ist es für diese auch nicht leicht, ein brauchbares Kollegheft zusammenzubringen. Inhaltlich sagte mir die Vorlesung mehr zu, wenngleich auch manche von ihm aufgestellte Theorien z.B. über das Verhältnis zwischen Gesetz und Verwaltung im Verwaltungsrecht nicht unanfechtbar sind.“43

Das Ministerium entschied, weder Preuß noch Bornhak zum a.o. Professor zu ernennen, da auch im Falle des Gesuchs von Bornhak „ein Extraordinariat für diesen Zweck nicht verfügbar ist und die Errichtung eines solchen auch nicht in Aussicht genommen werden kann. Dagegen ist es meine Absicht, dem Genannten mit Rücksicht auf seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die nach dem Urteil der Fakultät ,recht anerkennenswerth’ sind,44 und in Anbetracht seiner nahezu neunjährigen akademischen Lehrtätigkeit das Prädikat ‚Professor‘ zu verleihen, sofern Euer Exzellenz dawider nichts zu erinnern findet“.

Bornhak erhielt also als Privat-Dozent, den „Titel“ Professor. Das persönliche Gesuch von Preuß wurde rundweg verworfen. Bosse sah keinerlei Veranlassung, einer widerstrebenden Fakultät den Stadtverordneten Preuß, mit dem er bereits die Klingen kreuzte, im Wege des octroi aufzuzwingen. Damit war eine Grundentscheidung gegen Preuß gefallen, deren Argumente in der Beurteilung beider Kandidaten in Forschung und Lehre aus heutiger Sicht nicht leicht nachvollziehbar ist. Die Fakultät wird ihre damalige Haltung später bedauert haben, wenn man die überaus affirmativen Voten für Preuß von 1902 und 1910 betrachtet, von denen noch zu sprechen sein wird. Einige Elemente auch des Konflikts von 1896 lassen sich abschließend aber erst von den Zuspitzungen zwischen 1898 und 1899 her ganz beurteilen. Der Graben zwischen dem Privat-Dozenten Preuß und dem Minister Bosse, der seit 1895 schon tief war, wurde definitiv unüberbrückbar. Es kam zum „Fall Preuß“. Preuß griff Exzellenz Bosse mit großer Schärfe öffentlich und persönlich an. Es ist unvorstellbar anzunehmen, dass Preuß nicht wusste, was er tat. Deshalb wird sich Preuß schon 1896 darüber im Klaren gewesen sein, an der Universität, jedenfalls solange Bosse Minister war, keinerlei Chancen zu haben, auch wenn diese Vermutung noch einige Male einem Test unterworfen wurde. Dazu kam, dass sein Konflikt mit dem Ministerium in den Strudel der Versuche Wilhelms II. geriet, die Lehrfreiheit der Universität Humboldts auf das Maß einer „Königlichen“ Universität zurückzuschrauben, in der an einigen wenigen, obrigkeitlich für wichtig gehaltenen Stellen – bei größter Lehrfreiheit im allgemeinen – Grenzzäune errichtet wurden. Die Akten des Kultusministeriums, die Handakten Friedrich Althoffs, des mächtigen Lei43 44

(Fn. 36) Bl. 292. (Fn. 36) Bl. 296 f.

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ters der Hochschulabteilung, und die Hofakten sind angefüllt mit Beratungen über die dann sog. „Lex Arons“.

VI. Die Disziplinarfälle Arons und Preuß 1. Disziplinarverfahren gegen den Privat-Dozenten Dr. Arons 1893 hatte ein Kampf um die Lehrfreiheit missliebiger Privat-Dozenten begonnen. Arons, der Erfinder der Quecksilberdampflampe, die noch heute verwendet wird, war Privat-Dozent der Physik (die damals noch zur philosophischen Fakultät gehörte), und privatim Sozialdemokrat.45 Bei seiner Forschungsarbeit „agitierte“ er nicht; und im Blick auf die von der preußischen Verfassung garantierte Meinungs- und Assoziationsfreiheit nahm die Fakultät an seiner Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie formell keinen Anstoß. Aber Bosse hatte den Auftrag, das zu ändern.46 Seit jeher hatte die Universität als eine sich selbst verwaltende Korporation einen „Universitätsrichter“ und sorgte selbst für die Einhaltung ihrer Ordnung. Am 5. Februar 1894 verlangte Minister Bosse, zunächst gestützt auf die alten Statuten der Universität, ein Disziplinarverfahren gegen Arons durchzuführen, und forderte die Fakultät auf, ihn zu vernehmen und zu berichten, ob nicht seine „Remotion“, also die Aberkennung seines Status als Privatdozent, angezeigt sei. Die Fakultät antwortete am 7. Februar 1894, dass die Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei einen Verstoß gegen die Gesetze des Staates oder die Ordnungen der Universität wie gegen den öffentlichen Anstand nicht enthalte, und deshalb ein Anlaß zu einem Einschreiten gegen Arons für die Fakultät nicht vorliege, dass sie deshalb bäte, sie von dem ihr erteilten Auftrage zu entbinden. Auf diese Weigerung der Universität hin wurde ein Kommissar eingesetzt. Arons erklärte: „Ich halte mich nicht für verpflichtet, auf die alleinige Aufforderung des Herrn Ministers [. . .] mich zur Sache vernehmen zu lassen, da der Herr Minister nicht mein unmittelbarer Vorgesetzter ist. Nach den Fakultätsstatuten ist das die Fakultät, und diese hat bisher ein Disciplinarverfahren gegen mich nicht eingeleitet. Bei einem von der Fakultät geleiteten Disciplinarverfahren würde ich jeder Zeit bereit sein, die jetzt von dem Herrn Minister von mir geforderte Aussage zu machen“. Hierauf wurde die Fakultät angewiesen, Arons zu vernehmen. Das geschah; Arons erklärte, dass er Sozialdemokrat sei. Die Fakultät hielt es für ausgeschlossen, „hierauf hin seine Remotion“ zu betreiben; sie habe es aber als angezeigt erachtet, dem A eine Verwarnung zu erteilen, er solle 45 Arons, ein „revisionistischer“ Sozialdemokrat, gehörte in der Zeit von 1904 bis 1914 der Berliner Stadtverordnetenversammlung an und war führend am erfolgreichen Wahlkampf der SPD 1903 beteiligt. 46 Darstellung der Entwicklung des „Falls Arons“ in: GStA PK, Rep 92 Althoff A I Nr. 86, Bl. 10–12. Ferner: vom Bruch Geheimräte und Mandarine. Zur politischen Kultur der Berliner Universität im späten Kaiserreich; und Schwarz Leo Arons (1860–1919). Leben und Werk, beide in: Schriftenreihe der Johannes-Sassenbach-Gesellschaft, Heft 2, Berlin 2000.

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sich in Zukunft, auch außerhalb seiner dienstlichen Tätigkeit, der öffentlichen Agitation enthalten.

Als Arons 1897 auf dem sozialdemokratischen Parteitag auftrat, ereiferte sich der Kaiser am 8. Oktober 1897 in einem Telegramm an das Kultusministerium, das ein bemerkenswertes Verständnis von Wissenschaftsfreiheit zeigt: „Habe soeben Auftreten und Gebaren des Privat-Dozenten Arons in Hamburg auf dem Sozialistenparteitag gelesen. Ich nehme an, dass das Ministerium umgehend Verfahren eingeleitet hat, diesen frechen Verhöhner staatlicher Einrichtungen seines Amtes zu entsetzen. Falls nicht, so ist der Herr sofort aus der Universität und seinem Amt hinaus zu befördern. Ich dulde keine Sozialisten unter Meinen Beamten, also auch nicht unter den Lehrern unserer Jugend an der Königlichen Hochschule. Vom Geschehenen ist Mir unverzüglich Meldung zu machen. gez. Wilhelm II. R.“47

Die Philosophische Fakultät lehnte in einer Mehrheitsentscheidung48 die Forderung der Remotion ab: „Jeder Universitätslehrer sei in seiner parteipolitischen Überzeugung frei, und ein Privatdozent sei kein Beamter“. Da sich die Regierung über den Widerstand der Fakultät in einer Frage, die die Freiheit der Wissenschaft berührte, nicht einfach administrativ hinwegsetzen konnte, wurde nun im Landtag ein Gesetz beschlossen, um die nicht-beamteten Privat-Dozenten dem Disziplinarrecht der Beamten zu unterstellen. So wurde der Privat-Dozent auf Grund der Lex Arons, auch wenn das der preußischen Verfassung widersprach, in der zweiten Instanz seines Disziplinarverfahrens durch den Minister entlassen.49 Bei den Beratungen des Gesetzes im preußischen Abgeordnetenhaus wurde auch die Meinung der Universität eruiert. Ein Mitglied der Berliner Juristenfakultät, der Kirchenrechtler Paul Hinschius, legte ein Gutachten vor, das die Rechtsansicht des Ministers stützte, derzufolge Privat-Dozenten einerseits, wie bisher, den „statuarischen und reglementarischen Bestimmungen“ der Universität unterstellt sind, aber „daneben auch der Disziplinargewalt des Unterrichtsministers als der staatlichen Oberaufsichtsbehörde 47 GStA PK, Rep 92 Althoff A I Nr. 118, Bl. 241 u.R. Nach der Nichtverlängerung des Sozialistengesetzes im Reichstag wollte der Kaiser das Vordringen der Sozialdemokratie im Reich mit Hilfe der sog. „Umsturzvorlage“ und der „Zuchthausvorlage“ verhindern, was im Reichstag kläglich scheiterte. Aber im Preußischen Abgeordnetenhaus wurde am 17. Juni 1898 die Lex Arons beschlossen, die die Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei mit der Tätigkeit an einer Preußischen Universität für unvereinbar erklärte. 48 Der Fakultät gehörten u.a. an: Hans Delbrück, Wilhelm Dilthey, Theodor Mommsen, Max Planck, Gustav Schmoller, Heinrich von Treitschke. 49 Althoff betrieb die Beratungen dieses Gesetzes widerstrebend; es wurde auch nicht wieder angewendet. Allerdings gab es innerliche Zustimmung und „vorauseilenden Gehorsam“. Es entzog einem neuen Disziplinarfall von vornherein den Boden, wenn ein Sozialdemokrat gar nicht erst habilitiert wurde, wie etwa Robert Michels – was Max Weber empörte.

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über die Universitäten“ unterliegen. Dagegen formierte sich eine abweichende Meinung, die Gierke dem Ministerium übergab, in einer höflichen und persönliche Konfrontation vermeidenden, aber klaren Sprache: Die unterzeichneten ordentlichen Professoren der Berliner Universität (die Schreibmaschinenkopie enthält keine Namen) erklären hier öffentlich die „abweichende Meinung“, dass die in dem Gutachten Hinschius „entwickelten Grundsätze [. . .] nach unserer Ansicht für die deutschen Universitäten und die deutsche Wissenschaft nur schädlich“ sind. „Es tritt in dem Gutachten nicht hervor, dass die deutschen Universitäten kraft ihrer geschichtlichen Entwicklung nicht blos Staatsanstalten, sondern auch Korporationen sind. Diese Rechtsstellung ist den preussischen Universitäten durch das Allgemeine Landrecht, der Berliner Universität durch ihr Statut besonders zugesprochen. Hiernach ist das Aufsichtsrecht der Staatsverwaltung mit festen Schranken umzogen, die sich sowohl aus der korporativen Selbständigkeit der Universitäten überhaupt als aus den besonderen Statuten jeder einzelnen Universität und Fakultät ergeben. – Es ist ferner nicht genügend berücksichtigt, dass die Stellung der Privatdozenten gleichfalls auf historischer Entwicklung beruht und das Wesen der venia legendi nur aus ihrem Zusammenhang mit der Erteilung der akademischen Grade verstanden werden kann. Daher ist es unzulässig, die Entziehung des von der Fakultät verliehenen Lehrberufs nach abstrakt gewonnenen Prinzipien und unsicheren Analogien regeln zu wollen. – Es ist aber auch verkannt, dass es den Grundgedanken unseres öffentlichen Rechts und der Rechtssicherheit widerspricht, wenn den Privatdozenten die Garantien versagt werden, die bei uns sonst Jedem, der in einem öffentlichen Berufe wirkt, rechtlich zustehen.“50

2. Disziplinarverfahren gegen den Privat-Dozenten Dr. Preuß Gierke und Preuß stimmten in der Frage überein, die Unabhängigkeit der Universität zu verteidigen. Aber gerade weil es Gierke um dieses Hauptziel ging, wird er es als belastend empfunden haben, wenn seine Verteidigung gegen den Eingriff des Ministers Bosse in die Lehrfreiheit der Universität mit einem Konflikt zwischen Bosse und der außeruniversitären Stadtverordnetenversammlung und speziell mit dem Stadtverordneten Preuß verquickt und dadurch kompliziert wurde. Um die Haltung von Gierke im einstimmigen Negativ-Gutachten von 1896 gegen Preuß zu verstehen, muss die Zuspitzung des Konflikts zwischen dem Stadtverordneten Hugo Preuß und dem Minister Bosse im Jahre 1899 skizziert werden. Soweit die äußeren Fakten schon bekannt sind,51 kann ich mich auf ein kurzes Resümee beschränken. 50 „Deklarationen contra Hinschius von Gierke erhalten 14.12.1895“ (Bleistiftvermerk), Rep 92 Althoff Nr. 97, Bl. 19. Manches spricht dafür, dass Gierke auch der Verfasser dieser „abweichende Meinung“ von Professoren der juristischen Fakultät gegen das Gutachten des Kollegen Hinschius war, – vor allem die rechtshistorische Begründung mit der korporativen Stellung der Universität. 51 Gillessen (Fn. 1), 64–66; ferner GStA PK, Hofakten I HA Rep. 89 (Geheimes Zivilkabinett) Nr. 2829; Akten des Kultusministeriums, ebd., I HA Rep. 76 Nr. 49 Band 3,

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Im Jahre 1899 hatte sich die Versammlung der Stadtverordneten in der schon erörterten Frage der „Maßregelung jüdischer Lehrerinnen an den Berliner Gemeindeschulen“ im Ergebnis gegen Bosse weithin durchgesetzt. So berichtete der Stadtverordnete Dr. Hermes namens des Ausschusses u.a., dass die Lehrerinnen, welche die Ordinariate verloren hatten, wieder eingesetzt worden seien.52 Der Magistrat hatte einem Einigungs-Protokoll zugestimmt, das Preuß aber als unzulänglich und gefährlich ansah. Hier fiel nun die inkriminierte Formulierung, mit der Preuß die kompromisslerische Haltung des Magistrats kritisiert und ironisiert hatte: „Befiehl du deine Wege, und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des Magistrats, der lenkt“. Aber das war ein untergeordneter Binnenkonflikt. Der Hauptkonflikt bestand für Preuß mit dem Minister Bosse, der offenbar beanspruchte, jederzeit mit einem Federstrich aus der paritätischen Schule eine konfessionelle Schule machen zu können, und Preuß ironisierte das mit einer dem jüdischen Buch Hiob entnommenen sprachlichen Wendung: „Es ist die Auffassung: Exzellenz hat es gegeben, Exzellenz hat es genommen, der Name seiner Exzellenz sei gelobt!“.53 Natürlich verspottet Preuß damit nicht den Gott Hiobs, sondern, ganz im Gegenteil, den sich gottähnlich aufführenden Minister. Aber von diesem crimen laesae majestatis brauchte man nicht mehr zu sprechen, und noch weniger von dem eigentlichen Thema, dem Kampf des Magistrats mit dem Kultusminister um die konfessionelle Parität der Gemeindeschulen, wenn es gelang, Preuß die Worte im Mund umzudrehen. Bei dem damaligen Verständnis von Meinungsäußerungsfreiheit war es leicht, gegen ihn Stimmung zu machen.

Es ist inzwischen auch bekannt, dass Ihre Majestät die Königin und Kaiserin durch den Oberhofmarschall ihres Geheimen Zivilkabinetts, den Freiherrn Ernst von Mirbach – ihm wurde einige Jahre später die Grafenwürde verliehen – dem Magistrat ihr Allerhöchstes Missfallen kundgeben ließ. Die Zeitschrift „Der Reichsbote“ und eine Provinzial-Synode hatten den Vorgang öffentlich bekannt gemacht. In Beantwortung einer Gratulationsadresse, die der Magistrat der Kaiserin aus Anlass ihres Geburtstags übersandt hatte, rügte Mirbach: es habe „ein Lehrer der Königlichen Universität, ohne zurückgewiesen worden zu sein, heilige evangelische und biblische Trostworte zum Spott benutzt und christliche Gefühle auf das tiefste verletzt“.

Das zielte nicht nur auf Preuß, sondern auch auf den Magistrat und darüber hinaus, nicht näher spezifiziert, ganz allgemein, nach Meinung des Hofes, auf „Schäden, an denen die Reichshauptstadt krankt“.54 Die Formulierungen, die Mirbach verwendet hatte, wurden aus Rücksicht auf Ihre Majestät seitdem peinlichst beibehalten. Eine offene Konfrontation hätte Bl. 31–78, wo der Fall Preuß und die gesamte vom „Reichsboten“ ausgelöste Pressekampagne dokumentiert ist. 52 GStA PK I HA, Rep. 76, Nr. 49 Band 3, Bl. 32/33. 53 Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 26. Oktober 1899, 327 und 330. 54 GStA PK, I HA Rep. 89, Geheimes Zivilkabinett Nr. 2920/1. und Nr. 21493.

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niemand gewagt. Über den Rektor der Universität wurde ein Disziplinarverfahren gegen Preuß und Bericht an das Zivilkabinett der Kaiserin verlangt.55 Allgemein wird angenommen, dass die Fakultät ein Disziplinarverfahren gegen Preuß zwar durchführen musste, dass das aber nicht ganz ernst genommen und nur ein relativ milder „Verweis“ erteilt worden sei, über den man sich eher amüsiert habe. Die Akten zeigen ein etwas anderes Bild. Der Universitätsrichter hatte formell ermittelt, der Dekan Ernst Eck hatte eine förmliche Verhandlung geführt. Im Sachverhalt wurde schriftlich festgestellt, dass Preuß „heilige evangelische Trostworte verspottet“ habe. Eck fühlte sich offensichtlich verpflichtet, um einen Gesichtsverlust Ihrer Majestät zu vermeiden, nicht von der „Sprachregelung“ des Hofes abzuweichen. Auch das Eingeständnis von Preuß, diese inkriminierten Worte verwendet zu haben und seine Verteidigung werden ausführlich schriftlich protokolliert.56 Um sich dem zu entziehen, was der Hof wohl erwartete,57 wurde Preuß in scharfen Worten getadelt, aber keine „Disziplinarstrafe“, sondern nur eine „Ordnungsstrafe“ verhängt. War Arons nur „verwarnt“ worden, was das mildere Mittel gewesen wäre, so wurde Preuß ein förmlicher „Verweis“ erteilt. Die Fakultät war gehalten, die Entscheidung umgehend dem Rektor der Universität mitzuteilen, der seinerseits gehalten war, umgehend dem Minister zu berichten. Die Situation war für Preuß gefährlich.

Das war aber nur der letzte Akt einer direkten Konfrontation des Stadtverordneten Hugo Preuß mit „seinem“ Kultusminister Bosse gewesen. Begonnen hatte sie schon 1895, bald nach seiner Wahl in die Stadtverordnetenversammlung. Bosse hatte sich inzwischen gezwungen gesehen, in Verhandlungen mit dem Magistrat einige Zugeständnisse zu machen. Das musste er als schwere Niederlage empfunden haben, die ihm nicht zuletzt Preuß zugefügt hatte. Denn Preuß war in dieser Frage die treibende Kraft in der Stadtverordnetenversammlung. Um auf die Frage zurückzukommen, warum auch Gierke das negative Votum der Fakultät mitunterzeichnet hat, so sah er zwar nicht gern, wie seine Genossenschaftstheorie von Preuß in einer Art weiterentwickelt wurde, dass sie nun demokratischen Zielsetzungen dienen sollte, während er Monarchist war und blieb. Gierke hielt daran fest, dass die Polarität von 55

GStA PK I HA Rep. 89, Geheimes Zivilkabinett Nr. 21493, Bl. 174 u.R. So berief sich Preuß u.a. auf den antisemitischen Hofprediger Adolf Stöcker, der den Betreibern der jetzigen Kampagne gegen ihn doch nahe stünde, und der vor einer christlich-sozialen Konferenz in Erfurt einmal scherzhaft formuliert hatte: „Wenn ich dies Wunder fassen will, so steht mein Geist vor Erfurt still“ (statt Ehrfurcht, wie es im Gesangbuchvers hieß). Was den „subjektiven“ Teil des Vorwurfs anging, verwies Preuß auf eine Zuschrift an die Vossische Zeitung, in der er formell erklärt hatte, er habe niemandes religiöse Gefühle verletzen wollen, – so abwegig dieser Vorwurf auch war. 57 „Die Äußerung des Stadtverordneten (Privatdozenten) Dr. Preuß geht in den Geschäftsgang. Sollte auf einen Fall, wie diesen das Privatdocenten-Gesetz nicht zur Anwendung zu bringen sein?“ Aktenvermerk vom 31.10.1899, GStA PK, I HA Rep. 76, Nr. 49 Band 3, Bl. 36. 56

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Genossenschaft auf der einen, Monarchie und Souveränität auf der anderen Seite unaufhebbar sei.58 In seiner großen Liberalität konnte er die sachlichen Konflikte mit Preuß „ertragen“, ohne aber die Meinungsdifferenzen zu übertünchen.59 Aber der Kampf um den nicht-konfessionellen Charakter der Gemeindeschulen war für Gierke nicht identisch mit seinem eigenen Kampf um die Lehrfreiheit der Universität. Vermutlich hat sich Gierke im „Fall Preuß“ gerade deshalb dem negativen Votum seiner Fakultät in Sachen der a.o. Professur für Preuß angeschlossen, um die von ihm dem Minister übergebene „abweichende Meinung“ nicht zu gefährden. Er wollte wohl die Komplikationen, zu denen der Kampf von Preuß gegen Bosse geführt hatte – die Schärfe und den konfrontativen Stil –, aus seinem eigenen geheimrätlichen Widerstand gegen Bosse heraushalten, zumal er davon ausgehen musste, so wie die Dinge standen, dass das Gesuch von Preuß auf Ernennung zum a.o. Professor nicht die geringste Chance hatte. Eine nutzlose Eskalation war sicher nicht seine Sache. Nicht primär deshalb weil Preuß Jude war, wurde seine Ernennung abgelehnt. Die Diskriminierungsgrenze für Juden lag in Preußen in der Regel bei der Ernennung zum Ordinarius, die nur höchst selten überschritten wurde. Aber in dem weit verbreiteten antisemitischen Klima verschlimmerte es „seinen“ Fall, dass er auch noch Jude war.60 Er hatte nicht nur den Kultusminister höchstpersönlich angegriffen, er hatte darüber hinaus sogar Allerhöchsten Unwillen hervorgerufen. Man kann sich kaum vorstellen, dass die Hofmeister des Geheimen Zivilkabinetts der Kaiserin und des Kaisers in dieser als hochpolitisch aufgefassten Frage nicht Informationen ausgetauscht und ihre Schritte nicht koordiniert hätten. Auch Wilhelm II. fühlte sich, wie der Fall Arons zeigt, in diesen Fragen direkt involviert. Preuß war, nach Allerhöchster Missbilligung, schlechterdings an einer preußischen Landesuniversität nicht mehr berufungsfähig, auch noch, als Bosse 1899 zurücktrat. Das Stigma blieb.

58

Dazu Schefold Einleitung in: Preuß Schriften 2 (Fn. 3), 74, mit weiteren Nachwei-

sen. 59 Am deutlichsten sprach sich Gierke nach dem Krieg bei seinem Vortrag vom 4. Mai 1919 aus, von Gierke Der germanische Staatsgedanke, 1919. 60 Die Kaiserin ließ durch den Oberhofmeister ihres Geheimen Zivilkabinetts, dem Frh. von Mirbach neben dem neuen Kultusminister Konrad von Studt auch dem Rektor der Universität ein geheimes Schreiben übersenden, in dem es heißt: „Ihre Majestät vertrauen, daß Euer Magnifizenz geeignete Mittel finden werden, um die Gefahren abzuwenden, welche darin liegen, daß solche jüdischen Spötter Lehrer unserer heranwachsenden Jugend sind“, Akten des Kultusministeriums, I HA GStA PK I HA Rep. 76, Nr. 49, Band 3, Bl. 80. Die Kaiserin stand dem antisemitischen Hofprediger Adolf Stöcker nahe. Die Zentrumszeitung „Germania“ setzte über ihren Bericht die Überschrift: „Jüdische Frechheit“ (aaO Bl. 40).

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VII. Zweiter Antrag 1902/03 auf Ernennung von Preuß zum a.o. Professor Drei Jahre später, am 28. Dezember 1902, versuchte die Fakultät, einen Ausweg aus der verfahrenen Lage zu finden. Es gab einen neuen Kultusminister, und diesmal war es die Fakultät, die den Antrag stellte, den PrivatDozenten Dr. Preuß zum a.o. Professor zu ernennen.61 Sie habe diesen Antrag schon im Vorjahr erwogen und nur noch eine weitere beachtenswerte Leistung abwarten wollen. Die Voraussetzungen für ihren Antrag seien inzwischen erfüllt. Mehrere Publikationen rechtfertigten es nun vollauf, seine „Beförderung“ zum Extraordinarius zu beantragen. Vor allem „Das städtische Amtsrecht in Preußen“ habe einen reichen Inhalt, der mehr biete, als der bescheidene Titel erwarten ließe. Die scharfsinnige Analyse führe in die Brennpunkte der Probleme und sei sehr positiv rezensiert worden. Auch die Studien „Über Organpersönlichkeit“ und über „Stellvertretung und Organschaft“ seien Beispiele einer „erfolgreichen litterarischen Bethätigung“. Auch seine „zweifellos guten Lehrerfolge“ werden gewürdigt, was damit belegt wird, dass sich im laufenden Semester etwa 100 Hörer in seine Privatvorlesung über Verwaltungsrecht eingeschrieben hätten. Aber die Fakultät kommt nicht umhin, „das frühere bekannte disziplinäre Vorkommnis“ selbst anzusprechen, ist aber der Meinung, dass es „der nunmehrigen Beförderung zum a.o. Professor nicht länger im Wege steht“. Der Antrag trägt die Unterschrift des Dekans und von zwölf Professoren.

Als sich das Verfahren hinzog, richtete Preuß am 31. März 1903 ein Schreiben an den Minister: „Euer Hochwohlgeboren bitte ich zugleich ganz ergebenst, meine Angelegenheit geneigtest einer baldigen Entscheidung zuzuführen, da ich nach nunmehr 14 Docentenjahren in die Lage komme, über meine fernere Tätigkeit mich entscheiden zu müssen. Ergebenst Preuß“.

Auch wenn das Protokoll des Disziplinarverfahrens von 1899 dem Minister in extenso vorlag, so wird es in der Entscheidung überhaupt nicht erwähnt. Es heißt nur, der Antrag müsse „nach den bestehenden Grundsätzen“ abgelehnt werden, „da es an einer etatmäßigen Stelle für diesen Zweck mangelt und ein Bedürfnis für eine solche nicht vorhanden ist“. „Dagegen bin ich nicht abgeneigt, die Beförderung des Dr. Preuß zum außerordentlichen Honorarprofessor für die Zeit seiner Wirksamkeit an der hiesigen Universität oder auch die Verleihung des Prädikats Professor an denselben in Erwägung zu ziehen, sofern die pp. das eine oder andere für wünschenswert erachten sollte“.62

61 62

GStA PK, I HA, Rep. 76 Nr. 49 Band 3, Bl. 124 f. (Fn. 61) Bl. 127 f.

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Die Fakultät hatte aber ganz „grundsätzliche Bedenken gegen die Schöpfung einer zweiten Klasse von Honorarprofessoren“ neben der der „ordentlichen Honorarprofessoren“, und vermutlich betrachtete auch Preuß diesen Vorschlag als diskriminierend. Eine ad hoc geschaffene „außerordentliche“ Honorarprofessur hätte den weiteren „Aufstieg“ in der Hierarchie definitiv verbaut. Die Fakultät erneuerte ihren Antrag auf eine a.o. Professur, der schließlich abgelehnt wurde.63 Preuß wusste jetzt, woran er war. Er hatte an der Universität auch nach dem Ende der Ära Bosse keine Chancen mehr.

VIII. Das Ausweichen an die Handelshochschule 1906 Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren kaufmännische Tätigkeiten nicht Gegenstand wissenschaftlich-akademischer Forschung gewesen. Seit Gründung der Handelshochschule Leipzig 1898 entstehen aber außerhalb der Universität: die Exportakademie in Wien (1898) und die Handelsakademie in St. Gallen (1899) u.v.a.m. Die aus Mitteln der Kaufmannschaft gegründete private Berliner Handelshochschule, die später in die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Berliner Universität eingegliedert wurde, war einerseits Ausdruck einer von der Staatsverwaltung bislang nicht erkannten Notwendigkeit, auch die volks- und betriebswirtschaftlichen Tätigkeiten systematisch zu erforschen. Auf der anderen Seite war diese Gründung ein Zeichen dafür, dass die Geistesfreiheit, auf die die deutsche Universität so stolz war und die in vielen Sphären auf beeindruckende Weise auch bestand, einige Grenzen hatte.64 Bei Gründung der Handelshochschule 1906 wurde Preuß zuerst zum „nebenamtlichen Dozenten“ für Öffentliches Recht bestellt und „vom 1. Oktober 1907 ab auf die Dauer von fünf Jahren als Professor für öffentliches Recht in der Stellung eines hauptamtlichen Dozenten“ eingestellt.65 Preuß hörte danach auf, an der Universität Vorlesungen zu halten, wurde aber bis zu seinem Tod weiter als Privat-Dozent geführt.

63

(Fn. 61) Bl. 131. „Max Apt, der maßgebende Syndikus der Berliner Kaufmannschaft, empfand ‚Genugtuung‘, hervorragenden Persönlichkeiten die Stellung zu verschaffen, die ihnen vom Staat versagt war: [. . .] Das Dozentenkollegium der Hochschule wurde geradezu als salon des refusés bezeichnet“, Albertin Einleitung in: Preuß Schriften 1 (Fn. 5), 62. 65 Die Anstellung bedurfte neben dem Vertrag mit der „Korporation der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin“ (Bl. 14) immer auch der Bestätigung durch den „Preußischen Minister für Handel und Gewerbe“ und des „Ministers der geistlichen Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten“, Archiv der Humboldt-Universität (Fn. 3), Jur.Fak. 144, Habilitationen Preuß/Handelshochschule, Bl. 14 und 24 (1907). 64

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IX. Dritter Antrag 1910 auf Ernennung von Preuß zum a.o. Professor Im Dezember 1910 stellte die Fakultät erneut den Antrag, den PrivatDozenten Dr. Preuß – inzwischen Professor an der Handelshochschule – zum außerordentlichen Professor an der Berliner Universität zu ernennen.66 Er hatte an der Handelshochschule im Jahre 1910 zwar erst einen Zeitvertrag auf fünf Jahre, allerdings mit der klaren Perspektive, danach eine Stelle auf Lebenszeit zu erhalten, was im Dezember 1914 auch geschah.67 Die Handelshochschule hatte kein Promotions- und Habilitationsrecht, und das Vorlesungsprofil war anders ausgerichtet, so dass Preuß sie wohl schon deshalb als nicht ganz gleichrangig ansah. Jedenfalls zeigt die Bewerbung eines Professors der Handelshochschule um eine a.o. Professur an der Universität deutlich, wie wichtig für Preuß die Anerkennung seiner Arbeit an der Universität Humboldts war. Es muss für ihn einer Niederlage gleichgekommen sein, sich in die „Gegenöffentlichkeit“ (Albertin) einer demokratisch-republikanischen „Parallelgesellschaft“ zurückzuziehen – in den salon des refusés. Die Fakultät begründet ihren Antrag sehr nachdrücklich: „In all seinen Arbeiten tritt die wissenschaftliche Befähigung des Verfassers ebenso deutlich hervor, wie in seinen früheren Schriften, und zwar sowohl in Bezug auf die geschichtliche Einzelforschung als auch in Bezug auf die dogmatische Konstruktion. Wir sind nach wie vor der Überzeugung, daß Preuß, dessen schriftstellerische Leistungen von allen Seiten Anerkennung gefunden haben, auch als Lehrer unserer Fakultät wertvolle Dienste zu leisten im Stande ist“. Aber auch jetzt kommt der Dekan nicht umhin, erneut die Hoffnung auszusprechen, „daß die Schwierigkeiten, die sich seinerzeit seiner Ernennung zum a.o. Professor entgegengestellt haben, nicht unüberwindlich sein möchten“ und bittet „Euer Exzellenz unsern erneuten Antrag in wohlwollende Erwägung zu ziehen“.

Auch dieser Antrag wird am 19. Dezember 1910 abgelehnt, mit der Standardbegründung, dass eine Berufung „nach festen Grundsätzen“ nur noch in Frage käme, wenn entweder ein „etatmäßiges Extraordinariat oder eine sonstige etatmäßige Stelle“ im Haushalt vorhanden sei, bzw. wenn die Begründung einer solchen Stelle von der Unterrichtsverwaltung „für erforderlich gehalten“ wird.68 Den von der Fakultät angesprochenen Disziplinarfall erwähnt das Ministerium überhaupt nicht. Preuß wird geahnt haben, dass sein Angriff auf den Kultusminister ad personam nicht verziehen worden war. Er hatte schon begonnen, sich auf ein Leben außerhalb der Universität einzurichten, um seine eigentlichen Lebensziele zu verwirklichen. 66 67 68

(Fn. 65) Bl. 214–215. Universitätsarchiv Humboldt-Universität (Fn. 3). (Fn. 65) Bl. 216.

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1910 lässt sich der Stadtverordnete zum unbesoldeten Stadtrat wählen, und zwar mit den Stimmen auch von Sozialdemokraten, womit er sich der Verbotslinie der Lex Arons von 1898 näherte und sich auch aus dem Universitäts-Establishment des Kaiserreichs noch weiter entfernte. Als Mitglied der Stadtregierung fährt er fort, stärker, als es ihm als Stadtverordnetem möglich war, von dem sich stürmisch industrialisierenden Groß-Berlin aus an einer Regeneration des Landes mitzuwirken, wie es dem liberalen Stadtbürgertum 1848 in der Schweiz gelungen war. Er erkennt, dass nach der inneren Logik des „implied-power-Theorems“, die entstehenden städtischen Probleme eine Verstärkung zentraler Kompetenzen nötig machen.69 Nachdrücklich vertritt er das Groß-Berlin-Gesetz, geht den neuartigen Infrastrukturproblemen der industriellen Großstadt nach, und der Liberale wird dabei zu einem maßgeblichen Vertreter des – wie man damals sagte – „Munizipalsozialismus“, was nicht das gleiche bedeutet wie der sog. „Kathedersozialismus“.70 Er findet seine alten Grundüberzeugungen bestätigt, die schon vor seiner Habilitation entstanden waren und die er in seiner Zeit an der Berliner Universität wissenschaftlich vertieft und in der Lehre erprobt hatte: Er sieht, wie das politische System aus mehreren strukturell gleichwertigen Ebenen aufgebaut ist – Gemeinde, Stadt, Staat, transnationalen und völkerrechtlichen Strukturen –, die aber in ihren Kompetenzen auf eine „organische“ Weise miteinander verschränkt sind, mit so viel Zentralkompetenzen wie nötig und mit so viel echter „Selbstverwaltung“ wie möglich.

In Forschung und Lehre hat er dabei ein modernes Konzept von Staatswissenschaft entwickelt, in dem sich die relative Eigenständigkeit juridischformeller Strukturen mit einer historisch gesättigten empirischen Erfassung der sozialen Realität auf eine methodisch reflektierte Weise verbindet. Aber dafür hatte das Kaiserreich keine Verwendung.

X. Letzter Versuch 1925 Inzwischen war der Obrigkeitsstaat, wie er vorausgesehen hatte, zusammengebrochen. Plötzlich tat sich vor ihm eine große Chance der Wirksam69

Sein Freund Gustav Herzfeld hatte die Gründe studiert, die dazu geführt hatten, die neue Stadt „Groß New York“ zu schaffen, indem mehrere bislang selbständige städtische Agglomerationen zusammengeschlossen wurden, Herzfeld Groß New York. Eine Studie zur Einverleibungsfrage, 1898. Preuß hatte ihm 1887, als Herzfeld Magistrats-Assessor war, seine Schrift „Friedenspräsenz und Reichsverfassung“ gewidmet (jetzt in: Preuß Schriften (Fn. 3), 333–395). Die Familie war in der Zeit der „Demagogen“-Verfolgung in die USA emigriert, Gustav Herzfeld wurde 1861 in New York geboren, kehrte nach Deutschland zurück, war später Rechtsanwalt in Potsdam und wurde 1942 in Theresienstadt ermordet; dazu Schefold (Fn. 3), 6-10 und Erläuterungen. 70 Müller Gemeinde-Demokratie und Gemeinde-Wirtschaft in der industriellen Großstadt, näher erläutert am Beispiel des kommunalen öffentlichen Nahverkehrs in Berlin: Von Hugo Preuß zu Ernst Reuter, in: Lehnert/Müller (Fn. 10), 233–274.

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keit auf, als Friedrich Ebert ihn 1918 zum Staatssekretär des Innern ernannte und mit der Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung beauftragte. Er musste von seiner Professur an der Handelshochschule zurücktreten, die ihn gerade zu ihrem Rektor gewählt hatte. Als die Staatssekretariate der Bismarck-Verfassung Anfang 1919 in echte parlamentarisch verantwortliche Ministerien verwandelt wurden – was einer alten Forderung von Preuß entsprach – wurde er der erste deutsche Reichsinnenminister. Nach wenigen Wochen aber trat das gesamte Kabinett Scheidemann wegen der Bedingungen von Versailles zurück. Preuß wurde nach seinem Rücktritt – als unersetzlich – zum kommissarischen Beauftragten der Reichsregierung bestellt und führte die Verfassungsberatungen bis zum erfolgreichen Abschluss Ende Juli 1919 weiter.71 Am 31. Juli 1919 schied er endgültig aus der Reichsregierung aus. Er hatte den Plan, einen großen Kommentar über „das Verfassungswerk von Weimar“ zu schreiben, von dem er immerhin einige Teile noch weitgehend abschließen konnte. Er zog sich nicht in einen Elfenbeinturm zurück, kehrte aber auch nicht an die Handelshochschule zurück.72 1925 suchte er noch einmal nach einer Wirkungsmöglichkeit in der Universität Humboldts. Die Universität war keine wirkliche Säule der Weimarer Republik geworden. Zwar konnten manche Blockaden überwunden werden. Einige Wissenschaftler, die im Kaiserreich keine Chancen gehabt hatten, fanden in der Republik endlich ihre Anerkennung.73 Aber für Preuß rührte sich keine Hand. Bis heute stoßen seine innovatorischen Leistungen und sein Konzept einer modernen Staatswissenschaft nur bei wenigen auf Verständnis. Zum Wintersemester 1925 kündigte der Reichsminister a.D. in seiner alten Fakultät, unter dem Dekanat von Rudolf Smend, noch einmal eine Vor71 Über die Anerkennung Max Webers, mit welch „glänzender Präzision und Sachlichkeit“ Preuß diese Verhandlungen geführt hatte, Lehnert (Fn. 22), Einleitung 1. 72 Nach seiner Ernennung zum Staatssekretär des Innern schrieb er am 22. August 1918 an die Ältesten der Kaufmannschaft: „An meine Tätigkeit an der Handelshochschule zu Berlin, deren Anerkennung Sie mir mit so warmen Worten zum Ausdruck gebracht haben, werde ich mich immer mit ganz besonderer Freude erinnern und mich, so weit es die Verhältnisse und meine Dienstgeschäfte gestatten, gern auch weiterhin an den Bestrebungen der Hochschule beteiligen“, Archiv der Humboldt-Universität/Handelshochschule zu Berlin (Fn. 3), betr. die hauptamtlichen Dozenten Mk-Pos. P 172, Preuß, Hugo, Bl. 45). Als er von seinem Ministeramt zurückgetreten und die Beendigung seiner Kommissarischen Tätigkeit absehbar war, fragten die Ältesten der Kaufmannschaft am 7. Juli 1919 an: „[. . .] bei Ihrem Abschied [. . .] haben Sie die Möglichkeit nicht von der Hand gewiesen, daß Sie sich entschließen könnten, Ihre Tätigkeit an der Handelshochschule wieder aufzunehmen, wenn Ihre Zeit dies wieder erlauben könnte“. Aber am 13. Juli 1919 antwortete er: „[. . .] danke ich ergebenst für die sehr freundliche Anfrage. Die politischen Verhältnisse sind jedoch keineswegs so geklärt, daß ich in der Lage wäre, über meine zukünftige Tätigkeit disponieren und Verpflichtungen übernehmen zu können“ (aaO Bl. 55). 73 Sein Kollege und Freund Ignaz Jastrow erhielt 1920 das ihm im Kaiserreich verweigerte Ordinariat. Leo Arons wurde 1918, kurz vor seinem Tode, rehabilitiert.

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lesung an, – noch einmal als Privat-Dozent, der er 34 Jahre gewesen war: „Die Leitgedanken der Reichsverfassung von Weimar, Mo 5–6, publ.“74 In der Familie wird berichtet, dass die Ankündigung dieser einstündigen Lehrveranstaltung durch den Verfassungsvater der Republik ein Akt der Enttäuschung und zugleich der Herausforderung war.75 Unerwartet starb er am 9. Oktober 1925, ehe er diesen Plan verwirklichen konnte, ein halbes Jahr nach dem Tod Friedrich Eberts, mitten im Kampf um sein Verfassungswerk, – er hatte im Frühjahr 1925 noch eindringlich vor der Wahl von Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten gewarnt.76 Heute ist vieles von dem verwirklicht, um das er vierzig Jahre gekämpft hat. Wir sind inzwischen, um eine Formulierung von Montesquieu zu verwenden, einigermaßen „zur Vernunft“ gekommen, – aber nicht „aus Vernunft“.77 Die Anerkennung, die Hugo Preuß als Gelehrter und als Politiker verdient hätte, hat er noch nicht gefunden.

74 Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Verzeichnis der Vorlesungen, Winterhalbjahr 1925/26 (16. Oktober 1925 bis 15. März 1926). 75 Gerhard Anschütz, der 1896 an der Berliner Universität habilitiert wurde und der Preuß gut kannte, schreibt über „die Anständigkeit seiner Gesinnung“ und die „Lauterkeit seines Charakters“, aber auch darüber, dass man mit den politischen Ideen, die Preuß verfolgte, „schlechte Aussichten“ hatte, „wenn man im Staatsdienst, auch im Universitätsdienst angestellt werden und vorwärtskommen wollte“. Man war „namentlich in dem Preußen der Vorkriegszeit“ in dieser Hinsicht „außerordentlich unduldsam. So kam es, dass Preuss es niemals zu einer ordentlichen Professur, die er zweifellos verdient hatte, und besser ausgefüllt haben würde, als mancher, den man ihm vorzog, gebracht hat“, Anschütz, Aus meinem Leben (hrsg. und eingeleitet von Walter Pauly) 1993, 122. 76 Preuß Preuß für Hellpach (1925), in: Preuß Schriften (Fn. 22), 618–619; Lehnert (Fn. 22), Einleitung, 62. 77 Montesquieu Meine Gedanken – Mes pensées (Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Henning Ritter) 2000, 329.

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Carl Schmitt (1888–1985) Carl Schmitt (1888–1985) Volker Neumann

Carl Schmitt (1888–1985) Theoretiker staatlicher Dezision: Carl Schmitt VOLKER NEUMANN

I. Rezeption, Arbeitsweise, Deutungen . . . . . . . . . . . . . . II. Der Jurist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. „Theoretiker staatlicher Dezision“ . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dezisionismus I: Herbeiführung von Rechtsbestimmtheit 2. Dezisionismus II: Funktionalisierung von Transzendenz für staatslegitimatorische Zwecke . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dezisionismus III: Theorie des gelungenen Staatsstreichs IV. Staatsrecht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Wer soll „Hüter der Verfassung“ sein? . . . . . . . . . . . . . VI. Der gescheiterte „Kronjurist des Dritten Reichs“ . . . . . . VII. Völkerrechtliche oder völkische Großraumordnung . . . VIII. Rückkehr ins Sauerland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Rezeption, Arbeitsweise, Deutungen Es gibt keinen anderen deutschen Juristen, über den so viel geschrieben wird wie über Carl Schmitt.1 Dieses Phänomen erklärt sich mit der Zeit, in der Schmitt gelebt, den Themen, über die er geschrieben, und der Methode, mit der er das getan hat. Sein Leben und Werk umfassen vier Epochen deutscher Staatlichkeit: Das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das „Dritte Reich“ und nach dem Interim der Besatzungsherrschaft die Bundesrepublik im gespaltenen Deutschland. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts war ein Experimentierfeld politischer Ideen und Staatsformen, eine Art Laboratorium, in dem die Belastbarkeit staatlicher Strukturen und menschlicher Verbände getestet wurde. Schmitt hat diese Experimente aus nächster 1 „Allein zwischen 1996 und 2002 sind fünfundachtzig Bücher erschienen, die sich mit seinem Werk auseinandersetzen; im Schnitt also ein Buch pro Monat“. Spindler OP „Im Dickicht dunkler Seelentiefe“, Die Tagespost Nr. 10/Nr. 4 ASZ, 26.1.2004, 15. Die Literatur über ihn sei schon etwa zehnmal so umfangreich wie die über Hans Kelsen. So Mantl Carl Schmitt und die liberal-rechtsstaatliche Demokratie, in: Angerer/Bader-Zaar/Gradner (Hrsg.) FS Stourzh 1999, 99 (104). Unüberschaubar sind inzwischen auch die InternetBeiträge. Lesenswert ist vor allem der Wikipedia-Beitrag (http://de.wikipedia.org/wiki/ Carl_Schmitt).

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Nähe beobachtet und analysiert. Zustatten kam ihm dabei ein seismographisches Gespür für politische Vorgänge und Entwicklungen, das ihn seiner Zeit um eine Nasenlänge voraus sein ließ. Seine Antworten auf die Herausforderungen des Jahrhunderts mögen sachlich anfechtbar, parteilich oder gar verwerflich sein, spiegeln aber selbst in ihrer Problematik die Virulenz dieser Zeit wieder, und das macht Werk und Person interessant. Es kommt hinzu, dass Schmitt sich nie an die Grenzen seines Fachs gehalten hat. Seine theoretischen Interessen greifen weit über die Rechtswissenschaften hinaus und reichen in die Philosophie, Politikwissenschaft, Soziologie, Theologie und Literaturwissenschaft hinein. Und er hat nicht nur wissenschaftliche Studien, sondern auch feuilletonistische und zeitkritische Texte verfasst und sich immer wieder als Literat versucht. Die Fülle der erörterten Themen, die Zahl der verarbeiteten Bücher und die Namen der Autoren und Zeitgenossen, mit denen er bekannt war und korrespondiert hat,2 sind stupend.3 Entsprechend vielfältig ist das literarische Echo auf sein Werk. Einen anschaulichen Hinweis sowohl auf diese Vielfalt als auch auf die thematische Fülle des Werkes gibt eine eigene Literaturgattung, die seine theoretischen und/oder persönlichen Beziehungen zu Zeitgenossen oder zu Personen der Geistesgeschichte untersucht. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Carl Schmitt und … Hannah Arendt, Hugo Ball, Hans Barion, Karl Bart, Walter Benjamin, Franz Blei, Hermann Broch, James M. Buchanan, René Capitant, Donoso Cortes, Hugo Fischer, Ernst Fraenkel, Arnold Gehlen, René Girard, Jürgen Habermas, Friedrich A. Hayek, Martin Heidegger, Hermann Heller, Thomas Hobbes, Hugo von Hofmannsthal, Karl Jaspers, Ernst Jünger, Erich Kaufmann, Hans Kelsen, Otto Kirchheimer, Wladimir I. Lenin, Karl Löwith, Thomas Mann, Karl Marx, Franz Neumann, Erik Peterson, Helmut Plessner, Johannes Popitz, Gustav Radbruch, Max Scheler, Rolf Schroers, Dorothee Sölle, Georges Sorel, Baruch Spinoza, Lorenz von Stein, Leo Strauß, Jacob Taubes, Vilfredo Pareto, Max Weber.4 2 D. Mußgnug/R. Mußgnug/Reinthal (Hrsg.) Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926–1974), 2007; Villinger/Jaser (Hrsg.) Briefwechsel Grete Jünger – Carl Schmitt (1934–1953), 2007; Herrero (Hrsg.) Carl Schmitt und Alvaro d´Ors. Briefwechsel, 2004; Hüsmert (Hrsg.) Carl Schmitt Jugendbriefe, 2000; Kiesel (Hrsg.) Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930–1983, 1999; Tommissen (Hrsg.) Werner Becker: Briefe an Carl Schmitt, 1998; Reinthal (Hrsg.) Franz Blei: Briefe an Carl Schmitt, 1995; Robert(o) Michels Briefpartner von Carl Schmitt, in: Tommissen (Hrsg.) In Sachen Carl Schmitt, 1977, 83–89; Der Briefwechsel Schmitt-Bobbio, ebenda, 113–135. 3 Entsprechend umfangreich ist sein Nachlass. „Der letztgültige Umfang des Nachlasses umfasst 500 Archivkartons, er belegt etwa 80 Regalmeter und ist damit einer der größten in deutschen Archiven aufbewahrten Nachlässe überhaupt“. Van Laak/Villinger Nachlass Carl Schmitt. Verzeichnis des Bestandes im Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv, 1993, 7. 4 Die Liste enthält nur Namen, die im Titel eines Buches oder Aufsatzes gemeinsam mit Schmitt genannt werden. Dabei ist zu beachten, dass es zu jedem einzelnen Namen im Regelfall mehrere Beiträge gibt. Ein Beispiel, auch das ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

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Die Rezeption beschränkt sich schon seit langem nicht mehr auf den deutschsprachigen Raum. In Spanien und Italien wurden Schmitts Arbeiten schon immer zur Kenntnis genommen.5 Die Rezeption durch italienische Marxisten in den 1980er Jahren ist wohl nur noch von historischem Interesse.6 Auffällig ist die kritische Sicht auf Schmitt bei spanischen Autoren aus der Zeit nach Franco.7 Die Rezeption in Frankreich hat immerhin genügend Stoff für eine Dissertation hergegeben.8 Hier wird der Streit um Schmitt inzwischen im Internet ausgetragen.9 Es gibt aber auch ein generelles Interesse an der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs und der Weimarer Republik und damit eben auch an Schmitt.10 Im englischsprachigen Raum setzte das Interesse an Schmitt spät, dann aber mit Wucht Heil Gefährliche Beziehungen. Walter Benjamin und Carl Schmitt, 1996; Müller Myth, law and order: Schmitt and Benjamin read reflections of violence, History of European Ideas 29 (2003) 450–473; Mayorga Der Ausnahmezustand als Wunder. Von Juan Donoso Cortés über Carl Schmitt zu Walter Benjamin, in: Garber/Rehn (Hrsg.) global benjamin, 1999, 1017–1031; Bredekamp Von Walter Benjamin zu Carl Schmitt, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46 (1998) 901–916; Weber Taking Exception to Decision: Walter Benjamin und Carl Schmitt, Diacritics 22 (Autumn-Winter 1992) 5–18; Figal Vom Sinn der Geschichte. Zur Erörterung der politischen Theologie bei Carl Schmitt und Walter Benjamin, in: Angehrn u.a. (Hrsg.) FS Theunissen 1992, 252–269; Güde Der Schiffbrüchige und der Kapitän. Carl Schmitt und Walter Benjamin auf stürmischer See, Kommune 6/1985, 61–67; Rumpf Radikale Theologie. Benjamins Beziehung zu Carl Schmitt, in: Gebhardt u.a. (Hrsg.) Walter Benjamin. Zeitgenosse der Moderne, 1976, 37–50. 5 Zu Spanien Bravo/Estévez Araujo Der Einfluss Carl Schmitts in Spanien, in: Voigt (Hrsg.) Der Staat des Dezisionismus, 2007, 150–164. Zu Italien bis Ende der 1980er Jahre Staff Staatsdenken im Italien des 20. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Carl Schmitt Rezeption, 1991. 6 Nachweise bei Staff (Fn. 5), 169–229. 7 Estévez Araujo La crisis del estado de derecho liberal. Schmitt en Weimar, 1989; Orfanel Excepcion y normalidad en el pensamiento de Carl Schmitt, 1986. 8 Muller Carl Schmitt et les intellectuels francais. La réception de Carl Schmitt en France, Mulhouse 2003; Séglard Die Rezeption von Carl Schmitt in Frankreich, in: Voigt (Fn. 5), 150–164. 9 Alain de Benoist, Une campagne contre Carl Schmitt (http://www.alaindebenoist. com/pdf/une_campagne_contre_carl_schmitt.pdf). 10 Die „Groupe de recherches sur la culture de Weimar“ an der Université Paris OuestNanterre-La Défense gibt im Peter Lang Verlag die „Schriftenreihe zur politischen Kultur der Weimarer Republik“ heraus. Mit Carl Schmitt Bezug z.B. Bialas/Gangl (Hrsg.) Intellektuelle im Nationalsozialismus, 2000. Olivier Beaud ist der Verfasser und Herausgeber einiger einschlägiger Bücher und Beiträge: Beaud Les derniers jours de Weimar. Carl Schmitt face à l´avènement du nazisme, 1997; ders. La controverse sur „le gardien de la Constitution“ et la justice constitutionelle. Kelsen contra Schmitt, 2007; ders. Vorwort zur von Lilyane Deroche übersetzten Verfassungslehre: Carl Schmitt ou le juriste engagé, in: Carl Schmitt, Théorie de la Constitution, 1993, 1; ders. Les premières années du régime national-socialiste (1933–1938) vues par un observateur perspicace, René Capitant, in: René Capitant, Face au nazisme. Ecrits 1933–1938, 2004, 7. Zu den Arbeiten des „Institut de Recherches Carré de Malberg“ in Straßburg s. Jouanjan (Hrsg.) Figures de l´Etat de droit. Le Rechtsstaat dans l´histoire intellectuelle et constitutinelle de l´Allemagne, Strasbourg 2001.

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ein.11 Einige Autoren suchen in Schmitts Theorie nach Erklärungen für das Umschlagen liberaler politischer Ordnungen in repressiv-autoritäre Systeme.12 In China wurden einige Arbeiten übersetzt und es gibt eine rege Auseinandersetzung mit seinem Werk. Hochinteressant ist, dass einige Autoren mit Schmitt gegen eine Liberalisierung des chinesischen Rechts und für eine Betonung der Autorität des Staates argumentieren.13 Auch in anderen Ländern wie Griechenland, Japan, Korea, Serbien, Russland, Türkei, Ungarn gibt es eine Schmitt-Rezeption, über die ich nichts berichten kann, weil meine Sprachkenntnisse nicht ausreichen. Jedenfalls ist das Interesse an Schmitts Werk und Person ein weltweites Phänomen. Trotz der Publikationsflut lässt sich in Ansehung seines Werkes kaum von einem gesicherten Forschungsstand sprechen. Das liegt neben der disziplinären Vielfalt der Beiträge an Schmitts Arbeitsweise und Stil. Er zitiert eigenwillig und häufig gar nicht, webt versteckte Informationen, Andeutungen und Botschaften in die Texte ein und legt falsche Fährten. Er ist ein Meister der Verrätselung, und seine Texte verheißen Entschlüsselung von Geheimnissen. Der Leser trifft auf – vermeintliche – begriffliche Klarheit und Evidenz, zugleich aber auf Unbestimmtes und Verschwommenes. Wer einen Text ein zweites Mal liest, wird oft merken, dass das, was er bei der ersten Lektüre als festen Kern fixiert hatte, gar nicht mehr so exakt und einleuchtend ist. Und so nimmt es nicht wunder, dass die Sekundärliteratur anschwillt und die Unklarheiten kaum abnehmen. Dass die Forschung über Carl Schmitt überhaupt weitergekommen ist, verdankt sie in erster Linie historischen Studien. Ältere Arbeiten, die das Werk (auch) historisch-biographisch deuten wollten, litten daran, dass der Zugang zu den Primärquellen weitgehend verschlossen war. Zu schiefen Ergebnissen gelangten vor allem Autoren, die Schmitt als Zeitzeugen in eigener Sache befragten.14 Und der historisch-biographische Ansatz kann überfordert sein, wenn er zur Deutung des Werkes herangezogen 11 Allein an Büchern sind mir in den letzten Jahren bekannt geworden: Kennedy Constitutional Failure. Carl Schmitt in Weimar, 2004; Balakrishnan The Enemy. An Intellectual Portrait of Carl Schmitt, 2000; Mouffe (Hrsg.) The Challenge of Carl Schmitt, 2000; Scheuerman Carl Schmitt. The End of Law, 1999; Christi Carl Schmitt and Authoritarian Liberalism, 1998; Dyzenhaus (Hrsg.) Law as Politics: Carl Schmitt´s Critique of Liberalism, 1998; McCormick Carl Schmitt´s Critique of Liberalism: Against Politics as Technology, 1997; Dyzenhaus Legality and Legitimacy: Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller, 1997. 12 Jayasuriya Reconstituting the Global Liberal Order, 2005; Scheuerman Carl Schmitt and the Road to Abu Ghraib, Constellations 13 (2006) 108–124. 13 Vgl. Qi Zheng Carl Schmitt´s inspiration applied to the provisions for Emergency Power within the Chinese Constitution (www.osgoode.yorku.ca/glsa/2008conference/ documents/Qi%20Zheng.pdf). 14 Schwab The Challenge of the Exception. An Introduction to the Political Ideas of Carl Schmitt between 1921 and 1936, 1970; Bendersky Carl Schmitt. Theorist for the Reich, 1983.

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wird.15 Der Erfolg der Arbeit von Lösch erklärt sich gerade mit dem strikten Verzicht auf die Werkdeutung. Geklärt werden konnten so die Umstände seiner Berufung an die Berliner Fakultät, sein Beitrag an der Vertreibung Erich Kaufmanns und die Hintergründe seines Karriereknicks im Jahre 1936.16 Mit Quellen gut belegt sind auch seine Berufung und Tätigkeit an der Handels-Hochschule Berlin und sein Wirkungskreis an der Berliner Fakultät von 1934 bis 1944.17 Auch zu seiner Wirkung in der politischen Geistesgeschichte nach 1945 und in der deutschen Staatsrechtslehrervereinigung gibt es sorgfältige Untersuchungen.18 Was fehlt, ist eine Gesamtbiographie.19 Ein wichtiges Motiv im Denken Schmitts ist unstrittig der Antiliberalismus. Gestritten wird aber, wie dominant dieses Motiv ist. So wurde gesagt, dass die Kritik am Liberalismus lediglich eine Vorbereitungsaktion sei, die das Feld frei machen solle für den Entscheidungskampf zwischen dem Massenglauben eines antireligiösen Diesseitsaktivismus und der Partei der Ordnung.20 In dieser Deutung erscheint Schmitt als Theoretiker der Gegenrevolution, dessen dominantes Motiv der Antimarxismus ist.21 Spätestens seit der 15 So klärt die verdienstvolle Arbeit von Koenen Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“, 1995, zwar viele biographisch-historische Fragen, vermag aber die zentrale These zur Deutung („Reichstheologie“) nicht überzeugend zu belegen. Dazu Manemann Carl Schmitt und die Politische Theologie, 2002, 119 f. Zum hermeneutischen Problem Maus Rechtsgleichheit und gesellschaftliche Differenzierung bei Carl Schmitt, in: de Pauw u.a. (Hrsg.) Gelijkheid en Conservatisme. Gleichheit und Konservatismus, 1985, 135: „Wie vielfältig auch die Vernetzung zwischen den subjektiven Optionen des Autors und seiner objektivierten wissenschaftlichen Produktion immer sein wird, so ist doch die Frage der inneren Kohärenz einer Theorie nur aus ihr selbst, das Ausmaß ihres diagnostischen Gehalts nur in Konfrontation mit der von ihr reflektierten gesellschaftlichen Wirklichkeit zu ermitteln, nicht aber aus Tagebuchnotizen, Gesprächsaufzeichnungen und Briefen zu rekonstruieren“. 16 Gräfin von Lösch Der nackte Geist, 1999, 187–190, 201–207, 429–470. 17 Tilitzki Carl Schmitt an der Handels-Hochschule Berlin 1928–1933, in: Tommissen (Hrsg.) Schmittiana IV, 1994, 157–202; ders. Carl Schmitt – Staatsrechtslehrer in Berlin. Einblicke in seinen Wirkungskreis anhand der Fakultätsakten 1934–1944, Siebte Etappe (Bonn), Oktober 1991, 62–117. 18 Van Laak Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, 1993; Günther Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, 2004. 19 Die Arbeit von Noack Carl Schmitt. Eine Biographie, 1993, wird nicht allen Ansprüchen in jeder Hinsicht gerecht. Die Biographie von Mehring Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, 2009 erschien erst nach Abgabe des Typoskripts meines Beitrags. 20 Strauß Anmerkungen zu Carl Schmitts „Begriff des Politischen“, ASwSP 67 (1932) 732 (749). 21 Bolsinger The Autonomy of the Political. Carl Schmitt´s and Lenin´s Political Realism, 2001; Mehring Pathetisches Denken. Carl Schmitts Denkweg am Leitfaden Hegels: Katholische Grundstellung und antimarxistische Hegelstrategie, 1989; Neumann Der Staat im Bürgerkrieg. Kontinuität und Wandlung des Staatsbegriffs in der politischen Theorie Carl Schmitts, 1980; Niekisch Zum Begriff des Politischen, Widerstand 8 (1933) 369 (371); Kolnai Der Inhalt der Politik, ZgStW 94 (1933) 1 (2).

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Speyerer Schmitt-Tagung wird dieser Deutung widersprochen.22 Schmitt sei – so wurde gesagt – ein katholischer Denker, seine politische Philosophie müsse als politische Theologie gelesen werden.23 Richtig ist, dass Schmitts Denken vom Katholizismus beeinflusst ist, mit dem er sich immer wieder auseinandergesetzt hat.24 Das macht ihn aber noch nicht zu einem katholischen Denker oder verkappten Theologen. Vielmehr verwendet Schmitt die Theologie für die Verabsolutierung politischer Ideen zu letzten Wahrheiten, für die Funktionalisierung von Transzendenz für weltliche Zwecke.25 In der Politikwissenschaft gibt es die Tendenz, auf solche grundsätzliche Einschätzungen zu verzichten und stattdessen die analytischen Potenzen des Schmittschen Werkes für die Analyse aktueller politischer Konflikte fruchtbar zu machen, etwa um kosmopolitische Illusionen mit Hilfe seines „Machtrealismus“ zu widerlegen.26

II. Der Jurist Wo aber bleibt der Staats- und Völkerrechtler? Betrachten wir zunächst die Auswirkungen seiner Weimarer Positionen auf das Grundgesetz. In der „Verfassungslehre“ hatte er geschrieben, dass ein Misstrauensbeschluss des Reichstages dann keine Pflicht der Regierung zum Rücktritt auslöst, wenn eine neue Regierungsbildung von vornherein unmöglich, der Beschluss also ein „Akt bloßer Obstruktion“ ist.27 Diese Auslegung hatte sich in der Weimarer Staatsrechtslehre nicht durchgesetzt, und es war nicht Schmitt, sondern Ernst Fraenkel, der erstmals mit einer eingehenden schriftlichen Begründung die Einführung des konstruktiven Misstrauensantrags durch 22

Dokumentiert in Quaritsch (Hrsg.) Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt,

1988. 23 Eine referierende Darstellung der Sekundärliteratur zu Schmitts katholischem Denken bei Kahl Elemente katholischen Denkens in säkularer Staatslehre. Zum Frühwerk Carl Schmitts, 2007, 127-222. 24 Schmitt Römischer Katholizismus und politische Form, 1923; ders. Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder politischen Theologie, 1970. Der Titel „Politische Theologie II“ ist eine jener falschen Fährten, die Schmitt gern legt. Das Thema der Schrift hat mit der 1922 erschienenen „Politische Theologie“ so gut wie nichts zu tun. 25 Kodalle Politik als Macht und Mythos. Carl Schmitts „Politische Theologie“, 1973, 47 und 118; Scholz Die Theologie Carl Schmitts, in: Taubes Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, 1983, 159 (164). Vgl. auch Manemann (Fn. 15), 92: Schmitt „kam es nicht darauf an, Religion und Staat, Politik und Glauben zu verbinden – sondern Politik zur Glaubenssache zu machen, zur Religion“. Faber Lateinischer Faschismus. Über Carl Schmitt, den Römer und Katholiken, 2001, 39: „wenn Katholik, ein Lefèbvrist avant la lettre“. 26 Mouffe Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, 2007. Vgl. auch Münkler Die neuen Kriege, 2002. 27 Schmitt Verfassungslehre, 1928, 345.

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Verfassungsänderung gefordert hatte.28 Dennoch ist Schmitts Name aus der Geschichte des Art. 67 GG nicht wegzudenken.29 In der Literatur wird die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG als „positiv-rechtlicher Niederschlag“ der Lehre von den materialen Schranken der Verfassungsrevision ausgegeben.30 Richtig ist, dass Schmitt diese Lehre als erster verfassungstheoretisch ausgearbeitet hat.31 Eine andere Frage ist, ob Art. 79 Abs. 3 GG eine konstitutive „Positivierung“ dieser Lehre oder eine deklaratorische Festschreibung der jeden Verfassung immanenten Grenzen der Verfassungsänderung ist.32 Jedenfalls ist sein Name präsent, wie auch immer die Antwort ausfallen mag. Dass der Verfassungsgeber mit dem Verbot von Verfassungsdurchbrechungen in Art. 79 Abs. 1 GG der Lehre Schmitts gefolgt sei,33 ist hingegen eine kühne These. Zwar äußert sich Schmitt zur „bisherigen Praxis des Art. 76 RV“ skeptisch, hält Verfassungsdurchbrechungen aber für zulässig, wenn es sich um „reine Souveränitätsakte“ handelt.34 Nachgewiesen wurde der Einfluss seiner Kritik an der „Wertneutralität eines nur noch funktionalistischen Legalitätssystems“, an einer „Neutralität bis zum Selbstmord“35 auf die Parteiverbotsnorm des Art. 20 Abs. 2 GG, auch wenn sein Name in den entstehungsgeschichtlichen Materialien nicht genannt wird.36 In der Dogmatik des öffentlichen Rechts ist Schmitt vor allem in den allgemeinen Lehren der Grundrechte präsent. Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip37 wird gern zur Erläuterung der Abwehrfunktion der Grundrechte herangezogen, wobei freilich nicht übersehen werden sollte, dass für Schmitt das Abwehrrecht das auf den Punkt brachte, was er am bürgerlichen Rechtsstaat verachtete.38 Wenn über Grundrechte als Einrichtungsgarantien gehandelt wird,39 können Schmitts Vorgaben zu den institutionellen Garan28

Fraenkel Verfassungsreform und Sozialdemokratie, Die Gesellschaft, Band 2 1932, 486, zitiert nach dem Wiederabdruck in: ders. Zur Soziologie der Klassenjustiz und Aufsätze zur Verfassungskrise 1931–1932, 1968, 89 (97). 29 Berthold Das konstruktive Misstrauensvotum und seine Ursprünge in der Weimarer Staatsrechtslehre, Der Staat 35 (1997) 81. 30 Maunz/Dürig Kommentar zum Grundgesetz, Art. 79 Rn. 24. 31 Schmitt (Fn. 27), 20–36. 32 Dazu Scriba „Legale Revolution“? Zu den Grenzen verfassungsändernder Rechtsetzung und der Haltbarkeit eines umstrittenen Begriffs, 2008, 181–203. 33 Mußgnug Carl Schmitts verfassungsrechtliches Werke und sein Fortwirken im Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Quaritsch (Fn. 22), 517 (519). 34 Schmitt (Fn. 27), 106–109. 35 Schmitt Legalität und Legitimität (1932), in: ders. Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–19542, 1973, 263 (301). 36 Meier Parteiverbote und demokratische Republik, 1993, weist die Präsenz Schmitts in den Beratungen des Herrenchiemsee-Konvents anhand der „Selbstmordversion“ nach. 37 Schmitt (Fn. 27), 126, 158, 181: „prinzipiell unbegrenzte Freiheitssphäre, prinzipiell begrenzte staatliche Eingriffsbefugnisse“. 38 Poscher Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, 32. 39 Mager Einrichtungsgarantien, 2003.

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tien und Institutsgarantien nicht übergangen werden,40 und wenn die verschiedenen Grundrechtsfunktionen systematisch dargestellt werden, wird selten vergessen, einen der ersten Versuche einer solchen Systematik zu erwähnen.41 Seine Warnung vor der „Auflösung des Enteignungsbegriffs“ wird in der Literatur zu Art. 14 GG zwar zitiert, beschreibt aber kein Problem mehr, über das in Rechtsprechung und Literatur gestritten würde.42 Der Versuch, den „Begriff des Politischen“ für das materielle Asylrecht des Art. 16a Abs. 1 GG fruchtbar zu machen, ist vereinzelt geblieben.43 Eine auf dem ersten Blick nicht erkennbare Rezeption gibt es im Staatsorganisationsrecht. Böckenförde hat an Schmitts rousseauistisch geprägter Demokratietheorie zwei Modifikationen vorgenommen, nämlich erstens das von Schmitt der Regierung zugeschriebene Prinzip der Repräsentation mit der Demokratie verbunden und zweitens den statischen Repräsentationsbegriff Schmitts dynamisiert.44 Dergestalt modifiziert hat Schmitts Demokratiebegriff in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum demokratischen Prinzip des Art. 20 Abs. 1 und 2 S. 1 GG einige Spuren hinterlassen.45 Ohne Modifikation taucht Schmitts Freund-Feind-Theorie in der strafrechtlichen Diskussion um das Feindstrafrecht auf, obwohl dessen Protagonist sich beharrlich weigert, Schmitt zu zitieren.46 Schmitts Beitrag zum öffentlichen Recht ist gewichtig, aber nicht überragend.47 Die Zeiten, in denen der Streit der Schmitt- mit der Smend-Schule die Vereinigung der Staatsrechtslehrer beherrschte,48 sind vorbei. Heute ist nüchtern zu konstatieren, dass eine systematische Rezeption im Sinne einer Einbindung und Weiterentwicklung seiner Lehren in die Dogmatik des öffentlichen Rechts kaum mehr stattfindet. Jüngere Autoren äußern sich denn auch skeptisch gegenüber der Rezeptionsfähigkeit seiner Lehren und verweisen auf das „Innovationspotential“ der Rechtslehre Kelsens.49 Für die 40 Schmitt Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung (1931), in: ders. Verfassungsrechtliche Aufsätze (Fn. 35), 140. 41 Schmitt Grundrechte und Grundpflichten (1932), in: ders. Verfassungsrechtliche Aufsätze (Fn. 35), 181. 42 Schmitt Die Auflösung des Enteignungsbegriffs (1928), in: ders. Verfassungsrechtliche Aufsätze (Fn. 35), 110. 43 Neumann Feindschaft als Kriterium des asylrechtlichen Politikbegriffs, NVwZ 1985, 628. 44 Böckenförde Demokratie und Repräsentation. Zur Kritik der heutigen Demokratiediskussion, 1983, 15 und 20. 45 BVerfGE 83, 37; 83, 60; 93, 37; 107, 59. 46 Jakobs Das Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft vor den Herausforderungen der Gegenwart, in: Eser u.a. (Hrsg.) Die Deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, 47. 47 Schlink Why Carl Schmitt?, Rechtshistorisches Journal 10 (1990) 160. 48 Dazu Günther (Fn. 18). 49 Jestaedt/Lepsius Der Rechts- und der Demokratietheoretiker Hans Kelsen, in: Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie, 2006, VII

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Publikationsflut in Sachen Carl Schmitt sind die deutschen Juristen jedenfalls am allerwenigsten verantwortlich. Diese Zurückhaltung muss nicht unbedingt ein Vorzug sein. Bisher war es so, dass im Zentrum der Diskussion um Methode und Grundlage des öffentlichen Rechts das Weimarer Dreigestirn Heller, Smend und Schmitt stand. Soweit der staatsrechtliche Positivismus überhaupt Erwähnung fand, wurde er zumeist mit den Namen Anschütz und Thoma abgehakt. Die beiden Antipoden des deutschen öffentlichen Rechts des vergangenen Jahrhunderts waren aber Kelsen und Schmitt. Und hierzu gibt es trotz einzelner erfreulicher Beiträge immer noch zu wenig Literatur aus der Feder von Juristen.

III. „Theoretiker staatlicher Dezision“ 1. Dezisionismus I: Herbeiführung von Rechtsbestimmtheit Eine Wandtafel im Foyer der Juristischen Fakultät stellt Carl Schmitt als „Theoretiker staatlicher Dezision“ vor. Die Grundlagen des Dezisionismus hat er in einer 1912 veröffentlichten Schrift entwickelt, in der es um die Frage geht: „Wann ist eine juristische Entscheidung richtig?“. Ein Positivist wird sie mit dem Hinweis auf ihre Gesetzmäßigkeit beantworten. Anders Schmitt: „Eine richterliche Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, dass ein anderer Richter ebenso entschieden hätte“. Damit lenkt er den Blick auf die institutionellen und verfahrensmäßigen Voraussetzungen der Rechtsanwendung, wobei der Zusatz, der „andere Richter“ meine „den empirischen Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen“, die Bedeutung der Professionalisierungsmerkmale unterstreicht, die der Jurist in seiner Ausbildung und beruflichen Praxis erwirbt.50 Kollegialprinzip, Instanzenzug, Urteilsbegründung und Berufsausbildung sorgen dafür, dass die Entscheidung „voraussehbar und berechenbar ist, dass die anderen Richter ebenso entschieden hätten“.51 Was hat das mit Dezisionismus zu tun? Jede juristische Entscheidung hat unabhängig von Kriterien inhaltlicher Richtigkeit einen Eigenwert, weil sie Rechtsbestimmtheit herbeiführt, so dass „es häufig nicht so sehr auf die Art und Weise der Regelung, als auf eine Regelung überhaupt ankommt“.52 Diese Aussage wird am Beispiel einer Polizeiverordnung erläutert, „die be(XXVI); Möllers Staat als Argument, 2000, 82 f., 127, 251, 420; Dreier Hans Kelsen (1881– 1973). „Jurist des Jahrhunderts“?, in: Heinrichs u.a. (Hrsg.) Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, 705. 50 Schmitt Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis2, 1969, 71. 51 Schmitt (Fn. 50), 74 f. 52 Schmitt (Fn. 50), 48.

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stimmt, dass Fuhrwerke nach rechts ausweichen müssen. Es ist in der Tat gleichgültig, ob nach rechts oder links ausgewichen wird, wichtig ist nur, dass man weiß, wohin man auszuweichen hat und dass man sich darauf verlassen kann, es werde allgemein nach rechts ausgewichen werden“. Schmitt setzt da an, wo die Rechtstheorie Kelsens offen ihre Unzuständigkeit erklärt, nämlich bei der Rechtsanwendung, also bei der Methode der Rechtspraxis.53 Damit formulierte der 24jährige Schmitt die erste ernstzunehmende KelsenKritik in der deutschen Staatsrechtslehre.54 Es schien, dass Kelsen einen Kritiker gefunden hatte, der ihm an aufgeklärter Rationalität und juristischer Kreativität ebenbürtig war. 2. Dezisionismus II: Funktionalisierung von Transzendenz für staatslegitimatorische Zwecke Die Staatsrechtslehre des Kaiserreichs war sich weitgehend einig, dass der Staat dem Recht historisch und kategorial vorgängig und das Recht Emanation des Staatswillens ist.55 Dagegen war für Kelsen der Staat „allrechtlicher Natur“56 und nur einer normativen Betrachtung zugänglich. Dieser noch etwas ungenau formulierte Gedanke erhielt später die klare Fassung, dass der Staat nichts anderes als der bloße Ausdruck für die Einheit der Rechtsordnung, also mit dem Recht identisch sei.57 Diesen Meinungsstand fand Schmitt vor, als er in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahre 1914 den Staat in den Mittelpunkt der Reihe „Recht, Staat und Individuum“ stellte. Das Recht sei „selbständig und unabhängig“ sowohl gegenüber der Macht als auch gegenüber einer Anerkennung durch die Menschen, woraus folge, dass das Recht nicht mit den Vorgängen, die das positive Recht erzeugen, 53

Schmitt (Fn. 50), 56 f. zitiert Kelsen Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911, 508: „Allein, die Frage, wie das von Rechtsnormen freie Ermessen geregelt werden kann, ist . . . kein juristisches, sondern ein moralisches oder politisches Problem“. Methodische Auslegungsfragen sind für Kelsen in der Tat „von nebensächlicher Bedeutung“ (ebd., 510). Kritisch zu dieser Zurückhaltung Held-Daab Das freie Ermessen. Von den vorkonstitutionellen Wurzeln zur positivistischen Auflösung der Ermessenslehre, 1996, 245; Dreier (Fn. 49), 726 f. 54 Vgl. Hofmann Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts2, 1992, 33: „. . . Schmitt unternimmt . . . nichts anderes, als gerade in jenem Ermessensbereich, für den Kelsen ausdrücklich jedwede Möglichkeit juristischer Konstruktion ausschließt, . . . eine juristische Konstruktion zu versuchen“. 55 Nachweise bei Krabbe Die Lehre der Rechtssouveränität. Beitrag zur Staatslehre, 1906, 85–92, 95–123. Krabbes Betrachtung der gesamten deutschen Staatsrechtslehre seit Maurenbrecher gelangt zu dem Ergebnis, dass alle Autoren „an einer dem Staate von Natur eigenen Gewalt“ festhalten, dass also die Macht des Staates „eine ihm innewohnende, ursprüngliche, rechtlich von keiner andern Macht abgeleitete Macht“ sei (120). Nur Hugo Preuß wird – mit Vorbehalten – das Verdienst zugestanden, die Selbständigkeit des Rechts betont zu haben (114 ff.). 56 Kelsen Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911)2, 1923, 253. Vgl. dazu die kommentierenden Hinweise im Vorwort zur 2. Auflage XVI. 57 Kelsen Allgemeine Staatslehre, 1925, 76, 105 f.

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abgeschlossen sein könne. Damit grenzt er sich von der „landläufigen Methode“, d.h. vom staatsrechtlichen Positivismus Labandscher Prägung ab. Das Recht sei vielmehr „abstrakter Gedanke, der nicht aus Tatsachen abgeleitet (werden, V.N.) und nicht auf Tatsachen einwirken kann“.58 Dieses „Naturrecht ohne Naturalismus“59 sei keiner kausalwissenschaftlichen, sondern nur einer normativen Betrachtung zugänglich. Bis hierher ist die Übereinstimmung mit Kelsen unübersehbar.60 Das Recht enthält zwar kein einziges Molekül sozialer Wirklichkeit, drängt aber gleichwohl auf seine Verwirklichung. Diese widerstrebenden Aussagen schlagen sich in der Konstruktion des Staates nieder, der einerseits eine ideelle, andererseits eine faktische Größe sei.61 Der Staat als Idee verdanke seine Würde dem Recht, das der „Schöpfer des Staates“ sei.62 Entgegen der Rechtstheorie Kelsens ist der Staat aber nicht vollständig mit dem Recht identisch, weil er ja den Übergangspunkt von der empirischen Welt zum Recht bildet.63 Er ist das „Rechtsgebilde, dessen Sinn ausschließlich in der Aufgabe besteht, Recht zu verwirklichen“, woraus folgt, dass jeder Staat ein Rechtsstaat ist.64 Was aber ist Rechtsverwirklichung, wenn Recht nicht mehr als ein abstrakter Gedanke ist, der nie eine Verbindung mit der Wirklichkeit eingehen kann? Da Zwang und Macht nicht zum Recht, sondern zum Staat gehören, scheint nur die Alternative zu bleiben, dass entweder die Verwirklichungsakte des Staates bloßer Zwang sind oder das abstrakte Recht aufgrund der Verbindung mit der feindlichen Wirklichkeit seine Abstraktheit verliert, also nicht mehr Recht ist. Schmitt will dieser Alternative entgehen, indem er das „ganze Gebiet des empirischen Rechtes“ in zwei Komplexe zerschlägt, nämlich in das originäre, abstrakte Recht und in das staatliche, zweckbestimmte Recht.65 58

Schmitt Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, 1914, 37 f. Schmitt (Fn. 58), 75 f. 60 Diese Übereinstimmung hatte einen Rezensenten zu der spitzen Bemerkung veranlasst, Schmitt nenne Kelsen „nur so nebenbei (77)“, ohne seine „Hauptprobleme“ ordentlich zu zitieren. Weyr Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1 (1914) 578 (579). Zitiert hatte Schmitt Kelsens Buch in „Gesetz und Urteil“ (Fn. 50), die Erwähnung von Kelsen nimmt darauf thematisch (Zweckbegriff und Interpretation) Bezug. Der Versuch, Schmitt für die „von Kelsen inaugurierte Richtung“ zu vereinnahmen, mutet ziemlich penetrant an. Kelsen selbst hatte solche Versuche der Vereinnahmung immer mal wieder unternommen, was Hermann Heller auf der Tagung der Staatsrechtslehrer in München in einen Zornesausbruch getrieben hatte. Vgl. den Diskussionsbeitrag Kelsens und das Schlusswort Hellers in: VVDStRL 4 (1928) 177 f. und 202 f. 61 Schmitt (Fn. 58), 40. 62 Schmitt (Fn. 58), 46. 63 Weyr (Fn. 60), 580 spricht von einer „Zwitterstellung des Staates als eines Vermittlers zwischen den Welten des Sollens und Seins“. 64 Schmitt (Fn. 58), 55. 65 An diesem Punkt wechselt Schmitt, wie er das häufig tut, wenn juristische Konstruktionen brüchig werden, in eine theologisierende Sprache: Die staatlichen Rechtsakte seien der „Abglanz“ des abstrakten Rechts in der empirischen Wirklichkeit. Schmitt (Fn. 58), 75 f. 59

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Diese zwei Rechte stehen sich nicht in zwei abgeschlossenen Massen gegenüber, sondern seien in jedem empirischen Rechtssatz anzutreffen und zu scheiden. Damit wird die Brücke zum Dezisionismus geschlagen: Der Staat kann in jedem Rechtsakt eine Autorität beanspruchen, die nicht aus der inhaltlichen Zweckmäßigkeit der Regelung, sondern aus dem festgestellten, gleichwohl aber unsichtbar-abstrakten Recht folgt. Deshalb kann es wichtiger sein, „dass überhaupt etwas positive Bestimmung wird, als welcher konkrete Inhalt dazu wird“.66 Einfacher formuliert: Der Staat ist immer im Recht, wenn und solange er handelt. Schmitt verweist an diesem Punkt auf den Zusammenhang mit seiner Schrift „Gesetz und Urteil“. Diese Verweisung ist irreführend, weil sie die unterschiedlichen Fassungen des dezisionistischen Elements in beiden Schriften unbenannt lässt. 1912 folgte der Eigenwert der juristischen Entscheidung aus der Herbeiführung von Rechtsbestimmtheit. 1914 geht es dagegen um die Ausstattung jedes staatlichen Rechtsaktes mit einer Autorität, die nicht von dieser Welt ist, also um eine Funktionalisierung von Transzendenz für staatslegitimatorische Zwecke. Trotz der genannten Übereinstimmungen zwischen Schmitt und Kelsen sind die Differenzen erheblich. Kelsen begreift den Staat als stets veränderbare Rechtsordnung. Damit zerstört er eine tradierte Herrschaftsstrategie, die Versuchen einer Änderung der Staatsordnung seit jeher mit Argumenten aus dem Wesen des Staates entgegengetreten ist, und beseitigt das politisch wohl wirksamste Hindernis einer Staatsreform im Interesse der Beherrschten.67 Dagegen legitimiert Schmitt die konkreten staatlichen Rechtsakte mit seinem vorstaatlichen, abstrakten Recht, über das die Individuen nicht verfügen können. Denn der Staat sei das einzige Subjekt des rechtlichen Ethos, „das konkrete Individuum dagegen wird vom Staate gezwungen, und seine Pflicht wie seine Berechtigung sind nur der Reflex eines Zwanges“.68 Der antiindividualistische Zug der Schmittschen Staats- und Rechtstheorie ist schon in diesem Frühwerk dominant.69 3. Dezisionismus III: Theorie des gelungenen Staatsstreichs Schmitt greift den dezisionistischen Ansatz, also die These vom Eigenwert der juristischen Entscheidung unabhängig von Kriterien inhaltlicher Richtigkeit, in der „Politischen Theologie“ aus dem Jahre 1922 wieder auf. Zwar war 66

Schmitt (Fn. 58), 81. Kelsen Gott und Staat (1922/23), in: ders. Aufsätze zur Ideologiekritik, 1964, 29 (54). 68 Schmitt (Fn. 58), 85. – „Kein Individuum hat im Staate Autonomie“ (101). 69 Der Antiindividualismus ist auch der zentrale Kritikpunkt in der Besprechung von Waldecker Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 53 (1916) 337 (339): „Der Feuilletonist der jüngsten Vergangenheit könnte seine helle Freude an den Deduktionen des Verf. haben, die das Verhältnis zwischen Staat und Individuum in der jüngsten Gegenwart so richtig zu kennzeichnen scheinen“. 67

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sich die Staatsrechtslehre des Kaiserreichs einig, dass der Staat dem Recht vorgeht, jedoch sollte der Staat gleichwohl rechtlichen Bindungen unterliegen, also Rechtsstaat sein. Georg Jellinek hatte diese gegenläufigen Aussagen in der Lehre von der rechtlichen Selbstverpflichtung des Staates verbunden,70 die Kelsen zu der Kritik veranlasste, die Staatsrechtslehre leide an Ungereimtheiten und Widersprüchen, die den erkenntnistheoretischen Mängeln der Theologie nachgebildet seien.71 Schmitt machte sich zum Sprecher der gesamten deutschen Staatsrechtslehre, die am Vorrang des Staates vor dem Recht festhielt, als er Kelsens Analogisierung von Staatsrecht und Theologie aufgriff und ins Positive wendete: „Alle prägnanten Begriff der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“.72 Die Souveränität erweist sich in der Entscheidung über den Ausnahmezustand, in dem die geltende Rechtsordnung aufgehoben wird. Dennoch soll die Ausnahme nicht „Soziologie“ sein, sondern ein „spezifischjuristisches Formelement, die Dezision“73 enthalten. Dieses Formelement soll aus der Zuständigkeit dessen folgen, der die souveräne Entscheidung fällt. Da die Rechtsordnung im Ausnahmezustand aufgehoben ist, kann sich diese Zuständigkeit nicht aus ihr ergeben. Zuständig sei vielmehr dasjenige Subjekt, das dem metaphysischen Bild entspricht, das sich ein Zeitalter von der Welt macht. Denn dieses Bild habe dieselbe Struktur wie das Bild, das der Zeit als Form ihrer politischen Organisation unmittelbar einleuchte.74 Was das metaphysische Bild der Zeit sei, in der Schmitt diesen Text verfasst hat, wird nicht explizit ausgesprochen, aber mit der Rezeption der „Theorie der Gegenrevolution“ doch nachhaltig angedeutet: Die Diktatur.75 Der Rationalitätsdruck, der von der Rechtstheorie Kelsens ausgeht, zwang Schmitt in den wolkigen Himmel der Ideen. Wie brüchig diese Ideologie ist, zeigt eine einfache Frage: Wie lässt sich erkennen, dass es das zuständige Subjekt ist, das die souveräne Entscheidung trifft, und nicht ein Subjekt, das sich diese Zuständigkeit nur anmaßt? Ein rechtliches oder überhaupt ein materiales Kriterium für die Beantwortung dieser Frage gibt es nicht. Es kann nur ein soziologisches Kriterium sein, nämlich die Kraft, mit der die Entscheidung gefällt wird, die Wucht, mit der die Trennung von Wirklichkeit und Recht, von Sein und Sollen durchbrochen wird.76 Schmitts „Politische Theologie“ ist am Ende dann doch nur eine Theorie des gelungenen Staatsstreiches. 70

Jellinek Allgemeine Staatslehre (1900)3, 1914, 367–375, 476–484. Kelsen Der soziologische und der juristische Staatsbegriff2, 1981, 226–230. 72 Zitiert wird aus der leichter zugänglichen 2. Auflage: Schmitt Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität2, 1934, 49. 73 Schmitt (Fn. 72), 19. 74 Schmitt (Fn. 72), 59 f. 75 Schmitt (Fn. 72), 66. 76 Einfacher gesprochen: Schmitts Souveränitätstheorie „läuft, zu Ende gedacht, auf die nicht gerade neue und nicht gerade zwingende Weisheit hinaus: Der Stärkere hat immer 71

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IV. Staatsrecht und Politik Kelsen und Schmitt trafen im Streit um den Demokratiebegriff ein weiteres Mal aufeinander. Erneut hatte Kelsen, diesmal als politischer Theoretiker, mit seiner 1920 erschienenen Schrift „Wesen und Wert der Demokratie“ die Vorgabe geliefert, auf die Schmitt mit seiner Parlamentarismus-Schrift antwortete.77 Diese eher politikwissenschaftliche Auseinandersetzung wurde oft kommentiert, so dass sie hier überschlagen wird. Danach herrschte zwischen beiden vorübergehende Funkstille. Zwar gibt es in der „Verfassungslehre“ die eine oder andere Passage, die Kelsens Rechtstheorie kritisiert, etwa als letzter und überholter Ausläufer der Theorie des bürgerlichen Rechtsstaats.78 Aber eigentlich interessierte sich Schmitt 1928 schon nicht mehr für die reine Rechtslehre, da er endgültig in den antipositivistischen Hauptstrom eingebogen war, der sich einig war, dass „Staatsrecht und Politik“ nicht getrennt werden können.79 Deshalb dürfte ihn die Kritik aus der Wiener Schule, seine Verfassungstheorie sei logisch verfehlt, weil sie Soziologie und Rechtstheorie vermenge und die Wirksamkeit der Verfassung nicht von ihrer Geltung unterscheide, wenig beeindruckt haben.80 Sein abschließendes Urteil über die reine Rechtslehre hatte er schon 1922 gefällt: „Einheit und Reinheit sind aber leicht gewonnen, wenn man die eigentliche Schwierigkeit mit großem Nachdruck ignoriert und aus formalen Gründen alles, was sich der Systematik widersetzt, als unrein ausscheidet“.81 Die eigentlichen Schwierigkeiten – das sind die Störungen der Normalität in der Ausnahmesituation, die pathologischen Züge von Recht und Wirklichkeit, die epochalen Freund-Feindkonstellationen. Recht“. Kraft-Fuchs Prinzipielle Bemerkungen zu Carl Schmitts Verfassungslehre, Zeitschrift für öffentliches Recht 9 (1930) 511–541 (538 f.). Zur Autorin Stolleis A Critique from the „Wiener Kreis“. Margit Kraft-Fuchs (1902–1994) on Carl Schmitt, in: Diner/ Stolleis (Hrsg.) Hans Kelsen and Carl Schmitt. A Juxtaposition, 1999, 123–131. 77 Schmitt Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), 2. Auflage 1926. 78 Schmitt Verfassungslehre (1928)5, 1970, 8 f. 79 „Alle politischen Begriffe entstehen aus einem konkreten, außen- oder innenpolitischen Gegensatz und sind ohne diesen Gegensatz nur missverständliche, sinnlose Abstraktionen“. Schmitt Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, 1930, 5. Speziell auf Kelsen war der häufig geschriebene Satz gemünzt, es sei „ein spezifisch politischer Kunstgriff . . ., die eigene Auffassung als unpolitisch, die Fragen und Meinungen des Gegners als politisch hinzustellen“. Schmitt Der Hüter der Verfassung (1931)2, 1969, 3, vgl. auch ebd. 25 in Fn. 2: „gerade der Formalismus im öffentlichen Recht (kann) einen spezifisch politischen Sinn haben“. Vgl. auch ders. Hugo Preuß, ebd. 6; ders. Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 1963, 21 in Fn. 2. 80 Kraft-Fuchs (Fn. 76), 527. 81 Schmitt (Fn. 72), 30.

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V. Wer soll „Hüter der Verfassung“ sein? Schmitt nahm zum Sommersemester 1928 einen Ruf an die Handelshochschule Berlin an.82 Die neue Tätigkeit musste er schon deshalb als beruflichen Abstieg empfinden, weil hier nicht Juristen, sondern Kaufleute und Gewerbelehrer ausgebildet wurden.83 In der Zeit bis zu seinem vorübergehenden Wechsel an die Universität Köln zum Sommersemester 1933 entwickelte er die staatsrechtlichen Grundlagen für die Präsidialdiktatur Hindenburgs, d.h. die Theorie des starken Staates, der gestützt auf Beamtentum, Militär und eine „gesunde Wirtschaft im starken Staat“84 gegen das Parlament regiert. In diesem Zusammenhang kam es 1931 zu einem weiteren Schlagabtausch mit Kelsen.85 Die Vorgeschichte begann 1928 mit der Tagung der Deutschen Staatsrechtlehrer in Wien, wo Kelsen zum Thema „Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit“ referierte. Sein Vortrag setzte sich mit den Vorbehalten und Einwänden der Gegner der Einrichtung eines deutschen Verfassungsgerichts auseinander, um zu dem klaren Ergebnis zu gelangen, dass eine Verfassungsgerichtsbarkeit zwar mit Risiken verbunden sei, gegen die aber rechtliche Vorkehrungen getroffen werden können. Ein Argument aus seinem Vortrag ist besonders eindrucksvoll: Einer Verfassung fehlt der Charakter voller Rechtsverbindlichkeit, solange verfassungswidrige Akte der Staatsgewalt nicht aufgrund ihrer Verfassungswidrigkeit aufgehoben werden können. „Jedes beliebige Gesetz, jede einfache Verordnung, ja jedes generelle Rechtsgeschäft privater Parteien übertrifft eine solche Verfassung . . . an Geltungskraft“.86 Schmitt antwortete mit dem Buch „Der Hüter der Verfassung“,87 in dem er zwei Argumentationsstränge entwickelte. Der erste ist der Versuch, die 82

Tilitzki (Fn. 17), 157–202. Die Erklärung der Inkaufnahme dieses Abstiegs mit der Aussicht, in Berlin Zugang zu den Zentralen staatlicher Macht zu finden (Noack [Fn. 19], 99 f.), überzeugt nicht. Es wird vielmehr so gewesen sein, dass nach dem Skandal um die Scheidung von seiner ersten Frau ein Verbleib im katholischen Bonn schwierig geworden war. Koenen (Fn. 15), 87 f. 84 Schmitt Gesunde Wirtschaft im starken Staat, in: „Langnamverein“. Mitteilungen des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen, 1932, N.F. 21. Heft, 13. 85 Eine instruktive Darstellung dieses Konflikts bei Mantl, Kelsen und Schmitt, in: Krawietz/Topitsch/Koller (Hrsg.) Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1982, 196–199. 86 Kelsen Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVdStRL 5 (1929) 31 (78). 87 Schmitt Hüter (Fn. 79). Grundlage des Buches ist Schmitts gleichnamiger Aufsatz in AöR 16 (1929) 161-237. Zusätzlich hatte er einige weitere Aufsätze und Vorträgen aus den Jahren 1929 und 1930 eingearbeitet. So z.B.: ders. Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (1930), in: ders. Verfassungsrechtliche Aufsätze (Fn. 35), 41; ders. Die Wendung zum totalen Staat (1931), in: ders. Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939, 1940, 146. 83

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rechts- und verfassungstheoretische Sinnwidrigkeit bzw. Unmöglichkeit einer Verfassungsgerichtsbarkeit nachzuweisen.88 Schmitts zentrale These hierzu lautet, dass die Entscheidung über Zweifel und Meinungsverschiedenheiten in Verfassungsfragen nicht mehr Justiz sei. Diese These wird mit zwei Argumenten begründet. Erstens wird gesagt, dass eine generelle Norm nicht auf eine andere generelle Norm justizförmig angewandt werden könne.89 Dieses Argument ist leicht zu widerlegen, da seit dem Kaiserreich die Gerichte die Übereinstimmung untergesetzlicher Verordnungen mit dem Parlamentsgesetz überprüft haben, ohne dass jemand die „Unmöglichkeit“ dieses Verfahrens bemerkt hätte. Das zweite Argument behauptet, dass die typische justizförmige Arbeitsweise die Subsumtion in dem Sinne sei, dass der Richter seine Entscheidung in einer logischen Operation „aus einer anderen, messbar und berechenbar im Gesetz bereits enthaltenen Entscheidung“ ableite.90 Dieses Argument ist methodisch naiv und widerspricht frontal der eigenen Lehre vom Eigenwert der juristischen Entscheidung, die er seit 1912 in verschiedenen Variationen entwickelt hatte.91 Es überrascht, dass er im „Hüter der Verfassung“ doch noch auf seine Lehre vom Dezisionismus zu sprechen kommt, wonach selbst in einem gerichtlichen Urteil ein „Element reiner Entscheidung“ liege, das nicht aus dem Inhalt einer Norm abgeleitet werden kann. Schmitt braucht diese Lehre zur Begründung seiner These, dass ein Verfassungsgericht „Verfassungsgesetzgeber in hochpolitischer Funktion“ wäre.92 Der Widerspruch liegt auf der Hand: Wenn gerichtliche Entscheidungen (auch) Dezision sind, wäre eine Verfassungsgerichtsbarkeit nichts Ungewöhnliches, sondern typische justizförmige Tätigkeit. Kelsen, der alle diese rechtstheoretischen Widersprüche noch im Jahre des Erscheinens des Buches herausgearbeitet hatte, blieb nur noch die verwunderte Frage, „warum ein Autor von so außerordentlichem Geist wie C. S. sich in so handgreifliche Widersprüche verwickelt“.93 Den zweiten Argumentationsstrang entwickelt Schmitt im zweiten Kapitel, das den Titel „Die konkrete Verfassungslage der Gegenwart“ trägt und seine Pluralismus- und Parteienkritik prägnant zusammenfasst. Pluralismus bezeichnet eine Vielzahl fest organisierter sozialer Machtkomplexe, die sich der staatlichen Willensbildung bemächtigen, ohne aufzuhören, nur soziale, also 88 Die Frage nach einer Verfassungsgerichtsbarkeit ist von der nach der Zulässigkeit eines richterlichen Prüfungsrechts gegenüber Parlamentsgesetzen zu unterscheiden. Dazu und zu Schmitts unsicheren Darlegungen zum Prüfungsrecht Wendenburg Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, 1984, 175–183. 89 Schmitt Hüter (Fn. 79), 42. 90 Schmitt Hüter (Fn. 79), 37 f. 91 Darauf hat bereits Wendenburg (Fn. 88), 182 in Fn. 112 hingewiesen. 92 Schmitt Hüter (Fn. 79), 45 f., 48. 93 Kelsen Wer soll der „Hüter der Verfassung“ sein?, Die Justiz VI (1930/31) 576–628 (592).

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nicht-staatliche Gebilde zu sein. Diese Machtkomplexe, zu denen vor allem die Parteien gehören, hätten das Parlament zum Schauplatz des pluralistischen Staates, des „labilen Koalitions-Parteien-Staates“94 gemacht und die von der Verfassung geforderte „homogene, unteilbare Einheit des ganzen deutschen Volkes“ zerstört. Dann begibt sich Schmitt auf die Suche nach einer neutralen Gewalt, einem „pouvoir neutre et indermédiaire, der nicht über, sondern neben den andern verfassungsmäßigen Gewalten steht, aber mit eigenartigen Befugnissen und Einwirkungsmöglichkeiten ausgestattet ist“.95 Fündig wird er in der Stellung des Reichspräsidenten, der im Mittelpunkt eines auf plebiszitärer Grundlage aufgebauten Systems von parteipolitischer Neutralität und Unabhängigkeit stehe.96 Damit werden die zwei Argumentationsstränge zusammengeführt. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit müsste zum Schauplatz der Auseinandersetzung der Interessenverbände und Parteikoalitionen werden, würde also die Zersplitterung der staatlichen Einheit durch das pluralistische System lediglich widerspiegeln.97 Nur der demokratisch legitimierte Reichspräsident könne ein „Gegengewicht gegen den Pluralismus sozialer und wirtschaftlicher Machtgruppen“ bilden und als „Hüter und Wahrer der verfassungsmäßigen Einheit und Ganzheit des deutschen Volkes“ handeln.98 Kelsen kann in der Auseinandersetzung mit dem „soziologischen Unterbau“ der Lehre vom „Hüter der Verfassung“ die Antwort auf seine „verwunderte Frage“ nach dem Grund für die Widersprüche in Schmitts Argumentation geben: Schmitt brauche die rechtstheoretische Behauptung, Verfassungsgerichtsbarkeit sei keine Justiz, um dem Reichspräsidenten diese Funktion zu übertragen. Die für Schmitt „typische Vermengung von Rechtstheorie und Rechtspolitik“, von „Wissenschaft und Politik“ sei die „typische Methode moderner Ideologiebildung“.99 Mit einer Frage legt Kelsen offen, welches politische Ziel mit dieser Ideologie verfolgt wird: „Dieses Parlament, das im Augenblick seines Sieges auf eine geheimnisvolle Weise in sich selbst auseinander bricht . . .: Sollte das nicht einfach der Ausdruck dafür sein, dass das Bürgertum überall dort, wo infolge der Gestaltung des Klassenkampfes das Parlament aufgehört hat, ein brauchbares politisches Instrument der Klassenherrschaft zu sein, sein politisches Ideal ändert und von der Demokratie zur Diktatur übergeht?“.100 Trotz aller Gegensätze gibt es immer noch eine Gemeinsamkeit. Kelsen stimmt Schmitts Dezisionismus ausdrücklich zu und erklärt das „dezisionisti94

Schmitt Hüter (Fn. 79), 88. Schmitt Hüter (Fn. 79), 132. 96 Schmitt Hüter (Fn. 79), 158. 97 Schmitt Hüter (Fn. 79), 64. 98 Schmitt Hüter (Fn. 79), 158. 99 Kelsen (Fn. 93), 576 (593, 627). 100 Kelsen (Fn. 93), 576 (626 in Fn. 1). 95

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sche Element“ seiner eigenen Lehre mit dem Stufenbau der Rechtsordnung. Gesetzgebung ist Anwendung der übergeordneten Verfassungsnorm und zugleich Rechtserzeugung. In gleicher Weise ist das Urteil eines Gerichts oder der Verwaltungsakt einer Behörde Anwendung des Gesetzesrechts und zugleich Rechtserzeugung.101 Die anzuwendende Norm determiniert also die Entscheidung des Rechtsanwenders niemals vollständig, woraus folgt, dass nicht nur die Entscheidungen des Gesetzgebers, sondern auch die der Justiz so etwas wie „politische“ Elemente aufweisen. Damit hat er die Begründung gegeben, warum es keinen qualitativen Unterschied zwischen der Rechtsprechung eines einfachen Gerichts und der eines Verfassungsgerichts geben kann. Zu erinnern bleibt nur noch, dass Schmitt 1912 aufgebrochen war, die methodische Blindstelle des „freien Ermessens“ in Kelsens Lehre juristischkonstruktiv zu beseitigen. Dieser Aufbruch ist zwanzig Jahre später in ideologischen Selbstwidersprüchen stecken geblieben.

VI. Der gescheiterte „Kronjurist des Dritten Reichs“ Schmitt wurde zum 1.10.1933 vom Ministerium auf eine Professur an der Berliner Juristenfakultät berufen, obwohl er niemals auf einer Vorschlagsliste der Fakultät gestanden hatte. Die Begründung lautete, seine Anwesenheit in Berlin sei „aus staatspolitischen Gründen erforderlich“.102 Die Fakultät kuschte. Schmitt war nach der Machtübergabe an Hitler in die NSDAP eingetreten und hatte sogleich begonnen wie ein Besessener Aufsätze und Broschüren zu publizieren, die die einzelnen Etappen der Festigung der nationalsozialistischen Diktatur legitimierten und die Anpassung der Weimarer Rechtsund Verfassungsordnung an das neue Regime vorantrieben. Das alles ist bekannt und wurde vielfach beschrieben, so dass hier Stichworte genügen sollen: Schon 1933 verkündete er „Die Weimarer Verfassung gilt nicht mehr“, reduzierte die Bedeutung der Legalität der Machtübergabe auf einen „Funktionsmodus des staatlichen Beamten- und Behördenapparates“ und denunzierte die Behauptung der Fortgeltung einzelner Elemente der Weimarer Verfassung als „Sabotageakt“.103 Bekanntlich war Hitler jede Behinderung seiner Handlungsfreiheit durch rechtliche Vorgaben zuwider. Deshalb wurde das Projekt einer nationalsozialistischen Verfassung rasch beerdigt und Schmitt nannte den Ruf nach einer NS-Verfassung „liberale Reaktion“ und eine „dem Nationalsozialismus feindliche Verfassungsvorstellung“.104 Hitler wusste, dass er zunächst taktische Rücksicht nehmen musste, um die Loyalität des 101 102 103 104

27.

Kelsen (Fn. 93), 576 (592). Von Lösch (Fn. 16), 187–190; Koenen (Fn. 15), 449 f. Schmitt Staat, Bewegung, Volk, 1933, 5 und 8. Schmitt Ein Jahr nationalsozialistischer Verfassungsstaat, Deutsches Recht 4 (1934)

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konservativen Beamtentums, der Richterschaft und hohen Militärs zu sichern. An dieser „Rechtsfront“ leistete Schmitt seine wertvollsten Dienste, indem er der juristischen Praxis die spärlichen Anweisungen und Stichworte lieferte, auf die in der Phase der Etablierung des NS-Regimes nicht gänzlich verzichten werden kann: Die Dreiteilung der politischen Einheit in Staat, Bewegung, Volk, der „unbedingte Vorrang der politischen Führung“ als „Grundgesetz des heutigen Staatsrechts“105 und die Verbindlichkeit der nationalsozialistischen Weltanschauung für die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln.106 Mit seinem „konkreten Ordnungsund Gestaltungsdenken“ stellte er ein geschmeidiges Instrumentarium für den exzessiven Pragmatismus der nationalsozialistischen Politik zwischen den Polen „Abbremsen“ und „Beschleunigen“ bereit.107 Die Rechtfertigung der Mordaktion gegen die SA-Führung mag zwar die politische Führung wenig beeindruckt haben, dürfte aber für viele konservative Juristen durchaus ein wirksames Sedativum gewesen sein.108 Im Werke Schmitt lässt sich vor 1933 keine antisemitische Äußerung finden.109 Das änderte sich jetzt. Seine antisemitischen Ausfälle waren nicht nur „Lippenbekenntnisse“ und sie beteten auch nicht nur die Phrasen der Nazis nach. Der Nachweis der jüdischen Herkunft des konservativen preußischen Staatsphilosophen Friedrich Julius Stahl, den Schmitt „Joll Jolson“ oder „Stahl Jolson“ nannte, war sein ganz persönlicher Forschungsbeitrag zur „Rassenseelenkunde“.110 Tiefpunkt der antisemitischen Aktivitäten war die Tagung „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“, die Schmitt mit einer Verteidigung des „großartigen Kampf(s)“ des Gauleiters Julius Streicher gegen „jüdische Emigranten“ eröffnete. Schmitts Antisemitismus hatte eine klare (wissenschafts-) politische Stoßrichtung: Als jüdisch wurde der Liberalismus111 und der juristische Positivismus, die „Wiener Schule des Juden Kelsen“ bezeichnet.112 105 106

Schmitt (Fn. 103), 9. Schmitt Neue Leitsätze für die Rechtspraxis, Juristische Wochenschrift 62 (1933)

2793. 107 108

Schmitt Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934. Schmitt Der Führer schützt das Recht, Deutsche Juristen-Zeitung 39 (1934) Sp. 945–

950. 109 Zu der unter einem Pseudonym erschienenen Jugendschrift Negelinus Schattenrisse, 1913 s. Villinger Carl Schmitts Kulturkritik der Moderne, 1995, 138 f., 187, 194, 263 f., 293. Mitautor der satirischen Schrift, die im Buch von Villinger abgedruckt ist, war Schmitts jüdischer Jugendfreund Fritz Eisler. 110 Schmitt (Fn. 103), 30; ders. Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist 1936, Deutsche Juristen-Zeitung 41 (1936) Sp. 1193 (1196). 111 Schmitt Die geschichtliche Lage der deutschen Rechtswissenschaft, Deutsche Juristen-Zeitung 41 (1936) Sp. 15 (16). 112 Das Judentum in der Rechtswissenschaft. Ansprachen, Vorträge und Ergebnisse der Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer des NSRB vom 3. und 4.10.1936, 1936, 14 (15), 28 (30).

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Schmitt hatte in den ersten Jahren der NS-Diktatur seine Stellung als führender nationalsozialistische Staatsrechtler gefestigt und so viele Ämter angehäuft, dass man meinen konnte, er sei auf seinem Weg zum „Kronjuristen des Dritten Reichs“ nicht mehr aufzuhalten. Seine Karriere erhielt jedoch im Jahre 1936 durch Interventionen der SS einen heftigen Knick.113 Nach 1945 gab er seine Niederlage in dem Machtkampf unter Nationalsozialisten als Akt der politischen Verfolgung aus114 und schaffte es tatsächlich, dass der eine oder andere dieser Geschichtsklitterung auf den Leim ging.

VII. Völkerrechtliche oder völkische Großraumordnung Der Karriereknick hatte Schmitt belehrt, dass es inopportun sein konnte, sich mit dem machtnahen Staatsrecht zu beschäftigen. Also konzentrierte er sich jetzt ganz auf das Völkerrecht, in dem die Gefahr geringer war, in machtpolitische Fehden der NS-Hierarchien verstrickt zu werden. An seinen völkerrechtlichen Arbeiten nach 1933 lassen sich die Etappen der NSAußenpolitik präzise ablesen.115 In der ersten Etappe ging es um die Abwehr von Interventionen und um die Befreiung von den Fesseln des Versailler Vertrags. Schmitt erfand einen Katalog von „Grundrechten der Völker und Staaten“, insbesondere jener Staaten, „die sich selbst unter Besinnung auf ihre eigene Art innerstaatlich in Ordnung gebracht haben“. Die revisionistischen Ziele wurden in der Rede von einer „konkreten Ordnung konkret existierender Völker“ angedeutet, deren Prinzip die „clausula rebus sic stantibus“ und der „Vorbehalt der vitalen Interessen“ sei.116 Nachdem in den Vereinigten Staaten Stimmen laut geworden waren, die von einer Pflicht der neutralen Staaten zum Beistand zugunsten der Staaten gesprochen hatten, die gegen eine Aggression kämpfen und einen gerechten Krieg führen, beschwor er die „Unteilbarkeit des Neutralitätsbegriffs“ des traditionellen Völkerrechts.117 Ein großer Wurf gelang Schmitt noch einmal mit der Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“, die eine „deutsche Monroe-Doktrin“ entwickelte und ihren Verfasser auch

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Von Lösch (Fn. 16), 429–470. Die ersten Maschen dieser Legende strickte er in den Verhören durch Kempner in Nürnberg: Wieland Carl Schmitt in Nürnberg, 1999, Heft 1, 1987, 96 (112, 120). 115 Neumann Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944 (Erstausgabe 1942), 1977, 193–203. 116 Schmitt Nationalsozialismus und Völkerrecht, 1934, 8, 11. Eine erste Kritik an Schmitts „völkerrechtlichem Naturrecht“ und seinen Widersprüchen bei Bristler (Pseudonym für John H. Herz) Die Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus, 1938, 83 f. 117 Schmitt Das neue Vae neutris (1938), in: ders. Positionen und Begriffe (Fn. 87), 253. 114

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international bekannt machte.118 Dem „bisherigen Zentralbegriff des Völkerrechts, dem Staat“ wird das Reich entgegen gesetzt,119 das mit der Trias „Großraum, Volk, politische Idee“ eher nebulös umschrieben denn definiert wird. Jedenfalls soll das Reich die Strukturelemente des überholten Staates aufnehmen: Mindestmaß an Organisation, berechenbares Funktionieren und Disziplin. Klarer sind die Aussagen zum Großraum, der ein „Bereich menschlicher Planung, Organisation und Aktivität“ und von wirtschaftlichen und (militär-) technischen Vorgängen geprägt sei (Großraumwirtschaft). Die „politische Idee“, die in den mittel- und osteuropäischen Großraum ausstrahlen und den „liberalen Individualismus und übervölkischen Universalismus“ der westlichen demokratischen Großmächte überwinden soll, wird mit der „deutschen Lehre vom Volk und Volksgruppenrecht“ in Zusammenhang gebracht.120 Das originelle Element, das die Schrift von völkischen SS-Konzepten unterscheidet,121 ist jedoch die Beschreibung des Großraums als Ergebnis wirtschaftlicher und technischer Entwicklungen.122 1941 meldete sich Schmitt ein letztes Mal mit einem eigenen Konzept zu Wort, nämlich mit dem einer „Großraumordnung der Erde“, das nur mühsam Distanz zum Größenwahn von der Weltherrschaft Deutschlands hielt.123 Die Niederlage beendete auch diesen Spuk.

118 Kunz (The American Journal of international law 34 [1940] 175 f.) hat das Buch recht freundlich besprochen: „Carl Schmitt, professor of law, has, of course, never been a jurist, but a politician; and, from his point of view, this is by no means a reproach but a compliment . . . The author has great knowledge and has done vast reading; he is full of wit, abundant in new ways of looking at well-known topics. Regardless of whether you agree with his ideas or not, you will find the reading of this book a pleasure, for the author has talent and brains“. 119 Vorbereitet wurde die Aufgabe des Staatsbegriffs in Schmitt Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, 1938. 120 Schmitt Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht (1939)3, 1941, 4–6, 30, 34, 38, 44, 45 f., 52 f. 121 Der Unterschied ist festzuhalten, ebenso aber der Sachverhalt, dass es um Divergenzen unter Nationalsozialisten geht. Unklar in diesem Punkt Koskenniemi The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law 1870–1960, 2001, 421. 122 Schmoeckel Die Großraumtheorie. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, insbesondere der Kriegszeit, 1994, 45 und 98 f.: Der wirtschaftliche Aspekt sei für Schmitt nur einer unter vielen gewesen; die „ideologische Autarkie der Großräume“ habe im Vordergrund gestanden, während die wirtschaftlichen Implikationen nur Nebenfolgen seien. Wäre das richtig, wäre Schmitts Großraumtheorie von völkischen Konzepten ununterscheidbar. Insoweit folgerichtig Salzborn Carl Schmitts völkerrechtliches Erbe, in: Voigt (Hrsg.) Großraum-Denken. Carl Schmitts Kategorie der Großraumordnung, 2008, 145 (147–150): „ethnopolitische Großraumordnung“. 123 Schmitt Staatliche Souveränität und freies Meer. Über den Gegensatz von Land und See im Völkerrecht der Neuzeit, in: Hartung u.a. Das Reich und Europa, 1941, 79–105. Dazu Neumann (Fn. 21), 196 f.

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VIII. Rückkehr ins Sauerland Schmitt erlebte das Ende des Krieges in Berlin. Er wurde im April 1945 von sowjetischen Truppen festgenommen, verhört und nach einigen Stunden freigelassen. Im September 1945 durchsuchten US-Soldaten seine Wohnung und beschlagnahmten seine Bibliothek. Er wurde verhaftet, nach Nürnberg gebracht und nach mehreren Verhören durch Kempner im Mai 1947 entlassen. An die Universität sollte er nie wieder gelangen, auch die Aufnahme in die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer blieb ihm verwehrt. Er lebte in seinem Geburtsort Plettenberg im Sauerland, von wo aus er einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die Geistesgeschichte der jungen Bundesrepublik ausübte.124 Nach seinem Tode im Jahre 1985 wurden seine Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1947–1951 veröffentlicht, die belegen, dass Schmitt ein aggressiver Antisemit geblieben war.125 Erst aus seinen letzten Lebensjahren wird von Anzeichen einer selbstkritischen Sicht berichtet.126

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Van Laak (Fn. 18). Schmitt Glossarium, 1991. 126 Hüsmert Die letzten Jahre von Carl Schmitt, in: Tommissen (Hrsg.) Schmittiana I, 1988, 40 (49 f.). 125

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Hans Peters (1896–1966) Hans Peters (1896–1966) Klaus Joachim Grigoleit

Hans Peters (1896–1966) KLAUS JOACHIM GRIGOLEIT

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Biographische Skizze . . . . . . . . . . III. Der Verwaltungsrechtler Peters . . . 1. Habilitationsschrift . . . . . . . . . . 2. Weitere Veröffentlichungen . . . . . IV. Peters als Verteidiger der Republik . V. Peters im Widerstand . . . . . . . . . . 1. Totaler Staat und Kirche . . . . . . . 2. Mitarbeit im Kreisauer Kreis . . . . VI. Peters an der Humboldt-Universität VII. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Der Universität und ihrer juristischen Fakultät im Zentrum Berlins wird seit jeher eine gewisse Sonderrolle in der deutschen Universitätslandschaft zugewiesen. Für die Juristen gilt das aufgrund der spezifischen Nähe ihres Befassungsgegenstandes zur Ausübung staatlicher Herrschaftsgewalt in besonderem Maße. Es verwundert daher nicht, wenn sich die juristische Fakultät einem besonderen Druck zur Anpassung an den jeweils herrschenden politischen Zeitgeist ausgesetzt sah oder mit dem Vorwurf konfrontiert wird, sich diesem Zeitgeist in vorauseilendem Gehorsam angepasst zu haben.1 Im Gegenteil muss es überraschen, dass es selbst im dunkelsten Abschnitt der Fakultätsgeschichte einzelne Persönlichkeiten gab, die sich diesem Anpassungsdruck konsequent entzogen und der Unmenschlichkeit des Regimes ihren entschiedenen Widerstand entgegen setzten. Diese Persönlichkeiten waren Rüdiger Schleicher und Hans Peters. Rüdiger Schleicher gehörte der Fakultät als Honorarprofessor für das Recht der Luftfahrt an. Er war von 1935 bis 1939 als Ministerialrat Leiter der Rechtsabteilung im Reichsluftfahrtministerium und ab 1940 Direktor 1 So wohl die These der Dissertation von Gräfin von Lösch Der nackte Geist, 1999, im Hinblick auf die Umbruchphase ab 1933.

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des Instituts für Luftrecht, das von Leipzig in die Akademie für Deutsches Recht am Leipziger Platz umgesiedelt und mit der Universität assoziiert war. Schleicher war mit einer Schwester Dietrichs und Klaus Bonhoeffers verheiratet und – gemeinsam mit seinem Assistenten Hans John – in die Widerstandsgruppe um Bonhoeffer und Dohnanyi integriert. Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli wird Schleicher im Oktober 1944 inhaftiert, gemeinsam mit Klaus Bonhoeffer, Perels und John am 2. Februar 1945 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und in letzter Stunde in der Nacht vom 22. auf den 23. April 1945 von einem SS-Kommando ermordet.2 Im Gegensatz zu der eher akzidentiellen Zugehörigkeit Schleichers zur Fakultät gehörte Hans Peters dieser 21 Jahre als beamteter Hochschullehrer an. Er nimmt unter den Staatsrechtslehrern seiner Zeit im Allgemeinen, wie unter seinen Fachkollegen an der Berliner Fakultät im Besonderen eine ausgesprochene Ausnahmestellung ein. Dies schon deshalb, weil er den Gegenstand seines Schaffens nicht allein aus der theoretischen, sondern in jahrelanger Tätigkeit auch aus der verwaltungspraktischen Perspektive kannte. Zudem gehörte er zu den ganz wenigen Staatsrechtslehrern, die sich nicht nur zum demokratischen Rechtsstaat der Weimarer Republik bekannten, sondern dieses Bekenntnis durch rechtspraktisches und parteipolitisches Engagement noch in der Krise der Demokratie auch zu betätigen wagten. Dieser aus religiösen Wurzeln gespeiste Bekennermut lässt Peters schließlich zum – soweit erkennbar – einzigen aktiven Widerstandskämpfer aus der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer werden.3 Diese singuläre Regimegegnerschaft hat ihn – wohl eher zufällig – zwar nicht das Leben, wohl aber bis 1945 das verdiente Ordinariat gekostet, ihm dafür aber nach 1945 zahlreiche ehrenvolle Rufe, den Vorsitz der Vereinigung (1948/49) und einen (von ihm abgelehnten) Vorschlag zum Bundesverfassungsgericht eingetragen. Diese Lebensleistung Peters’ gilt es im Rahmen der Fakultätsgeschichte nachfolgend zu würdigen und damit einer gewissen Einseitigkeit entgegenzuwirken, die durch die anhaltende Faszination der Fachwelt für Carl Schmitt, den „Kronjuristen“ des Dritten Reichs, und seine Krisenjurisprudenz ausgeht, während Peters Wirken in Berlin – unbeschadet der Verehrung seiner Schüler – weitgehend in Vergessenheit geraten ist.4

2 Vgl. zu Rüdiger Schleicher die biographische Skizze seines Schwiegersohnes Bracher Zwischen Staatsdienst und Widerstand: Rüdiger Schleicher, in: ders. Geschichte als Erfahrung, 2001, 186 ff. 3 Battis VVDStRL 60 (2001) 117/118. 4 Immerhin erinnert seit 1986 die „Petersallee“ im Berliner Stadtteil Wedding an den Widerstandskämpfer.

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II. Biographische Skizze Peters ist gerade 32 Jahre alt, als er im Oktober 1928 auf ein Extraordinariat an die Juristische Fakultät der Berliner Universität berufen wird. Die Umstände dieser Berufung waren durchaus verwickelt. Ursprünglich war Peters secundo loco auf einer Fakultätsliste für die Bornhak-Nachfolge geführt worden.5 Dabei ging es der Fakultät wohl auch darum, einen Rechtsdogmatiker statt des vom Ministerium favorisierten Hermann Heller zu gewinnen. Als 1928 jedoch der Kirchenrechtler der Fakultät und Senatspräsident am Oberverwaltungsgericht Hermann Fürstenau plötzlich stirbt, handelt das Ministerium ohne vorherige Beteiligung der Fakultät und beruft sowohl Heller als auch Peters.6 Peters entstammte einer westfälisch-katholischen Beamtenfamilie. Bereits sein vom Kulturkampf geprägter Großvater war Zentrumsabgeordneter im Preußischen Landtag, sein Vater hatte an der juristischen Fakultät in Breslau promoviert und war für die preußische Kultusverwaltung in Münster tätig. Am dortigen Paulinum legt Peters 1914 das humanistische Abitur ab. Als Kriegsfreiwilliger mehrfach dekoriert, besteht Peters bereits 1920 die Erste Juristische Staatsprüfung mit Auszeichnung und wird 1921 mit einer polizeirechtlichen Arbeit in Münster promoviert. Als einer von insgesamt nur zehn Regierungsreferendaren in der Zeit zwischen 1879 und 1930 legt er 1923 die Große Juristische Staatsprüfung für den höheren Verwaltungsdienst „mit Auszeichnung“ ab.7 Schon die ersten Berufsjahre sind von einer für Peters’ Laufbahn kennzeichnenden Dreigleisigkeit geprägt. Einerseits ist Peters zunächst in Berlin, dann in Breslau in der Preußischen Innenverwaltung und anschließend wieder in Berlin für die Wissenschaftsverwaltung tätig. Parallel dazu ist er zunächst Assistent an der Berliner Fakultät, habilitiert sich dann 1925 in Breslau, wo er im Frühjahr 1928 zum (nicht beamteten) außerordentlichen Professor ernannt wird, bevor ihn das Ministerium wieder nach Berlin beordert und ihm neben seiner ministeriellen Tätigkeit das Berliner Extraordinariat überträgt. Einen Ruf an die Kieler Universität kann Peters 1930 nicht annehmen, weil das Wissenschaftsministerium in Berlin nicht auf seine Mitarbeit verzichten will und ihn deshalb nicht freigibt.8 Zusätzlich zu seinen beiden Hauptberufen engagiert sich Peters aber auch bereits politisch. Schon 1923 tritt er in die Zentrumspartei ein. In Breslau wird er 1927 Mitbegründer des sozialpolitisch engagierten „Löwenberger 5 6 7 8

Hinter Albert Hensel aber noch vor Ernst von Hippel. Vgl. zu den Vorgängen von Lösch (Fn. 1), 92 ff., 302 f. Trott zu Solz Hans Peters und der Kreisauer Kreis, 1997, 21. Trott zu Solz (Fn. 7), 23; von Lösch (Fn. 1), 304.

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Arbeitskreises“ des Rechtshistorikers und Soziologen Eugen RosenstockHuessy. Der Arbeitskreis organisiert freiwillige Arbeits- und Bildungslager für Studenten, Arbeiter und Bauern. Eines dieser Lager wird auf Anregung von Helmuth James von Moltke, der damals in Breslau studierte, auf dessen Gut in Kreisau abgehalten.9 In seiner Berliner Zeit hält sich Peters politisch zunächst zurück. Erst nach der Beendigung seiner ministeriellen Tätigkeit10 engagiert er sich in der Krise der Republik. Er vertritt die Zentrumsfraktion im PreußenschlagProzess vor dem Staatsgerichtshof und kandidiert im März 1933 auf Platz zwei der Landesliste für den letzten Preußischen Landtag, in dem er kurze Zeit der Fraktionsführung des Zentrums angehört. Ebenfalls im Jahr 1933 wird Peters in den Vorstand der Görres-Gesellschaft berufen, deren Vorsitz er 1940 für die kurze Zeit bis zur Auflösung übernimmt. 1939 wird Peters zunächst als Batteriechef zur Luftwaffe eingezogen, dann aber – nach eigenen Angaben – wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ zum Luftwaffenführungsstab in Berlin versetzt. Die bereits aus Breslauer Zeit bestehende Bekanntschaft zu von Moltke lebt im Umfeld des Preußenschlag-Prozesses wieder auf und führt schließlich zur intensiven Beteiligung Peters’ in der um von Moltke gebildeten Widerstandsgruppe, die nach dem Ort einiger konspirativer Treffen bereits von der Gestapo „Kreisauer Kreis“ genannt wurde. Zugleich wirkt Peters unter dem Decknamen „Hinrichs“ in der Untergrundgruppe „Onkel Emil“ mit.11 Nach der Verhaftung mehrerer Kreismitglieder im Februar 1945 setzt sich Peters nach Hamburg ab, wo er nach kurzer britischer Kriegsgefangenschaft an der Gründung der dortigen CDU beteiligt ist, bevor er wieder an die Berliner Universität zurückkehrt. Er ist dort zunächst der einzige Öffentlichrechtler und – neben dem zum Rektor avancierten Kohlrausch – das einzige bereits vor dem Krieg amtierende Fakultätsmitglied. Peters zieht für die CDU als bekennender Anhänger Jakob Kaisers in die Großberliner Stadtverordnetenversammlung ein, ist dort stellvertretender Fraktionsvorsitzender und an der Ausarbeitung der Verfassung von Berlin beteiligt. An den Nürnberger Prozessen beteiligt er sich als Gutachter und Zeuge und wendet sich vehement gegen eine vorschnelle Rehabilitierung belasteter Staatsrechtslehrer, wie Ernst Rudolf Huber und Otto Koellreutter. Dagegen fällt eine Stellungnahme zum Entnazifizierungsverfahren seines früheren Fakultätskollegen und Preußenschlag-Kontrahenten Carl Schmitt anerkennend und äußerst differenziert aus.12 9

Trott zu Solz (Fn. 7), 151, Fn. 2. Peters schied zum 1.2.1932 aus dem Ministerialdienst aus, vgl. Trott zu Solz (Fn. 7), 22 f.; Zweifel bei von Lösch (Fn. 1), 303. 11 Vgl. dazu Andreas-Friedrichs Der Schattenmann, 1986, 298, 301 ff.; Trott zu Solz (Fn. 7), 26. 12 Auszugsweise wiedergegeben bei Trott zu Solz (Fn. 7), 31 mit Fn. 81. 10

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Als Dekan der Juristischen Fakultät bekämpft Peters einerseits die Neugründung der Freien Universität in Dahlem,13 ist andererseits aber teils heftiger Kritik der neuen Machthaber ausgesetzt. Aus dieser Zwickmühle befreit er sich schließlich 1949 durch die Annahme eines Rufes an die Universität Köln, der er trotz zahlreicher weiterer Rufe, sowie dem Angebot eines Verfassungsrichteramtes in Karlsruhe bis zur Emeritierung treu bleibt. Politisch bleibt Peters in der CDU aktiv, für die er lange Jahre als Stadtverordneter in Köln tätig ist. Am 16. Januar 1966 stirbt Hans Peters in Köln.14

III. Der Verwaltungsrechtler Peters Peters wurde als Verwaltungsrechtler nach Berlin berufen. Die Fakultät wünschte sich zur Besetzung der Bornhak-Nachfolge einen Rechtsdogmatiker, wohl auch, um die Berufung des als persönlich schwierig geltenden Hermann Heller zu vermeiden.15 Als Verwaltungsrechtler war Peters bestens ausgewiesen. 1. Habilitationsschrift Peters hatte sich nach seinem Studium für das Regierungs-‚ nicht für das Gerichtsreferendariat entschieden und damit die Kaderschmiede für den höheren Verwaltungsdienst absolviert, ist dann bis März 1925 in der Kommunalabteilung des Preußischen Innenministeriums und anschließend als Dezernent beim Regierungspräsidium Breslau tätig. Noch in seiner Berliner Zeit entsteht die Schrift „Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung in Preußen. Ein Beitrag zur Lehre vom Verhältnis der Gemeinden zu Staat und Reich“, mit der er sich 1925 in Breslau habilitiert und die noch Jahrzehnte später als Grundlagenwerk zum Thema gewürdigt wird.16 Die Schrift weist Peters als Rechtspositivisten mit fundierter rechtspraktischer Erfahrung aus, dem die rechtswissenschaftliche Befassung der Erfassung und dogmatische Ordnung der Rechtspraxis dient. Die dafür erforderliche deduktive Methode soll die Rechtswissenschaft von einer induktiv arbeitenden „wissenschaftlichen Rechtspolitik“ unterscheiden.17 Gegenüber traditionellen Darstellungen der Materie, denen Peters vorwirft, Bedeutung und Wert der kommunalen Selbstverwaltung historisch 13 Peters Der Wiederaufbau der Humboldt-Universität, Studium Generale 1948, 339; Trott zu Solz (Fn. 7), 27 mit Fn. 62. 14 Friesenhahn Nachruf auf Hans Peters, in: Conrad u.a. (Hrsg.) GS Peters 1967, 1 ff. 15 Von Lösch (Fn. 1), 93 f. 16 Friesenhahn JZ 1966, 197; Scheuner NJW 1966, 440. 17 Peters Grenzen der Selbstverwaltung, 1926, 28 f.

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philosophisch zu überhöhen,18 atmet Peters Schrift den Geist des republikanischen Staatsbeamten. Gerade die Entwicklung von Ballungszentren, wie Groß-Berlin zeige die Zufälligkeit und Willkür der Gemeindezugehörigkeit, durch die sich kommunale Gebietskörperschaften von „natürlichen Gemeinschaften“, wie der Familie unterscheiden. Als gewillkürte Gemeinschaft könne die Gemeinde keine „natürlichen Rechte“ beanspruchen. Ihre rechtliche Existenz, wie ihre Befugnisse könnten daher nur derivativer, nicht originärer Natur sein.19 Demgegenüber stelle die Einordnung der gemeindlichen Selbstverwaltung unter die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung (Art. 127 WRV) inhaltlich keine unmittelbar anwendbare Grundrechtsverbürgung dar, sondern enthalte nur einen Programmsatz.20 Auch das Demokratieprinzip scheide in der republikanischen Ordnung als Legitimationsbasis aus. Dem „Prinzip absoluter Demokratie“ stünden in der Selbstverwaltung die Gedanken des Minderheitenschutzes und der bürgerschaftlichen Partizipation entgegen. Ob sich diese behaupten könnten, hänge davon ab, „ob die Selbstverwaltungskörper ihre Kräfte auch wirklich in den Dienst der Allgemeinheit stellen und sie nicht nur dazu benutzen, kleinliche egoistische Interessen durchzusetzen“.21 Die kommunale Selbstverwaltung ist vor diesem Hintergrund für Peters ein staatlich gewillkürtes Ordnungselement, das dem Gesetzgeber im Hinblick auf äußere und innere Organisation der Gebietskörperschaften, den Aufgabenzuweisungen, wie der staatlichen Beaufsichtigung ihrer Erfüllung unbeschränkte Möglichkeiten biete. Typisch für Perspektive und Arbeitsweise Peters ist etwa die Auseinandersetzung mit der bis heute bestehenden „Zweiteilung“ der kommunalen Spitzenbeamten einerseits als Gemeindeorgan und andererseits als untere staatliche Verwaltungsbehörde. Zwar sei die Konstruktion durchaus dogmatisch unglücklich. Sie jedoch mit Hugo Preuß für juristisch unmöglich zu erklären, bedeute angesichts der 100jährigen Praxis eine „juristische Bankrotterklärung“ und schließlich könne auch eine natürliche Person Organ verschiedener juristischer Personen des Privatrechts sein.22 Sein methodischer Grundansatz hindert Peters jedoch keinesfalls an entschiedener rechtspolitischer Stellungnahme. So wendet er sich als überzeugter Republikaner gegen Bestrebungen, den Kommunen Polizeiaufgaben als 18 Vgl. Peters (Fn. 17), 21 ff., 53 f.; insbesondere gegen Hugo Preuß, dem er Theorieverliebtheit und Methodenblindheit vorwirft (ebd., 58). 19 Vgl. Peters (Fn. 17), 21 f. 20 Vgl. Peters (Fn. 17), 42 f.; a.A. damals schon die h.M. (vgl. StGH vom 10./11.12.1929, Lammers-Simons II, 107); später BVerfGE 1, 167 (zu Art. 28 Abs. 2 GG). 21 Peters (Fn. 17), 43 f. 22 Vgl. Peters (Fn. 17), 121 ff. Die Parallele zum Privatrecht übergeht dabei souverän die Unterscheidung zwischen „Organ“ und „Organwalter“.

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Selbstverwaltungsaufgaben zu übertragen.23 Das politische Argument, die Zuordnung zur Selbstverwaltung schütze gegen obrigkeitliche Willkür, könne in der parlamentarischen Republik mit ihrer Ministerverantwortlichkeit nicht mehr durchgreifen. Im Gegenteil stelle die Stärkung der staatlichen Machtmittel heute eine der wichtigsten Aufgaben dar.24 Damit waren für Peters aber die Machtmittel Preußens, nicht des Reichs gemeint. Scharf wendet er sich gegen eine von den Spitzenorganisationen unterstützte reichsgesetzliche Kommunalordnung, die letztlich zu einer Aushöhlung der Landeskompetenzen und Verdoppelung von Aufsichtsstrukturen führen werde. Insofern holt Peters zum Gegenschlag gegen die kommunalen Spitzenorganisationen aus:25 Deren Aufgaben seien eigentlich von der staatlichen Verwaltung zu erfüllen. Zur Auflösung von Missverständnissen plädiert Peters deshalb für die Inkorporation der Spitzenverbände in die Kommunalaufsicht. Dadurch könne der kommunale Sachverstand bei der Ausübung der Aufsicht, wie bei der Vertretung kommunaler Interessen gegenüber dem Gesetzgeber besser genutzt und das Vertrauen der Kommunen in die staatliche Verwaltung gestärkt werden. Diese originelle Idee entspricht durchaus den Grundpositionen Peters’: Die weitgehende Eingliederung der Gemeinden in den Staatsaufbau konnte sich nicht mit der Existenz gesellschaftlich organisierter gemeindlicher „pressure-groups“ vertragen. Die Habilitationsschrift weist Hans Peters danach als analytisch scharfsinnigen Rechtsdogmatiker mit sicherem Blick für die Bedürfnisse der Rechtspraxis aus.26 Diese Begabung und sein festes Bekenntnis zum republikanischen Rechtsstaat dürften der Grund dafür gewesen sein, dass sich das Ministerium seiner vielfältigen Dienste in Berlin auf Dauer versichern wollte. Dabei ist aber nicht zu übersehen, dass seine etatistische Positionierung unter anderen Bedingungen eine ganz andere Färbung annehmen konnte. Es war insbesondere Kurt G. A. Jeserich, der – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Peters – dessen Gedanken unter nationalsozialistischen Vorzeichen aufgriff und damit die zwangsweise Gleichschaltung der kommunalen Spitzenverbände zum „Deutschen Gemeindetag“ zu rechtfertigen suchte.27 2. Weitere Veröffentlichungen Spiegelt die Habilitationsschrift noch wesentlich die Position des Preußischen Ministerialbeamten, so hat Peters in den Jahren vor seiner Berufung 23 Vgl. Peters (Fn. 17), 211 ff. Das für diese Forderung ins Feld geführte Württemberger Modell unterzieht Peters einer ebenso kurzen wie vernichtenden Kritik (ebd., 209 f.). 24 Vgl. Peters (Fn. 17), 211. 25 Vgl. hierzu und zum folgenden Peters (Fn. 17), 258 ff. 26 Friesenhahn (Fn. 16), 197, 198. 27 Vgl. dazu die unkritische Darstellung bei Jeserich Handbuch der Gemeindeverwaltung, 1934, 519 ff.

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an die Berliner Fakultät die Gelegenheit, seine Perspektive „vor Ort“ in der Provinz zu erweitern. Zudem mag auch die Aufnahme seiner Tätigkeit an der Fakultät zu einer ersten kritischen Reflektion seiner positivistischen Methodik geführt haben. So revidiert Peters bereits in der Schrift „Zentralisation und Dezentralisation“28 von 1928 seine Haltung zum Verhältnis zwischen Selbstverwaltung und Demokratie. Dabei sucht er ausdrücklich methodisch Anschluss an die Position Triepels und betont die Wechselwirkung zwischen politischer Staatspraxis und staatsrechtlicher Dogmatik. Auf dieser Grundlage unterscheidet Peters zwischen einer sozialistischen Spielart der Demokratie, die auf unbedingte Gleichheit und deshalb auf Zentralisation abziele und einer liberalen Demokratie, deren Zielwert Freiheit durch Dezentralisation befördert werde.29 Dabei kennzeichnet er die Selbstverwaltung als Form ausgeprägter Dezentralisation und ordnet sie dem freiheitssichernden Grundsatz einer Identität von Regierung und Regierten zu. Damit löst sich das ursprünglich konstatierte Spannungsverhältnis zwischen Weimarer „Formaldemokratie“ und Selbstverwaltung auf und wird diese als ein das Demokratieprinzip stärkendes Element erfasst. Diesen Gedanken baut Peters kurz darauf in dem Aufsatz „Krisis der ländlichen Selbstverwaltung“ weiter aus.30 Dabei sucht er die holzschnittartige Gegenüberstellung von sozialer und liberaler Demokratie zugunsten eines differenzierten Bildes demokratischer Herrschaftsebenen zu überwinden. Er betont nun auch die ideellen Wurzeln der Selbstverwaltung im Geist der preußischen Staatsreformen und plädiert für eine Aufgabenverteilung nach Maßgabe des Subsidiaritätsprinzips. IV. Peters als Verteidiger der Republik In der Fakultät gehörte Peters der kleinen Gruppe der beamteten außerordentlichen Professoren an, ein Sonderstatus, den es nur noch an der Berliner Universität gab. Er genießt innerhalb der Fakultät zwar ein gewisses Ansehen und wird 1932 in die „innere Fakultät“ gewählt.31 Seit 1932 übt er zusätzlich eine Honorarprofessur an der TU Berlin aus.32 Einen Vorschlag des Ministeriums, für Peters ein persönliches Ordinariat einzurichten, wird von der Fakultät jedoch zurückgewiesen.33 Peters galt als engagierter und fä28 Peters Zentralisation und Dezentralisation. Zugleich ein Beitrag zur Kommunalpolitik im Rahmen der Staats- und Verwaltungslehre, 1928. 29 Peters (Fn. 28), 31 f. 30 Peters Die Krisis der ländlichen Selbstverwaltung, in: Verwaltungsakademie Berlin (Hrsg.) Gegenwartsfragen der Kommunalverwaltung, 1929, 139 ff. 31 Von Lösch (Fn. 1), 56; Wiederwahl im Mai 1933 (im Gegensatz zu seinem jüdischen Kollegen Nussbaum), ebd., 161. 32 Karpen DÖV 1996, 776, 777. 33 Von Lösch (Fn. 1), 304.

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higer Lehrer.34 Er gehörte einer Minderheit von Fakultätsmitgliedern an, die die Reform der juristischen Ausbildung unterstützte und scheute nicht davor zurück, besonders gefragte Lehrveranstaltungen gleich doppelt zu halten.35 Im Sommer 1934 hält er zweimal und unter großem studentischen Zuspruch ein Ferienrepetitorium auf Sylt ab, was ihm sogleich wegen des Verdachts unliebsamer politischer Bildungsarbeit Ärger mit nationalsozialistischen Studentenschaft und der Verwaltung einträgt.36 Mit politischem Einsatz hält sich Peters dagegen zunächst zurück. Dies ändert sich erst in der Krise der Republik, die in Peters einen entschiedenen Verteidiger fand. Im Prozess um den „Preußenschlag“ der Reichsregierung unter Franz von Papen vor dem Staatsgerichtshof im Jahr 1932 übernimmt Peters die Vertretung der Zentrumsfraktion. Dabei kommt es gleich zu Beginn der mündlichen Verhandlung zu einem Schlagabtausch mit Carl Schmitt. Das von diesem gezeichnete Bild der „Bürgerkriegslage“, in der das Reich zur Krisenbehebung und Verteidigung seiner politischen Prädominanz zu Lasten Preußens einschreiten musste und schon deshalb auch durfte, konterte Peters einerseits mit dem Hinweis auf die jedenfalls de lege lata der Notstandsgewalt in Art. 48 WRV gezogenen Grenzen, andererseits und durchaus grundsätzlich mit einem Bekenntnis zu pluraler Demokratie und Rechtsstaat.37 Vernichtend setzt sich Peters dabei mit Schmitts Methodik auseinander, die er als „situationsgemäße Verfassungsauslegung“ bezeichnet. Schmitt lege statt der geltenden Rechtsordnung eine faktische Situation zugrunde, aus der heraus er gewisse Begriffe präge, diese mit Werturteilen auflade, um dann aufgrund dieser Werturteile rechtliche Folgerungen zu ziehen: „Wir haben hier ein typisches Beispiel gehört in der ,Bürgerkriegslage‘ und in dem Begriff des ,Konfliktes‘ der zwischen beiden Regierungen bestanden hat.“ Mit dieser Methodik führe man „jedes Staatsrecht ad absurdum“ und gebe „die Rechtsordnung überhaupt“ auf. So klar Peters damit die Bedeutung des „Preußenschlags“ und seiner theoretischen Rechtfertigung für die „Auslieferung des Staates“ an die Gegner der Republik38 erkannt hat, so ambivalent kann nach der „Machtergreifung“ zunächst seine politische Haltung erscheinen. Diese verdeutlicht er in einem Vortrag, den er am 31. Mai 1933, also zwischen der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes und der Selbstauflösung der Zentrumspartei auf Einladung Brünings vor den Zentrumsfraktionen von Reichstag und Landtag 34

Karpen (Fn. 32), 777. So die Übung 1931, vgl. von Lösch (Fn. 1), 77. 36 Vgl. dazu von Lösch (Fn. 1), 297. 37 Vgl. im Folgenden Peters in: Brecht (Hrsg.) Preußen contra Reich, 1933, 56–60. 38 Winkler Der Weg in die Katastrophe, 1987, 646 ff.; ders. Weimar 1918–19332, 1994, 529 ff., 557; Noack Carl Schmitt, 1993, 139 ff. 35

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hält.39 Darin plädiert Peters einerseits nachdrücklich für die Fortsetzung einer an naturrechtlichen Rechtsstaatsgehalten orientierten Zentrumspolitik und damit gegen die bereits einsetzenden Auflösungstendenzen. Er kann sich aber andererseits offensichtlich nicht dem einsetzenden Sog entziehen und appelliert deshalb an die Abgeordneten: „Es besteht durchaus eine Möglichkeit und Chance für den Katholiken, im Dritten Reich seine Weltanschauung einzubauen, doch müssen wir dazu tätig sein.“40 Diese Äußerung trägt Peters den Vorwurf der Kollaboration ein.41 Weitere literarische Äußerungen aus der Zeit nach 1933 belegen, dass es auch Peters nicht immer gelang, seine Regimegegnerschaft zumindest „zwischen den Zeilen“ erkennbar zu halten, er andererseits aber offensichtlich auch nicht auf eine gewisse Präsenz in der Fachliteratur verzichten wollte.42

V. Peters im Widerstand Alle im Hinblick auf die Ambivalenz einzelner Äußerungen durchaus nahe liegenden Zweifel verfangen jedoch angesichts der weiteren Entwicklung von Leben und Werk Hans Peters nicht. Wo für ihn die Grenzen der Folgebereitschaft lagen, hat Peters bereits frühzeitig auch literarisch klargestellt und daraus später die Konsequenzen durch seine Mitarbeit im Widerstand gegen das Regime gezogen. 1. Totaler Staat und Kirche Der Aufsatz „Totaler Staat und Kirche“ erscheint 1935 in einem Sammelband über „(d)ie Kirche in der Zeitenwende“.43 Die Publikation war schnell vergriffen, eine zunächst geplante Zweitauflage kam nicht zustande. Allerdings hat Peters selbst durch die Versendung von Sonderdrucken zur Verbreitung seiner Position beigetragen.44 Peters versucht in seinem Beitrag zunächst eine Definition des totalen Staates, den er in einer Verbindung der rationalistischen Theorie des Wohlfahrtsstaats mit dem Irrationalismus hegelscher Staatsvergötterung sucht: 39

Dazu Trott zu Solz (Fn. 7), 87 ff. Zit. nach Trott zu Solz (Fn. 7), 99. 41 Vgl. Böckenförde Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933, in: ders. Staat-Gesellschaft-Kirche I, 71/94, Fn. 39; in diesem Zusammenhang ist möglicherweise auch der Ausfall Schmitts gegen Peters im Glossarium zu sehen, vgl. Schmitt Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, 1991, 268. 42 Vgl. dazu bereits Grigoleit/Kersten Die Verwaltung 30 (1997) 365 ff. 43 Peters Totaler Staat und die Kirche, in: Kleineidam-Kuss (Hrsg.) Die Kirche in der Zeitenwende, 1935, 303 ff.; dazu und im Folgenden Trott zu Solz (Fn. 7), 113 ff.; Grigoleit/Kersten (Fn. 42), 375 ff. 44 Trott zu Solz (Fn. 7), 114. 40

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Eudämonismus und Hegelianismus machen das „Wesen“ des totalen Staats aus.45 Er sei „ein von einer bestimmten Staatsidee getragener Staat, der im Bestreben, Staat und Gesellschaft zu identifizieren, den Anspruch erhebt, seine Allmacht auf allen menschlichen Lebensgebieten zu betätigen“.46 Von diesem Ausgangspunkt wendet sich Peters dann der Frage zu, ob ein solcher totaler Staat Rechtsstaat sein könne. Zwar vertrage sich der totale Staat nicht mit der Idee des durch bürgerliche Freiheitsrechte beschränkten liberalen Rechtsstaatsgedankens. Der Rechtsstaat stelle daneben aber auch ein ethisches Prinzip dar, nach dem der Einzelne nicht staatlicher Willkür ausgesetzt und das positive Recht an Gerechtigkeit gebunden sei. In diesem Sinne müsse auch der totale Staat „im Interesse seiner Selbsterhaltung“ Rechtsstaat sein, um überhaupt „den Ehrennamen ,Staat‘ “ zu verdienen.47 „Zwischen den Zeilen“ ist im Gegenschluss bereits an dieser Stelle die unüberbrückbare Distanz Peters zum NS-Staat niedergelegt. Diese Distanz wird in den nachfolgenden Abschnitten, die sich mit dem Verhältnis von Staat und Kirche befassen, aber auch explizit offen gelegt. Der totale Staat stürze in seinem umfassenden Gestaltungsanspruch den überforderten gläubigen Bürger in Gewissens- und Handlungskonflikte.48 Nur der Staat, nicht aber die göttlichen Wertvorstellungen folgende Kirche könne ihren Totalitätsanspruch einschränken. Die Kirche müsse deshalb den totalen Staat als politisches Prinzip ablehnen. Gelinge es nicht, in einem Konkordat einen modus vivendi zu finden, in dem der totale Staat den ursprünglichen Herrschaftsanspruch der Kirche anzuerkennen habe, so müsse die Kirche „den offenen Kampf“ annehmen, in dem sie sich aufgrund ihrer übernatürlichen Sendung „ihres Endsieges sicher“ sei. Seinen Widerstand hat Peters damit mit beispiellosem Mut49 publizistisch angekündigt. 2. Mitarbeit im Kreisauer Kreis Peters’ Beteiligung am Preußenschlagprozess stellt auch den Kontakt zu Helmuth James von Moltke wieder her, der als Korrespondent einer amerikanischen Zeitung den Prozess beobachtete.50 Aus dieser Beziehung entwi45

Vgl. Peters (Fn. 43), 303, 312 ff., 316 f. Peters (Fn. 43), 303, 316. 47 Peters (Fn. 43), 303, 321 f.; vgl. ferner ders. Staatsidee und öffentliche Verwaltung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.) Drei Vorträge vor der Limburger Generalversammlung 1935, 1936, 25, 32. 48 Vgl. Peters (Fn. 43), 323 f., 326, 329. 49 So Karpen (Fn. 32), 781. 50 Von Moltke schrieb in einem Brief an Verwandte über die beteiligten Prozessvertreter: „. . . but at any rate it is a good sign for german scientific law-work, that the most important professors of Germany have joined the case of Prussia by their free will and without any payment, while the Reich has only found three professors, whose names no46

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ckelt sich eine intensive Mitarbeit Peters’ in der Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“, zu deren innerstem Zirkel Peters im Allgemeinen gezählt wird.51 Das persönliche Verhältnis zwischen Peters und von Moltke scheint unbeschadet ihrer jahrelangen Verbindung nicht frei von kritischen Vorbehalten gewesen zu sein. So beschreibt Peters in seinen „Erinnerungen“52 von Moltke als zwar klug, gütig und „von tiefer ethischer Fundierung“, aber ebenso als „versponnen“, weltfremd und steif und kommt zu dem Schluss, dass er ihm „innerlich menschlich wohl nie sehr nahe gekommen“ sei. Seinerseits betont von Moltke mehrfach Peters’ Naivität, sieht in ihm gar einen „unschuldigen Engel über den Wassern“. „Bei aller Zuneigung zu Peters“ müsse man „doch seine kritische Begabung höher bewerten als seine synthetische“.53 Peters selbst hat in den von ihm 1952 niedergelegten „Erinnerungen an den Kreisauer Kreis“54 über seine Beteiligung Auskunft gegeben. Danach machte die Ausarbeitung des „Kulturprogramms“55 des Kreises, das auf der ersten Tagung auf dem Gut Kreisau im Mai 1942 im Anschluss an Vorträge von ihm selbst und Adolf Reichwein diskutiert und verabschiedet wurde, den Kern seiner Mitarbeit aus.56 Daneben sei er für Kontakte mit der katholischen Kirche, insbesondere mit dem Berliner Bischof Konrad Graf von Preysing zuständig gewesen und habe von Moltke bei diesem eingeführt.57 In seinem Quellenwerk über den Kreisauer Kreis berichtet Ger van Roon jedoch, dass Peters auf dem fraglichen Treffen auf Kreisau nur ein Referat über Konkordatsfragen gehalten habe, während Theodor Steltzer und Augustin Rösch über das Verhältnis Kirche und Staat und von Moltke über Hochschulfragen gesprochen hätten. Eine Stellungnahme Reichweins zur Schulpolitik habe schriftlich vorgelegen.58 Für eine übergreifende Zuständigkeit Peters’ für das „Kulturprogramm“ ergibt sich aus dieser Darstellung nichts.59 Auch die Kontaktaufnahme zwischen Bischof Preysing und von body has known before“. Zit. nach van Roon Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, 1967, 66. 51 Vgl. Benz/Pehle (Hrsg.) Lexikon des deutschen Widerstandes2, 1994, 249. 52 Vgl. Peters Erinnerungen an den Kreisauer Kreis, 1952, IfZ ZS/A-18 Band 6, 3. 53 Briefe vom 27.5.1940, 26.6.1941, 8.9. und 10.10.1942, in: Ruhm von Oppen (Hrsg.) Helmuth James von Moltke, Briefe an Freya 1939–19452, 1991, 139, 257, 401, 419; insoweit ist die Darstellung bei Trott zu Solz (Fn. 7), 155 zumindest unvollständig. 54 Vgl. Peters (Fn. 52). 55 Abgedruckt bei van Roon (Fn. 50), 542 ff. und Steltzer (Fn. 57), 160, 162 ff. 56 Dieser Darstellung folgend: Trott zu Solz (Fn. 7), 159 f. 57 Vgl. Peters (Fn. 52), 5 f. 58 Van Roon (Fn. 50), 253. van Roon folgt insoweit offensichtlich den Schilderungen von Steltzer in: ders. Von Deutscher Politik (hrsg. von Minssen) 1949, 74. 59 Ähnlich: F. von Moltke/Belfour/Frisby H.J. v. Moltke, 1975, 189. Unklar ist allerdings, warum van Roon ([Fn. 50], 3) trotz dieser Darstellung Peters' Angaben folgend, dessen Schrift „Zwischen Gestern und Morgen“, 1946, als erweiterte Fassung von Peters' Referat auf der Kreisauer Tagung einstuft.

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Moltke führt van Roon nicht auf Peters, sondern auf einen Kirchenjustitiar zurück.60 Bei aller verbleibenden Unklarheit kann aber aus Denkschriften von Peters im Vorfeld der programmatischen Arbeit, wie aus seinen nach dem Krieg veröffentlichten Schriften61 davon ausgegangen werden, dass Peters die Programmatik des Kreises maßgeblich beeinflusst und jedenfalls von Anfang an mitgetragen hat. Für die Bedeutung, die Peters zukam, spricht schließlich, dass einige wichtige Treffen in seinem Hause in Berlin abgehalten wurden.62 Die Mitarbeit Peters beginnt mit einer von von Moltke 1939 erbetenen Ausarbeitung über die Bedeutung der Selbstverwaltung.63 Darin stellt Peters in knappen Thesen Begriff und Funktionsbedingungen der Selbstverwaltung dar, zu deren Voraussetzung er nun – anders als in den 20er Jahren – das Vorliegen einer „natürlichen Verbundenheit“ der sich selbst verwaltenden Gemeinschaft zählt. Größe und Leistungsfähigkeit vorausgesetzt, könnten solchen Selbstverwaltungsgemeinschaften grundsätzlich alle zuvor den Ländern zugeordneten Aufgaben bis hin zur Landesverteidigung übertragen werden. Bereits deutlich mit dem späteren „Kulturprogramm“ in Zusammenhang steht eine Ausarbeitung Peters für von Moltke aus dem Jahr 1940, die sich mit der Hochschulbildung befasst.64 Darin zeichnet Peters den wissenschaftlichen Bedeutungsverlust der Universitäten aufgrund der gewachsenen Anforderungen des Lehrbetriebs nach und plädiert für eine Zweiteilung des Hochschulwesens in wissenschaftlich fundierte Lehranstalten einerseits und reine Wissenschaftsinstitute andererseits. Das „Kulturprogramm“ selbst bildet schließlich die Ausgangsbasis für die nachfolgend erarbeiteten Vorstellungen der Kreisauer zu Staatsaufbau, Wirtschaft und Außenpolitik.65 Nach den Grundvorstellungen des Kreises von einem Staats- und Gesellschaftsaufbau „von unten“66 besitzt nur das durch Familie, Schule und Kirchen an christlichen Werten gebildete Individuum die Reife, verantwortliche Entscheidungen in der Gemeinschaft zu

60

Van Roon (Fn. 50), 235. Peters (Fn. 52), ders. Zwischen Gestern und Morgen. Betrachtungen zur heutigen Kulturlage, 1946; ders. Verfassungs- und Verwaltungsreformbestrebungen innerhalb der Widerstandsbewegung gegen Hitler, 1961. 62 Insbesondere das Treffen im Juli 1942, bei dem es um die Frage der Dezentralisierung der Gewerkschaften (Betriebsgewerkschaften) ging, an der der Kreis wegen des Widerstands der gewerkschaftlich orientierten Gruppe um Leuschner („der Onkel“) fast zerbrochen wäre, vgl. Brief von Moltkes vom 7./8.7.1942, in: Ruhm von Oppen (Fn. 53), 389 f.; zu weiteren Treffen im Jahr 1943: Trott zu Solz (Fn. 7), 156. 63 Trott zu Solz (Fn. 7), 161 f. 64 Trott zu Solz (Fn. 7), 163 ff. 65 Abgedruckt bei van Roon (Fn. 50), 545 ff. 66 Vgl. Peters Verfassungs- und Verwaltungsreformbestrebungen (Fn. 60), 9; A. von Moltke Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Kreisauer Kreises, Diss. 1989. 61

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treffen.67 Die Betonung individueller Bildung und Verantwortung setzt sich in den Staatsauffassungen des Kreises in den „kleinsten Gemeinschaften“68 fort, aus denen heraus eine natürliche Ordnung entwickelt werden soll. Dabei wurde dem Gedanken der Selbstverwaltung eine zentrale Rolle zugewiesen.69 Die kommunale Gemeinschaft bilde zwischen Familie und Staat die natürliche Gliederungsebene, auf der sich für den Einzelnen überschaubar die politische Willensbildung konstituiert70 und der deshalb für den Staatsaufbau eine Scharnierfunktion zugeordnet wird: Die Landtage sollten von den kommunalen Vertretungskörperschaften gewählt werden und ihrerseits den Reichstag wählen.71 Durch dieses System indirekter Legitimation meinten die Kreisauer den „diskreditierten“ Erscheinungsformen der Weimarer Republik, insbesondere der „Vermassung“ durch „Formal- und Parteiendemokratie“ entgegenwirken zu können.72 Vergleicht man die von Peters beeinflusste und mitgetragene Konzeption der Kreisauer mit seinen Positionen aus den 20er Jahren, so ist offensichtlich, dass sich Peters Einstellungen zu einem zentralen Punkt seiner wissenschaftlichen Arbeit, wie die dafür angewendete Methodik unter der Unrechtserfahrung diametral gewandelt haben. Die Gemeinde stellt für ihn nicht mehr eine willkürlich gebildete Organisationseinheit zur Ausübung staatlicher Gewalt dar, sondern bildet das „natürliche Element“ zwischen Familie und Staat, die „Urzelle des Staates“ schlechthin.73 Gemeindliche Selbstverwaltung ist kein Gebot verwaltungstechnischer Effizienz, sondern wird zu einem ethischen und moralischen Prinzip,74 sie steht nicht mehr in einer demokratietheoretisch abzufedernden Spannungslage zum demokratischen Prinzip, sondern wird zum alleinigen Legitimationsquell staatlicher Herrschaft. Diesem Bedeutungswandel entsprechend lassen sich Grundlagen und Wesen der Selbstverwaltung nicht mehr mit positivistischer Methode und nötigenfalls politisch-empirischer Ergebniskorrektur aus dem geltenden Recht ableiten, sondern sind diesem „naturrechtlich“ vorgelagert. Damit hat sich Peters unverkennbar der von ihm noch 1926 als „aprioristisch“ bekämpften „Gierke-Preuss’schen Auffassung“75 angenähert.76 67

Vgl. Kulturprogramm (Fn. 64), 542 f. Vgl. A. von Moltke (Fn. 66), 129; Peters Gestern und Morgen (Fn. 60), 125. 69 Peters Verfassungs- und Verwaltungsreformbestrebungen (Fn. 60), 10; van Roon in: Schmädeke/Steinbach Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus2, 1986, 560, 562. 70 Vgl. Grundsatzerklärung vom 18.10.1942 (Staatsaufbau), abgedruckt bei van Roon (Fn. 50), 545. 71 Vgl. Grundsatzerklärung vom 18.10.1942 (Fn. 70), 545. 72 Vgl. Peters Verfassungs- und Verwaltungsreformbestrebungen (Fn. 60), 14. 73 Vgl. Peters Lehrbuch der Verwaltung, 1949, 282, 290, 292. 74 Vgl. Peters (Fn. 73), 290. 75 Vgl. Peters (Fn. 17), 53 f. 76 Vgl. Friesenhahn (Fn. 16), 197, 198; abweichend insoweit allerdings Karpen (Fn. 32), 781. 68

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VI. Peters an der Humboldt-Universität Das Kriegsende erlebt Peters in Hamburg, wo er sich nach kurzer Kriegsgefangenschaft an der Gründung der CDU beteiligt,77 bevor er wieder nach Berlin zurückkehrt. Dort wirkt er sogleich am Wiederaufbau der Universität mit. Zum Wintersemester 1946 übernimmt er von Kohlrausch die Dekanatsgeschäfte.78 Gleichzeitig engagiert er sich intensiv politisch: Er lässt sich in die Großberliner Stadtverordnetenversammlung wählen, wo er der Fraktionsführung der CDU angehört, ist dort Mitglied des Verfassungsausschusses und kann intensiven Einfluss auf die Ausarbeitung einer Verfassung nehmen. Er wird Vorsitzender des Verfassungsausschusses der CDU Deutschlands und arbeitet in deren Kulturausschuss mit. Daneben engagiert er sich als Herausgeber der Zeitschrift „Universitas/Studium Generale“ und korrespondiert in diesem Rahmen mit den Geistesgrößen der Zeit. Triebfeder seines schier unerschöpflichen Schaffensdranges79 war die Überzeugung, dass nur eine kulturelle Erneuerung und Erziehung den Nationalsozialismus endgültig ausmerzen könne. An dieser Erneuerung wollte Peters im Geiste der in den Überlegungen und Diskussionen im Kreisauer Kreis erarbeiteten Vorstellungen mitwirken. Peters Grundhaltung dieser Jahre kann vor allem der engagierten Bekenntnisschrift80 „Zwischen Gestern und Morgen. Betrachtungen zur heutigen Kulturlage“ (1946) entnommen werden, in der teils bereits vor 1945 entstandene Arbeiten zusammengefasst waren. Für Peters ist der Nationalsozialismus der Gipfel eines Kultur- und Werteverlustes.81 Die eingetretene Verwahrlosung könne nicht durch eine Restauration der Situation vor 1933, sondern nur durch die Anknüpfung an einen „einheitlichen abendländischen Kulturbegriff“ überwunden werden,82 der durch den Rationalismus der Aufklärung und einen liberalen Werterelativismus83 verloren gegangen sei. Peters Kulturbegriff schöpft aus einer objektiv feststehenden, wahren Wertordnung,84 in der die Kirchen eine kulturelle und ethische Führungsrolle beanspruchen können.85 Erst diese Ord77 Vgl. Mikat Art. Peters, in: StLex, 4. Band7, 1988/1995, Sp. 365; Karpen (Fn. 32), 777 f. 78 So von Lösch (Fn. 1), 307. 79 Karpen (Fn. 32), 777. 80 So Karpen (Fn. 32), 778. 81 Vgl. Peters Gestern und Morgen (Fn. 60), III ff., 4 ff., 15 ff., 144; ders. Deutscher Föderalismus, 1947, 8 f.; ders. Problematik der deutschen Demokratie, 1948, 5 ff. 82 Vgl. Peters Gestern und Morgen (Fn. 60), 29, 33 ff., 52 ff., 68, 71, 78, 94, 123, 159 ff., 204. 83 Vgl. Peters Gestern und Morgen (Fn. 60), 29, 33, 58 f., 74, 107, 109, 112, 121, 226; ders. (Fn. 73), 425. 84 Vgl. Peters Gestern und Morgen (Fn. 60), 58 ff. 85 Vgl. Peters Gestern und Morgen (Fn. 60), 62, 102 ff. (bes. 112 ff.), 123.

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nung ermögliche eine freie Entfaltung des „gebildeten Menschen“86 als eines gemeinschaftsgebundenen Individuums und bildet so die Grundlage für einen „Personalismus“ als einen Mittelweg zwischen Individualismus und Kollektivismus.87 Freilich muss sich Peters aber bereits frühzeitig eingestehen, dass sich die von ihm bekämpfte Restauration ohne Berücksichtigung der Vorstellungen des Kreisauer Kreises in der Wirklichkeit des Nachkriegsdeutschlands schnell durchzusetzen begann.88 Ebenso wenig gelang es ihm, die Humboldt-Universität als einheitsstiftende Institution in der sich etablierenden Teilung der Stadt zu erhalten. Peters wird einerseits von den neuen Machthabern als Vertreter der „traditionellen Klassentheorie der Bourgeoisie“89 diffamiert und sieht sich andererseits durch die Gründung der Freien Universität in Dahlem auch von seiner eigenen Partei im Stich gelassen.90 In seinen Einheitshoffnungen getäuscht – und insoweit durchaus politisch motiviert – nimmt Peters schließlich 1949 den Ruf nach Köln an und verlässt die Berliner Fakultät. Noch im Jahr seines Weggangs aus Berlin erscheint schließlich das „Lehrbuch der Verwaltung“, das deshalb als Frucht seines Berliner Schaffens einzustufen ist. Es ist das erste große Verwaltungsrechtslehrbuch nach dem Krieg und gehört mit den später erschienenen Lehrbüchern von Ernst Forsthoff und Hans Julius Wolff zu den Standardwerken seiner Zeit.91 In ungebrochener persönlicher Tradition ist es wiederum Peters Anliegen Wissenschaft und Praxis miteinander zu verbinden, eine Verwaltungswissenschaft zu konzipieren, die die Verwaltung in ihren Zusammenhang von Recht, Politik und Weltanschauung und also „mitten in die heutige Zeit“ stellt.92 Da ihm dazu die juristische Methode ungeeignet erscheint, verfolgt er einen verschiedene wissenschaftliche Perspektiven integrierenden verwaltungswissenschaftlichen Ansatz auf einer festen weltanschaulichen Basis,93 der sein Lehrbuch fundamental von der juristischen Konzeption Ernst Forsthoffs unterscheidet. Dass dieser Methodenlehre, Verwaltungswissenschaft, Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht integrierende Ansatz die Leistungsgrenzen eines Lehrbuchs strapazieren muss, mag dazu beige86 87

Vgl. Peters Gestern und Morgen (Fn. 60), 46 f., 75. Vgl. Peters Gestern und Morgen (Fn. 60), 59 f., 114, 196; ders. (Fn. 73), 1 f., 20,

140. 88

Vgl. Peters Gestern und Morgen (Fn. 60), 25, 93; ders. (Fn. 52), 9. Ulbricht Die Entwicklung des deutschen volksdemokratischen Staates 19451958, 1958, 125; vgl. dazu Lühmann Die Wiederbelebung . . ., in: Hoffmann u.a. (Hrsg.) Kommunale Selbstverwaltung im Spiegel von Verfassungsrecht und Verwaltung, 1996, 29, 33. 90 Vgl. Trott zu Solz (Fn. 7), 27 m.w.N. 91 Mikat (Fn. 77), Sp. 365. 92 Vgl. Peters (Fn. 73), IV. 93 Vgl. Peters (Fn. 73), III f., 7, 14, 18, 21, 231. 89

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tragen haben, dass Peters Lehrbuch im Gegensatz zu den Werken von Wolff und Forsthoff keine Neuauflage gefunden hat.94 Grundthese des Lehrbuchs ist die Eigenständigkeit der Verwaltung als der Staatsgewalt, der die im Einzelfall sich konkretisierende Verwirklichung der Staatszwecke obliegt.95 Verwaltungsrechtlichen Ausdruck gewinnt diese Selbständigkeit im Begriff des „freien Ermessens“, der die Verwaltung „typisch“ charakterisiere.96 Bei dessen Ausübung habe sich die Verwaltung einerseits im Rahmen der Rechtsordnung zu bewegen. Andererseits bilde das Recht nur eine unter vielen Triebkräften der Verwaltung,97 nur Mittel, nicht Zweck des Verwaltungshandelns.98 Auch deshalb komme es für den rechtsstaatlichen Schutz des Bürgers letztlich weniger auf den gerichtlichen Rechtsschutz, als vielmehr auf objektive staatliche Gewährleistungen durch Organisation und Sachkompetenz der Verwaltung an.99

VII. Schluss Man muss nicht alle Positionen Peters teilen, um seine wahrhaft historische Bedeutung für die Fakultät zu würdigen. Peters Weg zeigt, dass sich rechtswissenschaftliche Brillanz mit dem sicheren Blick für die Realität juristischer Praxis vereinbaren lässt, dass sich wissenschaftliche Lernfähigkeit nicht in Anpassung an den jeweiligen Zeitgeist erschöpft, vor allem aber, dass die Nähe des ambitionierten Staatsrechtslehrers zur Macht keinesfalls zwangsläufig korrumpiert. Peters hat sich mutig zu wissenschaftlicher Redlichkeit, zu Rechtsstaat und Demokratie bekannt als es darauf ankam. Als der Kampf um die Republik verloren war, blieb er seinen Überzeugungen treu und engagierte sich im Widerstand gegen die Tyrannei. Dabei sind ihm der Sinn für Fairness und – nach dem Zeugnis seiner Schüler und Freunde – Humor sowie Lebensfreude nie verloren gegangen.100 Das alles lässt Peters – vor anderen, möglicherweise prominenteren Fakultätsmitgliedern – geeignet erscheinen, der Fakultät und ihren Studenten auch in Zukunft als Vorbild zu dienen.

94 Vgl. Stolleis (Hrsg.) Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, 227, 235; Karpen (Fn. 32), 779. 95 Vgl. Peters (Fn. 73), 5, 9, 17, 27, 95, 123. 96 Vgl. Peters (Fn. 73), 10 ff., 32 f. 97 Vgl. Peters (Fn. 73), 22, ferner 37, 40 ff., 107. 98 Vgl. Peters (Fn. 73), 6, 8, 14, 22 ff. (bes. 32, 34 f.), 68 f. 99 Vgl. Peters (Fn. 73), 191 ff. 100 Vgl. Karpen (Fn. 32), 782.

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Das Öffentliche Recht an der Berliner Juristischen Fakultät 1933–1945 Walter Pauly

Das Öffentliche Recht an der Berliner Juristischen Fakultät 1933–1945 WALTER PAULY

I. „Nicht mehr die Fakultät Savignys“ . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Fach und seine Vertreter nach der „legalen Revolution“ III. Der Rechts- und Staatsbegriff zwischen juridisch-politischem Formprinzip und nationalsozialistischem Gemeinschaftsdenken – eine Berliner „Diskussion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. „Nicht mehr die Fakultät Savignys“ In den Jahren der Weimarer Republik hatte die Berliner Juristische Fakultät und in ihr das Öffentliche Recht wie bereits zuvor im Kaiserreich Renommee angehäuft. Hier wirkten schon vor 1918 Otto von Gierke, der, obgleich Zivilrechtslehrer, als staatsrechtswissenschaftlicher Antipode Paul Labands auftrat, der Straf- wie Staatsrechtslehrer Wilhelm Kahl, später Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, der junge Gerhard Anschütz, den man aus Heidelberg gewonnen, aber auch wieder nach dorthin verloren hatte, sowie bis zu seinem Weggang nach Bonn Erich Kaufmann und schließlich Heinrich Triepel, der 1922 die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer begründete. In diesem Jahr kam mit Rudolf Smend einer der Protagonisten des Ende der Zwanziger Jahre kulminierenden Methodenund Richtungsstreits der deutschen Staatsrechtslehre, ein weiterer 1928 mit Hermann Heller, der das ihm in Berlin vorenthaltene Ordinariat 1932 in Frankfurt erhielt. Bereits die Berliner Berufung des jüdischen Sozialdemokraten Heller auf eine außerordentliche Professur zählt Smend1 zu den „politischen Ernennungen“, ebenso wie später diejenige von Carl Schmitt. Dieser wurde der Fakultät bald nach der „Machtergreifung“ zum Wintersemester 1933/34 „aus staatspolitischen Gründen“ als Ordinarius ministeriell okroyiert.2 Zuvor hatte sich Schmitt, der zum Sommersemester 1933 von der Berliner Handelshochschule an die Universität Köln gewechselt 1 Smend Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert, in: ders. Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze2, 1968, 542. 2 Von Lösch Der nackte Geist, 1999, 187 ff.; Mehring Carl Schmitt, 2009, 331 f.

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war, der neuen Ordnung unverkennbar angedient.3 In Köln verweigerte er sich denn auch als einziger einer Solidaritätsadresse, mit der sich die dortige Fakultät gegen die Vertreibung des jüdischen Kollegen Hans Kelsen zur Wehr setzte, obschon dieser sich seinerzeit ungeachtet fundamentaler fachlicher Differenzen für Schmitts Berufung eingesetzt hatte. Beide gelten als die „bekanntesten deutschsprachigen Staatsrechtslehrer“ des 20. Jahrhunderts,4 manchem gar als Jahrhundertjuristen. Schmitt sollte sein in Berlin fortgesetztes und forciertes publizistisches Trommelfeuer zugunsten der neuen Machthaber, namentlich der berüchtigte Aufsatz zur Rechtfertigung der Morde im Zusammenhang des sog. „Röhm-Putsches“,5 in der Emigrantenliteratur alsbald den Titel „Kronjurist des III. Reiches“ eintragen.6 Seit Juli 1933 Preußischer Staatsrat von Görings Gnaden, noch im selben Jahr Leiter der Fachgruppe Hochschullehrer im „Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen“ (BNSDJ), Mitglied der „Akademie für Deutsches Recht“ und der Hochschulkommission beim „Stellvertreter des Führers“ sowie ab 1934 Herausgeber der „Deutschen Juristen-Zeitung“ (DJZ), in allem Gefolgsmann des „Reichsrechtsführers“ Hans Frank, muss Schmitt als eine der dominierenden Figuren an der Rechts-, seit 1936 Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät angesehen werden. Mit ihm hatte die Universität Berlin in der Anfangszeit des „Dritten Reiches“ den „führenden“ Staatsrechtslehrer in ihren Reihen, wie dann übrigens auch bald seinen literarischen Gegenspieler und mächtigen Widersacher Reinhard Höhn. Beide eint, dass sie neben dem Münchener Otto Koellreutter die einzigen Hochschullehrer ihres Faches waren, die nach 1945, auch mit Verzögerung, nicht mehr an die Universität zurückkehren konnten – ein besonderer Ausweis der Zentralität und Radikalität ihres Wirkens in der Zeit des Nationalsozialismus. 3 Hierzu Koenen Der Fall Carl Schmitt, 1995, 225 ff., wie auch Rüthers Carl Schmitt im Dritten Reich2, 1990, 59 ff. 4 So zuletzt Neumann Theologie als staatsrechtswissenschaftliches Argument: Hans Kelsen und Carl Schmitt, Der Staat 47 (2008) 163. 5 Schmitt Der Führer schützt das Recht, DJZ 1934, Sp. 945 ff.; zum Versuch einer Rechtfertigung im Sinne eines Appells an Hitler, das Recht zu sichern vgl. Quaritsch Positionen und Begriffe Carl Schmitts3, 1995, 90 m.w.N.; Schmitt (ebd., Sp. 949) hatte nicht legitimierte „Sonderaktionen“ als „um so schlimmeres Unrecht“ bezeichnet, für die Göring und Gürtner eine „besonders strenge Strafverfolgung“ angeordnet hätten. Zur Deutung der NS-Schriften des „ideologischen Konvertiten“ Schmitt als „Narrenjubel und NonsensProskynese“ Quaritsch (ebd., 109). 6 Gurian Carl Schmitt, der Kronjurist des III. Reiches, in: Deutsche Briefe 1934– 1938. Ein Blatt der katholischen Emigration, I 1934–1935 (bearb. von H. Hürten), 1969, 52 ff. (Nr. 4 vom 26.10.1934); zum Autor Arendt Waldemar Gurian, in: dies. Menschen in finsteren Zeiten, 2001, 304 ff.; zur Verwendung des Terminus Kronjurist bezogen bereits auf seine Dienste für Brüning vgl. Koenen (Fn. 3), 218 f.; ebd. 622 ff. auch weitere Hinweise zum Wortgebrauch 1934. Zu Schmitts angespanntem, doktrinär abfertigendem Umgangston im Berliner Seminarbetrieb Bachof Danke, der nächste Bitte! RJ 19 (2000) 545.

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An der im Herbst 1935 erfolgten, wesentlich vom Hauptreferenten im Reichs- und Preußischen Kultusministerium, dem Rechtshistoriker Karl August Eckhardt, betriebenen Berufung des in Heidelberg habilitierten Höhn, der zu diesem Zeitpunkt unter Reinhard Heydrich eine Abteilung im Hauptamt des Sicherheitsdienstes der SS (SD) leitete, hat Schmitt aktiv mitgewirkt, wie übrigens auch Smend, der kurz darauf an die Universität Göttingen abgeschoben wurde.7 Höhn erhielt eine außerordentliche Professur für „Staats- und Verwaltungsrecht sowie Staatslehre“ sowie das stellvertretende und alsdann 1936 volle Direktorat des in die Hauptstadt verlegten, üppig ausgestatteten „Instituts für Staatsforschung bei der Universität Berlin“, das sich nach Höhns Willen der „wissenschaftlichen Erarbeitung völlig neuer Grundlagen des gesamten Staats- und Verwaltungsrechts“ widmete.8 Höhns „Schule“ kennzeichnet nicht zuletzt die 1939 erfolgte Habilitation des SS-Angehörigen Herbert Lemmel über „Die Erfassung der Gemeinschaft im lebensgesetzlichen Recht“, die zu einer Dozentur für „Rassische Grundlegung des Rechts“ führte,9 woran Smend sein Urteil festmacht: „Das war nicht mehr die Fakultät Savignys.“10 In Höhn, der eine genuin nationalsozialistische, am Prinzip „Gemeinschaft“ orientierte Rechtswissenschaft anstrebte,11 erwuchs Schmitt ein gefährlicher Rivale, der ihn nicht nur literarisch herausforderte, sondern bereits Ende 1936 wissenschaftspolitisch kaltstellte.12 Hierzu setzte Höhn auch nachrichtendienstliche Mittel ein und scheute sich etwa nicht, Schmitts Assistenten Herbert Gutjahr als Spitzel zu benutzen.13 Die von Schmitt im Herbst 1936 organisierte Berliner Tagung „Das Judentum in der deutschen Rechtswissenschaft“, die ihm ein Forum antisemitischer Profilierung bot, veranlasste Höhn zu subversiver Gegentätigkeit. Die Absage vorgewarnter „NS-Größen“ belegt Schmitts zunehmenden Positionsverlust.14 Nach dieser 7 Zur allfällig nur taktischen Unterstützung Schmitts für Höhn vgl. von Lösch (Fn. 2), 327 f., wie auch zur Verdrängung Smends, der allerdings nicht in einem formal stellenmäßigen Sinne für Höhn Platz machen musste, dies. ebd., 394 ff. 8 Von Lösch (Fn. 2), 329 m.w.N. 9 Hierzu und zu dem in rechtswissenschaftlicher Hinsicht verhaltenen Koreferat Schmitts vgl. Tilitzki Carl Schmitt – Staatsrechtslehrer in Berlin. Einblicke in seinen Wirkungskreis anhand der Fakultätsakten 1934–1944, in: Homann (Hrsg.) Siebte Etappe, 1991, 65 f. und 72 f. 10 Smend (Fn. 1), 543. 11 Vgl. hierzu Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 3, 1999, 327, und Pauly Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60 (2001), 84 ff. m.w.N. 12 Hierzu Koenen (Fn. 3), 651 ff. und von Lösch (Fn. 2), 429 ff. 13 Koenen (Fn. 3), 707; vgl. weiter Gross Politische Polykratie 1936. Die legendenumwobene SD-Akte Carl Schmitt, Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 1994, 115 ff. 14 Daß es Schmitt bei der Tagung nicht lediglich instrumentell-opportunistisch um den eigenen Machterhalt gegangen sei, führt Koenen (Fn. 3), 710 mit Anm. 318, unter Hinweis

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Intrige sollte indes auch Höhn bald selbst politisch stürzen,15 ebenso wie Eckhardt, der ihn tatkräftig gegen Schmitt unterstützt hatte. Umfassend machtpolitisch erholt hat sich keiner der Gestrauchelten mehr, auch nicht Reinhard Höhn, der 1939 nur unter Schwierigkeiten zum Ordinarius aufstieg, immerhin jedoch mit seinem „Institut für Staatsforschung“ der NSMaschinerie zu Diensten stand, namentlich Heinrich Himmler, dessen Gunst er 1944 die Beförderung zum SS-Oberführer ehrenhalber zu verdanken hatte.16 Literarisch vom Nationalsozialismus abgekehrt hat sich aufgrund der erlittenen Schläge keiner der Gefallenen, auch nicht Carl Schmitt, der mit reichs- und völkerrechtlichen Schriften der NS-Außen- und dann Kriegspolitik Stichworte lieferte und mit seinem Ansatz wiederum in die Schusslinie völkischer Autoren, darunter Höhn, Werner Best und das „Amt Rosenberg“, geriet.17 Erst allmählich werden bei Schmitt Zwischentöne vernehmbar, die jedoch keinen grundlegenden „politischen Sinneswandel“ beweisen.18 Unter Berufung auf Friedrich Carl von Savigny beschwört Schmitt in seinem 1943/44 an europäischen Universitäten gehaltenen Vortrag „Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft“ gegenüber der schieren Legalität unverfänglich blass einen „unzerstörbaren Kern allen Rechts“, wozu er die „auf gegenseitiger Achtung beruhende Anerkennung der Person“ sowie „das Minimum eines geordneten Verfahrens“ rechnet.19

II. Das Fach und seine Vertreter nach der „legalen Revolution“ Das bis heute zur Kennzeichnung der „NS-Machtergreifung“ geläufige Oxymoron der „legalen Revolution“ geht auf den Berliner Staatsrechtslehrer Heinrich Triepel zurück, der damit eine in legalen Formen verlaufende, gleichwohl grundstürzende Umbildung der Rechts- und Verfassungsordauf ein christlich antijudaistisches Motiv aus, das Schmitt dem rassischen Antisemitismus habe entgegensetzen wollen; dagegen Gross Carl Schmitt und die Juden, 2000, 123 f.; zum Verlauf der Tagung vgl. auch Göppinger Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich“2, 1990, 153 ff. 15 Grundlegend Heiber Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland, 1966, 909 ff. und 935 ff., der auch die Involvierung Hitlers beschreibt. 16 Heiber (Fn. 15), 936, zufolge war Höhns Macht im SD gebrochen, seine SS-Karriere relativ maßvoll verlaufen, und waren ihm seine Dienstgrade nur ehrenhalber verliehen worden. 17 Hierzu Herbert Best3, 1996, 271 ff. und Koenen (Fn. 3), 796 ff. und 818 ff. 18 Rüthers (Fn. 3), 118. 19 Schmitt Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft (1943/44), in: ders. Verfassungsrechtliche Aufsätze2, 1973, 423. Der deutsche Erstdruck 1950 entspricht im zitierten Umfang annähernd dem französischen Manuskript, das dem Vortrag in Coimbra im Mai 1944 zugrunde lag; vgl. dessen Abdruck bei Tilitzki Die Vortragsreisen Carl Schmitts während des Zweiten Weltkrieges, Schmittiana VI, 1998, 269.

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nung auf den Begriff bringen wollte.20 Zugleich billigte er in nationalkonservativer Manier der zugrunde liegenden, das Volk aufrüttelnden „Bewegung“ die „Legitimität“ einer „Auflehnung der deutschen Seele“ sowohl gegen die in Versailles geschmiedeten „Ketten“ als auch gegen „alles Undeutsche“ zu. Unter Anknüpfung an seine Berliner Rektoratsrede aus dem Jahre 1927 sah er hoffnungsfroh das „Missgebilde des Parteienstaates“ stürzen. Spricht Triepel noch von „ungesetzlichen“ Einzelakten21 und will der bei Smend und Triepel habilitierte Berliner Privatdozent Ulrich Scheuner die nach dem sog. „Ermächtigungsgesetz“ mögliche „Regierungsgesetzgebung“ im Hinblick auf die Einhaltung aller in seinem Aufsatz „aufgewiesenen rechtlichen Grenzen“ der gerichtlichen „Nachprüfung“ unterwerfen,22 so erkennt Schmitt der Reichsregierung anders als Scheuner23 sogleich ein „Stück verfassungsgesetzgebender Gewalt“ zu und fordert, mit dem Staat müssten „auch das Staatsrecht und die Staatsrechtslehre gereinigt und erneuert werden“.24 Bald darauf betont Schmitt vergleichsweise schärfer, dass das „Recht des gegenwärtigen nationalsozialistischen Staates“ auf seiner „eigenen Grundlage ruht“ und das als „vorläufiges Verfassungsgesetz“ zu deutende „Ermächtigungsgesetz“ keineswegs an der nicht mehr geltenden Weimarer Reichsverfassung gemessen werden dürfe.25 Die Legalitätsbrücke „vom alten 20

Triepel Die nationale Revolution und die deutsche Verfassung, in: Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 157 vom 2. April 1933, abgedruckt in Hirsch u.a. (Hrsg.) Recht, Verwaltung und Justiz im Nationalsozialismus2, 1997, 116 ff. 21 Triepel (Fn. 20), 117; auf Grund der Pseudolegalität der Vorgänge bezeichnet Huber Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 7, 1984, 1266, die Rede von der „legalen Revolution“ zu Recht als „mißverständlich“; zur Verfassungswidrigkeit des „Ermächtigungsgesetzes“ zusammenfassend Dreier Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60 (2001) 21, Anm. 57, sowie hierzu und zur katalytischen Funktion der „Reichstagsbrandverordnung“ Pauly Brandbeschleunigung auf dem Weg zur Macht, ThürVBl. 2008, 31, Anm. 90, m.w.N. und passim. 22 Scheuner Die staatsrechtliche Bedeutung des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich, Leipziger Zeitschrift für deutsches Recht 1933, Sp. 905. Ebenfalls unter Beteiligung von Triepel und Smend hat die Fakultät direkt nach Hitlers Machtübernahme Reinhold Horneffer auf Grund der noch in den letzten Tagen Weimars angenommenen Schrift „Die Entstehung des Staates“ habilitiert; nach Ablegung seines Referendariats wirkte Horneffer als außerplanmäßiger Professor an der Fakultät. 23 Scheuner (Fn. 22), Sp. 903. 24 Schmitt Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, DJZ 1933, Sp. 456 und 458. 25 Schmitt Staat, Bewegung, Volk, 1933, 7 mit Anm. 1; dagegen hatte Schmitt (Fn. 24), Sp. 456, noch die Vereinbarkeit mit Art. 76 WRV in der herrschenden Interpretation herausgestellt; seine eigene frühere abweichende Auffassung zur Auslegung von Art. 76 WRV unterdrückte Schmitt jetzt. Erst im Anschluss an die Verfassungsprüfung erfolgt der Hinweis, dass das Gesetz „außerdem ein Ausdruck des Sieges der nationalen Revolution“ sei. Daß es sich um „wahrhaft revolutionäre Geschehnisse“ handele und dem „Ermächtigungsgesetz“ der „Charakter eines konstituierenden Verfassungsgesetzes“ zukomme, hatte Scheuner (Fn. 22), Sp. 899, sogleich herausgestellt; ebenso dann ders. Die nationale Revolution, AöR 24 N.F. (1934) 167; ein „revolutionärer Akt“ liegt für Triepel (Fn. 20), 117, auch

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zum neuen Staat“ habe der Selbstabdankung des überwundenen Systems und der Rücksichtnahme auf den Beamtenapparat gedient. Hieraus die „Weitergeltung überwundener Rechtsgedanken, Einrichtungen und Normierungen“ abzuleiten, sei nicht nur „juristisch falsch“, sondern zugleich „politisch ein Sabotageakt“.26 Die unterschiedlichen Tonlagen der zitierten Beiträge verweisen bereits auf abweichende Einstellungen der betrachteten Fakultätskollegen zum alten und neuen Staatsrecht sowie zu den eigenen Anpassungs- und Karriereabsichten. In dieser Anfangszeit relativer Desorientierung, wo vielfach noch die Illusion bestand, die kommende Rechtsordnung entscheidend mitgestalten zu können, gehörte Triepel zu den vergleichsweise zurückhaltend reagierenden, nicht von Ehrgeiz getriebenen, etablierten Autoren, die schnell ernüchterten.27 Triepel lässt sich zwar nicht wie Gerhard Anschütz in Heidelberg mangels „innerlicher Verbundenheit des Dozenten mit der Staatsordnung“ emeritieren,28 wird dann aber vom Ministerium, wohl gegen seinen Willen,29 zum 1. April 1935 entpflichtet – einerseits, wie er später schrieb, um für Schmitt, „also für einen kolossalen Nazi“ Platz zu machen, andererseits wegen „jüdischer Versippung“ und des Einsatzes für jüdische Schüler, darunter Gerhard Leibholz.30 Festzuhalten bleibt auch, dass Triepel sich als Vorsitzender der Ständigen Deputation über Jahre erfolgreich der Forderung des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ) bzw. des „Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes“ widersetzte, den Deutschen Juristentag förmlich aufzulösen, und eine Gleichschaltung der „Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer“ wesentlich mit verhin-

deswegen vor, weil „das Schlummernde“, d.h. das Weimarer Verfassungssystem, wie er realistisch einschätzt, „nicht wieder geweckt werden wird“. 26 Schmitt (Fn. 25), 8. 27 Smend Heinrich Triepel, in: ders. Staatsrechtliche Abhandlungen (Fn. 1), 604, sieht Triepel schon durch das „Jahr 1933“ in die „innere Emigration“ gezwungen; treffender führt Hollerbach Zu Leben und Werk Heinrich Triepels, AöR 91 (1966) 440, aus, Triepel habe „alsbald“ das Fehlschlagen seiner „Hoffnung“ erkannt. 28 Anschütz Aus meinem Leben (hrsg. von Pauly), 1993, 329, unter Wiedergabe seines Emeritierungsgesuches vom 31. März 1933. Richard Thoma hatte darin eine „Rücksichtslosigkeit“ gegenüber jüngeren Kollegen erblickt und in einem Brief an Anschütz vom 22. Oktober 1933 weiter angeführt: „Wie sehr z.B. auch Triepel befremdet war, hat er Ihnen . . . persönlich gesagt.“ Anschütz vermerkte am Rand: „Triepel tut sich leicht. Er hat immer viel weiter rechts gestanden als ich; es mag ihm leichter fallen, das neuste Staatsrecht zu dozieren als mir“; hierzu Pauly Zu Leben und Werk von Gerhard Anschütz, in: Anschütz ebd., XLII m.w.N. 29 Von Lösch (Fn. 2), 376 ff., die Triepels Beamteneid auf den „Führer“ noch im August 1934 ebenso belegt wie Triepels (erstmalige) Verwendung der Grußformel „Heil Hitler“ in einem Schreiben an den Dekan. 30 Hierzu Gassner Heinrich Triepel. Leben und Werk, 1999, 102 f., wie von Lösch (Fn. 2), 377 f. m.w.N.; der bereits erwähnte Ministerialreferent Eckhardt wollte Schmitt auf Triepels Professur setzen, um Schmitts Stelle selbst einnehmen zu können.

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derte.31 Als Mitherausgeber des „Archiv des öffentlichen Rechts“ warnte er den Verleger im Juli 1933 im Zusammenhang mit dem erzwungenen Ausscheiden des Herausgeberkollegen Albrecht Mendelssohn Bartholdy vor dem ersten „Schritt auf einer abschüssigen Bahn“ und erklärte dann nach längeren Streitigkeiten noch vor Jahresende seinen Rückzug wie dann Monate später auch Rudolf Smend.32 Eine Festschrift hat Triepel weder zu seinem 70. noch 75. Geburtstag erhalten, wohl gratulierte die Fakultät 1938 und 1943 sowie 1941 zum goldenen Doktorjubiläum.33 Anlässlich des 70. Geburtstages sollen „der Dekan und Jubilar in Erinnerung an die vergangenen ruhmreichen Jahre freier Forschung und freier Lehre und in tiefer Bekümmernis um den Verlust dieser Güter ihre Ansprachen mit gedämpfter und tränenerstickter Stimme“ gehalten haben.34 Auf den ersten Blick verfänglich mag Triepels 1938 vorgelegtes Monumentalwerk „Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten“ wirken, das nach den Abschnitten „Der führende Mensch“, „Die führende Gruppe“ und „Der führende Staat“ die Hegemonie in den „Hauptperioden der Geschichte“ untersucht. Wenn Triepel zunächst „Führung“ und „Herrschaft“ kontrastiert und den „echten Führer . . . niemals mit echtem Befehl und echtem Zwang“ arbeiten sieht, um dann Hitler in einer Doppelrolle von Führung und Herrschaft zu verorten,35 kann der Leser die im Text unausgesprochenen Schlüsse ziehen. Da die „Hegemonie echter Art“ bei Triepel eine „freiwillige Unterordnung“ voraussetzt, wahrt sie den völkerrechtlichen Grundsatz der Rechtsgleichheit und der Achtung der Staaten untereinander und kann sich mit Imperialismus von vornherein nur dort treffen, wo dieser „bewusst auf Inkorporation fremder Länder in das Gefüge eines alten Staats verzichtet“.36 Die Kritik, die Carl 31 Vgl. Gassner (Fn. 30), 131 f. und 141 ff. m.w.N., der auch die Übernahme der „Firma Juristentag“ durch den BNSDJ und Triepels Kritik fehlender Wissenschaftlichkeit schildert, sowie Stolleis (Fn. 11), 312. 32 Im einzelnen Becker „Schritte auf einer abschüssigen Bahn“, 1999, 89 und 119 f.; in seinem bereits im April 1933 zugesagten „Geleitwort“ für das Eröffnungsheft des Jahrganges 1934 mahnte Triepel Im Namen der Schriftleitung, AöR 24 N.F. (1934) 1 f., brauchbares überkommenes Gedankengut nicht achtlos beiseite zu schieben und verstand sich zu einer ebenso verstehenden, helfenden, anfeuernden wie warnenden Rolle der Staatsrechtswissenschaft; vgl. Becker ebd., 60 ff.; Mitherausgeber des JöR blieb Triepel bis 1938, der ZaöRV bis 1944. 33 Von Lösch (Fn. 2), 378, und Gassner (Fn. 30), 104 m.w.N. 34 Kaufmann Heinrich Triepel, DRZ 1947, 60. 35 Triepel Die Hegemonie, Neudruck der 2. Auflage 1943, 1974, 40 und 43, unter Zurückweisung der von Höhn Die Wandlung im staatsrechtlichen Denken, 1934, 33 ff., geäußerten Meinung, es werde nur noch geführt und nicht mehr geherrscht, als der nationalsozialistischen Doktrin nicht entsprechend. 36 Triepel (Fn. 35), 187 und 214 ff.; zum Zusammenhang von Führung und Hegemonie ebd., 128 ff.; Hegemonie und Souveränität des Gefolgsstaats können für Triepel deswegen zusammengehen, da ihm zufolge der Staat bereits dann souverän ist, wenn er „für seine

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Schmitt37 liefert, der wieder zu einem vergleichsweise gemäßigten Schreibstil zurückgefunden hat,38 zielt denn auch auf die soziologisch abstrakte und neutrale Fassung des Führerbegriffs und hebt aus den ihm zu knapp ausgefallenen Erörterungen zum Verhältnis von Imperialismus und Hegemonie den Satz Triepels, dass der neuzeitliche Imperialismus seine Kriege „viel mehr gegen die Konkurrenten als gegen seine Objekte“ führe,39 als den „besten“ heraus. Höhns Schüler Roger Diener stellt heraus, dass das Reich „für uns erheblich mehr“ bedeute, „als sich in Triepels Begriff der Hegemonie erfassen“ lasse.40 Die „bescheidene Begriffsstudie“,41 die Triepel 1942 mit „Delegation und Mandat im öffentlichen Recht“ vorlegt, war von bleibendem Wert42 und wird in ihrer sorgsamen Begriffsarbeit zeitgenössisch von Scheuner besonders als die Fortführung einer „wertvollen Tradition staatsrechtlicher Forschung“ gewürdigt.43 Das im Krieg begonnene, posthum 1947 erschienene Alterswerk „Vom Stil des Rechts“ sieht die Zeit des Nationalsozialismus von Akten befleckt, die als „hässlich anzusehen sind“, am „abstoßendsten vielleicht“ das die „Röhm-Morde“ rechtfertigende „Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr“. Dabei bezeichnet Triepel Hitler als einen „Mörder, der zur Zeit gerade Regierungschef war“.44 Untergebenen der höchste Herr ist“, d.h. „die letzte, schlechthin entscheidende Instanz“, was sogar mit einer Unterwerfung des Staates als solchem unter eine ausländische Herrschaft zusammengehen können soll, vgl. ebd., 142 f. 37 Schmitt Führung und Hegemonie, Schmollers Jahrbuch 1939, 513 ff., hier zitiert nach ders. Staat, Großraum, Nomos (hrsg. von Maschke), 1995, 225 ff., insbes. 229 ff.; zur Differenz zwischen Triepel und Schmitt vgl. Schmoeckel Die Großraumtheorie, 1994, 118 ff.; kritisch-anerkennend die Rezension von Huber ZgesStW 101 (1941) 172 ff.; die Prognose juristische „Weltliteratur“ liefert am Ende die lobende Besprechung durch Mitteis ZRG (GA) 60 (1940) 337. 38 Insbesondere erfährt Triepel auch keine Rüge dafür, dass er jüdische Autoren entgegen Schmitts im Anschluß an den „Reichsrechtsführer, Reichsminister Dr. Frank“ formulierten Vorgaben nicht explizit als „jüdisch“ zitiert; so Schmitt Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, DJZ 1936, Sp. 1195. 39 Triepel (Fn. 35), 188. 40 Diener Reichsproblem und Hegemonie, DR 1939, 563; zu seiner Habilitation mit der Schrift „Das Reich im Weltanschauungskampf. Eine theoretisch-staatswissenschaftliche Studie zum Reichsbegriff im Mittelalter“ an der Berliner Fakultät im Jahre 1943 vgl. Tilitzki (Fn. 9), 77 ff.; im dort wiedergegebenen Zweitvotum stellt Schmitt angesichts des rechtswissenschaftlichen Ansatzes den Ausgang „von der Rasse“ in Frage, betont die „jüdisch-orientalischen Elemente“ des Urchristentums und will mit einer bestimmten Auffassung des „katechon“ eine Brücke vom eschatologischem Christentum zu germanischen Gedanken, zum fränkisch-deutschen Reich, schlagen. 41 Triepel Delegation und Mandat. Eine kritische Studie, 1942, 1. 42 Unter Verwertung der bundesdeutschen Rezeption Gassner (Fn. 30), 440 f. 43 Scheuner Besprechungen, Schmollers Jahrbuch 1943, 360; zugleich wird die „Abkehr von der positivistischen Methode . . . und einer formalen Begriffskonstruktion“ begrüßt (ebd., 357), denen Triepel sich jedoch auch zuvor nicht verpflichtet gesehen hatte. 44 Triepel Vom Stil des Rechts. Beiträge zu einer Ästhetik des Rechts, 1947, 151 f.

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Ebenso wie Triepel wirkte auch Smend, der bis zu seiner Abschiebung nach Göttingen lediglich eine kurzgefaßte staatskirchenrechtliche Exegese der wie selbstverständlich herangezogenen Weimarer Reichsverfassung veröffentlicht hatte,45 zum Zeitpunkt der „Machtergreifung“ als wissenschaftlicher Berater für das der „Kaiser Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“ zugehörige „Institut für ausländisches öffentlichen Recht und Völkerrecht“. Dessen Gründungsdirektor, der Triepel-Schüler Viktor Bruns, war vom Zivilrecht herkommend 1923 Inhaber eines Ordinariats für öffentliches Recht geworden46 und hatte sich allmählich gänzlich dem Völkerrecht gewidmet. Unter seiner Leitung und dem stellvertretenden Direktorat des 1935 zum Honorarprofessor an der Berliner Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät berufenen Ernst Schmitz bot das Institut einen „Schutzraum für Internationalität und Information“ und manchem Regimegegner, wie etwa Berthold Graf Schenk zu Stauffenberg oder Helmuth James Graf Moltke, Unterschlupf.47 Trotz nationalistisch martialischer Töne in Publikationen und der Angliederung des Instituts an das Oberkommando der Wehrmacht während des Krieges blieb ein gewisses wissenschaftliches Niveau gewahrt und ist ein Einsatz für humanitäres Völkerrecht belegt.48 Anders als sein Nachfolger Carl Bilfinger war der 1943 verstorbene Bruns kein NSDAP-Mitglied gewesen und hatte auch nach dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund an der Idee einer verbindlichen Völkerrechtsordnung festgehalten. Mit Bilfinger trat ein dem autoritären Staatsdenken 45 Smend Noch einmal das Problem der „Reichskirche“, AöR 24 N.F. (1934). Im Rahmen der Habilitation des SS-Mitglieds Herbert Krüger erstellte Smend auf Ersuchen des Dekans 1935 noch ein Gutachten über die später verschollene Schrift „Recht und Wirklichkeit in der Rechts- und Staatslehre des 19. Jahrhunderts“. Die Habilitation erfolgte 1936 und im Folgejahr wechselte Krüger nach Heidelberg, 1941 nach Straßburg. Zu den Einzelheiten vgl. von Lösch (Fn. 2), 344, die eine Übersicht über die erfolgreichen und gescheiterten Berliner Habilitationsverfahren gibt (ebd., 334 ff.), sowie Schäfer Juristische Lehre und Forschung an der Reichsuniversität Straßburg 1941–1944, 1999, 82 m.w.N. 46 Der nicht habilitierte Bruns war seit 1912 außerordentlicher Professor und seit 1920 persönlicher Ordinarius an der Berliner Fakultät; vgl. von Lösch (Fn. 2), 388. Ebenfalls nicht habilitiert, hatte Heinrich Rogge an der Berliner Fakultät 1936 einen Lehrauftrag für Völkerrecht erhalten und lehrte ab 1937 als Honorarprofessor; 1940 wurde Rogge nach Freiburg, 1942 nach Graz berufen. 47 Stolleis (Fn. 11), 395 f. m.w.N.; vgl. auch Roediger Versuche zur Erhaltung des humanitären Völkerrechts nach 1933, in: Flitner (Hrsg.) Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus, 1965, 178 f., und die Nachrufe, die Triepel sowohl für Viktor Bruns (1884– 1943) als auch Ernst Schmitz (1895–1942) in der ZaöRV 11 (1942/43) schrieb; Schmitz war 1926 als Referent in das Institut eingetreten, 1930 zum Leiter der völkerrechtlichen Abteilung aufgerückt und ab 1936 stellvertretender Institutsdirektor. 48 Stolleis (Fn. 11), 382, 393 f. und 396 m.w.N.; Hueck Die deutsche Völkerrechtswissenschaft im Nationalsozialismus, in: Kaufmann (Hrsg.) Geschichte der Kaiser-WilhelmGesellschaft im Nationalsozialismus, Band 2, 517, weist darauf hin, dass man sich zunächst noch „in der Sache an den allgemeingültigen Regeln des Völkerrechts“ orientierte.

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verhafteter „geistiger Aristokrat“ in die Fakultät und Institutsleitung ein, der den Worten Smends zufolge das „Dritte Reich wenigstens zeitweilig als restaurative und defensive Fortsetzung des Bismarck´schen Werks missverstand.“49 Literarisch monierte er etwa im vorletzten Kriegsjahr, dass die Alliierten in ihren „Nachkriegsplänen“ unter „englisch-amerikanischer Führung“ die Absicht hegten, „die Staaten, die ‚man nicht‘ mag zu diskriminieren, und zwar zunächst als ‚Aggressoren‘.“50 Aus dem Kreis der wissenschaftlichen Berater, ab 1937 wissenschaftlichen Mitglieder des regulär im Berliner Stadtschloß untergebrachten Instituts weiterhin zu nennen sind Carl Schmitt, der 1935 auf Wunsch Bruns eintrat, sowie bereits seit 1925 Friedrich Glum, der als Generalsekretär der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (ab 1920) und Privatdozent an der Berliner Fakultät die Institutsgründung mit initiiert hatte. Glum musste 1937 seine Position im Institut wie in der Spitze der KWG räumen und wurde 1938 auch aus der im Vorlesungsverzeichnis abgedruckten Liste der Fakultätsmitglieder gestrichen, weil 1936 Artikel in „Der Stürmer“ und „Das Schwarze Korps“ an seiner nationalsozialistischen Gesinnung schwere Zweifel erhoben hatten.51 Besonders hervorzuheben sind schließlich der aus dem Beraterkreis 1933 ausgeschiedene Zentrumspolitiker Ludwig Kaas sowie Erich Kaufmann, der 1935 das Institut verließ. Möglicherweise durch die von Kaufmann im Jahre 1920 gewünschte Versetzung an die Universität Bonn gekränkt, hatte die Berliner Fakultät 1926/27 seine Rückberufung auf ein neu einzurichtendes und vom Reich finanziertes Ordinariat abgelehnt, obschon oder gerade weil dies von zwei Reichsministerien und im Gefolge dem Preußischen Kultusministerium aus politischen Gründen gewünscht wurde.52 Die wissenschaftliche Übersiedlung des Rechtsberaters des Auswärtigen Amtes, namentlich von Gustav Stresemann, nach Berlin erschien „unter vaterländischen Gesichtspunkten dringend geboten“, aber die Fakultät gewährte dem in Bonn beurlaubten Kaufmann letztlich nur eine Honorarprofessur.53 Ein Berliner Ordinariat sollte Kaufmann erst 1934 erhalten, allerdings nur um die dienstliche Entbindung und damit letztlich Vertreibung des sich wehrenden „Nichtariers“ 49

Smend Carl Bilfinger, ZaöRV 20 (1959/60) 3; Bilfinger wurde von Lösch (Fn. 2), 353 Anm. 607, zufolge nur für das Wintersemester 1944/45 „als Nachfolger“ von Bruns und Dahm tätig; das Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1944, 74 ff., weist ihn mit der Vorlesung „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ sowie einem völkerrechtlichen Seminar aus, nennt ihn aber nicht im Verzeichnis der ordentlichen Professoren noch der Lehrenden überhaupt (vgl. ebd., 17 ff.). 50 Bilfinger Streit um das Völkerrecht, ZaöRV 12 (1944) 20. Gegenüber den „Koalitionen zugunsten des erhofften neuen status quo unter der Maske der Weltbefriedung“ stellte Bilfinger ebd., 32 f., die Frage „cui bono?“. 51 Von Lösch (Fn. 2), 312 ff. m.w.N. 52 Im einzelnen von Lösch (Fn. 2), 89 ff. 53 Von Lösch (Fn. 2), 89 und 91 m.w.N.

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und inzwischen Schmitt-Gegners rechtstechnisch zu ermöglichen.54 Auch einen begrenzten Lehrauftrag verhinderte Schmitt, der dem Ministerium gegenüber anführte, Kaufmann sei „zweifellos ein ganz ungewöhnliches Beispiel jüdischer Anpassung“, dem es „durch lautes Bekenntnis zum Deutschtum“ gelungen sei, „zahlreiche Schüler und Hörer bis in das Jahr 1934 hinein in dem Glauben zu halten, daß er rein deutscher Herkunft sei.“55 Bis 1938 hielt Kaufmann noch sein privates „Nikolasseer Seminar“ mit einem ausgewählten, teilweise polizeilich observierten Teilnehmerkreis, für Rudolf Smend „ein Kapitel, das in keiner Geschichte des deutschen Widerstandes fehlen dürfte.“56 Nach der sog. „Reichskristallnacht“ emigrierte Kaufmann in die ab 1940 von Deutschland okkupierten Niederlande, aus denen er 1946 nach Deutschland zurückkehrte.57 Innerhalb der Berliner Fakultät wirkte seit 1937 überdies Friedrich Berber als Vertreter des Völkerrechts, ab 1940 als Ordinarius. Im Wintersemester 1934/35 war seine Berufung an die Universität Hamburg an Carl Schmitt als Gutachter der Hochschulkommission der NSDAP gescheitert, der diesen Lehrstuhl damit erfolgreich für seinen Schüler Ernst Forsthoff freihielt.58 Gleichwohl avancierte Berber zum stellvertretenden Direktor des in Hamburg beheimateten „Instituts für Auswärtige Politik“, dessen Leitung der Ribbentrop-Protegé mit der Institutsverlagerung nach Berlin 1937 ebenso übernahm wie das Direktorat des neu gegründeten „Deutschen Instituts für Außenpolitische Forschung“.59 Zum Institutskonglomerat gehörte ab August 1939 eine „Deutsche Informationsstelle“, die dem Reichsaußenminister als Propagandaeinrichtung diente und als Dienststelle des Auswärtigen Amtes firmierte.60 Die letzten Kriegsjahre verbrachte Berber von Ribbentrop be54

Von Lösch (Fn. 2), 201 ff. Schmitt an Eckhardt (14.12.1934), zitiert nach Koenen (Fn. 3), 637 m.w.N.; vollständig abgedruckt bei von Lösch (Fn. 2), 207. 56 Smend Zu Erich Kaufmanns wissenschaftlichem Werk, in: Um Recht und Gerechtigkeit, Festgabe Kaufmann 1950, 397; vgl. weiter Friedrich Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, 349. Zum Teilnehmerkreis, der u.a. Konrad Zweigert und Ludwig Raiser umfasste, Quaritsch Eine sonderbare Beziehung: Carl Schmitt und Erich Kaufmann, FS Schuller 2000, 78 f. m.w.N. 57 Friedrich Erich Kaufmann (1880–1972). Jurist in der Zeit und jenseits der Zeiten, in: Heinrichs u.a. (Hrsg.) Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, 701 ff.; Mosler Erich Kaufmann zum Gedächtnis, ZaöRV 32 (1972) 238. 58 Weber Rechtswissenschaft im Dienst der NS-Propaganda. Das Hamburger Institut für Auswärtige Politik und die deutsche Völkerrechtsdoktrin in den Jahren 1933 bis 1945, in: Gantzel (Hrsg.) Wissenschaftliche Verantwortung und politische Macht, 1986, 253. 59 Weber (Fn. 58), 255, 258 und 269; kriegsbedingt wurden Teile der Institute später nach Sondershausen in Thüringen evakuiert. 60 Weber (Fn. 58), 275 ff.; zu den Mitarbeitern Berbers zählte u.a. im „Völkerrechtsreferat“ Wilhelm Grewe, der später als Dozent auch an der Berliner Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät wirken sollte, bis er 1942 eine außerordentliche Professur an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin übernahm; vgl. Weber ebd., 55

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traut mit einer Mission beim „Internationalen Komitee vom Roten Kreuz“ überwiegend in Genf. In seinen Lebenserinnerungen hat Berber seine kritische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus betont und sein äußeres Wirken als eine Art geschickte Mimikry61 beschrieben. Aber sowohl die Stilisierung seines 1934 erschienenen programmatischen Werkes „Sicherheit und Gerechtigkeit“ als der kritischen „Reaktion des Nationalsozialismus“ verfallen, als etwa auch die Herausstreichung seines hohen Verdienstes bei der Rettung ungarischer Juden vor der Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz haben sich bei näherer Untersuchung als nicht sehr überzeugend erwiesen.62 Mit Paul Ritterbusch gelangte 1941 ein weiterer prominenter nationalsozialistischer Staatsrechtslehrer als ordentlicher Professor an die Berliner Fakultät. Ritterbusch gehörte mit schwachem eigenen Profil zu den Protagonisten der sog. Kieler Schule, war an der dortigen Universität von 1937 bis 1941 Rektor gewesen und 1940 im Rang eines Ministerialdirigenten in das Reichswissenschaftsministerium eingetreten, um das „Gemeinschaftswerk Deutsche Geisteswissenschaft“ zu leiten.63 Die Aktion verstand sich als „Kriegseinsatz“ der Geisteswissenschaften, die der angestrebten neuen Ordnung Europas geistig vorarbeiten sollte. Carl Schmitt unterstützte Ritterbusch hierbei in der „Rolle eines Chefideologen“, der sich der dem Recht und Reich gewidmeten Einzelprojekte „beratend und publizierend“ annahm.64 Kurz vor Kriegsende beging Ritterbusch Suizid. Zu den „bekennenden“ Nationalsozialisten an der Fakultät ist scheinbar auch der bereits 1927 emeritierte außerordentliche Professor Conrad Bornhak zu rechnen, der mit abnehmendem Erfolg weiter unterrichtete und auf Druck der Fakultät und des Ministeriums zur Einstellung seiner Vorlesungstätigkeit mit Ablauf des ersten Kriegssemesters bewogen wurde.65 Seine 1939 gegenüber dem Ministerium geäußerte Einschätzung, er sei „ein alter, beinahe prähistorischer Nationalsozialist“ und habe „die Ideen des 277 und 282, sowie Grewe Rückblenden, 1979, 182, und weiter Frowein Nachruf Wilhelm Grewe, AöR 125 (2000) 299 ff. 61 Zu Berbers Übertarnung, die auch Freunde irritierte, unter Berufung auf Arnold Toynbee vgl. Randelzhofer Friedrich Berber, in: Juristen im Porträt, FS C. H. Beck 1988, 176. 62 Vgl. Berber Zwischen Macht und Gewissen, 1986, 68 ff. und 126 ff., und dazu Weber (Fn. 58), 376 ff. und 396 ff., der auf Berbers Beitrag „Deutsche Völkerrechtswissenschaft“ zur „Ehrengabe“ der „Deutschen Wissenschaft“ zu Hitlers 50. Geburtstag hinweist; vgl. auch Stolleis (Fn. 11), 387 m.w.N., der ebd., 259 Anm. 79 die Autobiographie Berbers „beschönigend“ nennt. 63 Vgl. Stolleis (Fn. 11), 280 f., sowie zum Motto des Gemeinschaftswerkes „Neben dem besten Soldaten der Welt muß der beste Wissenschaftler der Welt stehen“ den gleichnamigen Aufsatz von Otto Rechtshistorisches Journal 19 (2000) 173 ff. 64 Hausmann „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945), 1998, 44 f. 65 Von Lösch (Fn. 2), 301 f. m.w.N.

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Nationalsozialismus vertreten, ehe es eine nationalsozialistische Partei gab“,66 lässt sich auch als verbale Verhüllung seiner eigentlich monarchistischen Grundprägung interpretieren.67 Im Vorwort seiner „Verfassungsgeschichte“ hat Bornhak 1934 jedoch erklärt, „das Vergangene kehrt nicht wieder“, wenn auch „die Verfassungsgeschichte der letzten Jahrhunderte uns Führer sein“ solle bei der Vermeidung alter Fehler.68 In die Widerstandsbewegung des Kreisauer Kreises führt der Lebensweg von Hans Peters, der seit 1928 der Berliner Fakultät als außerordentlicher Professor angehörte. Daneben wirkte Peters als Referent und „Sonderbeauftragter“ im Preußischen Kultusministerium, eine Tätigkeit, die er nach nicht vollständig gesicherten Angaben möglicherweise bis zum Ende des Wintersemesters 1935/36 fortführte.69 Trotz eines entsprechenden ministeriellen Vorstoßes sah die Fakultät für seinen Aufstieg ins Ordinariat kein Bedürfnis.70 Im März 1933 wurde Peters als Abgeordneter der Zentrumspartei in den Preußischen Landtag gewählt, im selben Jahr auch in den Vorstand der Görres-Gesellschaft, deren Präsident er von 1940 bis zu ihrem bald folgendem Verbot war.71 „Sein weltoffener und toleranter, aber kämpferischer und stets nachdrücklich bekannter Katholizismus mußte ihn in schärfsten Gegensatz zum nationalistischen Regime bringen“, schrieb rückblickend Otto Bachof,72 und es ist dokumentiert, dass Peters seine „ablehnende Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Staat“ in den Vorlesungen deutlich erkennen ließ.73 Kurz vor Kriegsbeginn zum Hauptmann der Reserve befördert, verbrachte Peters, bald Major, den Zweiten Weltkrieg bei der Luftwaffe. Dem von Helmut James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg, beide hingerichtet in Berlin-Plötzensee,74 begründeten Krei66

Von Lösch (Fn. 2), 302 m.w.N. In diesem Sinne Grothe Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970, 2005, 231; Grothe ebd., Anm. 298, zitiert allerdings Ausführungen Bornhaks aus dem Jahre 1925, wo dieser von einer „Verjudung des ganzen öffentlichen Lebens“ spricht. Eine „mehr oder weniger deutliche Reserve gegenüber dem neuen Machthaber“ diagnostiziert Lübbe Die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung unter dem Einfluß der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Stolleis/Simon (Hrsg.) Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, 1989, 69. 68 Bornhak Deutsche Verfassungsgeschichte vom westfälischen Frieden an, 1934, III f.; ders. Genealogie der Verfassungen, 1935, V f., betonte zwar, dass das „Zeitalter des Konstitutionalismus mit seiner Entartung im Parlamentarismus“ zu Ende gehe, hob aber zugleich die „innere Berechtigung“ eines jeden Zeitalters hervor. 69 Von Lösch (Fn. 2), 302 f. m.w.N. 70 Von Lösch (Fn. 2), 304 m.w.N. 71 Von Trott zu Solz Hans Peters und der Kreisauer Kreis. Staatslehre im Widerstand, 1997, 24 f. 72 Bachof Nachrufe. Hans Peters, AöR 91 (1966), 120. 73 Von Lösch (Fn. 2), 306 m.w.N. 74 Ebenfalls in Plötzensee hingerichtet wurde der frühere Reichsminister und dann preußische Finanzminister Johannes Popitz, der seit den zwanziger Jahren an der Berliner Fakultät als Honorarprofessor auf den Gebieten des Steuer- und Haushaltsrechts wirkte; 67

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sauer Kreis war Peters seit den Anfängen verbunden und hatte auch im Rahmen geheimer Treffen Thesen zur Selbstverwaltung sowie Beiträge zur kulturpolitischen Programmatik beigesteuert.75 Bereits in seinem Aufsatz „Der totale Staat und die Kirche“ hatte Peters 1935 in starker Anlehnung an die offizielle katholische Auffassung dem „liberalen Rechtsstaat“ zwar eine Absage erteilt, jedoch erst recht die Unvereinbarkeit von totalem Staat und Christentum, das ein vom Staat unabhängiges Naturrecht kenne, betont.76 Abgesehen von Schmitt und Höhn stand die Fakultät im Bereich des Öffentlichen Rechts nicht im Zentrum der nationalsozialistischen Literaturentwicklung. Die großen Lehrbücher und auch die kleinen Grundrisse des neuen Rechts kamen nicht aus Berlin. Von der Hauptstadt her erfolgte durch die zum Wintersemester 1934/35 in Kraft getretene Reichsjustizausbildungsordnung (RJAO) eine reichseinheitliche Ausrichtung von Studium und Prüfung an der Befähigung der Absolventen, u.a. „volksverständlich Recht zu sprechen“ sowie „Volksschädlinge zu bekämpfen“.77 Unter Einrichtung eines Reichsjustizprüfungsamtes in Berlin zur Leitung des gesamten juristischen Prüfungswesens in Deutschland mit dem NSDAP-Mitglied Otto Palandt an der Spitze fand das „Führerprinzip“ Eingang in die Absolvierung der Staatsexamina. Insbesondere die in der neuen RJAO vorgesehene Eliminierung des Völkerrechts wurde durch die namentlich von Karl August Eckhardt geprägten „Richtlinien für das Studium der Rechtswissenschaft“, die das Reichsund Preußische Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Anfang 1935 erlassen hatte, unterlaufen. Trotz fehlender Prüfungsrelevanz wurde es an der Berliner Fakultät mit sieben Semesterwochenstunden angeboten.78 Unter Wegfall des normativen Elements firmierte die Staats- und Verwaltungsrechtsvorlesung jetzt schlicht unter „Verfassung“ bzw. „Verwaltung“, die Vorlesung „Allgemeine Staatslehre“ unter „Volk und Staat“.79 Bereits 1934 hatte Hans Peters für die Berliner Studenten ein Repetitorium geschaffen, das ihnen das neue Recht im Wege der Entfaltung eines „Arbeitsge-

vgl. von Lösch (Fn. 2), 317, die insgesamt eine Übersicht über die Honorarprofessoren liefert, zu denen mit dem Lehrauftrag „Verwaltungsrecht“ auch bis zu seinem Tod 1938 der Präsident des Oberverwaltungsgerichts Bill Drews gehörte (ebd., 319). 75 Von Trott zu Solz (Fn. 71), 151 ff. 76 Peters Der totale Staat und die Kirche, in: Kleineidamm/Kuß (Hrsg.) Die Kirche in der Zeitenwende, 1935, 303 ff.; vgl. dazu von Trott zu Solz (Fn. 71), 123 ff., der auch Peters´ „Rede über den Rechtsstaat“, gehalten Ende Mai 1933 vor den Berliner Zentrumsfraktionen, auswertet, ebd., 87 ff.; seinen Veröffentlichungsschwerpunkt legte Peters in der Zeit des Nationalsozialismus auf das Kultur- und Kirchenrecht. 77 Ebert Die Normierung der juristischen Staatsexamina und des juristischen Vorbereitungsdienstes in Preußen (1849–1934), 1995, 408 m.w.N.; vgl. dort auch die Darstellung zum Ausschluß von Juden und politischen Abweichlern sowie zur Diskriminierung von Frauen (ebd., 397 ff.). 78 Von Lösch (Fn. 2), 299 m.w.N. 79 Stolleis (Fn. 11), 342 m.w.N.

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meinschaftsgeistes“ vermitteln sollte und teils in Lagern auf Sylt abgehalten wurde.80 Einen akademischen Tiefpunkt erreichte der Berliner Lehrbetrieb mit den seit 1935 stattfindenden Vorlesungen des Lehrbeauftragten Falk Ruttke zu „Rasse und Recht“ bzw. „Erb- und Rassenpflege“. Von nationalsozialistischen Hardlinern wie Schmitt und Höhn abgesehen, war von den Kathedern „mutmaßlich weder nationalsozialistisches Getöse noch manifeste Kritik zu hören.“81 Der Krieg beschleunigte reichsweit den Verfall der Universitäten, die ihr Lehrangebot reduzierten, und ließ den Stellenwert der als Universitätsfach in Frage gestellten Rechtswissenschaft weiter absinken.82 Noch im Sommersemester 1944 wirkt das Berliner Lehrangebot dagegen kaum begrenzt: Im Bereich des Öffentlichen Rechts las Bilfinger laut Vorlesungsverzeichnis die „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“, Ritterbusch die „Staatslehre des Mittelalters“, Wilhelm Grewe als außerordentlicher Professor an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät „Geschichte des Völkerrechts“, Höhn neben Lemmel „Volk und Staat“ sowie neben Peters „Verwaltung“, Schmitt „Verfassung“ und „Völkerrecht“, Berber „Außenpolitik und Völkerrecht“. Höhn, Peters wie Schmitt hielten „Übungen“, und die meisten gaben ein Seminar. Darüber hinaus wurden u.a. „Grundfragen der praktischen Verwaltung“, „Finanz- und Steuerrecht“, „Recht und Verwaltung der Luftfahrt“, „Kirchenrecht“, „Organisation des Pouvoirs Publics en France“ in französischer Sprache, „Rechts- und Gerichtswesen der Vereinigten Staaten von Amerika“ sowie „Wirtschaftsrecht der Sowjetunion“ angeboten.83

III. Der Rechts- und Staatsbegriff zwischen juridisch-politischem Formprinzip und nationalsozialistischem Gemeinschaftsdenken – eine Berliner „Diskussion“ Unter der Herrschaft des Nationalsozialismus verschiebt Schmitt den Akzent seines Rechtsbegriffs von der die juridische Form verbürgenden autoritativen Dezision hin zum „Nomos“ einer konkreten Ordnung und Gemeinschaft, wie er seinem „konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken“84 80

Von Lösch (Fn. 2), 297, die auch die wehrsportliche Ausbildung und Verpflichtung zum Arbeitsdienst behandelt, vgl. ebd., 290 ff. 81 Von Lösch (Fn. 2), 300. 82 Zur Diskussion um eine Auslagerung der Juristenausbildung aus der Universität Stolleis (Fn. 11), 410 m.w.N. 83 Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Berlin. Sommersemester 1944, 74 ff.; die Veranstaltungen waren in den Rubriken „Geschichte“, „Volk“, „Stände“, „Staat“, „Rechtsverkehr“, „Rechtsschutz“, „Außerstaatliches Recht“, „Rechtsphilosophie“, „Übungen, Repetitorien“, „Seminare“ sowie „Institut für Auslandsrecht“ gruppiert; während des Krieges wurde teilweise in Trimestern gelehrt. Zu Grewe vgl. Fn. 60. 84 Schmitt Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, 15 f. und 58; zur Mehrdeutigkeit des Konzepts und seiner einseitigen Vereinnahmung im „völkisch-

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als dem neuen „Denktypus“85 des deutschen Juristen zugrunde liegt. Aber gerade weil die drei von Schmitt typisierten und von ihm selbst werkbiographisch durchlaufenen Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Normativismus, Dezisionismus und konkretes Ordnungsdenken, sich nicht prinzipiell ausschließen, sondern gegenseitig trinitarisch durchdringen,86 bleiben auch in der gewählten Synthese rechtsformale Mindestanforderungen erhalten. Nicht abstrakte Rechtsideen, aber autoritative Setzungsakte, die in ihrer Punktualität die ordnungsimmanente Normativität allerdings nie vollständig zu erfassen vermögen, bleiben für Schmitt um der „gesetzmäßig funktionierenden Einrichtungen“ im Staatsapparat willen unverzichtbar.87 Von daher verweigert Schmitt den Grundsätzen des nationalsozialistischen Parteiprogramms die unmittelbare Umsetzung seitens der Richter und Verwaltungsbeamten, bis eine „Umschaltung durch ein positives staatliches Gesetz“, auch in Form vom „Führer“ gesetzter Normen, erfolgt ist.88 Sowohl die Generalklauseln als auch die prinzipielle Unbestimmtheit aller Rechtsbegriffe erlauben für ihn dabei eine Auslegung und Anwendung „im nationalsozialistischen Sinne“.89 Wenn Schmitt im Jahre 1935 der Frage „quis judicabit“ die „alles entscheidende Bedeutung“ beimisst,90 scheint eine Verbindungslinie zu der über die „Eigenbedeutung“ des entscheidenden Subjekts gefassten „juristischen Form“ seiner Politischen Theologie auf.91 Zu einem trialistischen Gefüge findet Schmitt auch im Rahmen seines Staatskonzepts, indem er an die Stelle des Dualismus von Staat und Gesellschaft die „Ordnungsreihen“ „Staat, Bewegung, Volk“ setzt.92 Dabei soll die Bewegung als das „politisch-dynamische Element“ Staat und Volk durchrassistischen Sinn“ Böckenförde Ordnungsdenken, konkretes, in: Ritter/Gründer (Hrsg.) Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 6, 1984, Sp. 1313; zu Schmitts Neuorientierung in Richtung einer „rassischen Legitimität“ und der völkisch substantialistischen Fassung des Ordnungsbegriffs vgl. Hofmann Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts4, 2002, 168 ff., der die Abhängigkeit auch der „natürlichen Ordnung“ von einer politisch-revolutionären Entscheidung betont (ebd., 173 f. und 178). 85 Schmitt Nationalsozialistisches Rechtsdenken, DR 1934, 226 ff., unter Abweisung der seines Erachtens verfremdenden und auf künstlicher Abstraktion beruhenden Rezeption des römischen Rechts. 86 Treffend Huber „Positionen und Begriffe“. Eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, ZgesStW 101 (1941) 5. 87 Schmitt Nationalsozialismus und Rechtsstaat, JW 1934, 716. 88 Schmitt (Fn. 87), 716. 89 Schmitt (Fn. 84), 59 f., und ders. (Fn. 87), 717. 90 Schmitt (Fn. 25), 44; „Bindungen“ der von Schmitt in der „rechtlich gesicherten Stellung“ gehaltenen Beamten und des in seiner „Unabhängigkeit“ belassenen Richters sollen über die „Artgleichheit“ gesichert sein (ebd., 45 f.). 91 Vgl. Schmitt Politische Theologie, 1922, 33. 92 Schmitt (Fn. 84), 66, und ders. (Fn. 25), 11 ff. und 22 ff.; hierzu und zur Position der Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff und Ernst Rudolf Huber Pauly (Fn. 11), 79 ff. m.w.N.

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dringen und führen.93 Während der Staat „im engeren Sinne als der politisch-statische Teil“ das „Behörden- und Ämterwesen“ im Sinne einer „Befehls-, Verwaltungs- und Justizorganisation“ betrifft, kann mit Staat „im weiteren Sinne“ auch das „Ganze der politischen Einheit eines Volkes“ bezeichnet werden.94 Die Relativierung, die der profilierte Etatist dem Staat zuteil werden lässt, trifft den Staat im engeren Sinne, der nicht über das „Monopol des Politischen“ verfügt, sondern „nur ein Organ des Führers der Bewegung“ ist.95 Zugleich soll aber im Staat „dieses neue dreifache Gesamtbild der politischen Einheit zu erkennen“ sein, soll ein „starker Staat das Ganze der politischen Einheit über alle Vielgestaltigkeiten“ hinausheben und sichern.96 Schließlich reklamiert Schmitt wie bereits in seiner „Verfassungslehre“ aus dem Jahre 192897 für „jede politische Einheit“ einen „einheitlichen Formgedanken“ als „einheitliches, folgerichtiges Hauptprinzip“ und findet ihn 1934 im „Gedanken des Führertums“.98 Schmitt bestimmt „politische Führung“ als einen „Begriff unmittelbarer Gegenwart und realer Präsenz“, die auf der „unbedingten Artgleichheit zwischen Führer und Gefolgschaft beruhe“.99 Abgewiesen wird eine Herleitung aus „barocken Allegorien und Repräsentationen“ ebenso wie eine Anlehnung an das „Bild“ vom transzendenten „Hirten und der Herde“, das der Herrschaftsgewalt der römisch-katholischen Kirche zugrunde liege.100 Hierin liegt zunächst ein Votum zugunsten des Identitätsprinzips und eine Erübrigung von Repräsentation, da der Wille des Volkes bereits im Führer unmittelbar real präsent sein soll.101 Gleichwohl gilt Schmitts Verfassungslehre zufolge, dass jeder Staat auf Grund des „immer irgendwie vorhandenen und anwesenden Vol93

Hierzu und zum folgenden Schmitt (Fn. 25), 12. Schmitt (Fn. 25), 12 f.; „Volk“ und „Bewegung“ sollen ebenfalls für das „Ganze“ stehen können (ebd., 12); zu Schmitts in der Endzeit Weimars entwickelter Position eines totalen Staates aus „Stärke“, der sich vom nur quantitativ totalen Staat aus „Schwäche“ der Weimarer Republik unterscheiden sollte, vgl. Schmitt Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland (Januar 1933), in: ders. Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939, 1940, Nachdruck 1988, 185 ff., und dazu Pauly Die Krise der Republik. Hermann Heller und Carl Schmitt, in: Dicke/Kodalle (Hrsg.) Republik und Weltbürgerrecht, 1998, 322 ff. m.w.N. 95 Schmitt (Fn. 84), 66 f. 96 Schmitt (Fn. 25), 13 und 33; die Verbindung von Staat und Bewegung wird dagegen auf „Personal-Unionen“ begrenzt und der Partei der Status eines „unmittelbaren Staatsorgans“ versagt (ebd., 20). 97 Schmitt Verfassungslehre, 1928, 204 ff., benennt „Identität“ und „Repräsentation“ als die „zwei Prinzipien politischer Form“. 98 Schmitt (Fn. 25), 33. 99 Schmitt (Fn. 25), 42. 100 Schmitt (Fn. 25), 41 f. 101 Zutreffend Hilger Rechtsstaatsbegriffe im Dritten Reich, 2003, 100. Von einer „Verabsolutierung“ des Identitätsprinzips spricht Hofmann (Fn. 84), 173, und betont, dass Schmitt damit nicht den „Kreis“ verlassen habe, „in dem er schon vor 1933 dachte und schrieb.“ 94

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kes“ sowohl Formelemente von Identität als auch von Repräsentation aufweist, da zu jeder „Staatsform“ wesentlich die „Darstellung der politischen Einheit“ gehöre.102 In einer Quadratur des Kreises genießt der „Führer“ alle Qualitäten eines obersten Repräsentanten, wird aber durch das Axiom der Artgleichheit der dialektischen Notwendigkeit enthoben, die unsichtbare und insofern abwesende Idee der politischen Einheit des Volkes erst „anwesend“ zu machen.103 Die identitäre Authentizität des Führers erscheint dabei durchaus als eine Form von Autorität, wie sie auch bei der persönlichen Repräsentation in anderer Gestalt von Schmitt vorausgesetzt und zum Ausweis der „Fähigkeit zur juristischen Form“ erhoben wird.104 Artgleiche Gemeinschaft und artgleicher Führer werden so allerdings zu einer absoluten Form zusammengeschmolzen, die der Führerapotheose Grenzen weder zu setzen vermag noch setzen will und ein blindes Vertrauen in die „Bindungen“ jenes „Erfordernis einer Artgleichheit“ einfordert.105 Das aus dem „Lebensrecht des Volkes“ hergeleitete umfassende, „unmittelbar Recht“ setzende „Richtertum des Führers“, mit dem Carl Schmitt die „Röhm-Morde“ rechtfertigte,106 sollte alsbald die juristische Halt- und Wertlosigkeit dieser Konstruktion belegen. Wenn der Senior des Öffentlichen Rechts in der Berliner Fakultät den sich andienenden Schmitt einen „politischen Verwandlungskünstler“ und „staatsrechtlichen Seifensieder“ nennt, der „vom Nationalsozialismus ungefähr ebensoviel Verständnis hat wie ein Esel vom Lautenschlagen“,107 dann nimmt Bornhak einen Gutteil der Vorwürfe vorweg, auf Grund derer unter der Regie des Fakultätskollegen Höhn vom Sicherheitsdienst der SS 1936 seine Kaltstellung betrieben wurde: eine nationalsozialistisch getarnte Fortschreibung katholisch-konservativer Grundpositionen und ein hitlerfeindliches, letztlich reichstheologisch geprägtes Verhalten in der Endzeit der Weimarer Republik.108 Und auch Schmitts Münchener Konkurrent im Aufbau einer nationalsozialistischen Staatsrechtslehre, Otto Koellreutter, hatte bereits 1934 gefragt, „wielange noch die deutsche Rechtswelt sich den Papismus Karl Schmitts und seiner zumeist herzlich unbedeutenden Nachtre102

Schmitt (Fn. 97), 207 f. Zu diesem Charakteristikum von Repräsentation Schmitt (Fn. 97), 209 f. 104 Schmitt Römischer Katholizismus und politische Form (1925), 2. Auflage 1984, 31 f. und 49; in dieser Schrift (49) taucht als „edler Protestant“ der Kirchenrechtler Rudolph Sohm auf, der sowohl hinsichtlich der Rechtsform, als auch der juridischen Bestimmung der katholischen Kirche Schmitt stark inspiriert haben dürfte; zu Sohm und weiteren Parallelen zu Schmitt Pauly Geist und Form. Recht, Staat und Kirche bei Rudolph Sohm, Rechtstheorie 31 (2000) 253 ff. 105 Schmitt (Fn. 25), 46. 106 Schmitt (Fn. 5), Sp. 946 f. 107 Bornhak an Koellreutter (22.4.1936), zit. nach von Lösch (Fn. 2), 434 m.w.N. 108 Koenen (Fn. 3), 716 ff., und von Lösch (Fn. 2), 450 ff. und 464 f., hinzu trat noch der Vorwurf des Philosemitismus (ebd., 464 m.w.N.). 103

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ter gefallen lassen wird.“109 Dabei verweist Koellreutter auf den bereits erwähnten Aufsatz in der „Schweizerischen Rundschau“, der Schmitt zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“ stempelte,110 jedoch „für die ganze Persönlichkeit dieses Mannes als Nationalsozialist geradezu vernichtend“111 sei. In diesem auch zur Vorlage beim „Chef der Reichskanzlei“ Hans-Heinrich Lammers bestimmten Brief erfolgen darüber hinaus massive Angriffe auf Reinhard Höhn, der zu diesem Zeitpunkt noch als Privatdozent an der Heidelberger Fakultät lehrte und sich unter Zugrundelegung des Gemeinschaftsgedankens als genuin nationalsozialistischer Öffentlichrechtler zu profilieren suchte. Koellreutter stand dem aus dem Jungdeutschen Orden hervorgegangenen112 Höhn insgesamt ablehnend gegenüber, hatte ihn in Jena nicht habilitieren wollen und danach versucht, seine Habilitation in Heidelberg zu verhindern.113 Höhn sei auch bei Parteistellen als „politischer Wandervogel“ bekannt und habe „natürlich auch keinen Assessor gemacht.“114 Spöttisch über die von Höhn eingeschlagene und später an der Berliner Fakultät fortgesetzte Veröffentlichungsrichtung fährt Koellreutter fort, „Rechtspraxis und Rechtserfahrung und damit Menschenerfahrung sind ja nicht nötig, wenn man nur von Gemeinschaft redet und Phrasen zu machen braucht.“ Ausgehend vom „Prinzip der Gemeinschaft“ stellte Höhn statt des Staates die „Volksgemeinschaft“ in den Mittelpunkt und forderte mit terminologischer Konsequenz, „das deutsche öffentliche Recht als ‚Volksrecht’ und nicht als ‚Staatsrecht’ zu betrachten.“115 Die sachliche Entgegensetzung zu seinem Fakultätskollegen bringt Höhn auf den Punkt, wenn er Schmitt vorhält, mit einem „doppelten Staatsbegriff“ zu arbeiten, der es nicht erlaube, 109

Koellreutter an Mirow (1.11.1934), Tel Aviv University, Wiener Library (Black Box). Carl Schmitt Documents, 631 E Bl. 12. 110 Gurian (Fn. 6), 52 ff.; Koellreutter lag die Veröffentlichung unter dem Pseudonym Paul Müller, Entscheidung und Ordnung. Zu den Schriften von Carl Schmitt, Schweizerische Rundschau 34 (1934) 566 ff., vor. 111 Koellreutter (Fn. 109), Bl. 13. 112 Stolleis Gemeinschaft und Volksgemeinschaft. Zur juristischen Terminologie im Nationalsozialismus, in: ders. Recht im Unrecht, 1994, 111, nennt Höhn den „verfassungsrechtlichen Theoretiker des Jungdeutschen Ordens“ und zeigt die frühe Entwicklung des Gemeinschaftsgedankens in Höhns 1929 vorgelegter Schrift „Der bürgerliche Rechtsstaat und die neue Front“ auf. 113 Im einzelnen Hünemörder Auf glattem Eis, in: Lingelbach (Hrsg.) Jenaer Juristen (demnächst), unter Wiedergabe einer aufschlussreichen Passage über Höhn aus einem Brief Koellreutters an Walter Jellinek vom 21. Februar 1934: „Meinem Gefühl nach dünkte er sich für den ,Kleinkram‘ der Praxis zu gut . . .. Er trat für meinen Geschmack immer anmaßender und unmöglicher auf, sodass unsere Beziehungen immer mehr rein negativer Art wurden, zumal er mit allen Mitteln sein Ziel durchzudrücken suchte.“ 114 Koellreutter (Fn. 109), Bl. 13. 115 Höhn Volk, Staat und Recht, in: Höhn/Maunz/Swoboda Grundfragen der Rechtsauffassung, 1938, 4 und 26 f.

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„eindeutig vom Volke als der entscheidenden Größe auszugehen.“116 Demgegenüber sei die „politische Einheit“ im Volk zu verorten, weil das „geführte Volk“ nicht erst „auf dem Wege über den Staat rechts- und handlungsfähig“ werde.117 Ohne staatliches Zutun bilde die „Volksgemeinschaft“ eine in sich „lebendige und aktionsfähige Einheit“, während sich die Bedeutung des Staates auf „eine Funktion im Dienste der Volksgemeinschaft“ beschränke.118 Als reiner „Behörden- und Beamtenapparat“ sei er in die „Hände des Führers“ gelegt, um den Zwecken der Volksgemeinschaft zu dienen.119 Seiner juristischen Persönlichkeit entkleidet soll der Staat weder eigene Herrschaftspersönlichkeit innehaben noch die maßgebliche Rechtsquelle abgeben.120 Dagegen umfasse die „Volksgemeinschaft“ die „biologische und geistige Seite des Menschen in seiner gesamten Existenz“ und setze auf der Grundlage gleicher „artmäßiger Anlagen“ die Entstehung eines „Gemeinschaftsgeistes“ voraus.121 Gemeinschaft als „Rechtsprinzip“ realisiere sich in Begriffen wie „Ehre und Treue, Rasse und Boden“, die einem individualistischen Rechtsdenken „unjuristisch“ erscheinen.122 Das bisherige Verhältnis von Staat zu Untertan sei dem Grundsatz von Führung und Gefolgschaft gewichen; Gesetze seien nicht länger Ausdruck staatlichen Willens, sondern Akte der Führung.123 Die „Gemeinschaft selbst als Rechtsbegriff“ zu begreifen, war für Höhn „Ausdruck einer tiefgehenden weltanschaulichen Auffassung vom Recht“, die das Recht nicht als eine „vom Inhalt gelöste Form“, sondern als „Ausdruck der Wirklichkeit“ begreife und deswegen davon absehe, eine „wirklich“ erlebte Gemeinschaft mit „ihr fremden Begriffen rechtlich zu verdeutlichen.“124 Im „Kampf gegen den Formalis116 Höhn Vom Wesen des Rechts, in: Heymann (Hrsg.) Deutsche Landesreferate zum II. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung im Haag, 1937, 181. 117 Höhn (Fn. 116), 181. 118 Höhn (Fn. 115), 22; zum Streit um die juristische Staatsperson vgl. Stolleis (Fn. 11), 325 m.w.N. 119 Höhn (Fn. 115), 22. 120 Höhn Der individualistische Staatsbegriff und die juristische Staatsperson, 1935, 227 f.; ders. (Fn. 115), 22; ders. Vom Wesen der Gemeinschaft, 1934, 23. 121 Höhn (Fn. 115), 8; angesichts dieser gliedhaften Gemeinschaftsbindung seien subjektive öffentliche Rechte obsolet; vgl. ders. Das subjektive Recht und der neue Staat, DRW 1936, 57; zu entsprechenden Konstruktionen einer „volksgenössischen Rechtsstellung“ vgl. Pauly Grundrechtstheorien in der Zeit des Nationalsozialismus und Faschismus, in: Papier/Merten (Hrsg.) Handbuch der Grundrechte, Band I, 2004, 574 ff. und 579 ff. m.w.N. 122 Höhn (Fn. 115), 9. An den „einfachen Mann im Volk“ habe sich die Rechtsfindung zu halten, um ihn Fälle „nach seinem Rechtsgefühl entscheiden“ zu lassen; vgl. Höhn Gemeinschaft als Rechtsprinzip, DR 1934, 302. 123 Höhn (Fn. 35), 12 und 41; ders. Das Gesetz als Akt der Führung, DR 1934, 433 ff. 124 Höhn Volk und Verfassung, DRW 1937, 204; ders. Die Juden im Staatsrecht, Jugend und Recht. Zeitschrift für Neugestaltung des deutschen Rechts 1936, 33, forderte im Zusammenhang des Formalismusvorwurfs eine Untersuchung, inwieweit die staatsrechtlichen Grundbegriffe „vom jüdischen Einfluß bestimmt“ worden seien. Eine bemerkens-

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mus“, der die Norm als „abstrakten Gegenstand“ im Rechtsdenken verselbständige, setzte Höhn auf ein „volkstümliches Recht“, mit eigenen, der artgleichen Gemeinschaft entsprechenden „echten Denkformen“ sowie allmählich wachsenden neuen „Gemeinschaftsformen“ und „Symbolen“ als „Ausdruck des Gemeinschaftsbewusstseins unseres Volkes“.125 Auffällig an Höhns literarischem Umgang mit seinem Kontrahenten Schmitt ist eine trotz erheblicher sachlicher Differenzen nur schonende kritische Absetzung, ja sogar vorsichtige partielle Vereinnahmung,126 gerade auch zu der Zeit, in der er Schmitt hinter den Kulissen kalt erledigte und abservierte. Schmitt hingegen hat in seinen Schriften Höhn mehr oder minder übergangen. Nach ihrem politischen Sturz haben sich Schmitt wie Höhn im Einklang mit den außenpolitischen Bestrebungen Hitler-Deutschlands dem Reichsund Völkerrecht zugewandt.127 Schmitts wirkungsreichen Vortrag und die nachfolgende, schnell vier Auflagen erreichende Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ attackierte Höhn scharf. Er warf Schmitt vor, einem „starren, formalen Prinzip“ verhaftet zu bleiben, weil das für seine Großräume konstitutive Nichtinterventionsprinzip eine reine „Abgrenzungstechnik“ beinhalte, wie sie für den individualistischen Staat und sein Souveränitätsverständnis „typisch“ sei.128 Dies führe zu einer auch von Schmitt nicht gewollten „Großraumsouveränität“ und verfehle das „Leben“ in den Großräumen, wie es nur auf der Basis der „Geltung völkischer Lebensprinzipien“ erfasst werden könne.129 Nicht das „konkrete Reich“, das Höhn mit Bezug auf die konkrete „Volksgewerte Zurückweisung allgemeingültiger Rechtsbegriffe „für alle Zeiten“ unter Historisierung des spätkonstitutionalistischen Begriffssystem findet sich bei Höhn (Fn. 35), 44, der damit auf seine Weise die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus hervorhebt. 125 Höhn Form und Formalismus im Rechtsleben, DR 1934, 346 f.; ausdrücklich beruft Höhn sich dabei auf das Vorbild des „alten deutschen Privat- und Prozeßrechts“ und einen formalen Ausdruck dafür, dass Verlobung und Ehe nicht länger eine „Privatangelegenheit“, sondern eine „Aufgabe im Dienste der Erhaltung der rassischen und kulturellen Kräfte des Volkes“ seien (ebd.). 126 Höhns „Vorstoß in Neuland“ lobt dessen späterer Berliner Schüler Diener Bücherbesprechungen, RVerwBl. 1934, 863, in Absetzung zu den „mehr essayistisch die jeweilige Situation analysierenden“ Schriften Carl Schmitts. 127 Im einzelnen Koenen (Fn. 3), 765 ff. m.w.N., der bildhaft davon spricht, daß Schmitt quasi durch den „völkerrechtlichen Hintereingang“ wieder die kurz zuvor durch die „staatsrechtliche Falltür“ verlassene „politische Bühne“ betreten habe (783). Zum Stellenwert vgl. Schwabe Deutsche Hochschullehrer und Hitlers Krieg (1936–1940), in: Broszat/ Schwabe (Hrsg.) Die deutschen Eliten und der Weg in den Zweiten Weltkrieg, 1989, 313 ff. 128 Höhn Großraumordnung und völkisches Rechtsdenken, Reich, Volk, Lebensraum 1 (1941) 275 f. und 278 f.; zu Höhns Position einer Verbindung von Nichtinterventionsprinzip und „Lebensraum“ und zur gesamten Diskussionslandschaft Blindow Carl Schmitts Reichsordnung, 1999, 85 und passim, sowie Schmoeckel (Fn. 37), 13 ff., und immer noch Gruchmann Nationalsozialistische Großraumordnung, 1962, 121 ff. 129 Höhn (Fn. 128), 278 und 285.

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meinschaft“ bestimmte,130 behandele Schmitt, sondern „überhaupt ein Reich“ mit „irgendeiner politischen Idee“ und „irgendeinem politisch erwachten Volk.“131 Schmitt ging es darum, den bisherigen „Zentralbegriff des Völkerrechts“, den Staat, durch den „höheren Begriff“ des Reichs zu ersetzen.132 Er prognostizierte, die „Erhebung des Staatsbegriffes zum allgemeinen Normalbegriff der politischen Organisationsform aller Zeiten und Völker“ werde „wahrscheinlich mit dem Zeitalter der Staatlichkeit selbst bald ein Ende nehmen“, wenn diese Form auch gegenwärtig noch vorkomme.133 Kompromisslerisch erklärte der frisch an der Berliner Fakultät habilitierte Rudolf Suthoff-Groß 1943 seine Gutachter Schmitt und Höhn zu den „bahnbrechenden Pionieren auf dem Gebiet der Großraumlehre und -politik“, Schmitt, weil er den „allumfassenden Rahmenbegriff“ geprägt, Höhn, weil er den „konkret vorhandenen europäischen Großraum von innen her erfasst und mit lebensvollem Inhalt erfüllt“ habe.134 Die Geschichte ist über Höhns konkrete Gestaltungen hinweggegangen, hat aber auch Schmitts begriffliche Formungen aufgerieben. Wie stark sich beide in das bestehende System als Vordenker involviert sahen, belegt ihr Gespräch über die ihnen mutmaßlich drohende Hinrichtung, in dem Höhn zu Schmitt „am Schluß“ gesagt haben will: „wenn jetzt die Sache zu Ende geht, dann werde ich erschossen und Sie werden gehängt“, worauf Schmitt formbewusst geantwortet habe, „warum haben Sie für mich einen so unehrenvollen Tod vorgesehen?“135 Am Ende sind sie nicht einmal verurteilt worden.136 Höhn ist heute 130

Ausführlich Höhn Reich, Großraum, Großmacht, 1942, 75 ff. Höhn (Fn. 128), 263; beinahe neidvoll schildert Höhn Schmitts Technik vereinseitigend abstrahierender Kampf- und Hebelbegriffe (ebd., 265 f. und 269), um dann dessen Methode zu entlarven. 132 Schmitt Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht4, 1941, Nachdruck 1991, 52. Süffisant belehrt Schmitt (ebd., 59) Höhn darüber, dass auch ein als Organisation und Apparat begriffener Staat durchaus nicht zu den „ungeistigen Dingen“ zählt. Wenn Schmitt Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes (Nachdruck der Erstausgabe 1938), 1982, 63, das maschinenhafte Verständnis vom Staat als „Apparat“ der „westlichen Liberaldemokratie“ und dem „bolschewistischen Marxismus“ zuschreibt, bringt er Höhns Theorieleistung in einen diesem sicherlich unerwünschten Kontext. 133 Schmitt Staatliche Souveränität und freies Meer, in: Hartung u.a. Das Reich und Europa2, 1941, 92. 134 Suthoff-Groß Deutsche Großraum-Lehre und -Politik, DR 1943, 628. 135 Höhn Interview vom 21.8.1993, bei von Lösch (Fn. 2), 438 m.w.N. 136 Schmitt war seit September 1945 für 13 Monate in Berlin interniert, wurde im März 1947 erneut verhaftet und für 5 Wochen als „possible defendant“ in das Nürnberger Justizgefängnis überstellt; auf die Vorhaltung Kempners, sein Wirken in der NS-Zeit habe in der Ermordung von Millionen von Menschen geendet, verwies Schmitt auf die ebengleiche Wirkung des Christentums; vgl. hierzu Quaritsch (Hrsg.) Carl Schmitt. Antworten in Nürnberg, 2000, 60. Höhn tauchte unter und gründete in der jungen Bundesrepublik seine „Harzburger Akademie für Führungskräfte“; vgl. Rüthers Reinhard Höhn, Carl Schmitt und andere – Geschichten und Legenden aus der NS-Zeit, NJW 2000, 2869. 131

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eigentlich vergessen. Schmitt genießt, berechtigt oder unberechtigt, nach wie vor hohes wissenschaftliches Interesse137 und übertrifft in dieser Beziehung inzwischen wohl auch Savigny.

137 Die Frage von Neumann Carl Schmitt – und kein Ende?, NJ 1995, 393 ff., wurde seither überrollt von einer Lawine in- wie ausländischer Werke zur Carl Schmitt-Forschung.

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Die juristische Fakultät in der DDR Die juristische Fakultät in der DDR Rosemarie Will

Die juristische Fakultät in der DDR ROSEMARIE WILL

I. II. III. IV. V.

Vorspruch – wie beschreibt man die juristische Fakultät in der DDR? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vorgeschichte – vom heißen zum kalten Krieg . . . . . . . 1949 bis 1961 – Gehen oder Bleiben, obwohl die Revolution ihre Kinder frisst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1961 bis 1971 – im Schatten der Mauer unter dem späten W. Ulbricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1971 bis 1983 – Honecker unter Breschnew: mit der internationalen Anerkennung der DDR beginnt ihre Stagnation . . 1983 bis 1989 – Krise und keine Perestrojka . . . . . . . . . . . .

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Vorspruch – wie beschreibt man die juristische Fakultät in der DDR? Die juristische Fakultät in der DDR war zum einen eine Fakultät mit den Eigenarten juristischer Fakultäten vor und nach ihr an der Berliner Universität. Das heißt, sie besaß als juristische Fakultät strukturell und personell eine besondere Nähe zum Staat und seinem Rechtssystem, weil sie inhaltlich in Forschung und Lehre darauf ausgerichtet war. Ihr Forschungsgegenstand war als Teil des politischen Systems den ständigen Veränderungen durch den Gesetzgeber und die Rechtsprechung unterworfen. Zudem sollte die Lehre an den juristischen Fakultäten nicht nur in die Rechtswissenschaft einführen, sondern auch für die juristischen Berufe ausbilden. Von daher war sie, wie alle deutschen juristischen Fakultäten, viel stärker als andere Fakultäten Teil des Systems, über das sie forschte und lehrte, und von seinen Entwicklungen beeinflusst und abhängig. Vor allem aber war sie durch die autoritären Machtstrukturen des DDRRegimes geprägt, die in den Zeiten des Stalinismus, in denen sich die DDR konstituierte, diktatorische Züge hatten. Insoweit ist sie vergleichbar mit den Fakultäten in den deutschen autoritären und diktatorischen Systemen vor ihr. Der Diktaturvergleich erklärt aber noch nicht hinreichend die spezifisch kommunistische Prägung der juristischen Fakultät in der DDR. Als Fakultät in einem kommunistischen Gesellschaftssystem war sie unmittel-

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bar betroffen vom Bedeutungsverlust des Rechts für die kommunistischen Machtstrukturen, der einherging mit einem Bedeutungsverlust der Justiz und der Juristen im politischen System.1 Über 40 Jahre juristische Fakultät in der DDR zu berichten, setzt deshalb nicht nur voraus, zu beschreiben, was sie als juristische Fakultät ausmachte, beschrieben werden muss auch, welche besondere Rolle Staat, Recht und Juristen im kommunistischen System der DDR hatten. Anders als die Bundesrepublik war die DDR kein demokratischer Rechtsstaat und kein Rechtswegestaat mit einer allzuständigen Justiz. Auch in der Politik und der Verwaltung gab es kein Juristenmonopol. Für die volkseigene Wirtschaft galt wegen der Ersetzung des Marktes durch den staatlichen Plan das Privatrecht nicht. Im Vergleich zur Bundesrepublik lassen sich die Unterschiede der DDR-Rechtsordnung deshalb schnell als Defizite demokratischer Rechtsstaatlichkeit beschreiben. Die Autonomie des Individuums, die Annahme einer staatsfreien Sphäre der Gesellschaft, die Gewaltenteilung mit der Rechtssicherung und der Abschirmung der Justiz vom Politischen wurden nicht anerkannt. Das Recht sollte in der DDR als Instrument die aus objektiven Gesetzen abgeleiteten und in Parteibeschlüssen formulierten Aufgaben bei der sozialistischen und kommunistischen Umgestaltung der Gesellschaft allgemeinverbindlich durchsetzen.2 Die Rechtspolitik, jede juristische Grundposition, jedes juristische Lehrbuch wurde deshalb in einen Ableitungszusammenhang zu den von der SED formulierten Aufgaben gebracht. Dies muss eine Fakultätsgeschichte nachzeichnen und zugleich den verbliebenen Aktionsraum der Fakultätsmitglieder aufzeigen, will sie ihnen gerecht werden. Dabei bilden aber weder in demokratischen noch in autoritären Staatswesen juristische Fakultäten das Rechtssystem einfach Eins zu Eins ab, noch gelingt es der Rechtswissenschaft, Konzeptionen zur Entwicklung von Staat und Recht unabhängig von den politischen Akteuren zu entwerfen. Vielmehr werden im Mikrokosmos einer juristischen Fakultät Entwicklungen des politischen Systems und des Rechtssystems als persönliche Wissenschaftlerund Hochschullehrerkarrieren in der rechtswissenschaftlichen Forschung und Lehre gestaltet und erlebt. Professoren und wissenschaftliche Mitarbeiter konkurrieren dabei gegeneinander und messen ihren persönlichen Erfolg nicht einfach nur an den Ergebnissen ihrer juristischen Publikationen, sondern vor allem an ihrem Einfluss auf den Gesetzgeber und die Rechtspre1 Lepsius Handlungsräume und Rationalitätskriterien der Wirtschaftsfunktionäre in der Ära Honecker, in: Pirker/Lepsius/Weinert/Hertle Der Plan als Befehl und Fiktion, 1995, 350; ders. Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung der Sozialgeschichte der DDR, in: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hrsg.) Sozialgeschichte der DDR, 18 ff.; Dilcher Politische Ideologie und Rechtstheorie, Rechtspolitik und Rechtswissenschaft, in: Dilcher (Hrsg.) Rechtserfahrung DDR, 19, 26. 2 Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, Lehrbuch, 1975, 356.

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chung. Nur in Ausnahmefällen begreifen sie sich als Ideengeber eines gesellschaftlichen Systemwechsels. In der DDR sind drei unterschiedliche Generationen von Rechtswissenschaftlern in diese Konkurrenz eingetreten. Die erste Generation hat ihre juristische Ausbildung noch in der Weimarer Republik erhalten und war zum Teil im Faschismus politisch und rassisch verfolgt. Die zweite Generation ist die eigentliche DDR-Generation, sie beginnt ihre juristische Ausbildung und ihre Karriere nach dem Krieg und tritt mit wenigen Ausnahmen mit dem Ende der DDR ab. Die dritte Generation wird in die DDR als etabliertes System mit geschlossenen Grenzen hinein geboren, hat die DDR-Generation als Eltern und steht am Ende der DDR erst am Beginn einer Hochschullehrerkarriere, die sie überwiegend nicht fortsetzen kann. Allen drei Generationen war fundamentale, juristisch wissenschaftliche Opposition zu den Herrschaftsstrukturen fremd. Selbst dann, wenn ihre Ideen auf Veränderungen aus waren, kamen sie als Vorschläge an die Herrschenden im traditionellen Gewand daher. Im Regelfall aber wollten sie den Gesetzgeber und die Justiz erreichen. Dies bedeutete in kommunistischen Systemen, wie die DDR eines war, zunächst die herrschende kommunistische Partei erreichen zu müssen, sich mit ihr auseinander zu setzen, um auf sie Einfluss zu nehmen. Jedes andere Vorgehen führte zum Abbruch der akademischen Karriere oder gar zu politischer Verfolgung. Ein Nutzen außerhalb der von der SED formulierten Ziele wurde für die Rechtswissenschaft anders als in den Natur- und Technikwissenschaften nicht anerkannt. Mithin ist die Geschichte der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität vor allem eine Geschichte ihres Verhältnisses zur SED.

I. Die Vorgeschichte – vom heißen zum kalten Krieg Aus der Katastrophe der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges wurden die Deutschen im Osten von der Sowjetunion unter Stalin befreit. In dieser Stunde Null stand der juristischen Fakultät der Universität Unter den Linden, weil sie im sowjetischen Sektor Berlins lag, eine kommunistisch agierende Besatzungsmacht stalinistischer Prägung gegenüber – gestützt auf von ihr abhängige deutsche Behörden, die in der Regel von SED-Mitgliedern geführt wurden. Mit der Wiedereröffnung der Universität Unter den Linden am 29.1.19463 auf Befehl Nr. 4 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) vom 3 Am 29.1.1946 wurde die Universität mit einer Festveranstaltung feierlich eröffnet; bereits am 20.1.1946 war an sieben Fakultäten, auch der juristischen die Lehrtätigkeit aufgenommen worden.

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8.1.19464 begann sie5 neben Rostock,6 Halle,7 Leipzig8 und Jena9 auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone10 wieder mit der Ausbildung. Bis zur Wiedervereinigung war die juristische Fakultät der HumboldtUniversität eine von vier11 juristischen Fakultäten in der DDR. Sie war unter ihnen zwar die größte, in den ersten zwei Jahrzehnten der DDR war sie für das kommunistische System aber nicht die bedeutendste juristische Ausbildungs- und Forschungseinrichtung. Die Kader für den von der sowjetischen Besatzungsmacht sofort betriebenen kommunistischen Elitewechsel in der Justiz und im Staatsapparat bildete nicht sie aus. Die dafür benötigten Juristen wurden zunächst außerhalb der universitären juristischen Fakultäten in sechsmonatigen, später in achtmonatigen und einjährigen Schnellkursen nach sowjetischem Vorbild als Volksrichter ausgewählt und herangebildet.12 Die Berliner Fakultät begann 1946 mit einem sehr kleinen, radikal entnazifizierten Lehrkörper13 in der Tradition deutscher Juristenausbildung. Dem Wiedereröffnungsdekan Eduard Kohlrausch, seit 1919 Strafrechtsprofessor in Berlin in der Nachfolge von von Liszt und in den Jahren 1932/33 Rektor der Universität14 gelang es, bei den zuständigen deutschen Verwaltungen der 4 Befehl der SMAD Nr. 4 vom 4.9.1945, veröffentlicht in: Handel/Köhler (Hrsg.) Dokumente des SMAD in Deutschland zum Hoch- und Fachschulwesen 1945–1949, Studien zur Hochschulentwicklung, 57 Berlin (Ost), 1975, 18. 5 Sie begann als rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät, insoweit wurde die 1936 vollzogene Änderung zunächst beibehalten, erst im August wurde sie wieder zur juristischen Fakultät. 6 Die juristische Fakultät der Universität Rostock wurde bereits am 20.10.1950 auf Anweisung des Ministeriums für Volksbildung wieder geschlossen. 7 Befehl Nr. 8 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland über die Wiederaufnahme des Studienbetriebes an der Universität Halle (9. Januar 1946). 8 Befehl Nr. 12 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland über die Wiederaufnahme des Lehrbetriebes an der Universität Leipzig (15. Januar 1946). 9 Befehl des Chefs der Sowjetischen Militäradministration des Landes Thüringen Nr. 97 vom 26.11.1945. 10 Der Befehl Nr. 50 vom 4.9.1945 war die erste gesetzliche Grundlage für die Wiederaufnahme des Lehrbetriebes an den Hochschulen auf dem Gebiet der SBZ, veröffentlicht in: Handel/Köhler (Fn. 4), 28. Davon ausgehend wurden die juristischen Fakultäten der SBZ mit weiteren Einzelbefehlen bis auf die der Universität in Greifswald wieder eröffnet. 11 Siehe Fn. 6. 12 Feht Die Volksrichter, in: Rottleuthner Steuerung der Justiz in der DDR. Einflussnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, 1994. 13 Von insgesamt 47 Fakultätsmitgliedern wurden am 22.12.1945 33 entlassen. Alle 33 waren NSDAP-Mitglieder. Vgl. Müller Überleitung des juristischen Personals an der Humboldt-Universität (zugleich Dissertation Humboldt-Universität zu Berlin 1998), 54. 14 Karitzky Eduard Kohlrausch – Kriminalpolitik in vier Systemen. Eine strafrechtshistorische Biographie, 2002 (zugleich Dissertation Humboldt-Universität zu Berlin).

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Sowjetischen Besatzungszone (SBZ)15 und der SMAD Musterausbildungsordnungen durchzusetzen, die unmittelbar an den Ausbildungsbetrieb von vor 1933 anschlossen.16 Kohlrausch selbst lehrte nur noch drei Semester Strafrecht an der Fakultät, er wurde am 5.9.1947 von der deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung (DZVV) wegen Vorwürfen, die seine Mitarbeit an der NS-Reformkommission und einer Publikation zum Blutschutzgesetz betrafen, beurlaubt und starb am 22.1.1948 verbittert.17 Bereits im Personalund Vorlesungsverzeichnis des WS 1946/47 wird Hans Peters als Dekan ausgewiesen, was er bis zum WS 1948/49 blieb. Hans Peters18 war in der Weimarer Republik Beamter im Kultusministerium und wurde 1928 außerordentlicher Professor für öffentliches Recht an der Fakultät. 1934 verhinderte die Fakultät jedoch ein staatsrechtliches Ordinariat, er stieß als „Exponent des politischen Katholizismus“ auf das Misstrauen des nationalsozialistischen Dozentenbundes.19 1948 als Ordinarius der Berliner Fakultät, nahm er als CDU-Vertreter an den Nürnberger Prozessen teil und referierte als Zeuge über das NS-Staatsrecht. Er kündigte seine Stellung zum 30.9.1949 und ging nach Köln.20 Zur Anfangstroika 1946 gehörte weiter Herrmann Dersch als Professor für Arbeitsrecht, BGB, Sozialversicherung und Wirtschaftsrecht. Er war 1946 bei der Eröffnung der Universität Prorektor und ab 1947 bis 1949 Rektor der Universität. Dersch wurde 1929 an die Universität als außerordentlicher Professor für Arbeitsrecht berufen, jedoch 1937 aus rassischen Gründen „als jüdischer Mischling“ zwangsweise in den Ruhestand versetzt.21 Am 2.3.1949 übernahm er das Dekanat von Peters, verließ die Fakultät aber selbst 1951, um einen Lehrstuhl in Köln zu übernehmen. Heinrich Mitteis kam etwas später, 1946, als Professor für Handels- und Wechselrecht hinzu. Er hatte sich 1933 gegen die Beschimpfung von jüdischen Kollegen in der Presse gewandt und sich auch anschließend kritisch gegenüber dem Nationalsozialismus geäußert. Aus diesen Gründen ist er 1946 als „Opfer des Faschismus“ anerkannt worden. Er ging 1948 als Ordinarius nach München. Neben den vier ordentlichen Professoren lehrten als 15 Die Genehmigungen zum Erlass der Musterausbildungsordnungen wurden erteilt durch die DZVV, die formell zuständig war in Zusammenarbeit mit der SMAD-Rechtsabteilung in Berlin-Karlshorst, aber die DJV beanspruchte die inhaltliche Leitung bei der Ausarbeitung der neuen Ausbildungsordnungen. 16 Die Vorlesungsverzeichnisse der SS 1946 und des WS 1946/47 weisen eine durchgängig überkommene Ausbildungsstruktur aus. 17 Über das Karriereende und die gegen Kohlrausch im Einzelnen erhobenen Vorwürfe vgl. Karitzky (Fn. 14), 179 ff., 439 ff. 18 Zur Biographie vgl. von Trott zu Solz Hans Peters und der Kreisauer Kreis, Staatslehre im Widerstand, 1997. 19 Vgl. dazu von Lösch Der nackte Geist. Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, 1999, 301 ff. 20 Von Lösch (Fn. 19), 307. 21 Von Lösch (Fn. 19), 374.

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weiterer Professor mit Lehrauftrag Günter Brandt22 im Zivilrecht und als Dozent Gerhard Figge23 im Strafrecht und acht Lehrbeauftragte.24 Die ersten vier Ordinarien der Fakultät nach dem Krieg waren antifaschistisch und demokratisch gesinnte Juristen mit einer traditionellen akademischen Karriere in der Weimarer Republik, die sie zum Teil im Dritten Reich fortgesetzt hatten. Mit den tiefen, bereits 1945/46 nach sowjetischem Muster erfolgten Eingriffen in die Eigentumsstruktur, sowohl durch die Bodenreform unter der Losung „Junkerland in Bauernhand“ als auch durch die Verstaatlichung der Mittel- und Schwerindustrie, deklariert als „Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher“, mit der rigorosen Entnazifizierung im Justizund Staatsapparat oder mit der Bildungs- und Schulreform, hatte weder ihre Lehre noch ihre Forschung zu tun, insoweit waren sie konsequent bürgerliche Juristen, die sich zu den in der SBZ vorgehenden Veränderungen nicht äußerten. Uwe-Jens Heuer – seit November 1948 Mitglied der SED – damals Student und später Professor an der Fakultät, schrieb über sein damaliges Studium: „Vorlesungen und Seminare waren rein positivistisch. Es war bei den bürgerlichen Professoren nicht der leiseste Versuch spürbar, hinter den Normen des Rechts und ihrer Anwendung Interessen zu suchen. Die meisten Klausuren waren zeitlos angesiedelt und sollten eigentlich nur die Fähigkeiten prüfen, juristisch zu beliebigen Fragen zu argumentieren und dabei die Rechtsprechung zu beherrschen. Diese Rechtsprechung war damals überwiegend noch die des inzwischen dahingeschiedenen Reichsgerichts.“25 Gleichwohl hatten die tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen in der SBZ und die politischen Auseinandersetzungen darüber die Fakultät erreicht. Dies geschah zum einen über die von der deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung (DZVV) betriebene Personalpolitik zur Ergänzung des Lehrkörpers der Fakultät, zum anderen in den vornehmlich studentischen Auseinandersetzungen um die Durchsetzung des hegemonialen Machtanspruches der SED in der Universität, an dem die Studenten der juristischen Fakultät auf beiden Seiten maßgeblich beteiligt waren. Als erste Ordinarien, die das kommunistische System aktiv in ihrer Lehre vertraten, wurden am 20.10.1948 Walther Neye und Peter-Alfons Steiniger26 22

Günter Brandt wurde am 11.10.1894 geboren, promovierte 1917 an der Universität Greifswald. Seine Berufung zum Professor mit vollem Lehrauftrag für das bürgerliche Recht erfolgte am 26.10.1946, die Berufung zum ordentlichen Professor am 20.10.1948. 23 Gerhard Figge wurde am 18.5.1907 geboren und promovierte 1942. 24 Graubner Die Juristische Fakultät der Berliner Universität zwischen Neueröffnung und 2. Hochschulreform, in Beiträge zur Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin Nr. 17, 51, 55. 25 Heuer Im Streit, Die zwei deutschen Staaten, 2002, 24. 26 Zu den Lebenswegen und akademischen Karrieren von beiden in der DDR ausführlich mit weiterführender Literatur: Kleibert Die ersten neuberufenen Professoren an der Juristischen Fakultät der Berliner Universität nach 1945 – Ein Vergleich von Peter-Alfons Steiniger und Walther Neye, http://www.forhistiur.de/zitat/0905kleibert.htm.

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und 1949 Arthur Baumgarten berufen. Während in der DDR Peter-Alfons Steiniger als der erste marxistische Lehrer27 galt und hieß es von Walther Neye, dass ihn als bürgerlichen Juristen „seine antifaschistische Gesinnung an die Seite der Arbeiterklasse“ geführt habe, „der er beispiellos gedient habe“.28 Arthur Baumgarten hingegen wurde als der bürgerliche Vorzeigejurist, der zum neuen System konvertiert war, zum einflussreichsten Rechtsphilosophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stilisiert.29 Peter-Alfons Steiniger,30 rassisch und politisch verfolgt im 3. Reich, seit 1945 KPD und seit 1946 SED-Mitglied, kam im WS 1946/47 als Assistent von Hans Peters an die Fakultät. Er nahm in dieser Zeit maßgeblich an der Ausarbeitung der ersten DDR-Verfassung im Rahmen der von der SED initiierten Volkskongressbewegung teil31 und richtete von Anfang an seine Lehre und Forschung an den sich vollziehenden Systembrüchen aus. Walther Neye,32 der aus bürgerlichen Verhältnissen stammte, seit Mai 1933 Mitglied der NSDAP33 war, erhielt im Wintersemester 1946/47 einen Lehrauftrag für Bürgerliches Recht. Nach seiner Promotion 1924 hatte er als Repetitor, Rechtsanwalt und Referent im Reichsluftfahrtministerium gearbeitet. Nachdem er 1947 ein Angebot der Universität Rostock erhielt, ihn als außerordentlichen Professor für Bürgerliches Recht ohne Habilitation zu berufen, wurde er im Oktober 1947 Professor mit vollem Lehrauftrag in Berlin. Er führte die Verhandlungen zwischen Rostock und Berlin so, dass 27

So in der DDR-Darstellung von Graubner (Fn. 24), 55, apostrophiert. Neue Justiz 1989, 463. 29 So Hermann Klenner, der ihn als den einflussreichsten Rechtsphilosoph in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschrieb. Vgl. Klenner Arthur Baumgarten und die deutsche Rechtsphilosophie in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, Staat und Recht 1984, 202. 30 Peter-Alfons Steiniger geb. am 4.12.1904 als Sohn eines tschechischen Juden und einer deutschen Mutter, die den jüdischen Glauben angenommen hatte, gest. am 27.5. 1980. Emeritierung am 1.9.1970. 1947 Habilitation zum Thema „Das Blocksystem“. Seit Gründung im September 1947 war er neben seiner Tätigkeit an der Humboldt-Universität zugleich Präsident der Deutschen Verwaltungsakademie „Walter Ulbricht“ bis Ende 1950. Nachdem die „Neue Zeitung“ Auszüge aus seinem Aufnahmeantrag von 1938 an die Reichsschrifttumskammer veröffentlichte, trat er nach einem Verfahren vor der Zentralen Parteikontrollkommission am 4.11.1950 als Präsident der Deutschen Verwaltungsakademie zurück. 1952–1954 war er Dekan der juristischen Fakultät. Er leitete von 1951 bis 1958 das Institut für Staats- und Rechtstheorie und danach das Institut für Völkerrecht. 31 Vgl. Amos Die Entstehung der Verfassung der sowjetischen Besatzungszone/DDR 1946–1949, 2006, 17–175, 194–196, 230–234. 32 Walther Neye, geb. am 24.7. 1901, gest. am 12.8.1989, Emeritierung am 1.9.1966. Er promoviert 1924 in Breslau. Nach Beendigung des Rektorats wurde Neye Direktor des eigens für ihn gegründeten Instituts für westdeutsches und ausländisches Zivilrecht. 33 Diese Mitgliedschaft hat er im Personalfragebogen des Magistrats der Stadt Berlin, von ihm unterschrieben am 4.7.1945 nicht angegeben, so Kleibert (Fn. 26), Fn. 30. 28

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er am Ende ohne Habilitation in Berlin zum ordentlichen Professor für bürgerliches Recht ernannt wurde. Bereits 1947 kam auch Arthur Baumgarten34 als Gastprofessor nach Berlin und wurde 1949 ordentlicher Professor an der Humboldt-Universität. Er hatte 1909 als von Liszt-Schüler in Berlin promoviert, war in der NS-Zeit aus politischen Gründen in die Schweiz emigriert und dort 1944 Mitbegründer der Partei der Arbeit gewesen. Zwar ist er in der DDR immer außerordentlich hervorgehoben worden,35 da er aber bereits 1953 emeritiert wurde, ist seine Wirkung für die Fakultät deutlich geringer zu veranschlagen, als die von Steiniger und Neye. Fast ebenso bedeutsam wie die Berufung der drei neuen Professoren war 1948 die Lehrauftragserteilung für Zivilrecht, Zivilprozessrecht und Familienrecht an Hans Nathan. Als im dritten Reich rassisch Verfolgter stand er bereits während seiner Emigration der KPD nahe. 1948 war er noch leitender Mitarbeiter im Ministerium der Justiz, bevor er 1952 hauptberuflich an die Humboldt-Universität wechselte, nachdem er aus dem Ministerium von Ulbricht entfernt worden war. Zwischen die Fronten der bürgerlichen Professoren, die aus der Fakultät zugunsten der dem SED-Regime verpflichteten Aufsteiger verdrängt wurden, geriet Karl Steinhoff,36 der von 1948 bis 1953 an der Fakultät Lehrbeauftragter für Verwaltungsrecht war. In der Weimarer Republik leitender Beamter, nach dem Preußenschlag in den Ruhestand versetzt und dann von den Nationalsozialisten entlassen, ging er als SPD-Mitglied aus Überzeugung in die SED, um 1952 als DDR Innenminister von Ulbricht gestürzt zu werden. 1953 beendete er seine Lehrtätigkeit an der Fakultät nach von der FDJ inszenierten Zwischenfällen. Bereits am 24.1.1946 wurden die ersten 294 Studenten immatrikuliert, zu denen zu Beginn des WS 1946/47 nochmals weitere 70 hinzukamen.37

34 Arthur Baumgarten wurde am 31.3.1884 geboren und starb am 27.11.1966. Er hat 1909 promoviert und wurde im selben Jahr bereits außerordentlicher Professor. Der Lehrauftrag für das WS 1946/47 wurde 13.12.1946 erteilt. Daneben hielt er auch Vorlesungen in Leipzig und hatte ein Amt an der Brandenburgischen Landeshochschule in Potsdam. Vgl. zur Biographie und dem Wirken von Baumgarten Irrlitz Rechtsordnung und Ethik der Solidarität, Der Strafrechtler und Philosoph Arthur Baumgarten, 2008. 35 1951 Nationalpreis der DDR II. Klasse, vaterländischer Verdienstorden, Titel „Hervorragender Wissenschaftler des Volkes“, Ehrungen durch zwei Festschriften, 1960 und 1964. 36 Karl Steinhoff, geb. 1892, starb 1981. In der DDR machte er zunächst politische Karriere als Ministerpräsident von Brandenburg von 1946 bis 1949, dann bis 1952 als DDRInnenminister. Vgl. zur Biographie Schreckenbach Brandenburg 1945 bis 1949 und sein Ministerpräsident Dr. Carl Steinhoff. 37 Nach Graubner (Fn. 24), 53 f. Die Zahl der Immatrikulierten stieg über die Jahre kontinuierlich an, im Wintersemester 1948/49 gab es bereits 656 eingeschriebene Studenten. Danach ist die Zahl wieder gesunken, auf 353 Immatrikulierte im WS 1950/51.

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In Berlin galt durch Order der Alliierten Kommandantur vom 31.5.1947 die Berliner Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Referendare und Gerichtsassessoren.38 Die Studieninhalte orientierten sich an den Studienplänen aus der Weimarer Zeit. Für die Studienbewerber der ersten Zeit galten die sehr strengen Zulassungsbedingungen, die die Zentralverwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone bereits im September und Dezember 1945 erlassen hatte:39 Von vornherein von der Zulassung ausgeschlossen waren ehemalige Mitglieder der NSDAP oder ihrer Gliederungen sowie frühere aktive Offiziere. Bevorzugt wurden Personen, die in der NSZeit Widerstand geleistet hatten oder als „Opfer des Faschismus“ anerkannt waren. Das System der Zulassung änderte sich jedoch als diese Aufgabe von der Universität weg auf Kommissionen übertragen wurde. Zugleich wurde in der Zulassungspraxis begonnen, SED-Mitglieder und Arbeiter- und Bauernkinder zu bevorzugen.40 Nach Schätzungen waren im Jahr 1948 80% der immatrikulierten Studenten Mitglieder einer NS-Organisation gewesen und nach der Rechtslage in der SBZ nur mit Ausnahmebewilligung in der Justiz überhaupt verwendbar.41 Von den Studienanfängern des Jahres 1946 an der Fakultät waren 4,9% Kommunisten und 5,3% Sozialdemokraten.42 Die Hochschulgruppen der CDU und der LDP hatten mehr Anhänger.43 Die Studenten der juristischen Fakultät waren tendenziell antifaschistisch aber nicht kommunistisch eingestellt, vielmehr politisch plural zusammengesetzt. Ernst Benda, der spätere Bundesverfassungsgerichtspräsident, 1948 Jurastudent im 4. Semester und Vorsitzender der CDU-Hochschulgruppe der Studenten, beschrieb die Stimmung unter den Studenten so: „Es hat niemals eine Zeit gegeben, in der so intensiv über die Notwendigkeit diskutiert wurde, die Welt und vor allem das eigene Land zu verändern. Wir meinten, in einer Stunde Null zu leben. Sie schien die Chance zu einem völligen Neuanfang zu eröffnen. Das Fehlen aller materiellen Voraussetzungen ermöglichte jede Utopie, die sich nicht der Frage stellen musste, was denn in der Realität auch machbar war. Auch die Begegnung mit den Lehren von Karl Marx wurde von der Mehrzahl der nichtkommunistischen Studenten als ein anregender Anstoß be38

Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Referendare und Gerichtsassessoren, VOBl. für Groß-Berlin 1947, 185 ff. 39 SMAD-Befehl Nr. 49 vom 4.9.1945, sowie SMAD-Befehl Nr. 204 vom 23.8.1947; außerdem Rundschreiben der Zentralverwaltung vom 8.12.1945. 40 Nach Liwinska Die juristische Ausbildung in der DDR, 1997, 64, danach stieg der Anteil der Arbeiter- und Bauernkinder innerhalb eines Jahres von 5 auf über 30%. 41 Feht (Fn. 12), 351, 377. 42 Graubner (Fn. 24), 57. 43 Dies ergibt sich zum Beispiel aus dem Ergebnis für die Wahl des Studentenrates im Dezember 1947 als von den 30 zu vergebenden Sitzen nur drei an die SED gingen. Vgl. Tent Freie Universität Berlin 1948–88. Eine deutsche Hochschule im Zeitgeschehen, 1988, 90 f.

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grüßt, sich das eigene Weltbild zu schaffen. Viele meinten, Karl Marx habe die Welt ganz gut interpretiert, doch komme es vor allem darauf an, sie zu verändern.“44 Bereits ab 1946 versuchte die KPD die Parteiarbeit an der Universität zu verstärken, auch an der Fakultät wurde eine KPD-Fakultätsgruppe gebildet, die nach dem Einigungsparteitag 1946 in eine SED-Parteigruppe umgewandelt wurde und an deren Bildung die beiden späteren Professoren Bernhard Graefrath und Erich Buchholz beteiligt waren. Ihr erster Vorsitzender war der von den Nazis verfolgte Friedrich Wolff, der später in der DDR als Rechtsanwalt eine große Publizität entfaltete45 und nach der Verwandlung der SED in eine Partei neuen Typs nach dem Vorbild der KPdSU den dann einsetzenden Parteisäuberungen selbst zum Opfer fiel und sich 1948 einem Parteiausschlussverfahren stellen musste.46 Die gesellschaftlich Aktiven sammelten sich auf Universitätsebene in der Studentenvertretung, der Studentischen Arbeitsgemeinschaft, deren Vorsitzender Georg Wrazidlo, ein im Dritten Reich wegen Propaganda gegen die nationalsozialistische Politik47 Verfolgter, war. Die Studentische Arbeitsgemeinschaft hatte ca. 850 Mitglieder, von denen 80% keine Kommunisten waren.48 Ein weiteres Zentrum studentischer politischer Aktivitäten entwickelte sich mit der von Otto H. Hess und Joachim Schwarz49 herausgegebenen Studentenzeitschrift „Colloquium“, deren erste Nummer im Mai 1947 unter amerikanischer Lizenz erschien. Die Versuche, die Studentenschaft unter die Hegemonie der SED zu bringen, stießen dabei auf deren zunehmenden Protest der Studenten. Ob es im Kern bei den studentischen Protesten darum ging, keine zweite deutsche Diktatur zu dulden oder ob der studentische Protest Teil des einsetzenden Kalten Krieges war, der im Ergebnis zur Spaltung Berlins führte, kann hier dahingestellt bleiben. Spätestens mit der Berlinblockade im Sommer 1948 und der Teilung Deutschlands wurde der Konflikt für alle Universitätsangehörigen unausweichlich. Die Auseinandersetzung mit den Studenten begann im Frühjahr 1946 als eine Gruppe von 30 Studenten in einem Schreiben an den Rektor gegen das Hissen von Fahnen der KPD und einem Transparent mit dem Symbol der SED protestierte: „Die Universität dient der Wissenschaft und Bildung und 44

Benda Es kommt darauf an, eine Partei nicht zu wählen, FAZ vom 1.2.1996. Friedrich Wolff wurde am 30.7.1922 geboren, promovierte 1983 und wurde vor allem durch die Fernsehsendung „Alles was Recht ist“ sowie durch Strafverteidigungen in großen Prozessen bekannt. 46 Lönnendonker Freie Universität Berlin. Gründung einer politischen Universität, 1988, 212. 47 Tent (Fn. 43), 42. 48 Lönnendonker (Fn. 46), 192; Tent (Fn. 43), 47. 49 Joachim Schwarz wurde am 26.11.1925 geboren. 45

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ist keine Parteiinstitution.“ Die Zentralverwaltung reagierte, der Rektor möge die geeigneten Maßnahmen treffen, um „die Universität von störenden Kräften rein(zu)halten“.50 Die Unterzeichner des Schreibens wurden in die Zentralverwaltung geladen und dort befragt und verwarnt.51 Eine weitere Folge war die Absetzung des Vorsitzenden der Studentischen Arbeitsgemeinschaft, Georg Wrazidlo, der CDU-Mitglied war, durch die Zentralverwaltung für Volksbildung und seine provisorische Ersetzung durch den der SED angehörenden Jurastudenten Friedrich Wolff. Erst im Herbst fand dann eine Wahl statt, bei der Otto H. Hess (SPD) siegte. Im März 1947 wurden die drei Studenten Georg Wrazidlo, die Studentin Gerda Rösch und Manfred Klein52 – Mitglied des Studentenrates und Angehöriger der CDUHochschulgruppe – sowie drei weitere Studenten von sowjetischen Stellen verhaftet. Sie wurden von sowjetischen Gerichten in geheimer Sitzung zu Gefängnisstrafen von 10 bis 35 Jahren wegen „faschistischer Geheimbetätigung“ verurteilt. Mit den Verhaftungen zeigte die sowjetische Seite unterstützt von der SED, dass sie entschlossen war, ihr Regime auch an der Universität durchzusetzen. Dennoch erlitten die SED-Bewerber bei den Studentenratswahlen im Februar 1947 eine Niederlage: von 28 Mitgliedern des Studentenrates gingen nur drei Sitze an Vertreter der SED. Als im Dezember 1947 wiederum Studentenratswahlen stattfanden, errang die SED wiederum nur drei von 30 Sitzen, die SPD zwei, die CDU drei und die LDP einen; alle anderen waren parteipolitisch ungebunden, aber sie sympathisierten ganz überwiegend nicht mit den neuen Machthabern, sondern mit deren Opposition. Am 16.4.1948 teilte Rektor Dersch den Studenten Otto Hess und Joachim Schwarz als den Herausgebern des „Colloquiums“ und Otto Stolz als dessen Kommentator mit, dass die Zentralverwaltung für Volksbildung „ihr Einverständnis mit Ihrer Zulassung zum Studium an der Universität Berlin im Hinblick auf die in Ihrer publizistischen Tätigkeit liegende Verletzung von Anstand und Würde eines Studierenden hiermit widerrufe“. Als Jurist war Günter Brandt an der Relegation der drei Studenten als Mitglied im Disziplinarausschuss beteiligt.53 Der Studentenrat stimmte wenige Tage später mit 18 zu drei Stimmen einer von Ernst Benda eingebrachten Entschließung zu,

50 Daraufhin widerruft Rektor Hermann Dersch die Zulassung zum Studium von drei Studenten, vgl. Tent (Fn. 43), 96. 51 Tent (Fn. 43), 46. 52 Manfred Klein wurde am 20.7.1925 geboren, studierte zunächst Germanistik, später Rechtswissenschaft. Am 13.3.1947 wurde Klein in Berlin vom NKWD verhaftet, am 13.12.1948 wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Zwangsarbeitslager verurteilt. Er wurde am 19.10.1956 entlassen. Später wurde Klein Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung. Er starb am 15.1.1981. 53 Diese Beteiligung Brandts führte 1951 zu der „Affäre Brandt“ an der FU, in der sich die Studenten gegen die Berufung von Brandt als Professor an die FU wandten.

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mit der die willkürlichen Entlassungen verurteilt wurden und die Zentralverwaltung aufgefordert wurde, ihre Entscheidung rückgängig zu machen. Mit 19 gegen 2 Stimmen wurde beschlossen, die Zentralverwaltung von der Absicht zu unterrichten, die Studentenschaft zum Streik aufzurufen, falls die Forderungen nicht umgehend erfüllt würden.54 Peter-Alfons Steiniger versuchte daraufhin, in einer Versammlung der SED Studenten zu erklären, “dass es sich nicht nur um die Relegation von drei Studenten handelt, sondern darum, dass bestimmte Kräfte heute im Kampf um Berlin versuchen, die Studenten wie Figuren in einem Schachspiel vorzuschieben.“55 Die nachfolgenden Ereignisse führten zur Gründung der Freien Universität in den Westsektoren Berlins. Diejenigen Studenten, die die Auseinandersetzung gegen die Vereinnahmung der Universität durch die SED anführten, waren auch die Initiatoren der Gegengründung. Für die juristische Fakultät der Humboldt-Universität war dies das Ende ihrer Pluralität. Zunächst setzten die überwiegend nichtkommunistischen Studenten ihr Studium zum Teil an der FU fort, kurze Zeit später verließen auch die bürgerlich liberalen Hochschullehrer die Fakultät. Fortan wurde die juristische Lehre und Forschung an der Fakultät im kalten Krieg auf der kommunistischen Seite betrieben.

II. 1949 bis 1961 – Gehen oder Bleiben, obwohl die Revolution ihre Kinder frisst? Nach dem Auszug eines Teils der Studenten an die FU56 zum WS 1948/49 und dem Weggang der Ordinarien, mit denen die Fakultät 1946 neu begonnen hatte,57 veränderte sich die Fakultät an der Humboldt-Universität sehr schnell, sie wurde Teil des mit der DDR-Gründung in der SBZ errichteten politisch administrativen Herrschaftssystems. Schon mit Gründung der DDR wurde ihr politisches System parteioffiziell als eine Form der Diktatur des Proletariats angesehen, in der der Staat und sein Recht nach dem Bilde der KPdSU und ihres Führers Josef Stalin als ihre Instrumente zu entwickeln seien. Die Auswirkungen, die dies auf das gesamte geistige Leben in der DDR hatte, waren für die Rechtswissenschaft besonders gravierend, wenngleich auch für die einzelnen Rechtszweige unterschiedlich. Bei der in den 50er Jahren in der gesamten Rechtswissenschaft der DDR durchgesetz54

Tent (Fn. 43), 98; Lönnendonker (Fn. 46), 236. Neues Deutschland vom 23.4.1948, 1. 56 Nach offiziellen Angaben der FU waren es 29,4% der Studenten. Vgl. Lönnendonker (Fn. 46), 335. Damit sank auch die Zahl der Immatrikulierten an der Berliner Universität vom WS 1948/49 zum SS 1949 von 656 auf 539 Studenten ab. 57 Hinzu kamen Wilhelm Wengler als Lehrbeauftragter für Völkerrecht und Brandt, die direkt zur FU wechselten (Lönnendonker [Fn. 46], 308). 55

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ten Stalinisierung war die Berliner Fakultät nicht nur Erfüllungsgehilfe der SED, sondern zugleich auch das Ziel von Repressionen. In der Justizpraxis wurden in den Jahren 1948/49 – unter dem Einfluss der sowjetischen Strafrechtstheorie und deren These vom politischen Strafrecht als Instrument im sich verschärfenden Klassenkampf – Musterprozesse mit unangemessenen Strafen gegen tatsächliche oder vermeintliche oppositionelle Kräfte durchgeführt. Diese fanden in der Regelung der Strafbarkeit der Boykotthetze in Artikel 6 der Verfassung vom 7.10.1949 bis zum 1.12. 1958 ihre rechtsstaatwidrige Grundlage.58 Zudem hatte sich die SED schon 1948 gegen die verwaltungsrechtliche Kontrolle des Staatsapparates entschieden. Mit der ersten DDR-Verfassung von 1949 waren das sogenannte Prinzip der Gewalteneinheit eingeführt und die Gewaltenteilung abgeschafft worden, um die Herrschaft der bürokratischen Apparate von Staat und SED abzusichern.59 Außerdem wurden die vorangehenden Änderungen der Eigentumsstruktur verfassungsrechtlich sanktioniert.60 Mit der vorläufigen Arbeitsordnung der Universitäten und wissenschaftlichen Hochschulen in der SBZ (VAO)61 vom 23.5.1949 verlor die Humboldt-Universität ihren Körperschaftsstatus und wurde offiziell als „höchste staatliche Lehranstalt“ der zentralen Verwaltung für Volksbildung unterstellt. Nach dieser Arbeitsordnung war die Fakultät für ihr Unterrichts- und Forschungsgebiet sowie für die allgemeine geistige Entwicklung und Erziehung der Studenten verantwortlich.62 Ihre Dekane wurden für zwei Jahre gewählt und benötigten die Bestätigung durch die Deutsche Verwaltung für Volksbildung und das Volksbildungsministerium des Landes.63 Sie sollten die Sitzungen der Weiteren und Engeren Fakultät einberufen. Nach dem Weggang von Peters und Dersch 1950 übernahm Walther Neye das Dekanat, bis er 1952 Rektor wurde. Danach war von 1952 bis 1954 Peter-Alfons Steiniger Dekan und Lola Zahn64 Prodekanin. Geprägt aber hat diese Fakultätsperiode Hans Nathan,65 Dekan von 1955 bis 1962. In einem jüdisch-bürgerlichen Elternhaus aufgewachsen, arbeitete er nach Studium und Promotion bis 1933 als Anwalt in der Kanzlei seines Vaters. Um der Verfolgung durch 58 Siehe hierzu Mampel Die Verfassung der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Text und Kommentar2, 1966, 82 f. 59 Vgl. Art. 50 der DDR-Verfassung von 1949. 60 Vgl. Art. 21 ff. der DDR-Verfassung von 1949. 61 Diese wird abgedruckt in Baske/Engelbert Dokumente zur Bildungspolitik in der Sowjetischen Besatzungszone, 1966, Dokument Nr. 16, 39 ff. 62 Baske/Engelbert (Fn. 61), § 14, S. 42. 63 Baske/Engelbert (Fn. 61), § 17, S. 42. 64 Lola Zahn wurde am 9.8.1910 geboren. Sie promovierte 1937 im Exil in Paris. Zahn starb am 17.2.1998. 65 Hans Albert Nathan, geb. 2.12.1900, gest. 12.9.1971, Promotion: 1922, Habilitation: Oktober 1952, Professor mit Lehrstuhl für das Fach Gerichtsverfassung und Prozessrecht: 1.9.1953, ab 13.5.1954 stellvertretender Direktor Institut für Zivilrecht.

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die Nazis zu entgehen, emigrierte er 1933 nach Prag und floh 1939 über Polen und Schweden nach England. Als er im Spätsommer 1949 nach Deutschland zurückkehrte, wurde er rasch als Vortragender Rat der Deutschen Justizverwaltung eingestellt. Nach einer Parteiüberprüfung wurde er 1952 als Abteilungsleiter ab- und als Chefredakteur der „Neuen Justiz“ eingestellt. Seine zweite Karriere in der DDR begann im Herbst 1952 an der Humboldt-Universität, wo er mit einer Professur beauftragt wurde.66 In dieser Zeit veränderten sich Inhalt und Form der juristischen Ausbildung, die Fakultätsstruktur und die politische und soziale Zusammensetzung der Fakultätsmitglieder gravierend. Am Anfang dieser Entwicklung stand eine tiefe Krise der Fakultät, die ihre Ursachen zum einen in den vielen vakanten Hochschullehrerstellen hatte, für die es keinen ausgebildeten Nachwuchs gab, zum anderen in der Volksrichterausbildung, durch die die universitäre Juristenausbildung überhaupt in Frage gestellt wurde. 1949 war die Universitätsausbildung zugunsten der Volksrichterausbildung völlig in den Hintergrund getreten.67 Hilde Benjamin als Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR bestand nun darauf, dass auch die universitäre Juristenausbildung nach den Prinzipien der Volksrichterausbildung verändert werde. „Die Neugestaltung des juristischen Studiums, die gerade zur Zeit Gegenstand gemeinsamer Arbeit zwischen der deutschen Verwaltung für Volksbildung und der deutschen Justizverwaltung ist, wird nach den gleichen Grundsätzen erfolgen, und damit wird dann erreicht werden, dass die von beiden Ausbildungswegen kommenden Juristen sich auch in ihrer Einstellung zu den entscheidenden Fragen des Rechts wesentlich nähern werden.“68 Die Justizverwaltung hatte 1949 die Absolventen der Juristischen Fakultät überprüft und von ihnen nur 45% für die Übernahme in den Justizvorbereitungsdienst für geeignet gehalten. 40% der Überprüften wurden als geeignet angesehen, auch wenn sie der „antifaschistisch-demokratischen Ordnung innerlich gleichgültig“ gegenüberstanden. Nur 15% wurden als politisch aktive Menschen bezeichnet.69 Bereits der zum 22.8.1949 vorläufig eingeführte Studienplan brach mit der traditionellen Juristenausbildung,70 führte ein Studium ein, das mit einem 66

Zum Leben von Hans Nathan vgl. Göring Hans Nathan und die Entwicklung des Rechts und der Rechtswissenschaft in der DDR, in: Hans Nathan zum 85. Geburtstag eines vielseitig wirkenden sozialistischen Juristen, Berichte der Humboldt-Universität, 1986; Mollnau Hans Nathan – Ein Jurist von Geltung, NJ 2000, 626. 67 Vgl. dazu Liwinska (Fn. 40), 3–59; Haferkamp/Wudke Richterausbildung in der DDR, in: Forum Historiae iuris (EHI) http://www.rewi.hu-berlin.de/FHI/zitat/9710 haferkamp_wudke-htm, 27–29; Benjamin Die Volksrichter in der Sowjetzone, NJ 1947, 15. 68 Benjamin Zur Herausbildung des neuen Richters, NJ 1949, 132. 69 Vgl. dazu Liwinska (Fn. 40), 68. 70 Studienplanquelle und Plan von 1950, vgl. zur damaligen Sicht Graefrath Das juristische Studium nach dem neuen Studienplan, NJ 1951, 291 ff.

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breiten, 34% der gesamten Vorlesungszeit umfassenden, gesellschaftswissenschaftlichen Ausbildungsteil begann, der nach dem dritten Semester mit einer Zwischenprüfung endete und erst danach in den fachlichen Teil überging. In diesem Studienplan war erstmals eine Fächerstruktur nach sowjetischem Muster vorgesehen. Mit der 1951 eingeleiteten 2. Hochschulreform wurde ein 4-jähriges Studium beschlossen, die Einteilung des Studiums in Semester aufgehoben und ein zehnmonatiges Studienjahr eingeführt. Das Referendariat wurde fortan als Berufspraktikum in das Studium integriert.71 Das verkürzte Referendariat, welches sich an das Studium angeschlossen hatte, wurde bald darauf ganz abgeschafft. Die Ausbildung wurde durch die Einführung sogenannter Seminargruppen deutlich verschult. Bei den Seminargruppen handelte es sich um eine Einteilung der Studenten in feststehende Verbände, in denen sie gemeinsam den Vorlesungs- und Selbststudiumsstoff unter Leitung eines Hochschullehrers oder wissenschaftlichen Mitarbeiters wie im Schulklassenverband durcharbeiteten. Diese studentischen Verbände wurden mehr und mehr auch zu politischen Organisationseinheiten. Zunächst bildeten Mitglieder einer Seminargruppe auch eine FDJGruppe, später auch eine Parteigruppe der SED. Bereits zum Sommersemester 1951 waren von 350 Studenten 195 Mitglieder der SED72 und auch ihre soziale Herkunft hatte sich deutlich verändert. Zwar waren bereits 1946 die ersten Absolventen der Vorstudienanstalt in die Fakultät übernommen worden, nach denen der Rektor ausdrücklich ihre Prüfungsbefreiung an den Fakultäten angekündigt hatte; aber erst als die Vorstudienanstalten 1949 in die sog. Arbeiter- und Bauernfakultäten umgewandelt worden waren, gelang es, den geforderten Bedarf an Bewerbern aus der Arbeiter- und Bauernschaft annähernd zu decken. Parallel zur Neuordnung des juristischen Studiums wurde mit Schreiben vom 2.8.1951 durch den Staatssekretär für das Hochschulwesen, Prof. Dr. Gerhard Harig eine neue Struktur angewiesen.73 Danach wurden das Deka71

Liwinska (Fn. 40), 81. Graubner (Fn. 24), 64. 73 Schreiben von Prof. Harig vom 2.8.1951 zur Neuorganisation der juristischen Fakultät der HU. Im Zuge der Neuordnung des juristischen Studiums wurde zur Erfüllung der Aufgaben der juristischen Fakultät der HU in Lehre und Forschung folgendes angeordnet: Alle Institute und Seminare sind mit sofortiger Wirkung aufgelöst. An ihre Stelle tritt folgende Struktur der Fakultät: 1. Dekanat 2. Institut für Staats- und Rechtstheorie, Leiter Steiniger und Baumgarten 3. Institut für Verwaltungsrecht, kommissarisch Dr. Kröger 4. Institut für Zivilrecht, Leiter Neye 5. Institut für Strafrecht 6. Institut für Kriminalistik, vorbereitende Arbeiten Kanger a) Abteilung für kriminalistische und forensische Psychologie b) Abteilung für wissenschaftliche Gerichtsexpertise 72

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nat und 7 Institute gebildet: das Institut für Staats- und Rechtstheorie (geleitet von Steiniger und Baumgarten), das Institut für Verwaltungsrecht (kommissarisch geleitet von Dr. Kröger74), das Institut für Zivilrecht, geleitet von Neye,75 das Institut für Völkerrecht (für das vorbereitende Arbeiten von Steiniger geleistet werden sollten) und das Institut für Kriminalistik (für das vorbereitende Arbeiten Kanger76 leisten sollte). Die zu bildenden Institute für Strafrecht und Arbeitsrecht sollten bis zur Ernennung von Leitern vom Dekan geführt werden. Wegen des Lehrkräftemangels mussten die Vorlesungen alsbald unter Beteiligung des wissenschaftlichen Nachwuchses durchgeführt werden. Dafür wurde auf theoretisch befähigte und politisch unbelastete junge Juristen, die gerade ihr Studium abgeschlossen hatten, zurückgegriffen. Sie wurden in Aspiranturen und Intensivkursen auf eine akademische Laufbahn vorbereitet. Einer dieser Kurse, in denen die kommenden Professoren ausgebildet wurden, fand im Jahre 1951 an der Deutschen Verwaltungsakademie in ForstZinna statt. Von der Berliner Fakultät nahmen daran Hermann Klenner,77 R. Schneider,78 H. Kleine79 und Bernd Graefrath80 teil. Unter Anleitung von älteren Praktikern und Theoretikern wurden während des Lehrganges Vorlesungen kollektiv ausgearbeitet.81 Von diesem Lehrgang ging eine spürbare Stalinisierung aus, was ein Zusammenstoß zwischen den Lehrgangsteilnehmern mit Karl Polak, der den Lehrgang mit leitete, verdeutlicht.82 Karl Polak, 7. Institut für Arbeitsrecht 8. Institut für Völkerrecht, vorbereitende Arbeiten Steiniger Bis zur Ernennung von Leitern der Institute für Strafrecht und Arbeitsrecht führt der Dekan die Geschäfte dieser Institute. Die bisherigen Bibliotheken und Institute des juristischen Seminars werden zu einer Fakultätsbibliothek zusammengefasst. In den Instituten werden künftig nur noch Handbibliotheken gehalten. Bis zur Neuregelung des Stellenplanes und der Haushaltsmittel der Fakultät verteilt der Dekan die vorhandenen Stellen und Mittel entsprechend den Beschlüssen der Fakultät zweckmäßig an die einzelnen Institute. 74 Kröger, Herbert, geb. 21.10.1915, kommissarischer Direktor 1951–1953; Direktor 1953–1957. 75 Neye, Walther, 24.7.1901–1989, Promotion 1924, Prof. 20.10.1948, Dekan 1950– 1952, Rektor 1952–1957, Emeritierung 1.9.1966. 76 Kanger, Artur, geb. 17.4.1875, Dir. 1.1.1952, Prof. 1.10.1952, Emeritierung 1.1.1955. 77 Klenner, Hermann, geb. 5.1.1926, Promotion 28.11.1952, Prof. 1.6.1956–1958, Habilitation 9.4.1965. 78 Schneider, Rudolf, geb. 27.4.1921, komm. Dir. 1951–1956, Promotion 30.6.1953, Dir. 1956–1961. 79 Kleine, Hans, geb. 18.11.1918, Dir. 1958–1960. 80 Graefrath, Bernd, 12.2.1928–3.1.2006, Studium an der HU 1946–1949, Promotion 8.10.1951, Habilitation 10.5.1963, Prof. 1.9.1963, Dir. 1973–1.12.1982. 81 Vgl. Graefrath Erfahrungen einer wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft, NJ 1951, 550. 82 Wie sich die kritischen Vorgänge um die Person Polaks während des Lehrgangs in Forst-Zinna abspielten und welche Vorwürfe erhoben wurden, ist in einem zum Nachlass Ulbrichts gehörenden Konvolut belegt (SAPMO BArch NL 182/1124).

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Jahrgang 1905, hatte in Frankfurt, Heidelberg und München Rechtswissenschaften studiert und 1933 in Freiburg promoviert. Als Jude durfte er das Referendariat im Nationalsozialismus nicht mehr absolvieren und emigrierte in die Sowjetunion und wurde dort von den Lehren und dem Wirken Wyschinskis geprägt. 1946 kehrte er nach Deutschland zurück und war von 1946 bis 1949 Leiter der Abteilung Justizfragen beim Parteivorstand der SED, wo er führend am Entwurf der DDR-Verfassung mitarbeitete. Als er 1949 Professor an der Universität Leipzig wurde, war er bereits der verlängerte Arm Walter Ulbrichts in der Rechtswissenschaft, was er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Staatliche Verwaltung des ZK der SED von 1954–1960 immer weiter perfektionierte. Ausgerechnet Karl Polak wurde von den Lehrgangsteilnehmern nicht nur fachliche Oberflächlichkeit und mangelnde wissenschaftliche Kompetenz vorgeworfen, sondern auch ungenügende ideologische Treue zu Stalin. Das sagt viel über den ideologischen Eifer der Lehrgangsteilnehmer aus, belegt aber auch, dass sie das ganze Spektrum der üblichen Muster aufstrebender, karrierebewusster junger Wissenschaftler beherrschten. Die eigenen Ansprüche wurden durch Opponieren gegen den Throninhaber angemeldet, indem Zweifel an seiner Kompetenz einschließlich seiner ideologischen Treue angemeldet wurden. Da dieser Vorstoß Hermann Klenner angelastet wurde, wird darin eine der Ursachen für die tief greifende Störung des persönlichen Verhältnisses zwischen Karl Polak und Hermann Klenner gesehen,83 die kurze Zeit später nicht nur für Klenner, sondern auch für die Fakultät Folgen haben sollte. Die Neubesetzungen im Lehrkörper vollzogen sich sehr schnell. Bereits im Wintersemester 1951/52 wurden Hans Kleine im Zivilrecht, Hermann Klenner in der Theorie des Staates und des Rechts und Rudolf Schneider im Arbeitsrecht mit der Wahrnehmung einer Dozentur beauftragt. Rudolf Schneider leitete ab dem Sommersemester 1952 kommissarisch das arbeitsrechtliche Institut als Direktor. Bernhard Graefrath84 ging nach dem Lehrgang erst in das Staatssekretariat für das Hochschulwesen, wurde aber danach 1955 Dozent für Völkerrecht. Im Wintersemester 1952/53 wurde Johannes Gerats85 Direktor des Instituts für Strafrecht. Der Aufstieg junger Kader hielt auch nach dem 17. Juni 1953 an. Walter Ulbricht gelang es mit der Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953, seine Macht im Partei- und Staatsapparat auszudehnen. Die Durchsetzung stalinistischen Gedankengutes in der Rechtswissenschaft war eines 83 Vgl. Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner Rechtswissenschaft in der DDR 19491971, 1996, 38 mit weiteren Erklärungen aaO in der Fn 11 auf der genannten Seite. 84 Bernhard Graefrath, geb. am 12.2.1928, studierte von 1946–1949 an der HumboldtUniversität und promovierte 1951. Ab 1955 war er Dozent für Völkerrecht, nach seiner Habilitation 1963 Professor. 85 Johannes Gerats, geb. 1.2.1915, 5.3.1952 Promotion, 1.12.1952 Professor und Direktor des Institut für Strafrecht, 3.7.1957 Prodekan.

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seiner wirksamsten Mittel zur Stabilisierung und Erweiterung seiner persönlichen Macht. Er wurde dabei maßgeblich von Karl Polak und Klaus Sorgenicht unterstützt. Klaus Sorgenicht leitete von 1954 bis 1989 die ZK– Abteilung Staats- und Rechtsfragen. Auch die von W. Ulbricht betriebene Absetzung und Verhaftung des Justizministers Max Fechner und die Ernennung Hilde Benjamins zu seiner Nachfolgerin hatten nachhaltige Konsequenzen für die Rechtswissenschaft.86 Hilde Benjamin hatte bereits im WS 1950/51, damals noch Vizepräsidentin des Obersten Gerichts, als Lehrbeauftragte an der Fakultät gewirkt. Durch die Berufung Hilde Benjamins zur Justizministerin gewann sie für lange Zeit einen Einfluss auf die Rechtswissenschaft, der dem von Polak vergleichbar war. Während Polak das juristische Grundlagendenken kontrollierte, steuerte Hilde Benjamin vor allem die Straf- und Familienrechtslehre. Mit dem politischen Strafprozess gegen Fechner wurde eine ideologische Offensive gegen „Sozialdemokratismus“ und den „Rechtsformalismus“ eröffnet, die eine Verschärfung des stalinistischen Kurses in der Rechtswissenschaft zur Folge hatte. Die WyschinskiRezeption in der DDR erlebte mit dem Erscheinen der rechtstheoretischen Abhandlung in deutscher Übersetzung ihren Höhepunkt.87 1954 erschien auf dieser Linie Hermann Klenners Schrift „Der Marxismus-Leninismus. Über das Wesen des Rechts“,88 in der er die Wyschinskische Rechtskonzeption zunächst – wenngleich nicht ausnahmslos – rezipierte, dann aber in der nicht mehr erschienenen 3. Auflage von ihr abrückte. Mit dem XX. Parteitag der KPdSU (14.–25.2.1956), auf dem Chruschtschow in einer Geheimrede mit den Verbrechen der Stalin-Zeit abrechnete und die Beseitigung des Personenkults forderte, begann sich die Situation zu verändern. Mit dem Stalinmythos wurde auf dem Parteitag zugleich Wyschinski als führender Rechtsdenker im stalinistischen Lager entthront. In den folgenden Jahren kam es darüber in der SED-Führung zu Auseinandersetzungen zwischen zwei Gruppen, zum einen der Schirdewan-Wollweber86

Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Fn. 83), 41. Vgl. Arzinger (verantwortlicher Redakteur) Sowjetische Beiträge zur Staats- und Rechtstheorie, 1954: In diesem Band sind drei Beiträge Wyschinski übersetzt, darunter seine berüchtigte Rede vom 16.7.1938, in der er seine Erfahrungen in den Stalinschen Schauprozessen zu einem Begriff von Recht komprimierte und gleichzeitig Paschukanis, Stutschka u.a. als Schädlinge, Volksfeinde und Faschisten einstufte. Die Gerichtsreden von Wyschinski waren bereits 1951 in der DDR herausgekommen. Vgl. dazu die Rezension von Benjamin Einheit 1952, 699 ff. 88 Klenner Der Marxismus-Leninismus über das Wesen des Rechts2, 1955. Die 3. Auflage, in der Klenner von der Rechtskonzeption Wyschinskis abrückte, konnte infolge der Babelsberger Konferenz nicht mehr erscheinen. Auf sie nahm aber Ulbricht in seinem Referat auf der Babelsberger Konferenz Bezug. In einem Punkt wich Klenners Auffassung allerdings bereits in den ersten beiden Auflagen von jener Wyschinskis und dessen Injurien ab. Während dieser die Gesetzlichkeit auf die Einhaltung des Rechts beschränkt sehen wollte, verstand Klenner unter Gesetzlichkeit auch die Forderung an den Gesetzgeber, soziale Beziehungen rechtlich zu regeln. 87

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Gruppierung, die aus dem XX. Parteitag, aber auch dem polnischen „Frühling im Oktober“ und dem Aufstand in Ungarn 1956 für die DDR einen Bedarf nach Entstalinisierung ableitete und zum anderen der Gruppe um Ulbricht, die jede Fehlerdiskussion abblockte. An der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität kursierte nach dem XX. Parteitag der KPdSU ein vom Ostbüro der SPD herausgegebenes Konzept, in dem Wolfgang Harig philosophisch-politische Konzepte von Ernst Bloch und Georg Lukatsch vorstellte.89 In dieser Situation begannen die jungen Dozenten Anleihen bei jugoslawischen Staats- und Rechtstheoretikern90 sowie bei den nichtstalinistischen marxistischen Rechtstheoretikern Stutschka und Paschukanis zu machen. Anfang Februar 1958 gelang es W. Ulbricht, die Schirdewan-WollweberGruppe politisch kaltzustellen. Er ging daran, alle „revisionistischen“, auf eine Entstalinisierung der Rechtswissenschaft gerichteten Tendenzen auszuschalten. Diesem Zweck diente die von Ulbricht und seiner Umgebung wie ein Schauprozess inszenierte Babelsberger Konferenz vom 2./3.4.1958. Zu den auf dieser Konferenz von Walter Ulbricht unter konterrevolutionären Revisionismusverdacht gestellten Rechtswissenschaftlern gehörten die vier führenden jungen Rechtswissenschaftler der Berliner Fakultät: Hermann Klenner (Leiter der Abteilung Staats- und Rechtstheorie und Geschichte der Politischen Anschauungen), Bernd Graefrath (später, ab 1973 Leiter der Abteilung Völkerrecht), Uwe-Jens Heuer (ab 1963 Leiter des Instituts für Staatsrecht) und der Zivilrechtler Horst Kellner. Daneben wurden von der Fakultät vor allem der Assistent im Staatsrecht Horst Wylezol und der Assistent von Hermann Klenner Karl A. Mollnau wegen revisionistischen Auffassungen zur Vorbereitung der Babelsberger Konferenz benannt.91 Ohne Namensnennung wurde Prof. Walther Neye, der zu dieser Zeit Rektor der Universität war, der formal-logischen und formal-juristischen Herangehensweise bezichtigt.92 Bernd Graefrath hatte im Sommer 1956 an der 47. Konferenz der International Law Association in Dubrovnik teilgenommen und über diese Konferenz in „Staat und Recht“ einen – wie es später in seinem Parteiverfahren hieß – vom Objektivismus getragenen unparteilichen Bericht geschrieben.93 89 SAPMO BArch IV 2/13/475. Die Gruppe um Wolfgang Harig wurde verhaftet und an drei Hochschullehrern der Humboldt-Universität, die sich über den Fernausleihdienst nicht gelittene Literatur beschaffen wollten, wurde ein strafrechtliches Exempel statuiert. 90 Vgl. Kardelj Die sozialistische Demokratie in der jugoslawischen Praxis, 1956. 91 Vgl. Beitrag der Abteilung Wissenschaften des ZK der SED zur Vorbereitung des Referats von Walter Ulbricht auf der Babelsberger Konferenz, abgedruckt in Dreier/ Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Fn. 83), 161, 175 f. 92 Vgl. Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Fn. 83), 171. 93 Vgl. dazu Abschlussbericht über die Vorgänge an der juristischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität (März 1958, abgedruckt in Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner [Fn. 83], 232).

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Zudem wurde ihm Agitation für jugoslawische Maßnahmen, z.B. zum Absterben des Staates und zur Freiheit der Meinungsäußerung, vorgeworfen.94 Uwe-Jens Heuer wurden bürgerliche Ansichten vorgehalten z.B., dass es eine freie Meinungsäußerung geben müsse, deren Grenze das Strafgesetzbuch sei, sowie Demokratisierungsabsichten im Sinne der „bürgerlichen Demokratie“.95 Horst Kellner wurde wegen seines Eintretens für ein Konkursverfahren für sozialistische Betriebe kritisiert. Damit – so wurde H. Kellner vorgehalten – vertrete er jugoslawische Auffassungen.96 Anlass für die Auseinandersetzung mit Hermann Klenner war ein Artikel in einer Festschrift zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution zum Thema: „Zur Ideologischen Natur des Rechts“.97 In ihm hatte er die von Wyschinski verfemten sowjetischen Juristen Stutschka und Paschukanis zitiert. Am 16.2.1958 erschien im Neuen Deutschland ein ganzseitiger Artikel von Annemarie Helmbrecht, seit 1954 Oberassistentin am Institut für Zivilrecht der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität unter der Überschrift: „Professor Klenner und der Revisionismus“.98 Am 17.2.1958, am Tag nach dem Erscheinen des Artikels, behandelte der wissenschaftliche Rat der Fakultät in einer über siebenstündigen Sitzung den Festschrift-Artikel Hermann Klenners. Der Strafrechtler Johannes Gerats erstattete Bericht. Im Protokoll wurde als Ergebnis festgehalten: „Der Rat ist der Meinung, dass der Artikel des Kollegen Professor Dr. Klenner objektiv feindlicher Natur ist, er ist idealistisch, unhistorisch und verlässt den Klassenstandpunkt. Der Artikel beeinträchtigt das Ansehen der Sowjetunion und revidiert die marxistisch-leninistische Lehre in Grundfragen der Staats- und Rechtstheorie. Die Feststellung besagt nicht, dass Professor Klenner bewusst diese objektiv feindliche Wirkung hervorrufen wollte.“ Diesen Diskussionen im staatlichen Gremium folgten die Auseinandersetzungen in der Partei. Die Parteiversammlung dazu soll insgesamt 33 Stunden gedauert haben. Heuer schrieb über diese Parteiversammlung, sie sei ein Instrument „der Kritik und Selbst-

94 Die Propagierung des von der SED als revisionistischen Weg der jugoslawischen Parteiführung angesehenen Maßnahmen soll vor allem in einem Artikel im Dezemberheft 1956 in der vom Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen herausgegebenen Zeitschrift erfolgt sein. 95 Abschlussbericht über die Vorgänge an der juristischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität (März 1958, abgedruckt in Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner [Fn. 83], 236). 96 Vgl. dazu ausführlich: Beitrag der Abteilung Wissenschaften des ZK der SED zur Vorbereitung des Referates von Walter Ulbricht auf der Babelsberger Konferenz (März 1958) (Fn. 91), 177. 97 Klenner Staat und Recht im Lichte des Großen Oktober, Festschrift zum 40. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, 1957, 82 ff. 98 Neues Deutschland vom 26.2.1958; Helmbrecht „Zur ideologischen Natur des Rechts“ im Lichte des Großen Oktober, Staat und Recht 1958, 244 ff.; ebenso Weichelt Über Mängeln das Vorwärtsweisende nicht vergessen!, Staat und Recht 1958, 622 ff.

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kritik für den überwiegenden Teil der Mitglieder der Fakultät“99 gewesen. Niemand sei von der Kritik ausgenommen worden; alle seien aufgefordert worden, zu sich selbst Stellung zu nehmen und gleichzeitig Wissenswertes über andere mitzuteilen, sie also zu denunzieren. Gregor-Schirmer100 erklärte in dieser Versammlung, dass Klenner, Graefrath und Heuer eine Gruppe bildeten und wies auf die Verhaftung der Gruppe Heinrich Saar und Herbert Crüger101 am 2.3.1958 an der Humboldt-Universität hin. Damit war die Drohung einer parteifeindlichen Gruppierung im Raum, die im Zweifel mit den Mitteln des Strafrechts geahndet wurde. Heuer schrieb: „Ich schäme mich noch heute, dass ich unter dem damaligen Druck im Grunde lächerlich erscheinende Informationen über Klenner und Graefrath gab“.102 Die SED-Mitgliederversammlung beschloss am 31.3.1958 eine Kommission einzusetzen, die das parteischädigende Verhalten von Graefrath, Klenner, Heuer und Rudolf Schneider untersuchen sowie mit Horst Kellner eine Aussprache führen sollte.103 Rudolf Schneider war Direktor des Institutes für Arbeitsrecht an der Humboldt-Universität und war von 1955 bis März 1957 Sekretär der SED Grundorganisation. Ihm wurde vorgeworfen, dass er als Parteisekretär bei der Auswertung des XX. Parteitages der KPdSU die Grundorganisation nicht geführt habe, sondern selbst anfällig für Auffassungen des Genossen Graefrath gewesen sei.104 Auf der Babelsberger Konferenz wurden die zentralen Fragen der Rechtswissenschaft im Sinne Ulbrichts und seines Gefolgsmannes Polak entschieden. Der Vorrang der Partei und ihrer Beschlüsse gegenüber dem Recht, die Diskontinuität zu den bürgerlichen Rechtstraditionen und die vorgebliche Interessenidentität zwischen Bürger und Staat. Verbunden war dies mit einer Disziplinierung der ganzen Rechtswissenschaft der DDR durch die exemplarische Abstrafung einiger „revisionistischer“ Rechtswissenschaftler, wobei Herrmann Klenner, Heinz Such und Karl Bönninger namentlich von Ulbricht angegriffen wurden.105 99

Heuer (Fn. 25). Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Fn. 83), 272 Fn. 124. 101 Am 30.12.1958 wurden Saar und Crüger wegen schweren Staatsverrats zu je 8 Jahren Zuchthaus verurteilt, Urteil des Bezirksgerichts Potsdam Az. I BS 336/58, in einem Kassationsverfahren des OG der DDR wurde das Urteil am 2.5.1990 aufgehoben, Pr OSK 4/90. 102 Heuer (Fn. 25). 103 Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Fn. 83), 220 Fn. 106 weisen darauf hin, dass die Kommission auf Weisung der Bezirks-Partei-Kontrollkommission zustande gekommen sei. 104 Abschlussbericht über die Vorgänge an der juristischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität (März 1958, abgedruckt in Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner [Fn. 83], 238). 105 In der 39. Sitzung der Enquete-Kommission wurden dem Vortrag von Jörn Eckert zum Thema »Die Babelsberger Konferenz vom 2. und 3. April 1958 – Legende und Wirklichkeit« die Aussagen der Zeitzeugen Hermann Klenner, Karl A. Mollnau und Uwe-Jens Heuer gegenübergestellt. Umstritten war dabei insbesondere, ob die Differenzen zwischen 100

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Im Abschlussbericht der Kommission der Fakultät wurde das Verhalten von Klenner, Graefrath und Heuer dahingehend beurteilt, dass es zur Bildung einer fraktionellen parteifeindlichen Gruppierung führen könne. Besonders Graefrath und Klenner hätten parteischädlich und zersetzend gewirkt. Die Mitgliederversammlung nach der Babelsberger Konferenz am 14.5.1958 beschloss als Parteistrafen strenge Rügen für Klenner und Graefrath und eine Verwarnung für Heuer. Alle drei wurden zur Bewährung in die Praxis geschickt. Das Verhalten von R. Schneider wurde missbilligt.106 Der V. Parteitag der SED im Juli 1958 erklärte die Babelsberger Konferenz für parteiverbindlich. Organisatorisch erfolgte die Umsetzung der Babelsberger Konferenz durch die Bildung zweier neuer Institutionen, denen fortan die politische Lenkung der Rechtswissenschaft oblag.107 Dadurch geriet die Fakultät in eine doppelte Unterstellung zum Parteiapparat, sie unterstand sowohl der Abteilung Wissenschaften als auch der Abteilung Staatsund Rechtsfragen beim ZK der SED.108 Zwischen die ZK-Abteilung Staat und Recht und die juristischen Fakultäten war die Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam Babelsberg geschaltet.109 Diese Jahre von der Staatsgründung über den 17. Juni 1953, den XX. Parteitag der KPdSU, bis 1961 mit einer noch offenen Grenze, waren für alle dagebliebenen Fakultätsmitglieder Jahre, in denen sie sich individuell für eine rechtswissenschaftliche Karriere in der DDR gegen eine Alternative im Westen entschieden. Unabhängig von den Motiven, die dafür ursächlich waren, meinten sie alle, sich unter dem geteilten Himmel Deutschlands der den auf der Babelsberger Konferenz Gemaßregelten und der offiziellen Rechtslehre der SED tatsächlich eine echte Alternative darstellten. Vgl. hierzu Eckert Die Babelsberger Konferenz vom 2. und 3. April 1958 – Legende und Wirklichkeit, Der Staat 33 (1994) 59– 75; Bericht der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland«, BT-Drucksache 12/7820, 92 ff. 106 Rudolf Schneider wurde am 27.4.1921 geboren. Von 1951 bis 1957 war er Dozent für Arbeitsrecht, anschließend Professor mit Lehrauftrag. 107 Am 29.7.1958 beschloss das Politbüro die Gründung einer eigenen Kommission für Staats- und Rechtswissenschaft. Die Kommission wurde in der Folgezeit zur zentralen Steuerungsstelle für die juristische Lehre und Forschung mit weitgehenden Zuständigkeiten in diesem Bereich. 1959 wurde durch einen Beschluss des Ministerrates das Protektorat für Forschung im Wege der Eingliederung des Deutschen Instituts für Rechtswissenschaft in die DASR gebildet. 108 Vgl. zur Entwicklung der Struktur der ZK-Abteilung Staats- und Rechtsfragen ausführlich Rottleuthner (Fn. 12), 43 ff. mwN. 109 Die Babelsberger Akademie hat zwei Vorläuferinnen. Zum einen die am 12.10.1948 gegründete Deutsche Verwaltungsakademie in Forst-Zinna. Zum anderen die am 3.4.1951 gegründete zentrale Richterschule, die am 2.5.1952 umgewandelt wurde in die Hochschule für Justiz. Am 20.2.1953 fusionierten beide zur Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“ in Potsdam Babelsberg. Am 23.1.1959 wurde in die DASR das 1952 gegründete Deutsche Institut für Rechtswissenschaft als Protektorat für Forschung eingegliedert. 1972 unter Honecker wurde die DASR „Walter Ulbricht“ umbenannt in Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR.

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Idee vom besseren Deutschland verpflichten zu müssen, dass die DDR im Vergleich zur Bundesrepublik sein sollte. Dabei wurden sowohl die bereits vor dem Krieg als auch die nach dem Krieg ausgebildeten Juristen im Verlauf ihrer akademischen Karriere an der Fakultät in die stalinistischen Repressionen verwickelt, sei es als Mittäter, Mitläufer oder Opfer. Für diese ersten beiden Generationen von Hochschullehrern an der Fakultät in der DDR war der stalinistische Antifaschismus prägend.

III. 1961 bis 1971 – im Schatten der Mauer unter dem späten W. Ulbricht Die Jahre 1961–1968 gehören zu den produktivsten der Berliner Fakultät in der DDR. Aus ihrer nach der Babelsberger Konferenz eingetretenen Lähmung, die die Fakultät mit Geschäftigkeit110 zu verdecken suchte, erwachte sie im Gefolge der Ereignisse von 1961 – dem Mauerbau vom 13. August und dem XXII. Parteitag der KPdSU, der vom 17.–31. Oktober in Moskau stattfand – schnell wieder.111 Der XXII. Parteitag der KPdSU verabschiedete ein neues Parteiprogramm der KPdSU und versuchte die Entstalinisierung noch einmal in Gang zu bringen. Die These des neuen Parteiprogramms von der Ablösung der Diktatur des Proletariats durch den sozialistischen Volksstaat und die scharfe Kritik am Rechtsbegriff Wyschinskis112 setzten eine erneute Grundlagendiskussion in der gesamten Staats- und Rechtswissenschaft der DDR in Gang. In der Fakultät wurden zunächst Anstrengungen unternommen, den Einfluss der Protagonisten der Babelsberger Konferenz und deren Intrigenwirtschaft einzudämmen.113 John Lekschas,114 ein Strafrechtler, der zum 1.1.1961 110 Vgl. SAPMO BArch IV 2/904/70. Bericht über die Aktivitäten der Fakultät; die Abteilung Wissenschaften des ZK der SED schickte im Frühjahr 1962 eine Untersuchungsbrigade an die Fakultät zur Lagebeurteilung. 111 Der Leiter des Instituts für Arbeitsrecht Rudolf Schneider hatte z.B. führend am Gesetzbuch der Arbeit, das am 1.7.1961 in Kraft trat, mitgewirkt. Sein Referat auf der am 15./16.12.1960 an der Berliner juristischen Fakultät durchgeführten Tagung zum Entwurf des Gesetzbuchs belegt, dass die Fakultät keineswegs nach Babelsberg untätig blieb. Auch die am 10.11.1962 veranstaltete Konferenz der Strafrechtler zum Thema: „Die westdeutsche Strafrechtsreform – eine Dokumentation des Unrechts“, ging in diese Richtung. 112 Vgl. Presse der Sowjetunion 1961, Nr. 135, 2972 ff.; vgl. auch: Die schädlichen Folgen des Personenkults in der sowjetischen Rechtswissenschaft müssen endgültig beseitigt werden!, Staat und Recht 1962, 1623 ff. 113 Vgl. Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Fn. 83), 370 Fn. 94. 114 Helmut John Lekschas, geb. 10.10.1925 gest. 8.7.1999, Promotion 7.11.1952, Habilitation 11.7.1961, Direktor des Instituts für Strafrecht ab 1961 an der juristischen Fakultät, 1962-1964 Dekan der juristischen Fakultät, Direktor der Sektion Rechtswissenschaft bis zu seiner Entpflichtung am 29.8.1973.

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von Halle nach Berlin berufen worden war und 1962 zum Dekan gewählt wurde, übernahm dabei die Initiative. Zunächst wurde Annemarie Helmbrecht aus der Fakultät gedrängt, ihr Promotionsverfahren115 scheiterte. Seit 1955 als Oberassistentin an der Fakultät, wurde sie ab September 1957 in die planmäßige Aspirantur aufgenommen und zum September 1959 als Dozentin für Staats- und Rechtstheorie ernannt. Sie war, nachdem sie den Angriff gegen Klenner116 eingeleitet hatte, zur ideologischen Zuchtmeisterin der Fakultät geworden. Angesichts ihrer politischen Vergangenheit und ihrer politischen Beziehungen bedurfte es besonderen Geschicks ihre Universitätskarriere ohne Schaden für die Fakultät zu beenden.117 John Lekschas, ab 1962 bis August 1973 Dekan/Direktor der Fakultät, verstand es zudem, die sich im Gefolge des XXII. Parteitages auftuenden politischen Spielräume geschickt zu nutzen. Die im Steuerungssystem der DDR Rechtswissenschaften entstehende Rivalität zwischen der Abteilung Wissenschaften im ZK der SED und der Abteilung Staat und Recht beim ZK der SED, deren spiritus rector Karl Polak 1963 starb, nutzte er, zum Teil im Zusammenspiel mit der Justizministerin Hilde Benjamin, die 1952 an der Fakultät Ehrendoktorin geworden war, um den Einfluss der Babelsberger Akademie gegenüber der Fakultät zurückzudrängen.118 Die inhaltlichen Auseinandersetzungen begannen aber bereits im Vorfeld des KPdSU-Parteitages um die Jahreswende 1960/61 als die Absichten des 115 Protokoll der Sitzung des Rates der Fakultät vom 20.6.1962; Promotionsakte Helmbrecht, Archiv der Humboldt-Universität. Die Gutachter üben außerordentlich vorsichtig inhaltliche Kritik an der Arbeit und stützen ihre Ablehnung auf ein nicht ausreichendes Maß an Wissenschaftlichkeit der Arbeit, die zu abstrakt und reproduktiv sei. K.A. Mollnau, durch Beschluss des Wissenschaftlichen Rates der Juristischen Fakultät zum ersten Gutachter bestellt, schlug vor, die Dissertation abzulehnen. Die Dissertation, obgleich thematisch „von außerordentlichem wissenschaftlichen und politischen Wert“ . . . „entwickelt keine produktiven Fragestellungen und kommt zu keinen schöpferischen Erkenntnissen bezüglich der im Thema der Dissertation formulierten Problematik.“ Steiniger, hält die Annahme der Dissertation für vertretbar, „falls sie in der Thesenverteidigung zu den gerügten Mängeln konstruktiv Stellung nimmt“. Horst Schröder, durch Beschluss des Wissenschaftlichen Rates der Juristischen Fakultät zum dritten Gutachter bestellt, schlug vor, die Dissertation abzulehnen. Die Verfasserin könne, „da sie insgesamt die Ideologie von der objektiven gesellschaftlichen Entwicklung löst, zu keinen konkreten wissenschaftlichen Ergebnissen gelangen.“ 116 Hermann Klenner, geb. 5.1.1926, Promotion 28.11.1952; am 1.6.1956 Berufung zum Professor mit Lehrauftrag für Staats- und Rechtstheorie und für Geschichte der Staatsund Rechtstheorie, Habilitation 9.4.1965. 117 Helmbrecht war während der Jahre 1936 bis 1943 zunächst im Zuchthaus inhaftiert, später ins KZ Ravensbrück verbracht und zur Zwangsarbeit im Ziegelwerk Oranienburg eingesetzt. Nach ihrem Jurastudium von 1948–1951 war sie in den Jahren ab 1951 Hauptreferentin in Regierungskanzlei und der Akademie der Wissenschaften. Sie wurde zum 1.9.1962 von ihren Aufgaben entpflichtet und von der Beauftragung der Wahrnehmung einer Dozentur emeritiert. 118 Vgl. dazu Lekschas Hilde Benjamin – stets am Neuen orientiert und um dessen Durchsetzung bemüht, Staat und Recht 1987, 405 ff.

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weiteren Abrückens von Stalin in der DDR durchsickerten. Die Abteilung Wissenschaften lud die juristischen Fakultäten und die DASR Mitte Januar 1961 zu einer Beratung ein, auf der es zu heftigen Meinungsverschiedenheiten über einen Artikel des damaligen Dekans Hans Nathan kam. Dieser hatte zur 150-Jahrfeier der Humboldt-Universität die Zeit, in der Savigny an der Berliner Fakultät wirkte, als klassische Epoche der juristischen Fakultät charakterisiert.119 Karl-Heinz Schöneburg (DASR) griff Nathan an, weil er den Gegensatz im Rechtsdenken der Bourgeoisie und des Proletariats verwische und die Umsetzung der Babelsberger Konferenz behindere.120 Der Leiter der Abteilung Wissenschaft, Hannes Hörnig, trat in seinem Schlusswort überraschend Hans Nathan zur Seite, er schlug vor, eine Arbeitsgruppe unter Nathans Leitung zu bilden, die Diskussionsthesen zum staats- und rechtswissenschaftlichen Erbe vorlegen solle. Der Kommission gehörten außer Hans Nathan aus der Fakultät auch Richard Hartmann,121 der Leiter des strafrechtlichen Instituts und der eben von seinem Praxiseinsatz zurückgekehrte Uwe-Jens Heuer an, der zu dieser Zeit das staatsrechtliche Institut leitete. In der Debatte um die vorgelegten Thesen122 ging es letztlich um die Interpretationsherrschaft über die Babelsberger Konferenz. Neben einem programmatischen Artikel von Heinz Such123 war die Auseinandersetzung um die Erbe-Thesen der wichtigste Beitrag zur Korrektur der mit der Babelsberger Konferenz durchgesetzten Wyschinskischen Rechtskonzeption. Daran konnte auch die Abteilung für Staats- und Rechtsfragen mit ihrer Einschätzung, dass die Thesen zum staats- und rechtswissenschaftlichen Erbe fehlerhafte Grundpositionen enthalten, zunächst nichts ändern.124 An der Berliner Fakultät fanden sich aber nicht nur die Vorkämpfer für die „Erbe-Thesen“, vielmehr auch deren Gegner. Horst Schröder,125 der damals kommissarisch das Institut für Staats- und Rechtstheorie der Humboldt-Universität leitete, verfasste gemeinsam mit Ernst Gottschling, Horst 119 Nathan Die Entwicklung der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität, NJ 1960, 779 ff. 120 SAPMO BArch IV 2/13/22. 121 Richard Hartmann, geb. 28.7.1916, gest. 10.1.1999, Promotion vom 17.7.1957, Professor für Strafrecht und Kriminologie 1.9.1969, 1960/61 war er Direktor des Instituts für Strafrecht, 1961/62 war er Prodekan. 122 Thesen über das deutsche staats- und rechtswissenschaftliche Erbe, Staat und Recht 1962, 830–837. 123 Such Gegen Erscheinungen des Dogmatismus und Rechtsnihilismus in der Staatsund Rechtswissenschaft, Staat und Recht 1962, 122 ff. 124 Vgl. Information der Abteilung Staats- und Rechtsfragen an den Vorsitzenden der ideologischen Kommission beim Politbüro des ZK der SED (Juni 1962), abgedruckt in Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Fn. 83), 341, 355. 125 Georg Horst Schröder, geb. 3.1.1930, Promotion 19.12.1961, 1968 Dozent HU, 1961 kommissarischer Direktor des Instituts für Staats- und Rechtstheorie und Abteilungsleiter Staats- und Rechtsgeschichte, mit Wirkung vom 1.9.1971 zum ordentlichen Professor für Rechtsgeschichte ernannt.

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Kuntschke126 und K.A. Mollnau einen die „Erbe-Thesen“ grundsätzlich kritisierenden Beitrag. Diese kritische Äußerung wurde ausdrücklich vom wissenschaftlichen Rat der Humboldt-Universität beschlossen. Nachdem der Artikel in Staat und Recht nicht abgedruckt wurde, wandte sich Horst Schröder mit einem Beschwerdebrief an die Abteilung Staats- und Rechtsfragen.127 Auch an der DASR übten Wilhelm Ersil als Referent und der Korreferent Werner Wippold128 in einer Arbeitskonferenz am 11.10.1962 Kritik an den „Erbe-Thesen“. Da aber das bisherige Steuerungssystem der Rechtswissenschaft der DDR durch die Abteilung Staat und Recht mit Hilfe der DASR ins Wanken geraten war, gelang die Durchsetzung dieser Position nicht. Vielmehr wurde die DASR 1963 reorganisiert.129 Die dabei für die Berliner Fakultät entscheidenden Festlegungen betrafen die Ausbildung. Ab dem Studienjahr 1963/64 bildete die Humboldt-Universität zu Berlin für den Bereich Justiz (eingeschlossen die Sicherheitsorgane) aus, während bei der DASR nur die Schulung der leitenden Staatsfunktionäre verblieb. Damit erhielt die Fakultät ihre Ausbildungskompetenz gegenüber der DASR zurück. Aber nicht nur das, auch das juristische Fernstudium wurde an die Fakultät übertragen.130 Als Leitungs- und Koordinierungsgremium der rechtswissenschaftlichen Forschung wirkte nun der Beirat für Staats- und Rechtswissenschaften beim Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen, dessen Vorsitzender John Lekschas wurde.131 Der Fakultät gelingt es in dieser Periode auch die offenen Professorenstellen zu besetzen. 1963 erfolgt die Berufung von W. Wippold, der aus der DASR als Professor für Staats- und Rechtstheorie an die Berliner Universität kam, wo er fortan den Bereich Staats- und Rechtstheorie/Staatsrecht leitete. 1966 wird H. Kellner132 126 Horst Kuntschke, geb. 12.2.1929, Promotion 29.9.1964, seit 1.2.1971 Dozent für Rechtsgeschichte. 127 Der Beschwerdebrief ist abgedruckt in Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Fn. 83), 369 ff.; K.A. Mollnau erklärt zu seiner Mitwirkung an diesem Artikel: „Die Auflage an den Autor [d.h. Mollnau], sich zu den Erbe-Thesen zu äußern, war von interessierten Kreisen der Fakultät eingefädelt worden, um ihn in eine Art Ideologische Probesituation zu manövrieren, nachdem er den bereits erwähnten Fichte-Artikel von Klenner zustimmend erwähnt hatte . . . Damals herrschte an der juristischen Fakultät eine Atmosphäre, in der ideologische Geschäftigkeit, politische Verdächtigungen und Intrigen die Oberhand hatten“, in Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Fn. 83), 370 Fn. 94. 128 Werner Wippold, geb. 6.10.1928, Promotion 1958, seit 1963 Professor an der HU Berlin. 129 Vgl. Beschluss des Ministerrates der DDR am 27.6.1963; Der VI. Parteitag der SED und die Aufgabe der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“, Staat und Recht 1963, 1057–1075. 130 Vgl. Liwinska (Fn. 40), 288. 131 Vgl. zur Struktur Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Fn. 83), 558 ff. 132 Horst Kellner, geb. 7.2.1930, 16.5.1957 Dissertation, 4.8.1964 Habilitation, ab 1.2. 1966 Professor mit Lehrauftrag am Institut für Zivilrecht und Zivilprozessrecht, ab 1.4. 1966 Prodekan für Forschung, mit Wirkung zum 1.9.1969 zum ordentlichen Professor ernannt, Direktor der Sektion ab 1.11.1973 bis 15.12.1976.

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Professor, vom Obersten Gericht wird Schumann133 1969 zum ordentlichen Professor berufen. Auch drei Frauen Anita Grandtke134 im Familienrecht, Wera Thiel135 im Arbeitsrecht und im Völkerrecht Edith Oeser136 werden zu Professorinnen ernannt. Alle drei erlangen eine herausragende Stellung in ihrem Fachgebiet. Der politische Aufbruch dieser Jahre wird an der Humboldt-Universität am deutlichsten vom Physiker Robert Havemann in seiner 1963/64 gehaltenen Vorlesungsreihe über „naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme“137 manifestiert. In seiner Vorlesung forderte er, die in der DDR begonnene Vergesellschaftung der Produktionsmittel durch eine Vergesellschaftung der politischen Macht zu ergänzen. Damit stellte er nachdrücklich die Frage nach der Demokratisierung des Herrschaftssystems. Die SEDBezirksleitung Berlin begann nach Querverbindungen zwischen den Positionen Havemanns und den theoretischen Positionen von Rechtswissenschaftlern zu suchen.138 Aber schon am 13.3.1964 verlor Robert Havemann seinen Lehrstuhl an der Humboldt-Universität. Die an der juristischen Fakultät aufstrebende Hochschullehrergeneration erlebte die Repressionen gegen Havemann im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass derselbe Mann schon während des dritten Reiches wegen Widerstandes zum Tode verurteilt worden war. An seiner Entfernung aus der Universität beteiligten sich gleichwohl auch Rechtswissenschaftler.139 Am 14.10.1964 wurde Chruschtschow gestürzt und Breschnew 1. Sekretär des ZK der KPdSU, damit endete die von der Sowjetunion ausgehende Entstalinisierungswelle. Als die SED-Führung daraufhin mit einem kultur- und jugendpolitischen Kahlschlag auf ihrem 11. ZK-Plenum vom 16.– 18.12.1965 reagierte, standen sofort auch wieder Vorwürfe des Revisionismus und der Konterrevolution die auf die Rechtswissenschaft zielten, im Raum.140 133 Kurt Richard Schumann, geb. 29.4.1908, Grad des Doktors der Rechtswissenschaft ehrenhalber für die Verdienste um die Entwicklung einer demokratischen Rechtsprechung in der DDR 22.1.1955, 1.4.1960 Professor mit Lehrstuhl für das Fachgebiet Zivilrecht an der DASR, 1.3.1966 Direktor des Instituts für Zivilrecht der juristischen Fakultät, 1.9.1969 Berufung zum ordentlichen Professor für sozialistisches Zivilrecht an der HU Berlin, Abberufung als ordentlicher Professor 1.9.1973. 134 Anita Grandtke, geb. 11.6.1932, Promotion 1960, Habilitation 1964, Professorin 1969. 135 Wera Thiel, geb. 4.5.1936, Promotion 15.12.1964, ordentliche Professorin für sozialistisches Arbeitsrecht mit Wirkung vom 1.9.1970. 136 Edith Oeser, geb. 10.4.1930, Dissertation 1961, Habilitation 1963, 1967 wurde sie Prorektorin für kulturelle und Wissenschaftsbeziehungen, 1968 Direktorin für internationale Programme. 137 Havemann Dialektik ohne Dogma? Naturwissenschaft und Weltanschauung, 1964. 138 SAPMO BArch BPA IV A 2/4/704 und 705. 139 Vgl. SAPMO BArch IV A 2/904/398. 140 11. Tagung des ZK 1965; Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Fn. 83), 413.

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Die rechtswissenschaftliche Grundlagendiskussion war damit aber nicht beendet, Ulbricht hielt auch unter Breschnew an der von der SED verkündeten Wirtschaftspolitik, die mit dem Begriff des Neuen ökonomischen Systems (NÖS) bezeichnet wurde,141 fest. Daraus entstand in der Phase des späten Ulbricht ein Spannungsfeld zwischen seinen machtpolitischen Stabilisierungsversuchen und dem Drang nach gesellschaftlicher Innovation. In der Rechtswissenschaft hatte die Politik des NÖS vor allem im Bereich des Wirtschaftsrechtes und der Staats- und Rechtstheorie Wirkungen. Diskutiert wurde ein Paradigmenwechsel, der die Ersetzung des politbürokratischen Rechtsinstrumentalismus durch ein regulatorisches Rechtskonzept vorsah. In der Fakultät wurde dies vor allem von Uwe-Jens Heuer mit seiner Habilitationsschrift142 betrieben. Aber auch die Bemühungen von Hermann Klenner, der nicht an die Fakultät zurückkehren konnte, sondern an die Hochschule für Ökonomie ging und dort im Bereich des Wirtschaftsrechts arbeitete, wirkten über seine Zusammenarbeit mit K.A. Mollnau in die Fakultät hinein und in diese Richtung. Sie entwickelten gemeinsam ein Lehrbuchkonzept für die Staats- und Rechtstheorie, das diesen Paradigmenwechsel vollziehen sollte. Heuer ging davon aus, dass Staat und Gesellschaft auch im Sozialismus nicht identifiziert werden könnten. Der sozialistische Staat bestehe weiterhin als eine abgesonderte öffentliche Gewalt und als die eigentliche Frage der Demokratie stelle sich, welchen Einfluss die Massen selbst unmittelbar oder mit Hilfe der Volksvertretung oder anderer Organisationen ausüben.143 Er stellte sich damit unmittelbar gegen Karl Polak, für den in sozialistischen Gesellschaften Staat und Volk, Gesellschaft und Individuum eins geworden waren und demzufolge es keine Individualrechte gegenüber dem Staat brauchte.144 Das blieb aber auch in der Fakultät nicht unwidersprochen. An der Heuerschen Position kritisierten die eigenen Fakultätskollegen die Entgegensetzung von zentraler Leitung und sozialistischer Demokratie.145 Das dabei auch K.A. Mollnau war, verwundert zwar, kann aber damit erklärt werden, dass die Fakultät auch in der DDR wie eine juristische Fakultät anderenorts funktionierte, d.h., dass Leute, die etwas Ähnliches wissenschaftlich bewirken wollen, sich sehr wohl aus anderen Gründen bekämpfen können, dazu aber die wissenschaftliche Auseinander141 Das Neue Ökonomische System war ein staatliches Programm an Wirtschaftsreformen zur Restrukturierung der Planung und Leitung der Wirtschaft und Steigerung der Arbeitsproduktivität. 142 Heuer Demokratie und Recht im neuen ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, 1965; s. auch Heuer Demokratie im neuen ökonomischen System, Forum 1966, Nr. 10, 6 ff.; dagegen Mollnau/Wippold Kritische Anmerkungen zu einer Schrift über Demokratie und Recht im neuen ökonomischen System, StuR 1966, 1273. 143 Heuer Marxismus und Demokratie, 1989, 372 f. 144 Vgl. Polak Zur Dialektik in der Staatslehre, 1963, 249. 145 Mollnau/Wippold (Fn. 142), 1237.

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setzung genau an dem Punkt suchen an dem sie eigentlich ähnliche Ziele verfolgen. In der Fakultät hielt auch nach dem XI. Plenum die Öffnung für juristische Forschungsprojekte, die Fragestellungen aus den Bereichen Ökonomie,146 Soziologie,147 Kybernetik,148 Logik und Philosophie aufnahmen, an. So gelang den Strafrechtlern die Durchsetzung der Kriminologie als Teil der strafrechtlichen Forschung und Lehre.149 E. Buchholz,150 R. Hartmann und J. Lekschas veröffentlichten 1966 das Lehrbuch „Sozialistische Kriminologie – Versuch einer theoretischen Grundlegung“.151 Auf der Linie technokratischer Innovation entstand 1969, aus dem Zusammenschluss des Lehrbereichs „Gewerblicher Rechtsschutz/Wirtschaftsrecht“ mit der Abteilung Patentingenieurwesen der TH „Otto von Guericke“ Magdeburg, der neue Bereich wissenschaftlich technischer Rechtsschutz, unter dem Gründungsdirektor Hans Nathan. Er wurde zur zentralen Ausbildungseinrichtung für Spezialisten auf dem Gebiet des Patent-, Marken- und Musterrechts in der DDR. Die Ausbildung erfolgte ausschließlich in Form eines postgradualen dreijährigen Fernstudiums. Zugleich wirkte H. Nathan an der Entstehung des Familiengesetzbuches, das am 1.4.1966 in Kraft trat und die Strafrechtler am neuen StGB und der neuen StPO mit, die beide am 1.7.1968 in Kraft traten. Offiziell begann mit dem VII. Parteitag der SED 1967 die sogenannte 3. Hochschulreform. Diese zielte auf eine Strukturreform der Hochschulen, durch ihre Einteilung in Sektionen statt wie bisher in Fakultäten und auf eine erneute Studienreform, die die Lehre stärker auf die Belange der Volkswirtschaft152 ausrichten und das Studium von 5 auf 4 Jahre verkürzen sollte. Mit der Neuordnung des gesamten Hochschulwesens wurde auch die juristische Fakultät der Humboldt-Universität in eine juristische Sektion umgewandelt. Zugleich wurden die Ausbildung von Justizjuristen an der Berliner Universität konzentriert und die eigenständige Ausbildung von Wirtschaftsjuristen in Leipzig und Halle eingeführt. Die neue Spezialisie146

Benjamin Ökonomie und Ausbildung der Juristen in der DDR, ND vom 27.3.1963,

4. 147 Grandke Lehrbuch Familienrecht, 1972; vgl. Mierau Die juristischen Abschlussund Diplomprüfungen in der SBZ/DDR, 2001, 174 ff. 148 Vgl. insbesondere das Wirken von Georg Klaus und dessen philosophischer Beschäftigung mit der Regelung von Systemen, z.B. in Kybernetik und Erkenntnistheorie, 1967. 149 Vgl. erstmalige Erwähnung der VL Kriminologie im Vorlesungsverzeichnis zum Sommersemester 1967. 150 Erich Buchholz, geb. 8.2.1927, Promotion 5.10.1956, Habilitation 14.11.1963, 1965 Professor mit Lehrauftrag, 1966 Dekan, 1976 Direktor der Sektion Rechtswissenschaft. 151 Lekschas Sozialistische Kriminologie – Versuch einer theoretischen Grundlegung, 1966. 152 Mierau (Fn. 147), 80.

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rung der Berliner Fakultät, Rechtspflegejuristen – vor allem Richter und Notare – auszubilden, wurde in einer vom Justizminister und dem Sektionsdirekter unterzeichneten Vereinbarung festgelegt. Auch für das rechtswissenschaftliche Studium wurde die Regelstudienzeit auf 4 Jahre festgelegt. Die Verkürzung des juristischen Studiums wurde aber durch die Einführung einer einjährigen Assistentenzeit kompensiert.153 Neu zur Berliner Ausbildung kamen die Fächer Familien- und Familienprozessrecht, Notariatsverfahrensrecht und Arbeitsverfahrensrecht hinzu.154 Zu den in diesem Zusammenhang vollzogenen Änderungen gehört auch, dass die Absolventen des rechtswissenschaftlichen Studiums nunmehr als Diplomjuristen ihr Studium beendeten.155 Mit der Spezialisierung auf die Justizausbildung ging auch die Ausgliederung des kriminalistischen Institutes, das bis 1968 von Ehrenfried Stelzer156 geleitet wurde und zum Bereich Strafrecht gehörte, einher. Aus ihm wurde die selbständige Sektion Kriminalistik mit einer eigenständigen Ausbildung zum Diplomkriminalisten für den Zoll, die Polizei und die Staatssicherheit. Am 20.8.1968 kam es zum militärischen Einmarsch der Warschauer Pakt Staaten in die CSSR und zur Niederschlagung des Prager Frühlings. Unter den Mitgliedern der Humboldt-Universität wurden von der SED-Führung und der Staatssicherheit die Anhänger des Sozialismus mit menschlichem Antlitz verstärkt vermutet und gesucht. Die Studenten wurden mit dem Beginn des Studienjahres seminargruppenweise aufgefordert, den Einmarsch der Warschauer Truppen in Prag per Unterschrift zu begrüßen. Sie unterschrieben, weil sie sich nicht trauten, zu ihren Zweifeln oder ihrer Überzeugung zu stehen. Dabei sind auch zwei spätere prominente Akteure der Wende, die Jurastudenten Gregor Gysi157 und Rolf Henrich,158 für die nach 153 Anordnung über die Assistentenzeit für Hochschulabsolventen bei den Gerichten – Assistentenordnung –, GBl. DDR 1970 II, 447. 154 Vgl. Liwinska (Fn. 40), 138, 145. 155 VO über die akademischen Grade, GBl. DDR 1968 II, 1022. 156 Ehrenfried Stelzer, geb. 26.3.1932, Promotion 15.3.1957, Habilitation April 1977, Dozent für Kriminalistik 1.1.1960, Aufhebung der Dozentur zum 31.12.1961 und Wechsel an das Ministerium des Innern, zum 1.9.1967 Ernennung zum nebenamtlichen Professor mit Lehrauftrag für Kriminalistik, zwischenzeitlich Direktor der Sektion für Kriminalistik, 1. Oktober 1988 ordentlicher Professor für internationale Kriminalistik. 157 Zu Gregor Gysi vgl. König Gregor Gysi, Eine Biographie, 2005. 158 Rolf Henrich nahm 1964 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena ein Studium der Rechtswissenschaften auf – zu seinen akademischen Lehrern gehörten u.a. Gerhard Haney und Gerhard Riege –; im gleichen Jahr wurde er Mitglied der SED. Politisch engagiert und intellektuell ambitioniert, orientierte er sich zunächst auf eine wissenschaftliche Laufbahn. Nach dem Wechsel an die Humboldt-Universität zu Berlin geriet er jedoch in die dortigen Auseinandersetzungen um die Reformprozesse in der CSSR und deren Niederschlagung durch die militärische Intervention der Warschauer-Vertrags-Staaten. Seit 1973 arbeitete Henrich als Rechtsanwalt in Eisenhüttenstadt, von 1973 bis 1983 war er Parteisekretär des Bezirkskollegiums Frankfurt/Oder.

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eigenem Bekunden der Einmarsch des Warschauer Paktes in der CSSR nicht nur unter moralischen Aspekten, sondern auch unter völkerrechtlichen zweifelhaft war. Sie fühlten sich, wie viele SED-Mitglieder, von der eigenen Regierung um die sozialistischen Ideale betrogen. In dem seinem Werk „Der vormundschaftliche Staat“ beigegebenen Text „Warum ich dieses Buch geschrieben habe“ hat Henrich seinen geistigen Entwicklungsprozess diesbezüglich so beschrieben: „Ich habe wirklich daran geglaubt, daß die Gesellschaftsformation, in der wir leben, der praktische Fortschritt sei gegenüber dem kapitalistischen Westen . . . Der Bau der Mauer war damals für mich durchaus eine notwendige, wenngleich vorübergehende Maßnahme politischer Machtausübung. Mit ihrer Hilfe wollten wir ja die Voraussetzungen schaffen, damit sich die Gesetzmäßigkeiten des Sozialismus unter den Bedingungen der Ost-West-Konfrontation ungestört entfalten konnten. . . . Es mag einer heute nur schwer verständlichen politischen Naivität geschuldet gewesen sein: Doch in der Mitte der sechziger Jahre gewann ich tatsächlich den Eindruck, die politökonomischen Verhältnisse in der DDR würden sich auf der ganzen Linie zum Besseren wenden. In den Betrieben und Kombinaten wurden damals ansatzweise Formen der Arbeiterselbstverwaltung ausprobiert (Produktionskomitees, gesellschaftliche Räte). Und unser Rechtswesen wurde gründlich reformiert. Erst mit dem Einmarsch deutscher Truppen in die CSSR wurde mein Glaube an die historische Überlegenheit des Sozialismus in seinen Grundfesten erschüttert. . . . 1968 ist mir klar geworden, daß die marxistische Geschichtsauffassung in dieser konkreten Situation nurmehr beschworen wurde, um das imperialistische Machtgebaren der Politbürokratie zu legitimieren.“159 Auch an der juristischen Fakultät wird die intellektuelle Konterrevolution vermutet, am 15. Oktober 1968 stellt die Parteikontrollkommission missbilligend fest, in der SED-Grundorganisation Rechtswissenschaft herrsche „ideologische Windstille“. Bereits am 4.9.1968 wurde in einer erweiterten Kollegiumssitzung der Zeitschrift Staat und Recht die Lehrbuchskizze Rechtstheorie160 als Gegenkonzeption zur Babelsberger Konferenz und als Versuch „Ideen des Prager Frühlings in die Rechtswissenschaft der DDR einzuschleusen verurteilt“. Aber nicht nur das, auch das auf die Niederschlagung folgende 9. Plenum des ZK der SED vom 22.–25.10.1968 beschäftigte sich im Referat von Kurt Hager mit den „Aufgaben der Gesellschaftswissenschaften in unserer Zeit“. In der Diskussion zu diesem Referat griff der Generalstaatsanwalt Josef Streit den Revisionismus einiger Rechtstheoretiker an, den er als Versuch 159 Henrich „Warum ich dieses Buch geschrieben habe“, in: ders. Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus, 1989, 310–312. 160 Erstmals veröffentlicht in Mollnau (Hrsg.) Einheit von Geschichte, System und Kritik in der Staats- und Rechtstheorie, Geburtstagskolloquium für Karl-Heinz Schöneburg am 9.2.1988, 1989, Teil II, 282 ff.

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zum Abbau der Diktatur des Proletariates in der DDR qualifiziert.161 Gemeint sind K.A. Mollnau, und H. Klenner.162 Der Generalstaatsanwalt erklärte, dass es bedenklich sei, dass die Kritik der revisionistischen Auffassungen Klenners und Mollnaus nicht von der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität ausgegangen sei. Nach Streits Ansicht böten die beiden Professoren „nicht mehr die Gewähr, dass sie als Hochschullehrer und Staatsrechtler klassenbewusste Staatsanwälte und Richter erziehen können“. Die Fakultätsleitung versuchte, sich unter diesem Schlag abzuducken. Das Habilitationsverfahren von K.A. Mollnau, der im Vorgriff darauf bereits zum 1.9.1968 Professor mit Lehrauftrag geworden war, ließ sie scheitern,163 verlangte von ihm öffentliche Selbstkritik ließ ihn danach zum 1.9.1969 zum ordentlichen Professor berufen. Die Studie von Rolf Henrich über die „Verinnerlichung von Normen“ wurde wegen ihres ‚revisionistischen Gehalts‘ nicht als Diplomarbeit anerkannt, und erst mit der Bearbeitung eines anderen Themas konnte Henrich seine Ausbildung zum Diplomjuristen abschließen, sein Forschungsstudium musste er abbrechen. Es wurde versucht, die von der SED-Kreisleitung geforderten Repressionsmaßnahmen gegen die Anhänger des Prager Frühlings nun an den Studenten zu exekutieren. Die Sektionsleitung verfiel in dieser Situation auf die Idee, zehn Studenten, die den Russischunterricht geschwänzt hatten, an den Pranger zu stellen und als Sündenböcke zu präsentieren. Gysi schildert die Parteiversammlung, die über die „Verdächtigen“ richten sollte, folgendermaßen: „Als erste Maßnahme, hieß es, werde auf Anordnung des Justizministeriums den zehn das Stipendium gekürzt. Danach sollten wir diskutieren. Die Stimmung im Saal war zum Zerreißen gespannt, keiner hatte das Bedürfnis, etwas zu sagen. Wir schwiegen aus Feigheit. Was denn der FDJSekretär des Studienjahres dazu meine, hieß es auf einmal. Dadurch wurde ich genötigt, mich von meinem Platz zu erheben und entgegen meiner Absicht einen Kommentar abzugeben. Ich erklärte, daß die Genannten sicherlich die Studiendisziplin verletzt hätten, aber deshalb noch lange keine Konterrevolutionäre seien. Meine Entgegnung war weder sonderlich mutig noch politisch grundsätzlich. Der Zwischenruf eines Kommilitonen erwies sich als wesentlich bissiger. Er habe das Gefühl, daß hier Köpfe rollen sollen, rief er dem Prä161 Vgl. dazu Joseph Rechtswissenschaft und SED, in: Heuer (Hrsg.) Die Rechtsordnung der DDR, 1995, 598, Fn. 147. 162 Uwe-Jens Heuer hatte zum 1.6.1967 die Fakultät verlassen und ging als Professor mit Lehrauftrag zum Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED. 163 Das Habilitationsverfahren war im Juli 1968 eröffnet worden. Als Gutachter zu der Arbeit mit dem Titel „Von der Spezifik der sozialistischen Rechte – Prolegomena zu einer Theorie von der rechtlichen Leitung der sozialistischen Gesellschaft“ wurden Klenner, Wippold und Schüsseler bestellt. In der Habilitationsakte findet sich die Mitteilung von Schüsseler aus dem September 1968, in der es heißt: „Da sich der Genosse Mollnau entschlossen hat, seine Habilitationsschrift noch einmal zu überarbeiten, erübrigt sich gegenwärtig die Anfertigung eines Gutachtens.“

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sidium entgegen. Dort steckten sie erregt die eigenen Köpfe zusammen, und es begann etwas, das mich zu diesem Zeitpunkt noch völlig unvorbereitet traf. Das Zentrum der Auseinandersetzung wurde verlagert. Plötzlich waren nicht mehr die zehn, sondern wir beide die eigentlichen Sündenböcke. Endlich hatte die Leitung ihren Fall gefunden.“164 Die „konterrevolutionäre Gruppe“ wurde aus den Augen verloren, Gysi wird eine „liberalistische“ Haltung vorgeworfen: als FDJ-Sekretär hätte er die Verletzer der Studiendisziplin zurechtweisen müssen. Gysi und sein Mitstudent wurden in die Mangel genommen; am Ende wurde gegen Gysi eine Parteistrafe verhängt. Nachdem er eine Zeitlang isoliert wurde, schlossen er und die Fakultät wieder Frieden miteinander. Diese Auseinandersetzung sagt einiges über die anstehenden Konflikte und die Art ihrer Austragung an der Fakultät. Der politischen Repression wurde durch Bußfertigkeit und Einhaltung der im Stalinismus gewachsenen Rituale ausgewichen. Die dritte nun heranwachsende Generation junger Rechtswissenschaftler erfuhr von Anfang an, dass die Auseinandersetzungen nicht mehr mit dem für sie imaginär gewordenen Klassenfeind geführt wurden, sondern dass sie in den eigenen Reihen stattfand. Sie musste dabei nicht wie die vorangegangenen Generationen den Unterwerfungsritus erlernen, sondern sie wurde in ihm sozialisiert, was verstärkt die Chance eröffnete, dazu innerlich Distanz zu finden. Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings kehrte die Babelsberger Akademie in ihre vormalige Machtposition zurück. Bereits auf der 9. Tagung des ZK der SED vom 22.–25.10.1968 wurde die DASR zum staatsund rechtswissenschaftlichen Zentrum der DDR erklärt, die Direktoren der Universitätsfakultäten wurden der Befehlsgewalt des Rektors der DASR unterstellt, welcher wiederum dem Leiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen sowie dem Staatssekretariat des ZK der SED unterstand.165 Dem entsprach es, dass T. Riemann,166 die rechte Hand von Klaus Sorgenicht, dem Leiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen beim ZK der SED, zum 1.9. 1969 unter Verzicht auf die Ablegung der B-Promotion zum Honorarprofessor für Staatsrecht an der Sektion ernannt wurde.

IV. 1971 bis 1983 – Honecker unter Breschnew: mit der internationalen Anerkennung der DDR beginnt ihre Stagnation In den Jahren 1971–1983 wurde der Platz der Berliner Sektion im Gefüge der DDR-Rechtswissenschaft neu justiert. Die Berliner Sektion fand ihren 164

Zitiert nach König (Fn. 157), 123. Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Fn. 83), 24. 166 Tord Hugo Riemann, geb. 23.10.1925, Promotion 15.3.1957, am 1.9.1974 Ernennung zum ordentlichen Professor für Staatsrecht an der Humboldt-Universität, laut Berufungsakte Verzicht auf eine Habilitation seitens der HU. 165

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dominanten Platz im Ausbildungssystem von DDR-Juristen, in dem sie unter der Regie des Justizministeriums die Ausbildung von Rechtspflegejuristen realisierte.167 Zugleich leitete sie das gesamte juristische Fernstudium in der DDR und entwickelte und konsolidierte als einzige juristische Sektion die Ausbildung auf dem Gebiet des wissenschaftlich-technischen Rechtsschutzes in Zusammenwirken mit dem Patentamt. Mit der Machtübernahme Honeckers veränderte sich auch ihr politisches Lenkungssystem, ihre Forschungsschwerpunkte und letztmalig grundsätzlich ihre Ausbildungsordnung. Dabei nahm sie organisatorisch die Gestalt an, die sie bis zum Ende der DDR behalten wird. Sie wurde von einem Sektionsdirektor geleitet,168 dem zwei stellvertretende Direktoren, jeweils ein stellvertretender Direktor für Forschung und ein stellvertretender Direktor für Erziehung und Ausbildung, sowie ein wissenschaftlicher Sekretär und ein Leiter für Planung und Ökonomie zur Seite standen. Intern war die Sektion in 8 Bereiche und die Abteilung Fernstudium gegliedert. Dies waren die Bereiche Staats- und Rechtstheorie/Staatsrecht,169 Staats- und Rechtsgeschichte,170 Völkerrecht,171 Arbeitsrecht,172 Zivil- und Familienrecht,173 Strafrecht,174 LPG- und Bodenrecht175 und der große Bereich wissenschaftlich-technischer Rechtsschutz.176 Daneben existierte eine selbständige Abteilung Weiterbildung und Fernstudium.177 167 Richter, Rechtsanwälte, Notare wurden ausschließlich an der Humboldt-Universität ausgebildet. Juristen zum Einsatz in der Staatsanwaltschaft wurden in Jena ausgebildet. Vgl. Liwinska (Fn. 40), 164. 168 Sektionsdirektoren sind bis 1973 John Lekschas, 1973 Horst Kellner, ab 1976 Erich Buchholz, ab 1.10.1980 Günther Rhode. 169 Zusammen mit Bereichsleiter Werner Wippold, insgesamt sechs Hochschullehrer, davon zwei Professoren, drei Dozenten und vier Mitarbeiter. Das Staatsrecht hatte in diesem Bereich eine relative Selbstständigkeit und wurde seit der Berufung von Riemann zum 1.9.1974 zum ordentlichen Professor für Staatsrecht faktisch von ihm geleitet. Bereits zum 15.10.1972 war Kurt Wünsche, nach seiner Absetzung als Justizminister zum Professor für Gerichtsverfassungsrecht berufen worden und arbeitete in diesem Bereich. 170 Bereichsleiter: Horst Schröder, insgesamt vier Hochschullehrer, davon zwei Professoren, zwei Dozenten ein Mitarbeiter. 171 Bereichsleiter: Bernhard Graefrath, 1983 abgelöst von Edith Oeser, insgesamt vier Hochschullehrer, davon drei Professoren, ein Dozent, ein Mitarbeiter. 172 Bereichsleiterin Wera Thiel, insgesamt zwei Hochschullehrer, davon zwei Professoren, drei Mitarbeiter. 173 Bereichsleiter Horst Kellner, insgesamt sieben Hochschullehrer, davon vier Professoren, drei Dozenten, dreizehn Mitarbeiter. 174 Bereichsleiter Erich Buchholz, ab 1988 Horst Luther, stellvertretender Bereichsleiter Richard Hartmann, insgesamt acht Hochschullehrer, davon drei Professoren, fünf Dozenten, sechs Mitarbeiter. 175 Bereichsleiter: Günther Rohde, ab 1980 Günter Puls, insgesamt drei Hochschullehrer, davon ein Professor, zwei Dozenten, drei Mitarbeiter. 176 Bereichsleiter: Robert Kastler, insgesamt sieben Hochschullehrer, davon zwei Professoren, fünf Dozenten, zweiundzwanzig Mitarbeiter. 177 Bereichsleiterin: Hildegard Blum, elf Mitarbeiter.

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Wie in der Universität existierte auch in der Sektion eine staatliche Struktur en miniature eingebettet in das politische System der DDR; in der rechtswissenschaftlichen Sektion allerdings unter Weglassung der anderweitig vorhandenen Elemente eines Blocksystems, die dort die Herrschaft der SED drapierten. In der Sektion Rechtswissenschaft lagen angesichts der Tatsache, dass in jenen Jahren weit über 90% der Angehörigen des Lehrkörpers und ca. 80% der Studenten Mitglieder der SED waren, die Herrschaftsverhältnisse klar zu Tage.178 In den Seminargruppen der Studenten und den Bereichen der Sektion bildeten die SED-Mitglieder jeweils eine Parteigruppe, in der sie einen Parteigruppenorganisator und seinen Stellvertreter wählten. Die Parteigruppen eines Studienjahres und alle Parteigruppen des Lehrkörpers bildeten zusammen eine Abteilungsparteiorganisation (APO); es gab also insgesamt fünf APO: für alle vier Studienjahre je eine und eine für den Lehrkörper. Dem APO-Sekretär stand eine Parteileitung zur Seite. Alle APO der Sektion bildeten die Grundorganisation der SED der Sektion Rechtswissenschaft (GO). Diese wurde von der GO-Leitung, der ein GOSekretär vorstand, geleitet, die ihrerseits der SED-Kreisleitung der Humboldt-Universität unterstand und ihr gegenüber berichtspflichtig war. Für die Studenten existierte die gleiche Organisationsstruktur noch mal als FDJ178

Vgl. Auswertung Unterlagen der SED Sektion Rechtswissenschaften, Landesarchiv Berlin, C Rep 904-226-1 bis C Rep 904-226-32. Tabelle zeigt die SED-Mitglieder der Abteilungsparteiorganisationen (1966: Grundorganisationen). Die zwei Spalten jeder APO stellen dar: 1. Ges. = Gesamtanzahl der Mitglieder der APO, 2. SED = Zahl der Mitglieder der SED. Jahr

APO I

APO II

APO III

APO IV

APO V

APO LK

Ges. SED Ges. SED Ges. SED Ges. SED Ges SED Ges. SED 1966

50

66

62

74 --

Ges.

SED

89

1971

111

1972

210

83

245

149

247

143

218

149

1973

210

91

206

104

240

148

240

146

1974

230

74

201

234

147

1975 1976 1977

Sektion Gesamt

151

89

198

102

73

152

193

86

88

136

100

77 188

1978

146

136

1979

82

144

1980

137

1981

90

1983

82

137

1985

92

138

164

136

204

161

105

190

142 150 136

147 160

127

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Organisationsstruktur. Dabei war der jeweilige FDJ-Sekretär auf seiner Ebene Mitglied der jeweiligen Parteileitung. Auf der Sektionsebene waren auch der Sektionsdirektor und seine Stellvertreter entweder direkt in die Parteileitung integriert oder aber strikt an die jeweiligen Parteibeschlüsse gebunden. Dieses System hatte sich bereits in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten etabliert, unterlag in dieser Phase aber deutlichen Erosionserscheinungen, die mit seiner allgemeinen Durchsetzung unmittelbar zusammenhingen. Für die in die DDR hineingeborene Generation war die Mitgliedschaft in FDJ und SED notwendiges Element gesellschaftlicher Sozialisierung geworden mit der Folge, dass man nur noch im Ausnahmefall nicht Mitglied der FDJ wurde; für jemanden, der studieren wollte, schied die Nichtmitgliedschaft praktisch aus. Wollte man Rechtswissenschaft studieren, wurde die SED-Mitgliedschaft zwar nicht vorausgesetzt, letztlich aber als Teil des gesellschaftlichen Engagements erwartet.179 Dieser Druck, zu dem Alternativen nur begrenzt existierten, führte zu massenhaftem Anpassungsverhalten, ohne dass damit die Politik der SED innerlich akzeptiert worden wäre. Zu den wenigen Juristinnen aus der Sektion, die diesen frustrierenden Anpassungsvorgang für die Öffentlichkeit beschrieben hat, gehört Marlies Hübner. Bei ihr heißt es zu ihrem Parteieintritt: „Ich kann das heute keinem erklären. Ich weiß nur, dass ich in meiner Begründung so was geschrieben hatte wie: ‚Meine Kollegen sind mir Vorbild und ich unterstütze die Friedenspolitik der DDR . . ..‘ Ich wollte mit 30 Jahren endlich eine unbefristete Stelle haben. Anfangs glaubte ich, über die Partei an Informationen zu gelangen, die für Forschung und Lehre wichtig seien. Alles sollte ganz anders kommen. Erst bekam ich einen Parteiauftrag: Ich wurde Vorsitzende der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft an der Sektion. Das war so eine Funktion, wo alle nur froh waren, wenn man keine Aktivitäten entfaltete. Dann musste ich eine Erklärung unterschreiben, wonach sämtliche Westkontakte abgebrochen bzw., wenn sie weiter bestanden, gemeldet werden sollten. . . . Die Parteiversammlungen waren vor allem langweilig. An Diskussionen, die diesen Namen verdienen, kann ich mich nicht erinnern. Alles lief nach einem Ritus ab – erst ein Referat in Auswertung der x-ten Tagung des ZK der SED, dann sprachen die Professoren nach Rang, danach die Dozenten usw. Anstatt den Mund aufzutun, schrieb ich Gedichte und kurze Kabarettszenen. Es gab Tage, an denen ich nur noch weg wollte.“180 Weggehen ging nicht mehr; für die in der DDR Geborenen wurde vielmehr die SED unter E. Honecker der sie prägende politische Kontext, in den sie sich ein- und abarbeiten mussten. 179

Vgl. das überwiegend sprunghafte Ansteigen der Mitgliederzahlen zum 2. Semester. Hübner Ich habe zu lange gebraucht, um meine Angst vor dem System zu überwinden, in: Furian Der Richter und sein Lenker: politische Justiz in der DDR, Berichte und Dokumente, 1992, 73 f. 180

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Nach dem Rücktritt Ulbrichts bildete in der Selbstdarstellung der SED der VIII. Parteitag, der erste Parteitag unter Erich Honecker, eine „besonders wichtige Zäsur in der Geschichte der DDR“.181 Auf dem Parteitag verkündete Honecker die sogenannte Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Bedürfnisse der Menschen stärker berücksichtigen solle. Gleichzeitig bestand er auf einer scharfen Abgrenzung zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Die Verfassungsänderung vom 7.10.1974, die ohne jede Mitwirkung der Rechtswissenschaft182 geschah, erhob diese Abgrenzung zu den Grundsätzen des Rechtssystems. Mit ihr wurde das Verhältnis der DDR zur Bundesrepublik neu bestimmt, indem die Charakterisierung des DDR-Staates als eines Staates „deutscher Nation“ und der Verfassungsauftrag zur Überwindung „der Spaltung Deutschlands“183 gestrichen wurde und im Gegenzug in Art. 6 die Unwiderruflichkeit des Bündnisses der DDR mit der UdSSR festgeschrieben wurde. Damit sind die außenpolitischen Änderungen der DDRPolitik unter Honecker umrissen: er wollte die DDR als selbständigen Staat international durchsetzen. Aber auch die Änderungen in der Innenpolitik werden durch die Verfassungsänderung bezeichnet.184 In Art. 2 wurde die von Honecker kreierte sogenannte Hauptaufgabe der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik verfassungsrechtlich verankert. Im Gefolge dieser Politik wurden im Koordinatensystem der Rechtswissenschaft das Völkerrecht deutlich aufgewertet. Diese Chance nutzten die Völkerrechtler der Sektion. Mit Steiniger, Graefrath und E. Oeser hatte sich in der Sektion ein völkerrechtlicher Schwerpunkt gebildet.185 Erstmalig erschien 1973 ein Lehrbuch des Völkerrechts,186 zu dessen „Autorenkollektiv“ neben den drei Professoren auch die Dozentin Maria Bauer gehörte. Während im Lehrbuch die Berliner Völkerrechtler zusammen mit allen anderen DDR-Völkerrechtlern, wie in der DDR üblich, ein Gemeinschaftswerk produzierten, gelang ihnen daneben eine selbständige Monographie zur völkerrechtlichen Verantwortlichkeit von Staaten,187 die die Grundlage für den Vorschlag der DDR in der UNO bildete, eine Konvention zur Verantwortlichkeit von Staaten bei Völkerrechtsverletzungen auszuarbeiten.188 181

Staat und Recht, 1974, 1083. Mampel Die sozialistische Verfassung der DDR2, 1982, Rn. 65. 183 Verfassung der DDR vom 6.4.1968, Präambel und Art. 8 Abs. 2. 184 Gleichzeitig wurden Teile des Gesetzes über den Ministerrat der DDR vom 16.10. 1972 in Verfassungsrang erhoben. 185 Vgl. Stolleis Sozialistische Gesetzlichkeit, Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR, 2009, 91. 186 Arbeitsgemeinschaft für Völkerrecht beim Institut für internationale Beziehungen an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (Hrsg.) Völkerrecht, Lehrbuch, Teil I, Teil II, 1973, 2. Auflage 1983. 187 Graefrath/Oeser/Steiniger Völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten, 1977. 188 Vgl. Stolleis (Fn. 185), 160. 182

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Honecker veränderte aber nicht nur die Akzentsetzungen in der Innenund Außenpolitik sondern auch das politische Steuerungssystem der DDRRechtswissenschaft insgesamt und damit auch das der Berliner Fakultät. Die DASR verlor nicht nur ihren Namen „Walter Ulbricht“, sondern auch ihre grundsätzliche Stellung für die Behandlung staats- und rechtstheoretischer Grundsatzfragen sowie für die Kaderpolitik in der Rechtswissenschaft.189 Honecker misstraute der Wissenschaft mit der Folge, dass er sie anders als Ulbricht auch nicht mehr zu instrumentalisieren versuchte, sich weniger um sie kümmerte und so ihre Spielräume vergrößerte. Am 31.10.1972 wurde das Institut für Theorie des Staates und des Rechts an der Akademie der Wissenschaften der DDR gegründet, bei dem der Rat für staats- und rechtswissenschaftliche Forschung etabliert wurde, obgleich der Vorsitz dieses Rates noch lange Zeit beim Rektor der DASR belassen wurde. Die Gründung des Akademieinstitutes bedeutete für die Sektion aber nicht nur eine Veränderung ihres politischen Steuerungsmechanismus, sondern auch eine erhebliche Schwächung des Grundlagenbereiches der Fakultät, da Mollnau ab 1.11.1972 zur Akademie wechselte, um dort den Bereich Rechtstheorie zu leiten.190 1983 wechselte dann auch Graefrath,191 an das Akademieinstitut, um dort einen Bereich Völkerrecht aufzubauen.192 Mit der Etablierung des Akademieinstitutes war die Leitung der Staats- und Rechtswissenschaft durch die Abteilung Staat und Recht beim ZK der SED mittels der DASR beendet. Insoweit gelangte die Fakultät fast ausschließlich in den Leitungsbereich der Abteilung Wissenschaften beim ZK der SED. Die dadurch entstandenen Spielräume wurden von der Sektion genutzt, um Forschungs- und Lehrbuchprojekte durchzusetzen. Rechtspolitisch wurde in jenen Jahren das Zivilgesetzbuch193 und die Zivilprozessordnung194 erarbeitet; es gab die neue Kodifikation des Arbeits-195 und des Familienrechts.196 Beiträge aus der Berliner Universität gingen inhaltlich in die Gesetzge189

Vgl. dazu Dreier/Eckert/Mollnau/Rottleuthner (Fn. 83), 16. Ihm folgte in der Rechtstheorie Detlef Josef (geboren am 16.1.1934, 3.9.1965 Promotion, 25.1.1977 Habilitation, 13.5.1970 facultas docendi für Staats- und Rechtstheorie, 1.6.1970 Berufung zum Hochschuldozenten für marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie) und der Dozent Gerwin Udke (1967/68 Lehrbeauftragter, wissenschaftlicher Oberassistent am Institut für Staats- und Rechtstheorie). 191 Bernhard Graefrath, geb. 12.2.1928, gest. 3.1.2006, Studium an der HU 1946–1949, Promotion 8.10.1951, Habilitation 10.5.1963, Professor 1.9.1963, Direktor der Sektion Rechtswissenschaft 1973–1982. 192 Auf seine Professur folgte Gerd Seidel, geb. 27.1.1943, Promotion 1971, Habilitation 1980, Emeritierung 2008. 193 Zivilgesetzbuch vom 19.6.1975 (GBl. I Nr. 27, 465). 194 Gesetz über das gerichtliche Verfahren in Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen vom 19.6.1975. 195 Arbeitsgesetzbuch vom 16.6.1977 (GBl. I Nr. 18, 185). 196 Familiengesetzbuch von 1965 in der Fassung des Einführungsgesetzes vom 19.6. 1975 zum ZGB der DDR (GBl. I Nr. 27, 517). 190

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bung ein, wie zum Beispiel die Habilitationsschrift197 von A. Grandke und H. Kellner zum Mietrecht in das ZGB. Die Arbeiten der Sektionsmitglieder trugen dazu bei, dass das Zivil-, Familien- und Arbeitsrecht sich in jenen Jahren weg von übertriebenen Erwartungen an die Erziehbarkeit des Menschen entwickelte hin zu Regelungen, die Konfliktlösungen ermöglichten.198 Keine vergleichbare Entwicklung gab es im Wirtschafts- und im Verwaltungsrecht, in diesem Bereich bleiben Kodifikationen aus. Im Strafrecht und im Strafprozessrecht war die Entwicklung ambivalent: neben Tendenzen zur Straferhöhung und Rückfallverschärfung wurden unter dem Einfluss der Helsinkikonferenz 1975 langsam rechtsstaatliche Standards aufgebaut. Dies war nicht zuletzt das Resultat der in dieser Phase oft gegensätzlichen Trends im politischen Kurs der DDR. So stand innenpolitisch dem verstärkten Ausbau der Überwachung durch das MfS eine nachlassende strafrechtliche Verfolgung von Dissidenten gegenüber.199 Auch die außenpolitische Entwicklung verlief nicht geradlinig, sondern schwankte, so z.B. in ihrer Beziehung zur Bundesrepublik zwischen Distanz einerseits und Staatsbesuchen andererseits. Für die universitären Debatten hatte insbesondere die Ausweisung Biermanns vom 14.11.1976 Folgen. Nachdem bekannte Künstler und Schriftsteller, darunter auch prominente SED-Mitglieder, gegen die Ausbürgerung protestierten, geriet die Presse- und Informationspolitik der SED unter Druck, der bis zum Ende der DDR nicht mehr nachließ. Die Dritte Hochschulreform 1967–1972 brachte einen für alle juristischen Sektionen einheitlichen Studienplan.200 Nach Vorgaben des Ministeriums für Justiz sollten die Studierenden durch Lernziele und Lehrinhalte insbesondere politisch gebildet werden.201 Der ab 1968 in ein marxistisch-leninistisch geprägtes Grundstudium und ein juristisch geprägtes Fachstudium unterteilte Studienverlauf wurde wieder zusammengeführt. Die juristischen Fächer begannen bereits in den Anfangssemestern, die politischen blieben über das gesamte Studium hindurch präsent. Neu eingeführt wurde das Verwaltungs197

Vgl. Heuer (Fn. 161), 488. Grandke (Fn. 147); Michas u.a. Arbeitsrecht der DDR – eine systematische Darstellung und Erläuterung des Gesetzbuches der Arbeit der DDR und weiterer wichtiger arbeitsrechtlicher Bestimmung, 1970; Thiel Arbeitsschutz und technische Revolution. Die Aufgaben des Arbeitsrechts beim Schutz der Arbeitskraft unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution, 1967. 199 Vgl. Heuer (Fn. 161), 615. 200 MHF, Studienplan für die Grundstudienrichtung Rechtswissenschaft2, 1975; Anordnung über die Durchführung von Prüfungen an Hoch- und Fachschulen sowie den Hoch- und Fachschulabschluss – Prüfungsordnung – (GBl. I 1975, 183); Anordnung über die Zulassung und das Verfahren zum externen Erwerb des Hoch- und Fachschulabschlusses – Externenordnung – (GBl. I 1975, 192); Anordnung über das Diplomverfahren – Diplomordnung – (GBl. I 1976, 135). 201 Vgl. Liwinska (Fn. 40), 163. 198

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recht als eigenständiges Lehrgebiet.202 Russisch wurde als Pflichtfach eingeführt. Neben den Studieninhalten wurde auch die Zulassung zum Studium neu gestaltet. Seit 1975 bewarben sich die Anwärter zum Studium über die Kreisgerichte ihrer jeweiligen Heimatkreise, gefolgt von mehreren Bewerbergesprächen auf Kreis- und Bezirksgerichtsebene unter Leitung von Vertretern des Ministeriums der Justiz (MdJ). Nach weiterer Prüfung der Kandidaten schlug das MdJ die Bewerber durch eine Delegierung zum Studium vor, anschließend führte die Sektion Rechtswissenschaft mit allen delegierten Studienbewerbern Eignungsgespräche, in denen sie den Vorschlägen des MdJ grundsätzlich entsprach.203 Deshalb wurden die Eignungsgespräche auf Vorschlag der Sektion bald abgeschafft.204 Dem spürbaren Einfluss des MdJ bei der Auswahl der Studierenden begegneten viele Bewerber, indem sie sich den Erfordernissen formal anpassten und die nötige Haltung zu den Auswahlgesprächen mitbrachten. Auch Dozenten versuchten die politische Haltung der Studierenden in deren Beurteilungen nur mit einem Minimum zu gewichten. Dieser Gegensatz zu den Zielen der politischen Bildung der angehenden Justizjuristen wurde zunehmend beargwöhnt, was zu ausführlichen Berichten über politisch-ideologische Probleme an der Sektion Rechtswissenschaft an die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit führte. Darin wird die Situation der einzelnen Mitglieder und Organisationen in der Fakultät, Dozenten, Studienjahre, Seminargruppen, FDJ-Organisationen sowie auch von einzelnen Studierenden ausführlich kritisch bewertet.205 Außerhalb dieses Auswahlverfahrens vollzog sich die Zulassung für das Fernstudium und für die Ausbildung auf dem Gebiet des wissenschaftlichtechnischen Rechtsschutzes. Die selbständige zur Sektion gehörende Abteilung Weiterbildung und Fernstudium leitete seit ihrer Übernahme durch die Sektion Rechtswissenschaft 1964 die gesamte Ausbildung im rechtswissenschaftlichen Fernstudium. Bis einschließlich 1978 durchliefen rund 4.000 Studierende die Ausbildung.206 Die Abteilung besaß ihr unterstellte Außenstellen in Ber202 Liwinska (Fn. 40), 169 spricht von einer Rehabilitierung des Verwaltungsrechts im Zuge der Zielsetzung Honeckers nach klaren Organisationsverhältnissen. 203 Vgl. zum Verfahren und dem Bestreben, die Auswahl unter besonderer Berücksichtigung der Haltung in politischen Fragen zu treffen: „Zu einigen Aspekten der kaderpolitischen Vorbereitung des Einsatzes künftiger Richter, Rechtsanwälte und Notare“, BStU, Archiv der Außenstelle Berlin, BV Berlin Abt. XX Nr. 3196. 204 Vgl. Liwinska (Fn. 40), 165. 205 Vgl. Bericht des IMS „F. Fuchs“ BStU, Archiv der Außenstelle Berlin, BV Berlin Abt. XX Nr. 3196. 206 Vgl. Bluhm Tätigkeitsbericht der Arbeitsgruppe „Weiterbildung/Fernstudium“, Wissenschaftlich- methodische Konferenz, Erfahrungen und Aufgaben in der rechtswissenschaftlichen Ausbildung an den Universitäten der DDR, 17. und 18. November 1978, Konferenzmaterial, Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, 104.

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lin,207 Cottbus,208 Dresden,209 Erfurt,210 Gera,211 Halle,212 Karl-Marx-Stadt,213 Leipzig,214 Magdeburg,215 Neubrandenburg,216 Potsdam,217 Rostock218 und Schwerin.219 Die Studiendauer betrug 5 ½ Jahre. Zielstellung des Fernstudiums war es, naturwissenschaftlich und technischwissenschaftlich gebildete Werktätige zu einem juristischen Beruf zu befähigen.220 Die Absolventen wurden überwiegend in herausgehobenen (Leitungs-)Positionen in Justiz, Sicherheitsorganen, örtlichen und zentralen staatlichen Organen sowie Betrieben und Kombinaten eingesetzt.221 Das Fernstudium hatte aber auch positive Auswirkungen für die Forschung und Lehre in der Sektion insgesamt. Die postgradualen Studenten waren mit Abschlussarbeiten im Stande, wissenschaftliche Praxisuntersuchungen in hoher Qualität beizusteuern.222 Für das Fernstudium entstanden zudem schriftliche Ausbildungsmaterialien, die oft als Vorläufer für Lehrbücher fungierten bzw. diese, wenn sie fehlten, im Direktstudium ersetzten. In der Zeit von 1964 bis in die frühen 70er Jahre hinein gelang es, dass sich der Bereich WTR etablierte und seine – in Relation zu den anderen Bereichen deutlich sichtbare – volle Größe erreichte.223 Dem Gründungsdirektor des Instituts Hans Nathan folgten Ernst Winklbauer, Robert Kastler (1970–1988) und Johann Adrian (9.1.1988 bis zum Ende). Das Institut übernahm die Ausbildung der Fachingenieure für Patentwesen und die Ausbildung der Juristen für den wissenschaftlich-technischen Rechtsschutz in der DDR. Darüber hinaus war die Ausbildung ausländischer Ingenieure bei ihm angesiedelt. Auch in der Forschung war es aufgrund der von ihm durchgeführten Tagungen und Kongresse, der Erarbeitung von Lehrmaterialien224 sowie Stellungnahmen zu nationalen und internationalen Themen im Auf207

Leiter: Hans Joachim Wörmsdorf, zwei Mitarbeiter. Leiter: Gerhard Anton. 209 Leiter: Manfred Ulbrich. 210 Leiter: Christian Anacker. 211 Leiter: Kurt Zimmermann. 212 Leiter: Fritz Fiedler. 213 Leiter: Ernst Walther. 214 Leiter: Günther Döring. 215 Leiter: Kurt Finke. 216 Leiter: Willi Schulz. 217 Leiterin: Gerda Schwabe. 218 Leiter: Ottokar Häding. 219 Leiter: Alexander Nowizky. 220 Winklbauer in: Bluhm (Fn. 206), 108. Winklbauer, geb. 21.2.1930, Promotion: 1960, Habilitation: 1966, Professor seit 1966. 221 Bluhm (Fn. 206), 104. 222 Kastler in: Bluhm (Fn. 206), 108. Kastler, geb. 11.11.1930, Promotion: 1965, Habilitation: 1973, Professor seit 1.9.1974. 223 Vgl. die Personalausstattung (s.o.), auch im Vergleich mit den anderen Bereichen. 224 Nathan u.a. Erfinder- und Neuererrecht der DDR, 1968. 208

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trag des Patentamtes der DDR führend. Gleichzeitig sah sich das Institut aber auch staatlicher Einwirkung ausgesetzt. So mussten beispielsweise Konzeptionen für die Aus- und Weiterbildung vom Patentamt bestätigt werden. Bis in das Jahr 1989 hatten etwa 1500 Studierende das postgraduale Studium absolviert.225 Die Jahre bis 1983 sind politisch ruhige Jahre, in denen der DDR-Rechtswissenschaft keine jähen politischen Wendungen abverlangt wurden. Unbemerkt von den rechtswissenschaftlichen Debatten wuchs aber in jenen Jahren neben einer intellektuellen Opposition, die vorwiegend von Künstlern getragen wurde, unter dem Dach der Kirche eine neue Oppositionsbewegung, die Frieden und Umwelt zu ihren großen Themen machte. Zum Zeitpunkt ihres Aufkommens Mitte/Ende der 70er Jahre handelte es sich zumeist um unorganisierte Reaktionen von Einzelpersonen und Kleingruppen auf die Bedrohung sowohl durch ein militärisch hochgerüstetes Europa als auch durch das Gefühl der Militarisierung des Alltages in der DDR, wie z.B. durch die Einführung des Pflichtfaches Wehrerziehung in der Schule (1978). Die Form des Treffens in kleinen kirchlichen Seminaren, später unterstützt durch Appelle, wie des „Berliner Appells“ des Pfarrers Eppelmann (1982), sollte ganz langsam zu einer sich ausdehnenden Bewegung werden, die sich dann in den späten 80er Jahren in Friedensmärschen226 ausdrückte. V. 1983 bis 1989 – Krise und keine Perestrojka Als die DDR Anfang der 80er Jahre in eine permanente Krise geriet, wurden die Symptome der Krise, der wirtschaftliche Niedergang mit stetigem Voranschreiten der Auslandsverschuldung und eine nicht mehr einzudämmende Ausreisewelle, zwar in der Sektion wahrgenommen aber nur vereinzelt wurden daraus Schlussfolgerungen für eine Umorientierung in der rechtswissenschaftlichen Lehre und Forschung gezogen. In keinem Fall wurde mit der anwachsenden oppositionellen Bewegung, die in der evangelischen Kirche einen vom Herrschaftssystem der DDR autonomen Raum gefunden hatte, Kontakt aufgenommen. Auch die reformwilligen Sektionsangehörigen setzen auf einen politischen Wechsel, der nach dem Vorbild der sowjetischen Perestrojka von oben eingeleitet werden sollte. Der rasche Wechsel in der Sowjetunion von Breschnew zu Andropow im November 1982, von Andropow zu Tschernenko im Februar 1984 und schließlich von Tschernenko zu Gorbatschow im März 1985 brachte der DDR relative Unabhängigkeit von ihrer Führungsmacht. Die führungslose Zeit zwischen den 225

Adrian Zur Geschichte des Instituts für Gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, unveröffentlicht. 226 Friedensmarsch 1987 in Anlehnung an den Vorschlag eines 300 km breiten atomwaffenfreien Korridors zwischen Ost- und Westeuropa von Olof Palme.

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Machtwechseln nutzte die DDR-Führung dazu, sich von der Eskalation der Konfrontation zwischen den Großmächten abzusetzen. Honecker betonte die Notwendigkeit einer Friedenspolitik und betrieb die Annäherung beider deutscher Staaten.227 In der Sektion verstand man sehr wohl, dass mit der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU in der Sowjetunion ein gesellschaftlicher Umbruch mit welthistorischen Wirkungen begonnen hatte, dass mit Perestrojka und Glasnost in der Sowjetunion selbst die stalinistischen Strukturen aufgebrochen wurden. Gleichwohl reagierte man abwartend und wagte sich nicht aus der Deckung; zu oft hatte man das politische roll back erlebt. Es war deshalb an der nächsten Generation, die unbelastet von diesen Erfahrungen war, anzutreten. Mit Gorbatschow sah sie sich in ihrer bisherigen Außenpolitik bei den Friedensinitiativen und den Abrüstungsbemühungen bestätigt und folgte ihm. Doch bei allen Ansätzen, der inneren Reform verweigerte sich die SED-Führung. Mit der offiziellen Verweigerung und mit der Unterdrückung von Diskussionen über Wirtschaftskrise, Ausreisewelle und Perestrojka in der Sowjetunion, die auch in der Sektion durchgesetzt werden sollte, versanken die meisten Angehörigen des Lehrkörpers und auch die Studenten in die Orientierungslosigkeit. Sowohl die staatliche Leitung als auch die Parteileitung der Sektion versuchten, diese Krise pragmatisch zu verwalten. Günther Rohde,228 der ab 1980 Sektionsdirektor war und 1985 von Joachim Göhring229 abgelöst wurde, wollten in keiner Richtung auffallen, weder als Förderer noch als Verhinderer einer Reformdiskussion. Die inzwischen in die Hochschullehrerstellen drängende dritte Generation von DDR-Rechtswissenschaftlern war jedoch mehrheitlich mit einem Großteil der Studenten bereit, die Perestrojkathemen aufzunehmen und zeigte sich von den Restriktionen durch die SED-Führung gegen die „brüderliche Sowjetunion“ verärgert und unbeeindruckt. Von dieser neuen Generation wurden Hartmut Bourcevet,230 Norbert Frank,231 Peter Freund,232

227 Zu den daraus erwachsenen Widersprüchen zur Führungsmacht Sowjetunion vgl. Weber Die DDR 1945–1990, 2006, 101. 228 Günther Rohde, geb. 18.12.1931, Promotion: 30.9.1960, Habilitation: 18.12.1964, Professor für LPG- und Bodenrecht: 1.9.1969, vom 1.10.1980 bis 31.12.1984 Direktor. 229 Joachim Göhring, geb. 5.12.1931, Promotion: 1962, Stellv. Direktor für Erziehung und Ausbildung: 1971, Professor für Zivilrecht und Zivilprozessrecht: 1.9.1973, vom 1.1.1985 bis 9.5.1989 Direktor der Sektion Rechtswissenschaft. 230 Hartmut Bourcevet, geb. 4.5.1944, Promotion: 11.8.1974, Habilitation: 4.5.1984, facultas docendi für Erfinder- und Patentrecht vom 12.3.1980, Hochschuldozent WTR LPG-Recht: 1.2.1985. 231 Norbert Frank, geb. 8.6.1945, Habilitation: 1984, facultas docendi: 1983, Hochschuldozent: 1.2.1987, Professor: 1.9.1989. 232 Peter Freund, geb. 20.2.1943, Promotion: 1971, Habilitation: 1981, facultas docendi: 12.3.1980 WTR, Hochschuldozent WTR: 1.2.1982, Professor Sozialistisches Recht: 1.8.1985.

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Armin Göllner,233 Elfi Kosewähr,234 Rainer Walter Kosewähr,235 Reinhard Lorenz,236 Achim Marko,237 Helmut Rose,238 Arthur-Axel Wandtke239 und Rosemarie Will240 zu Hochschullehrern berufen. Für die Reformdiskussion jener Jahre fallen zwei von ihnen mit ihren Habilitationsschriften auf: Zum einen die von R. Will 1983,241 und zum anderen die von N. Frank.242 Will versuchte unmittelbar an Arbeiten Heuers anzuknüpfen und fragte, wie staatliche Entscheidungen entstehen und in welchen Strukturen dies geschieht. Norbert Frank rekonstruierte die Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR und forderte vorsichtig eine Verwaltungsgerichtsbarkeit ein. Er folgte damit W. Bernet, der 1983 Vorschläge zur Einführung der Verwaltungsrechtssprechung und zur Gewährleistung subjektiver Rechte der Bürger veröffentlicht hatte.243 Dies lag zwar im Rahmen der zu dieser Zeit allgemein betriebenen Entwicklungen wurde aber gleichwohl immer noch beargwöhnt.244 Die Diskussion führte zum Gesetz und Verordnung über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Ver-

233 Armin Göllner, geb. 6.12.1947, Promotion: 29.11.1978, facultas docendi für Zivilund Zivilprozessrecht: 9.12.1980, Honorardozent: 1.2.1984. 234 Elfi Kosewähr, geb. 8.12.1943, Promotion: 14.1.1976, Habilitation: 27.5.1986, facultas docendi für Strafrecht/Kriminologie: 3.11.1982, Hochschuldozent für Strafrecht/Kriminologie: 1.2.1987. 235 Rainer Walter Kosewähr, geb. 11.3.1946, Promotion: 6.12.1972, Habilitation: 25.10. 1988, facultas docendi Internationales Privatrecht und Internationales Wirtschaftsrecht: 22.9.1976, Hochschuldozent: 1.2.1989, Umberufung zum Honorardozenten für Internationales Privatrecht: 1.6.1990. 236 Reinhard Lorenz, geb. 12.1.1945, Promotion: 20.9.1978, facultas docendi für Staatsund Rechtsgeschichte: 31.7.1987, ao. Dozent für Staats- und Rechtsgeschichte: 1.2.1989. 237 Hochschuldozent: 1.2.1986 (Anm. Daten geschützt). 238 Helmut Rose, geb. 9.1.1952, Promotion: 24.6.1981, Habilitation: 31.8.1987, facultas docendi in WTR: 5.12.1984, Leiter Bereich WTR: Februar 1987, Hochschuldozent für WTR: 1.2.1988. 239 Arthur-Axel Wandtke, geb. 26.3.1943, Promotion: 2.7.1975, Habilitation: 17.2.1981, facultas docendi: 14.11.1979 Arbeitsrecht, Professor für Urheberrecht: 1.9.1988. 240 Rosemarie Will, geb. 25.8.1949, Promotion: 19.3.1977, Habilitation: 20.9.1983, facultas docendi: 12.11.1981, Hochschuldozentin für Staats- und Rechtstheorie: 1.2.1984, Professorin für Staatsrecht: 1.9.1989. 241 Studie über die Rolle des Staates in der politischen Organisation der sozialistischen Gesellschaft, Berlin Humboldt-Universität 1983; vgl. dazu den zusammenfassenden Artikel Will Interessen und staatlicher Entscheidungsprozess, in: Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie – Triebkraft der sozialistischen Gesellschaft, 1985, 44. Eine Einordnung der dort geführten Diskussion findet sich bei Joseph (Fn. 161), 549, 575 f. 242 Frank Zur verwaltungsrechtlichen Verantwortlichkeit, Dissertation B (maschinenschriftlich Berlin 1984). 243 Bernet Gerichtliche Nachprüfbarkeit von Verwaltungsakten auch für die DDR? Wissenschaftliche Beiträge der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Heft: Bürger im sozialistischen Recht), 1983, 48 f. 244 Vgl. dazu Bernet Entwicklung und Zustand der Verwaltungswissenschaften der DDR, Der Staat 1990 Heft 3, 389 ff.

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waltungsentscheidungen vom 14.12.1988. Dieses trat jedoch erst am 1.7.1989 in Kraft und gelangte damit in die Umbruchphase der DDR.245 Sucht man in der Humboldt-Universität jener Jahre nach politischen Reformansätzen, findet man das in diesen Jahren entstehende sog. SozialismusProjekt. Initiator war Michael Brie, der mit seiner Habilitationsschrift 1985 unter dem Titel „Entwicklungsstufen des sozialistischen Eigentums“ unter den reformwilligen Wissenschaftlern für Aufsehen sorgte.246 Gemeinsam mit Dieter Segert und Rainer Land entwickelte er mit Unterstützung Dieter Kleins als Prorektor für Gesellschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität Vorüberlegungen zu einem Forschungsprojekt mit dem Namen „Sozialismustheorie“. Dieses Projekt konnte sich nicht mehr als wissenschaftliche Forschung realisieren, spielte aber als Konzept für politische Reformvorschläge in der Wende 1989/90 noch eine Rolle.247 Von der Sektion waren daran Rosemarie Will, Wera Thiel, Anita Grandtke beteiligt.248 Vor allem aber unter den Studenten nahmen die kritischen Diskussionen über den Zustand des DDR-Gesellschaftssystems sichtbar zu. Die Staatssicherheit berichtete zur Sektion „Oppositionelle Haltungen werden auch in Studentenkreisen erkennbar“.249 Dabei wurden nach Berichten der Staatssicherheit von leistungsstarken und in gesellschaftlichen Funktionen eingebundenen Studenten Standpunkte entwickelt, die sich am westlichen Demokratieverständnis orientieren und gegen das bestehende System wirken. „Ausgehend von einem Elitedenken mit dem Ziel, Fachprofis zu werden, was nichts anderes bedeutet als Winkeladvokaten, geht auch eine systematische Diskreditierung gesellschaftlich äußerst aktiver Genossen einher.“250 Geistige Grundlagen dafür konnten – so die Staatssicherheit – durch die Beschäftigung mit kritischer Gegenwartsliteratur geformt werden, zudem sei es in der Sektion möglich, Einsicht in gesperrte Literatur zu erhalten.251 Nachdem die Staatssicherheit auf diese Entwicklungen aufmerksam geworden war, wurden entsprechende Ermittlungen durchgeführt. So sind Studenten ermittelt worden, die „auf dem Grat zwischen Theorie der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und daran anknüpfenden revisionistischen Bestrebungen balancieren“.252 Beobachtungen wurden auch niedergeschrieben, wenn Personen der Universität Kritik am System übten. In einer

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Vgl. dazu Bernet (Fn. 244), 389 ff. 1990 wurde die Habilitationsschrift in ihrer überarbeiteten Fassung unter dem Titel: „Wer ist Eigentümer im Sozialismus?“ im Dietz-Verlag veröffentlicht. 247 Vgl. Studie zu Gesellschaftsstrategie bei Dietz-Verlag 1989, und das Umbaupapier herausgeben von Rainer Land im Rotbuch Verlag 1990. 248 Segert Das 41. Jahr, Eine andere Geschichte der DDR, 2008, 72. 249 BStU, Archiv Außenstelle Berlin, Abt. XX, 3831, 4. 250 BStU, Archiv Außenstelle Berlin, Abt. XX, 3831, 4. 251 BStU, Archiv der Zentralstelle, MfS-HA XX, 16130, 2. 252 BStU, Archiv Außenstelle Berlin, Abt. XX, 3831, 4. 246

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Akte des MfS wird die Äußerung von Studenten wiedergegeben, dass „der Sozialismus ein von innen heraus verfaulendes System“ sei. Man müsse, so wird über die studentischen Diskussionen berichtet, den inneren gesellschaftlichen Status quo verändern. Innerhalb von 2 bis 3 Jahren werde sich der außen- und innenpolitische Druck so verschärfen, dass sich dieser Status quo verändern werde. Man werde diese Politik nicht mehr lange durchhalten können … Eigentlich müsse man über ein Konzept nachdenken, was sehr wohl strafrechtliche Verantwortlichkeit nach sich ziehen würde … Wenn man das System (Gesellschaft) mit der Forschung erkläre, könne man sehr wohl seine Existenz sichern. Aber über die Erklärung des Systems müsse man es unter der Hand in Frage stellen und zur Veränderung beitragen.253 Dass sich die Staatssicherheit über die Diskussionsabläufe nicht irrte, wurde dann auch öffentlich. An der Sektion führte die FDJ-Grundorganisation am 25.4.1989 eine wissenschaftliche Studentenkonferenz mit etwa 600 Teilnehmern im Kino Babylon durch. Uwe-Jens Heuer hielt das Referat zum Thema „Sozialistischer Rechtsstaat und Demokratie“. Die Studenten diskutierten aus Anlass des Referates eine Vielzahl von Problemen des Rechtsstaates der DDR. Der anwesende 1. Vizepräsident des Obersten Gerichts Werner Strasberg wollte gegen diese Diskussion einschreiten und erklärte den Studenten, sie sollten nur in die Praxis kommen; dann würden sie schon sehen, was notwendig sei. Einige Studenten protestierten und verließen das Kino mit dem Ausruf „Es lebe Stalin!“. Strasberg wandte sich sofort mit einer Beschwerde254 über Heuer und die Sektion an das ZK der SED. Er, der ausdrücklich erklärt hätte, dass das Gesetz eine politische Maßnahme sei und nicht Maß der Politik, hätte damit Unruhe und Missfallen verursacht. Es charakterisiert die krisenhafte Situation des Jahres 1989, dass auf diese Demonstration hin nichts Nennenswertes mehr erfolgte. Die Sektionsleitung, d.h. der Direktor, der Partei-GO-Sekretär und der FDJ-GO-Sekretär, erklärten daraufhin übereinstimmend, dass das Referat den Erwartungen der Sektion entsprochen habe. Zwar fand im ZK der SED der Abteilung Wissenschaften noch eine Aussprache zum Vorgang statt, aber man zog zum 12.7.1989 einen Schlussstrich unter diesen Vorgang. Bald gingen alle in die Sommerferien; diesmal bereits vor dem Hintergrund einer offenen Stelle im eisernen Vorhang, die mit der ungarischen Grenzöffnung entstanden war. Als dann im Herbst 1989 die DDR unterging, versuchte sich die Sektion, getrieben von den Ereignissen der friedlichen Revolution, in dramatischen Auseinandersetzungen zu erneuern und war dabei zum Teil erfolgreich. Das Studienjahr sollte nach dem Willen der SED-Kreisleitung am 1.9.1989 wie immer mit einer „roten Woche“ zur Indoktrination der Studenten beginnen. 253

BStU, Archiv der Zentralstelle, MfS-HA XX, 16130. Vgl. hierzu Arnold Die Normalität des Strafrechts der DDR, Band 1, gesammelte Beiträge und Dokumente, 1995, 288–304 und Heuer (Fn. 25), 148. 254

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Bereits das misslang; angesichts der Massenfluchten über Ungarn waren die Studenten tief aufgewühlt, sie verlangten fast durchweg und konsequent, dass mit ihnen über die Ereignisse kommuniziert werde. Zwar versuchten die Angehörigen des Lehrkörpers noch, einfach weiterzumachen, aber die Ahnung, dass dies nicht mehr ging, war allgegenwärtig. Zum letzten Mal in der DDR wurden zwei Professoren an die Sektion berufen: Norbert Frank für das Verwaltungsrecht und Rosemarie Will für das Staatsrecht, zum letzten Mal fand die staats- und rechtswissenschaftliche Konferenz der DDR in Potsdam Babelsberg vom 13. bis 15.9.1989 statt. Wolfgang Weichelts orthodoxes Hauptreferat konnte die Debatten in den Arbeitskreisen nicht mehr verhindern.255 Bereits am 11.9.1989 war es in Leipzig nach einer Demonstration im Anschluss an ein Friedensgebet zu Massenfestnahmen gekommen, der Protest dagegen führte zu den berühmten Leipziger Montagsdemonstrationen. In dieser Situation mahnte das Neue Forum in seinem Gründungsaufruf den „Demokratischen Dialog über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur“ an. Obwohl der Antrag des Neuen Forums auf offizielle Zulassung am 20.9.1989 mit der Begründung abgelehnt wurde, dass es sich beim Neuen Forum um eine staatsfeindliche Gruppierung handele,256 wuchs das Neue Forum schnell zur stärksten Oppositionsbewegung heran. Am 4.10.1989 forderten die Bürgerbewegungen freie Wahlen in der DDR. Nachdem es beim 40. Jahrestag der DDR am 7.10.1989 in Berlin und anderswo zu Zusammenstößen und Massenverhaftungen gekommen war, demonstrierten in Leipzig 70.000 Menschen auf den Straßen. Bis zuletzt bestand die Gefahr, dass mit Gewalt gegen die Demonstrierenden vorgegangen wurde. Auch das Präsidium des Schriftstellerverbandes setzte sich nun für revolutionäre Reformen ein. An der Sektion riefen die Assistenten des Strafrechts dazu auf,257 dass sich Opfer der Übergriffe vom 7. Oktober melden sollten, um ihre Interessen vertreten zu lassen.258 Es sollte dokumentiert werden, was unvereinbar sei mit den Menschenrechten, dem Rechtsstaat, der Gesetzlichkeit und der Rechtssicherheit. Zudem wurde die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission durch die Volksvertretung vorgeschlagen, auch sollte eine Dokumentation des Geschehens erfolgen.259 In dieser Situation trat am 18.10.1989 Honecker zurück. Egon Krenz übernahm die Macht. Gegen die neue Machtkonzentration wurde weiter demonstriert. Am 23.10.1989 nahmen 300.000 Teilnehmer an der Leipziger 255 Vgl. Die Verfassung der DDR – das Grundgesetz zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, Staat und Recht 1989, Heft 11, 875 – Bericht von Steding. 256 Mitteilung des Ministers des Innern, in: Berliner Zeitung vom 21.9.1989. 257 Unterschrieben wurde der Aufruf von Ulrich Wetzl, Steffen Peters und Jens Schubert. Ein Bericht dazu findet sich bei Hübner (Fn. 180), 80 f. 258 BStU, Archiv der Außenstelle Berlin, Abt. XX, 2858. 259 BStU, Archiv der Außenstelle Berlin, Abt. XX, 2858.

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Montagsdemonstration teil. Am 4.11.1989 kam es in Ostberlin zur größten Massendemonstration. Hier forderten etwa 1.000.000 Menschen Presse-, Reise-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit und insbesondere freie Wahlen, unter ihnen eine Reihe von Sektionsmitgliedern. Die überraschende Wende erfolgte mit der plötzlichen Öffnung der Grenzübergänge nach Westberlin am 9. November 1989. Die SED-Organisationen an der Humboldt-Universität beteiligten sich nun an der Forderung nach Einberufung eines Sonderparteitages, der auf die Ablösung von Egon Krenz und weiten Teilen des ZK zielte.260 Bei der Demonstration vor dem ZK-Gebäude, in der dies gefordert wurde, sprach als einer der Wortführer der GO-Sekretär der Sektion Rechtswissenschaft Norbert Frank.261 Bei der Wahl der Delegierten zum Sonderparteitag wurde zum ersten Mal ohne Anweisung von oben gewählt. Auf dem Parteitag waren von den 8 Delegierten der Humboldt-Universität vier Vertreter des Sozialismus-Projektes, Dieter Klein, Michael Brie, Dieter Segert und Rosemarie Will. Dieter Segert hat zutreffend resümiert „Die Bilanz unserer Gruppe nach dem Sonderparteitag war wenig glänzend.“ Eine Einflussnahme auf den inhaltlichen Ablauf des Parteitages gelang nicht. „Teile des Parteiapparates schienen wieder die Fäden der eigentlichen Macht in der Hand zu haben.“262 An der Humboldt-Universität zerfiel die SED. Die Reformkräfte der Sektion zielten darauf ab, die staatlichen Universitätsstrukturen zu erneuern und an der Arbeit des runden Tisches zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung teilzunehmen.263 Der überwiegende Teil der Sektionsangehörigen verhielt sich demgegenüber nach wie vor abwartend. Seit Studienjahresbeginn hatten sich unter den Studenten der Universität Proteststrukturen gebildet. Die Studenten forderten am 9. und 10.11.1989 in einer Urabstimmung die Gründung eines Studentenrates. Nachdem sich 86% dafür ausgesprochen hatten, war eine unabhängige Interessenvertretung entstanden. Die basisdemokratisch entstandene Organisationsform der Studierenden bestimmte fortan die politischen Abläufe an der HumboldtUniversität. Zugleich bildete sich in der Universität nach der Gründung des zentralen Runden Tisches der Runde Tisch der Universität. Moderiert wurde dieser runde Tisch von den Hochschullehrern der Sektion Theologie Heinrich Fink und Brigitte Kahl. Parallel begannen die offiziellen Gremien der Universität mit einer Reform der Struktur und des Statuts der Universität. 260

Segert (Fn. 248), 96. Segert (Fn. 248), 96. 262 Segert (Fn. 248), 133. 263 Aus der Sektion waren in der Expertengruppe Dr. sc. Tatjana Ansbach, Dr. sc. Bernhard Graefrath, Dr. Bernd Hohmann, Dr. Gerd Quilitzsch, Doz. Dr. Fritz Tech, Doz. Dr. sc. Hans-Jürgen Will und Prof. Dr. sc. Rosemarie Will vertreten. In der Redaktionsgruppe waren Dr. Hans-Jürgen Will und Prof. Dr. Rosemarie Will Mitautoren. 261

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Im April 1990 wurde auch an der Sektion Rechtswissenschaft eine neue Direktorin gewählt. Ursprünglich hatte man sich auf Kurt Wünsche als neuen Sektionsdirektor geeinigt. Damit sollte erstmals ein Mitglied der LDPD die staatliche Führung der Sektion übernehmen. Da Kurt Wünsche aber sowohl Justizminister in der Modrow-Regierung als auch in der Regierung de Maiziere nach den ersten freien Volkskammerwahlen wurde, musste man sich neu verständigen. Es war Kurt Wünsche, der die jüngste Professorin zur Wahl als Sektionsdirektorin vorschlug. Im April 1990 wurde Rosemarie Will gewählt. In ihrer Antrittsvorlesung am 9. Mai 1990 verkündete sie „Erneuert werden muß alles: der Geist und Inhalt rechtswissenschaftlicher Ausbildung und Forschung sowie das Ausbildungssystem“.264 Am 7. und 8.6.1990 wurde von der Sektionsleitung der Arbeitskreis Juristisches Curriculum zur Neuorganisation des Studiums einberufen. Er bestand aus Vertretern einer Vielzahl von BRD-Universitäten, der Freien Universität und praktisch arbeitender Juristen aus der Bundesrepublik. Für die Leitung des Arbeitskreises wurde Jutta Limbach, die Berliner Justizsenatorin gewonnen. Die DDR-Teilnehmer bildeten unter der Leitung von Rosemarie Will das Gremium, das den aufgelösten Wissenschaftlichen Beirat beim Ministerium für Bildung ersetzte. Freien Zugang hatten Studentenratsvertreter und Mitglieder des Personalrats. Das Ziel, sich über die Berufschancen der derzeitigen und künftigen Studenten zu verständigen und Wege zu finden, um ihre Abschlüsse unter Berücksichtigung der gewachsenen Strukturen und der bevorstehenden Rechtsangleichung zu ermöglichen, wurde erreicht. Am 5. und 6.7.1990 fand die 2. Tagung des Arbeitskreises statt, die ein juristisches Curriculum für die Humboldt-Universität erarbeitete. Im Ergebnis wurden eine neue Grundstudienordnung und eine Reihe von Übergangs-Studienordnungen für die vor 1990 immatrikulierten Studenten geschaffen.265 Mit Blick auf die bevorstehende Wiedervereinigung war damit sehr schnell eine grundlegende Ausbildungsreform gelungen. Als das neue Semester am 1.10.1990 eröffnet wurde, wurden 5 neue Studienordnungen in Kraft gesetzt266 und zum ersten Mal die 500 neu immatrikulierten Studenten nach westlichen Standards ausgebildet. An dieser Ausbildung beteiligten sich bereits 16 Gastprofessoren.267 264 Will Freiheit und Unabhängigkeit des juristischen Denkens dauerhaft sichern, NJ 1990, Heft 7, 278 ff. 265 Gemeinsame Erklärung des Arbeitskreises Rechtswissenschaftliches Curriculum zum Abschluss der 2. Arbeitssitzung vom 5./6. Juli 1990 und Will Arbeitsergebnisse des Juristischen Curriculums vom 5./6. Juli 1990. 266 Fachbereich Rechtswissenschaft der HU Berlin, Offizieller Studienführer, 1990. 267 Die Gastprofessoren waren Prof. Dr. Nordemann, FU Berlin, Prof. Dr. Dietrich von Stebut und Prof. Dr. Horst Baumann, TU Berlin; Prof. Dr. Uwe Wesel, Prof. Dr. Hans-Joachim Menget und Dr. Fritz Ast, FU Berlin; Prof. Dr. Jürgen Welp und Prof. Dr. Friedrich Dencker, Universität Münster; Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Dieter

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Zugleich wurde eine Erneuerung des DDR-Lehrkörpers nach dem an der Gesamtuniversität entwickelten hochschuleigenen Konzept für den Umbau der Universität „nicht nur, aber auch mit den vorhandenen Menschen“268 betrieben. Die Sektion beschloss am 19.12.1990, bis zum 24.12.1990 die Kandidaten für die Personal-Struktur-Kommission (PSK) aufzustellen, die eine Personalüberprüfung durchführen sollte. Intern gewählte Kommissionsmitglieder des Fachbereichs waren: Dr. Tatjana Ansbach (Institut für Öffentliches Recht und Völkerrecht) als Vorsitzende, Prof. Dr. Anita Grandke (Institut für Zivilrecht), Dr. Felix Posorski (Institut für Öffentliches Recht und Völkerrecht), Dr. Joachim Rudolph (Institut für Gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht), Fr. Kersten Woweries (Institut für Kriminalwissenschaften), Fr. Nickel269 (Institut für Handels- und Gesellschaftsrecht, Arbeits- und Sozialrecht), sowie die Studenten Braune, Lange und Grieben. Ihnen gebührt das Verdienst, sich der dramatischen Aufgabe gestellt zu haben, die notwendigen Entscheidungen zur beruflichen Existenz ihrer Kollegen zu treffen, wohl wissend, dass auch über sie selbst zu entscheiden sein werde. Hinzugezogen wurden zwei Juristen aus den alten Bundesländern, Prof. Inga Markovits (Texas) und Prof. Nordemann (FU Berlin). Die Kommission hatte sechs externe Mitglieder, Prof. Dr. Peter Hanau270 (Köln), Dr. Erich Häußer (Präsident des Deutschen Patentamtes München), Prof. em. Dr. Peter Schneider (Mainz), Prof. Dr. Horst SchülerSpringorum (München), Prof. Dr. Detlef Kraufl (Basel), Prof. Dr. Walter Bielenberg (Ministerialdirigent). Alle auswärtigen Mitglieder waren ohne staatlichen Auftrag bereit, mit ihren Ostkollegen zusammen für alle sich der Kommission stellenden Sektionsangehörigen Einzelfallentscheidungen an Hand der von der zentralen PSK der Universität vorgegebenen Kriterien zu treffen. Dass dies ausgerechnet bei den Juristen gelang, hat oft große Verwunderung hervorgerufen. Man kann es letztlich nur dem glücklichen Umstand zuschreiben, dass sich an der Berliner Fakultät für diese Aufgabe Juristen aus dem Westen fanden, die eine Idee von Wiedervereinigung entwickelten, die nicht einfach nur auf die Ersetzung des Personals Ost durch West Personal abstellte und dabei auf Juristen aus dem Osten trafen, die ihrerseits das Ausmaß der historisch notwendigen Änderungen begriffen und diese auch wollten. Grimm, Universität Bielefeld; Prof. Dr. Hans Meyer, Universität Frankfurt/Main; der Direktor des Bundeskartellamts Prof. Dr. Siegfried Klaue; Prof. Dr. Bernhard Schlink, Universität Bonn; Dr. Wolfhard Kohte, Universität Bielefeld; Bundesverwaltungsrichter Prof. Dr. Hans-Joachim Driehaus; Prof. Dr. von Brünneck und als einziger Professor aus dem Osten Prof. Dr. Hermann Klenner, Akademie der Wissenschaften der DDR. 268 Entschließungsantrag des verfassungsgebenden Konzils vom 13. Dezember 1990. 269 Frau Nickel schied am 31. August 1991 aus der Kommission aus. 270 Prof. Dr. Hanau schied im Frühjahr 1991 aus der Kommission aus, nachdem er in die Struktur- und Berufungskommission berufen worden war.

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Die Kommission des Fachbereichs Rechtswissenschaft arbeitete von Januar 1991 bis Januar 1992 und entschied über den Verbleib der Hochschullehrer. Insgesamt wurden 105 Mitarbeiter271 überprüft und nach 2 Kategorien bewertet: In die Kategorie I wurden diejenigen eingruppiert, gegen die keine Bedenken gegenüber der fachlichen Kompetenz und der persönlichen Integrität bestanden. In die Kategorie II wurden diejenigen einsortiert, gegen die Bedenken gegenüber der fachlichen Kompetenz und/oder der persönlichen Integrität vorlagen. In die erste Kategorie wurden 18 der insgesamt 28 überprüften Hochschullehrer eingeordnet. Bei den verbliebenen zehn Hochschullehrern, die eine negative Beurteilung erhielten, bestanden bei acht Bedenken sowohl gegenüber ihrer fachlichen Kompetenz als auch ihrer persönlichen Integrität. Je eine Person wurde nur aus fachlichen bzw. persönlichen Gründen negativ beurteilt. Mit dem Beschluss über die Abwicklung der Fakultät durch den Berliner Senat und der Einsetzung der Struktur- und Berufungskommission endete dieser Versuch einer Selbsterneuerung. Dass er zum Teil erfolgreich war, lag daran, dass von der Struktur- und Berufungskommission, die nun über das weitere Schicksal der Sektion zu entscheiden hatte, die von der PSK getroffenen Personalentscheidungen übernommen wurden. Im Unterschied zu fast allen anderen Sektionen an der Universität und auch im Unterschied zu allen anderen juristischen Fakultäten in der DDR einschließlich der Babelsberger Akademie gelang damit der Berliner Fakultät am Ende der DDR so etwas wie ein selbst beschlossener Neuanfang in der Bundesrepublik.

271

28 Hochschullehrer, 51 wissenschaftliche Mitarbeiter und 26 technische Mitarbeiter.

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Die juristische Fakultät in den Jahren 1990 bis 1993 Erinnerungen nach Aktenlage HANS MEYER

I. Die politische und rechtliche Großwetterlage . . . . . . . . . . II. Die Sondersituation Berlins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Personeller Wiederaufbau in einer etwas wirren rechtlichen und politischen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Einrichtung und Arbeit der Struktur- und Berufungskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Rahmenbedingungen eines Wiederaufbaus . . . . . . . . . VI. Studium und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Die Personalprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Lösung im Bereich der wissenschaftlichen Mitarbeiter 2. Die Lösung im Bereich der Dozenten . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Lösungen im Bereich der Professorenschaft . . . . . . . . a) Die Westberufungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Ostberufungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Nachlese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die politische und rechtliche Großwetterlage Nach der Implosion des politischen Systems in der DDR im Jahre 1989 und dem Beginn einer demokratischen Erneuerung der DDR durch freie Wahlen war die entscheidende Zäsur für die Situation des juristischen Fachbereichs der am 3. Oktober 1990 erfolgte Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland unter den Bedingungen des vorher ausgehandelten „Einigungsvertrages“. Er machte die Mitte 1990 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gebildeten, aber noch nicht funktionsfähigen fünf Länder zu Ländern der Bundesrepublik Deutschland und vereinte die 23 Bezirke von Berlin, also auch die von der ehemaligen DDR reklamierten Bezirke, zum Land Berlin (Art. 1 des Einigungsvertrages), das, wenn auch unter Vorbehalten,1 schon seit 1949 der Bundesrepublik angehörte. Diese Länder waren nun für ihre Universitäten zuständig. 1

Siehe Art. 23, 144 Abs. 2 GG a.F.

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Damit gelangte die im Herzen des alten Berlin gelegene und während der Zeit der Sowjetzone in Humboldt-Universität umgetaufte2 alte Berliner Universität aus der Zuständigkeit des Staates DDR in die des Landes Berlin. Im Westteil des Landes gab es eine reichhaltige Hochschullandschaft und mit der Freien Universität nicht nur eine sehr große Universität, sondern auch eine, deren Gründung eine Reaktion auf die Inpflichtnahme der alten Berliner Universität durch die kommunistischen Herrscher in der DDR war. Die wichtigste rechtliche Regelung für die Entwicklung der Juristischen Fakultät war aber der Einigungsvertrag selbst. Mit seinen direkten oder indirekten Regelungen über die Zuordnung oder Abwicklung von Einrichtungen und den Bestand von Dienst- oder Arbeitsverhältnissen haben er und die ihm folgende Rechtsprechung bis hin zum Bundesverfassungsgericht wichtige rechtliche Rahmenbedingungen gesetzt, an die das Land Berlin ebenso wie die Universität gebunden waren.

II. Die Sondersituation Berlins In mehrfacher Weise unterschied sich die politische Situation in Berlin auch und gerade im Hinblick auf das Universitätswesen von den anderen fünf mit dem Beitritt der DDR neu zur Bundesrepublik gehörenden Ländern. In ihnen war die politische Situation homogen, weil die Bevölkerung über vierzig Jahre zwar unter schlechten, aber unter gleichen politischen wie wirtschaftlichen Bedingungen gelebt hatte. Die politische Situation Berlins und seiner Bevölkerung dagegen war nach der Einigung extrem inhomogen, weil der weitaus größere Westteil jahrzehntelang unter den Bedingungen politischer Freiheit3 und wirtschaftlicher Prosperität gelebt hatte, während der kleinere Ostteil beides vermissen musste.4 Nicht nur wegen der Zahlenverhältnisse dominierte auch nach der Einigung in der tonangebenden politischen Klasse das Westpersonal. Hinzu kam ein überraschendes Phänomen. Die Aufhebung der Spaltung der Stadt hat stärker im Westen als im Osten Traumata freigesetzt. Dort suchte man nach den vielen Jahren der räumlichen Trennung von der Bundesrepublik vergeblich nach der Siegesdividende,5 hier schienen die Karten neu gemischt. Die Rückgewinnung des alten 2 Sicherlich eine der wenigen guten Entscheidungen des Systems; vermutlich fiel die Entscheidung nicht ohne Einfluss der Sowjetischen Militäradministration. 3 Einer vor allem in den Anfangsjahren gefährdeten Freiheit. 4 An der Inhomogenität änderte auch nichts, dass beide Teile aus politischen Gründen hoch subventioniert waren; dieser Tatbestand hat höchstens die Relationen zu Gunsten des Westteils verschoben. 5 Im Gegenteil hat der zu schnelle Abbau der Subventionen dem Westteil und damit ganz Berlin erheblich geschadet.

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Zentrums der Stadt – und in ihm lag an prominenter Stelle die HumboldtUniversität – konnte nur auf Kosten des Westens gehen. Nirgendwo anders in der ehemaligen DDR gab es eine Westuniversität und erst recht keine, die ihre Entstehung unmittelbar der politischen Inpflichtnahme der eigentlichen Stadtuniversität6 durch die Herrscher in der Sowjetzone verdankte. Schließlich konnte keine der alten Ostuniversitäten in der ehemaligen DDR wenigstens hoffen, einmal Hauptstadtuniversität zu werden. Diese Situation musste Bestrebungen wecken, die Freie Universität wieder an ihren Ausgangspunkt zurückkehren zu lassen, also das „Asyl“ wieder zu beenden. Und als dies nicht die Politik des Landes wurde, war eine sehr kritische Einschätzung der versuchten Rekonstruktion der Humboldt-Universität, und zwar gerade im Bereich der Jurisprudenz, vorprogrammiert. Als der Vorsitzende der Struktur- und Berufungskommission des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Humboldt-Universität auf freundliche Einladung des Dekans von Pestalozza ihm und den Institutsdirektoren der juristischen Fakultät der Freien Universität die Ziele und die Arbeit der Kommission vorstellen wollte, wurde er, bevor er noch etwas sagen konnte, von einem der Institutsdirektoren mit der Frage überfallen: „Wollen Sie eine kommunistische Kaderschmiede aufbauen?“. Bald normalisierte sich freilich das Verhältnis. Dagegen gab es während der Zeit des Aufbaus nur langsam abebbendes „politisches Feuer“ aus der zweiten Reihe von Wissenschaft und Politik, meist vermittelt über eine willige Presse.

III. Personeller Wiederaufbau in einer etwas wirren rechtlichen und politischen Zeit Die heikelsten und für Kritik immer dankbaren Fragen der Rekonstruktion einer wissenschaftlichen Einrichtung sind die Personalfragen. Wenigstens deren Rechtsgrundlagen sollten sicher sein. Das waren sie aber nicht. Selbst die Bundesregierung, die doch den Einigungsvertrag mit einem, bei allem Respekt, nicht gerade ebenbürtigen Partner geschlossen hatte, behauptete in einem Prozess vor dem Bundesverfassungsgericht, dass der Untergang der DDR deren Arbeitsverhältnisse beendet habe. Im Einigungsvertrag sei nur von einem Fortgelten der Arbeitsbedingungen (Hervorhebung vom Verfasser) die Rede.7 Dem ist das Bundesverfassungsgericht mit Verweis auf die dem Einigungsvertrag beigefügte Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A 6 Entstehungsgeschichtlich war die Berliner Universität freilich keineswegs als „Stadtuniversität“ gedacht, wie schon der Zusatz „zu Berlin“ anzeigt. 7 BVerfGE 84, 133, 141. Diese Formulierung von den Arbeitsbedingungen findet sich zwar im Einigungsvertrag, aber zugleich die von der Bundesregierung im Prozess offenbar unterschlagene Formulierung vom Übergang der „Arbeitsverhältnisse“.

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Abschnitt III Nr. 1 Abs. 2 nicht gefolgt. Danach bestehen nämlich die „Arbeitsverhältnisse“ bei auf den Bund überführten Einrichtungen nunmehr zum Bund und nach Abs. 3 derselben Vorschrift bei Landesaufgaben zum Land.8 Damit waren die Probleme aber nicht gelöst, weil der Einigungsvertrag in Art. 13 Abs. 2 auch festlegte, dass das jeweils zuständige Land „die Überführung oder Abwicklung“ der Einrichtung zu regeln habe. Über die Frage, welche Folgen denn eine Abwicklung für die Arbeitsverhältnisse habe, schwieg sich der Einigungsvertrag zwar aus – Unangenehmes so platt auszusprechen ist nicht der Politiker Art –, es war aber offensichtlich gemeint, dass die Arbeitsverhältnisse auch durch „Abwicklung“ einer Einrichtung beendet werden können, wobei die Rechtsprechung richtig bemerkte, dass einer Abwicklung die mit gemeinte Auflösung der Einrichtung vorauszugehen habe.9 Es wäre mehr als verwunderlich gewesen, wenn das Land Berlin mit seiner dominanten „westlichen“ politischen Mehrheit nicht versucht hätte, diesen Weg zu gehen, um Personalprobleme elegant zu lösen. Die in seinen Augen schlimmsten Fachbereiche der Humboldt-Universität sollten „abgewickelt“ werden; dazu zählte natürlich der Fachbereich (Sektion) Rechtswissenschaft.10 Bei Erfolg wäre man zu einer echten Neugründung gekommen, denn man wollte durchaus neben der Freien Universität einen weiteren juristischen Fachbereich in der Stadt haben. Das Problem der am 22. Dezember 1990 zum 1. Juni 1991 ausgesprochenen Abwicklung war aber ein Doppeltes, nämlich ob man bei Aufrechterhaltung einer Einrichtung im Sinne des Einigungsvertrages, also der Universität, auch Teilbereiche der „Einrichtung“, also Fachbereiche, abwickeln könne und ob der Einigungsvertrag die Abwicklung einer Einrichtung erlaubt, die man sofort wieder errichten will. Nun kennt zwar der Einigungsvertrag in Art. 13 den Begriff der Teileinrichtung. Er wird aber nur benutzt für Einrichtungen des Zentralstaates DDR, die aus mehreren Teileinrich8

BVerfGE 84, 133, 147 und bestätigend in der Folgeentscheidung BVerfGE 85, 360,

373. 9 Siehe z.B. das Berliner Oberverwaltungsgericht in einer sehr gründlich begründeten Entscheidung, OVGE Bln. 19, 157, 160 m.w.N. 10 Wobei man sicherlich von einem bedeutenden Beitrag der Jurisprudenz oder wenigstens der Juristen bei der Stabilisierung und Verteidigung des kommunistischen Staates ausging, eine Vorstellung die, wie sich herausstellte, mit der Wirklichkeit in der DDR weniger zu tun hatte, als die Beteiligten wohl selbst glaubten. Die Abneigung der Herrschenden gegen das Recht ging sogar so weit, 1958 zu beschließen, das Verwaltungsrecht abzuschaffen. Das ließ sich natürlich nicht durchhalten. Logischer wäre im Übrigen bei der durchgehenden „Verstaatlichung“ vor allem des gesamten Wirtschaftssektors gewesen, das gesamte Recht zum Verwaltungsrecht zu erklären. Zu den übrigen Fachbereichen oder Sektionen gehörten unter anderen natürlich die Wirtschaftswissenschaften, die Philosophie, die Geschichtswissenschaften und die Erziehungswissenschaften. Es ist nicht ohne Ironie, dass gerade die nur für kurze Zeit abgewickelten und dann mit Hilfe von Struktur- und Berufungskommissionen reformierten Fachbereiche bald hohes Ansehen auch im Westen genossen.

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tungen bestehen, „die ihre Aufgaben selbständig wahrnehmen können“ und nach der föderalen Kompetenzordnung des Grundgesetzes der Funktion nach verschiedenen Ländern zuzuordnen sind. Jedes Land wird dann für „seine“ Teileinrichtung zuständig. Sind die Voraussetzungen der Selbständigkeit nicht gegeben, sind die beteiligten Länder gemeinsam für die Einrichtung verantwortlich; sie haben also auch über Überführung oder Abwicklung zu entscheiden. Abgesehen davon, dass diese Regel also nicht passt, dürfte auch mehr als zweifelhaft sein, ob ein Fachbereich einer Universität, also ein Wissenschaftsbereich, im Sinne dieser Regel als „selbständig“ zu betrachten wäre. Name und Geschichte der Universitäten sprechen eine andere Sprache. Noch zweifelhafter war, ob man eine „Teil“-Einrichtung zum Zwecke der Wiedereinrichtung abwickeln könne. Der Vorwurf war unmittelbar einsichtig, damit umgehe man ebenso schlicht wie unzulässig die differenzierten Kündigungsregeln, die der Einigungsvertrag auch vorsah. Die Universität wehrte sich und schon im einstweiligen Rechtsschutz obsiegte sie beim Oberverwaltungsgericht.11 Das konnte sich auf die zwischenzeitliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berufen, die in der Leitentscheidung zum Problem, dem Warteschleifeurteil, bei der Behandlung der Grundrechtsansprüche aus Art. 12 GG unter anderem formulierte „Angesichts dieser Lage konnte der Gesetzgeber für Beschäftigte in Einrichtungen, die nicht mehr benötigt werden (Hervorhebung durch Verfasser), eine generelle Beendigung der Arbeitsverhältnisse nach mehrmonatigem Ruhen vorsehen, wenn soziale Härten gemildert werden“ (BVerfGE 84, 133, 153/154).12 Ein juristischer Fachbereich wurde aber nach dem Willen des Landes auch an der Humboldt-Universität benötigt. Das erledigte allerdings nicht alle Schwierigkeiten. Der Einigungsvertrag sah auch besondere Kündigungsgründe für die öffentliche Verwaltung vor; sie konnten zur ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung führen. Eine ordentliche Kündigung konnte auf mangelnde fachliche Qualifikation oder persönliche Eignung für die Stelle oder deren ersatzlose Auflösung sowie bei mangelndem Bedarf ausgesprochen werden, eine außerordentliche vor allem auf eine Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gestützt werden, falls deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint (Anlage I Kapitel XIX Abschnitt III Abs. 4 des Einigungsvertrages). Das klingt umfassend, hat aber seine Tücken. Bei der Transformation des juristischen Fachbereichs spielten aber die Regeln, wie zu zeigen sein wird, erstaunlicher Weise nicht die Hauptrolle. 11

OVGE Bln. 19, 157, 169. Für die unter der Ägide der Akademie der Wissenschaften der DDR stehenden Forschungseinrichtungen fiel ein späteres Urteil des Gerichts für die Länder günstiger aus (BVerfGE 85, 360, 375 ff.), wenn auch hier Einschränkungen der großzügigen Regelung des Art. 38 Einigungsvertrag gefordert werden (a.a.O. 377 ff.). 12

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Insbesondere bei der Bewertung einer Tätigkeit für das MfS wurde zunächst, der politischen Stimmung entsprechend, grundsätzlich und unter Billigung jedenfalls der Untergerichte die Kündigung ausgesprochen, bis sich nach und nach die vom Einigungsvertrag verlangte differenzierte Betrachtung13 durchsetzte.

IV. Einrichtung und Arbeit der Struktur- und Berufungskommission Der Wissenschaftsrat hatte empfohlen, zur Vorbereitung des Wiederaufbaus der Fachbereiche in der ehemaligen DDR Struktur- und Berufungskommissionen einzurichten. Die Entscheidung dazu fiel nach der Abwicklungsentscheidung der Gesamtberliner Landesregierung durch die sogenannte Sechserkommission, die als Vorläuferin des Kuratoriums der Universität agierte.14 Sie war paritätisch zwischen Land und Universität besetzt. In ihrer gleichzeitigen Eigenschaft als Personalkommission besaß der Senator als Vorsitzender aber einen Stichentscheid, so dass gegen die staatliche Seite keine Personalentscheidung getroffen werden konnte. Nach der Aufhebung der Abwicklungsentscheidung durch das OVG Berlin vom 5. Juni 1991 amtierte die Struktur- und Berufungskommission nur beratend für den weiterhin aktiven Fachbereichsrat. Aber schon am 27. Juli 1991 verfügte das Ergänzungsgesetz zum Berliner Hochschulgesetz (GVBl. 1991, 176) die Überleitung schon bestehender Struktur- und Berufungskommissionen (§ 9 Abs. 4 Satz 4), nannte als ihre Aufgabe die „Vorbereitung von Entscheidungen über die Neustrukturierung von Forschung und Lehre sowie zur Vorbereitung von Habilitationsentscheidungen und von Berufungsvorschlägen für die erstmalige Besetzung von Professorenstellen“ (§ 9 Abs. 1). Den Beschluss über die Vorschläge sollten aber im Normalfall die nach dem Berliner Hochschulgesetz zuständigen Gremien treffen. Solange aber die Mehrheit der Hochschullehrer in den entscheidenden Gremien nicht aus neu berufenen oder übergeleiteten Ost-Professoren bestand, sollte die Kommission selbst entscheiden (§ 9 Abs. 5 Satz 2). Dies war während der längsten Zeit der Kommissionsarbeit der Fall. Ohne Rücksicht auf die sich wandelnde Rechtsgrundlage ihres Handelns hat sich die Kommission von Anfang bis zum Schluss gleichwohl wie ein empfehlendes Gremium verstanden und so gehandelt. Das war allein sinnvoll und garantierte der Kommission eine hohe Autorität, so dass ihre Empfehlungen 13 Es war ein HU-Fall, die causa Fink, in der das Bundesverfassungsgericht (E 96, 189– 204) dies betonte (S. Meyer Die Wiedervereinigung und ihre Folgen vor dem Bundesverfassungsgericht, FS 50 Jahre BVerfG, Band 1, 2001, 83, 123 f.). 14 Der Universität war durch Abschnitt XI A Nr. 1 des Gesetzes über die Vereinheitlichung des Berliner Landesrechts vom 28./29. September 1990 (GVB. 1990, 2119, 2130) der Status einer Kuratorialhochschule zuerkannt worden.

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immer die Zustimmung der Gremien gefunden haben. Sie konnte sich so verhalten, weil vier keineswegs selbstverständliche Bedingungen erfüllt waren. Anders als § 9 Abs. 4 des Ergänzungsgesetzes es für Struktur- und Berufungskommissionen vorsah, bestand die Kommission nicht aus drei (Alt-) Professoren des Fachbereichs, vielmehr hatte der Fachbereich schon vorher einen Platz für den Strafrechtler Horst Schüler-Springorum aus München abgetreten, so dass der Kommission mit dem zusätzlich vom Senator bestellten Arbeitsrechtler Peter Hanau aus Köln, dem Internationalprivatrechtler Klaus J. Hopt aus München und dem Staats-, Verwaltungs- und Finanzrechtler Hans Meyer aus Frankfurt (Vorsitz) vier „Westprofessoren“ angehörten und nur zwei „Ostprofessoren“15 sowie je ein Vertreter der Mitarbeiter- und der Studentenschaft des Fachbereichs.16 Gegen den Willen der Westprofessoren konnte also keine Entscheidung getroffen werden. In Wirklichkeit sind fast alle Entscheidungen einmütig gefallen. Zum zweiten war die Dekanin des Fachbereichs Mitglied der Kommission. Damit war nicht nur die unmittelbare Verbindung zu den Organen des Fachbereichs und zur Zentrale der Universität garantiert, sondern auch der notwendige Informationsfluss sichergestellt. Das war in einer Zeit, in der in jeder Hinsicht Improvisation und schnelles Handeln gefragt war, lebensnotwendig. Zum dritten kam hinzu, dass die Dekanin, eine jüngere Kollegin, außerordentlich tatkräftig, zielstrebig und effizient war und den zögerlichen Fachbereich, ohne die Vergangenheit zu leugnen, erst auf einen Reformkurs gebracht hatte.17 Es war nicht verwunderlich, dass sich die Angriffe aus den Westen gerade gegen sie richteten. Viertens schließlich war es für die Kommissionsarbeit außerordentlich entlastend, dass der Fachbereich unter Einschluss von vielen Westkollegen schon vorher in seiner Personal- und Berufungskommission (PSK) das gesamte vorhandene Personal auf freiwilliger Basis einer sehr intensiven politischen, zum Beispiel aber auch die Lehrfä15 Die Professoren Rosemarie Will sowie Artur Wandtke. Im Laufe der Kommissionsarbeit ist mit Bernhard Schlink ein weiterer Westkollege aus dem Kreis der Erstberufenen an dessen Stelle getreten. Die Assistentin des Vorsitzenden Yvonne Ott (Frankfurt) war die Sekretärin der Kommission. 16 Der Oberassistent Joachim Rudolph aus dem Institut für gewerblichen Rechtsschutz und der Student Thorsten Lange. 17 Nicht untypisch ist ihr sehr früher Versuch, als frisch gewählte Dekanin einen Standpunkt für die kommende Auseinandersetzung zu gewinnen: Zur anstehenden Evaluierungsphase gehöre auch, „die Mitarbeiter zu motivieren und ihnen über Schwierigkeiten hinwegzuhelfen. Dazu gehöre auch, den Mut zu geben für die Auseinandersetzung mit der eigenen Mitgliedschaft in der SED und das Bekenntnis zur mehr oder weniger bedingten Unterstützung des Systems. Es komme nicht darauf an, sich als Widerstandskämpfer oder als Opfer zu profilieren, weil mit wenigen Ausnahmen die geistige Elite die systemtragende Kraft war. Dazu muss Stellung bezogen werden, ohne jedoch von vorne herein das Recht auf unsere hiesige Tätigkeit aufzugeben“ (Protokoll der Kleinen Dienstbesprechung vom 19. November 1990).

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higkeit einschließenden Überprüfung unterzogen hatte.18 Danach waren einige Personalfragen leichter zu klären oder erledigten sich sogar. Die Kommission hat ihren Auftrag umfassend verstanden. Es ging nicht nur um die Berufung von Professoren oder andere personelle Entscheidungen. Es ging auch um den Sitz des Fachbereichs, um die bibliothekarische Ausstattung, um anstehende Lehrprobleme – immerhin musste der Fachbereich bei laufendem Lehrbetrieb reorganisiert werden. Man musste eine Vorstellung von der Größe des Fachbereichs gewinnen, von den notwendigen Fachrichtungen und von möglichen Spezialitäten. Konkurrenzprobleme mit benachbarten Struktur- und Berufungskommissionen waren zu klären. In knapp zwei Jahren, Anfang Februar 1993, hatte die Kommission ihre Aufgabe nach dreizehn zweitätigen Sitzungen in Berlin als erste der Struktur- und Berufungskommissionen an der Humboldt-Universität abgeschlossen. Das war eine erhebliche Belastung für die auswärtigen Mitglieder, die in ihren Heimatuniversitäten das volle Programm zu absolvieren hatten und gelegentlich auch in Berlin in der Lehre mithalfen. Der Vorsitzende hatte weitere 60 Tage notwendige Gespräche in Berlin geführt, mit dem damaligen Senator Erhardt, der den Aufbau des Fachbereichs im Rahmen der politisch zu nehmenden Rücksichten tatkräftig unterstützte, seinem Abteilungsleiter und dem zuständigen, zum Teil chaotischen, aber sehr pfiffigen Referenten Groscurth, mit dem Rektor und später der Präsidentin, mit der Landeshochschulstrukturkommission, dem Kanzler, dem Leiter einer doch insgesamt sehr knarrenden Personalverwaltung sowie einem außerordentlich zögerlichen Leiter der Bauverwaltung.

V. Die Rahmenbedingungen eines Wiederaufbaus Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für einen lebendigen Fachbereich als wissenschaftliche Einheit ist, dass er geschlossen und einigermaßen ansprechend untergebracht ist. Beide Bedingungen waren zu Beginn der Arbeit nicht gegeben, wobei man berücksichtigen muss, dass es zur DDR-Zeit nicht üblich war, dass ein Professor sein eigenes Arbeitszimmer hatte. Standorte gab es im Hauptgebäude, in der Marienstraße und in der Tucholskystraße. Es gelang unter Zustimmung des Senators, die Universitätsleitung davon zu überzeugen, dass die alte königliche Bibliothek am Bebelplatz, die von den Berlinern wegen ihrer hochbarocken Fassa18 Zur Arbeit der PSK siehe den vorstehenden Beitrag von Rosemarie Will. – Der Vorsitzende der Kommission hat vor seiner Bestellung als Gast an einer der abschließenden Sitzungen teilgenommen, auf der die Untergruppen ihr Votum zur persönlichen und sachlichen Qualifikation eines jeden abgegeben haben und ist dabei auf den ebenso verwegenen wie nicht durchführbaren, aber naheliegenden Gedanken gekommen, das müsse man im Westen auch einmal machen.

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de19 „Kommode“ genannt wurde, und das zur Straße unter den Linden anschließende Alte Palais und das folgende Gouverneurshaus der ideale Sitz eines Fachbereichs seien, von dem nach den westlichen Erfahrungen zu erwarten sei, dass er bald zu den großen und wohl auch bedeutenden rechtswissenschaftlichen Fachbereichen Deutschlands gehören würde. Der Gebäudekomplex war ausreichend und verfügte über die notwendige Stellfläche für eine große Fachbereichsbibliothek. Die vorhandenen „Fremdnutzer“ würden mit der Zeit wohl weichen.20 Diese Standortentscheidung hat gelegentlich geholfen, den letzten Ruck bei der Annahme eines Rufes zu geben. Wer führt nicht gerne auf seinem Briefbogen die Adresse „Unter den Linden“ auf? So wichtig die Grundentscheidung war, so sehr war sie mit Hypotheken belastet. Die erste bestand darin, dass das Haus Hohenzollern Restitutionsansprüche geltend machte. Dem hätte man mit Gelassenheit zusehen können, wenn die Tatsache allein nicht ein Grund für die Bauverwaltung der Universität gewesen wäre, nichts Wesentliches in die Renovierung des Komplexes zu stecken und auch provisorischen Lösungen sehr reserviert gegenüber zu stehen. Sehr viel gefährlicher war der zwischenzeitliche Wunsch des Bundespräsidenten von Weizsäcker, seinen Dienstsitz in die Mitte Berlins und damit vom alten Westen her gesehen in den Ostteil der Stadt zu verlegen. Viele Bauten boten sich dazu nicht an und es ist kein Wunder, dass die Kommode zunächst in sein Blickfeld geriet. Sie war im Krieg im Innern völlig zerstört worden und von der DDR in den sechziger Jahren wieder hergerichtet worden. Sie befand sich aber in einem Zustand, der modernen Anforderungen nicht genügen konnte. Der Plan wurde fallen gelassen; man warf das Auge dafür auf den Komplex Kronprinzenpalais und Kronprinzessinnenpalais jenseits der Staatsoper. Auch das drohte Folgen für die Kommode zu haben, weil nun ein Ausweichquartier für das Cafe im Opernpalais gesucht wurde. Der Bundespräsident ließ seinen Plan fallen und zur 200Jahrfeier der Universität im Jahre 2010 wird die Juristische Fakultät, wie sie sich seit 1993 nennen darf,21 in einem der schönsten Gebäudekomplexe der Republik untergebracht sein.22 19 Es handelt sich um eine Form politischer Architektur. Während man in Berlin und auch am späteren Bebelplatz schon klassizistisch baute, wurde die Bibliothek nicht nur noch im hochbarocken Stil ausgeführt, sondern auch noch nach der Manier der Wiener Hofburg, die Friedrichs Rivalin Maria Theresia fertig zu stellen nicht in der Lage war. 20 Die letzten Räume werden wohl nach zwanzig Jahren von den Erziehungswissenschaften geräumt sein. 21 Ein Titel, der ihr der Senator auf Bitten des Vorsitzenden der Kommission nach Abschluss der Kommissionsarbeit mit dem nach der damaligen Rechtslage notwendigen Zusatz gegeben hat „mit den Rechten eines Fachbereichs.“ 22 So lange wird es freilich auch dauern, bis nicht nur der äußere, sondern auch der innere Zustand der Gebäude ihrem historischen Rang entspricht. An zwanzig Jahre hatte die Kommission freilich damals nicht gedacht.

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Für die Entscheidung zu einer Rufannahme kann auch die Einschätzung der Stadt, in der die Universität liegt, eine Rolle spielen. Nicht jede Bewerbung ist von Anfang an mit dem Willen verbunden, einem Ruf auch zu folgen, da auch die gewünschte Rückverhandlung an der eigenen Universität nach den nicht immer feinen Usancen einen Grund für die Bewerbung abgeben kann. Für die erste Welle der Bewerbungen war ersichtlich der Wille ausschlaggebend, an einer Nahtstelle zwischen Ost und West den auch inneren Einigungsprozess mit zu gestalten. Einige der Berufenen hatten schon bei den „Runden Tischen“ in der Endzeit der DDR mitgemacht, Vorlesungen über das neue Recht gehalten oder in der Personal- und Berufungskommission des Fachbereichs mitgewirkt. Für die späteren mag stärker die Attraktion einer Großstadt mit einem weitläufigen kulturellen Angebot und angenehmen Lebensbedingungen stärker zu Buche geschlagen sein. Für einen Juristen aber musste als ein wichtiges Datum die – mühsame und knappe – Entscheidung für Berlin als Regierungssitz wirken. Neben der Tradition der Universität war dies – und wird es bleiben – ein wichtiger Grund für die Bewerbung und die Annahme des Rufes. Zu den wichtigen Voraussetzungen einer wissenschaftlichen Arbeit gehört trotz der elektronischen Möglichkeiten eine gute bibliothekarische Ausstattung. Was die Kommission in der alten Sektion Rechtswissenschaft der Humboldt-Universität vorfand, war die Karikatur einer Bibliothek. Das ganze Misstrauen der Herrschenden gegenüber den Juristen zeigte sich in deren erbärmlichem Zustand. Produziert wurde nur unter den Bedingungen der Zensur, also ließ man es möglichst. Und selbst die kleinsten Schriften wurden regelmäßig nur im Kollektiv verfasst, auch eine Form des Schutzes des Einzelnen. Ausländische, vor allem westdeutsche Literatur war nur denjenigen zugänglich, die sich von ihrer Ausrichtung her mit internationalem oder ausländischen Recht befassen mussten.23 Bei dieser Situation blieben als Notlösung nur der Aufbau relativ großzügiger Handbibliotheken der Professoren und die Konzentration der Bibliotheksanschaffungen zunächst auf Kommentare und Studienliteratur. Erst im Laufe der Zeit ist es mit sehr großzügiger Unterstützung der Siemens-Stiftung gelungen, eine passable Fakultätsbibliothek zu schaffen. Schließlich war eine wichtige Rahmenbedingung der personellen Erneuerung der Personalrahmen, der der Fakultät für Professuren zugestanden wurde. Hier ging es einmal um die Zahl der Professorenstellen, zum anderen um ihre Wertigkeit, ob sie also der Besoldungsgruppe C 4 oder C 3 zugeordnet waren, zum dritten um die Zuordnung der Ostkollegen und damit zusammenhängend um den sogenannten „Überhang“. Die notwendigen Auseinandersetzungen spielten sich nicht nur zwischen der Universität und 23

Hier war auch die Publikationslage erheblich besser.

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dem Land, sondern innerhalb der Universität zwischen den Fachbereichen und schließlich mit den Zentralorganen der Universität, die darauf zu achten hatten, dass nicht einzelne Fachbereiche zu Lasten anderer die wertvolleren C 4-Professuren im Übermaß beanspruchten. Es gelang, zunächst 31 C-Stellen für Professoren zu reklamieren und später noch eine 32. Stelle für Dienstleistungen an den Fachbereich Wirtschaftswissenschaften. Das entsprach im Vergleich mit der Ausstattung im Westen einem großen Fachbereich. 26 Stellen davon sollten C 4-Stellen und 2 immerhin noch C 3/4-Stellen sein. Das war ein hoher Anteil, der im Akademischen Senat zu heftigen Debatten von Listen geführt hat, ohne dass die Kandidaten oder ihre Reihung im Streit waren. Letztlich konnte sich die Kommission aber mit dem Argument durchsetzen, dass ein solcher Stellenkegel auch im Westen üblich sei und den sehr guten Berufschancen von qualifizierten Juristen in der freien Wirtschaft geschuldet sei. Es spielte wohl auch eine Rolle, dass die Kommission mit der Transformation schneller als andere Fachbereiche zu einem Ende kommen konnte und auch die Zentralorgane Interesse an einem Gelingen hatten, zumal unklar war, wen die Auswirkungen einer solchen Stellenverteilung schließlich treffen würde.

VI. Studium und Lehre Neben der Umstellung des Lehrprogramms auf das neue Recht, das in den ersten Semestern der Umstellung ohne vielfältige Hilfe aus dem Westen, auch aus der Freien und der Technischen Universität, dem Bundesverwaltungsgericht und dem Justizprüfungsamt, nicht möglich gewesen wäre, mussten auch wichtige Strukturfragen entschieden werden. Das juristische Fernstudium der DDR, dessen Hauptlast der Fachbereich trug, wurde angesichts der nicht wenigen Neugründungen juristischer Fachbereiche in der ehemaligen DDR und der sowieso vorhandenen Schwierigkeiten aufgegeben. Die Sektion Kriminalistik, die den Anschluss an den Fachbereich suchte, verband eine auf den Beruf der Kriminalpolizei, der übrigen Polizei und der Staatssicherheit bezogene Rechtsausbildung mit einer technischen Ausbildung. Die Nähe zum MfS und die Konkurrenz zur nichtuniversitären Ausbildung der höheren Polizeioffiziere in Westberlin sprachen gegen die Weiterführung einer an sich bedenkenswerten interdisziplinären Ausbildung. Eine Spezialität des Fachbereichs war das Aufbaustudium im gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht. Gespräche der Kommission beim Deutschen und Europäischen Patentamt, beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht und bei der Bundespatentanwaltskammer bewogen die Kommission dazu,

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die Weiterführung für einige Jahre vorzuschlagen, um erst nach einer Evaluation eine endgültige Entscheidung zu fällen.24 Das normale Jura-Studium konnte in der DDR nur jahrgangsweise aufgenommen werden und dauerte vier Jahre. Die Aufnahmequote war am Bedarf an Richtern, Rechtsanwälten und Notaren ausgerichtet und betrug durchschnittlich 180. Da auch die Assistenten in die Lehre einbezogen waren, war das Betreuungsverhältnis dem schulischen angenähert. Die Lehre wurde sofort auf das neue Recht umgestellt und die Studenten des vierten Jahres hatten das Privileg, im Herbst 1991 noch eine Diplomprüfung abzulegen mit dem Recht danach in den Referendardienst einzutreten. Die Prüfung bestand aus einer Diplomarbeit, die von Ostkollegen gestellt war und bewertet wurde und einer mündlichen Prüfung, an der zwei West- und zwei Ostprüfer teilnahmen. Der Prüfungsstoff war beschränkt. Nach einer solchen Prüfung fragte der beteiligte Präsident des Justizprüfungsamtes erstaunt, was machen wir nur falsch, wenn bei uns die Studenten vier bis sechs Jahr studieren und nicht besser sind als die, die das neue Recht nur eine Jahr lang gelernt haben. Tatsächlich wurde nach der Wende sehr zielstrebig studiert und die in der Ostzeit gelegte Basis für das juristische Handwerk war offensichtlich solide genug.

VII. Die Personalprobleme Von außen konnte es so scheinen, als sei es bei den anstehenden Personalentscheidungen nur um die Frage gegangen, ob eine Person fachlich qualifiziert und persönlich integer ist. In Wirklichkeit war ein gravierendes dreifaches Strukturproblem vorgelagert. Zum einen war die personelle Ausstattung im Verhältnis zu westlichen Fachbereichen25 nicht nur in Anbetracht der sehr limitierten Studentenzahlen außerordentlich üp24 Das ist das einzige Feld, auf dem versucht wurde, die Kommission bei einer Personalentscheidung von außen unter Druck zu setzen. Daran beteiligten sich der Direktor des Max-Planck-Institutes ebenso wie ein ehemaliger Ministerialdirektor des Bundeswirtschaftsministeriums. Als die Kommission gleichwohl für die Übernahme des Professors votiert hatte, weil seine wissenschaftliche Qualifikation außer Zweifel stand, erhielt sie einen Brief des ersten und schließlich von Honecker ausgewiesenen ARDKorrespondenten in der DDR mit dem Hinweis, es handle sich um einen entfernten Verwandten. Er habe zu ihm keinen Kontakt aufgenommen, um ihn nicht zu gefährden. Bei der Durchsicht der eigenen Stasiakten habe er entdeckt, dass sein Verwandter mehrmals massiv von der Stasi unter Druck gesetzt worden sei, für sie gegen ihn den informellen Mitarbeiter zu spielen. Erst die Drohung, das in seinem Institut publik zu machen, führte zum Verzicht der Staatsicherheit, die „immer noch Reste kleinbürgerlichen Bewusstseins“ konstatierte. 25 Lässt man die auch in diesem Punkte wegen der hohen Subventionen eine Sonderstellung einnehmende FU außer Betracht.

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pig.26 Zum zweiten war der Anteil der Dozenten, die zudem durchweg unbefristet angestellt waren, entgegen dem normalen Aufbau des Lehrkörpers an einem westlichen Fachbereich fast so hoch wie der der Professoren. Und zum dritten hatte der akademische Mittelbau regelmäßig unbefristete Stellen. Auf dem Hintergrund der Entscheidung des Einigungsvertrages, bestehende Arbeitsverhältnisse mit dem festgelegten Status weiterlaufen zu lassen, musste das zu einer Kollision mit den Bestrebungen der Kommission führen, auch personell einen anspruchsvollen Fachbereich zu schaffen. Eine wesentliche Entlastung hatte die noch vom alten Fachbereich eingerichtete Personal- und Strukturkommission gebracht.27 Sie hat sich im Wesentlichen auf die Evaluation des vorhandenen wissenschaftlichen wie nichtwissenschaftlichen Personals konzentriert. Mit den Professoren Hanau, Frau Markovits, Nordemann, Peter Schneider und Schüler-Springorum und dem Präsidenten des Bundespatentamtes Häußler gegenüber nur einer Professorin und einer Dozentin aus dem alten Fachbereich dominierten in der Professorenschaft die Westmitglieder. Eine Reihe der nicht wenigen negativen Voten führten zu Aufhebungsverträgen oder Kündigungen. Teilweise war das Personal auch in einem Alter, in dem man sich die Umstellung auf das neue Recht nicht mehr zumuten wollte. Das gleichwohl noch vorhandene Personal blieb aber zunächst in der durch den Einigungsvertrag geschützten Rechtsstellung. 1. Die Lösung im Bereich der wissenschaftlichen Mitarbeiter Am schwierigsten schien die Lösung im Bereich der wissenschaftlichen Mitarbeiter. Kündigungen nach den Regeln des Einigungsvertrages versprachen, wenn überhaupt einen, so doch keinen schnellen Erfolg. Andererseits waren Westprofessoren kaum zu gewinnen, wenn sie nicht wenigstens einen Mitarbeiter selbst auswählen konnten. Eine Weiterführung auf unbefristeten Stellen hätte zudem der Notwendigkeit, Mitarbeiterstellen als Nachwuchsund Qualifikationsstellen zu nutzen, nicht Rechnung tragen können. Das ist aber für eine lebendige Fakultät unabdingbar. Von 53 Mitarbeitern, die Ende 1990 noch vorhanden waren, hatten 40 unbefristete Stellen. Die Kommission hat denjenigen, für die nach der Personal- und Strukturkommission ein Habilitationsvorhaben sinnvoll erschien, anlässlich der Umstellung auf BAT-Ost einen Dreijahresvertrag angeboten und denjenigen, für die eine positive Promotionsprognose gestellt worden war, einen Zweijahresvertrag, 26 Das entsprach der Strategie der DDR, Arbeitslosigkeit zu vermeiden und lieber Überbesetzungen in Kauf zu nehmen. Als „Kompensation“ für die Staatskasse war die Entlohnung freilich bescheiden. 27 Siehe die abschließenden Ausführungen des vorstehenden Beitrag von Rosemarie Will.

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in beiden Fällen mit Verlängerungsmöglichkeit wie im Westen. Den Übrigen wurde ein Einjahresvertrag angeboten, damit sie sich in dieser Zeit nach einer anderweitigen Beschäftigung umsehen könnten. Diesem Konzept haben die Betroffenen ganz überwiegend zugestimmt, was die Kommission als ein erfreuliches Zeichen von Selbstbewusstsein gewertet hat. In der Universität führte das freilich dazu, dass Berufungslisten der Kommission zweimal im Akademischen Senat zurückgewiesen wurden, nicht etwa wegen der Kandidaten oder ihrer Reihung, sondern weil vor allem die Mittelbauvertreter eine präjudizierende Wirkung der Kommissionspolitik für den übrigen Universitätsbereich befürchteten.28 Die Konsequenz dieser Politik war, dass nur noch ein unbefristeter Vertrag und 29 befristete Verträge übrig blieben, die im Wesentlichen 1993 und 1994 ausliefen. Das war im Verhältnis zu dem geplanten stufenweisen Aufbau der Professuren fast ideal. 2. Die Lösung im Bereich der Dozenten Ende 1990 waren noch 18 Dozenten am Fachbereich tätig. Neben der Dissertation A hatten sie eine Dissertation B geschrieben und verteidigt. Sie hatten Lebenszeitstellen. Das Berliner Hochschulrecht sah zwar auf sechs Jahre begrenzte Dozentenstellen vor; nur in besonderen Ausnahmefällen war eine Ernennung auf Lebenszeit möglich. Die Westberliner Praxis hat davon aber keinen Gebrauch gemacht. Auch die Kommission sah keinen Sinn darin, solche Stellen einzurichten. Sie dienen nur dazu, Privatdozenten, die keinen Ruf erhalten, noch zu halten und verleiten dann dazu, unter dem sozialen Druck die Stelle später zu entfristen. Von den 18 Dozenten stellten sich zwei der Überprüfung durch die Personal- und Strukturkommission des Fachbereichs nicht und schieden aus, bei drei Dozenten führte das negative Ergebnis der Überprüfung zu Aufhebungsverträgen und bei weiteren drei zu Kündigungen. Von den restlichen zehn positiv Evaluierten schlossen zwei weitere Aufhebungsverträge. Den verbleibenden acht Dozenten sollte nach dem Willen der Kommission die Chance zur Nachqualifikation gegeben werden. Vier von ihnen stimmten bei der Umstellung auf BAT-Ost fünfjährigen befristeten Verträgen zu, bei den vier weiteren wurde aus Gründen des Alters oder der Qualifikation eine Befristung bis 1994 vereinbart. Eingeholte auswärtige Gutachten führten zu einem weiteren Ausscheiden. Insgesamt waren von den sieben noch vorhandenen Dozenten alten Rechts vier spätestens 1994 und drei spätestens Mitte 1996 ausgeschieden, das Ziel der Kommission war also relativ kurzfristig umgesetzt. 28 Die Kommission war aber weit davon entfernt, Lösungen für den naturwissenschaftlichen oder medizinischen Bereich vorzuschlagen, die unter anderen Bedingungen zu arbeiten pflegen.

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3. Die Lösungen im Bereich der Professorenschaft Es war allen Beteiligten klar, dass mit der Besetzung der Professorenstellen die entscheidende Weiche für die Zukunft des Fachbereichs gestellt werden würde. Und beteiligt waren viele und aus unterschiedlichen Gründen. Es waren die vorhandene Professorenschaft, die viel verlieren konnte, und viele aus dem Westen, die sich nun eine bisher nicht vorhandene Chance ausrechneten. Es war die Konkurrenz der Freien Universität und die beharrenden Kräfte der Humboldt-Universität, die eine zu große „Überfremdung“ befürchteten. Es war der Anspruch in manchen Köpfen Berliner Politik, aus der Humboldt-Universität eine bessere Freie Universität zu machen. Es war bei einigen auch die Hoffnung, die im Westen nicht durchsetzbaren Reformen wenigstens hier zu verwirklichen. Eine ruhige Betrachtung der Situation, der von ihr nicht zu beeinflussenden Rahmenbedingungen und der Chancen führten die Kommission fast zwangsläufig zu einer ambitionierten, aber auch realistischen Politik. Einen reinen Westfachbereich aufzubauen verbot sich ebenso, wie die Transformation allein mit Ostpersonal zu versuchen. Wenn schon nicht der politische Verstand die Kommission zu dieser Erkenntnis hätte kommen lassen, so wäre es doch die Tatsache gewesen, dass die Transformation an einem lebenden Organismus vorzunehmen war und auf Zeit die Kenntnis zweier doch in vielen Punkten unterschiedlicher Rechtssysteme von Nöten war. Während der Transformation lief die Ausbildung der vorhandenen Jahrgänge an Studenten weiter. Eine Tabula-rasa-Politik war also nicht möglich. Sie entsprach auch nicht dem Willen des Landes Berlin, das zwar ursprünglich durch die Abwicklung einen anderen Kurs vorgeben wollte, dann aber wegen des Einigungsvertrages und der darauf fußenden Rechtsprechung davon Abstand nehmen musste. Es entsprach auch nicht dem Willen des zuständigen Senators, der immer das Prinzip der „Mischung“ vertrat, was nicht hinderte, dass im Einzelfall gelegentlich hartnäckiges Ringen angesagt war. Achtzehn Jahre später erscheint das alles in einem milderen Licht, zur Wendezeit ging es aber um vermintes Gelände. Trotz des Prinzips der Mischung war der Kommission aber auch klar, dass der Neuaufbau in einem wesentlichen Teil nur durch Westpersonal geleistet werden konnte. Die Vertrautheit mit dem nun auch in der ehemaligen DDR geltenden „westlichen“ Rechtsstoff, die stärker der Publikation zugewandte und daher der öffentlichen Kritik ausgesetzte Arbeitsweise29 im Westen und der zum Teil starke internationale Austausch waren ein Vorteil, 29 Das Misstrauen der Politik gegenüber den Juristen zeigte sich auch in dem Überprüfungsvorbehalt bei juristischen Publikationen, der diese zu einer Ausnahmeerscheinung in der DDR machte. Die Personal- und Strukturkommission des Fachbereichs hat denn auch bei den von ihr vorgenommenen Überprüfungen ausdrücklich gebeten, „Schubladenpublikationen“ mit einzureichen.

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der auch durch intensives Nachholen nie ganz aufgeholt werden kann.30 Daher stellte sich die Kommission nur die Frage des Maßes der Mischung und die Kriterien für die Auswahl des vorhandenen Personals. a) Die Westberufungen Mitte Mai 1991, schon bald nach ihrer Konstituierung, hat die Kommission nach Billigung der zuständigen Gremien sieben C 4-Professuren im Wege einer Sammelausschreibung ausgeschrieben. Die fachliche Ausrichtung war sehr allgemein gehalten, umfasste aber die großen Rechtsgebiete in den einzelnen Fachgebieten. Es gingen über 200, zum Teil sehr qualitätsvolle Bewerbungen ein,31 so dass die Kommission, die zu Gunsten der Universität und aus eigenem Interesse eine zügige Erledigung verfolgte, auf Anhörungen verzichtete, da sie auf viele bekannte Namen zurückgreifen konnte. Da keines der Mitglieder der Kommission sich beworben hatte, entfiel auch der Sinn, auswärtige Gutachten einzuholen.32 Die Westprofessoren der Kommission fühlten sich zudem in ihrem Fach als auswärtige Gutachter. Vier der sieben Erstplazierten haben den Ruf angenommen, nämlich die Professoren Hasso Hofmann, Würzburg (Grundlagenfach und öffentliches Recht), Johannes Hager, Ingolstadt/Eichstädt (Zivilrecht), Detlef Krauß, Basel (Strafrecht) und Bernhard Schlink, Bonn/Frankfurt (Öffentliches Recht). Auf den anderen Listen wurden die Rufe von den Professoren Christian Kirchner, Hannover (Wirtschaftsrecht), Michael Kloepfer, Trier (Öffentliches Recht) und Hans-Peter Schwintowski, Passau (Zivilrecht) angenommen. Die Unsicherheit der sächlichen wie personellen Ausstattung ebenso wie der Unterbringung der Professuren und die Schwierigkeiten einer mit Berufungsverhandlungen nur in der Spitze bewanderten Verwaltung waren einige der Hemmnisse, mit denen sich die Kollegen konfrontiert sahen; die Senatsverwaltung hat gelegentlich geholfen. Andererseits konnten die Kollegen ihre Erfahrungen ausspielen. Der den Umständen nach glückliche Auftakt, veranlasste die Kommission, im September 1991 eine weitere Sammelausschreibung von 17 Professorenstellen zu veranlassen, davon waren 11 Stellen für Westprofessoren vorgesehen. Um zu verhindern, dass die bisher nicht berücksichtigten Personen der ersten Ausschreibung sich erneut mit allen Unterlagen bewerben, wur30 Es ist ein Unterschied, ob man einen Rechtsstoff lernt oder ob man seine Entstehung und Entwicklung miterlebt. 31 Also jenseits der zu erwartenden Bewerbungen von Inhabern einer C 3-Stelle, von Privatdozenten und von Fachhochschulprofessoren. 32 Wenn das nicht sowieso eine der überflüssigen und wertvolle Zeit und Kraft bindenden Übungen im Berufungswesen ist. Nach den Erfahrungen werden die Gutachter danach ausgesucht, ob sie die Liste akzeptieren. Worin soll der Erkenntniswert liegen? Die Fakultät weiß sowieso Bescheid und die Landesverwaltung ist regelmäßig ohne Expertise in der Sache.

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den sie gebeten, einen eventuellen Rückritt von der Bewerbung zu erklären. Die mittlerweile gefallene Entscheidung für den Regierungssitz zu Gunsten Berlins gab einen neuen Schub, so dass für die 11 Stellen 287 zum Teil sehr gehaltvolle Bewerbungen vorlagen. Ein Problem machten die verfügbaren C 3-Stellen. Die Kommission musste aus Qualitätsgründen, aber etwas widersprüchlich Wert darauf legen, nur Kandidaten zu nehmen, von denen sie befürchten musste, dass sie zu Gunsten einer C 4-Stelle den Fachbereich bald verlassen würden. Tatsächlich war das bei den Berufenen Jost, Herzog und später Neumann auch der Fall. Das Verfahren wurde wie bei der ersten Gruppe der Berufungen praktiziert und führte zu den erfolgreichen Berufungen von Thomas Raiser, Gießen (Grundlagenfach), Ulrich Battis, Hagen, Alexander Blankenagel, Würzburg und Volker Neumann, Frankfurt (Öffentliches Recht), Axel Flessner, Frankfurt, Fritz Jost, Hannover/FU Berlin, Eberhard Schwark, Bochum und Christine Windbichler, Freiburg (Zivil- und Wirtschaftsrecht) sowie Felix Herzog, Frankfurt, Klaus Marxen, Münster und Gerhard Werle, Erlangen (Strafrecht und Strafprozessrecht). Parallel liefen die Berufungsverfahren für die sechs Ostprofessoren vorbehaltenen Professuren. Sie gestalteten sich weitaus schwieriger und werden daher unter b gesondert behandelt. Noch bevor der Senator über die Vorschläge zur Berufung von Ostprofessoren entschieden hatte, beschloss die Kommission, in einer dritten Sammelausschreibung vier weitere Professuren auszuschreiben und zusätzlich die durch den Weggang von Privatdozent Jost freigewordene C 3-Stelle für Zivilrecht. Dass die Lage sich mittlerweile geändert hatte, zeigen zwei Besonderheiten. Zum einen sank die Zahl der Bewerbungen merklich und zum anderen reklamierten die schon Berufenen verständlicher Weise zunehmend ein Mitspracherecht. Zudem verfocht der Akademische Senat hartnäckiger als vorher, dass die Kommission mehr C 3-Stellen auszuschreiben habe. Der Vorsitzende der Kommission konnte nur erreichen, dass die betroffenen Stellen mit C 3/C 4 ausgeschrieben wurden, wobei die Hoffnung war, dass Rufe auf eine C 4-Stelle an andere, vor allem ostdeutsche Universitäten den Akademischen Senat bewegen würde, doch einer Besetzung nach C 4 zuzustimmen. Schon nach der ersten Ausschreibungswelle hatte die Kommission angesichts der hohen Nachfrage und der weitaus schwierigeren Situation an den anderen ostdeutschen Universitäten beschlossen, niemanden auf eine Liste zu nehmen, der einen Ruf an eine solche Universität erhalten hatte. Daran hat sie sich bis zum Schluss gehalten. In dem einzigen Fall einer Differenz unter den Westkollegen in der Kommission spielte diese Grundentscheidung eine Rolle; es stellte sich aber heraus, dass der von den neu berufenen Fachkollegen und einem Teil der Kommission favorisierte Kandidat in diesem Sinne nicht „gesperrt“ war.

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Diese dritte und letzte Sammelausschreibung führte zu erfolgreichen Rufen an Christoph Paulus, Augsburg (Zivilrecht, Insolvenzrecht), Rainer Schröder, Bayreuth (Zivilrecht, Rechtsgeschichte) und Gunnar Folke Schuppert, Augsburg (Öffentliches Recht). Dagegen scheiterten Rufe an Thomas Rauscher, München (Zivilrecht) und Ursula Stein, Frankfurt (Wirtschaftsrecht) daran, dass sie C 4-Rufe nach Leipzig und Dresden erhielten. Die Kommission als solche stellte ihre Arbeit mit ihrer letzten Sitzung am 11. Februar 1993 ein, obwohl sie nach dem Gesetz noch bis zum 31. März 1994 im Amt war. Sie sah ihre Aufgabe erfüllt und den Fachbereich in der Lage, seine Interessen selbst zu vertreten. Der Vorsitzende hatte sich vorher noch vergewissert, dass mit Christian Tomuschat, Bonn, ein renommierter Völkerrechtler gewonnen werden könne; die qualitätvolle Besetzung einer solchen Professur war auch ein besonderer Wunsch des Senators. Eine Stelle war vorhanden und die Bestrebungen der Fakultät waren erfolgreich. Nicht mehr beteiligt waren die Kommission oder der Vorsitzende an der Besetzung einer europarechtlichen Stelle mit Ingolf Pernice, Frankfurt, mit der das personelle Tableau der Westberufenen abgeschlossen war. Lässt man die Personalentscheidungen der Kommission Revue passieren, dann bestätigt sich der Eindruck, dass neben der vorrangigen Beachtung der Qualitätskriterien zusätzlich der Wunsch vorhanden war, von vorne herein auf eine altersmäßige Staffelung zu achten. Es sollte nicht der Fehler gemacht werden, wie er bei Neugründungen nahe liegt, sich vornehmlich auf eine Alterskohorte zu stützten. Die Spanne reicht von 40 Jahren bis zu 57 Jahren, ein Alter, in dem normalerweise keine Berufungen mehr ausgesprochen werden. Damit war in der zweiten Phase der Fakultät eine kontinuierliche Erneuerung garantiert, die freilich durch die zwischenzeitlichen Kürzungen auch im Bereich der Professuren gelitten hat. b) Die Ostberufungen Von einer Reihe von Personalentscheidungen war die Kommission durch die vorangegangene Arbeit der Personal- und Strukturkommission des Fachbereichs entlastet. Bei einem negativen Votum konnte die zentrale Personalund Strukturkommission der Universität angerufen werden. Sie und die Ursprungskommission haben auf Einspruch gelegentlich die Begründung, nicht aber die Entscheidung geändert. Sie führte zu Aufhebungsverträgen oder Kündigungen und zum Ausscheiden aus der Universität, meist zum 30. September 1991; in einem Fall war der Professor durch sein Mandat im Abgeordnetenhaus geschützt, ging aber während der Legislaturperiode in den Ruhestand. Die Struktur- und Berufungskommission war aber bereit, diese Entscheidungen auf Wunsch auch zu überprüfen oder neuen Hinweisen sowohl negativer als auch positiver Art nachzugehen. Da es dazu nicht kam, bleiben von den zwanzig Ende 1990 noch vorhandenen Professoren

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und Professorinnen schließlich elf übrig, über deren Zuordnung die Kommission zu entscheiden hatte. Eine Ergänzung dieser Zahl um Personen, die von der DDR in ihrer Karriere als Hochschullehrer behindert worden waren, erwies sich als nicht möglich. Die meisten hatten ihre Karriere zu früh abbrechen müssen, als dass eine Berufung aus sachlichen Gründen noch möglich gewesen wäre. Einer erklärte, für eine hauptberufliche Professorenstelle nicht mehr zur Verfügung zu stehen, da er eine Stelle in einer Landesjustizverwaltung angetreten habe. Da fünf der elf positiv Evaluierten in spätestens zweieinhalb Jahren die Altersgrenze erreichen würden oder in den Ruhestand treten konnten, hat die Kommission sich entschlossen, Ihnen bei der Umstellung auf BAT-Ost entsprechende Zeitverträge anzubieten, was angenommen wurde. In einem Fall kam es zu einer Verlängerung um weitere zwei Jahre. Das war eine glückliche Konstellation, weil der Fachbereich die Lehrkapazität in der Übergangszeit benötigte. Weitaus schwieriger gestaltete sich die Entscheidung in den sechs übrigen Fällen. Hier ging es um Berufungen. Ein Problem war die relativ schmale wissenschaftliche Ausrichtung, die einige der alten Professuren hatten. „Gerichtsverfassungsrecht“ oder „Strafverfahrensrecht“, aber auch lediglich „Rechtssoziologie“ konnten nach den Strukturvorstellungen eine Professur nicht tragen. Auch im Übrigen war die Ausrichtung segmentierter als im Westen. Für alle war zusätzlich der neue Rechtsstoff aus der alten Bundesrepublik fremd. Er war zudem weitaus umfangreicher und differenzierter, als man es gewohnt war. Die Kommission hat die normalen Regeln für Berufungen in diesen Fällen für inadäquat gehalten und sie nicht eingehalten. Nach Absprache mit der Senatsverwaltung sind in diesen Fällen Einerlisten eingereicht worden. Die Ausrichtung der einzelnen Professuren der Jurisprudenz in der DDR waren, wie gezeigt, enger als in der alten Bundesrepublik und die Möglichkeit wissenschaftlichen Arbeitens von den normalen Arbeitsbedingungen bis zu den praktisch kaum vorhandenen Publikationsmöglichkeiten war so gravierend anders, dass niemand der Ostbewerber einer echten Konkurrenz mit Westbewerbern gewachsen gewesen wäre. Die Kommission versagte sich, durch eine auf die jeweilige Person zugeschnittene Ausschreibung den Schein zu wahren. Entscheidend schien es ihr, ob bei Berücksichtigung der biographischen Vorgeschichte die Hochschullehrerqualität guten Gewissens bejaht werden könne. Die Kommission hat sich dabei nicht nur auf ihr eigenes Urteil verlassen, sondern in jedem Fall zwei, in einem Fall drei auswärtige Gutachten eingeholt. Neben dem Präsidenten des Bundespatentamtes Professor Häußer waren es die Professoren Blankenagel (Würzburg), Blomeyer (Erlangen), Kraßer (München), Randelzhofer (Berlin), Rauschning (Göttingen), Rehbinder (Zürich), Rüthers (Konstanz), Schricker (München), Stolleis

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(Frankfurt), Westen (Berlin), Manfred Wolf (Frankfurt) und Zacher (München). Keiner der Gutachter hatte sich auf eine Professur beworben oder erschien sonst als befangen. Einige der Gutachten sind Dokumente, weil sie sich unter wissenschaftlichen wie moralischen Aspekten intensiv mit der Schwierigkeit der Begutachtung auseinandersetzen und ihre Kriterien besonders deutlich offen legen.33 Die noch im Dezember 1991 eingereichten sechs Vorschläge wurden in der Senatsverwaltung nicht behandelt. Man wollte die Beantwortung der Anfragen bei der „Gauck-Behörde“ abwarten. Ein Grund war aber wohl auch, dass der in das Hochschulrahmengesetz des Bundes eingefügte § 75a für die Überleitungsregeln ein Landesgesetz forderte. Tatsächlich änderte sich zwischenzeitlich die Rechtslage, weil am 21. Juni 1992 das Berliner Hochschulpersonal-Übernahmegesetz34 in Kraft trat. Es verfügte zwar in § 2 Abs. 1, dass „die Übernahme in Ämter für Professoren und Professorinnen . . . durch Hausberufung“ erfolgt. Damit war zwar das in § 101 Abs. 5 des Berliner Hochschulgesetzes von 1990 statuierte grundsätzliche Verbot von Hausberufungen aufgehoben und damit ein rechtliches Handicap der Vorschläge ausgeräumt. Ausdrücklich wird dagegen in § 2 Abs. 1 zweiter Halbsatz des Übernahmegesetzes eine „Berufung nach Maßgabe der §§ 100 und 101 des Berliner Hochschulgesetzes“ verlangt. § 101 BerlHG geht aber in Abs. 2 grundsätzlich von einer Dreierliste, die dem Senator einzureichen ist, aus und spricht dort von „Bewerbern und Bewerberinnen“ und in Abs. 3 von der Vorlage aller Bewerbungen, was wiederum eine Ausschreibung voraussetzt, wie sie normaler Weise auch vorgenommen wird. Die Kommission hielt gleichwohl und unter Duldung der Senatsverwaltung an ihrem Verfahren und an den Vorschlägen fest. Erst Ende Oktober 1992 kam es zu einer Erörterung der Vorschläge zwischen dem Senator und dem Kommissionsvorsitzenden. Die Verhandlungen waren schwierig, weil mittlerweile im politischen Raum grundsätzliche Bedenken gegen eine Berufung von „Humboldt-Professoren“ – gemeint waren die Ostprofessoren – geltend gemacht wurden. Daraufhin hatten alle Neuberufenen sich schriftlich für eine Berufung der Vorgeschlagenen ausgesprochen und die drei Erstberufenen, Hasso Hofmann, Krauß und Schlink, in einem von ihnen erbetenen Gespräch mit dem Senator dargelegt, dass ein „gemischter Fachbereich“ die Geschäftsgrundlage ihrer Rufannahme gewesen sei. Der Einigung in einer konkreten Weise zu dienen, sei ein bestimmendes Motiv für sie gewesen und sie trauten sich das auch zu. Während des Verfahrens ergab eine Auskunft der Gauck-Behörde in einem Fall eine Belastung. Sie führte nach der allgemeinen Vorgabe der Se33 Besonders beeindruckend ist das Gutachten des Frankfurter Rechtshistorikers und Max-Planck-Direktors Michael Stolleis. 34 HPersÜG, GVBl. 1992, 2. 191.

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natsverwaltung zu einer Kündigung, die aber in der zweiten Instanz der Arbeitsgerichtsbarkeit aufgehoben wurde.35 Die Verhandlungen waren zäh. Der erzielte Kompromiss war schließlich, dass eine Berufung ins Angestelltenverhältnis auf fünf Jahre auf der Basis einer C 3-Stelle erfolgte und dass der Fachbereich rechtzeitig vor Ablauf der Frist auswärtige Gutachten als Grundlage für die Entscheidung einholt, ob und in welcher Wertigkeit eine Weiterbeschäftigung vorzusehen ist. Eine Ausschreibung der Stelle und ein Berufungsverfahren sollten nicht mehr stattfinden. Die Kommission stimmte diesem Kompromiss zu, weil er ihrer Intention entsprach, einerseits eine Art Bewährungsfrist für die Beherrschung und Vermittlung des neuen Rechts vorzusehen, andererseits aber die Chance eines Aufstiegs in eine C 4-Position nicht auszuschließen36 und die Lebenszeitposition allein von der Entscheidung des Fachbereichs abhängig zu machen. In einem Fall wollte der Senator sich aber nicht zu einer Berufung verstehen, sondern nur zu einer Übernahme nach § 4 HochschulpersonalÜbernahmegesetz. Da die übrigen Bedingungen aber gleich sein sollten, haben Vorsitzender und Kommission auch dem zugestimmt, wobei sie davon ausgingen, dass nach fünf Jahren die Differenzierung keine Bedeutung mehr haben würde, was auch der Fall war. Die offizielle und nicht sonderlich überzeugende Begründung der Senatsverwaltung war, dass das Arbeitsfeld im Blick auf die Ausschreibung zu schmal sei. Es hat einige Gespräche gebraucht, um den Betroffenen zu überzeugen, dass er mit dieser Lösung leben könne. Alle fünf Betroffenen haben schließlich dieser Lösung zugestimmt. Damit war für fünf der sechs Fälle nach Ansicht der Kommission eine sinnvolle Lösung gefunden. Zu ihrer Überraschung kam sehr spät ein weiterer negativer Gauck-Bescheid. Er führte umgehend zu einem Aufhebungsvertrag, so dass nicht einmal das Maß der Belastung bekannt wurde.37 Insgesamt waren daher neben den fünf noch für kurze Zeit beschäftigten Ostprofessoren nur noch vier auf Dauer als Professoren für den Fachbereich übrig geblieben.38 Der politische Druck aus dem Westen schwand denn auch schnell. 35 Die Vorwürfe bezogen sich auf Vorgänge im außeruniversitären Bereich, die ein Vierteljahrhundert zurück lagen und keine unmittelbaren politischen Implikationen hatten; man kann auch von „Tratsch“ sprechen. Aus der Universitätszeit waren nur Stimmungsbilder vor allem aus der Studentenschaft ohne Namensnennung geliefert worden. 36 Es waren ausdrücklich C 4-Stellen vorgesehen worden. 37 Wie sich später herausstellte, bezogen sich die Vorwürfe nur auf die Jugendzeit und war die Mitarbeit möglicherweise erpresst worden. Vermutlich wäre eine Kündigung daher vor Gericht spätestens in der zweiten Instanz gescheitert. Es lagen besonders lobende Gutachten zweier sehr renommierter Wissenschaftler aus dem Westen vor. Ein sehr viel später liegender Versuch eines der Gutachter, doch noch für eine Anbindung an die Fakultät zu sorgen, konnte wegen der zwischenzeitlichen Veränderung der Stellensituation keinen Erfolg haben. 38 Für die Dekanin in der Umbruchzeit konnte auf Vermittlung des Verfassungsrichters Prof. Grimm, einem späteren Mitglied des Fachbereichs, die zeitweise Beschäftigung als

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VIII. Nachlese Der vorstehende Bericht mag den Eindruck erwecken, der Neuanfang sei zwar schwierig, bis auf Einzelfälle aber doch harmonisch gewesen. Das wäre ein falscher Eindruck. Vielleicht kann eine Episode anlässlich der feierlichen Veranstaltung zum Abschluss der Kommissionsarbeit und zur Eröffnung der neuen Fakultät ein Bild von der auch drei Jahre nach der Einigung noch bestehenden nervösen Spannung zeichnen, die zu dieser Zeit noch untergründig herrschte. Zwei Tage vor der Feier erreichte den Vorsitzenden in Frankfurt ein Hilferuf aus Berlin, die – aus Westberlin stammende – neue Präsidentin lehne es ab, an der Feier teilzunehmen und der Senator habe erklärt, wenn die Präsidentin nicht komme, dann könne er auch nicht kommen. Bei dem Streit ging es um ein Gutachten, das ein Strafrechtsprofessor aus dem Osten, der lediglich zu einer anderthalb jährigen Weiterbeschäftigung anstand, mit zwei anderen auf Bitten der Generalstaatsanwaltschaft der DDR offenbar zur Vorbereitung eines politischen Strafverfahrens gegen eine Bürgerrechtsgruppe gemacht hatte. Es hatte zu einer Pressekampagne gegen die Fakultät geführt, die schon die Sistierung des Verfahrens zur Weiterbeschäftigung zur Folge hatte.39 Die Differenz bestand darin, dass die Präsidentin annahm, die Dekanin habe so getan, als sei sie nicht im Besitz des strittigen Gutachtens, während diese annahm, die Präsidentin müsse nach ihren Erklärungen in der Sitzung der Personalkommission des Kuratoriums davon ausgegangen sein, dass dies doch der Fall war. Sie hatte das Gutachten nach der Pressekampagne von dem Professor angefordert und auch erhalten und es sofort der Kommission weitergegeben, also gar keinen Anlass, Unkenntnis vorzutäuschen. Das gegenseitige Misstrauen war aber groß und erst die mühsame Aufklärung der Fakten konnte mit tatkräftiger Hilfe des aus der alten Mathematikmannschaft stammenden ersten Vizepräsidenten die Präsidentin davon überzeugen, dass es sich um ein Missverständnis handelte. So erschien sie und mit ihr der Senator zum Festakt.

wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht ermöglicht werden, was für beide Seiten von Vorteil war. 39 Es wurde ein Aufhebungsvertrag geschlossen.

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II. Teil: Gegenwart und Perspektiven der Rechtswissenschaften Grundlagen

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Die Bedeutung von Wilhelm von Humboldts Sprachdenken für die Rechtswissenschaft AXEL FLESSNER

I. Sprache, Denken, Welt . . . . . . II. Humboldt . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtswissenschaft . . . . . . . . 1. Schriftlichkeit . . . . . . . . . . 2. Welche Sprache? . . . . . . . . a) Landesrecht . . . . . . . . . . b) Rechtsvergleichung . . . . . c) Europarecht . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . 3. Hermeneutik oder Rhetorik? IV. Wissenschaft . . . . . . . . . . . . 1. Leitsprache Englisch? . . . . . 2. Sprachfeindschaft . . . . . . . . 3. Selbstbeschränkung . . . . . . V. Universität und Fakultät . . . .

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Der Gegenstand der Rechtswissenschaft besteht aus Sprache – Gesetze, Entscheidungen, Verträge, Gesetzesmaterialien, auch Produkte der Rechtswissenschaft selbst, wenn sie durch Qualität, Quantität („herrschende Meinung“), Alter („Überlieferung“) oder nach interner Denkordnung („Dogmatik“) normative Kraft gewinnen. Selbst die Tatsachen, auf welche die Rechtssätze anzuwenden sind oder für die neue Rechtssätze geschaffen werden, werden durch Sprache vermittelt und so von der Rechtswissenschaft verarbeitet – Schriftsätze, Aussagen von Zeugen und Sachverständigen, Sachverhalte in Entscheidungsbegründungen, Studien für die Gesetzgebung. Auch die Rechtswissenschaft selbst spricht und schreibt – eher nicht ihre Sache sind Bilder, Zeichen, Gebärden oder bloße Messungen von Mengen und Gewichten. Sprachlichkeit der Wissenschaft also rundum und durch und durch. Wilhelm von Humboldt war nicht nur geistiger Vater der Berliner Universität, Reformer des Unterrichtswesens, Staatsmann und Diplomat, sondern ist ein großer Name auch in der Sprachwissenschaft. Die Juristische Fakultät der Universität, die seinen Namen führt, hat deshalb in diesem Ju-

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biläumsjahr Anlass, zu fragen, ob auch sein Sprachdenken der Wissenschaft, die sie betreibt, etwas zu sagen hat. Dieser Frage soll hier nachgegangen werden. Zunächst werden Sprachtheorie, Sprachphilosophie und Humboldts Sprachdenken vorgestellt (I und II), sodann deren Bedeutung für die Rechtswissenschaft und die Wissenschaft im allgemeinen erörtert (III und IV) und schließlich eine Perspektive für die Fakultät und die Universität entworfen, die gewillt sind, Humboldts Sprachdenken aufzugreifen (V).

I. Sprache, Denken, Welt Das Nachdenken, Forschen und Philosophieren über die Sprache bewegt sich seit Platon und Aristoteles bis in die Gegenwart zwischen zwei Polen. Am einen Pol sind klar geschieden die reale Welt, die menschlichen Vorstellungen von der Welt und schließlich die Mitteilung der Vorstellungen an andere Menschen mit Hilfe der Sprache – durch Sprechen und Schreiben. Der Mensch nimmt die Wirklichkeit mit allen Sinnen auf, im Denken entsteht in ihm ein inneres Abbild der Wirklichkeit (eine Vorstellung),1 und mit dem Sprechen und Schreiben teilt er diese inneren Bilder (die Ergebnisse seines Denkens) anderen Menschen mit. Die Sprache ist der Vorrat und das System der Zeichen für die inneren Bilder, das Gedachte, mit denen der Mensch sich an seine soziale Umwelt wendet, diese teilhaben lässt an seinen inneren Weltbildern, die dadurch zu gemeinschaftlichen gemacht („kommuniziert“) werden.2 Seit Babel gibt es verschiedene Zeichensysteme (Sprachen), die sich in Menschengruppen (Völkern) gebildet haben; das Denken selbst, also die inneren Bilder, welche die Zeichen vermitteln, sind aber bei allen Menschen gleich; es gibt eine „universelle Identität des Geistes“ jedenfalls für die „wichtigen“ Botschaften.3 Am anderen Pol gehen Welt, Denken und Sprache ineinander über. Die Umwelt existiert zwar objektiv auch ohne den Menschen, der sie wahrnimmt, aber er kann sie in ihren Einzelheiten nur fassen („begreifen“) und über sie denken, indem er die ungeschiedene Gesamtheit von Dingen und Vorgängen in Wörter gliedert und diese nach Regeln (der Grammatik) zu einem größeren Bild kombiniert. Wenn er über diese gegliederte Weltvorstellung zu anderen Menschen spricht, erwartet er, dass diese in sich die Welt mit denselben Wörtern und nach denselben Regeln gegliedert haben, die innere Vorstellung von Welt also eine gemeinsame ist; ohne Sprache besteht in und zwischen den Menschen keine Welt. Die Wirklichkeit wird so 1 Das „Bild“ oder „Abbild“ ist seit Platon der gängige Ausdruck für die innere menschliche Vorstellung von der äußeren Welt. 2 Andreas Gardt Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland, 1999, 230 f.; Jürgen Trabant Europäisches Sprachdenken – Von Platon bis Wittgenstein, 2006, 29–34. 3 Trabant (Fn. 2), 20–24.

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wahrgenommen, wie die dem Einzelnen gegebene Sprache es mit ihren Begriffen und Regeln nahe legt. Das bedeutet angesichts der Vielzahl und Verschiedenheit der Sprachen auf der Welt: Wer denkt, das heißt: „. . . die Wirklichkeit reflektiert, wird das unweigerlich in denjenigen Begriffen tun, die eine jeweilige Einzelsprache bereithält. Ein Punkt jenseits von Sprache existiert nicht; wer die einzelsprachliche Perspektive eines lexikalischen Inhalts erkennt, kann nur insofern hinter sie zurücktreten, als er damit eine andere Perspektive übernimmt“,4 nämlich die einer anderen Einzelsprache. Zusammengefasst und zugespitzt: Am erstgenannten Pol gibt es „eine Präexistenz der Gegenstände und ihrer mentalen Abbilder vor den sie bezeichnenden Ausdrücken“.5 Am Gegenpol „. . . (liegt) das erkenntnistheoretische Apriori bei mentalen Konzepten, den Begriffen, . . . die prägend auf das Denken und damit auf die intellektuelle Erfassung und praktische Gestaltung der Realität einwirken. Die Abfolge Wirklichkeit – Denken – Sprache wäre dann in ihr Gegenteil verkehrt.“6

II. Humboldt Wilhelm von Humboldt steht mit seiner Sprachauffassung näher an dem zweitgenannten Pol, hält aber bewusst auch Abstand zu ihm. Eine zusammenfassende Beschreibung seiner Sprachtheorie war schon für die spätere Sprachwissenschaft selbst nicht einfach, weil Humboldt seine Gedanken über etwa 40 Jahre seines Lebens geäußert hat in Briefen, Notizen, Vorträgen, kleineren und größeren Abhandlungen, schließlich auch in seinem sprachtheoretischen Hauptwerk, die zum Teil erst aus seinem Nachlass veröffentlicht wurden, so auch das Hauptwerk.7 Auch die 1903 bis 1936 erschienenen „Gesammelten Schriften“ enthalten nicht das Gesamtwerk, und noch heute gibt es Erstveröffentlichungen, so in der neuen Gesamtausgabe, die seit 1994 herausgegeben wird.8 Die hier folgende Beschreibung seines Denkens stützt sich auf die aktuellen Darstellungen führender Vertreter seiner Sprachauffassung in deutscher Sprache, die sich als Einführung auch für 4

Gardt (Fn. 2), 231. Gardt (Fn. 2), 232. 6 Gardt (Fn. 2), 232. 7 Als dieses wird angesehen Wilhelm von Humboldt Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java, 3 Bände, 1836–1839, und daraus die „Einleitung“ – die auch separat veröffentlicht wurde: ders. Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, 1836, Neudruck hrsg. und eingeleitet von Donatella Di Cesare, 1998, 133 ff. 8 Wilhelm von Humboldt Gesammelte Schriften, 17 Bände (hrsg. von Leitzmann), 1903–1936, Neudruck 1968. – Wilhelm von Humboldt Schriften zur Sprachwissenschaft (hrsg. von Kurt Mueller-Vollmer u. a.; betreut von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften), 1994 ff. 5

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Leser außerhalb der linguistischen und philologischen Fachwelt eignen, teils gerade für solche Leser geschrieben sind.9 Der Ausgangspunkt von Humboldts Sprachauffassung ist anthropologisch. Der Mensch hat das Bedürfnis nach Sprache und die Fähigkeit zu ihr, und alle Menschen erwerben eine Sprache; wer Sprache hat, ist Mensch. Mit der Sprache konstituiert der Mensch sich als Ich, dem die Welt gegenübersteht. Er sondert sich von ihr ab, indem er seine zunächst ungeordnete und fließende Wahrnehmung der Welt „gliedert“, auf „Begriffe“ verteilt und diese zu „Wörtern“ ausbildet, mit denen man zu anderen Menschen „sprechen“ kann. Wörter sind Kombinationen von bestimmten Lauten; durch sie wird das „Begreifen“, die „Erfassung“ der Welt physikalisch fixiert und sinnlich wahrnehmbar. „Nur in der sinnlichen Form des Wortes, in der sie festgehalten wird, erhält die subjektive Vorstellung von der Welt objektives Dasein“.10 Humboldt selbst: „Die intellektuelle Thätigkeit, durchaus geistig, durchaus innerlich, und gewissermaßen spurlos vorübergehend, wird durch den Laut in der Rede äußerlich und wahrnehmbar für die Sinne. Sie und die Sprache sind daher Eins und unzertrennlich von einander. Sie ist aber auch in sich an die Nothwendigkeit geknüpft, eine Verbindung mit dem Sprachlaut einzugehen; das Denken kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Begriff werden. Die unzertrennliche Verbindung des Gedankens, der Stimmwerkzeuge und des Gehörs zur Sprache liegt unabänderlich in der ursprünglichen, nicht weiter zu erklärenden Einrichtung der menschlichen Natur.“11 Dies alles, hier in einer Folge von Sätzen dargestellt, geschieht ununterscheidbar in einem und demselben Augenblick: „Die Berührung der Welt mit dem Menschen ist der elektrische Schlag, aus welchem die Sprache hervorspringt, nicht bloß in ihrem Entstehen, sondern immerfort, so wie Menschen denken und reden:“12 9 Jürgen Trabant Traditionen Humboldts, 1990; ders. Humboldt, Wilhelm von (1767– 1835), in: Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie (hrsg. von Gosepath/Hinsch/Rössler), Band 1, 2008, 515–519; ders. (Fn. 2), 260–269; Tilman Borsche Wilhelm von Humboldt, 1999; Donatella Di Cesare Wilhelm von Humboldt (1767–1835), in: Tilman Borsche (Hrsg.) Klassiker der Sprachphilosophie – Von Platon bis Noam Chomsky, 1996, 275–289, 492 f.; dies. (Fn. 7), 11–132; Gipper Art. 13: Sprachphilosopie der Romantik, in: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (hrsg. von Steger/ Wiegand), Band 7.1, 1992, 197, 211–213; Kledzik Art. 27: Wilhelm von Humboldt (1767– 1835), ebenda, 362–381. Ausführlich (und eingängig) auch Gardt (Fn. 2), 230–245. 10 Di Cesare (Fn. 9), 280. 11 Die hier und im folgenden wiedergegebenen Stellen sind den oben Fn. 9 genannten Publikationen entnommen sowie dem Quellenbuch von Peer-Robin Paulus Unter freien Menschen – Ein Wilhelm-von-Humboldt-Brevier, 2008; sie werden hier nach Band und Seite der „Gesammelten Schriften“ (Fn. 8) zitiert: GS VII 45, 53. 12 Humboldt GS VI (Fn. 8), 203.

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Da das Denken in Sprache geschieht, mit der es mitgeteilt, „kommuniziert“ wird, ist in Humboldts Sprachauffassung das Hören und Verstehen des Mitgeteilten von gleicher Bedeutung wie das Sprechen selbst. Das Denken (das notwendig sprachlich gefasst ist) hat deshalb Gesprächscharakter, und zwar auch dann, wenn der Denkende allein ist, gleichsam ein denkerisches Selbstgespräch führt. Denn beim Denken in Sprache ist das Hören und Verstehen des Gedankens durch einen anderen stets latent und deshalb immer mitbedacht. Der Gedanke hat immanent eine dialogische Natur, auch wenn er nicht ausgesprochen wird: „Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiederung bedingt. Schon das Denken ist wesentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn begleitet, und der Mensch sehnt sich, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungs-Beziehungen, auch zum Behuf seines bloßen Denkens nach einem dem Ich entsprechenden Du, der Begriff scheint ihm erst seine Bestimmtheit durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft zu erreichen.“13 Mit anderen Worten: Der Mensch richtet sein Denken immer so ein, dass es von anderen gehört und verstanden werden kann, also in der gemeinsamen Sprache. Die Sprache hat der Mensch als Kind aufgenommen, sie scheint etwas ihm von der Umwelt Gegebenes, „Vorgegebenes“ zu sein. Jedoch besteht der kindliche Spracherwerb aus eigener Tätigkeit des Kindes, indem es zu bezeichnen sich bemüht, was es sieht und ergreift, und nachzusprechen, was es von den Menschen seiner Umgebung hört und erfragt. In diesem, Jahre währenden Prozess sieht und berührt das Kind nicht (und auch die Erwachsenen seiner Umgebung nicht) die Sprache als das Gesamtsystem von Regeln der Wort- und Satzbildung, sondern es ergreift das System aus dem wiederkehrenden Reden der Umgebung und durch eigenes fortdauerndes Probieren und Wiederholen. Das Kind schafft sich mit Hilfe der Sprache und der Menschen in seiner Umgebung sein Denken und Sprechen selbst. Nach Humboldt ist es für den Menschen mit der eigenen Arbeit selbst nach dem vollkommenen Erwerb der Sprache nicht vorbei, etwa in dem Sinne, dass die Sprache nun als Werkzeugevorrat bereit läge, aus dem sich der Mensch für das Ansprechen und Verstehen der anderen nur bedienen müsste. In solcher Art ist die Sprache niemals präsent, sondern immer nur virtuell – eine „Zwischenwelt“, eine „kraft“ – nämlich ein System von Wörtern und Regeln, das zum Sprechen antreibt und die Bahn bereitet, dem Sprecher aber die eigene, schöpferische Sprachleistung nicht abnimmt: 13

Humboldt GS VI (Fn. 8), 26.

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„Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es erst doch wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen.“14 Die Eigenleistung der Sprecher ist auch deshalb unabdingbar, weil dem Denken wegen seiner sprachlichen Form die Erwartung des Verstehens und Antwortens durch einen anderen, das „Mit-Denken“ innewohnt. Der Sprecher kann aber nicht erwarten, dass der andere ihn genau versteht. Er muss seine Rede also schöpferisch so einrichten, dass er dies doch möglichst erreicht: „Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andere, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein NichtVerstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen. In der Art, wie sich die Sprache in jedem Individuum modifiziert, offenbart sich . . . eine Gewalt des Menschen über sie. Ihre Macht kann man (wenn man den Ausdruck auf geistige Kraft anwenden will) als ein physiologisches Wirken ansehen; die von ihm ausgehende Gewalt ist ein rein Dynamisches.“15 Mit seiner hier skizzierten Auffassung von der Sprachgestalt des Denkens konnte Humboldt bei Vorgängern, namentlich bei Leibniz und Herder anknüpfen und von da weiterbauen.16 Das wirklich Neue und noch heute markant Eigene seiner Theorie liegt aber darin, wie er mit der Tatsache umgeht, dass es in der Wirklichkeit nicht die Sprache des Menschen gibt, sondern die Vielzahl verschiedener Sprachen verschiedener Menschengruppen, der heute so genannten Sprachgemeinschaften. Auch hierzu hatte Leibniz schon vorgearbeitet, aber noch mit der Frage, wie aus dieser Vielheit herauszukommen sei.17 Humboldt legt alles Unbehagen an der Vielfalt ab. Er hatte über die Jahre den Wortbestand und die Struktur von bis zu 40 Sprachen studiert – von 14 15 16 17

Humboldt GS VII (Fn. 8), 45 f. Humboldt GS VII (Fn. 8), 64. Darstellung bei Trabant (Fn. 2), 178–195, 217–230, 260–269. Darüber Trabant (Fn. 2), 178–195; Gardt (Fn. 2), 236.

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den indo-europäischen, dem Baskischen, den in Amerika von den Europäern vorgefundenen Sprachen, verschiedenen orientalischen, bis hin zum Malayischen, Chinesischen und Japanischen. Zu fragen, wie es zu der Vielfalt gekommen sei (Babel!), hielt er für sinnlos, da wissenschaftlich nicht ermittelbar, und auch die Frage, aus welchen Anfängen die einzelnen Sprachen entstanden sein könnten, tat er ab, denn „. . . man hat wohl noch keine Sprache . . . in dem flutenden Werden ihrer Formen überrascht“,18 wir finden sie stets als fertige, allerdings durch ihre Sprecher fortwährend neu bedachte und weiter entwickelte vor. Nach ihm ist die Sprachenvielfalt als Reichtum anzuerkennen, den die allen Menschen eigene Sprachfähigkeit und Sprachbedürftigkeit hervorgebracht hat. Da alles Denken und Miteinander der Menschen aber sprachgebunden ist, entsteht die Frage, ob es so viele verschiedene Erkenntnisse und Mitteilungen über die Welt geben kann, wie es Sprachen gibt. Die folgende Äußerung Humboldts ist in seinem Sprachdenken wohl die berühmteste: „Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes voneinander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. . . . Die Summe des Erkennbaren liegt, als das von dem menschlichen Geiste zu bearbeitende Feld, zwischen allen Sprachen, und unabhängig von ihnen, in der Mitte; der Mensch kann sich diesem rein objectiven Gebiet nicht anders, als nach seiner Erkennungs- und Empfindungsweise, also auf einem subjectiven Wege, nähern. . . . Dies ist nur mit und durch Sprache möglich.19 Das Denken ist aber nicht bloss abhängig von der Sprache überhaupt, sondern, bis auf einen gewissen Grad, auch von jeder einzelnen bestimmten.“20 In der späteren Sprachwissenschaft wurde hieraus von manchen eine strenge Relativität der Welterkenntnis abgeleitet und diese Relativität absolut gesetzt, nämlich: Der Mensch ist gefangen in seiner einzelnen Sprache und kann gar nicht anderes als das nach ihr Mögliche erkennen; es gibt so viele „erkannte“ Welten wie es Sprachen gibt.21 Humboldt selbst hat nicht so gedacht. Für ihn vermittelt jede Sprache nur eine je eigene Perspektive auf die eine Welt. Die Perspektive einer einzelnen Sprache kann gar nicht die dem einzelnen Menschen einzig mögliche sein, da es die universelle Sprachfähigkeit der Menschen, allgemeine Denkgesetze und für den einzelnen Menschen die Möglichkeit des Lernens anderer Spra18

Humboldt GS IV (Fn. 8), 3. Humboldt GS IV (Fn. 8), 27. 20 Humboldt GS IV (Fn. 8), 21. 21 Darüber (sehr kritisch) Trabant (Fn. 2), 274–279; ders. Was ist Sprache?, 2008, 82–84; Gardt (Fn. 2), 241–245. 19

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chen gibt, also die Möglichkeit, aus dem Kreis einer Sprache hinauszutreten in den einer anderen und zurückzukehren, also verschiedene Perspektiven zu vergleichen. „Alle Sprachen zusammen ähneln einem Prisma, an dem jede Seite das Universum unter einer abgetönten Farbe zeigt“.22 Die Skizze des Sprachdenkens von Humboldt ist hiermit abgeschlossen; sie in Thesen zusammenzufassen, entspricht eigentlich nicht dem Stil seines Werks. Humboldt hat seine Gedanken auf viele Schriften verteilt, sie eher tastend vorgetragen und nur zögernd veröffentlicht.23 Um für die nun folgende Erörterung verwendbar und zitierbar zu werden, seien sie hier doch in vier Kernaussagen („Thesen“) zusammengefasst: (1) Die Welt existiert in der Vorstellung des Menschen, in seinem Denken, ausschließlich in sprachlicher Gestalt und sie wird unter den Menschen ausschließlich in dieser Gestalt verhandelt. (2) Die sprachliche Form des Denkens bedingt, dass das Verstehen durch andere und eine Antwort von ihnen, das „Mit-Denken“ der anderen, vom Denkenden notwendig vorausgesetzt, „mitbedacht“ wird. (3) Die Sprache als ein Vorrat an Wörtern und als ein System von grammatischen Regeln wird dem Menschen von der sozialen Umwelt gegeben, in die er hineingeboren wird, und er muss sie von dieser durch eigenes Tun für sich erwerben. Sie existiert als Ganzes aber nur als Zwischenwelt, als Anleitung und Antrieb zum Denken und Sprechen, und ist deshalb nicht etwas Fertiges, sondern eine wirkende Kraft. Reale, sinnliche Existenz, erhält sie erst im Denken und der Rede selbst, wodurch jeder Sprecher auch zur Sprache als Ganzes einen neuen, formenden Beitrag leistet. (4) Es gibt nicht die Sprache, sondern nur Sprachen. Deshalb gibt es im Denken und Sprechen eigentlich so viele „Welten“ wie es Sprachen gibt. Alle diese Sprachwelten sind aber nur Ansichten der einen Welt und deshalb als Reichtum der Anschauung, nicht als Verlust einer Welteinheit zu verstehen. Jede weitere Sprache vermehrt den Reichtum, jeder Verlust einer Sprache vermindert ihn.

III. Rechtswissenschaft 1. Schriftlichkeit Die Gegenstände der Rechtswissenschaft (Gesetze, Entscheidungen) sind geschrieben, und auch die Wissenschaft, die dieses Geschriebene behandelt, schreibt. Sie findet eine geschriebene Welt vor und fügt ihr eine weitere 22 Humboldt GS III (Fn. 8), 321 (Übersetzung aus dem Französischen von Di Cesare (Fn. 9), 282). 23 Dazu ausführlich Kledzik (Fn. 9), 364 f.

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Schicht aus Geschriebenem hinzu. Sie ist durch und durch eine Wissenschaft von und mit Texten, und die Texte, über die sie verhandelt und die sie produziert, werden veröffentlicht – die Gesetze ohnehin, die Entscheidungen jedenfalls der oberen Gerichte in Zeitschriften und eigenen Sammlungen, die rechtswissenschaftlichen als Fachliteratur. Humboldt hat über das Verhältnis von Sprache und Schrift tief und ausführlich nachgedacht, aber seine Gedanken behandeln die Sprache doch ganz wesentlich als ein Sprechen, Hören und Antworten, sie zeichnen das (fast intime) Gespräch als ein Miteinander von Denken und Kommunikation. Der geschriebene Text verzichtet aber auf die gleichzeitige Anwesenheit und das Gegenüber an einem Ort – „die kommunikative Situation ist also halbiert oder zumindest aufgeschoben“,24 und der veröffentlichte Text wendet sich gar an eine unbegrenzte Zahl von Lesern – eine gesprochene oder geschriebene Antwort wird der Schreiber vielleicht nie erlangen. Kann das Denken Humboldts für eine solche Textwissenschaft überhaupt von Bedeutung sein? Die Antwort lässt sich am besten mit einem Durchgang der „Thesen“ geben: (1) Dass die Welt ausschließlich in sprachlicher Form existiert, ist in der Rechtswissenschaft evident, denn Rechtssätze sind Sätze und auch die Wissenschaft von ihnen redet und schreibt. (2) Dass der Schreibende das Mitdenken und ein zumindest innerliches Antworten der Leser mitbedenkt, ist nötiger als im Gespräch; er kann sich nicht wiederholen, sich nicht korrigieren, sondern muss alles mögliche Nichtverstehen und mögliche Einwände vorwegnehmen – auch weil das Veröffentlichte so dauerhaft ist, stets neue Leser finden kann. In juristischen Texten ist dieses Vorwegbedenken besonders notwendig, weil sie meistens Entscheidungen und Meinungen über kontroverse Rechte und Pflichten begründen oder herbeiführen, die Leser von der Richtigkeit einer Meinung überzeugen sollen; die Rechtswissenschaft ist nicht nur Text, sondern sie argumentiert. (3) Dass die Sprache als System nur eine virtuelle Zwischenwelt darstellt und erst das Schreiben sie zu neuer Realität bringt, belegt am besten der Umstand, dass ein Schreibender oft um die Formulierungen ringen muss, er also den von Humboldt gemeinten Eigenbeitrag zur Sprache leistet und der neue rechtswissenschaftliche Text das Urheberrecht des Verfassers an seinem „Werk“, seiner „persönlichen geistigen Schöpfung“ begründet (so wörtlich die §§ 1 und 2 des Uhrheberrechtsgesetzes). (4) Dass die Vielfalt der Sprachen eine Vielfalt an Weltansichten anzeigt, kann jeder Übersetzer bezeugen, und jeder, der Fremdsprachen lesen kann. In den verschiedenen Sprachen rechtswissenschaftlicher Texte eröffnen sich 24

Jürgen Trabant Die Sprache, 2009, 37.

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auch markant unterschiedliche Präsentationskulturen, die im Leser unterschiedlich gegliederte und getönte Vorstellungen von demselben Gegenstand entstehen lassen. Wir können nach diesem Durchgang feststellen, dass Humboldts Sprachdenken auch für die geschriebenen Texte Bedeutung hat und mit einzelnen seiner Elemente an den Texten der Rechtswissenschaft sogar markant deutlich wird. Im Folgenden werden nun zwei Themen behandelt, zu denen Humboldt der Rechtswissenschaft etwas zu sagen hat. 2. Welche Sprache? Das Recht existiert in der Sprache des Staates, der es bei sich in Kraft gesetzt hat, in mehrsprachigen Ländern können es mehrere Sprachen sein (in Europa etwa Belgien, Finnland, die Schweiz). In welcher Sprache soll die Rechtswissenschaft das Landesrecht behandeln? a) Landesrecht Die Frage ist nur scheinbar künstlich und frivol. In aller Regel wird das im Lande geltende Recht in der Landessprache behandelt. Aber seitdem Förderanträge bei deutschen Forschungsorganisationen selbst für die Germanistik auf Englisch eingereicht und begutachtet werden25 und die Schweizer Rechtsfakultäten nicht mehr die ehrwürdige „Lic.iur.“, sondern den „M.Law“ verleihen, ist die Landessprache auch in der Wissenschaft vom Recht nicht mehr selbstverständlich. Nach Humboldt ist die Antwort klar. Die Identität von Sprache des Rechts und Sprache der Rechtswissenschaft bringt den Gegenstand, seine sprachliche Erfassung und Behandlung im Denken und dessen Mitteilung an andere optimal zur Deckung (These 1). Auch das Mitbedenken des Verstehens und Antwortens des Lesers (These 2) geschieht optimal, da der Schreiber bei den allermeisten Lesern die Kenntnis der Sprache des Rechts voraussetzen kann, dem sie im Land ausgesetzt sind. Dasselbe gilt für die sprachliche Kreativität des Schreibenden (These 3). Sie hat im Recht besondere Bedeutung, da, wie schon beschrieben, der wissenschaftliche Text selbst mindestens als „Rechtsgewinnungsquelle“26 normative Qualität gewinnen, also Ausgangspunkt für neue Rechtswissenschaft werden kann.27 25

So etwa bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der VW-Stiftung. So der Ausdruck von Canaris Die Stellung der „UNIDROIT Principles“ und der „Principles of European Contract Law“ im System der Rechtsquellen, in: Jürgen Basedow (Hrsg.) Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht, 2000, 10–12. 27 Zu diesem Vorgang Karl Larenz/Claus-Wilhelm Canaris Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe)3, 1995; E. Bucher Rechtsüberlieferung und heutiges Recht, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht (ZEuP) 2000, 394, 468–474, 517–520. 26

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Für die Teildisziplinen der Rechtswissenschaft, die über ein Landesrecht hinausblicken (etwa die Rechtsvergleichung, das internationale Privatrecht, das Europarecht, das Völkerrecht, die Rechtsphilosophie), ist die vollkommene Deckung von Gegenstand, sprachlichem Begriff und Kommunikation offensichtlich nicht gegeben und Humboldts Sprachauffassung daher weniger selbstverständlich. Die Rechtsvergleichung und das Europarecht werden hier zur Probe herausgegriffen. b) Rechtsvergleichung Rechtsvergleichung ist die Erforschung und Vergleichung mehrerer Landesrechte mit dem Ziel der Wissenserweiterung, der praktischen Information für internationales Handeln oder, letztlich, der Erkenntnis von Recht überhaupt. Sie stößt in aller Regel auf Recht in anderer Sprache als der eigenen der Forscher und Vergleicher. Dadurch wird These 1 des HumboldtDenkens in Frage gestellt: Der Gegenstand, ein sprachlicher, fügt sich nicht ohne Weiteres in das sprachliche Begriffsraster des Betrachters. Er muss vom Betrachter „übersetzt“ werden, dabei kann bekanntlich immer etwas „verloren gehen“. Auch These 2, das immanente, mitbedachte Mitdenken, ist schwächer bestätigt, weil der Forscher beim Leser weniger auf Vorkenntnis setzen kann, mehr „Glauben“ beanspruchen muss. Andererseits zeigt uns gerade die Vielzahl der Sprachen, in denen Rechtsvergleichung betrieben wird, den Reichtum der Anschauung (These 4), den sie ermöglicht. Beim Erforschen und Erfassen eines bestimmten fremden Rechts wird unter Forschern aus mehreren Sprachen und Ländern oft jedem etwas anderes besonders auffallen. Erst aus allen Wahrnehmungen zusammen ergibt sich für die Außenwelt das volle Bild einer Rechtsordnung – Humboldt pur. Herstellbar und rezipierbar ist dieses Gesamtbild als erworbener „Besitz“ der Rechtsvergleichung allerdings nur, wenn die Rechtsvergleicher möglichst viele Sprachen, auch die ihrer Mitforscher in anderen Ländern, jedenfalls lesen können. Für dieses Arbeitsprinzip bietet Humboldt mit seinen immensen Sprachkenntnissen ein herausragendes persönliches Vorbild. c) Europarecht Beim Europarecht ist die Lage anders. Es gilt in allen Mitgliedstaaten, und in jedem einzelnen in allen Amtssprachen der Union.28 Dies würde eigentlich erwarten lassen, dass das Unionsrecht (EUV, AEUV, Richtlinien, Verordnungen, Beschlüsse der Kommission, Entscheidungen von EuGH und EuG) in allen Mitgliedstaaten unter ständiger Sprachvergleichung diskutiert 28 Die Zahl der Amtssprachen ist geringer als die Zahl der Mitglieder, da manche Sprachen in mehr als einem Staat gelten (Englisch, Deutsch, Französisch, Niederländisch).

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und angewendet wird. Das ist aber nicht der Fall – und kann es auch nicht sein, weil in Praxis und Wissenschaft weder die Sprachkenntnisse noch die nötige Zeit für ein solches Arbeiten gegeben sind. Vielmehr werden die Texte in den einzelnen Mitgliedstaaten ganz überwiegend in der Landessprache gelesen, bedacht, öffentlich erörtert und praktisch angewendet. Nur bei ernsten Zweifelsfragen oder wenn man ein Zusatzargument gewinnen will und das dafür notwendige Ermitteln und Verstehenmüssen sich lohnt, werden auch andere Sprachfassungen (aber nie alle und nie auch nur alle der größeren Sprachgemeinschaften) herangezogen. Nach Humboldt (Thesen 1 und 4) gibt es damit im tatsächlichen Denken, Sprechen und Schreiben so viele Europarechte wie es europäische Sprachgemeinschaften gibt, da kaum jemals ein Mensch den Versuch machen wird, das Europarecht durch alle Sprachfassungen hindurch zu erfassen. Ist diese Schlussfolgerung vereinbar mit der Vorstellung von dem einen Unionsrecht, das alle Mitgliedstaaten und ihre Bewohner einheitlich bindet? Sie ist jedenfalls realistisch. Und sie ist im Demokratiegrundsatz verankert. Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber muss die Gesamtheit der Bürger in der jeweiligen Landessprache ansprechen. Die gleiche Verbindlichkeit aller Sprachfassungen des Gemeinschaftsrechts, die Art. 55 EUV und andere Bestimmungen vorsehen, soll deshalb nicht nur die Gleichheit der Mitgliedstaaten mit ihren Sprachgemeinschaften in der Union wahren, sondern dem Unionsrecht die tatsächliche Geltung in jedem Mitgliedstaat sichern. Das ist, so wie Europa sprachlich beschaffen ist, nur zu erreichen, wenn auch rechtlich und rechtstheoretisch in Kauf genommen, sogar angestrebt wird, dass im Mitgliedstaat die eigene Sprachfassung des Europarechts einen Vorsprung hat. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Unionstreue („zur loyalen Zusammenarbeit“, Art. 4 Abs. 3 EUV) stellt sicher, dass im streitigen Ernstfall die anderen Sprachfassungen herangezogen werden. d) Zusammenfassung Wir können feststellen: Humboldts Sprachdenken versichert uns der Richtigkeit der eigentlich überall (noch) praktizierten Einheit von Landessprache (oder Landessprachen), Landesrecht und dessen wissenschaftlicher Behandlung. Und auch für Teildisziplinen der Rechtswissenschaft, die internationale, länderübergreifende Erkenntnisziele haben, führt es uns zu einer realistischen Bewertung der Vielfalt und der wissenschaftlichen Relevanz der Einzelsprachen. 3. Hermeneutik oder Rhetorik? In der Rechtswissenschaft haben den Vorrang die Texte der Gesetze und der Entscheidungen der Gerichte. Diese können von ihren Verfassern nicht

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mehr geändert und auch nicht auf Nachfrage erklärt werden – die Gesetze nicht, weil ihr Verfasser, „der Gesetzgeber“, nur die Kunstfigur einer Gesamtheit von Menschen ist, die den Text hergestellt haben, die Endfassung beschlossen haben und das Beschlossene in Kraft gesetzt haben; die Entscheidungen der Gerichte nicht, weil die Entscheidung den Rechtsstreit endgültig („rechtskräftig“) beenden soll, auch das Gericht sich also mit ihm nicht erneut befassen, weitere Erklärungen nicht „nachschieben“ kann. Diese Texte sind der Rechtswissenschaft mithin vorgegeben. Wie man mit ihnen umgehen muss, hat ein Großer der deutschen Rechtswissenschaft und der Berliner Fakultät, 1812–1813 Rektor der Universität, schon in deren Frühzeit gelehrt: Friedrich Karl von Savigny. Es ist die Lehre von der Auslegung des Gesetzes und der römischen „Rechtsquellen“.29 Sie bestimmt bis heute die Methode jedenfalls der deutschen Rechtswissenschaft.30 Von den Anwendern der Gesetze, so auch von der Rechtswissenschaft, fordert sie, „. . . sich in Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers (zu) versetzen, und dessen Thätigkeit künstlich (zu) wiederholen, also das Gesetz in ihrem Denken von Neuem erstehen (zu) lassen. Das ist das Geschäft der Auslegung, die wir daher bestimmen können als die Reconstruction des dem Gesetz inwohnenden Gedankens. . . . Dieses Ziel des Verfahrens auszudrücken, ist der Name Auslegung (explicatio) besonders geeignet, indem er darauf geht, dass das in dem Wort Eingeschlossene an das Licht gezogen und dadurch offenbar gemacht werde.“31 Kontakte zwischen Savigny und Humboldt sind nicht bekannt, auch nicht, dass der eine von den Gedanken des anderen Kenntnis gehabt hätte.32 Gegenseitiges Interesse lag auch sachlich nicht nahe. Denn die Lehre von Savigny ist Hermeneutik, eine Lehre des Verstehens für alle, die den Verfasser des Textes nicht mehr fragen und ihm nicht entgegnen können.33 Für Humboldts Sprachdenken ist jedoch die Vorstellung eines Gesprächs wesentlich (These 2). Gesetze und Entscheidungen eignen sich für ein Gespräch zwischen ihren Verfassern und den Adressaten schon deshalb nicht, 29 Savigny System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, Neudruck Aalen 1973, §§ 32–51. Vorher: ders. Juristische Methodenlehre, Vorlesung in Marburg 1802, nach der Ausarbeitung durch Jakob Grimm (neu hrsg. von Gerhard Wesenberg), 1951. 30 Neuere Darstellungen: Stephan Meder Mißverstehen und Verstehen – Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik, 2004; Ulrich Huber Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, JuristenZeitung (JZ) 2003, 1–17. 31 Savigny System (Fn. 29), § 33, S. 213, 216 Fn. c. 32 Humboldt unterschrieb als Zuständiger des Ministeriums den Vorschlag an den König zur Berufung von Savigny, hatte aber wohl keine eigene Kenntnis seines Werks und später auch keine Kontakte zu ihm; darüber Meder (Fn. 30), 31–34. 33 Zu Savignys Hermeneutik Meder (Fn. 30) und neuestens Immenhauser Wozu Hermeneutik im Rechtsdenken?, in: Tradition mit Weitsicht – FS Bucher 2009 (hrsg. von Wolfgang Wiegand/Thomas Koller/Hans Peter Walter), 297, 302–305.

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weil sie nach der Absicht der Verfasser Rechte und Pflichten mit Autorität festlegen, das Gespräch darüber also beenden sollen. Hermeneutik ist so gesehen doppelt monologisch, nicht dialogisch. Sie findet einen monologischen Text vor, den Rechtssatz oder die Entscheidung, und befragt ihn ihrerseits monologisch. Ein Gespräch kann nicht stattfinden, da der Verfasser des Textes entrückt und vom Adressaten her mit Antworten und Fragen nicht erreichbar ist.34 Es scheint demnach, dass Humboldts Sprachdenken für das Kerngeschäft der Rechtswissenschaft nichts zu sagen hat; Gesetzgeber und Gerichte verkünden nur und erwarten Befolgung, und auch der zweifelnde und fragende Interpret in seiner denkerischen Einsamkeit ist nicht der idealtypische „Sprecher“. Dieses Bild zeigt das Geschehen in Rechtswissenschaft und Praxis aber verkürzt. Die Interpretation dient nicht nur der Vergewisserung des Interpreten, sondern verhilft ihm zur Wendung nach außen, zur Argumentation. Das juristische Handeln – bei der Gesetzesberatung, im Rechtsstreit, in der Wissenschaft – besteht zum allergrößten Teil im fundierten Argumentieren. Sprachwissenschaftlich: Die Sprache des Rechts – die Rede von Rechten und Pflichten, Dürfen und Sollen – erfüllt von den linguistisch unterschiedenen „Funktionen“ der Sprache meistens die „appellative“ Funktion.35 Auf diesen Teil des sprachlichen Rechtshandelns macht seit einiger Zeit die wissenschaftliche Wiederentdeckung der Rhetorik aufmerksam.36 Die wissenschaftliche Rhetorik versteht ihr Thema als die Kunst oder „Technik“, mit Hilfe der Sprache um Zustimmung zu werben.37 In einer kämpferischen Version versetzt sie Savigny auf die „Anklagebank“, weil er der heute herrschenden Methodenlehre „den Weg gewiesen hat“, juristische Arbeit ausschließlich als Erkenntnisprozess darzustellen.38 Eine integrieren34 Savigny selbst wies auf die „ganz eigenthümliche Lage des Auslegers“ hin, die sich „auf die große Entfernung zwischen ihm und der Entstehung der auszulegenden Gesetze“ gründe (System [Fn. 29], § 38, S. 241). 35 Ausdruck von Wünschen und Anweisungen. Die anderen Funktionen sind die „Darstellung“ (von Zuständen und Vorgängen) und die „Kundgabe“ (des Befindens, der Seelenlage des Sprechers). Diese heute gängigen linguistischen Grundbegriffe gehen zurück auf Karl Bühler Sprachtheorie3, 1934, Neudruck 1999. Kurzdarstellung bei Trabant (Fn. 24), 23–25, 31–34. 36 Führend in Deutschland Wolfgang Gast Juristische Rhetorik4, 2006, und Fritjof Haft Juristische Rhetorik8, 2009, beide mit Nachweisen auch über die internationale Diskussion. 37 Gast (Fn. 36), 2: „Rhetorik ist die Technik, Einverständnis herzustellen. . . . Juristische Rhetorik (ist) die Technik der fachlichen Verständigung bei der Rechtsanwendung. Sie ist der Inbegriff jener Mittel, die ein Jurist einsetzt, um kollegiale Zustimmung zu finden oder jedenfalls der Widerrede vorzubeugen“. 38 Haft (Fn. 36), 85 f., 87: „Der Prozess der Subsumtion erscheint danach als Vorgang, der in einem Erkenntnisakt (Erkenntnis der Prämissen, wobei das Gesetz den Fall gewissermaßen unsichtbar immer schon enthält) und einen logischen Vollzugsakt (Durchführung des aufgrund der Prämissen zwingend gebotenen Schlußverfahrens) zerfällt.“

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de Version vereinigt den Interpreten mit dem „Sprecher“. Wer in der Fachwelt um Zustimmung wirbt, muss sowohl das positiv gegebene Gesetz wie auch den Auslegungskanon, den Savigny bis heute wirkend begründet hat, als Argument wie zusätzlich alle anderen möglichen Argumente einsetzen, wenn dies nach Meinung der Adressaten der lex artis entspricht; er muss seine Adressaten „ansprechen“ können, „. . . sich im Kopf des Adressaten auskennen; . . . er muss wissen, welche Ansichten dort gelten, welche nichts wert sind; welche Vorurteile . . . festgefügt, welche erschütterbar, widerleglich sind; welche Methoden als richtige Wege anerkannt, welche als Holzwege verrufen sind, welche Redeweisen und Vokabeln ankommen, welche den Zugang versperren“.39 Die Hermeneutik ist nicht die Jurisprudenz schlechthin, sondern ein Werkzeug des „Interpreten“ für seinen „Eigenbeitrag“ zur (einvernehmlichen) Herstellung einer konkreten Rechtslage im „Rechtsbetrieb“.40 Schon diese nur grobe Skizze der Theorie der juristischen Rhetorik zeigt eine frappante Parallelität zu Humboldts Sprachtheorie – von der sprachlichen/juristischen Vorausstattung, die den Blick und die Verarbeitung des Erblickten beim Sprecher/juristischen Interpreten lenkt (These 1), über das eingebaute Mitbedenken der Antwort/der Gegenargumente der Adressaten (These 2), bis zum Eigenbeitrag des Sprechers/des juristischen Interpreten zur Sprache/zum Recht (These 3). Es fehlt nur die ausdrückliche, aber eigentlich selbstverständliche Feststellung der Rhetoriktheorie, dass die eingesetzte Rhetorik am wirksamsten sein dürfte, wenn das Gesetz, der Interpret und die Fachwelt, an die er sich richtet, dieselbe Sprache verwenden. Die Bedeutung des Sprachdenkens von Humboldt für die Rechtswissenschaft lässt sich mithin dahin zusammenfassen, dass die juristische Methodenlehre sich nicht allein auf Hermeneutik stützen, sondern sich der Rhetoriktheorie öffnen sollte.

IV. Wissenschaft Die Bedeutung des Sprachdenkens von Humboldt liegt – zusammengefasst – darin, dass, erstens, die Rechtswissenschaft sich für alle Sprachen offen zu halten hat, in denen Recht in Erscheinung tritt und in denen es wissenschaftlich behandelt wird, und, zweitens, darin, dass die appellative Funktion der Sprache für die rechtliche Ordnung von Sozialbeziehungen eine starke Rolle spielt. Die erstgenannte Feststellung gilt ohne Weiteres auch für die Philologien und Literaturwissenschaften der einzelnen Sprachen, die zweitgenannte, in ihrer Offensichtlichkeit, vielleicht nur für die Rechtswissenschaft. 39 40

Gast (Fn. 36), 21. Gast (Fn. 36), 11 Rn. 34, 7 Rn. 22 ff., 244.

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Für andere Wissenschaftsbereiche stoßen beide Feststellungen aber auf die Tatsache, dass viele Wissenschaften mehr und mehr auf das Englische als allgemeine Wissenschaftssprache setzen. Das gilt offensichtlich und fast vollständig für die eigentlichen Naturwissenschaften, mehr und mehr aber auch für die Sozial- und Geisteswissenschaften wie die Wirtschaftswissenschaft, die Geschichtswissenschaft, die Psychologie, selbst für die Sprachwissenschaft.41 Ist also die Rechtswissenschaft, wenn sie mit Humboldts Sprachdenken den englischen Monolinguismus nicht mitmacht, ein Sonderling in Universität und Wissenschaft, führt Humboldt sie mit seinem Denken gar aus seiner Universität hinaus? 1. Leitsprache Englisch? Die Umstellung von Forschung und Lehre auf die englische Sprache als Leitmedium wird von Kultusministerien, zentralen Wissenschaftsorganisationen und Universitätsleitungen gern als Ausweis von Qualität und Internationalität gesehen und wird von diesen deshalb sogar vorangetrieben. Sie ist aber eindeutig das Gegenteil von Humboldts Sprachauffassung und stößt allmählich auf zunehmenden Widerstand. Die Kritik verweist auf die Verengung der wissenschaftlichen Perspektiven durch das Leitmedium und namentlich auf die Bevorzugung englischer und amerikanischer Fragestellungen;42 auf die Verarmung der anderen Sprachen, aus denen die Wissenschaft auszieht; auf den sich weitenden Spalt zwischen der Wissenschaft und der sie umgebenden Gesellschaft, falls diese nicht Englisch spricht;43 auf die ab41 Das Thema verursacht in der Wissenschaft schon seit längerem je nach Standpunkt Genugtuung, Verwunderung, Unbehagen oder Widerwillen. Neueste Bestandsaufnahmen und Diskussion bei Claus Gnutzmann (Hrsg.) English in Academia – Catalyst or Barrier?, 2008, mit einführendem Überblick von Gnutzmann/Bruns 9–24 und Angabe der sonstigen Literatur 22–24; Angelika Redder/Konrad Ehlich (Hrsg.) Mehrsprachigkeit für Europa – sprachen- und bildungspolitische Perspektiven, in: OBST (Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie), Heft 74, 2008. Frühere solche Beiträge bei Hartwig Kalverkämper/Harald Weinrich (Hrsg.) Deutsch als Wissenschaftssprache, 1986; Heinz L. Kretzenbacher/Harald Weinrich (Hrsg.) Linguistik der Wissenschaftssprache, 1995; Ulrich Ammon (Hrsg.) The Dominance of English as a Language of Science, 2001; Andreas Gardt/Bernd Hüppauf (Hrsg.) Globalization and the Future of German, 2004; Uwe Pörksen (Hrsg.) Die Wissenschaft spricht Englisch? – Versuch einer Standortbestimmung, 2005; Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD) (Hrsg.) Deutsch als Wissenschaftssprache – Tagungsbeiträge Berlin 2007. 42 Diese ist etwa in der Wirtschaftswissenschaft klar erkennbar; Francke Zur Verdrängung der deutschen Sprache aus den Wirtschaftswissenschaften in Deutschland, in: Pörksen (Fn. 41), 30–35. 43 Es gilt auch für die Wissenschaft, was ein weiterer Großer der Berliner Universität dem damaligen Recht (und damit auch Savigny!) vorgeworfen hat: „Die Gesetze so hoch aufhängen, wie Dionysius der Tyrann tat, dass sie kein Bürger lesen konnte, – oder aber sie in den weitläufigen Apparat von gelehrten Büchern, Sammlungen von Dezisionen abweichender Urteile und Meinungen, Gewohnheiten u.s.f. und noch dazu in einer fremden

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nehmende Wahrnehmbarkeit und Reputation der Länder, in denen Wissenschaft nicht mehr in der Landessprache betrieben wird; auf Monopolbildung, asymmetrische Machtzuteilung und Dominanz in der Welt der Wissenschaft, die allein schon dadurch zu erlangen ist, dass eine bestimmte Sprache verwendet wird.44 Hier soll nur erörtert werden, ob Humboldts Sprachdenken durch den Englischkurs der Wissenschaft auch für die Rechtswissenschaft entwertet wird, ob diese sich also wissenschaftlich und universitär isoliert, wenn sie Humboldts Bedeutung für sich anerkennt. Für das Englische als Leitsprache der Wissenschaft auch außerhalb Britanniens und der USA wird in der Regel nur ein Argument vorgebracht, nämlich das der leichteren und schnelleren internationalen Kommunikation. Die Ergebnisse der Forschung, wo immer gewonnen, seien in dieser international am meisten verbreiteten Sprache sofort weltweit wahrnehmbar und diskutierbar. Möglichst viele Wissenschaftler sollten deshalb diesen Zustand herstellen. Das Argument ist unrealistisch; es hebt nur einen Ausschnitt des Wissenschaftsbetriebes hervor und verzerrt damit insgesamt das Bild von Wissenschaft. Diese besteht nicht erst und nicht nur in der Mitteilung ihrer Ergebnisse. Vielmehr beginnt sie im idealtypischen Fall mit der Frage und mit der Planung des Untersuchungsvorhabens. Dafür leistet das Englische keine besonderen Dienste. Der Forscher wird vielmehr in der ihm geläufigsten Sprache nachdenken und wird spätestens dann, wenn er für sein Vorhaben Mittel einwerben, Personen anstellen und instruieren, Kollegen für das Vorhaben einnehmen muss, bemerken, dass er sich tunlich in der Sprache derjenigen äußert, um deren Kenntnis und Zustimmung ihm zu tun ist. Das kann das Englische sein, muss es aber nicht. Immer noch ist in etwa zwei Dritteln der Welt nicht Englisch die geläufige Sprache. Es folgt die Durchführung des Vorhabens. In den Geisteswissenschaften muss nun gelesen, diskutiert und nachgedacht werden. In den Naturwissenschaften und den empirischen Sozialwissenschaften steht nach dem Lesen und Nachdenken über das Untersuchungsziel und den einzuschlagenden Weg das Zählen, Messen, Wiegen und Beobachten. Das Sprechen spielt hier nur beim Diskutieren in der Gruppe eine Rolle, aber das Englische muss es nicht sein, wenn die Beteiligten sich besser anders verständigen. Das Vorhaben wird Ergebnisse bringen, wenn vielleicht auch nicht die gesuchten und vermuteten. Diese müssen festgehalten werden. Das muss in den Geisteswissenschaften schriftlich geschehen, bei den NaturwissenschafSprache vergraben, so daß die Kenntnis des geltenden Rechts nur denen zugänglich ist, die sich gelehrt darauf legen, – ist ein und dasselbe Unrecht“ G.W.F. Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 215. 44 Darüber auch Hans Joachim Meyer Kommunikation oder Dominanz?, in: DAAD (Fn. 41), 9–22; Karl-Otto Edel Die Macht der Sprache in der Wissenschaft, 2010.

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ten und den empirischen Sozialwissenschaften geschieht es aber auch oder nur durch Tabellen, Kurven, Schaubilder; Sprache tritt dann erst auf in den Versuchsprotokollen und in dem Text, der die bildhaften Fixierungen erklärt und verbindet. Das Englische leistet aber hierfür, wie in den beschriebenen Vorstufen, nichts Besonderes. Sodann folgt die Interpretation und die Bewertung der Ergebnisse und ihre Verbindung mit dem bisherigen Wissen: sind sie willkommen, weichen sie ab vom Bekannten, bestätigen sie es, berichtigen, widerlegen, ergänzen sie es? Hier, unter Umständen erstmalig, müssen nun auch die Naturwissenschaftler und die empirischen Sozialwissenschaftler etwas Sprache aufbieten; eine Fremdsprache kann hinderlich sein, kann aber auch nützlich sein, wenn etwa das bisherige Wissen hauptsächlich in dieser Sprache vorliegt. Nun geht es an die Verbreitung des Gefundenen und für richtig und wichtig Gehaltenen, zunächst an die engere Fachwelt, sodann an die sich immer mehr weitende Fach- und schließlich allgemeinste Außenwelt. Nur dieser Abschnitt des Prozesses ist gemeint, wenn von den Vorzügen des Englischen die Rede ist. Dabei stellen die Werber für das Englische aber selbst diesen bloßen Teil des Gesamtprozesses um ein Wesentliches verkürzt dar, nämlich so: Forschungsergebnisse werden gewonnen, in Sprache oder Bildern festgehalten, in Sprache bewertet und dann (jetzt spätestens und am besten auf Englisch) als Ergebnis der Forschung (= neue Wahrheit) verbreitet – Abschluss des Vorhabens, Ende der Vorstellung! Es fehlt in dieser Beschreibung das Überzeugen der Empfänger dieser Mitteilung. Diese können gegenüber dem Neuen gleichgültig oder skeptisch sein, Einwände haben, widersprechen, und auch darauf muss der Forscher vorbereitet sein und eingehen. Er muss seine neue Wahrheit interessant machen, sie begründen und gegen Einwände verteidigen, Widerstand ausräumen, kurzum: er muss argumentieren. Dieses soziale Ringen um Anerkennung des Neuen dürfte selbst in den sich ganz objektiv wähnenden Naturwissenschaften nicht selten vorkommen und notwendig sein. Nach Popper ist es in der Verbreitung der neuen Erkenntnisse geradezu angelegt, weil deren Mitteilung an die Fachwelt nie etwas anderes sein kann als eine nur vorläufige Wahrheit, eine Einladung zum Versuch der Widerlegung oder Erschütterung („Falsifizierung“). Für dieses Ringen muss der Wissenschaftler unter Umständen alles sprachliche Können aufbieten – „Rhetorik“ –, und es ist evident, dass das Englische für alle diejenigen, für die es nicht die ihnen geläufigste Sprache ist, kein Vorteil, sondern eine Behinderung ist. 2. Sprachfeindschaft Das Englische dem rhetorischen Können vorzuziehen, gefällt vielen, besonders in der Naturwissenschaft, vermutlich auch deshalb, weil die Er-

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kenntnistheorie seit jeher ein latentes Misstrauen, sogar eine „Feindschaft“, gegen die Sprache hegt. Seit Platon und Aristoteles müht man sich mit dem wissenschaftlichen Ungenügen der Allgemeinsprache. Diese ist oft ungenau, vieldeutig und in der Zeit veränderlich, dazu noch (seit Babel) nicht einheitlich, vielmehr immer der Übersetzung in die anderen Sprachen bedürftig, was zu zusätzlicher Ungenauigkeit führt. Diese Eigenschaften der Allgemeinsprache widersprechen dem Streben der Wissenschaft nach eindeutiger und endgültiger Erkenntnis, nach der „Wahrheit“. Große der Wissenschaft haben deswegen immer wieder versucht und dazu aufgerufen, die Wissenschaft von der Allgemeinsprache zu (er)lösen, ihr eine eigene Sprache zu schaffen, in die der Sprachalltag nicht hineinreden kann (Francis Bacon, Leibniz, Gottlob Frege, der frühe Wittgenstein).45 Aus dieser Sicht ist die mathematische Formel die ideale Sprache der Wissenschaft.46 Als das Lateinische seit der frühen Neuzeit in der Wissenschaft allmählich durch die „Volkssprachen“ verdrängt wurde, galt dies aus jener Sicht als ein wissenschaftlicher Verlust, weil die Wissenschaft im Lateinischen tatsächlich eine eigene Sprache gehabt hatte, in der man keine Trübungen der Eindeutigkeit und Bekanntheit durch die Unwissenden und ihre Allgemeinsprache befürchten musste. Das Englische als Hochsprache der internationalen Wissenschaft, besonders in seiner Kunstvariante des Basic Simple English (BSE), auch als „Kongressenglisch“ bezeichnet, hat ebenfalls den Zauber eines solchen von den Volkssprachen (auch der englischen) abgehobenen einheitlichen Sprachsystems. Gegenüber der Suggestion, die von Englisch als abgehobener Wissenschaftssprache ausgehen mag, ist jedoch daran zu erinnern, dass der Erfolg „der Wissenschaft“, namentlich der Naturwissenschaft in der Neuzeit gerade darauf beruht, dass sie aus dem Lateinischen in die Volkssprachen bewusst „umgestiegen“ ist. Berühmte Namen sind dafür Galilei und Newton. Galilei trug in seinen Discorsi von 1637 seine Theorien so vor, dass in einem fiktiven Disput die Vertreter der „alten“ Lehre lateinisch reden, die Vertreter der neuen (heliozentrischen) Lehre dagegen ihre Beweise in dem kräftigen und farbigen Italienisch seiner Zeit vorbringen.47 Newton schrieb und veröffentlichte seine Opticks 1704 auf Englisch und ließ sie dann ins Lateini45 Die spätere Wende bei Wittgenstein, vom „Tractatus logico-philoophicus“ (1921) zu den „Philosophischen Untersuchungen“ (1953), beschreibt Trabant (Fn. 2), 304 f. 46 Über die latente „Sprachfeindschaft“, die „Sehnsucht“ der Wissenschaft nach der Einheitssprache besonders ausführlich und kritisch Trabant (Fn. 21), 150–172; ders. Warum sollen die Wissenschaften mehrsprachig sein?, Vortrag auf der Tagung von GoetheInstitut und DAAD in Berlin am 19.9.2009, schriftliche Fassung, mir freundlicherweise zugänglich gemacht, 17 Seiten; ders. Über das Ende der Sprache, in: Markus Messling/Ute Tintemann (Hrsg.) „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache“ – Zur Sprachlichkeit des Menschen, 2009, 17–36, 21–23, 24–26. 47 Galilei Discorsi e Dimostrazioni matematiche, intorno a due nuove scienze, 1637, Neudruck 1965 (Le opere di Galileo Galilei, Band VIII).

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sche übertragen, um einen größeren Leserkreis zu erreichen.48 Entstanden waren sie auf Englisch – aus den Erörterungen in der „Royal Society“, wo auf Englisch debattiert wurde.49 Auf die Allgemeinsprache greift selbst die Naturwissenschaft auch heute noch gern zurück; namentlich deren Bildlichkeit erscheint unentbehrlich, und zwar nicht nur zur Beschreibung und Erklärung von Ergebnissen, sondern auch zur Gewinnung neuer Untersuchungsansätze. Schwarze Löcher, die Sterne fressen, elektrischer Strom, der fliesst, Licht, das durch das Fenster fällt, sich dabei als Teilchen oder Welle bewegt, Doppelhelix, die sich windet, Helfer (Hilfsproteine), die Funktionsproteine bedienen, Gene, die springen, sich im Empfängergenom einnisten oder sich dort durchsetzen. Diese Sprachbilder erlauben den Naturwissenschaftlern, ihre Erkenntnisse „figürlich-bildlich zur Sprache und damit zur Welt zu bringen“ – ein schöpferischer, ganz offensichtlich sprachlich vermittelter Vorgang.50 Sie regen aber auch an zu Weiterem. Die Vorstellung vom Licht als „Welle“ wird völlig andere Experimente auslösen als seine Vorstellung als „Teilchen“. Gene, die „springen“ können, führen auf völlig andere Arbeitshypothesen zur Prüfung ihres Verhaltens in der Zelle als die Vorstellung, sie seien fest an ihren Platz im Genom „gebunden“.51 Die folgende Zusammenfassung des Naturwissenschaftlers könnte Humboldt selbst geschrieben haben: „Grammatik und Konnotationen jeder einzelnen Muttersprache erfassen, strukturieren, sichern und spiegeln die Wirklichkeit auf ihre je eigene Weise. Das „richtige“ Sprachbild zur intuitiven (kreativen) Erfassung neuer Zielbereiche der Forschung und neuer, auch abstrakter Sachverhalte entscheidet über präzisierende Arbeitshypothesen und Modelle und damit unter Umständen sogar über ganze Forschungsrichtungen. Auch zu ihrer Verbreitung ist naturwissenschaftliche Erkenntnis auf bildhaftes, zusätzlich auch rhetorisches Argumentieren angewiesen. Daher könnte während des Erkenntnisprozesses und bei der anschaulichen Erklärung seiner Ergebnisse eine wis48 Newton Opticks: or a Treatise of the Reflexions, Refractions, Inflexions and Colours of Light, 1704; ders. Optice: Sive de Reflexionibus, Refractionibus, Inflexionibus & Coloribus Lucis, 1706. 49 Die Vorgänge werden dargestellt und gewürdigt von Winfried Thielmann Alltagssprachen als wissenschaftliche Ressource, in: DAAD (Fn. 41), 45–56. 50 Die Beispiele verwendet Hermann H. Dieter (Toxikologe) Man sieht, was man (er)kennt – Sprachenvielfalt als Zukunftsversprechen, in: Jahrbuch Ökologie 2007 (hrsg. von Günter Altner u.a.), 2006, 11–20, 17 f.; ders. Was Bilder vermögen – Warum die Muttersprache für das Erkennen unerläßlich ist, in: Deutsche Sprachwelt, Ausgabe 33, 2008, 6. Ebenso Ralph Mocikat (Biomediziner) Sprache als heuristisches Werkzeug im naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess, in: Redder/Ehlich (Fn. 41), 65–73. Ausführliche sprachwissenschaftliche Analysen bei Winfried Thielmann Fachsprache der Physik als begriffliches Instrumentarium, 1999; ders. Deutsche und englische Wissenschaftssprache im Vergleich – Hinführen, Verknüpfen, Benennen –, 2009. 51 Dieter Bilder (Fn. 50), 6.

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senschaftliche Einheitssprache der Komplexität der Wirklichkeit niemals gerecht werden. Der alltagssprachliche Austausch zwischen den Forschern und ihrem gesellschaftlichen Umfeld ist für den wissenschaftlichen Fortschritt unerlässlich. Er ist Voraussetzung für das Erkennen und Finden neuer Zielbereiche, für die Sicherung und Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnis und für die Formulierung und erfolgreiche Kommunikation und Bearbeitung inter- und transdisziplinärer Fragen.“52 3. Selbstbeschränkung Aus der Sicht des Sprachdenkens von Humboldt führt die Erhebung des Englischen zur Obersprache der Wissenschaft, auf deren Gebrauch eigentlich jeder Wissenschaftler, der auf sich hält, hinarbeiten muss, offensichtlich zu einem Verlust an Welterfassung, weil die Erhebung des Englischen differierende Weltsichten, die mit anderen Sprachen verbunden sind, abwertet. Sie hat aber einen weiteren Verlust zur Folge, der in der Diskussion um die rechte Sprache der Wissenschaft bisher kaum angesprochen worden ist. Die weltweite Wissenschaftssprache Englisch ist keine ganz abgehobene Kunstsprache, sondern die Allgemein- und Volkssprache in Ländern, die eine große und leistungsfähige Wissenschaftlerpopulation haben, aus denen also gewichtige Beiträge zur Weltwissenschaft zu erwarten sind, vor allem aus Großbritannien und Nordamerika. Für die meisten Wissenschaftler in diesen Ländern ist Englisch die Erstsprache oder jedenfalls die geläufigste Sprache. Dies verringert für sie den Anreiz, sich überhaupt auf andere Sprachen einzulassen in demselben Maße, wie ihr Englisch zum weltweit allein gültigen Erkenntnis- und Verkehrsmedium deklariert wird. Sie verzichten damit auf die zusätzliche Welterfassung, die andere Sprachen ihnen eröffnen würden, sie schalten vorzeitig ab: wissenschaftliche Selbstbeschränkung! Der Tatbestand ist öffentlich sichtbar. Publikationen aus diesen Ländern verwerten nur ganz selten anderes als Englisch Geschriebenes. Auf Tagungen, die nicht auf Englisch abgehalten werden, sind britische und amerikanische Teilnehmer rar. Die amerikanischen Zitatemeßstationen (Zitierindizes) berücksichtigen ausländische Publikationen, und besonders die in anderer Sprache, nur höchst lückenhaft und in keinem auch nur annähernd realistischen Verhältnis zur Menge der ernstzunehmenden Publikationen des Auslands. In Großbritannien ist das Nichtkennen von Fremdsprachen inzwischen offizielle Schulpolitik; Fremdsprachen sind für die Sekundarstufe als Pflichtfach kürzlich abgeschafft worden. Die geringe Verbreitung von Fremdsprachenkenntnis in den USA ist notorisch. 52 Dieter Bilder (Fn. 50), 6. Ebenso Mocikat Ein Plädoyer für die Vielfalt – Die Wissenschaftssprache am Beispiel der Biomedizin, in: Forschung & Lehre (F&L) 2007, 90–92: „Die Muttersprache ist das präziseste Werkzeug, das dem kreativen Denken zu Gebote steht“.

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Für die Wissenschaft, weltweit gesehen, führt diese Haltung zu einem Verlust. Wenn ein beachtlicher Teil der internationalen Wissenschaftlerpopulation die Erkenntnisquellen nicht nutzt, die in anderen Sprachen zu finden sind, und damit unterhalb seiner intellektuellen Möglichkeiten und seiner eigentlichen Leistungsfähigkeit bleibt, entgeht auch der Gesamtheit das entsprechende Quantum an Einsichten und Wissensvermehrung. Dieser Verlust lässt sich auch nicht dadurch hinwegzaubern, dass man den Standard senkt, indem man alles, was auf Englisch produziert wird, für Spitze und damit für ausreichend erklärt. Das Manko in der wissenschaftlichen Anstrengung bleibt. Diese Anstrengung, natürlich nur im Rahmen der jeweils gegebenen geistigen und institutionellen Möglichkeiten, muss der gesamten Wissenschaftlerpopulation der Welt immer wieder abgefordert, als Standard vorgehalten werden. Wenn dagegen das partielle, sprachlich bedingte Nichtwissen-Wollen und Nichtwissen-Können zur internationalen wissenschaftlichen Tugend erhoben wird, werden auch die anderen Teile der Population in ihren Bemühungen um fremdsprachlich gestützte Wissenserweiterung nachlassen und der Gesamtverlust ist komplett.

V. Universität und Fakultät Es wurde hier dargelegt, dass nicht nur die Rechtswissenschaft, sondern die Wissenschaft überhaupt mögliche Erträge vergibt, wenn nur eine Sprache, heute das Englische, zu derjenigen erklärt wird, in welcher Forschung und Lehre zur besten Qualität und zum höchsten Ansehen gelangen können. Viele mächtige Personen und Institutionen sind aber genau dieser, Humboldt entgegenlaufenden und hier kritisierten Ansicht. In Deutschland ist es offizielle Schul- und Wissenschaftspolitik, das Englische in der Schule an den Rang des Deutschen heranzuführen (Stichworte: Immersionsunterricht von Anfang an, Fachunterricht bestimmter Bereiche nur auf Englisch), in der Universität ihm gleichzustellen,53 und für den akademischen Auftritt außerhalb Deutschlands (auch vor anderen Fremdsprachen) ihm den Vorrang zu geben. Die Betreiber dieser Politik machen gar nicht den Versuch, dem Englischen eine allen anderen Sprachen überlegene Eignung zum Ausdruck wissenschaftlicher Erkenntnisse zu attestieren, sondern es geht ihnen allein um das Potential dieser Sprache zur Verbreitung von Ergebnissen und ihrer Begründungen, also um kommunikatorische Quantität. Die offensichtlichen Verluste an inhaltlicher und argumentatorischer Qualität, die mit dieser 53 Englisch war 2007 in 250 von insgesamt 1976 weiterführenden Studiengängen („Master“) allgemeine Unterrichtssprache; Klein Dümmer auf Englisch, in: DAAD (Fn. 41), 59.

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Werthaltung akzeptiert werden sollen, werden von den Werbern für den internationalen Monolinguismus des Englischen nicht thematisiert, wahrscheinlich nicht einmal mehr bemerkt, weil sie glauben, mit Englisch per se an der Spitze zu stehen und in ihm am ehesten zu finden, was neu, interessant, wichtig und attraktiv ist. Die Erhebung des Englischen zur Höchstsprache ist also in Wahrheit keine Wahl des wissenschaftlich bestgeeigneten Mediums, sondern ein sozialer und politischer Willensakt – die suggestive Zuschreibung von Prestige und Funktion an die dazu erkorene Wissenschaftssprache. Die Humboldt-Universität und ihre Juristische Fakultät folgen bislang dieser Suggestion. Zwar werden noch die meisten Lehrveranstaltungen und Prüfungen auf Deutsch abgehalten, die wissenschaftlichen Gespräche auf Deutsch geführt, neue Wissenschaftler auf Deutsch angeworben. Aber das ist selbstverständlich, nichts Besonderes in einem Land, dessen Studierende ganz überwiegend mit Deutsch aufgewachsen sind und ganz überwiegend auch mit Deutsch ihr Berufsleben führen werden. Bei der Einwerbung von Mitteln und bei der Universitätsleitung zählt es nichts, ist langweiliges „täglich Brot“. Wenn es um Neues, Internationales, Interessantes, Aufmerksamkeit Erheischendes geht, muss Englisch her – Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch erschienen wahrscheinlich abwegig, Deutsch eben zu langweilig. Zur europäischen Neubenennung der akademischen Abschlüsse mit „Bachelor“ und „Master“ ist die Universität zwar durch die KMK-Beschlüsse und das Berliner Hochschulrecht gezwungen worden; europäisch rechtsverbindlich waren diese Bezeichnungen aber nicht, vielmehr allein ein Ausdruck gesamtdeutscher Auto-Anglo-Suggestion,54 und man hat nicht bemerkt, dass die Humboldt-Universität – gar unter Berufung auf Humboldt! – der Bezeichnung öffentlich widersprochen hätte. In der Juristischen Fakultät gibt es ebenfalls das demonstrative Englisch. So ist vor kurzem ein Institut für interdisziplinäre Rechtsforschung eröffnet worden (darunter wird auch die Rechtssoziologie verstanden); es heißt aber nicht so, sondern Law & Society Institute Berlin (LSI Berlin), den deutschen Namen trägt es nur im Untertitel. Das demonstrative, sozial und politisch Überhebende dieses Namens wird deutlich, wenn man weiß, dass zum Beispiel auch Deutschland, Frankreich und Italien starke Rechtssoziologien haben und dass zur internationalen Erkennbarkeit des Instituts das Englische auch als Untertitel oder Zweitname gereicht hätte. 54 Hierauf weist immer wieder der frühere sächsische Wissenschaftsminister (und Emeritus der Anglistik an der Humboldt-Universität) Meyer hin, (Fn. 44), 18 f.; ders. „Lingua franca“ – Ein Wort, das für uns denkt?, Vortrag anlässlich seiner Ehrenpromotion an der Technischen Universität Dresden am 18.12.2002 (hrsg. vom Rektor der TU Dresden), 33–49, 46. Ausführlich auch Kurt Reinschke Akademische Grade und Ämter in den deutschen Landen im Wandel der Zeiten, in: Freiheit der Wissenschaft (Zeitschrift) 2009, Nr. 2, 4–14.

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Noch demonstrativer ist der Name der Einrichtung, die im Jubiläumsjahr der Humboldt-Universität in einer eigenen Veranstaltung der Juristischen Fakultät eröffnet und dadurch öffentlich herausgehoben werden soll – European Law School. Es handelt sich um einen vollwertigen juristischen Studiengang, der die Absolventen zur Berufsausübung in Europa, jedenfalls aber in Deutschland, Frankreich und Großbritannien befähigen soll. Organisiert wird er von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität gemeinsam mit je einer prominenten Fakultät in London und Paris. An jeder dieser Fakultäten verbringen die Studierenden einen gleichrangigen Teil des Studiums in der dortigen Landessprache. Gleichwohl soll die neue Einrichtung ihren Namen nicht auch auf Deutsch und Französisch haben – die Demonstration für das Englische fällt (gewollt?) besonders deutlich aus, weil der allein englische Name gerade nicht beschreibt, was mit dem Studiengang erreicht und in ihm geschehen soll, nämlich europäische Rechtslehre mit einem europäisch akzeptierten Abschluss in wenigstens drei, den meistgesprochenen europäischen Sprachen. Wilhelm von Humboldt hätte zu alledem sagen können: I am not amused. Aber wie könnte die Universität, die nicht nur komfortabel seinen Namen führen, sondern auch sein Erbe pflegen und nutzen will, sich dem herrschenden Glauben an das Englische entziehen, ohne dadurch ins wissenschafts- und universitätspolitische Abseits zu geraten? Einige zentrale deutsche Wissenschaftsorganisationen (nicht die Max-Planck-Gesellschaft, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die großen Stiftungen!) sind zur Sprachpolitik in der Wissenschaft inzwischen durch eine Anhörung im Deutschen Bundestag aus ihren Englischträumen aufgeschreckt worden. Im Februar 2009 verfassten sie eine „Gemeinsame Erklärung“, in welcher sie dazu aufrufen, im deutschen Interesse die deutsche Sprache neben der englischen „lingua franca“ als Sprache der Wissenschaft weiter (wieder?) anzuerkennen und durch Wissenschaft in deutscher Sprache für sie zu werben.55 Eine Hinwendung zu Humboldt ist das noch nicht, weil in der Erklärung noch die Vorstellung von einem je bilateralen Verhältnis der einzelnen Landessprache zur zentralen englischen lebt.56 Im Sprachdenken Humboldts 55

Deutsch als Wissenschaftssprache – Gemeinsame Erklärung der Präsidenten von AvH, DAAD, Goethe-Institut und HRK; Pressemitteilung des DAAD vom 18.2.2009, abrufbar unter www.daad.de. Dazu ergänzend und kritisch Arbeitskreis Deutsch als Wissenschaftssprache (ADAWiS), Stellungnahme vom 10.3.2009: „Deutsch als Wissenschaftssprache“, abrufbar unter www.adawis.de. 56 Der Begriff der „lingua franca“ schillert. Bedeutet er nur eine „Verkehrssprache“ (wie früher Kisuaheli an der afrikanischen Ostküste, heute Englisch in Luftverkehr, Schifffahrt und internationalem Kapitalmarkt) oder die internationale „Normsprache für wichtige Äußerungs- und Lebensformen“, die Sprache schlechthin „für die Lebenswirklichkeit des beginnenden 21. Jahrhunderts“?; Meyer (Fn. 54), 37, 40. Eher in diesem letzteren Sinne, als ein Verhältnis von Zentrum und Peripherie zwischen Englisch und Deutsch, erscheint er noch in der Gemeinsamen Erklärung.

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haben alle Kultursprachen (auch das Englische) für die Vermehrung von Wissen und Erkenntnis ihren eigenen gleichen, aber wegen der Existenz der anderen Sprachen nicht absoluten Wert. Die Humboldt-Universität und ihre Juristische Fakultät könnten sich daran erinnern, dass nicht nur das Streben nach Internationalität auf Englisch, sondern auch der Gedanke des Wettbewerbs der Universitäten in der Wissenschaftspolitik guten Klang hat. Sie könnten die herrschende Tendenz zu English first als Kontrasthintergrund benutzen, um selbstbewusst mit Humboldts Namen und Sprachdenken die Mehrsprachigkeit der Wissenschaft für sich zu reklamieren und sie bewusst zu pflegen. Es wäre ein Alleinstellungsmerkmal für den internationalen und deutschen Universitätsvergleich, ein Aufstehen gegen den vorherrschenden Wind, welches ihnen positive Aufmerksamkeit verschaffen würde. Statt der Internationalität auf Englisch, die weltweit zu austauschbaren Werbefassaden der Universitäten führt, wäre die Universität der Mehrsprachigkeit, in der neben der Landessprache alle wichtigen Kultursprachen prinzipiell gleichermaßen hochgeschätzt werden, ein starkes Originalitäts-Argument. Der Juristischen Fakultät müsste dieser Umschwung nicht nur wegen der erwähnten starken Landesverankerung der Rechtswissenschaft leicht fallen. Sie hat unter den vielen Großen ihrer Geschichte viele, die allein durch den Gehalt ihrer Schriften, nicht erst durch den Gebrauch einer internationalen Einheitssprache, weltweite Beachtung fanden und noch finden. Einer von ihnen, Ernst Rabel, hat den Gegenstand einer internationalen Rechtswissenschaft einmal so beschrieben: „Der Stoff des Nachdenkens über die Probleme des Rechts muss das Recht der gesamten Erde sein. . . . Tausendfältig schillert und zittert unter Sonne und Wind das Recht jedes entwickelten Volkes. Alle diese vibrierenden Körper zusammen bilden ein noch von niemandem mit Anschauung erfasstes Ganzes.“57 Dieses „Ganze“ wird mit English only (oder auch nur mit English first) nicht zu erfassen und nicht zu vermitteln sein. Nur durch hohe Achtung aller Sprachen und Nutzung möglichst vieler von ihnen, in denen das Recht lebt, kann das Denken im Sinne von Humboldt das Recht von Land zu Land und als weltweites Ganzes begreifen. Für die Juristische Fakultät, aber auch für die Universität als ganzes, verbietet sich deshalb nach Wilhelm von Humboldt jegliches Programm und jede Neigung, wissenschaftlich ergiebige Landessprachen hinter das Englische zurückzusetzen. Vielmehr ist es ein Grundzug der Universität der Mehrsprachigkeit, dass sie von ihren Lehrern, Forschern und Studierenden neben der Achtung der Landessprache bis zur 57 Rabel Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung, in: Ernst Rabel Gesammelte Aufsätze, Band 3 (hrsg. von Hans G. Leser), 1967, 1, 3 f.

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Grenze ihres Könnens die Kenntnis und den Gebrauch einer Anzahl von Fremdsprachen verlangt und ihnen zum Erwerb solcher Kenntnis planmäßig verhilft. Eine gewollte Selbstbeschränkung auf eine einzige, anerkannte Wissenschaftssprache für den Blick und die Wirkung nach außen gibt es in einer Humboldt-Universität nicht.

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Rechtssoziologisches Denken an der Berliner juristischen Fakultät Rechtssoziologisches Denken an der Berliner juristischen Fakultät Thomas Raiser

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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Soziologische Dimensionen der Rechtswissenschaft in Berlin bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Nachkriegsgeschichte und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Die Begründung der Rechtssoziologie wird in Deutschland gewöhnlich in die Zeit um 1910, also des 100jährigen Bestehens der Berliner Universität, und kurz vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges angesetzt. Sie ist verknüpft mit den Namen von Eugen Ehrlich und Max Weber. Beide Gründerväter waren nach ihrer wissenschaftlichen Herkunft Juristen und Rechtshistoriker. Ehrlich hatte Zeit seines Lebens einen Lehrstuhl für Römisches Recht inne und lehrte auch österreichisches Zivilrecht. Aus seiner Feder stammen grundlegende und auch heute noch bedeutsame Arbeiten zur juristischen Methodenlehre, mit denen er zur Überwindung der herrschenden Begriffsjurisprudenz beitrug.1 Noch weiter ging er mit der Behauptung, eine Rechtswissenschaft, welche ihre Aufgabe nur darin sieht, das Gesetzesrecht in ein begrifflich und logisch folgerichtiges gedankliches System zu bringen, erfasse das Wesen und die Wirklichkeit des Rechts nicht angemessen. Genau besehen sei die dogmatische Jurisprudenz überhaupt keine Wissenschaft, sondern eine Technik und handwerkliche Kunstlehre für die Juristen, welche das Recht anzuwenden haben. Die eigentliche wissenschaftliche Lehre vom Recht sei demgegenüber die Rechtssoziologie als Bestandteil der theoretischen Gesellschaftswissenschaften.2

1 Ehrlich Über Lücken im Rechte, 1888; ders. Die stillschweigende Willenserklärung, 1893; ders. Die richterliche Rechtsfindung aufgrund des Rechtssatzes, 1917. 2 Ehrlich Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, 4. Auflage 1989, 28.

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Weber habilitierte sich in Berlin für römisches Recht und Handelsrecht,3 wandte sich dann allerdings alsbald der Nationalökonomie und wenig später der aufstrebenden Soziologie zu und kehrte nie wieder zu Themen der Auslegung, Anwendung und Systematisierung des geltenden Rechts zurück. Aber seine Rechtskenntnisse und seine juristische Prägung scheinen in seinen großen Werken, namentlich in seiner Ausarbeitung der Grundbegriffe und Methoden der Soziologie, überall durch. Hinter dem Denken beider stand ein aus den Naturwissenschaften stammender Begriff von Wissenschaft als einer auf Erkenntnis der Wahrheit, nicht auf richtiges Handeln und Entscheiden gerichteter gedanklicher Tätigkeit. Doch findet sich, ungeachtet ihrer Frontstellung gegen die schulmäßige Jurisprudenz ihrer Zeit, bei ihnen auch schon die Spannweite eines Denkens, das den Gegensatz zwischen Theorie und Empirie, Normativität und Faktizität überbrückt und beide miteinander verbindet. Rechtssoziologie ist für sie sowohl ein Teilgebiet der Soziologie als einer umfassend verstandenen Rechtswissenschaft. Im zweiten Jahrhundert der Berliner Universität drifteten beide Disziplinen auseinander und entfalteten sich sehr unterschiedlich. Die Rechtssoziologie erreichte in Gestalt der Rechtstatsachenforschung eine schwache Blüte, bis sie nach 1933 ausgelöscht und ihre Repräsentanten ins Exil vertrieben wurden. Auch in der DDR fand sie nur einen unfruchtbaren Boden. An der Berliner Freien Universität konnte sie sich, wie auch an den westdeutschen Universitäten, zwar langsam erholen, blieb aber eine Randerscheinung. Ihr Wachstum vollzog sich im Ausland, namentlich in den USA, aber auch zum Beispiel in Japan. Dagegen erlebte die dogmatische Jurisprudenz seit dem Ende des zweiten Weltkriegs, genährt vom gewachsenen Bedarf an für ihren Beruf akademisch ausgebildeten Juristen und demgemäß dank der Vermehrung der rechtswissenschaftlichen Lehrstühle, einen außerordentlichen Aufschwung. Dabei erweiterte sich zwar auch der Blick der Juristen für die Rechtstatsachen. An die Stelle der Begriffsjurisprudenz trat die zweck- und wertbezogene Interessenjurisprudenz. Aber die Verknüpfung von juristischem und soziologischem Denken gelang immer weniger und wurde von den meisten Rechtslehrern auch nicht für wichtig und erstrebenswert gehalten. Die „gesellschaftlichen Grundlagen des Rechts“ blieben neben Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte zwar eines der so genannten Grundlagenfächer, an denen auch die Ausbildungs- und Prüfungsordnungen festhielten. Aber in der Realität wurde das Fach an den juristischen Fakultäten ausgehungert oder marginalisiert. Allen Forderungen nach Verstärkung interdisziplinärer Forschung zum Trotz wurde zudem die intellektuelle und organisatorische Distanz zwischen gesellschaftswissenschaftlichen und juristischen 3 Vgl. Webers Habilitationsschrift „Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht“, 1891, Neuausgabe 1988.

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Fakultäten immer größer. Im Ergebnis ist die Rechtssoziologie, wie Baer in dieser Festschrift näher ausführt,4 aus den juristischen Fakultäten ausgewandert, während sich an den sozialwissenschaftlichen Fakultäten eine Rechtssoziologie „ohne Recht“ entwickelt. Diese gewinnt seit einiger Zeit sichtbar an Kraft und Dynamik, auch an Einfluss auf die Gesetzgebung. Aber an der Jurisprudenz zieht der Prozess vorüber. Der Blick auf die Geschichte der Berliner juristischen Fakultät lehrt, dass dies nicht so sein muss. Im Gegenteil gründen die Lehren besonders ihrer herausragenden Mitglieder schon des 19. Jahrhunderts in einer von die Kenntnis historischer Fakten genährten Gesellschaftstheorie, wie sie heute in die Domäne der Soziologen oder Politologen fallen würde. Man kann mit Blick darauf sogar die Behauptung aufstellen, dass große wissenschaftliche Leistungen und Fortschritte auch in der Rechtswissenschaft sowohl eine umfassende Kenntnis der gesellschaftlichen Realitäten als auch eine fruchtbare Gesellschaftstheorie voraussetzen und implizieren. Dies zu zeigen ist das Ziel des vorliegenden Beitrags. Er will mit der ausführlicheren Darstellung des wissenschaftlichen Werks der Geehrten an anderer Stelle dieser Festschrift nicht konkurrieren, sondern sie um diesen einen Aspekt ergänzen. Deshalb wird sich die Darstellung jeweils auf den einen Punkt beschränken. Jedoch tritt gerade dabei die eindruckvolle Vielfalt und Originalität der Sichtweisen hervor, welche die Rechtssoziologie auszeichnen. Vielleicht gelingt es auf solche Weise, mit Blick auf die Zukunft der beiden juristischen Fakultäten in Berlin und der Pflege der Rechtssoziologie in ihnen, Tore für eine nachhaltige künftige Entfaltung interdisziplinärer Forschung zu öffnen, welche die trennenden Schranken zwischen den Fächern und Fakultäten überwindet.

II. Soziologische Dimensionen der Rechtswissenschaft in Berlin bis 1933 1. In Berlin reicht die soziologische Fundierung rechtswissenschaftlichen Denkens bereits bis in die Geburtsstunde der heutigen Humboldt-Universität zurück. Sie verdichtet sich in der Person des Gründers ihrer juristischen Fakultät Friedrich Carl von Savigny und in seiner berühmten, als sein erstes Berliner Werk geschriebenen Abhandlung „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“.5 Die herausragende Bedeutung dieser Schrift als Manifest der Distanzierung Savignys vom Naturrechtsdenken und von den großen Gesetzgebungswerken des Allgemeinen Preußischen Landrechts, des französischen Code Civil und des österreichischen 4 5

S. 920. Hier zitiert nach: Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften, 1973.

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Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie als Formulierung eines groß angelegten rechtswissenschaftlichen Programms ist oft dargestellt worden6 und wird auch in der vorliegenden Festschrift an anderer Stelle gewürdigt.7 Aus der Sicht der Rechtssoziologie richtet sich der Blick auf Savignys Lehre von der Entstehung des Rechts. Savigny begründet seine Abwehr der Forderung nach einer dem Code Civil und dem ABGB gleichkommenden Kodifikation des deutschen Zivilrechts und seine Hinwendung zu einer geschichtlich und systematisch orientierten Rechtswissenschaft mit der Überzeugung, dass Recht nicht naturrechtlich vorgegeben ist oder durch die Willkür eines staatlichen Gesetzgebers gesetzt wird, sondern in einem langen historischen Prozess aus dem Geist eines Volkes hervorwächst. Wenn er in diesem Sinn schreibt: „Wo wir zuerst urkundliche Geschichte finden, hat das bürgerliche Recht schon einen bestimmten Charakter, dem Volk eigentümlich, so wie seine Sprache, Sitte, Verfassung. Ja diese Erscheinungen haben kein abgesondertes Dasein, es sind nur einzelne Kräfte und Tätigkeiten eines Volkes, in der Natur untrennbar verbunden, und nur unserer Betrachtung als besondere Eigenschaften erscheinend. Was sie zu einem Ganzen verknüpft, ist die gemeinsame Überzeugung des Volkes, das gleiche Gefühl innerer Notwendigkeit, welches alle Gedanken an zufällige und willkürliche Entstehung ausschließt“.8

und dann weiter, „Alles Recht (entsteht) auf die Weise, welche der herrschende, nicht ganz passende Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht bezeichnet, d.h., daß es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch innere, stillwirkende Kräfte, nicht durch die Willkür eines Gesetzgebers.“9

so vertritt er eine evolutionäre Sicht der Rechtsbildung, welche die Rechtssoziologie später aufgreift und vertieft. So stellt Eugen Ehrlich seiner „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ den Satz als Motto voran, „der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst“.10 Das ganze Buch ist dem Nachweis dieses Satzes gewidmet. Und Max Weber führt denselben Gedanken in seiner Rechtssoziologie in groß angelegter universalgeschichtlicher Perspektive im Hinblick auf eine evolutionär fortschreitende Rationalisierung des Rechts durch.11 Bei beiden sind die Wurzeln ihrer soziologi6 Vgl. statt aller Wolf Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte4, 1963, 467; Wieacker Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2, 1967, 381; Hattenhauer Europäische Rechtsgeschichte, 1992, 542. 7 Rückert S. 133. 8 AaO (Fn. 5), 102, orthographisch an die heutige Schreibweise angepasst. 9 AaO (Fn. 5), 105. 10 Vorrede zur Ehrlich (Fn. 2). 11 Weber Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Teil Kapitel VII (Rechtssoziologie).

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schen Deutung der Rechtsentwicklung in der historischen Rechtsschule unverkennbar, deren Programm Savigny 1814 in Berlin formuliert hatte. Sie unterscheiden sich von Savigny insofern, als sie die bewegende Kraft der Rechtsentwicklung nicht in erster Linie in den kulturellen Anschauungen eines Volkes sahen, sondern in den realen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen. 2. Zwei Generationen nach Savigny ist der 1860 an die Berliner Juristische Fakultät berufene Levin Goldschmidt einer der Wegbereiter der Rechtsoziologie. Goldschmidt genießt bis heute den Ruf des Begründers der Wissenschaft des Handelsrechts in Deutschland.12 Seine Hauptbedeutung liegt darin, dass er insbesondere das Recht der Handelsgesellschaften als Produkt universaler Bedürfnisse und Praktiken des Wirtschaftslebens im Mittelalter ansah, also von Handelsbräuchen und Handelsgewohnheitsrecht, die erst nachträglich in die Rechtsfiguren und in das begriffliche Rechtssystem eingefügt oder vom staatlichen Gesetzgeber aufgegriffen und festgeschrieben wurden. Er vertrat damit eine sozialwissenschaftlich fundierte Theorie der Entstehung des Rechts als Produkt gesellschaftlicher und ökonomischer Bedürfnisse und Prozesse. 3. Durch die historische Schule geprägt betreibt auch Otto von Gierke, wiederum eine Generation später, in seinem monumentalen Werk zum deutschen Genossenschaftsrecht ausgedehnte geschichtliche Rechtstatsachenforschung. Zugleich entwickelt Gierke eine Gesellschaftstheorie, welche das Gemeinwesen als Hierarchie menschlicher Verbände versteht, in die das Leben jedes Einzelnen eingebettet ist, angefangen von den kleinsten Gemeinschaften wie Ehe und Familie über gesellige, politische, religiöse Vereinigungen und Wirtschaftsunternehmen bis hin zum nationalen Staat und zur Völkergemeinschaft. Der Ansatz impliziert wiederum eine evolutionäre Vorstellung von der Rechtsentwicklung. Aus ihm leitet Gierke einen dreigliedrigen Rechtsbegriff ab, in dem er zwischen dem individualistischen, die persönliche Freiheit der Menschen gestaltenden und schützenden Privatrecht und dem vom Prinzip der Herrschaft gekennzeichneten Staatsrecht eine Sphäre des Sozialrechts ausmacht, welche die Einordnung der Einzelnen in die sozialen Verbände und ihre genossenschaftsartige Mitwirkung an deren Leben normiert.13 Auch Gierkes Genossenschaftstheorie und ihre Wirkungsgeschichte sind im juristischen Schrifttum oft eingehend gewürdigt worden14 und werden in 12 Vgl. die Würdigung von K. Schmidt im ersten Teil der vorliegenden Festschrift S. 327; ferner Schön ZHR 172 (2008), 504. 13 S. Gierkes berühmte Rektoratsrede Das Wesen der menschlichen Verbände, 1902, Neudruck 1954, 28. 14 Vgl. statt aller Boehmer Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung, Band 2, 1951, 155; Wolf (Fn. 6), 669; Wieacker (Fn. 6), 453; Dilcher Genossenschaftstheorie und Sozialrecht. Ein „Juristensozialismus“ Otto v. Gierkes?, Quaderni Fiorentini 1975, 319 ff.

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dieser Festschrift an anderer Stelle dargestellt,15 weshalb sie hier nicht ausgeführt zu werden brauchen. Stattdessen gilt es wie bei Savigny und Goldschmidt auch bei ihm hier, den typisch sozialwissenschaftlichen Charakter seines Ansatzes herauszustellen. Er liegt in seinem Verständnis der Verbände als mit einem eigenen Leben ausgestatteten „Organismen, deren Teile die Menschen sind“. Denn diese sind nach ihm „reale Einheiten mit eigener Wesenheit“ und als solche durch ihre dazu berufenen „Organe“ willens- und handlungsfähig.16 Im gesellschaftlichen Leben werden sie als „Lebenseinheit eines aus Teilen bestehenden Ganzen“ wahrgenommen; die Handlungsweisen der Menschen werden „durch leibliche und seelische Einwirkungen bestimmt, die aus ihrer Verbundenheit stammen, so dass „eine stete Wechselwirkung zwischen Individualität und Gemeinschaft“ stattfindet.17 Die Einheit der Verbände ist durch eine normative innere Ordnung gesichert, welche das Verhältnis zwischen den Individuen und der Gemeinschaft regelt und die, soweit der Verband auch rechtlich anerkannt wird, Rechtscharakter trägt. Gierke stellt seine Verbandstheorie der auf Savigny zurückgehenden individualistischen Sicht gegenüber, welche die rechtliche Eigenständigkeit menschlicher Verbände nur als Fiktion oder als personifiziertes Vermögen verstehen konnte. Er setzt seine Lehre aber auch von den tradierten spirituellen und metaphysisch verankerten Staats- und Verbandstheorien ab. Auf der anderen Seite betont er unermüdlich, dass seine organische Theorie nur als Vergleich und wissenschaftliche Erkenntnishilfe gemeint ist, welche die Verbände nicht mit dem natürlichen Organismus individueller Lebewesen identifiziert. Wenngleich seine Analogie zu dem menschlichen Organismus aus heutiger Sicht zu weit geht, ist Gierke auf solchem Weg zu einem Wegbereiter nicht nur der modernen Theorie der juristischen Person, sondern auch der soziologischen Organisations- und Systemtheorie geworden. Zugleich folgt aus seinem Ansatz eine neue, kollektivistische, Sicht der Rechtsentwicklung, wie sie später Ehrlich in dem Motto seiner „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ zusammenfasst, wonach „der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung…auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz, sondern in der Gesellschaft selbst“ liegt.18 Wenn für Gierke das Recht nicht in erster Linie eine Frucht der Geistesund Kulturgeschichte ist, sondern Ausfluss der realen, insbesondere wirtschaftlichen und politischen Lebensbedingungen eines Volkes, kommt er Marx‘ Lehre vom Recht als Überbau der ökonomischen Verhältnisse nahe, 15 16 17 18

Vgl. Thiessen 343. Formulierungen aus Gierkes Rede (Fn. 13), 13, 15. AaO (Fn. 13), 18, 24. Vorrede zu Ehrlich (Fn. 2).

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ohne dessen Klassentheorie zu übernehmen. Marx Vorstellung einer proletarischen Revolution und der Einrichtung einer künftigen klassenlosen und staatsfreien Gesellschaft ist ihm fremd. Doch bekämpft er wie kein anderer Jurist seiner Zeit die Einseitigkeit der bürgerlich-liberalen Wirtschaftsgesellschaft und des Kapitalismus und fordert als Gegengewicht die Bildung und rechtliche Anerkennung von Arbeitervereinigungen. Im Entwurf des BGB vermisst er, in seiner berühmt gewordenen Formulierung „ein Tropfen sozialistischen Öls“.19 Infolge solcher Kritik ist er neben Marx, aber anders als dieser, auch ein Stammvater der kritischen Komponente der Rechtssoziologie. 4. Ungeachtet ihres neuen Blicks für die der Rechtsentwicklung zugrunde liegenden kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Kräfte waren Savigny, Goldschmidt und Gierke noch Vorboten und Wegbereiter der Rechtssoziologie, nicht deren Begründer. Denn sie befreiten sich noch nicht von dem normativ und geisteswissenschaftlich orientierten Denken der herkömmlichen, primär an der Ausbildung abstrakter Rechtsbegriffe und eines in sich geschlossenen Systems des geltenden Rechts interessierten Pandektenjurisprudenz. Die Befreiung von den durch diese aufgestellten Schranken zugunsten einer methodisch ausgearbeiteten und konsequent verfolgten empirisch-sozialwissenschaftlichen Betrachtung des Rechts ist erst das Verdienst des Meisterschülers von Goldschmidt und Gierke, Max Weber, der durch diesen Schritt zum eigentlichen deutschen Gründer und bis heute maßgeblichen Wegweiser der Sozialwissenschaften wurde. Webers methodische, religions-, wirtschafts-, rechts- und herrschaftssoziologischen Werke sind allerdings nicht mehr in Berlin entstanden und können daher nicht Gegenstand der vorliegenden Ausführungen sein.20 Doch hat sein sozialwissenschaftliches Denken, wie vor allem die neueren Untersuchungen von Deininger21 und Dilcher22 gezeigt haben, schon in den Jahren, die er zwischen 1882 und 1893 als Student, Doktorand, Habilitand und kurzzeitiger Professor für römisches Recht und Handelsrecht an der Berliner Juristischen Fakultät zugebracht hat, erste und bleibende Gestalt gefunden. In seiner von Goldschmidt angeregten und betreuten und auf ausgedehntem Quellenstudium beruhen19

Gierke Die Soziale Aufgabe des Privatrechts, 1889, 13. Vgl. dazu Th. Raiser Max Weber und die Rationalität des Rechts, JZ 2008, 853; ders. Handelsgesellschaften und politische Verbände in der Rechtssoziologie Max Webers, FS für K. Schmidt 2009, 1307 ff. 21 Deininger Nachwort zur Neuausgabe von Webers Habilitationsschrift (Fn. 3). 22 Dilcher Von der Rechtsgeschichte zur Soziologie. Max Webers Auseinandersetzung mit der Historischen Rechtsschule, JZ 2007, 105 ff. Der Aufsatz beschäftigt sich mit Webers Berliner Dissertation „Entwickelung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaft aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den italienische Städten, 1889, wenig später von Weber in erweiterter Form publiziert unter dem Titel Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Nach südeuropäischen Quellen, 1891. 20

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den Dissertation zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter kam Weber zu dem Ergebnis, dass die offene Handelsgesellschaft und deren maßgebliche Kennzeichen – Ausbildung eines eigenen Gesellschaftsvermögens, Solidarhaftung der Gesellschafter, Auftreten der Handelnden namens der Gesellschaft unter deren Firma – aus den germanischen Haus- und Brüdergemeinschaften hervorgegangen sind und ihre mittelalterliche Ausbildung nicht dem römischen Recht und den in den Rechtsschulen von Bologna und Padua ausgebildete Juristen verdanken, sondern den Bedürfnissen von Produktion und Handel in den oberitalienischen Städten. Die Schrift erregte Aufsehen in der Fakultät, weil sie ihren Verfasser als ungewöhnlich breit gebildeten und eigenständigen Denker auswies. Dilcher stellt fest, dass einige später ausgearbeitete Grundfiguren des Weberschen Denkens – die Unterscheidung zwischen emotional gefühlter Gemeinschaft und zweckbestimmter, durch Willensakt und Vertrag geschaffener Gesellschaft, das Thema der Rationalisierung der Lebensbeziehungen in der westlichen Kultur und die der wissenschaftlichen Erkenntnis dienende Denkfigur des Idealtypus – bereits in seiner Dissertation angelegt sind.23 Noch offenkundiger wird die weite, offene und die Grenzen der schulmäßigen Jurisprudenz hinter sich lassende Sicht Webers in seiner Habilitationsschrift zur Bedeutung der römischen Agrargeschichte für das Staatsund Privatrecht, in welcher er die Probleme der Zuweisung von landwirtschaftlich nutzbarem Grund und Boden, dessen Besteuerung und dessen Nutzung als Kreditsicherheit als wirtschaftlichen und sozialen Hintergrund des römischen Immobiliarsachenrechts herausarbeitet. Bezeichnenderweise hat Weber für diese Forschungen, obwohl sie für eine Habilitation an der juristischen Fakultät bestimmt waren, die Betreuung durch den Ökonomen und Agrarhistoriker Meitzen gesucht. Wie weit er sich bereits zur Zeit seiner Berliner Habilitation von der Pandektistik und von der normativ-dogmatischen Denkweise der Juristen entfernt hatte, lässt sich auch daran erkennen, dass er sich kaum ein Jahr nach der Habilitation entschloss, als Professor für Nationalökonomie nach Freiburg zu gehen anstatt seiner Berufung zum Professor für Römisches Recht und Handelsrecht in Berlin zu folgen. 5. Schon an der Schwelle zum 20. Jahrhundert steht der 1899 an die Berliner Juristische Fakultät berufene und hier bis 1916 das Ordinariat für Strafrecht versehende Franz von Liszt, dessen den Sozialwissenschaften zugehörende Leistung die Begründung der Kriminologie ist.24 Liszt war geprägt vom Zweckrationalismus Rudolf von Jherings und vom naturwis23

AaO (Fn. 22), 111 f. Eine eingehende Würdigung Franz von Liszts durch Francisco Muñoz Conde findet sich im ersten Teil dieser Festschrift S. 439; Liszts wichtigste – auch strafrechtsdogmatische – Abhandlungen sind in seiner Sammlung „Strafrechtliche Aufsätze“, 2 Bände, 1905, veröffentlicht. 24

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senschaftlichen Erkenntnisstreben seiner Zeit. Er suchte aus dieser Sicht Ursachen für das Entstehen von Verbrechen und fand sie, ungeachtet verbrecherischer Anlagen, vor allem in äußeren belastenden Lebensumständen eines Täters und negativen Einflüsse seiner sozialen Umwelt. Zur Aufstellung kriminologischer Tätertypen, zum Beispiel des gewohnheitsmäßigen Sittlichkeitsverbrechers, bediente sich von Liszt auch schon statistischer Daten und Verfahren. Sein zweites sozialwissenschaftlich orientiertes Arbeitsgebiet waren die Entwicklung einer Lehre von den Strafzwecken und Untersuchungen über die Wirkungen von Strafen, wonach der Strafvollzug nicht in erster Linie der rückblickenden Sühne begangener Verbrechen dient, sondern der Besserung des Täters und der Abschreckung anderer vor künftigen Straftaten, das heißt der Verbrechensprävention und der Sicherung der Gesellschaft. 6. Als einer der aus der Berliner Juristischen Fakultät hervorgegangenen Gründer der Rechtssoziologie muss weiter Hermann Kantorowicz genannt werden. Kantorowicz hatte seit 1896 in Berlin studiert und wurde hier promoviert. Anschließend sah er sich jedoch als Jude Schwierigkeiten ausgesetzt, im wilhelminischen Preußen eine akademische Laufbahn zu erreichen, und wich aus diesem Grund zur Habilitation nach Freiburg aus, wo ihm 1908 die Lehrbefugnis für die Fächer Strafrecht, Geschichte der Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie erteilt wurde.25 Seine wichtigen rechtssoziologische Werke sind daher, wie schon die Werke Max Webers, nicht mehr in Berlin entstanden. Schon als junger Mann wurde er aber als ein Gelehrter von ungewöhnlichem Wissen und außerordentlicher geistiger Kraft und Produktivität beschrieben. Berühmt gemacht hat ihn seine bereits in Berlin konzipierte und 1906 unter dem Decknamen Gnaeus Flavius veröffentlichte Streitschrift „Der Kampf um die Rechtswissenschaft“, in welcher er das die Schuljurisprudenz beherrschende Dogma der Lückenlosigkeit der Gesetze, namentlich des neuen Bürgerlichen Gesetzbuchs, frontal angriff und stattdessen den „königlichen“ Richter beschrieb und forderte, dem die unvermeidliche Aufgabe zufällt, rechtsfortbildend die Lücken zu füllen.26 Die Kritik an der Vorstellung, richterliche Entscheidungen seien durch die Gesetze vollständig determiniert, bildet den Hintergrund der späteren Richtersoziologie. Obwohl Kantorowicz durchaus an der Gesetzesbindung der Gerichte festhielt, soweit sie klare Vorschriften aufstellen, ist er mit seiner Schrift ne25 Vgl. die Biographie von Muscheler Hermann Ulrich Kantorowicz, 1984, und meine Abhandlung „Hermann Ulrich Kantorowicz“, in: Lutter/Stiefel/Hoeflich (Hrsg.) Der Einfluss deutscher Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den USA und in Deutschland, 1993, 365 ff. 26 Die Schrift ist neben zahlreichen anderen Aufsätzen wieder abgedruckt in: Kantorowicz Rechtswissenschaft und Soziologie. Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre, 1962, 13 ff.

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ben Eugen Ehrlich zum Vordenker der so genannten Freirechtslehre geworden. In der Tat ist diese die Frucht einer sich von der Bindung an dogmatische Verengungen des Blicks befreienden soziologischen Betrachtungsweise des Rechts. Folgerichtig betonte Kantorowicz auch schon die Unentbehrlichkeit der empirischen Rechtsforschung als Ergänzung zur Rechtsdogmatik. Erwähnung verdient sein im Anschluss an Kant formuliertes dictum „Dogmatik ohne Soziologie ist leer, Soziologie ohne Dogmatik ist blind“.27 7. Nach dem Inkrafttreten des BGB im Jahr 1900 sah die herrschende zivilrechtliche Lehre ihre Aufgabe hauptsächlich in der Auslegung der großen Kodifikationen und vertrat deshalb methodisch einen entschiedenen Gesetzespositivismus. Zugleich brach sich aber als Reaktion auf die Wirklichkeitsferne der Begriffsjurisprudenz und unter dem Einfluss der emporstrebenden Sozialwissenschaften die Erkenntnis Bahn, dass ein tieferes Verständnis des Rechts die Erforschung der Fakten erfordere, die ihm zugrunde liegen und welche es regeln sollte. Daraus entstand die Rechtstatsachenforschung, welche das Ziel verfolgte, die für die Gesetzgebung und für die Anwendung der Gesetze relevanten sozialen Umstände empirisch zu untersuchen. Kein Geringerer als Martin Wolff, der in Berlin lehrende Verfasser des berühmten Lehrbuchs des Sachenrechts, wandte sich 1906 als junger Professor an die juristische Öffentlichkeit, um mittels einer Umfrage über „Das Bürgerliche Gesetzbuch und die deutschen Lebensgewohnheiten“ die tatsächliche Bedeutung festzustellen, „welche den einzelnen Rechtsinstituten des BGB im Leben des deutschen Volkes zukommt“, und auf diesem Weg „ein klares Bild der Sitten des deutschen Rechtslebens“ zu gewinnen“.28 Wolff legte zu diesem Zweck der führenden juristischen Zeitschrift einen Fragebogen bei und bat die Leser, ihn ausgefüllt zurückzusenden. Zwei Jahre später erschien die Auswertung im Archiv für zivilistische Praxis.29 8. Bald darauf, 1914, veröffentlichte der an der Berliner Fakultät habilitierte, in Berlin als Rechtsanwalt praktizierende und zugleich das Handelsund Wirtschaftsrecht lehrende Privatdozent Arthur Nußbaum seine große Programmschrift „Die Rechtstatsachenforschung“, welche der neuen Forschungsrichtung den Namen gab.30 Nußbaum forderte eine Erweiterung der Privatrechtswissenschaft durch die „systematische wissenschaftliche Verarbeitung und zusammenhängende Kenntnis“ der „induktiv zu erforschenden Tatsachen“, deren „Kenntnis für ein volles Verständnis und eine sachgemä27 In: Rechtswissenschaft und Soziologie. Verhandlungen des ersten deutschen Soziologentags, 1911, wieder abgedruckt bei Kantorowicz (Fn. 26), 139 ff. 28 Juristische Wochenschrift 1906, 15. 29 Sengall, AcP 32 (1908) 410. 30 Vgl. zu Nußbaum auch die Darstellung von Hopt im 1. Teil der vorliegenden Festschrift S. 545. Nußbaums wichtigste Programmschriften sind wieder erschienen in dem von Rehbinder herausgegebenen Sammelband Die Rechtstatsachenforschung. Programmschriften und praktische Beispiele, 1968.

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ße Anwendung der Normen“ erforderlich ist.31 Später sprach er von den „sozialen, politischen und anderen sozialen Bedingungen, aufgrund derer einzelne rechtliche Reglungen entstehen“, und von den „sozialen, politischen und sonstigen Wirkungen“ eines Gesetzes.32 Den Nutzen rechtstatsächlicher Forschungen sah Nußbaum zunächst für die Wissenschaft. Die Kenntnis der faktischen Bedeutung der Rechtsnormen sollte die Gelehrten davon abhalten, ihren Fleiß und Scharfsinn auf Gegenstände zu vergeuden, die im Leben überhaupt nicht vorkommen, und sie veranlassen ihre wissenschaftlichen Energien stattdessen fruchtbarer einzusetzen. Als Beispiele nannte er die Inhabergrundschuld und die Rentenschuld. Aber auch den Rechtsunterricht wollte Nußbaum im Licht der Rechtstatsachenforschung erneuern, indem die zahlreichen Vorschriften des BGB, die praktisch tot geblieben sind, übergangen und bei den praktisch wichtigen nicht nur die dogmatischen, sondern auch wirtschaftliche, technische, psychologische und sonstige Hintergründe und Auswirkungen behandelt werden. Auf diese Weise sollten die Lebensnähe und Anschaulichkeit der behandelten Stoffe erhöht werden.33 Um sein Programm selbst in die Tat umzusetzen, gründete Nußbaum in der Berliner Fakultät ein Seminar für Rechtstatsachenforschung und führte selbst eine große Zahl von im Wesentlichen auf das Wirtschaftsleben bezogene empirische Untersuchungen durch. Außerdem rief er zwei einschlägige Schriftenreihen „Beiträge zur Kenntnis des Rechtslebens“ und „Gesellschaftsrechtliche Abhandlungen“ ins Leben, in denen weitere Arbeiten veröffentlicht werden konnten.34 In der folgenden Zeit breitete sich sein Programm aus und brachte gerade auch in Berlin eine Vielzahl wichtiger Monographien hervor.35 Heute wird man nicht fehlgehen mit der Feststellung, dass sich die Ergänzung rechtsdogmatischer Arbeit durch Rechtstatsachenforschung, wie sie Nußbaum forderte, in der deutschen Jurisprudenz durchgesetzt hat und zur allseits anerkannten und vielfach praktizierten Arbeitsweise wurde. Methodisch verblieb Nußbaum allerdings, im Gegensatz zu den etwa zur gleichen Zeit entstandenen weiterführenden Schriften von Max Weber und 31

Nußbaum Die Rechtstatsachenforschung. Ihre Bedeutung für Wissenschaft und Unterricht, 1914, wieder abgedruckt bei Rehbinder (Fn. 30), 18 ff. 32 So Nußbaums Formulierungen in dem rückblickenden Aufsatz Die Rechtstatsachenforschung, AcP 154 (1955) 453 ff., wieder abgedruckt bei Rehbinder (Fn. 30), 57 ff., 67. 33 Nußbaum (Fn. 32), 24, 30 ff. 34 Darauf weist Nußbaum rückblickend selbst hin, aaO (Fn. 32), 68. 35 Nachweise im Vorwort von Rehbinder zu Nußbaum (Fn. 30), 14 f; Nußbaum erwähnt aaO (Fn. 32), 68 die Bücher von Friedländer Konzernrecht, 1927; Hedemann Die Entwicklung des Bodenrechts, Band 1, 1930, Band 2, 1935; Rühl Eigentumsvorbehalt und Abzahlungsgeschäft, 1930, Großmann-Doerth Das Recht des Überseekaufs, 1930; Haussmann Das Recht der Unternehmenszusammenfassungen, 1932; L. Raiser Das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1935.

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Eugen Ehrlich, im Umfeld der sich auf die Rechtsanwendung beziehenden dogmatischen Jurisprudenz. Er betonte, die Auswahl der Themen habe lediglich nach den Bedürfnissen der Rechtslehre und nach spezifisch juristischen Gesichtspunkten zu erfolgen.36

III. Nachkriegsgeschichte und Gegenwart 1. 1933 brach die weitere Ausbreitung der Rechtstatsachenforschung jäh ab. Nußbaum wurde ebenso wie Martin Wolff aus der Berliner Universität vertrieben. Er hatte das Glück, an der Columbia Universität in New York eine zweite, nicht weniger fruchtbare wissenschaftliche Karriere beginnen zu können. In Deutschland wurden Rechtsoziologie und Rechtstatsachenforschung nicht fortgeführt. Erst lange nach dem Ende des 2. Weltkriegs konnten sie sich von dem Einbruch erholen. Es ist das Verdienst vor Ernst E. Hirsch, sie 1964 in Berlin, nunmehr an der Freien Universität, wieder aufgenommen zu haben. Hirsch hatte als junger Wissenschaftler Deutschland nach 1933 gleichfalls verlassen müssen und bis 1952 als herausragender Universitätslehrer in Istanbul und Ankara maßgeblich zur Modernisierung des türkischen Rechts beigetragen. In Ankara hatte er auch begonnen, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie zu lehren. 1952 gelang es dem damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, ihn zur Rückkehr nach Deutschland und Übernahme eines Lehrstuhls für Handelsrecht und Rechtssoziologie an der Freien Universität zu bewegen, wo er bis 1967 lehrte.37 In der Rechtssoziologie musste es Hirsch zunächst darum gehen, in Deutschland wieder Anschluss an die internationale Entwicklung zu finden. In seinen eigenen rechtssoziologischen Arbeiten widmete er sich in erster Linie den theoretischen Grundlagen des Fachs: Die Aufgabe der Rechtssoziologie ist für ihn die Klärung der „Interdependenz von menschlichem Sozialleben und rechtlicher Ordnung“.38 Die Menschen leben infolge ihrer biologisch vorgegebenen Natur in Gruppen miteinander und sind in ihrer psychischen und intellektuellen Ausstattung auf ein solches Leben eingerichtet. Jede Gruppe bedarf einer normativen Ordnung, das heißt eines Geflechts von Regeln, deren Verwirklichung im gemeinschaftlichen Leben gefordert und mit bestimmten Einrichtungen und Mitteln durchgesetzt wird. 36

Nußbaum (Fn. 32), 9, 21, 40, 90 ff. Vgl. die Autobiographie Hirschs Als Rechtsgelehrter im Lande Atatürks, 2008, 251. 38 Siehe zum Folgenden die Aufsätze von Hirsch Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge; Was kümmert uns die Rechtssoziologie?; Macht und Recht, sowie den Aufriss von Hirschs Vorlesung „Rechtssoziologie“, sämtlich abgedruckt in dem Sammelband: Hirsch Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, Beiträge zur Rechtssoziologie, 1966, 25, 38, 243, 315. 37

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Das Recht ist neben Brauch, Sitte und anderen sozialen Verhaltensmustern eine Erscheinungsform solcher Normen im sozialen Ordnungsgefüge. Da es überall in den zwischenmenschlichen Beziehungen auch die Ausübung von Macht, also Über- und Unterordnung gibt, gehört es zu den wichtigsten Aufgaben des Rechts, Machtverhältnisse zu regeln. Der Initiative von Ernst Hirsch ist vor allem die Gründung des Instituts für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung an der Freien Universität Berlin zu verdanken. Dessen doppelte Bezeichnung war Ausfluss der in der Zwischenzeit im Ausland vollzogenen Fortentwicklung der Disziplin, kennzeichnete aber auch sein eigenes Programm. Zum einen sollte es in der Tradition von Nußbaum die Rechtstatsachenforschung wieder beleben. Die Beschränkung darauf genügte in den 1960er Jahren jedoch nicht mehr, denn die Rechtssoziologie hatte sich, nicht zuletzt unter dem außerordentlichen internationalen Einfluss von Ehrlich und Weber, vor allem in den USA methodisch und institutionell nahezu vollständig von ihrer dienenden Rolle als Hilfswissenschaft der Jurisprudenz emanzipiert und als eigenständige akademische Disziplin einen geradezu stürmischen Aufstieg genommen. Infolge dieser Fortschritte konnte sie sich auch in Deutschland nicht mehr auf die – methodisch in der Zwischenzeit gleichfalls grundlegend fortentwickelte – empirische Rechtstatsachenforschung beschränken, sondern bedurfte eines eigenen begrifflichen Apparats und einer zugleich auf Empirie und gesellschaftstheoretischer Reflexion beruhender Methode. 2. Die Früchte dieser Entwicklung und des von Hirsch gegründeten Instituts schlagen sich in der gleichfalls von Hirsch ins Leben gerufenen und von seinem Schüler Manfred Rehbinder bis heute herausgegebenen „Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung“ nieder. Diese ist inzwischen auf 89 Bände angeschwollen, erscheint seit dem Weggang von Rehbinder aus Berlin allerdings nicht mehr als Organ des Berliner Instituts. Gleichwohl belegt die Fülle der in der Reihe behandelten Themen bis heute die Spannweite von Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung in ihrem von Hirsch konzipierten Zuschnitt. Rehbinder hat in ihr zahlreiche grundlegende Schriften maßgeblicher in- und ausländischer Theoretiker der Rechtssoziologie erstmals oder wieder zugänglich gemacht. Eine zentrale Rolle in zahlreichen Werken spielen Fragen der rechtssoziologischen im Unterschied zur rechtsdogmatischen Methode, zur Rechtsgeschichte und zur Rechtsvergleichung. Die lange Serie der Schriften zur Rechtstatsachenforschung beginnt mit Limbachs Buch über „Theorie und Wirklichkeit der GmbH“,39 sowie mit den Schriften Klotz über die Anlage von Mündelgeld40 39 Limbach Theorie und Wirklichkeit der GmbH, Die empirischen Normaltypen der GmbH und ihr Verhältnis zum Postulat von Herrschaft und Haftung, Schriftenreihe Band 2, 1966. 40 Klotz Die rechtstatsächliche und rechtspolitische Bedeutung der Vorschriften über die Anlage von Mündelgeld, Schriftenreihe Band 3, 1966.

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und von Elle zur Sicherung der Ansprüche aus Industrieobligationen,41 alle von 1966. Wichtige Beiträge beschäftigen sich mit der Verknüpfung der Rechtssoziologie mit den Nachbarwissenschaften, namentlich mit der Biologie und Biosoziologie, Psychologie, Psychoanalyse, Verhaltensforschung, Ökonomie und Wissenschaft von der Politik. Nicht zuletzt bietet die Reihe das Forum zur Veröffentlichung wichtiger Untersuchungen bestimmter Rechts- und Lebensbereiche, wozu beispielhaft aus den letzten Jahren die Bücher von Fechner zur Aufsicht über den Privatrundfunk in Deutschland42 und von Newig über symbolische Umweltgesetzgebung,43 beide von 2003, genannt seien. 3. Hirschs Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl Hubert Rottleuthner war dann der erste Soziologe, der in Deutschland an eine juristische Fakultät berufen wurde. Seine inzwischen über dreißigjährige Tätigkeit dort hat maßgeblich dazu beigetragen, die Rechtssoziologie im Bewusstsein der akademischen Jurisprudenz präsent zu halten und heimisch zu machen. Die Einbeziehung des Fachs in das Jurastudium im Zug der Reform der Juristenausbildungsgesetze der 1970er Jahre44 ermöglichte ihm, neben einer für alle Studierenden bestimmten Einführungsveranstaltung eine vertiefte Wahlfachausbildung in der Disziplin aufzubauen, die jedes Jahr eine nennenswerte Zahl von Studenten und Studentinnen anzog. Wissenschaftlich ist Rottleuthner in erster Linie Empiriker. Seine 1987 erschienene „Einführung in die Rechtssoziologie“ beschäftigt sich mit den quantitativen und qualitativen rechtssoziologischen Untersuchungsmethoden. Thematisch umfassen Rottleuthners vielseitige Arbeiten die soziologischen Grundlagen des Rechts, Vorgänge in Gesetzgebung und Justiz einschließlich der soziologischen Analyse von Gerichtsurteilen, die Untersuchung der Effektivität von Rechtsvorschriften und der Bedingungen ihrer Befolgung, den Zugang zu den Gerichten und Alternativen zum staatlichen Gerichtsverfahren.45 Insbesondere seit 1989 kamen das Recht und die Justiz 41 Elle Die rechtliche Sicherung der Ansprüche aus Industrieobligationen, Schriftenreihe Band 4, 1966. 42 Fechner Die Aufsicht über den Privatrundfunk in Deutschland, Schriftenreihe Band 83, 2003. 43 Newig Symbolische Umweltgesetzgebung, Rechtssoziologische Untersuchungen am Beispiel des Ozongesetzes, des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes sowie der Großfeuerungsanlagenverordnung, Schriftenreihe Band 84, 2003. 44 Durch § 5a des Deutschen Richtergesetzes in der Fassung von 1972 und die darauf fußenden Ausführungsgesetze der Bundesländer wurden neben den philosophischen und den geschichtlichen auch die gesellschaftlichen Grundlagen des Rechts Gegenstand der juristischen Universitätsausbildung und des ersten Juristischen Staatsexamens. 45 So konnte Rottleuthner zum Beispiel aufgrund einer Untersuchung der Arbeitsgerichtsbarkeit nachweisen, dass, entgegen dem während der unruhigen 1960er und 1970er Jahre aufgekommenen Verdacht einer Klassenjustiz, in der Bundesrepublik nur eine schwache Korrelation zwischen der sozialen Herkunft der Arbeitsrichter und ihren gesellschaftspolitischen Einstellungen besteht und dass sich statistisch keine Verbindung zwi-

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im Nationalsozialismus und in der Deutschen Demokratischen Republik hinzu. Im Jahr 2004 konnte er in einem für den Deutschen Juristentag erstellten rechtstatsächlichen Gutachten über die Praxis der Rechtsberatung Einfluss auf die inzwischen vollendete große Reform des nicht mehr zeitgemäßen Rechtsberatungsgesetzes nehmen.46 4. An der Humboldt-Universität konnte sich die Rechtssoziologie in der Zeit der DDR nicht entfalten. Umso mehr muss gerühmt werden, dass ihr nach der Deutschen Wiedervereinigung, entgegen einem andernorts verbreiteten Trend, auch hier wieder eine Wirkungsstätte geschaffen wurde. Die Berufung des Verfassers auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Unternehmens- und Wirtschaftsrecht, Rechtssoziologie und Bürgerliches Recht lässt schon durch dessen Bezeichnung erkennen, dass es das Ziel war, eine Brücke zwischen dogmatischer und sozialwissenschaftlich orientierter Jurisprudenz zu bauen.47 In diesem Sinn ist namentlich das Werk des Verfassers „Grundlagen der Rechtssoziologie“ von dem Bemühen getragen, rechtsrelevante sozialwissenschaftliche Themen, Theorien und Forschungsergebnisse für Juristen zugänglich und nutzbar zu machen.48

IV. Rückblick und Ausblick Die vorstehende, sich auf einige herausragende Mitglieder der Berliner Juristischen Fakultät konzentrierende Skizze der Rolle, welche die Rechtssoziologie in der Entfaltung der Rechtswissenschaften in Berlin in den ersten zweihundert Jahren des Bestehens gespielt hat, konnte nur exemplarisch sein. Eine vollständige Würdigung müsste mindestens auch noch Gelehrte wie zum Beispiel Josef Kohler, Rudolf Smend, Hermann Heller und Max Rheinstein einbeziehen. Versucht man, den Gang der Entwicklung im Ganzen zu überblicken, so springt als erstes der Einschnitt zwischen ihrem ersten und ihrem zweiten schen diesen beiden Merkmalen und dem Erfolg von Arbeitnehmern im Prozess feststellen lässt (Rottleuthner Soziale Merkmale, Einstellungen und Verhaltensweisen von Arbeitsrichtern, in: ders. Rechtssoziologische Studien zur Arbeitsgerichtsbarkeit, 1984, 291, 296). 46 Rottleuthner Rechtsberatung zwischen Deregulierung und Verbraucherschutz, Verhandlungen des 65. Deutschen Juristentags, 2004, Gutachten Teil H, 1; ders. Die Praxis des Rechtsberatungsgesetzes – eine rechtstatsächliche Untersuchung, NJW, Beilage zu Heft 27/2004, 40. 47 Eine erste Frucht der Berufung war eine empirische Studie über die Verfahren, durch welche die Humboldt-Universität nach 1989 reformiert wurde (Raiser Schicksalsjahre einer Universität. Die strukturelle und personelle Neuordnung der Humboldt Universität zu Berlin 1989 bis 1994). 48 Raiser Grundlagen der Rechtssoziologie, 2006, 5. Auflage des zuerst 1987 unter dem Titel „Rechtssoziologie“ und in der 2. und 3. Auflage unter dem Titel „Das lebende Recht“ erschienenen Lehrbuchs.

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Jahrhundert ins Auge, der mit dem Übergang von 19. zum 20. Jahrhundert zusammenfällt. Im 19. Jahrhundert findet sich noch keine Trennung zwischen rechts- und sozialwissenschaftlicher Betrachtung des Rechts. Savigny, Goldschmidt und Gierke beschäftigten sich mit den historischen Wurzeln des Rechts und den auf seine Ausbildung wirkenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräften um der wissenschaftlichen Durchdringung des in ihrer Gegenwart geltenden Rechts und seiner Systematisierung willen. Der Unterschied zwischen auf Fakten bezogener kognitiver Forschung und normativer Argumentation ist ihnen zwar geläufig, doch erheben sie ihn nicht zum wissenschaftlichen Prinzip. Die methodische Differenzierung zwischen juristischer Binnen- und soziologischer Außenperspektive ist ihnen noch fremd. Der Einschnitt zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird markiert durch die Emanzipation der Soziologie und mit ihr der Rechtssoziologie von der dogmatischen Jurisprudenz und ihre Etablierung als selbständige Wissenschaften mit eigenen Themen, Fragestellungen, Begriffen und Ausbildung der empirischen Forschungsmethoden. Kronzeugen dieser Entwicklung in Berlin sind neben ihrem Bannerträger Max Weber Franz von Liszt und Hermann Kantorowicz. Ihre erste Frucht ist seit Arthur Nußbaums Wirken der Aufstieg der Rechtstatsachenforschung. Im Übrigen war der Rechtssoziologie keine kontinuierliche und gradlinige Entfaltung beschieden. Während sie in den 1960er Jahren an der Westberliner juristischen Fakultät durch Ernst Hirsch wieder zum Leben erweckt wurde, war in der Bundesrepublik ihre Absonderung von der Jurisprudenz bereits vollzogen. Ihre maßgeblichen Theoretiker Dahrendorf, Schelsky und Habermas waren keine Juristen mehr oder wandten sich, wie Luhmann, alsbald nach Beginn ihrer akademischen Karriere von der Jurisprudenz ab, und sie lehrten auch nicht mehr an juristischen Fakultäten. Die Trennung gestattete jüngeren Rechtssoziologen, eine – bisweilen ausartende – kritische Perspektive gegenüber den etablierten Einrichtungen der Rechtspflege und Rechtswissenschaft einzunehmen, was die Distanz erkennbar vertiefte. Die institutionelle Trennung zwischen den juristischen und sozialwissenschaftlichen Fakultäten, die damit einhergehende weitere Spezialisierung der Forschungsthemen und -methoden und die unterschiedlichen Anforderungen an die akademische Lehre trugen das Ihre zur auch geistigen Entfremdung bei. Die Dringlichkeit der Rechtstatsachenforschung blieb zwar auch bei Rechtswissenschaftlern bewusst und wurde, soweit ein aktueller Bedarf bestand, von Seiten der staatlichen Interessenten und der Organisationen zur Förderung der Wissenschaften unterstützt, konnte sich aber nicht auf breiter Basis durchsetzen. Die Entwicklung ist oft beklagt worden, ohne dass es bisher gelungen wäre sie aufzuhalten. Inzwischen bahnt sich indessen insbesondere bei den nachwachsenden Wissenschaftlern eine Wende an, die zu neuen Hoffnungen

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berechtigt. Dass sie allen Widerständen zum Trotz wiederum in Berlin, dieses Mal an der Humboldt-Universität, eine Pflanzstätte findet, gehört zu den wichtigen und zukunftsweisenden Perspektiven der Fakultät.49 Was angesichts der Ausdifferenzierung der Forschungsmethoden und der mit deren Anwendung erzielbaren Ergebnisse nottut, ist eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit, auch mit außeruniversitären Forschungsstätten. Dabei reicht auch eine Kooperation zwischen Juristen und Soziologen nicht mehr aus, vielmehr gilt es, je nach Thema, Politologen, Psychologen, Kriminologen, Ökonomen, Anthropologen und Ethnologen, selbst Mediziner, einzubeziehen. Zudem ist internationale Zusammenarbeit gefordert, denn die Rechtssoziologie ist nach Gegenständen und Methoden eine transnationale Wissenschaft. Die Zahl der in Betracht kommenden Forschungsthemen ist so groß wie die Zahl der Rechtsvorschriften, die heute sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens durchdringen, und daher unerschöpflich. Denn zu jeder rechtlichen Vorschrift kann untersucht werden, wie sie zustande gekommen ist, welche sozialen, ökonomischen und politischen Anforderungen und Interessen ihr zugrunde liegen, ob oder wie sie wirkt und welche unerwünschten Nebenwirkungen sie zeitigt. Geht es um neue Gesetze, sind die realen Tatbestände aufzuklären, welche sie regeln sollen, und die Mittel zu einer geeigneten Regelung zu erwägen. In diesen Feldern liegen Rechtstatsachenforschung und soziologische Empirie dicht beieinander. Die unvermeidliche Folge ist eine gewisse Zersplitterung und Unübersichtlichkeit der Forschungsprogramme. Jenseits derartiger Einzeluntersuchungen stehen nicht weniger dringlich die grundlegenden und komplexen Fragen der theoretischen Rechtssoziologie: nach den Bedingungen der Wirksamkeit von Gesetzen und Gerichtsurteilen und ihrer Akzeptanz durch die Betroffenen, nach dem Verhältnis von Gewohnheiten, Sitten und anderen sozialen Normen zum Recht, nach den Beziehungen zwischen Macht und Recht, nach den in der Bevölkerung verbreiteten Rechtskenntnissen und dem allgemeinen Rechtsbewusstsein der Menschen, nach sozialer Stellung, Vorbildung und Wertvorstellungen des Justizpersonals, nach geeigneten Organisationsformen für Rechtspflege, Verwaltung und alle Arten sozialer Verbände und Institutionen, die auf ein inneres normatives Gerüst angewiesen sind und nach rechtlichen Regeln fungieren, nach den unterschiedlichen Gerechtigkeitskriterien, an welchen sich die Entscheidungsträger tatsächlich orientieren. Hinzu kommt nicht zuletzt die sozialwissenschaftliche Analyse juristischer Denkweisen und Verfahren.

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Vgl. den Beitrag von Baer S. 917.

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Interdisziplinäre Rechtsforschung. Was uns bewegt.

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Interdisziplinäre Rechtsforschung. Was uns bewegt. Susanne Baer

Interdisziplinäre Rechtsforschung. Was uns bewegt. SUSANNE BAER1

I. Orte: Die Rechtssoziologie ist tot – es lebe die Rechtsforschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verortungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Was wird uns künftig bewegen, wenn wir uns mit Recht befassen? Welche Fragen stellen sich, und wie lässt sich die Suche nach Antworten methodisch gewinnbringend gestalten, wenn es künftig um „Recht“ geht? Was ist das „Proprium einer Rechtwissenschaft“?2 Und was tut sie jenseits der systematisierenden Arbeit in dogmatischer Absicht, also auch mit Blick auf das, was in Juristischen Fakultäten die „Grundlagenfächer“ sind? Dazu gehören nicht nur die Rechtsgeschichte und die Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Methodenlehre, sondern auch die Rechtssoziologie, die Gesetzgebungswissenschaft, die Staatstheorie und die Verwaltungswissenschaft oder auch die Rechtsvergleichung, die Rechtsanthropologie und Rechtsethnologie. Sie alle blicken auf das Recht als Phänomen, sei es in der sozialen Zeit oder in der Geistesgeschichte, sei es als epistemische oder soziokulturelle Erscheinung, sei es mit Blick auf Entstehungs- und Wandlungsprozesse in definierten institutionellen oder geopolitischen Räumen oder sei es im mehr oder minder funktionalen Vergleich. Wird Recht aus diesen Perspektiven auch künftig von Interesse sein? Oder sollte uns gar mehr denn je bewegen, was Recht ausmacht, um nicht zuletzt zu verstehen, was genau Recht eigentlich macht? Der vorliegende Beitrag sucht Antworten auf diese Fragen. Es 1

Für Anregungen zur Erstellung dieses Beitrags danke ich insbesondere Christian Boulanger und für Diskussionen zur Rechtssoziologie und Rechtsforschung in der heutigen Lehre Johanna Künne. 2 Vgl. Engel/Schön (Hrsg.) Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007. Ich stelle hier nicht die ebenfalls wichtige Frage nach den intradisziplinären Sortierungen in die „Fächer“, die in ihrer Sinnhaftigkeit aus sehr unterschiedlichen Perspektiven ebenso in Frage gestellt werden können wie die Versuche, neue „Rechtsgebiete“ zu konturieren. Rechtsgebiete spiegeln in ihrem Zuschnitt Interessen- und auch Lebenslagen. So lässt sich zeigen, dass kontinentaleuropäische Rechtsordnungen und auch Rechtswissenschaft öffentliches und wirtschaftliches Handeln weit aufmerksamer bedenken als das, was in der bürgerlichen Gesellschaft als „privat“ markiert wird, weshalb Familienrecht einen so schweren Stand hat. Es handelt sich nicht zuletzt um eine Vergeschlechtlichung von Recht.

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ist eine suchende Skizze zu dem, was uns derzeit bewegt, wenn wir uns mit Recht als Phänomen befassen, und avisiert, was uns bewegen sollte, wenn wir dem Recht systematisch Aufmerksamkeit zukommen lassen. Wie jede Skizze zur Zukunft wissenschaftlicher Arbeit steht auch diese vor der Aufgabe, Genealogien aufzudecken; zudem sind auch die institutionellen und nicht zuletzt immer auch lokalen – hier also: Berliner – Rahmenbedingungen klären, innerhalb derer Rechtswissenschaft betrieben wird und betrieben werden kann. Schließlich lassen sich Themenfelder nennen, in denen heute rechtssoziologisch, aber auch aus weiteren Perspektiven gearbeitet wird, weshalb letztendlich von interdisziplinärer Rechtsforschung gesprochen werden soll. Mit der Frage nach den Fragen und Themen künftiger Rechtsforschung sind hier also auch, aber nicht nur programmatische Überlegungen gefordert. Ich nehme hier eine Perspektive ein, die sich von dem hegemonialen3 Selbstverständnis gängiger Möglichkeiten, Rechtswissenschaft zu betreiben, eventuell nicht unerheblich unterscheidet. Dabei kombiniere ich mehrere Ausgangspunkte. Dazu gehört, wie in Festschriften üblich, auch ein Bezug auf Personen, doch ist es wohl ebenso ungewöhnlich wie möglich, dabei auch junge Forschende – den „wissenschaftlichen Nachwuchs“ – mit eigenen Arbeiten zu präsentieren, um die personelle Geschichte einer Fakultät in Gegenwart und Zukunft reichen zu lassen. Auch steht die interdisziplinäre Rechtsforschung, die ich hier skizziere, den „großen Geschichten“ über die „großen Männer“ kritisch gegenüber. Eine nur personifizierende Skizze zur Zukunft der Rechtswissenschaft würde sich also im Selbstwiderspruch verfangen, und das gälte übrigens auch, wenn „große Frauen“ dazu kämen. Eine personenbezogene Geschichte einer Juristischen Fakultät ist vielmehr als Beschreibung sozialer Fakten und als narrativer Selbstentwurf, als boundary work, als exklusive Stilisierung, also als Selbstkritik und Position zu verstehen. Die Orientierung auf Personen ist ja nicht nur eine Systematisierung in Schulen oder, etwas breiter, in Denkstile.4 Sie birgt auch soziale Exklusion, spezifische Präferenzen und Priorisierungen, also auch Ausgrenzung und Hierarchisierung von Wissen. Rechtsforschung befasst sich demgegenüber nicht zuletzt damit, welches Wissen warum – mit dem für die Rechtswissenschaft höchst produktiven Ideenhistoriker Michel Foucault 3 Das Konzept der Hegemonie bezeichnet die umfassende, aber nie absolute Deutungsmacht des „mainstreams“ (hier:) der Rechtswissenschaft, die in Deutschland auf Systembildung in dogmatischer Absicht setzt. Zum Begriff Gramsci Gefängnishefte, 1991; darauf aufbauend Laclau/Mouffe Hegemonie und radikale Demokratie, Zur Dekonstruktion des Marxismus, 1985. Rechtswissenschaftlich anders Triepel Die Hegemonie, Ein Buch von führenden Staaten, 1943/1974. 4 Fleck Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1935/1980. Als Beispiel zur Rechtswissenschaft: Günther Denken vom Staat her, Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970, 2004.

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formuliert5 – in juridische Diskurse Eingang findet. In der Folge werden die an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin rechtsforschend Tätigen also eher en passant erwähnt. Damit soll gezeigt werden, dass die Zukunft der Rechtsforschung immer auch schon begonnen hat; wer sie wie fortsetzt, ist damit jedoch nicht gesagt. Der Hinweis auf die also immer auch problematische Orientierung an Personen ist selbstverständlich keine Absage an die Auseinandersetzung mit Akteuren und Traditionen. Der in dieser Festschrift weithin ausdrücklich geforderte Blick, den Raiser auf kanonisierte und kanonisierbare Rechtssoziologen wirft, die in Berlin tätig waren, enthüllt ja auch, wie viele „neue“ Fragen seit langem gestellt werden. Die als law & economics so neu markierte wirtschaftswissenschaftlich informierte Auseinandersetzung mit Recht findet sich bei Goldschmidt und dann Weber, auch wenn dort andere Modellannahmen zugrunde lagen als in Chicago.6 Und die Rechtstatsachenforschung von Nußbaum zeigt, wie früh bereits nach Kompetenzen gesucht wurde, sozialwissenschaftliche Daten juristisch verarbeiten zu können. Rechtsforschung setzt sich heute aber vielleicht intensiver damit auseinander, wie wir Recht selbst als Phänomen stabilisieren und reproduzieren. Daher muss sie nicht nur diese historischen Zusammenhänge, sondern auch die Erzählungen, die sie für uns verbinden, also das eigene Tun – als Teilhabe am Rechtlichen – zum Gegenstand kritischer Reflexion machen. Ausgangspunkt der hier vorgestellten Überlegungen sind auch deshalb nicht in erster Linie personelle Genealogien. Daneben sind institutionelle Rahmenbedingungen als auch theoretisch wirksame Konstruktionen von Bedeutung. Die institutionelle Verortung der Rechtsforschung in Deutschland und hier insbesondere in Berlin begrenzt und eröffnet auch den Raum, in dem Rechtsforschung betrieben wird und werden kann. Das lässt sich zudem global verorten, denn die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin orientiert sich hier maßgeblich an einer internationalen Entwicklung. Schließlich will ich zeigen, welche methodischen (oder methodologischen) Weichenstellungen eine Orientierung auf bestimmte Topoi, also auf inhaltliche Fragen, und insgesamt damit auf Fragestellungen bedingen. Dies ist also der Versuch einer Kartierung dessen, was in der Rechtsforschung derzeit geschieht, um die Wege erkennen zu können, die Rechtsforschung künftig beschreiten kann.

5 Foucault Die Wahrheit und die juristischen Formen, 2003; siehe auch Biebracher Macht und Recht: Foucault, 2006. 6 Grundlegend Posner Economic Analysis of Law, 1972. Siehe auch Kirchner Über das Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Nationalökonomie, Die neue Institutionenökonomie und die Rechtswissenschaft, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 7, 1988, 192; ders. § 3 Die ökonomische Theorie, in: Riesenhuber (Hrsg.) Europäische Methodenlehre. Grundfragen der Methoden des Europäischen Privatrechts, 2006, 23.

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I. Orte: Die Rechtssoziologie ist tot – es lebe die Rechtsforschung? Die Skizze zur interdisziplinären Rechtsforschung beginnt mit der Rechtssoziologie als der Richtung, in der Recht selbst kritisch reflektiert werden sollte7 und als einem Ort, an dem Interdisziplinarität ausdrücklich kontrovers verhandelt worden ist und wird. Um diesen Ort ist es allerdings institutionell nicht gut bestellt. Die gegenwärtige Lage der deutschen und deutschsprachigen Rechtssoziologie wird nicht selten als miserabel beschrieben, und Indizien sind die kaum mehr sichtbare institutionelle Verfestigung, eine geringe Zahl an Forschungsprojekten und das Fehlen einer Forschungsgemeinschaft.8 Das gilt bislang auch für Berlin. Gegenwärtig, so erzählt Raiser in diesem Band, lebt Berlin noch von der Arbeit im Institut für Rechtssoziologie an der Freien Universität, wo Hubert Rottleuthner mit der die angewandte Rechtsforschung außerhalb der Universitäten betreibenden Almuth Pflüger,9 dem mittlerweile in Zürich lehrenden Matthias Mahlmann10 oder mit dem jetzt an der Humboldt-Universität tätigen Alexander Klose11 – neben Thomas Raiser selbst12 – die empirische Justiz- und Rechtsdurchsetzungsforschung einerseits und die Auseinandersetzung mit „großen“ gesellschaftstheoretischen Fragen von Marx bis zur Neurowissenschaft andererseits geprägt hat. Der dortige Lehrstuhl wird jedoch nicht wieder soziologisch besetzt werden. Desgleichen haben sich die Schwer7 Die Kriminologie verfolgt insbesondere mit Ansätzen wie dem „labelling“ und der Kriminalisierung ähnliche Ansätze, fokussiert aber Polizei- und Strafrecht. Die Rechtsphilosophie fragt kritisch weniger nach Recht als nach Gerechtigkeit, die Staatswissenschaft nach Akteuren, Rechtsetzung oder Legitimation, die Verwaltungswissenschaft auch nach Rechtsfolgen, doch setzt nur die Rechtssoziologie bei Recht als Phänomen im Kontext an. Dazu kommen dann Rechtsethnologie und Rechtsanthropologie. 8 Vgl. Bender Rechtssoziologie in der alten Bundesrepublik – Prozesse, Kontexte und Zäsuren, in: Simon (Hrsg.) Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, 100; sehr kritisch Wrase Rechtssoziologie und Law and Society – Die deutsche Rechtssoziologie zwischen Krise und Neuaufbruch, ZfRSoz 28 (2006) 289. 9 Pflüger Rechtsforschung in der Praxis: Besonderheiten bei der Messung von Verkehrsdurchsetzung, GRUR 2006, 652 und 818. 10 Mahlmann Ethics, Law and the challenge of cognitive science, German Law Journal 2007 (online http://www.germanlawjournal.com/article.php?id=830); ferner: ders. Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, 2008. 11 Rottleuthner/Klose Das Rechtsberatungsgesetz – rechtstatsächlich betrachtet, in: Prütting/Rottleuthner (Hrsg.) Rechtsberatung zwischen Deregulierung und Verbraucherschutz, Gutachten für den 65. Deutschen Juristentag, 2004; dies. Gesicherte Freiheit? Prokla 38 (2008) 377. 12 Raiser/Voigt Durchsetzung und Wirkung von Rechtsentscheidungen. Die Bedeutung der Implementations- und der Wirkungsforschung für die Rechtswissenschaft, 1990; Hagen/Lübbe-Wolff (Hrsg.) Wirkungsforschung zum Recht, I. Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, 1999.

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punkte nicht zuletzt mit der Emeritierung auch an der Humboldt-Universität verlagert. Bei den Schwerpunkten der Fakultät taucht die Rechtssoziologie bislang nicht auf; sie ist im Lehrprogramm weiter als Grundlagenfach vorhanden, aber als solche nur im Ansatz Teil der Schwerpunktangebote, die aus den Grundlagenfächern kommen. Die These vom Tod der Rechtssoziologie ist dennoch eher Skandalisierung als Befund. Beide hängen davon ab, was genau als „Rechtssoziologie“ verstanden wird. Es mag sein, dass keine Justizforschung betrieben wird. Aber Rechtsforschung in einem weiteren Sinne hat in Berlin doch durchaus Orte. Sie sind zwar keineswegs stabil, sondern immer auch prekär. Zudem gibt es eine Tendenz zur Verortung außerhalb Juristischer Fakultäten. So hat Ulrich K. Preuß die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Recht maßgeblich geprägt, war am Otto-Suhr-Institut der FU außerhalb der Rechtswissenschaft verortet, und seine Professur wird so ebenfalls nicht weiter geführt.13 Doch verfolgt der an der HU tätige Christian Boulanger politikwissenschaftliche Zugriffe auf Verfassungsrecht weiter14 und Angelika Siehr arbeitet ebenso wie Claudio Franzius interdisziplinär ähnlich offen.15 Desgleichen ist die bisherige Berliner „Szene“ nicht ohne das sozialwissenschaftliche WZB zu denken, wo Gunnar Folke Schuppert mit einer breit gefächerten Staatswissenschaft und der Governance-Forschung ein seltener Jurist ist.16 Berlin scheint nur kein Ort der Systemtheorie (gewesen) zu sein, was eine Auseindersetzung mit derselben allerdings keinesfalls verbaut. Daneben gibt es jedoch weitere Forschungsschwerpunkte, die sich auch und gerade mit Recht befassen: in der Migrations- und Rassismusforschung, der Gender-Forschung (die mit der Professur für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien auch an der Juristischen Fakultät der HU angesiedelt ist), der politischen Philosophie oder der angewandten Ethik. Zu den Berliner Spezialitäten gehört es zudem, dass gerade interdisziplinär offene Forschung nicht selten an nicht-juristischen Instituten oder Fa13 Professur Recht und Politik an der FU Berlin. Siehe u.a. Preuß Krise des regulativen Rechts, 1999. Das Colloquium „Theorie und Recht der Politik“ wird von Bernd Ladwig und Sabine Berghahn fortgeführt. 14 Boulanger (Hrsg.) Recht in der Transformation, Rechts- und Verfassungswandel in Mittel- und Osteuropa, 2002; siehe auch Sarat/Boulanger (eds.) The Cultural Lives of Capital Punishment, Comparative Perspectives, 2005. 15 Siehr Entdeckung der Raumdimension in der Europapolitik: Neue Formen von Territorialer Governance in der Europäischen Union, Der Staat 1/2009; dies. „Objektivität“ in der Gesetzgebung? Symbolische Gesetzgebung zwischen Rationalitätsanspruch des Gesetzes und demokratischem Mehrheitsprinzip, ARSP 91 (2005) 535. Franzius Gewährleistung im Recht, Grundlagen eines europäischen Regelungsmodells öffentlicher Dienstleistungen, 2009; Franzius/Boysen (Hrsg.) Netzwerke, 2007. 16 Schuppert Staatswissenschaft, 2003; jüngst Botzem/Hofmann/Quack/Schuppert/ Straßheim (Hrsg.) Governance als Prozess, Koordinationsformen im Wandel, 2009.

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kultäten oder an genuin interdisziplinär organisierten Orten wie dem Wissenschaftskolleg oder der American Academy betrieben werden.17 Ein Effekt derartiger Organisationsformen ist es, dass sonst marginalisierte Fragestellungen zumindest vorübergehend zentral werden können. Die Professuren an deutschen juristischen Fakultäten sind zwar etwa im Vergleich zu den USA personell sehr gut ausgestattet. Doch hat sich das thematisch und methodisch nicht expansiv ausgewirkt. Vielmehr entfalten tradierte Fächerzuschnitte ebenso wie die Illusion vom „Volljuristen“ mit seinem lehrenden Pendant, das ein Fach „in ganzer Breite“ zu vertreten hat, limitierende Wirkungen. Auch wissenschaftliche Tätigkeiten werden tendenziell auf eher traditionell konturierte Bestände zugeschnitten und reglementiert. Damit bieten juristische Fakultäten nicht nur für das Forschen, sondern auch für grundlagenorientierte Forschungsthemen eher wenig Raum. Die außeruniversitären Einrichtungen sind zudem wichtige Orte für Impulse aus Wissenschaftskulturen anderer Länder. Auch diese finden im deutschen „Mainstream“, der sich eben weithin auf deutsche Justizausbildungsvorstellungen konzentriert, eher wenig Raum. Deshalb sind außeruniversitäre Institutionen für systematisch marginalisierte Forschungsrichtungen wie die Rechtssoziologie von großer Bedeutung. Das Berliner Leben interdisziplinärer Rechtsforschung spielt sich also auch und gerade in der Vielfalt der Institutionen ab, die diese Stadt und das unmittelbare lokale Umfeld beherbergen. Ist die gegenwärtige Lage dann jedoch von einer Auswanderung der Rechtsforschung aus der Rechtswissenschaft geprägt, und nicht etwa ein Ende der Rechtssoziologie zu befürchten, sondern eine Verlagerung dieser Zugriffe auf das Recht? Die Frage ist weder wissenschaftstheoretisch noch wissenschaftspolitisch belanglos.18 Einer Fakultät stellt sie sich zwingend, denn jede Berufung, jede 17 Die Fakultät hat kein unmittelbar zu Recht arbeitendes MPI in unmittelbarer Nähe, kooperiert aber mit dem rechtsethnologisch arbeitenden MPI in Halle (vgl. den Bericht von Epp ZfRSoz 24 (2002) 254. Dazu F.v. & K.v. Benda-Beckmann Gesellschaftliche Wirkung von Recht: Rechtsethnologische Perspektiven, 2007. Auch an den MPIs in Heidelberg oder Frankfurt/M., München oder Bonn findet disziplinübergreifende Rechtsforschung statt, auch wenn es oft an Austausch untereinander und mit den Universitäten fehlt. 18 Sie wird auch von Rechtssoziologen engagiert gestellt und sehr unterschiedlich beantwortet. Vgl. u.a. Rasehorn Die Sektion Rechtssoziologie ist kein Max-Planck-Institut! Gesellschafts- und forschungspolitische Anmerkungen, ZfRSoz 22 (2001) 281; Machura Die Aufgabe(n) der Rechtssoziologie – Eine Antwort an Theo Rasehorn, ZfRSoz 22 (2001) 293; Rottleuthner Abschied von der Justizforschung? – Für eine Rechtssoziologie „mit mehr Recht“, ZfRSoz 3 (1982) 82; Bora u.a. Rechtssoziologie „auf der Grenze“, ZfRSoz 21 (2000) 319; Raiser Rechtssoziologie als Grundlagenfach in der Juristenausbildung, in: Dreier (Hrsg.) Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts, 2000, 323; Hiller/ Welz Rechtssoziologie: Vom Rechtsdiskurs zum Recht der Gesellschaft, Soziologische Revue, Sonderheft 5, 2000; Wrase (Fn. 8), 289. Ein Teil der Debatte ist unter http://www. rechtswirklichkeit.de/rsoz-debatte dokumentiert.

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Entscheidung zum Curriculum und jede Forschungsinitiative ist auch eine Entscheidung darüber, ob und welche Rechtsforschung an Juristischen Fakultäten einen Ort hat. Wissenschaftstheoretisch ist auch das eine Aufforderung zu boundary work, zur „Grenzarbeit“ der Disziplinen,19 mit der bestimmte Fragestellungen als „eigene“ markiert und Ressourcen verteilt werden. Wissenschaftstheoretisch ist es aber auch eine Frage der Legitimation in der demokratischen Öffentlichkeit, die mit durchaus ambivalenten Mitteln der sowohl staatlich wie auch selbst initiierten Studienreform und der Forschungspolitik die Frage stellt, wozu das alles gut ist, was wir wissenschaftlich tun. Die Juristische Fakultät der HU hat diese Frage auch mit einer Weichenstellung zugunsten der Rechtsforschung beantwortet. Es ist nur in Teilen eine Weiche in Richtung der Rechtssoziologie, wie sie in den 1970er und 80er Jahren in Deutschland betrieben wurde. Das hängt auch damit zusammen, dass „die“ Rechtssoziologie von Seiten der Juristischen Fakultäten als ideologisch eingetrübtes Unterfangen denunziert werden konnte, was wiederum den Ideologievorwurf gegenüber der Rechtswissenschaft im Umkehrschluss auf gewisse Weise bestätigte.20 Die soziologische Justizforschung der westdeutschen Rechtssoziologie sollte ja nicht zuletzt die Liebknecht’sche These von der Klassenjustiz verifizieren, die nach 1945 um den Verdacht ergänzt werden musste, die deutsche Justiz und auch Rechtswissenschaft habe sich vom Nationalsozialismus nicht ernsthaft befreit.21 Die ebenfalls der (Berliner) Rechtssoziologie zuzurechnende Limbach’sche These, die Justiz und die Rechtswissenschaft seien männlich bzw. grenzten

19 Becher/Trowler Academic Tribes and Territories: Intellectual Enquiry and the Cultures of Discipline, 1989. 20 Wassermann Sozialwissenschaftliche Forschung und Rechtsprechung, 1990. Instruktiv ist auch der rebellische Gestus des radikalen Neuanfangs bei Wiethölter Rechtswissenschaft, 1968, der explizit keine Einführung in das Rechtssystem und in die Rechtswissenschaft“ mehr schreiben wollte, weil „jenes nicht mehr und diese noch nicht“ existierten. Im „Funkkolleg Recht“, in dem die „Rechtswissenschaft“ erschien, richteten sich Wiethölter und andere schon gar nicht mehr an die juristischen Kollegen, sondern direkt an die neue Generation von Juristinnen und Juristen sowie eine breitere Öffentlichkeit, offensichtlich ohne nachhaltigen Eindruck im kollektiven Gedächtnis der Rechtswissenschaft zu hinterlassen. 21 Zur Klassenjustiz Kaupen Die Hüter von Recht und Ordnung: Die soziale Herkunft, Erziehung und Ausbildung der deutschen Juristen – Eine soziologische Analyse, 1969; Lautmann Justiz – Die stille Gewalt, 1972; Dahrendorf Bemerkungen zur sozialen Herkunft und Stellung der Richter an Oberlandesgerichten, Ein Beitrag zur Soziologie der deutschen Oberschicht, in: Gesellschaft und Freiheit 1961, 176; zur NS-Frage Müller Furchtbare Juristen, 1987. Diestelkamp Die Justiz nach 1945 und ihr Umgang mit der eigenen Vergangenheit, in: Diestelkamp/Stolleis (Hrsg.) Justizalltag im Dritten Reich, 1988, 131; Frankenberg Vom Schweigen der Öffentlichrechtler und ihrer Verantwortung, dies bisweilen zu brechen, KJ 1994, 354; zur Ideologisierung u.a. Bryde Juristensoziologie, in: Dreier (Hrsg.) (Fn. 18), 137.

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Frauen und als weiblich markierte Wirklichkeiten aus,22 mögen manche ebenfalls als Kampfansage gelesen haben. Die Ab- und Ausgrenzung der Rechtssoziologie, die zur Geschichte derselben gehört, hat also spezifische Motive. Heute werden diese Kritiken aufgegriffen, aber oft auch anders situiert. Die HU schließt mit der Professur für Öffentliches Recht und Gender Studies an die letztgenannte Richtung an, richtet sich aber weniger auf soziologische Justizforschung und mehr auf ein weiteres sozial- und kulturwissenschaftliches Verständnis aus. Das liegt sicher auch an der Orientierung auf den angloamerikanischen Sprachraum und Entwicklungen in Süd- und Nordeuropa, also auf Rechtsrealismus, die ideologiekritischen und machttheoretisch verankerten Perspektiven der critical23 und sociolegal studies, auf feminist24 und critical race oder queer legal theory bis hin zu postmoderner Rechtstheorie,25 und auf die insgesamt sehr breit gestreute Forschung zu Law and Society. Zudem hat die Fakultät eine Weiche in Richtung interdisziplinärer Rechtsforschung im Curriculum gestellt. So wurde die Chance zur Gestaltung von Schwerpunkten im Examensstudium genutzt, um auch Teile einer Rechtsforschung zu verankern. Das geschieht in der Veranstaltung zur – auch kritischen – Rechtswissenschaftsgeschichte im Zeitgeschichtlichen Studienschwerpunkt 1. Bei den Studierenden besteht aber auch darüber hinaus oft großes Interesse an interdisziplinärem Wissen – so sieht die studentische online-Zeitschrift Humboldt Forum Recht „klassische“ rechtliche Fragestellungen, also solche der drei Kerndisziplinen des Rechts, „. . . allenfalls [als] Ausgangspunkt“26 – und in Berlin richtet sich dieses Interesse nicht selten auf die Rechtspolitik. Auch deshalb bietet die Fakultät ei22

Limbach Wie männlich ist die Rechtswissenschaft?, in: Hausen/Nowotny (Hrsg.) Wie männlich ist die Wissenschaft?, 1986, 87; siehe auch Lucke Recht ohne Geschlecht? – Zu einer Rechtssoziologie der Geschlechterverhältnisse, 1996. Allgemeiner auch Smaus Das Strafrecht und die gesellschaftliche Differenzierung, 1998. 23 Zur US-amerikanischen Denktradition Rea-Frauchiger Der amerikanische Rechtsrealismus: Karl N. Llewellyn, Jerome Frank, Underhill Moore, 2006. Bedeutsam insbesondere Unger Law in Modern Society, Toward a Criticism of Social Theory, 1976; Kairys (ed.) The Politics of Law, A Progressive Critique, 1998 und zur kulturwissenschaftlichen Wende Sarat/Simon Beyond Legal Realism?: Cultural Analysis, Cultural Studies, and the Situation of Legal Scholarship, 2001; Kennedy Legal Formalism, The International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences 2001, 8634. 24 Baer Wozu und was macht Gender? Notwendige Erweiterungen der GovernancePerspektive, in: Botzem/Hofmann/Quack/Schuppert/Straßheim (Hrsg.) (Fn. 16), 99; dies. Frauen und Männer, Gender und Diversität: Gleichstellungsrecht vor den Herausforderungen eines differenzierten Umgangs mit Geschlecht, in: Arioli u.a. (Hrsg.) Wandel der Geschlechterverhältnisse durch Recht?, 2008, 21. 25 Habel Postmoderne Ansätze der Rechtserkenntnis, ARSP 83 (1997) 217; Minda Postmodern Legal Movements, Law and Jurisprudence at Century’s End, 1995; Douzinas/ Goodrich/Hachamovitch Politics, Postmodernity, and Critical Legal Studies, 1994. 26 Http://www.humboldt-forum-recht.de/.

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nen Studienschwerpunkt an, der sich auf Gesetzgebungsprozesse konzentriert: „Rechtspolitik und Rechtsgestaltung“.27 Damit wird zum Einen – auch auf Initiative von Michael Kloepfer – die Gesetzgebungslehre oder Legistik revitalisiert. Zum anderen wird die sozialwissenschaftliche Perspektive auf Recht, die auch Dieter Grimm auf die Rechtsetzung richtete,28 und die vorrangig politikwissenschaftliche Governance-Forschung für die juristische Bildung fruchtbar gemacht. Und schließlich findet hier die kulturwissenschaftlich inspirierte Rechtsforschung ihren Ort, in der Recht als Kulturphänomen, als Gegenstand einer popular legal culture und – wie bei Klaus Marxen – des Films29 sowie als Machttechnologie reflektiert wird. Hier laufen also mehrere Traditionen zusammen, die eine breit verstandene Rechtsforschung ausmachen. Die andere Weichenstellung, mit der sich die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität für die Rechtsforschung entschieden hat, betrifft die Forschung, und zwar insbesondere die junge Forschung.30 Hier ließen sich bereits die Graduiertenkollegs nennen, die in der Europawissenschaftlichen Forschung31 und durch Mitwirkung an kulturwissenschaftlichen Projekten32 wichtige interdisziplinäre Öffnungen erzeugen. Daneben stehen die studentischen Initiativen wie der Arbeitskreis kritischer Juristinnen und Juristen (akj)33 oder das Humboldt Forum Recht (HFR)34 sowie der Berliner Nachwuchs-Arbeitskreis Rechtswirklichkeit (BAR).35 Ein wichtiger institutionel27 Inhalte sind nach der Studien- und Prüfungsordnung der Fakultät von 2008: Grundlagen der Rechtserzeugung und Rechtspolitik, Gesetzgebungslehre, Gesetzgebungstechnik, Gesetzesfolgenabschätzung, Rechtsetzungsrecht und Soziale, ökonomische, kulturelle und politische Dimension der Rechtssetzung – Grenzen des Rechts. 28 Grimm/Maihofer (Hrsg.) Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, 1988 29 Marxen/Weinke (Hrsg.) Inszenierungen des Rechts: Schauprozesse, Medienprozesse und Prozessfilme in der DDR, 2006. 30 Zum Unterschied zwischen einer Wahrnehmung als „Nachwuchs“ und als „junge Forschende“ Baer Vom Personalmanagement für „Nachwuchs“ zur Förderung von „jungen Forschenden“, Stifterverband-Positionen 2006, 16. 31 GK 1263: „Verfassung jenseits des Staates: Von der europäischen zur globalen Rechtsgemeinschaft?“, mit Trägerinnen und Trägern aus der Fakultät Pernice, Nolte, Baer, Blankenagel, Grundmann, Kloepfer, Seidel, Tomuschat, Werle, Fassbender, Schuppert. Das GK 261 »Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht«, von 1996 bis 2004 widmete sich dagegen ausdrücklich nur juristischen Fragen; beteiligt waren Flessner, Kirchner, Raiser, Schwark, Schwintowski, Windbichler. 32 So das GK Codierung von Gewalt im medialen Wandel, http://www2.hu-berlin.de/ gewalt/ (beteiligt: Susanne Baer), daraus hervor ging u.a. Scherpe/Weitin (Hrsg.) Eskalationen, Die Gewalt von Kultur, Recht und Politik, 2003; Kötter Pfade des Sicherheitsrechts, Begriffe von Sicherheit und Autonomie im Spiegel der sicherheitsrechtlichen Debatte der Bundesrepublik Deutschland, 2008. 33 Es handelt sich um eine an der Fakultät aktive, aber bundesweit vernetzte studentische Inititiave mit eigenem blog, http://akj.rewi.hu-berlin.de/. 34 Http://www.humboldt-forum-recht.de/. 35 Http://www.rechtswirklichkeit.de/.

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ler Schritt ist die 2008 von der Fakultät befürwortete Gründung des „Law & Society Institute“ oder LSI Berlin, an dem interdisziplinäre Rechtsforschung betrieben werden soll. Es ist ein Versuch, Rechtsforschung an einer Juristischen Fakultät zu platzieren und von dort aus sukzessive mit anderen universitären und außeruniversitären Orten zu kooperien. So sollen Forschungsfragestellungen nicht nur soziologisch, sondern auch politik- und kulturwissenschaftlich, manchmal aus ethnologischer, oft aus kulturvergleichender und immer auch am Juristischen selbst interessierter Perspektive entwickelt und bearbeitet werden. Das Akronym LSI signalisiert eine Orientierung auf internationale Zusammenhänge, die auch dem begeisternden Impuls zu verdanken sind, der aus der Gastgeberrolle der HumboldtUniversität für die bislang weltweit größte Konferenz zur interdisziplinären Rechtsforschung im Sommer 2007 entstand.36 Rechtsforschung wird hier also in Anlehnung an das gedacht, was in den USA oder auch in Großbritannien, Australien und Kanada oder auch Japan und Spanien getan wird. Es bedeutet zudem, auch die Raiser´sche Geneaologie rechtsforschend fruchtbar zu machen. Es ist im internationalen Gespräch zu prüfen, wie weit es führt, beispielsweise Gierke mit angloamerikanischem Kommunitarismus zu verknüpfen, oder Nußbaum neu und zum Beispiel in Konfrontation mit Foucault zu lesen, um die Frage nach dem juristischen Umgang mit Empirie beantworten zu können. Die Rechtssoziologie ist nicht tot. Institutionell sind (auch) in Berlin vielmehr Orte vorhanden, an denen sich Rechtsforschung entwickeln kann.

II. Fragestellungen Die Zeiten für Rechtsforschung sind auch eher gut. Das Stichwort „Interdisziplinärität“ ist aus der Forschungslandschaft nicht mehr hinweg zu denken.37 In den USA haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Fakultäten dafür entschieden, nicht nur interdisziplinär zu forschen, sondern auch interdisziplinär auszubilden, wofür sich deutsche Fakultäten nicht zuletzt im Zuge der Studienreform entscheiden können.38 In Deutschland bedingt da36 Http://baer.rewi.hu-berlin.de/lsainternationalmeeting2007/. Vorsitzender des Local Organizing Committee war Thomas Raiser, weitere Mitglieder seitens der Juristischen Fakultät Susanne Baer, Christian Boulanger, Reinhard Singer, Michael Wrase, und seitens der FU Hubert Rottleuthner. 37 Gleichzeitig liegen genug Erfahrungen vor, die schlichte Behauptungen, man arbeite interdisziplinär, als bestenfalls naiv markieren. Daher gilt in der Rechtswissenschaft – wie in der Medizin – bereits die Zusammenarbeit der traditionellen dogmatischen Fächer miteinander als intra/interdisziplinäre Öffnung. Vgl. Lepsius/Jestaedt (Hrsg.) Rechtswissenschaftstheorie, 2008. 38 In den USA wird streitig diskutiert, ob Interdisziplinäre Studien nur den „Elite-Law Schools“ vorbehalten bleiben sollen oder das juristische Studium insgesamt verändern soll-

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neben an sich auch die Orientierung auf Drittmittel zur Finanzierung von Forschungsprojekten ein Mehr an Interdisziplinarität, denn Fragen aus der Praxis sind Fragen, die wohl immer auch empirisch bearbeitet werden müssen. Auch empirisch systematische Arbeit wird künftig allerdings nur zunehmen, wenn „Forschung“ in der Wissensgesellschaft nicht schlicht Teil von Regierungskunst, also der Legitimation bestimmter Vorhaben dienende Auftragsforschung ist, sondern „freie“ Reflexion im Vordergrund steht. Gerade für die Forschung zum Recht ist die Gefahr, gezielt zu gutachten anstatt systematisch zu reflektieren, sehr hoch. Wie lauten aber jenseits dessen die Fragen, die eine interdisziplinäre Suche nach Antworten erzwingen? Das lässt sich empirisch derzeit nicht beantworten. Umfassende Daten zu Themenstellungen der Drittmittelforschung, die Aufschluss darüber geben könnten, „was uns bewegt“, liegen so nicht vor. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat in den letzten Jahren zur Rechtssoziologie eine Person, ein Graduiertenkolleg und ein empirisches Projekt zur Partizipation an Rechtsprechung gefördert; es gibt allerdings keine eigene Fachsparte für Rechtssoziologie oder interdisziplinäre Rechtsforschung bei der DFG.39 Die Volkswagen-Stiftung listet zur Rechtssoziologie ein Projekt zum Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und ein Projekt zur Untersuchung unscharfer Grenzen, in dem sich u.a. der an der HU habilitierte Ralf Poscher wenn auch vorrangig mit philosophischen Fragen befasst; bei den Schlüsselthemen der Geisteswissenschaft taucht Jura nicht auf. Die Frage nach den Fragestellungen lässt sich in Deutschland aktuell auch kaum bibliometrisch beantworten. Im historischen Rückblick verraten, wie Schröder in dieser Festschrift zeigt, die Promotions- oder Habilitationsthemen etwas über eine Fakultät, doch sind sie aktuell und breiter so nicht zu identifizieren. So bleibt ein Blick in die Fachzeitschriften, um heraus zu finden, was Rechtssoziologie und Rechtsforschung heute für Fragen stellen.40 ten. Im Regelfall werden kombinierte Studien angeboten (Law & Public Health, Law & Public Policy usw.), die eher mit deutschen Schwerpunktstudien zu vergleichen sind. Zu beachten ist auch, dass Law Schools nach dem College und meist einer Berufserfahrung und ohne Staatsexamen anders agieren müssen und können als deutsche Fakultäten. Zur Diskussion in den USA die Beiträge im Legal Theory Blog, u.a. Solum Interdisciplinarity, Multidisciplinarity, and the Future of the Legal Academy, http://lsolum.typepad.com/ legaltheory/2008/01/interdisciplina.html. Zur Forschung Sarat/Constable/Engel/Hans/ Lawrence (eds.) Crossing Boundaries – Traditions and Transformations in Law and Society Research, 1998. 39 Die Rechtssoziologie fehlt – im Gegensatz etwa zur Rechtsphilosophie oder Kriminologie – innerhalb des Fachkollegiums Rechtswissenschaft als eigene Sparte; vgl. http:// www.dfg.de/dfg_im_profil/struktur/gremien/fachkollegien/download/systematik_fachkol legien.pdf. 40 Außer Acht lasse ich erneut die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Polizeiund Strafrecht, die sich mit der Kriminologie selbständig gemacht hat und inner- und außeruniversitär relativ gut verankert ist. In Berlin wird sie an der FU – in der Nachfolge von Ulrich Eisenberg – von Klaus Hoffmann-Holland betrieben. Aus der jüngeren Geschichte

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Im deutschsprachigen Raum ist disziplinär die Zeitschrift für Rechtssoziologie41 maßgeblich. Sie hat in den letzten Jahren Beiträge zu sehr unterschiedlichen Themen publiziert, die sich in vier Felder gruppieren lassen. Diese können als Indikatoren für den Zuschnitt interdisziplinärer Rechtsforschung heute genutzt werden. 1. Zunächst fällt auf, dass rechtstheoretische und rechtsphilosophische Fragestellungen einen breiten Raum einnehmen – sie reichen von der Frage „Nach Jacques Derrida und Niklas Luhmann: Zur (Un-)Möglichkeit einer Gesellschaftstheorie der Gerechtigkeit“ über Reflexionen zu Normativität hin zur Auseinandersetzung mit Sprache im Recht.42 2. Daneben stehen Studien zur Rechtsdurchsetzung. Beispiele sind Arbeiten zu Subjektivierungsprozessen vor Gericht wie von Michelle Cottier,43 zu Narration im Strafverfahren, zu Wahrnehmungsmustern in der Verwaltung von Prostitution, zur außergerichtlichen Streitregelung oder zu Betreuungsprozessen. Dies steht durchaus in der Tradition der soziologischen Rechtswissenschaft und ihrer Justizforschung, betreibt aber auch ihre Erweiterung um Studien zu Rechtsbewusstsein, strategischem Handeln, Rollenzuschreibungen und Stereotypen usw. Präsenz vor Gericht wird so auch zur Frage nach der Repräsentation vor Gericht, und Verfahrensrecht wird prozessual-instrumentell, aber auch als diskursive Rahmung betrachtet. So hat die Emmy-Noether Gruppe um Thomas Scheffer zu „Vergleichender Mikrosoziologie von Strafverfahren“ an der FU Berlin aus ethonologischer und ethnomethodologischer Perspektive vergleichend untersucht, wie in England, den USA und in Deutschland Fälle vor Gericht konstruiert werden.44 Das sind Fragen, die dogmatische Arbeit auch irritieren, weil sie Selbstverständlichkeiten hinterfragen, doch genau dies macht Wissenschaft ja aus. Irritation darf hier auch nicht mit Deder Fakultät sei der 2009 verstorbene Otto Prokop genannt, ein international berühmter Rechtsmediziner. Er leitete von 1957 bis 1987 das Institut für Gerichtsmedizin an der HU Berlin. Maßgeblich wurde sein Lehrbuch der gerichtlichen Medizin (bzw. Forensische Medizin), erstmals 1960. Aktuelle kriminologische Fragestellungen finden sich bei Lautmann/Klimke/Sack (Hrsg.) Punitivität, 8. Beiheft zum Kriminologischen Journal, 2004; Frehsee/Löschper/Smaus Konstruktion der Wirklichkeit durch Kriminalität und Strafe, 1997. 41 Http://www.luciusverlag.com/zeitschriften/ztschr_rechtssoziologie. 42 Das verdeutlicht auch der Band von Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.) Neue Theorien des Rechts, 2006. 43 Cottier Subjekt oder Objekt? Die Partizipation von Kindern in Jugendstraf- und zivilrechtlichen Kindesschutzverfahren, Eine rechtssoziologische Untersuchung aus der Geschlechterperspektive, 2006. Sie war 2006 als Gast an der Fakultät der HU. 44 Scheffer Creating Comparability Differently: Disassembling Ethnographic Comparison in Law-In-Action, Comparative Sociology 7 (2008) 286. Zum Forschungsprojekt http://www.law-in-action.de. Vgl. auch Baer Thematisierungen, Körper, Sprache und Bild im Prozeß, in: Scherpe/Weitin (Hrsg.) (Fn. 32), 109-117.

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struktion oder Ablehnung verwechselt werden. Nur wird ein Selbstverständnis, in dem sich beispielsweise eine Staatsrechtslehre auch als staatstragenden Faktor stilisiert, nicht perpetuiert, sondern zum Gegenstand von Fragen. Zudem fällt auf, dass hier nicht nur deutsche Verhältnisse untersucht werden, und auch deshalb rechtsethnologisch gearbeitet wird, wie es die im Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit aktive Judith Dick zum Gewohnheitsrecht der Khasi in Indien45 zeigt. 3. Dazu kommen Untersuchungen zur Rechtskultur, also zu Recht als einem soziokulturellen Phänomen. Deutschsprachige Veröffentlichungen befassen sich z.B. mit der Wahrnehmung rechtlicher Topoi in der Bevölkerung, etwa der Schuldzuschreibung aus der Perspektive von Laien. Andere widmen sich der Darstellung rechtlicher Topoi in der Literatur oder aber umgekehrt der Frage, inwieweit rechtliche Wahrnehmung durch Literatur oder andere Kulturprodukte – heute: Blogs, Film usw. – geprägt wird. Zum Feld gehören aber auch Untersuchungen zur Funktion bestimmter Topoi im Recht – dem Staat bei Christoph Möllers,46 den „Bildern“ von Staat und Bürger bei Susanne Baer in Recht und Rechtswissenschaft sowie sprachwissenschaftliche Analysen zu Recht und juristischer Rhetorik47 oder auch vergleichende Forschung zum Konstitutionalismus. Hier finden zudem deutlich nicht nur soziologische, sondern auch kulturwissenschaftliche und eben vergleichende Methoden und Konzepte Anwendung. So findet sich eine Diskursanalyse von Prozessakten ebenso wie eine auf rechtliche Topoi fokussierte Diskursanalyse literarischer Werke, die Künzel48 in einem interdisziplinären Graduiertenkolleg zur „Codierung von Gewalt“ an der HU vorgelegt hat,49 und sich wiederum 45 Dick Offizieller Rechtspluralismus im Konkurrenzverhältnis unterschiedlich geregelter Geschlechterverhältnisse – Das Recht der Khasi im System der personalen Rechte (personal laws) Indiens, 2007. 46 Möllers Staat als Argument, 2003. 47 Baer Der Bürger im Verwaltungsrecht zwischen Obrigkeit und aktivierendem Staat, 2006; dies. Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel und ihr Verhältnis zur Rechtsdogmatik, in Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.) Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, 223; dies. Normen zwischen Zwang, Konstruktion und Ermöglichung – Gender Studies zum Recht, in: Becker/Kortendiek (Hrsg.) Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Theorie, Methoden, Empirie, 2004, 643. 48 Künzel Vergewaltigungslektüren, Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht, 2003, entstanden im GK Codierung von Gewalt im medialen Wandel. Siehe auch Gouron u.a. (Hrsg.) Subjektivierung des justiziellen Beweisverfahrens, Beiträge zum Zeugenbeweis in Europa und den USA (18.–20. Jahrhundert), 1994; Ogorek Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, 1986. 49 Kloepfer Dichtung und Recht, 2008. Grundsätzlich Binder/Weisberg Literary Criticism of Law, 2000; Brooks/Gewirtz Law’s Stories: Narrative and Rhetoric in the Law, 1996; Fish Doing What. Comes Naturally: Change, Rhetoric and the Practice of Theory in Literary and Legal Studies, 1989; Sherwin When Law Goes Pop: The Vanishing Line Between Law and Popular Culture, 2000; Ziolkowski The Mirror of Justice: Literary Reflections of Legal Crises, 1997.

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von anderen Arbeiten wie der von Michael Kloepfer zu Dichtung und Recht deutlich unterscheidet. 4. Schließlich finden sich empirische Untersuchungen in regulatorischer Absicht zu rechtspolitisch bedeutsamen Fragen. Dies sind Studien zur Realität der Privatinsolvenzen oder aber historisierend-diskursanalytische Studien zu Sicherheitsgesetzen, wie die ebenfalls im interdisziplinären Graduiertenkolleg an der HU entstandene Arbeit von Kötter.50 Eine regulatorische Orientierung liegt auch zahlreichen Beiträgen zugrunde, die in der Kritischen Justiz (KJ), der von der Fakultät in Frankfurt/M. betreuten Kritischen Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV) und der weitgehend außerhalb der Universitäten betreuten STREIT als feministischer Rechtszeitschrift publiziert werden. Zudem fallen in diesen Bereich die Gesetzesfolgenabschätzungen, die notwendig interdisziplinär angelegt sein müssen. Ausweislich dieser kursorischen Bestandsaufnahme zur derart veröffentlichten Forschung und aufgrund der zuvor skizzierten Weichenstellungen lässt sich so beschreiben, wo heute Schwerpunkte einer interdisziplinären Rechtsforschung liegen. Es gibt durchaus definierte Erkenntnisinteressen, die – das zeigen schon die Selbstbezeichnungen der Initiativen von Studierenden und Nachwuchs an der Juristischen Fakultät der HU – „kritisch“ angelegt sind, und damit auf spezifische Weise produktiv. Zudem zeichnet sich die derzeitige Rechtsforschung durch eine Vielfalt der Theorien, Konzepte und Methoden aus. Das ließe sich als Eklektizismus oder Pragmatismus bezeichnen, hebt sich aber jedenfalls von Mythen einer großen Geschichte und Referenzen auf einen Methodenpurismus – dem „sauberen“ Arbeiten in der Jurisprudenz – bewusst ab. Auch dies knüpft an etwas an, denn nicht zuletzt Dieter Grimm hat Methoden einmal als Machtfaktor beschrieben.51 Interdisziplinäre Rechtsforschung ist damit oft explizit antiideologisch angelegt, auch wenn und soweit sie es ablehnt, der Systemtheorie oder der Institutionenökonomik, der Hermeneutik oder Dekonstruktion oder der quantitativen Sozialforschung irgendein Vorrecht einzuräumen. Vielmehr gehört es zum wissenschaftstheoretischen Ausgangspunkt, die grundsätzliche Historizität der, mit dem rechtssoziologischen Wegbereiter Emile Durkheim formuliert, faits sociaux52 ebenso anzuerkennen wie die 50 Kötter (Fn. 32), 2008, begutachtet von Alexander Blankenagel. Vgl. für eine andere theoretische Perspektive Baer Lauschangriffe, Akustische Kontrolle, Gewalt und Recht, in: Gess/Schreiner/Schulz (Hrsg.) Hörstürze – Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert, 2005, 113–126. 51 Grimm Methode als Machtfaktor, in: ders. Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, 347; klassisch daneben Esser Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung: Rationalitätsgarantien der richterlichen Entscheidungspraxis, 1970. 52 Durkheim Les Règles de la Méthode sociologique, 1re éd. 1895, chapitre II (“La première règle et la plus fondamentale est de considérer les faits sociaux comme des choses”).

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Historizität der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit denselben. Die kritische Infragestellung der Tatsachen und der rechtswissenschaftlichen Art und Weise, diese als solche zu behaupten, motiviert dazu, auch mit dem Begriff der Rechtstatsachenforschung vorsichtig umzugehen, die Wolff oder Nussbaum im Auge hatten, so verführerisch es sein mag, historisch an ein „Seminar für Rechtstatsachenforschung“ anzuschließen.53 Heutige Rechtsforschung positioniert sich zudem nicht als dienende Wissenschaft, sondern als Teil einer Wissenschaft vom Recht, die reflexive Kompetenz auch auf sich selbst anwendet. Prägend ist auf gewisse Weise das Interesse an einem Wissen darüber, dass alles geworden ist und auch immer ganz anders sein könnte, und so steht auch eine Rechtswissenschaft in Frage, die „reine“ dogmatische Systembildung betreiben will. Empirische Rechtsforschung ist heute auch mehr als Rechtsdurchsetzungsempirie. Zwar ist das Interesse an Effizienzfragen ein Grund für die große Sympathie, die ökonomische Rechtsforschung – law & economics – genießt. Eine weiter gefasste Rechtsforschung stellt neben der Auseinandersetzung mit Durchsetzungsfragen jedoch auch Legitimitätserzählungen in Frage, auf denen dieser Herrschaftsanspruch beruht, wozu ökonomische Modelle nicht auffordern. Es geht wohl immer auch um die wissenschaftliche Reflektion auf Vorstellungen von der (einen) „Rationalität“ des Rechts, die auch für Modelle der Systemtheorie wichtig sind. Damit knüpft eine Rechtsforschung an die deutsche rechtssoziologische Forschung der 1980er Jahre an. Diese konnte zeigen, dass und wo Verrechtlichung auf Grenzen stößt und nicht-intendierte Folgen zeitigt, die beabsichtigte Effekte geradezu konterkarieren können.54 Aber sie zeigt auch, dass die darauf reagierende Flucht allein zu ökonomistischen Modellannahmen oder mathematischen Wahrscheinlichkeiten nicht weiter führt. Insofern gehört es zu den Kernaufgaben einer interdisziplinären Rechtswissenschaft, die trotzdem behandeln will, „was uns bewegt“, sich mit Verhalten, Verhaltensmustern und Regelungsfolgen durchaus kritisch zu befassen. Daher rührt das große Interesse an sinnvollen Instrumenten und Fragestellungen der Gesetzesfolgenabschätzung.55 Diese dürfte nicht nur von den Sozialwissenschaften im enge53

Mit Nachweisen dazu Raiser in diesem Band. U.a. Rottleuthner Grenzen rechtlicher Steuerung – und Grenzen von Theorien darüber, ARSP-Beiheft 54, 1992, 123; Gessner/Budak (eds.) Emerging Legal Certainty: Empirical Studies on the Globalization of Law, 1998. Die verführerische Erzählung der behavioralistischen Revolution in den Sozialwissenschaften und der Steuerungseuphorie der 1960er und 1970er, die annahm, Sozialforschung ließe sich den Naturwissenschaften annähern, ist jedenfalls unglaubwürdig geworden. 55 Hier war auch die Rechtssoziologie nicht völlig erfolglos. Vgl. Strempel Die Umsetzung Kaupenscher Gedanken in der „Strukturanalyse der Rechtspflege (SAR)“ des Bundesministeriums der Justiz, in: Strempel/Rasehorn (Hrsg.) Empirische Rechtssoziologie – Gedenkschrift für Wolfgang Kaupen, 2002, 73, aber auch ders. Erhard Blankenburg – ein Paradigma für die gesamte Rechtssoziologie: inhaltlich erfolgreich, institutionell erfolglos, 54

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ren Sinne, sondern von allen Verhaltens- bis hin zu den Kognitionswissenschaften profitieren. Das zeigen schon die kontroversen Studien zu Annahmen über moralische Entwicklung und regelorientiertes Verhalten56 ebenso wie die zwingend interdisziplinär zu führenden Debatten um die Schuld im Lichte neurowissenschaftlicher Annahmen.57 Insgesamt ist mit diesen Beobachtungen zur publizierten Forschung, zu dem, was an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin geschieht und zu dem, was ausweislich der Erzählung von Raiser geschehen ist, ein weites Feld markiert. Die Bestandsaufnahme zur Rechtsforschung der Gegenwart erlaubt die Vermutung, dass die Rechtsforschung der Zukunft eine Vielzahl an Themen bewegen wird: Recht als Kulturphänomen, gewachsen, gesetzt und sich ändernd, Rechtspluralismus und constitutionalism oder Rechtsstaatlichkeit in unterschiedlichen Gesellschaften, Regulierung und Regulierungsfolgen, Implementation und Rechtsdurchsetzung innerhalb und außerhalb von Gerichten, Sanktionen einschließlich der Kriminalisierung und Strafe, Professions- und Habitusstudien zu Rechtsakteuren wie Justiz, Polizei, Anwaltschaft oder Nichtregierungsorganisationen und all dies zu Themen, für die es auch Spezialsoziologien gibt: Alter, Bildung, Ethnizität, Familie, Geschlechterverhältnisse, Gesundheit, Jugend, Kultur, Medien, Migration, Minderheiten, Politik/Parteien, Religion, Technik, Umwelt, Wirtschaft, Wissenschaft. Diese Fragen bewegen künftig lokal, regional, national und transnational oder global, und sie bewegen als Phänomene der Kultur und der Kulturen, des Sozialen und Ökonomischen, des Ethischen und Moralischen, jeweils in Bezug zum Recht. Durchgängig sollte der Blick auf institutionelle Arrangements und weitere politikwissenschaftliche Fragen nach Regulierung, Governance und Regime eine Rolle spielen, der auch die Verwaltungswissenschaften produktiv belebt.58 Schließlich ist der historisierende Blick eine mögliche Perspektive, die sich mit der Entwicklung der rechtsgeschichtlichen Forschung gut verträgt, wie sie auch am MPI in Frankfurt als Sozialgeschichte und Rechtswissenschaftsgeschichte betrieben wird,59 aber eben auch an der Juristischen Fakultät der HU selbst mit der Zeitgeschichte auch der Rechtswissenschaft ihren Ort hat. in: Brand/Strempel (Hrsg.) Soziologie des Rechts – Festschrift für Erhard Blankenburg, 1989, 29. 56 Vgl. Slupik Weibliche Moral versus männliche Gerechtigkeitsmathematik? Zum geschlechtsspezifischen Rechtsbewußtsein, in: Bryde/Hoffmann-Riem (Hrsg.) Rechtsproduktion und Rechtsbewußtsein, 1988, 221 m.w.N. 57 Vgl. Günther Hirnforschung und strafrechtlicher Schuldbegriff, KJ 2006, 117. 58 Vgl. Hoffmann-Riem Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.) (Fn. 47), 11; siehe auch Engel Rechtswissenschaft als angewandte Sozialwissenschaft, 1998, in: ders. (Hrsg.) Methodische Zugänge zu einem Recht der Gemeinschaftsgüter, 1998, 11. 59 Vgl. Simon (Hrsg.) (Fn. 8) auch Foegen Rechtsgeschichte und Geschichte der Evolution eines sozialen Systems, 2002.

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III. Verortungen Auf der Luzerner Tagung der deutschsprachigen Rechtsforschung 2008 wurde zum Abschluss über die Zukunft der Rechtsforschung diskutiert. Dem lag folgende These zugrunde: „Die deutschsprachige interdisziplinäre Rechtsforschung befindet sich zur Zeit im Umbruch. Es beginnt sich ein größerer Forschungszusammenhang „Recht und Gesellschaft“ abzuzeichnen, der über die Grenzen der klassischen Rechtssoziologie hinausgeht und die aktive Zusammenarbeit aller mit Recht befassten Disziplinen stärker sucht als bisher. Ähnliche Projekte bestehen bereits mit etwa der englischsprachigen „Law and Society“-Bewegung oder dem Netzwerk „Droit et Société“, das französischsprachige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammenführt. Das Abschlusspanel soll aufzeigen, wie sich der deutschsprachige Forschungszusammenhang weiter entwickeln könnte, wie der forschungspolitische Kontext aussieht, und welche konkreten Realisierungsideen und -chancen bestehen.“ Die Diskussion verlief kontrovers, zeigte aber auch, dass Rechtsforschung Zukunft hat, wenn und weil sie sich auch international verortet. Diese Verortung erfolgt wie in allen anderen Wissenschaften immer mit einem Blick auf die USA, der jedenfalls für die Geistesund Sozialwissenschaften weiterhin dominanten Forschungslandschaft.60 Dazu kommt jedoch der Blick auf Skandinavien, wo mit dem dortigen Rechtsrealismus Traditionen vorhanden sind, die hier wichtig werden können und heute kritische Forschung betrieben wird, die eine deutlich europäische Prägung zeigt,61 der Blick nach Spanien – das International Institut for the Sociology of Law (IISL) in Oñati im spanischen Baskenland dürfte das derzeit einzige nationale rechtssoziologische Institut sein62 – und nach Großbritannien, wo wichtige jüngere rechtsforschende Impulse zu finden sind,63 und nach Österreich und in die Schweiz, in der insbesondere die Gesetzesevaluation intensiv diskutiert wird.64 60 Vgl. zum Stand Friedman Coming of Age: Law and Society Enters an Exclusive Club, 2005. 61 Zur Tradition Vogel Der skandinavische Rechtsrealismus, 1972; aktueller das Sonderheft der Scandinavian Studies in Law 53 (2008): Law and Society. 62 Es ist eine 1989 erfolgte Gründung des Research Committee on Sociology of Law (der International Sociological Association) und der baskischen Regierung. Vgl. Guibentif (Hrsg.) Oñati IISL–IISJ, 1989–2000: Introduction to the Institute and Report about its Activities, 2000 und www.iisj.net. Hier finden sich auch Bestrebungen, ein „World Council on Socio-Legal Studies“ einzurichten. 63 Hier setzen Initiativen wie der Anglo-German Workshop 2006 am Research Institute for Law, Politics and Justice (RILPJ), Keele University, UK, die maßgeblich von Susanne Karstedt in Keele betrieben werden. 64 Vgl. Bussmann Die Methodik der prospektiven Evaluation, Gesetzgebung heute (LeGes), 1997, 109; siehe auch Schäffer Evaluierung der Gesetze/Gesetzesfolgenabschät-

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Was also ist das eingangs umfassend angefragte „Proprium“ der interdisziplinären Rechtsforschung? Die Zukunft lässt sich nur hypothetisch, sicher auch programmatisch, aber eingedenk aller Unwägbarkeiten auch nur vorsichtig skizzieren. Interdisziplinäre Rechtsforschung ist mehr als die bloße punktuelle Zusammenarbeit zwischen dogmatisch orientierter Rechtswissenschaft und anderen Disziplinen. Sie entwickelt einen Zugriff auf Wissen und einen Theoriekorpus, in der sich Innen- und Außenperspektive nicht ausschließen. Diese Forschung bedient die Systemrationalität des Rechts, reflektiert diese aber kritisch, verfällt ihr also nicht. Diese Rechtsforschung hat auch enge Bezüge zur Rechtspraxis, dient ihr aber nicht unmittelbar. Sie lebt von der Kooperation der Disziplinen, was oft mehr bedeutet, als einen Sammelband zu produzieren, sondern tatsächlich fordert, sich auf Denkstile einzulassen und zu erforschen, was genau wen – und insbesondere „Juristinnen und Juristen“ – bewegt. Rechtsforschung bewegt sich ebenso wie ihr Gegenstand, das Recht, und wie die dogmatische Rechtswissenschaft im ständigen Kampf um Definitions- und Erklärungsmacht, um Meinungshoheit, um Reputation und Ressourcen.65 Ein Proprium der Rechtsforschung dürfte es sein, dass sie sich der Machtdimension bewusst ist und auch auszuweisen sucht, worin Recht und die Wissenschaft von ihm verfangen sind. Rechtsforschung ähnelt der medizinischen Forschung damit deutlicher als der Sozial- oder Kulturwissenschaft, die nur in den seltensten Fällen die Möglichkeit erhält oder aber unter dem Zwang steht, Entscheidungen zu fällen und allgemein legitimieren zu müssen. Rechtsforschung stellt gerade deshalb Machtfragen, weil Recht immer mit Legitimationsfragen verbunden ist. Der Wissenschaft fällt aber auch die Aufgabe zu, diese eventuell zu dekonstruieren, was dann durchaus mit Herausforderungen für die Praxis verbunden ist. Rechtsforschung ist an Recht gebundene Forschung, aber sie ist auch genau die Forschung, die sich mit dieser Bindung kritisch befasst. Umso wichtiger ist es, Erschütterungen tradierter rechtswissenschaftlicher Gewissheiten – wie die bröckelnde Vorstellung von richterlicher Rechtsbindung66 oder der Vertrauensverlust in das allgemeine Gesetz – mit einer interdisziplinär offenen wissenschaftlichen Identität zu begegnen. Recht ist hier nicht allein Idee oder eine Norm neben anderen, sondern will auch als zung in Österreich und im benachbarten Ausland, 2005; Balthasar Institutionelle Verankerung und Verwendung von Evaluationen, 2007. In Wien besteht mit dem „Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie“ (IRKS) ein außeruniversitäres und politiknahes Forschungszentrum, das empirische Rechtsforschung betreibt. 65 So auch der Titel der nächsten Drei-Länder-Konferenz im Anschluss an die LuzernTagung: „Der Kampf ums Recht“ 2011 in Wien. 66 Dazu hat Dieter Simon in einem Vortrag an der Juristischen Fakultät eine durchaus skeptische Position vertreten: „Vom Rechtsstaat in den Richterstaat?“, online http://www. rechtswirklichkeit.de/aktuelles/vortrag-simon. Eine Amerikanisierung befürchtet Schlink Abschied von der Dogmatik, Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, 157.

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das verstanden werden, „what lawyers will do in fact“.67 Damit wäre der Anschluss an große Geschichten – wie der von Max Weber und einer Staatsrechtslehre, die noch nicht in eine „soziale“ und eine „rechtliche“ Lehre zersplittert war68 – gewahrt, die Öffnung für Neues aber ebenfalls gesichert. Interdisziplinäre Rechtsforschung lässt sich – an einer Fakultät, aber auch in einer Wissenschaftslandschaft – nur als bereits beginnende Zukunft skizzieren, als ein auch revidierendes Fortschreiben von Traditionen, die wieder Anlass werden für Tradierungen, denn jede Historisierung ist auch die Erfindung einer eigenen Version von Geschichte, eine Positionierung durch Erzählung, qua Narrativ. Eine für die Rechtsforschung typische Frage lautet also: Was erzählen wir uns als Geschichte der Rechtswissenschaft, als Geschichte einer Fakultät, als Geschichte der Rechtssoziologie, und der interdisziplinären Rechtsforschung? Die Funktion einer Festschrift liegt wohl nicht zuletzt darin, sich selbst eines Narrativs zu versichern, um weiter erzählen zu können. Interdisziplinäre Rechtsforschung ist nicht nur Teil des Narrativs dieser Fakultät, sondern ermöglicht es, auch diese Deutungen des eigenen wissenschaftlichen Handelns durchaus kritisch zu reflektieren. So sei noch eine Crux dieses wie jeden anderen Beitrags zur Zukunft eines Faches benannt, der aus der Perspektive derer verfasst wird, die in diesem Fach eine wissenschaftliche Heimat finden oder suchen. Die Crux liegt darin, dass der Gegenstand dieser Beiträge nicht einer personifiziert-imaginierten Rechtswissenschaft zuzuordnen ist, sondern konkrete Akteure und damit auch die Beitragenden selbst bewegt. Hier wird – wie in jeder Festschrift – kein Blick von außen geworfen, sondern eine Binnenperspektive artikuliert. Das ist auch keineswegs per se ein Fehler. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass es ein Kurzschluss wäre, Distanz – ganz in der Tradition einer positivistischen Auffassung von Wissenschaft – mit Objektivität und Unvoreingenommenheit gleich zu setzen.69 Der Blick von außen ist nur ein anderer, ein anders informierter Blick, und kritische Rechtsforschung befasst sich auch damit, was das bedeutet. Sie setzt ganz im Einklang mit der Wissenschaftsforschung70 voraus, dass in der Forschung immer je partikulare 67 Der berühmte Satz von Oliver Wendell Holmes lautet: „The prophecies of what the court will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law“ Holmes The Path of Law, Harvard Law Review 10 (1897) 460. Ebenfalls von Holmes: „The life of the law has not been logic, it has been experience“; in The Common Law, 1949. 68 Zum Auseinanderfallen der Staatsrechtswissenschaft und Staatsrecht Vorländer Die Verfassung als symbolische Ordnung, Perspektiven einer kulturwissenschaftlich-institutionalistischen Verfassungstheorie, in: Becker/Zimmerling (Hrsg.) Recht und Politik, PVSSonderheft 36, 2006, 229. Für ein Plädoyer zur Wiederbelebung einer Politik und Recht integrierenden Staatswissenschaft Schuppert (Fn. 16). 69 Daston/Gallison Objektivität, 2007. 70 Im Anschluss an Nowotny/Gibbons/Scott Wissenschaft neu denken: Wissenschaft und Gesellschaft in einem Zeitalter der Ungewissheit, 2004; Nowotny The New Production of Knowledge, 1994; Weingart Wissenschaftssoziologie, 2003.

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und auch interessierte Perspektiven wirksam werden. Sie fragt nach Stil und Duktus, nach Autoritätsgesten und Relativierungen, nach expliziten und impliziten Darlegungen, also auch nach dem wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis gerade in einem macht- und herrschaftsgetränkten Zusammenhang wie der Rechtswissenschaft. Auch in Festschriften kann mehr oder minder deutlich werden, was wen warum bewegt, und es kann mehr oder minder klar zur Diskussion gestellt werden, welche Interessen, Wahrnehmungsfilter und sonstigen Selektionsmechanismen aus welchen Gründen zur Anwendung kommen. Beiträge sind voller Positionen, also normativ gemeinter Thesen, was war, wird und werden soll.71 Zudem sind Selbst- und Fremdbeschreibungen von Fakultäten in Festschriften auch Stimmen in einem konkurrent befreundeten Feld, in dubio affirmativ-reputationssteigernd und voll des eventuell auf Rezeptionsempirie basierenden, eventuell aber auch auf Stilisierung zielenden „Herrscherlobes“, insofern spezifisch gefärbt. Natürlich ist auch der hier vorgelegte Beitrag keinesfalls interessenfrei, und zwar nicht nur im nachpositivistisch banalen Sinn.72 Eine interdisziplinär offene Rechtswissenschaft ist dazu geeignet, auch dies zu entdecken: was uns mit Blick auf Recht warum bewegt.

71 Auch personenbezogene Festschriften können explizit oder implizit Denkmalschutz und Denkmalsturz betreiben, um eine Metapher zu zitieren, die Werle anlässlich der Wissenschaftswerkstatt der Fakultät in der Diskussion zu diesem Beitrag einbrachte. Vgl. auch von Münch Das Festschriftwesen und -unwesen, NJW 2000, 3253; Heiser Sind Festschriften patriarchalisch?, www.literaturkritik.de, 3/2004; Keazor Rezension zu Baader/MullerHofstede/Patz: Ars et Scriptura, www.sehepunkte.de 2/2002, 10; Kleinsteuber Rezension zu Purer/Eichhorn/Pauler: Medien – Politik – Kommunikation, Publizistik 52 (2007) 560. Zum Kanon Kaiser/Matuschek (Hrsg.) Begründungen und Funktionen des Kanons, 2001; Assmann/Assmann (Hrsg.) Kanon und Zensur, Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II, 1987; Hahn Unter falschem Namen, Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, 1991; Harding Das Geschlecht des Wissens, 1994. 72 Die Positivismusdebatte ist natürlich nicht banal, sondern erzwingt auch für die Rechtsforschung eine Rückbesinnung auf und Auseinandersetzung mit Weber (Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Schriften zur Wissenschaftslehre, 1991), den Debatten zwischen Kelsen und seinen Gegnern, zwischen Adorno und Popper oder Luhmann und Habermas.

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Privatrechtsmethodik: ökonomische und transnationale Ansätze Christian Kirchner

Privatrechtsmethodik: ökonomische und transnationale Ansätze CHRISTIAN KIRCHNER

I. II. III. IV.

Einführung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlegende methodische Annahmen . . . . . . . . . . . . . . . Der ökonomische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Interaktionsrecht und Organisationsrecht . . . . . . . . . . . . . a) Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Interaktionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Organisationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ökonomische Fragestellungen des Interaktions- und Organisationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Drei ökonomische Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Ökonomik des Interaktionsrechts . . . . . . . . . . . . . aa) Positive ökonomische Wirkungsanalyse . . . . . . . . . . bb) Normative Gestaltungsempfehlungen für Regelungen des Interaktionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ökonomik der Regelsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zur Ökonomik des Organisationsrechts . . . . . . . . . . . . aa) Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Positive ökonomische Wirkungsanalyse . . . . . . . . . . cc) Normative Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Regelsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der transnationale Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der transnationale Ansatz: positive Analyse . . . . . . . . . . . . 3. Der transnationale Ansatz: normative Analyse . . . . . . . . . . VI. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung und Problemstellung Einer juristischen Fakultät, die sich schon in ihrer Gründungsphase als Reformfakultät verstanden hat, steht es gut an, ein Jubiläum nicht allein in Gestalt eines Rückblickes auf eine große Vergangenheit zu feiern. Es ist die Zukunftsoffenheit, die für diese Fakultät prägend gewesen ist. Diese ‚Tradition’ gilt es fortzuführen. Im Privatrecht stellen sich neue methodische Herausforderungen, zum einen angestoßen durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Wirtschaftswissenschaften, zum anderen durch die Öffnung des nationalen Rechtsraums. Diese Herausforderungen betreffen alle Rechtsgebiete, besonders aber das Privatrecht. Regeln individuelle Akteure ihre Beziehungen rechtlich, handeln sie in der Regel zielorientiert. Sie versuchen, bestimmte Zwecke zu erreichen. Rechtliche Regelungen für ihre Transaktionen sollen diesen Zwecken dienen. Deshalb benötigen diese Akteure Informationen darüber, wie die gewählten rechtlichen Regelungen tatsächlich funktionieren. Wirkungsanalysen sind erforderlich. Die traditionelle rechtswissenschaftliche Methodik hat für diesen Zweck bisher kein methodisches Instrumentarium entwickelt, mit dessen Hilfe überprüfbare Prognosen zur Wirkungsweise alternativer rechtlicher Regelungen entwickelt werden können. Die ökonomische Theorie ist seit etwa fünfzig Jahren dabei, über den Gegenstand ‚Wirtschaften‘ – im Sinne eines rationalen Umgangs mit dem Problem der Knappheit der Ressourcen – hinaus, eine allgemeine sozialwissenschaftliche Methodik für die Analyse sozialer Interaktionen zu entwickeln. Diese könnte für rechtswissenschaftliche Fragestellungen fruchtbar gemacht werden. Gestalten private Akteure ihre Beziehungen mit Hilfe rechtlicher Regelungen, können sie in aller Regel auf allgemein zur Verfügung stehende rechtliche Regelungen zurückgreifen, die in dem Staat gelten, dem sie angehören, oder auf dessen Territorium sie tätig sind. Rechtliche Regelungen, die von staatlichen Instanzen unter Einsatz öffentlicher Mittel geschaffen werden (staatlich gesetztes Recht), können als öffentliche Güter betrachtet werden. Jedermann hat Zugang zu diesen Regelungen und kann sie einsetzen, ohne sie erwerben zu müssen. Sie werden durch ihren Gebrauch nicht verzehrt. Die Finanzierung erfolgt durch Steuern, also durch Mittel, die dem Staat von den Bürgern ohne konkrete Gegenleistung zur Verfügung gestellt werden. Im geschlossenen Nationalstaat ist das Konzept der öffentlich finanzierten Regelsetzung für Transaktionen innerhalb des staatlichen Territoriums eingängig. Historisch gesehen ist dieses Konzept erst ein Kind des modernen Territorialstaates. Die Territorialität des Rechts wurde von vielen Juristen lange Zeit als eine Selbstverständlichkeit betrachtet. Probleme treten aber dann auf, wenn eine Transaktion nicht nur das Territorium eines Staa-

Privatrechtsmethodik: ökonomische und transnationale Ansätze

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tes berührt, sondern das Territorium von zwei oder mehr Staaten (transnationale Transaktion). Dann stellen sich neue Fragen, nämlich etwa solche nach (1) der Bestimmung des anwendbaren Rechts, (2) der Schaffung eines eigenständigen supra- oder internationalen Rechts für transnationale Transaktionen. Methodisch bedarf es dann eines transnationalen Ansatzes.

II. Vorgehensweise Im Folgenden ist nach einer Erörterung der grundlegenden Annahmen auf den ökonomischen Ansatz einzugehen. Dieser Ansatz bildet dann die Grundlage für die Entwicklung des transnationalen Ansatzes. Der Grund für diesen Aufbau liegt darin, dass die für den ökonomischen Ansatz herausgearbeitete Methodik auch für den transnationalen Ansatz Verwendung finden kann. Die einschlägigen Publikationen des Autors zu ökonomischen und transnationalen Ansätzen seit dem Ruf an die Juristische Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin samt der dort zitierten Literatur bilden das Fundament für die folgenden Überlegungen.1 1

Kirchner The Difficult Reception of Law and Economics in Germany, International Review of Law and Economics 11 (1991) 277–292; Kirchner Wettbewerbstheoretische Ansätze bei Ronald Coase, Wirtschaft und Wettbewerb (WuW) 1992, 584–605; Assmann/ Kirchner/Schanze Ökonomische Analyse des Rechts, 1993 (Erstausgabe 1978); Homann/ Kirchner Ordnungsethik, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 14 (1995) 189–211; Kirchner Regulierung durch öffentliches Recht und/oder Privatrecht aus der Sicht der ökonomischen Theorie des Rechts, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.) Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996 (Schriften zur Reform des Verwaltungsrechts, Band 3), 63–84; Kirchner Kartellrecht und neue Institutionenökonomik: Interdisziplinäre Überlegungen, in: Kruse/Stockmann/Vollmer (Hrsg.) Wettbewerbspolitik im Spannungsfeld nationaler und internationaler Kartellrechtsordnungen, FS Schmidt 1997, 33–49; Kirchner Ökonomische Theorie des Rechts, Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 16. Oktober 1996, 1997 (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin; Heft 151); Kirchner Europäisches Vertragsrecht, Referate und Sitzungsberichte der Arbeitssitzung der Fachgruppe Zivilrecht der Gesellschaft für Rechtsvergleichung auf der Tagung vom 20.–22. März 1996 in Jena (hrsg. von Weyers), 1997, 103–137; Kirchner A „European Civil Code“: Potential, Conceptual, and Methodological Implications, U.C. Davis Law Review 31 (1998) 671–692; Kirchner Bedingungen interstaatlicher Institutionalisierung von wirtschaftlichen Prozessen, in: Korff/ Baumgartner/Franz u.a. (Hrsg.) Handbuch der Wirtschaftsethik, Band 2, 1999, 376–389; Kirchner Formen interstaatlicher Interaktionsregeln für wirtschaftliche Prozesse, in: Korff/ Baumgartner/Franz u.a. (Hrsg.) ebenda, 390–403; Kirchner Zur Territorialität des Bilanzrechts, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 18 (1999) 100–125; Kirchner Folgenberücksichtigung bei judikativer Rechtsfortbildung und ökonomische Theorie des Rechts, in: Hof/Schulte (Hrsg.) Wirkungsforschung zum Recht III (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat 17), 2001, 33–43; Kirchner Rationality Assumptions in Law and in Economics, A Reciprocal Learning Process, in: Haft/Hof/Wesche (Hrsg.) Bausteine zu einer Verhaltenstheorie des Rechts, 2001, 445–448; Kirchner Gemeinwohl aus institutionenöko-

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III. Grundlegende methodische Annahmen Will man einen ökonomischen Ansatz sowie einen transnationalen Ansatz für das Privatrecht entwickeln, erscheint es geraten, vorab gewisse grundlegende Annahmen zu klären. Zuerst ist zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden, nämlich der Handlungsebene und der Ebene der Handlungsbedingungen. Akteure können auf beiden Ebenen agieren. Dies kann für das Vertragsrecht veranschaulicht werden: Zwei Akteure können unter Rückgriff auf das geltende Vertragsrecht einen (einfachen) Austauschvertrag schließen. Dies geschieht auf der Handlungsebene. Sie können aber auch einen relationalen Vertrag schließen, in dem sie ex ante einen Rahmen für ihre künftigen Austauschbeziehungen vereinbaren. Sie treffen dann Entscheidungen auf der Ebene der Handlungsbedingungen. Staatlich gesetztes Recht ist regelmäßig auf der Ebene der Handlungsbedingungen angesiedelt. Wie das Beispiel des relationalen Vernomischer Perspektive, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.) Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, WZB-Jahrbuch 2002, 157–177; Kirchner Regulierung durch Unternehmensführungskodizes, Codes of Corporate Governance, Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (zfbf) 2002, 93–120; Kirchner Zur Ökonomik des legislatorischen Wettbewerbs im europäischen Gesellschaftsrecht, in: Fuchs/Schwintowski/Zimmer (Hrsg.) Wirtschafts- und Privatrecht im Spannungsfeld von Privatautonomie, Wettbewerb und Regulierung, FS Immenga 2004, 607–625; Kirchner Managerialismus, in: Schreyögg/von Werder (Hrsg.) Handwörterbuch Unternehmensführung und Organisation4 2004, 806– 814; Kirchner Zur ökonomischen Theorie der juristischen Person – Die juristische Person im Gesellschaftsrecht im Lichte der Institutionenökonomik –, in: Damm/Veil/Heermann (Hrsg.) FS Raiser 2005, 181–202; Kirchner Privates Wettbewerbsrecht und Gemeinwohlverwirklichung, in: Kirchhof (Hrsg.) Gemeinwohl und Wettbewerb, 2005, 45–83; Kirchner/Painter/Kaal Regulatory Competition in EU Corporate Law after Inspire Art: Unbundling Delaware’s Product for Europe, European Company and Financial Law Review (ECFR) 2 (2005) 159–206; Kirchner/Schmidt Private Law-Making: IFRS – Problems of Hybrid Standard Setting –, in: Nobel (Hrsg.) International Standards and the Law, 67–82; Kirchner § 13 Europa als Wirtschaftsgemeinschaft, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.) Europawissenschaft, 2005, 375–427; Kirchner Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz: ein ökonomischer Ansatz, in: Leible/Schlachter (Hrsg.) Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, 2006, 37–52; Kirchner § 3 Die ökonomische Theorie, in: Riesenhuber (Hrsg.) Europäische Methodenlehre, Grundfragen der Methoden des Europäischen Privatrechts, 2006, 23–48; Kirchner Comparative Corporate Governance: An Economic and Legal Analysis, The Journal of Interdisciplinary Economics 17 (2006) 5–23; Kirchner An Economic Analysis of Choice-of-Law and Choice-of-Forum Clauses, in: Basedow/Kono (eds.) An Economic Analysis of Private International Law, 2006, 33–53; Kirchner/Schmidt Hybride Regelsetzung im Recht der Unternehmensrechnungslegung – Fehlentwicklungen im europäischen Gemeinschaftsrecht, Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis 2006, 387–407; Kirchner The Development of European Community Law in the Light of New Institutional Economics, in: Bindseil/Haucap/Wey (eds.) Institutions in Perspective, FS Richter 2006, 309–325; Kirchner Probleme von Ermessensspielräumen in der fair valueBewertung nach internationalen Rechnungslegungsstandards, zfbf-Sonderheft 55/2006, 61–78.

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trages verdeutlicht, können aber auch private Akteure auf dieser Ebene tätig werden, und zwar nicht nur in Gestalt vertraglicher Einigungen, sondern auch durch die Erarbeitung rechtlich nicht verbindlicher Verhaltenskodizes. Die Unterscheidung zwischen der Handlungsebene und der Ebene der Handlungsbedingungen spielt gleichermaßen für moderne ökonomische Ansätze wie für transnationale Ansätze eine Rolle. Bei den letzteren kommt die Ebene der Handlungsbedingungen immer dann ins Spiel, wenn Akteure für ihre transnationalen Aktivitäten nicht einfach in Form einer Rechtswahlvereinbarung auf (ein) staatliches Recht zurückgreifen, sondern wenn sie rechtsgestaltend für eine Klasse künftiger Transaktionen Regeln setzen. Die Ökonomik hat sich lange Zeit auf die Handlungsebene konzentriert, in dem sie die Funktionsweise von Märkten untersucht hat und dabei die Rahmenbedingungen als gegeben angenommen hat. Sie blendete damit eben die Handlungsbedingungen aus ihren Analysen aus. Allerdings gab es immer einige ökonomische Subdisziplinen, die anders vorgingen. So befaßte sich die Außenwirtschaftstheorie (international economics) immer explizit mit der Zollproblematik. Die Industrieökonomik (Wettbewerbsökonomik) (industrial organisation) setzte sich mit der Gestaltung des wettbewerbsrechtlichen Rahmens auseinander. Die (theoretische) Wirtschaftspolitik beschäftigte sich explizit mit dem Ordnungsrahmen der Wirtschaft. Insbesondere der deutsche ordnungsökonomische Ansatz befasste – und befasst – sich mit Fragen der Gestaltung des rechtlichen Rahmens der Wirtschaft. Hier überschneiden sich industrieökonomische und ordnungsökonomische Ansätze. Der allgemeine methodische Durchbruch der Ökonomik zu einer Disziplin, die sich – unter Verwendung des traditionellen methodischen Instrumentariums – mit Fragen der Ebene der Handlungsbedingungen auseinandersetzt, erfolgte vor etwa fünfzig Jahren mit der Entwicklung der Neuen Institutionenökonomik. Ausgangspunkt war die Unterscheidung verschiedener Faktoren von Handlungsbedingungen, nämlich solchen, die gar nicht oder nur schwer vom Menschen beeinflusst werden können, wie die Naturgesetze, die Ausstattung mit Bodenschätzen, die Fruchtbarkeit des Bodens, das Klima und solchen, die entweder gezielt von Menschen gestaltet werden – wie Gesetze – oder die sich aus Interaktionen evolutorisch entwickeln. Das Produkt solcher menschlich gesetzter Handlungsbedingungen sind dann abstraktgenerelle, mit Sanktionen bewehrte Regelungen (Institutionen). Von solchen Regelungen gehen Anreize und Sanktionen aus. Deshalb haben sie eine Lenkungsfunktion für soziale Interaktionen. Solche Regelungen können nach Metaregeln gesetzt und durchgesetzt werden. Dann spricht man von formalen Regelungen bzw. von formalen Institutionen. Sie können aber auch informell gesetzt und durchgesetzt werden, wie dies bei vielen sozialen Regelungen der Fall ist. Zu den formalen Regelungen gehören rechtliche Regelungen. Sind sie sanktionsbewehrt, sind sie formale Institutionen. Rechtliche Regelungen gehören, sind sie sanktionsbewehrt, zu den formalen Institutionen.

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Will man den Zusammenhang zwischen der Ebene der Handlungsbedingungen und der Handlungsebene untersuchen, benötigt man Annahmen darüber, wie Akteure auf der Handlungsebene auf Änderungen der Ebene der Handlungsbedingungen reagieren. Dazu sind Verhaltensannahmen erforderlich. Ginge man davon aus, dass alle Akteure spontan reagierten und zufällig entschieden, ließen sich keine Aussagen darüber formulieren, wie formale oder informelle Institutionen menschliche Entscheidungen beeinflussen. Es ist also erforderlich, allgemeine Verhaltensannahmen zu formulieren, die zwar nicht bei allen Akteuren zutreffen müssen, wohl aber bei der großen Mehrheit der Akteure. Denn allgemeine Aussagen betreffen nicht das Handeln einzelner Akteure, sondern das Handeln einer Gruppe von Akteuren. Allgemeine Verhaltensannahmen machen keine Aussagen über Vorlieben und Interessen der Akteure, also ihre Präferenzen. Sie müssen unabhängig von den jeweiligen Präferenzen verwendbar sein. In den modernen Sozialwissenschaften setzt sich mehr und mehr eine Verhaltensannahme durch, die man als die Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens bezeichnen kann. Von dieser Annahme soll hier ausgegangen werden. Allerdings werden in Bezug auf den institutionenökonomischen Ansatz Modifikationen dieser Annahme vorzunehmen sein. War bisher lediglich von der Unterscheidung zwischen der Handlungsebene und der Ebene der Handlungsbedingungen ausgegangen worden, so ist eine weitere Ausdifferenzierung bezüglich der Ebene der Handlungsbedingungen erforderlich, will man eine Methodik für die Analyse rechtlicher Regelungen entwickeln. Die Akteure können für ihre Transaktionen die Regelungen selbst entwickeln (private ordering); oder sie können Kollektiventscheidungen über die Setzung von Regelungen treffen, die dann für spätere Transaktionen zur Anwendung gelangen sollen (public ordering). Regelsetzung auf der Ebene des public ordering ist zumeist die auf staatlicher, suprastaatlicher oder internationaler Ebene. Regelungen des private ordering betreffen private Verträge, Satzungen, aber auch private Verhaltenskodizes oder privat gesetzte Standards. Der Forschungsansatz, der für die Analyse der Ebene der Handlungsbedingungen zur Anwendung gelangt, sieht dann wie folgt aus: Man geht davon aus, dass eigennutzorientierte rational handelnde Akteure bei gegebenen Präferenzen innerhalb des gegebenen institutionellen Rahmens agieren, dass sie auf Änderungen dieses Rahmens reagieren und dass sie ihrerseits danach trachten, Regelungen so zu gestalten, dass der daraus für sie resultierende Nutzen höher ist als die für die Regelgestaltung anfallenden Kosten.

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IV. Der ökonomische Ansatz 1. Vorüberlegungen Beim ökonomischen Ansatz für das Privatrecht wird von den Basisannahmen ausgegangen, die im zweiten Abschnitt vorgestellt worden sind. Es gilt, auf dieser Grundlage eine Privatrechtsökonomik zu entwickeln. Es ist zu klären, welchen Beitrag die Ökonomik zur Lösung rechtlicher Probleme leisten kann. ‚Rechtsökonomik’ (law and economics) umfasst einen sehr breiten Anwendungsbereich. Es geht im Grunde um den Rückgriff auf das methodische Instrumentarium der Ökonomik für die Beantwortung sehr unterschiedlicher rechtlicher Fragestellungen. Hier stehen solche des Privatrechts im Vordergrund. 2. Interaktionsrecht und Organisationsrecht a) Vorüberlegungen Bei privaten Rechtsbeziehungen geht es nicht um solche zwischen Bürger und Staat, sondern um solche von Bürgern untereinander. Zu unterscheiden ist dann zwischen Interaktionsrecht und Organisationsrecht. Statt von Interaktionsrecht wird auch von ‚Transaktionsrecht‘ gesprochen. Dieser Terminus wird hier nicht gewählt, weil es sich auch beim Aufbau einer Organisation in der ökonomischen Terminologie um eine Transaktion handelt. Der Aspekt des Leistungstauschs wird besser mit dem Begriff ‚Interaktion‘ erfasst. Im Interaktionsrecht geht es um den Leistungsaustausch zwischen privaten Akteuren im weitesten Sinne, im Organisationsrecht um die Gestaltung und den Betrieb von Organisationen, etwa Unternehmen, Verbänden etc. Die charakteristische Perspektive für das Privatrecht ist die Gestaltung der Rechtsbeziehungen durch die privaten Akteure selbst. Aus diesem Grunde wird in der normativen Analyse das Ziel der Vertragsfreiheit (Privatautonomie) betont. Das Recht wird aus der Sichtweise derjenigen Akteure gesehen, die es für die Gestaltung ihrer sozialen Interaktionen einsetzen. Damit steht weniger der Steuerungsaspekt des Rechts im Vordergrund, wie dies insbesondere im Verwaltungsrecht der Fall ist, sondern die Optimierung von sozialen Interaktionen mit Hilfe des Rechts. b) Interaktionsrecht Im Interaktionsrecht regeln die Akteure ihren Leistungsaustausch dergestalt, dass sie den Inhalt der jeweiligen Leistungspflichten der Vertragspar-

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teien festlegen und Hilfsregelungen für solche Fälle aufstellen, in denen die tatsächliche Leistungserbringung von der vertraglich geschuldeten abweicht. Bei Verträgen, in denen Vertragsschluss und Vertragserfüllung auf einen Zeitpunkt fallen, erscheint die Funktion des Vertragsrechts sehr beschränkt. Es geht lediglich darum, Hilfsregelungen für den Fall aufzustellen, falls sich später herausstellen sollte, dass nicht vertragsgemäß geleistet worden ist. Das Interaktionsrecht gewinnt an Komplexität, wenn sich die Leistungsbeziehungen über einen längeren Zeitraum erstrecken und die Akteure zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht abschätzen können, wie der Leistungsaustausch in Zukunft zu optimieren ist. Es liegt ein Informationsproblem vor. Man könnte dem zu begegnen versuchen, indem man für alle Eventualitäten (contingencies) Regelungen aufstellt. Aber auch in Bezug auf mögliche künftige Konstellationen ist die Information beschränkt. Aus diesem Grunde erscheint es geraten, nicht alle Aspekte des künftigen Leistungsaustauschs ex ante im Zeitpunkt des Vertragsschlusses zu regeln, sondern den Vertrag offen zu gestalten, ihn unvollständig zu belassen (Stichwort: unvollständige Verträge). Es wird denn der künftige Leistungsaustausch nur in Umrissen erfasst. Es werden die Beziehungen zwischen den Parteien (relations) in Gestalt eines relationalen Vertrages (relational contract) geregelt. Man geht heute davon aus, dass in entwickelten Volkswirtschaften die Hälfe des gesamten Leistungsaustauschs durch solche relationalen Verträge rechtlich geregelt wird. c) Organisationsrecht Im Organisationsrecht geht es um die Schaffung von rechtlichen Strukturen, die für künftige Interaktionen Kompetenzen und Verfahren festlegen. Das Kalkül, eine Organisation aufzubauen und rechtlich zu gestalten, zielt dann darauf, dass die dadurch erreichten Vorteile für künftige Interaktionen zwischen den Akteuren stärker ins Gewicht fallen als die Kosten für den Aufbau der Organisation. Dies ist ein Investitionskalkül. Das Beispiel ‚Unternehmen’ mag dies verdeutlichen. Einigen sich Akteure darauf, ihre Ressourcen nicht individuell in Tauschtransaktionen einzusetzen, sondern diese zu vergemeinschaften, um sie dann gemeinsam einzusetzen, sind in Bezug auf die gemeinschaftliche Ressourcennutzung Kompetenz- und Verfahrensfragen zu regeln. So können etwa bestimmte Kompetenzen der Versammlung aller Beteiligten, der Gesellschafter, übertragen werden; oder sie können auf Dritte delegiert werden, die dann für die Gesellschafter handeln. Rechtlich ist der Grad der Verselbständigung der Organisation – samt des ‚Gesellschaftsvermögens’ – im Verhältnis zu den Gesellschaftern zu klären. Charakteristisch für privatrechtliches Organisationsrecht ist die Tatsache, dass zuerst auf der Ebene der Handlungsbedingungen agiert wird, um dann Entscheidungen auf der Handlungsebene zu erleichtern.

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3. Ökonomische Fragestellungen des Interaktions- und Organisationsrechts a) Drei ökonomische Fragestellungen In der Regel stehen zwei ökonomische Fragestellungen in Bezug auf das Privatrecht im Vordergrund, nämlich (1) die Frage nach den erwarteten Wirkungen, die von den gewählten rechtlichen Regelungen ausgehen (positive ökonomische Wirkungsanalyse) und (2) die Frage normativer Gestaltungsempfehlungen für die Wahl der rechtlichen Regelungen. Neben diese beide Fragestellungen, die diskutiert werden, seitdem die ‚Ökonomische Analyse des Rechts‘ (economic analysis of law) ökonomisches Denken systematisch in die Rechtswissenschaft einbezogen hat, tritt eine dritte, nämlich die nach der Ökonomik der Regelsetzung. Dieser Fragestellung soll in den folgenden Überlegungen deshalb besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Sie spielt eine Rolle bei der Frage, in welchem Verhältnis legislative und judikative Rechtsfortbildung stehen. Sie ist aber auch für den transnationalen Ansatz relevant, wenn nämlich die Akteure vor der Entscheidung stehen, auf Regelungen nationalen Rechts zurückzugreifen oder selbst Regelungen zu schaffen. b) Zur Ökonomik des Interaktionsrechts aa) Positive ökonomische Wirkungsanalyse In Bezug auf das Interaktionsrecht spielt die Frage der erwarteten Wirkungen der gewählten rechtlichen Regelungen eine zentrale Rolle. Setzen Akteure rechtliche Regelungen zweckorientiert ein, benötigen sie Informationen über die tatsächliche Wirkungsweise dieser Regelungen. Geht man von der Annahme systematisch unvollständiger Information aus, so geht es nicht allein um Prognoseunsicherheiten, sondern auch darum, ob es angesichts unzureichender Information sinnvoll ist, vollständige Verträge zu schließen. In unvollständigen Verträgen sind die Zeitpunkte festzulegen, in denen die Vertragsparteien über hinreichend sichere Informationen verfügen, um die Bedingungen des Leistungsaustauschs zu spezifizieren. In der modernen Statistik, die insbesondere Hilfestellung bei der Quantifizierung künftiger Risiken leisten soll, wird diesen sich verändernden Szenarien in Gestalt sogenannter nichtparametrischer Analysen Rechnung getragen. Die positive ökonomische Wirkungsanalyse rechtlicher Regelungen des Interaktionsrechts baut auf den Annahmen systematisch unvollständiger Information und eigennutzorientierten Rationalverhaltens der Akteure auf. Es wird allerdings nicht von unbeschränkter, sondern von beschränkter Rationalität im Sinne der modernen Verhaltensökonomik ausgegangen. Dabei

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wird unterstellt, dass die Akteure ihren eigenen Vorteil auch zu Lasten anderer Akteure zu mehren trachten (nicht-kooperatives Handeln, Opportunismus). Auf der anderen Seite zeigt gerade die neuere Verhaltensökonomik, dass bei Dauerbeziehungen zwischen Akteuren ‚Fairness’ einen hohen Stellenwert einnehmen kann. Allerdings lässt sich ‚faires Verhalten’ dann sehr wohl mit der Annahme unbeschränkter Rationalität vereinbaren, wenn nämlich die Akteure in Erwartung der Fortsetzung einer Leistungsaustauschbeziehung davon ausgehen, dass der Aufbau von Vertrauen künftig Transaktionskosten senkt. Für die Analyse von Interaktionsbeziehungen und der dabei eingesetzten rechtlichen Regelungen heißt dies, dass neben das Problem der unvollständigen Information, das zum Abschluss unvollständiger Verträge führt, das Rationalitätsproblem die zentrale Rolle spielt. Zentral sind dann die Annahme sowohl von ex ante-Opportunismus wie auch die von ex post-Opportunismus. Beim ex ante-Opportunismus versuchen potentielle Vertragspartner Informationsasymmetrien zu ihren Gunsten auszunutzen. Beim ex post-Opportunismus versuchen sie, die vereinbarten Regelungen in ihrem Sinne zu interpretieren und zu modifizieren. Unvollständige Verträge bieten dafür schon deshalb Raum, weil sie eine Reihe von Punkten absichtlich offen gelassen haben, die dann eine Einflugschneise für ex post-opportunistisches Verhalten sein können. Also werden eigennutzorientierte rational handelnde Akteure von der drohenden Gefahr ex postopportunistischen Verhaltens der anderen Vertragspartei ausgehen und ex ante-Vorkehrungen dagegen zu treffen versuchen. Das Prognoseproblem besteht nun darin, mögliche Varianten ex post-opportunistischen Verhaltens vorherzusehen. Jede Prognose wird jedoch mit Fehlern behaftet sein, da die Information in Bezug auf mögliche Varianten ex post-opportunistischen Verhaltens ihrerseits unvollständig ist. Dem können die Vertragspartner dadurch zu begegnen trachten, dass sie Verträge so gestalten, dass Vertrauenskapital aufgebaut wird. Wie bereits ausgeführt wird dadurch wiederum faires Verhalten gefördert. Dieser Funktionszusammenhang bricht allerdings dann zusammen, wenn sich die Exit-Option für eine Vertragspartei als günstiger im Vergleich zur Fortsetzung des Leistungsaustauschs erweist. Die positive ökonomische Wirkungsanalyse von Regelungen des Interaktionsrechts gewinnt dadurch zusätzlich an Komplexität, dass die formalen Institutionen – hier also die rechtlichen Regelungen – durch informelle Regelungen flankiert werden können. So können etwas Vertragsbeziehungen dadurch stabilisiert werden – und somit gegen die Gefahr ex post-opportunistischen Verhaltens abgesichert werden –, dass neben formalen – rechtlichen – Sanktionen informelle Sanktionen im sozialen Bereich eingesetzt werden. Solche informellen Regelungen sind aber zumeist gebunden an einen sozialen und möglicherweise kulturellen Kontext, so dass bei transnationalen Transaktionen die Ergänzung formaler durch informelle Regelungen in der Regel größere Probleme aufwirft. Eine Ausnahme von dieser

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Regel liegt allerdings dann vor, wenn soziale Netzwerke ihrerseits länderübergreifend sind. Stellt man die oben angestellten Überlegungen auch für die staatlichen Regelungen des Interaktionsrechts an, so bleiben einige Faktoren, die bei der positiven Wirkungsanalyse in Rechnung zu stellen sind, gleich, andere ändern sich. Auch Regelungen staatlichen Rechts verfolgen oftmals das Ziel, ex post-opportunistisches Verhalten auszuschalten oder zu reduzieren. Als Sanktionsinstrument kann hier der staatliche Zwangsapparat eingesetzt werden. In dieser Funktion erschöpft sich staatliches Interaktionsrecht aber keineswegs. Dem staatlichen Interaktionsrecht werden verschiedene Steuerungsaufgaben übertragen. Dazu zählt etwa der ‚Schutz der schwächeren Partei‘, der Diskriminierungsschutz und andere Schutzfunktionen. Eine ökonomische Wirkungsanalyse der verschiedenen Schutzvorschriften kann Nebenwirkungen solcher Regelungen aufdecken. So kann etwa untersucht werden, ob Mieterschutzregelungen in Zeiten von Wohnungsknappheit einen negativen Effekt für den Neubau von Mietswohnungen zur Folge haben. Bei scharfen Produkthaftungsregelungen kann untersucht werden, ob dadurch bestimmte Produkte, die aus Sicht der Käufer vor Einführung der neuen Regelungen ein gutes Preisleistungsverhältnis aufwiesen, vom Markt verschwinden. Das Spezifische solcher ökonomischer Wirkungsanalysen liegt darin, dass nicht allein die direkten – und beabsichtigten – Folgen einer Norm ins Visier genommen werden, sondern auch die nicht intendierten Folgen. bb) Normative Gestaltungsempfehlungen für Regelungen des Interaktionsrechts Bei privat gesetzten Regelungen des Interaktionsrechts wird man davon ausgehen können, dass die beteiligten Akteure versuchen werden, den gemeinsamen Vorteil durch die Wahl geeigneter Regelungen zu mehren. Offen ist die Verteilung dieses Vorteils unter den Parteien. Aus ökonomischer Perspektive betrachtet sind diese Interaktionen pareto-superior, solange nicht unbeteiligte Dritte geschädigt werden. Pareto-Superiorität bedeutet, dass sich nach der Transaktion alle Beteiligten entweder besser stellen oder zumindest kein Beteiligter schlechter gestellt wird als zuvor. Der eigentliche Grund für diese Win-Win-Situation ist in der Freiwilligkeit der Entscheidungen der beteiligten Akteure zu suchen. Diese werden, handeln sie eigennutzorientiert rational, nur solchen Interaktionen zustimmen, die ihnen einen Vorteil bringen, sie aber zumindest nicht schlechter stellen. Die geschilderte Win-Win-Situation kann gefährdet werden, wenn Akteure die Folgen der betreffenden Interaktionen falsch einschätzen und dies von der anderen Seite in Gestalt des ex ante-Opportunismus (vgl. oben IV 3 b aa) ausgebeutet wird. Sie gerät aber auch durch ex post-opportunis-

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tische Strategien in Gefahr. Daraus leitet sich normative Gestaltungsempfehlung ab, die Regelungen des Interaktionsrechts so zu wählen, dass beide Arten opportunistischer Strategien ausgeschaltet oder zumindest eingeschränkt werden. Ob Dritte durch eine Interaktionen geschädigt werden, wird – geht man von der Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens aus – von den an der Interaktion Beteiligten nicht in Rechnung gestellt werden. Beispiele für solche ‚Verträge zu Lasten Dritter‘ sind Kartellverträge, in denen die an der Kartellbildung Beteiligten aus der Vereinbarung Vorteile zu Lasten anderer Marktteilnehmer, besonders denen der Marktgegenseite, ziehen. Stellt man jetzt nicht allein auf den Vorteil für die Kartellbeteiligten, sondern auf die Nutzenwirkungen für alle Beteiligten und Betroffenen ab, greift die Rechtfertigung der Interaktion mit Hilfe des Kriteriums der Pareto-Superiorität nicht mehr. Ökonomisch stellt sich die Frage, ob solche Metaregelungen – etwa staatliche – aufgestellt werden sollen, die Drittschädigungen generell untersagen oder solche, die eine Kosten-Nutzen-Abwägung vornehmen. Im modernen Wettbewerbsrecht ist dies die Unterscheidung zwischen einer per-se-Regel (per se rule) und einer Regelungen, die mit dem Vernünftigkeitskriterium (rule of reason) arbeitet. Bei staatlich gesetztem Interaktionsrecht spaltet die normative Fragestellung oftmals Juristen und Ökonomen. Verfolgen Juristen Ziele wie ‚Schutz der schwächeren Partei‘, neigen viele Ökonomen zu einer wohlfahrtsökonomischen Betrachtung. Dann sind Effizienzziele zu definieren. Diese können auf die effiziente Ressourcenallokation abstellen, auf die produktive Nutzung der Ressourcen, auf Nutzensteigerungen im zeitlichen Ablauf (allokative Effizienz, produktive Effizienz, dynamische Effizienz). Dieser normative Streit betrifft in Wahrheit die Frage, wer legitimiert ist, die Ziele vorzugeben, die mit Hilfe rechtlicher Regelungen erreicht werden sollen. Juristen nehmen für sich in Anspruch, dass bei einer demokratischen Legitimation der Legislative diese die Ziele bestimmen sollte. Das entspricht der ökonomischen Position der Konstitutionenökonomik. Dieser baut auf dem normativen Individualismus auf und fragt, welche Regelung einigungsfähig unter der Bedingung ist, dass die Akteure ihre konkrete Position nicht kennen (hypothetischer Konsens). Anhänger der Wohlfahrtsökonomik hingegen orientieren sich vielfach an der allokativen Effizienz. Innerhalb der Rechtsökonomik vertreten Anhänger der Institutionenökonomik den konstitutionenökonomischen Ansatz, Vertreter der ‚Ökonomischen Analyse des Rechts‘ hingegen den Effizienzansatz. Es ist leicht ersichtlich, dass die normativen Brüche zwischen juristischen Positionen und institutionenökonomischen Positionen geringer sind als die zwischen juristischen und wohlfahrtsökonomischen. Die jeweiligen Brüche lassen sich dadurch reduzieren, dass man vor die normative die positive Analyse schaltet. So kann mit Hilfe der positiven Analyse bestimmt werden, wie hoch die Nutzenminderung

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von Schutzvorschriften aufgrund nicht intendierter Nebenwirkungen dieser Regelungen ist (dazu oben IV 3 b aa). cc) Ökonomik der Regelsetzung Die dritte ökonomische Fragestellung betrifft die Regelsetzung als solche. Auch hier ist zwischen einer positiven und einer normativen Fragestellung zu unterscheiden. In der positiven Ökonomik der Regelsetzung werden die Folgen unterschiedlicher Arten von Regelsetzung vergleichend untersucht. Im Interaktionsrecht geht es hier um den Vergleich einer Regelsetzung durch die Akteure selbst (private ordering), einer Regelsetzung durch staatliche Instanzen (public ordering) und Formen der Regelsetzung, an denen sowohl private wie staatliche Akteure beteiligt sind (hybride Regelsetzung). Während in der traditionellen juristischen Diskussion die Regelsetzungsdiskussion vom Axiom des Vorrangs staatlicher Regelsetzung gegenüber privater Regelsetzung beherrscht wird, in der dann private Akteure aufgrund staatlich gewährter Vertragsfreiheit regelsetzend tätig werden dürfen, ist die ökonomische Sichtweise differenzierter. Ausgangspunkt ist die Annahme dezentral verteilter Information. Dies spricht dafür, dass private Akteure geringere Informationskosten für die Regelung ihrer Interaktionen haben als staatliche Akteure. Zudem haben sie den Anreiz der im Vorabschnitt geschilderten Win-Win-Situation. Doch hier kommt der Gedanke des Vertrages zu Lasten Dritter ins Spiel: Private Regelsetzung kann Dritte schädigen (Ausschlusswirkungen, exclusionary effects). Um dies zu verhindern, können staatliche Regelungen eingesetzt werden, die Grenzen privater Regelsetzung festlegen, wie das im Wettbewerbsrecht beim Kartellverbot der Fall ist. Im konstitutionenökonomischen Ansatz wird dieses Problem wie folgt angegangen: Ist der Konsens die Quelle der Legitimation des Vertrages, so gibt es keine Legitimation für die Schädigung Dritter, die dem Vertrag nicht zugestimmt haben. Da es zu kostspielig wäre, alle Betroffenen eines breit streuenden drittschädigenden Vertrages einzubeziehen, bietet es sich aus Kostengründen an, staatliche Regelungen einzusetzen, um drittschädigende Verträge zu verhindern. Ein Sonderproblem der Regelsetzung ist das der hybriden Regelsetzung. Hier wird private Regelsetzung mit staatlicher verknüpft. Ein Beispiel sind die internationalen Rechnungslegungsstandards des International Accounting Standards Board, die sogenannten IFRS. In der Regel kommt es zu einer solchen hybriden Regelsetzung auf dem Feld der Regulierung, wenn der Staat nicht selbst die Standards setzt, sondern privat gesetzte Standards anerkennt und in staatliches Recht transformiert, etwa in Gestalt eines Endorsementverfahrens wie bei den IFRS. Im Interaktionsrecht könnte man daran denken, dass handelsübliche Usancen zur Ausfüllung handelsrechtlicher Regelungen herangezogen werden, wie dies bei den Internationalen Han-

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delsklauseln der Internationalen Handelskammer (International Commercial Terms: Incoterms) der Fall ist. Die Problematik der hybriden Regelsetzung liegt darin, dass beim Legitimationsproblem Scheinlösungen verwendet werden, wie das Komitologieverfahren beim Endorsement der IFRS. Aus ökonomischer Sicht heißt dies, dass Regelungen gesetzt werden, die weder von der Zustimmung der Betroffenen getragen werden, noch dem Test der demokratischen Legitimation standhalten. c) Zur Ökonomik des Organisationsrechts aa) Vorüberlegungen Die Überlegungen zur Ökonomik des Organisationsrechts folgen weithin denen zum Interaktionsrecht. Deshalb ist es möglich, sich auf die spezifischen Besonderheiten des Organisationsrechts zu konzentrieren, um Wiederholungen zu vermeiden. bb) Positive ökonomische Wirkungsanalyse Wie im Interaktionsrecht steht beim Organisationsrecht eine vertragliche Einigung auf freiwilliger Basis am Anfang. Hier ist es der Vertrag, mit dem sich die beteiligten Akteure, die Gesellschafter, darauf einigen, bestimmte Ressourcen zu vergemeinschaften, um sie dann gemeinschaftlich einzusetzen. Es geht um eine Ressourcenpoolung und zugleich um eine Trennung dieses Ressourcenpools vom sonstigen Vermögen der Gesellschafter. Das Kalkül besteht darin, dass für alle Beteiligten die erwarteten Erträge höher sind als diejenigen bei individueller Ressourcennutzung. Gründe dafür liegen in Größenvorteilen (economies of scale), in Synergieeffekten (economies of scope), in Vorteilen der Arbeitsteilung und Spezialisierung und schließlich in Transaktionskostenvorteilen. Voraussetzung für die Erreichung dieser Ziele ist die Schaffung einer Organisation, in der Kompetenzen und Verfahren geregelt sind. In diesen ist festzulegen, welche Ressourcen die Gesellschafter einzubringen haben, ob und wie sie an Geschäftsführungsentscheidungen beteiligt sind, welche Rechte sie in Bezug auf die erwirtschafteten Überschüsse (Gewinn) haben, welche Rechte in Bezug auf das Vermögen der Gesellschaft bei ihrer Auflösung. Wenn Gesellschafter Entscheidungsbefugnisse auf andere Gesellschafter oder an Dritte delegieren, sind Informations- und Kontrollrechte zu regeln, aber auch Anreizprogramme für die Entscheidungsträger, die sie veranlassen sollen, im Interesse der Gesellschafter zu handeln. Aufgabe der positiven Wirkungsanalyse ist es, die erwarteten Wirkungen der betreffenden Regelungen in ihrem Zusammenspiel zu bestimmen. Wie bei Leistungsaustauschverträgen spielt das Informationsproblem eine zentrale Rolle. Es geht nicht darum, die konkreten Wirkungen einzelner Rege-

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lungen zu analysieren, sondern darum, in einem ersten Schritt die abstraktgenerelle Wirkungsweise der Regelungen zu bestimmen, um dann zu fragen, ob im konkreten Kontext Abweichungen zu erwarten sind. Dabei ist wiederum vom eigennutzorientierten Rationalverhalten aller Gesellschafter auszugehen. Aus ökonomischer Sicht gibt es also kein ‚Gesellschaftsinteresse‘, sondern die Interessen der einzelnen Gesellschafter. Wie im unvollständigen Vertrag zahlt sich Fairness – hier Gesellschaftstreue – aus, da Kooperationsvorteile erzielt werden können. Aber auch hier kann die Exit-Option für einen Gesellschafter vorteilhafter sein als die Fortsetzung des Gesellschaftsverhältnisses. Im Organisationsrecht bedeutet nun die Exit-Option, dass nicht ein Vertragspartner betroffen wird, sondern alle anderen Gesellschafter. Dies ist bereits bei Schaffung der Organisation bekannt, so dass Vorkehrungen gegen ex post-opportunistisches Verhalten durch Ziehung der Exit-Option zentrale Bedeutung zukommt. In der positiven Wirkungsanalyse ist dann zu prüfen, wie das Interesse der in der Gesellschaft verbleibenden Gesellschafter geschützt werden kann, wenn ein Gesellschafter die Exit-Option wählt. Auf der anderen Seite bedeutet eine Überabsicherung der verbleibenden Gesellschafter für einen Gesellschafter, der ausscheiden möchte, eine Einkerkerung (lock-in). Die ökonomische Analyse hat also die verschiedenen Konstellationen in einem spieltheoretischen Arrangement durchzuspielen und damit für Gesellschafter mit unterschiedlichen Interessenpositionen die Chancen und Risiken abzustecken. Übertragen Gesellschaften Entscheidungsbefugnisse an Gesellschafter oder Dritte, ist mit Hilfe einer ökonomischen Wirkungsanalyse zu testen, wie Regelungen, die das Problem von Unternehmensführung und Kontrolle der Führung (corporate governance) zu lösen trachten, tatsächlich funktionieren. Während in konventionellen juristischen Ansätzen auf effektive Informations- und Kontrollregelungen gesetzt wird, gehen ökonomische Überlegungen dahin, sanktionsbewehrte Kontrollregelungen mit Anreizregelungen zu kombinieren. Dabei werden auch die Kosten der Kontrollregelungen ins Kalkül eingestellt. Bei Anreizregelungen (etwa bei Bonusprogrammen) fragen ökonomische Ansätze insbesondere danach, ob und wie diese Regelungen manipulationsanfällig sind (Manipulation von Börsenkursen bei Bonusprogrammen, die auf die Entwicklung des kapitalisierten Börsenwerts abstellen). Das Problem der Corporate Governance erscheint aus ökonomischer Sicht erst einmal als ein Prinzipal-Agent-Problem. Der schlechter informierte Prinzipal – der Gesellschafter – überträgt einem besser informierten Agenten – dem Manager – Entscheidungsbefugnisse. Er muss davon ausgehen, dass dieser die Informationsasymmetrie zu Lasten der Gesellschafter ausbeutet und sucht sich dagegen zu sichern. Das Problem dieses Prinzipal-Agent-Ansatzes besteht nun darin, dass der Informationsvorsprung des Agenten auch in Bezug auf diejenigen Regelungen gilt, mit deren Hilfe sichergestellt werden soll, dass er entsprechend den Interes-

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sen der Gesellschafter handelt. Arbeiten Prinzipal-Agent-Modelle mit der Annahme vollständiger Information, müssen sie das Problem verfehlen, weil diese Annahme nicht gegeben sein kann. Die ökonomische Alternative ist der Rückgriff auf die Theorie unvollständiger Verträge. Man kann die Delegation von Entscheidungsbefugnissen auf den Agenten als unvollständigen Vertrag betrachten. Die Unvollständigkeit des Rechtsverhältnisses zwischen Gesellschafter und Manager besteht darin, dass der Gesellschafter mit dem Anspruch auf Teilhabe am ‚Gewinn‘ lediglich einen Residualanspruch in Händen hat. Tatsächlich hängt der Gewinn aber von den Managemententscheidungen des Agenten ab. Der Prinzipal kann dem Manager aber nicht vorschreiben, welche Entscheidungen er zu treffen hat. Denn dann gingen die Vorteile der Arbeitsteilung und Spezialisierung verloren. Entscheidungsbefugnisse sind deshalb an den Agenten delegiert worden, weil angenommen wird, dass dieser besser befähigt ist, die Entscheidungen sachgerecht zu treffen als der Gesellschafter. Das Kernproblem liegt dann in einem ex postopportunistischen Verhalten des Managers. Wie im unvollständigen Vertrag geht es also um die Frage, mit Hilfe welcher Regelungen ex post-opportunistisches Verhalten eliminiert oder reduziert werden kann. Dabei ist davon auszugehen, dass die Akteure mit dem Problem unvollständiger Information konfrontiert sind und dass sie beschränkt rational handeln. Die Tatsache unvollständiger Information legt es nahe, dass es nicht die Gesellschafter sind, die den Managern Anreizverträge vorlegen, sondern dass es die Manager sind, die den Gesellschaftern Arrangements der Selbstbindung vorschlagen. cc) Normative Analyse Man könnte wie beim Interaktionsrecht auch beim Organisationsrecht erst einmal davon ausgehen, dass Akteure, die eine Organisation schaffen, dies auf der Basis der Freiwilligkeit tun und deshalb zwangsläufig paretosuperiore Lösungen generiert werden. Doch auch beim Organisationsrecht tritt das Problem auf, dass Dritte möglicherweise geschädigt werden. Dann stellt sich die Frage, ob dieses durch Metaregelungen, etwa solche staatlichen Rechts, verhindert werden soll. Das von juristischer Seite ins Spiel gebrachte Problem ist das der Haftungsbeschränkung von Gesellschaften, die als juristische Personen organisiert sind. Diese Haftungsbeschränkung könnte Dritte schädigen, wenn das Gesellschaftsvermögen von Anfang an unzureichend sei oder wenn es später durch Rückzahlungen an die Gesellschafter geschmälert werden könnte (Mindesteigenkapitalvorschriften/Verbot der Einlagenrückgewähr). Aus diesem Grunde gehen juristische Konzepte davon aus, dass eine Sicherung der möglicherweise geschädigten Dritten durch Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsregelungen zu gewährleisten sei. Aus ökonomischer Sicht stellt sich das Problem anders dar. Die Haftungsbe-

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schränkung ist eine Regelung im Außenverhältnis der Gesellschaft. Es geht letztlich um eine Vereinbarung zwischen der Gesellschaft und Dritten, auf welche Haftungsmasse diese sollen zugreifen können. Wird eine solche Vereinbarung getroffen, so werden die Dritten einer Lösung nicht zustimmen, derzufolge die Gesellschafter ex post die Haftungsmasse vermindern können (ex post-Opportunismus). Sie werden Vorkehrungen verlangen, die eine Vermögensverschiebung zu ihren Lasten verhindert. Ihr Interesse an einem Mindestvermögen zum Zeitpunkt der Geschäftsaufnahme der Gesellschaft wird hingegen deshalb gering sein, da ein solches Mindestvermögen durch ökonomische Fehlentscheidungen schon kurz nach Geschäftsaufnahme vernichtet werden kann. Aus ökonomischer Sicht geht es dann nicht um Mindestkapitalvorschriften, sondern um eine Kontrolle von Vermögensverschiebungen im Verhältnis des Gesellschaftsvermögens zum sonstigen Vermögen der Gesellschafter. Diese Kontrolle kann über verschiedene Mechanismen gewährleistet werden. Entweder kann man darauf abstellen, dass das bilanzielle Eigenkapital erhalten wird, oder man kann jeweils fragen, ob durch Ausschüttungen an die Gesellschafter die Insolvenz der Gesellschafter gefährdet werden könnte (Insolvenztest, Solvabilitätstest). Das Konzept der bilanziellen Kapitalerhaltung ist so gut wie die Rechnungsregelungen, die der Bestimmung des Eigenkapitals zugrunde legen. Hier sind sowohl in Bezug auf die HGB-Rechnungslegungsregelungen als auch in Bezug auf die Internationalen Rechnungslegungsstandards ernste Zweifel am Platze. Die Brauchbarkeit von Insolvenztests hängt dann aber wiederum von den Regelungen ab, die für den Tatbestand der ‚Insolvenz‘ gelten. dd) Regelsetzung Nimmt man den Gesellschaftsvertrag als Ausgangspunkt, so sollte man von der These ausgehen, dass es die Gesellschafter sein sollten, die zur Regelsetzung befugt sein sollten. Sie sollten frei sein, die für sie optimale Gesellschaftsstruktur bestimmen zu können. Doch hat sich gezeigt, dass es sehr wohl zu Nutzeneinbußen Dritter kommen kann. Aus diesem Grunde ist von juristischer Seite das staatliche Monopol eines numerus clausus der Gesellschaftsformen ins Spiel gebracht worden, demzufolge nur von staatlicher Seite zugelassene Gesellschaftsformen verwendet werden können, die dann wiederum dem Schutz der Interessen Dritter Rechnung tragen. Dieses staatliche Monopol ist nur dann gewährleistet, wenn alle in einem Nationalstaat domizilierten Gesellschaften dem Recht dieses Staates unterworfen sind Sitztheorie). Dieser Ansatz schränkt die Freiheit von Akteuren, eine Gesellschaft nach Regelungen zu gründen, die aus ihrer Sicht, optimal sind, erheblich ein. Wollen sie die aus ihrer Sicht optimalen Regelungen anwenden, müssen sie den Sitz der Gesellschaft in das Land legen, das entsprechende Regelungen bereithält. Eine Sitzverlegung in ein anderes Land eliminiert

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dann diese Vorteile, weil von nun an die Regelungen des Sitzlandes zur Anwendung gelangen. Die Regelsetzungskompetenz ist in diesem Ansatz eine territoriale. Jedes Land regelt das verbindliche Recht für Gesellschaften, die ihren Sitz auf seinem Territorium haben. Aus ökonomischer Sicht ist diese Lösung deshalb nicht sinnvoll, weil die Wahl des gesellschaftsrechtlichen Regimes zwangsläufig verbunden ist mit der Wahl aller anderen rechtlichen Regelungen des Sitzlandes. Es sind also nur Paketlösungen möglich. Stellt man es den Akteuren frei, unabhängig vom Ort des Sitzes der Gesellschaft das Inkorporationsrecht zu wählen (Inkorporationstheorie), löst dies einen Wettbewerb der Gesellschaftsrechte aus. Denn nun sind die nationalen Gesetzgeber Anbieter eines Produkts, das von denen nachgefragt wird, die eine Gesellschaft zu gründen beabsichtigen. Es wird aber nicht allein ein Gesellschaftsrechtsgesetz angeboten, sondern möglicherweise auch das darauf aufbauende Fallrecht. Für die Akteure, die nun nach einem passenden Gesellschaftsrecht suchen, geht es um einen um die Vorteilhaftigkeit der betreffenden gesetzlichen Regelung, zum den Grad der Rechtssicherheit, der vom betreffenden Fallrecht ausgeht, aber auch von möglichen – teils versteckten – Zusatzkosten in Bezug auf Registrierung, Rechnungslegungsanforderungen etc. Agieren die potentiellen Gründer einer Gesellschaft als Nachfrager, so treten die Nationalstaaten als Anbieter auf. Das Kalkül der Anbieter ist ein vielfältiges. Inkorporationssteuern können eine Rolle spielen, müssen dies aber nicht. Ein Staat, dessen Gesellschaftsrecht gewählt wird, kann indirekt von der Rechtswahl profitieren, in dem etwa nationale Rechtsexperten stärker nachgefragt werden, deren Einkommen im betreffenden Land zu versteuern ist. Der im Vorabschnitt erörterte Wettbewerb nationaler Gesellschaftsrechte kann weiterentwickelt werden, in dem die Rechtsetzung privatisiert wird. Arbeiten Rechtsexperten etwa eine gesellschaftsrechtliche Kodifikation aus, die aus der Sicht von Nachfragern attraktiver ist als die zur Verfügung stehenden nationalen Gesetze, so könnte es für einen Staat interessant werden, diese Kodifikation zu übernehmen und gleichzeitig für die Fallrechtsentwicklung ein Schiedsgericht – samt Verfahrensregelungen – zur Verfügung zu stellen, dessen Entscheidungen dann publiziert werden, um durch die Herausbildung von allseits zur Verfügung stehendem Fallrecht Rechtssicherheit zu produzieren. Voraussetzung für dieses Modell einer gemischt privat-staatlichen Rechtsetzung ist die Anerkennung dieses Rechts durch andere Staaten. Im Rahmen der Europäischen Union wäre das der Fall, wenn ein Mitgliedstaat dieses Staatenverbunds entsprechend tätig würde.

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V. Der transnationale Ansatz 1. Vorüberlegungen Der transnationale Ansatz geht von denselben grundlegenden Annahmen sowie von den Verhaltensannahmen der Neuen Institutionenökonomik aus wie der ökonomische Ansatz. Auch hier sind es die privaten Akteure, die ihre Rechtsbeziehungen gestalten. Dabei braucht hier auf das Organisationsrecht nicht weiter eingegangen zu werden, da die Optionen im transnationalen Raum bereits im letzten Abschnitt des vorangegangenen Kapitels erörtert worden sind. Im Vordergrund steht hier also das Interaktionsrecht. Das Besondere an transnationalen Interaktionen besteht darin, dass die Anwendung eines bestimmten nationalen Rechts deshalb nicht selbstverständlich ist, da zwei oder mehr Rechtsordnungen betroffen sein können. Im Hintergrund steht die Territorialität des Rechts, der zufolge moderne Nationalstaaten beanspruchen, Rechtsbeziehungen auf ihrem Territorium regeln zu können. Betrifft nun eine Transaktion mehr als ein Territorium, kann es zu offenen Problemen oder auch zu Konflikten kommen. Aus juristischer Sicht geht es dann um die Bestimmung des anwendbaren Rechts, um die Frage, ob für transnationale Transaktionen ein eigenes supra- oder internationales Recht geschaffen werden soll, um die Frage der Angleichung oder Vereinheitlichung der nationalen Rechte und schließlich um die Frage der Entstaatlichung des Rechts dergestalt, dass private Akteure ihr eigenes Recht für die transnationalen Transaktionen schaffen. Verlässt man die traditionelle juristische Sichtweise und geht von der Interessenlage der beteiligten Akteure aus, geht es zuerst einmal um ein Problem des private ordering. Auf dieser Ebene gibt es dann zwei alternative Lösungen: (1) Rechtswahl eines existierenden nationalen Rechts oder (2) Schaffung privater Regelungen jenseits der nationalen Rechtsordnungen. Der transnationale Ansatz ist also ein Problem der Rechtswahl und Rechtsetzung. Für die Akteure sind Kostenkalküle entscheidend. Zwingende staatliche Regelungen, etwa solche des Kollisionsrechts bilden dann die Restriktionen, unter denen die Akteure optimieren. Neben die Wahl der anwendbaren rechtlichen Regelungen tritt das Problem der Durchsetzung dieser Regelungen. Wie die Regelungen durchgesetzt werden können, entscheidet sich danach, ob staatliche Gerichte eingeschaltet werden, um deren Vollstreckung es in einer anderen Rechtsordnung geht, oder ob Schiedsgerichte tätig werden. Die Vollstreckung von Entscheidungen von Schiedsgerichten stellt sich heute als einfacher dar als die Vollstreckung von Entscheidungen staatlicher Gerichte jenseits der nationalen Jurisdiktion. Man kann die Probleme der rechtlichen Regelungen für transnationale Transaktionen auch aus der Perspektive des public ordering angehen. Dann

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stehen zur Wahl entweder die Angleichung der für die betreffenden Transaktionen einschlägigen nationalen Rechtsordnungen oder aber die Schaffung eines Einheitsrechts, entweder auf supra- oder internationaler Ebene. 2. Der transnationale Ansatz: positive Analyse Wie im ökonomischen Ansatz geht es beim transnationalen Ansatz darum, die tatsächlichen Wirkungsweisen der unterschiedlichen Lösungen zu analysieren. Die an einer transnationalen Transaktion beteiligten Akteure müssen abschätzen können, welche Konsequenzen eine Rechtswahl hat. Zugleich müssen sie vergleichend prognostizieren können, welche Kosten und Nutzen von einem selbst geschaffenen Recht für ihre Transaktionen anfallen. Hier geht es um eben die Probleme, die bei der positiven Analyse im ökonomischen Ansatz auftreten. Insofern kann auf die zum ökonomischen Ansatz entwickelten Argumentationen verwiesen werden. Werden nicht die Akteure selbst auf der Ebene des private ordering tätig, sondern die Staaten auf der Ebene des public ordering in Gestalt von Rechtsangleichungs- oder Rechtsvereinheitlichungsaktivitäten, müssen diese die erwarteten Wirkungen ihrer Aktivitäten abschätzen. In traditionellen Konzepten werden die positiven Wirkungen von Rechtsangleichung bzw. Rechtsvereinheitlichung hervorgehoben. Denn es winken hier Nutzensteigerungen durch Größenvorteile (economies of scale) und Transaktionskostenreduktionen. Doch Konzepte, die allein auf diese positiven Wirkungen abstellen, sind verkürzt. Es wird ausgeblendet, dass in einem Nebeneinander konkurrierender rechtlicher Regelungen Lernpotentiale stecken. In einer dynamischen Betrachtungsweise sind abzuwägen, die erörterten Vorteile der Rechtsangleichung bzw. -vereinheitlichung gegen die Nachteile verminderter Lernchancen. Im Hintergrund steht ein Informationsproblem. Jeder Akt der Rechtsangleichung oder -vereinheitlichung kann immer nur die im Zeitpunkt der Angleichung bzw. Vereinheitlichung existierenden Informationen nutzen. Stehen hingegen rechtliche Regelungen miteinander in Konkurrenz, werden diejenigen, die Wahlhandlungen vornehmen, in jedem Zeitpunkt des Wahlaktes die relevanten Informationen verwenden. Es werden also ständig neue Informationen verarbeitet und auch durch die Wahlhandlungen selbst generiert. Es findet das statt, was man im Marktgeschehen als ‚Entdeckungsverfahren‘ im Hayekschen Sinn bezeichnet. Aus dieser dynamischen Perspektive sind also bei Aktivitäten der Rechtsangleichung und Rechtsvereinheitlichung in einer positiven Analyse die Einbußen an Lernfähigkeit in Rechnung zu stellen.

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3. Der transnationale Ansatz: normative Analyse Will man die im Vorabschnitt erörterten Probleme aus normativer Perspektive beurteilen, ist der normative Referenzrahmen zu klären. Beim private ordering geht es um eine Win-Win-Situation aus der Sicht der an einer transnationalen Transaktion beteiligten Akteure. Beim public ordering geht es entweder um die Interessen der Akteure, die einen Nationalstaat konstituieren, oder um die Interessen einer supranationalen Gemeinschaft oder um die einer Weltgemeinschaft. In traditionellen juristischen Ansätzen wird oft auf ‚nationale Interessen‘ abgestellt. Ob es auch supranationale Interessen oder gar internationale Interessen gehen soll, ist nicht klar. Ökonomische Ansätze, die auf dem Boden des methodologischen und normativen Individualismus stehen, fragen jeweils nach, wie es um die Interessen der Akteure bestellt ist, die einen Nationalstaat, einen supranationalen Staatenverbund oder einen ‚Weltstaat‘ konstituieren. In dieser Betrachtungsweise gibt es keine ‚nationalen Interessen‘. Geht man davon aus, dass es hier um Privatrechtsmethodik geht, liegt es nahe, auf den methodologischen und normativen Individualismus abzustellen, wie er von der Ökonomik verwendet wird und nicht auf den Ansatz ‚nationaler Interessen‘, wie er von öffentlichrechtlichen und völkerrechtlichen Ansätzen ins Spiel gebracht wird. Dann ist Ausgangspunkt die WinWin-Situation, die der Leitstern bei privaten Interaktionen ist. Wie im ökonomischen Ansatz fragt es sich dann, wann es zu Interaktionen kommen kann, die zu Lasten anderer Akteure gehen. Und es wäre zu klären, wann es im Interesse der privaten Akteure liegt, dass auf supra- oder internationaler Ebene Rechtsangleichung oder Rechtsvereinheitlichung vorangetrieben wird. Das Problem der negativen Drittbetroffenheit tritt immer dann auf, wenn durch privatrechtliche Aktivitäten Märkte abgeschlossen oder Marktzutrittsschranken errichtet werden. Es geht also auch im transnationalen Kontext um das Problem wettbewerbsbeschränkender Verhaltensabstimmungen. Das spezifische Problem bei transnationalen Transaktionen liegt darin begründet, dass nationale Wettbewerbsrechte jeweils auf den Schutz der nationalen Wettbewerbsordnung, nicht aber auf den der internationalen Wettbewerbsordnung abstellen. Will man internationale Wettbewerbsbeschränkungen bekämpfen, gälte es also entweder, international verbindliche Wettbewerbsregelungen aufzustellen, oder aber die nationalen Wettbewerbsordnungen so aufeinander abzustimmen und zu koordinieren, dass internationale Wettbewerbsbeschränkungen weitgehend ausgeschlossen werden können. Hier klafft eine Lücke im existierenden Rechtssystem. Es gibt weder eine verbindliche internationale Rechtsordnung, noch ist die Abstimmung der nationalen (und supranationalen) Rechtsordnungen in dieser Hinsicht perfekt.

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Die Entwicklung eines transnationalen Ansatzes müsste an dieser Stelle neue Konzeptionen entwickeln. Zu denken wäre insbesondere an Regelungen innerhalb der Welthandelsorganisation (WTO).

VI. Ausblick Einen ökonomischen und einen transnationalen Ansatz für die Privatrechtsmethodik zu entwickeln, ist eine Arbeit, die weiterzuentwickeln ist (work in progress). Entscheidend für die zukünftige Arbeit ist eine klare Grundlage (grundlegende Annahmen und Verhaltensannahmen), eine scharfe Trennung zwischen positiver und normativer Ebene und eine Unterscheidung zwischen dem Agieren auf der Ebene gesetzten Rechts und der Rechtsetzungsebene. Grundlage sowohl für den ökonomischen wie für den transnationalen Ansatz in der Privatrechtsmethodik ist das Denken von den Akteuren her, die ihre Rechtsbeziehungen gestalten. Ihre Präferenzen sind ernst zu nehmen (Präferenzenautonomie). Von da ist ein System zu entwickeln, in dem die Akteure in der Lage sind, rechtliche Regelungen zu entwerfen und durchzusetzen, die den gemeinsamen Nutzen steigern (WinWin-Situationen). Soweit Drittinteressen negativ betroffen sein können, sind Vorkehrungen zum Schutz dieser Interessen auf der Ebene des public ordering zu treffen.

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Rechtsphilosophische Forschung: Reminiszenz, Bilanz und Perspektive

Rechtsphilosophische Forschung: Reminiszenz, Bilanz und Perspektive Christoph Möllers

Rechtsphilosophische Forschung: Reminiszenz, Bilanz und Perspektive CHRISTOPH MÖLLERS

I. Reminiszenz: Rechtsphilosophie zu Zeiten der Universitätsgründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Inkurs: Rechtsphilosophie als Disziplin zwischen Disziplinen 1. Juristische Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Philosophische Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bilanz: Rechtsphilosophische Diskussionslinien seit 1945 . . . 1. Recht und Moral im Systemübergang . . . . . . . . . . . . . . . 2. Menschenwürde – Verhältnismäßigkeit – Personalität . . . . . 3. Zwei Klassiker und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Philosophische Konjunkturen in der Rechtsphilosophie . . . IV. Perspektive: Möglichkeiten rechtsphilosophischer Forschung 1. Diskursgeschichte der Rechtsphilosophie jenseits der Ideengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Analytische Perspektiven und das Problem der Naturalisierung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Intradisziplinäre Zugänge: Allgemeine Rechtslehren . . . . . 4. Theoretisierung der Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Nützlichkeitsversprechen der Rechtsphilosophie? . . . . . . .

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Ob wir zu „Humboldt“ zurückwollen, ist auch im Festjahr 2010 eine offene Frage. Der Name der Humboldts dient schon länger als abgedroschene Metonymie für alles, was uns an der deutschen Universität gut und teuer erscheint, vor allem für die Einheit von Forschung und Lehre1 – aber ihr Name erinnert auch an das umstrittene Projekt der Reform der Universität von oben durch eine bildungspolitische Expertokratie, heute zumal durch eine Expertokratie ohne Expertise. Die Disziplin Rechtsphilosophie ist von den Problemen der Universitätsreform unmittelbar angesprochen, denn sie gehört zu den sogenannten Grundlagenfächern, die es traditionell an den juristischen Fakultäten nicht 1 Überzeugende hochschulpolitische Zweifel an diesem Ideal bei Kieserling Die Wirklichkeit der Humboldt-Rhetorik, in: Kaube (Hrsg.) Die Illusion der Exzellenz, 2009, 26.

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ganz einfach haben und die in der intellektuell kargen Landschaft der bundesrepublikanischen Rechtswissenschaften nicht selten für entbehrlich gehalten werden. Nun wäre es einfach, im Namen Humboldtscher Ideale für die Rechtsphilosophie einzutreten: Ein Begriff juristischer „Bildung“, der die mechanische Anwendung des normativen Handwerks überwindet, klingt auch in heutigen Ohren gut; aber wäre ein solches Versprechen redlich, wäre es überzeugend? Jedenfalls würde man es sich wohl zu leicht machen, wollte man mit rechtsphilosophischen Kenntnissen ein pauschales Nützlichkeitsversprechen verbinden. So wenig klar ist, dass „mehr Bildung“ zu mehr Wohlstand führt – eine erstaunlich wenig hinterfragte Annahme heutiger Bildungsreformen, die es immerhin den Universitäten gestattet, auf hohem Niveau zu darben – so wenig ist klar, ob mehr Rechtsphilosophie aus Studierenden „bessere Juristen“ machen kann. Auszuschließen ist das nicht – und wir werden uns mit den Versprechen rechtsphilosophischer Forschung am Ende dieses Beitrages noch einmal zu beschäftigen haben (V.). Von selbst verstehen sich Nützlichkeitserwartungen an die Rechtsphilosophie schon angesichts des Alltags der juristischen Praxis jedenfalls nicht. Dass wir zur Legitimation des Fachs Rechtsphilosophie auch nicht auf die gute alte Zeit der Gründung von Berliner Universität und Juristischer Fakultät zurückgreifen können, sei am Eingang dieser Betrachtung kurz dargestellt (I.). Darum behandeln wir das Fach Rechtsphilosophie zunächst so, wie man Wissenschaft ohnehin am glücklichsten behandeln sollte, als Selbstzweck, der nicht praktisch ist, aber durchaus einmal praktisch werden könnte2 – und fragen in den beiden Hauptteilen dieses Beitrages nach den Leistungen der rechtsphilosophischen Forschung in der Bundesrepublik nach dem Krieg (III.) und den wissenschaftlichen Entwicklungsperspektiven dieses Faches (IV.), nicht ohne zuvor kurz über die spezifischen Probleme einer philosophischen Disziplin im Kontext der Rechtswissenschaften nachgedacht zu haben (II.).

I. Reminiszenz: Rechtsphilosophie zu Zeiten der Universitätsgründung Savignys Frühhistorismus konnte mit den Begrifflichkeiten philosophierender Rechtswissenschaft nichts anfangen. Die Vorstellung einer philosophischen Begründung oder Systematisierung des Rechts erschien seinem in der Berliner Gründungsepoche ja durchaus avantgardistischen Verständnis von Rechtswissenschaft als Zugriff aus der abgelebten Epoche des Naturrechts. Savigny verweigerte sich also der Philosophie des Rechts, die in den Anfangszeiten allenfalls von marginalen Figuren an der juristischen Fakultät 2 So die Formulierung bei Graf York an Dilthey 18.6.1884, in: Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen York zu Wartenberg, 1923, 42.

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gepflegt wurde.3 Rechtsphilosophische Fragestellungen wurden stattdessen in der philosophischen Fakultät diskutiert, im Umfeld Fichtes und Hegels, der bis 1825 dreimal die Vorlesung „Naturrecht“ hielt. Savignys Desinteresse an der Rechtsphilosophie, sein schlechtes Verhältnis zu Hegel, sein (von Anti-Semitismus nicht freier) Versuch, mit Eduard Gans einen bedeutenden juristischen Rechtsphilosophen an der Fakultät zu verhindern, die Heinrich Heine zu einem Spottgedicht über ihn inspirierten,4 all dies ließe sich einfach zu einer Ehrenrettung des Fachs Rechtsphilosophie auf Savignys Kosten zusammenbinden – wäre da nicht der gewaltige Erfolg des Savignyschen Wissenschaftsprogramms und die beunruhigende Tatsache, dass Savignys Ablehnung der Rechtsphilosophie durchaus auf einer fundierten Auseinandersetzung etwa mit dem Werk Kants und Fichtes beruhte.5 Savignys methodisches Programm internalisiert seine philosophischen Kenntnisse in seine Arbeit am historischen Rechtsstoff, und es weigert sich damit zugleich, eine Philosophie des Rechts einfach unverbunden neben die Arbeit am positiven Recht zu stellen. Dass an der juristischen Fakultät der FriedrichWilhelms-Universität Rechtsphilosophie keine Rolle spielte und erst später, namentlich durch Friedrich Julius Stahl, der Versuch einer Versöhnung der naturrechtlichen Tradition mit der historischen Rechtsschule unternommen wurde, spricht wissenschaftsgeschichtlich also nicht notwendig gegen Savigny, sondern kann ebenso gegen das Fach Rechtsphilosophie gewendet werden. Zum Vergleich: Die Hegelsche Philosophie des Rechts, ein Unterfangen, das mit Kategorien der Normativität insgesamt wenig anzufangen wusste,6 mündete letztlich wohl eher in der Rechtssoziologie, als dass es die Entwicklung der Rechtswissenschaft nachhaltig beeinflusst hätte. Der Moment der Gründung der Berliner Universität selbst also, der der wissenschaftlichen Entwicklung in Deutschland so viel Inspiration brachte, bleibt mit Blick auf die Disziplin Rechtsphilosophie durchaus zwiespältig. Die entscheidende Figur Savigny nutzte ihre auf der Höhe der Zeit stehende philosophische und wissenschaftstheoretische Bildung, um ein höchst erfolgreiches rechtswissenschaftliches Forschungsprogramm zu entwickeln – das besser ohne Rechtsphilosophie auszukommen wusste.

3 Heymann Hundert Jahre Berliner Juristenfakultät, in: Liebmann (Hrsg.) Die juristische Fakultät der Universität Berlin von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Festgabe der Deutschen JZ, B 1910, 1. 4 Heine Die Menge tut es, in: Werke und Briefe in zehn Bänden, Band 2, 1972, 376 ff. 5 Dazu etwa Nörr Savignys philosophische Lehrjahre, 1994; Meder Urteilen – Elemente von Kants reflektierender Urteilskraft in Savignys Lehre, 1999. 6 Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1970, 55 ff., dazu Schnädelbach Hegels praktische Philosophie, 2000, 347 ff.

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II. Inkurs: Rechtsphilosophie als Disziplin zwischen Disziplinen Die Unsicherheit über die eigene disziplinäre Heimat des Faches Rechtsphilosophie zwischen philosophischer und juristischer Fakultät war also bereits im Moment der Berliner Universitätsgründung spürbar und auch relevant. Diese Unsicherheit besteht bis heute fort. 1. Juristische Kontexte Die Klage über den Verlust der Grundlagenfächer an den Juristischen Fakultäten in Deutschland mag man nicht mehr hören, sie hat von ihrer Berechtigung trotzdem nichts verloren. Nach wie vor gelten rechtsphilosophische, rechtshistorische und rechtssoziologische, aber auch verwaltungswissenschaftliche, kriminologische und ökonomisch-analytische Forschungsleistungen als zwar möglicher, aber sicherlich nicht notwendiger Teil der juristischen Ausbildung, als Akzidenzien einer Disziplin, deren Substanz sich in der juristischen Dogmatik wiederfindet. Inwieweit diese Bewertung wissenschaftstheoretisch zu rechtfertigen ist, ist nicht Gegenstand der folgenden Untersuchung,7 Zweifel sind aber erlaubt, zumal man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass diejenigen, die die Dogmatik in den Mittelpunkt des Faches zu stellen wünschen, nur selten in der Lage sind, diese Entscheidung zu begründen oder auch nur zu definieren, was sie unter Dogmatik genau verstehen.8 Die Emphase zugunsten von Dogmatik wird – performativ konsequent, aber intellektuell unbefriedigend – zum Dogma. Dabei ist es – gerade umgekehrt – ein allgemeines methodisches Problem jeder Form von Rechtsphilosophie, dass ihre Bemühungen oft dazu tendieren, spezifische Fragen einer bestimmten Rechtsordnung mit einer relativ generellen Terminologie zu beschreiben und daher ad hoc-Abstraktionen zu verwenden. Man mag sich fragen, ob die auch in Deutschland recht einflussreiche Rechtsphilosophie Ronald Dworkins,9 die doch eine am Modell des „harten“ Falles orientierte Rechtsphilosophie samt heroisierendem Richterbild darstellt,10 in einer Rechtsordnung wie der deutschen, in welcher Geset-

7 Zur Rechtfertigung, die aber ihrerseits kaum von der Dogmatik zur Kenntnis genommen werden dürfte: Schuhr Rechtsdogmatik als Wissenschaft, 2006. 8 Ausnahme: Ernst Gelehrtes Recht – die Jurisprudenz aus Sicht des Zivilrechtslehrers, in: Engel/Schön (Hrsg.) Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, 3. Skepsis hinsichtlich der Perspektiven der Dogmatik jedenfalls für die Gegenwart des Verfassungsrechts bei Schlink Abschied von der Dogmatik – Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, 157. 9 Dworkin Taking Rights Seriously, 1977, 81 ff. 10 Diese Art von Heroismus gibt es in der deutschen Diskussion auch, allerdings fehlen die dazu gehörigen Helden.

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ze eine wesentliche Rolle spielen, einen so überzeugenden Beschreibungswert entfalten kann wie im Kontext des anglo-amerikanischen Rechts. Man mag sich ebenso fragen, ob die sogenannte „Radbruchsche Formel“11 ihren Erfolg nicht vor allem der Tatsache verdankt, dass sich das deutsche Recht im 20. Jahrhundert durch eine Vielzahl politischer Diskontinuitäten hindurch entwickelt hat – und damit für andere Rechtsordnungen mit anderer Geschichte von eher geringem Interesse bleibt. Rechtsphilosophen bestreiten diese Zusammenhänge gerne und tun sich mit der eigenen Historisierung und Kontextualisierung schwer. Eine systematische rechtsphilosophische Begriffsbildung muss sich solchen Relativierungen in der Tat nicht fügen – aber sie muss sich eben doch die Frage gefallen lassen, wie sie zu ihren Begriffen kommt und welches die Fragen sind, auf die ihre Angebote eine Antwort geben sollen. Als ein kritischer Test ist die Brauchbarkeit einer Theorie in anderen Rechtsordnungen durchaus plausibel. Dieses Kriterium dürfte beispielsweise einen Autor wie Radbruch qualitativ von einem Autor wie Kelsen unterscheiden: nur letzterer ist Teil einer rechtsphilosophischen Diskussion geworden, die über den deutschen Sprachraum hinausgeht. In der deutschen Tradition wird das Problem der Kontextabhängigkeit der eigenen Begriffsbildungen durch eine vergleichsweise strikte methodische Verselbstständigung verschiedener Rechtsgebiete noch verschärft. Strafrecht, Privatrecht und öffentliches Recht scheinen ihre eigenen Rechtsphilosophien zu betreiben, und für solche Unterschiede gibt es durchaus gute Gründe: Handlungstheoretische Fragen stehen dem Strafrecht ebenso nahe wie solche der angewandten Ethik; Probleme der politischen Theorie bewegen sich näher am Öffentlichen Recht. Das Zivilrecht hat es häufiger mit Fragen der Verteilungsgerechtigkeit zu tun, es ist dank seiner reichen historischen Tradition zugleich das Rechtsgebiet, das sich am weitesten gegenüber rechtsphilosophischen Fragestellungen verselbstständigt hat. Diese Unterschiede haben ihre eigene Geschichte, so spielte die Rechtsphilosophie nach Einschätzung Klippels für das Strafrecht im 19. Jahrhundert dieselbe Rolle wie das Römische Recht für das Zivilrecht.12 Auch wenn sich rechtsgebietsübergreifende Diskurse – wie die vor dem Ersten Weltkrieg von Vertretern aller Fächer getragene Freirechtsschule – in der Theoriegeschichte finden, bleibt die Prägung durch diese sehr spezifischen Fächerkulturen in der Rechtsphilosophie bis heute deutlich spürbar. Anders als etwa der Legal Realism in den Vereinigten Staaten oder die daran anschließenden Critical Legal Studies13 gibt es in 11

Radbruch Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105. Klippel Ideen und Recht – Die Umsetzung strafrechtlicher Ordnungsvorstellungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Raphael/Tenorth (Hrsg.) Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit 2006, 371. 13 Gut zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten beider Bewegungen: Leiter Naturalizing Jurisprudence, 2007, 97-100. 12

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Deutschland wenige umfassende theoretische Bewegungen. Neukantianismus und Neuhegelianismus mögen vom späten 19. bis zum späten 20. Jahrhundert Ansätze geliefert haben, aber oft blieben auch diese den Spezialfragen des Rechtsgebietes weitgehend verpflichtet. In dieser Ausdifferenzierung zeigt sich weniger das Bemühen um theoretische Reflektion des Rechts als vielmehr ein Selbstverständnis als Zulieferbetriebs für die Rechtspraxis: Es geht um methodischen Rat, nicht um theoretische Distanzierung. Solche Zulieferung ist nicht von vornherein zu verachten. Wohl die Mehrzahl solcher Beiträge ist im Ergebnis aber eher dem – in Deutschland epidemisch erfolgreichen – Genre der Ausbildungsliteratur zuzurechnen und kann von vornherein keinen wissenschaftlichen Beschreibungsanspruch erheben. Weil in Deutschland von Vertretern der Rechtsphilosophie wie der Rechtsgeschichte stets auch die Beherrschung und zumindest Lehre in einem dogmatischen Fach erwartet wird, sind andererseits der Spezialisierung auf rechtsphilosophische Fragestellungen deutliche Grenzen gesetzt. Positiv kann man hierin eine Tendenz zur Universalisierung sehen, die für die deutschen Rechtswissenschaften insgesamt typisch ist und die es im Fall der Rechtsphilosophie gestattet, den Dialog zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie möglich zu erhalten und dadurch die juristische Relevanz der Rechtsphilosophie zu sichern. Freilich erscheint diese Lesart sehr optimistisch: Wenn man akzeptiert, dass zur Rechtsphilosophie jedenfalls auch ein juristisches Studium gehören soll, erscheint die fortdauernde Zwangsbeschäftigung mit anderen Gegenständen für die Weiterentwicklung rechtswissenschaftlicher Forschung eindeutig als ein institutionalisiertes Erkenntnishindernis. In der sehr nahe am Rechtssystem operierenden, praktisch relativ einflussreichen deutschen Rechtswissenschaft bleibt die Luft für theoretische Reflexion damit dünn. Das System des Staatsexamens dürfte, bei manchen anderen Vorteilen, den Grundlagenfächern nicht zugute kommen. Auch wenn zwischen Grundlagen und Praxisbezug – darauf wird zurückzukommen sein – sicherlich kein Nullsummenspiel besteht, scheint dies doch der allgemeine Eindruck bei der Erstellung von Studienplänen wie bei der Einstellung von Dozenten zu sein. Und trotz alledem „gibt“ es Rechtsphilosophie. In der nach wie vor stärker auf Disziplingrenzen achtenden deutschen Theorietradition wie auch in den amerikanischen Law Schools findet sie zuallererst an den Juristischen Fakultäten bzw. Law Schools statt. In Deutschland verliert sie aber institutionell stark an Bedeutung, während sie im amerikanischen System vor allem von den besseren Law Schools gepflegt wird.

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2. Philosophische Kontexte Rechtsphilosophie hat als eine eigene Disziplin aus der Sicht der akademischen Philosophie eine sehr wechselhafte, oftmals nur marginale Rolle gespielt. Lassen sich die europäischen Natur- und Vernunftrechtsentwürfe noch als Ausdruck einer systematischen Konzeption praktischer Philosophie verstehen, in denen der Begriff des Rechts auch deswegen eine ausgezeichnete Rolle spielt, weil der Begriff der Politik noch nicht entwickelt wurde, so scheinen viele wegweisende Entwürfe der neuzeitlichen politischen Philosophie für eine ausgearbeitete Reflexion des Rechtsbegriffs keinen Raum mehr zu haben: Als Rechtsphilosophen kann man Spinoza, Hobbes oder Rousseau nur verstehen, wenn man der Kategorie jede Kontur gegenüber der allgemeinen praktischen Philosophie nimmt; alle drei zeichnen sich nicht durch ein sonderliches Interesse am Phänomen Recht aus. Das mag für andere Autoren – etwa Montesquieu oder Vico – anders zu beurteilen sein – und im Falle Kants und Hegels lässt sich eine ausdrückliche philosophische Theorie des Rechts entdecken, die im Fall Hegels sogar zum Inbegriff der gesamten praktischen Philosophie wird. Trotzdem handelt es sich bei der Disziplin Rechtsphilosophie nicht um ein wirklich gefestigtes Fach. Recht als ein eigenständiger Gegenstand philosophischer Reflexion gewinnt seine Bedeutung, wenn andere normative Konzepte, namentlich Politik und Ethik, dafür Raum lassen.14 Die Epoche des deutschen Idealismus mit eigenen rechtsphilosophischen Entwürfen von Kant, Hegel, Fichte, Schelling, aber auch Schleiermacher, betrieb als eine besonders produktive lange philosophische Generation den Übergang vom Vernunftrecht zur politischen Theorie – und besetzte zugleich eine Lücke, die dem Begriff des Rechts ausnahmsweise besonders viel Raum ließ. Mit dem Aufkommen des Neukantianismus wird in Deutschland aus der Rechtsphilosophie die Rechtstheorie,15 eine wissenschaftstheoretische Reflexion unter den Bedingungen der Positivierung des Rechts, die sich nicht mehr ohne Weiteres an die allgemeine philosophische Diskussion anschließen lässt – oder genauer formuliert: Die Disziplin Philosophie differenziert sich intern stärker aus und der rechtsbezogene Zweig der Philosophie ressortiert in Deutschland in aller Regel in der juristischen, nicht in der philosophischen Fakultät. Die Entstehung eines modernen Verfassungsrechts im Anschluss an die Revolutionen des 18. Jahrhunderts führt außerdem dazu, dass sich neue verfas14 Dazu mehr bei Möllers Philosophie – Recht – Kultur: Zur kulturwissenschaftlichen Perspektiverweiterung einer Philosophie des Rechts, in: Rustemeyer (Hrsg.) Symbolische Welten, 2002, 109; ders. Globalisierte Jurisprudenz – Einflüsse relativierter Nationalstaatlichkeit auf das Konzept des Rechts und die Funktion seiner Theorie, Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie Beiheft 79 (2001) 41. 15 Brockmöller Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland, 1997.

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sungstheoretische Diskussionszusammenhänge bilden – von den Federalist Papers in den Vereinigten Staaten über Autoren im Kontext des englischen Liberalismus wie Bentham und Austin sowie den Theoretikern der III. französischen Republik wie Duguit und Carré de Malberg bis hin zu den Protagonisten der Weimarer Staatsrechtslehre – die sich ihrerseits mit den neu entstehenden politischen Wissenschaften verbinden, ohne dabei den Begriff des Rechts notwendig in den Vordergrund zu stellen.16 Für eine „Rechtsphilosophie“ bleibt dort insgesamt wenig systematischer Raum. Hans Kelsen und H.L.A. Hart, deren Werk man bei allen Unterschieden im Einzelnen als einerseits kontinentaleuropäisch, andererseits angelsächsisch geprägte Theoretiker einer gegenüber den Geltungsansprüchen der praktischen Philosophie verselbstständigten philosophischen Konzeption von Recht verstehen kann, bringen mit ihrem Werk auch ein bestimmtes Dilemma der Disziplin Rechtsphilosophie zum Ausdruck. Entweder wird Recht auf Moralität oder Politik reduziert, dann gibt es gar kein spezifisches Problem der Rechtsphilosophie mehr, man kann die Rechtsphilosophie gleich der Ethik oder der politischen Theorie übergeben – oder man arbeitet die analytische Unterscheidbarkeit von Recht heraus, hat danach aber in der Sache nicht mehr allzuviel zu tun. Dass diese Beobachtung in Abwandlung auch für die philosophische Gerechtigkeitstheorie gilt, in deren Geschichte zwischen Kant und Rawls doch eine spürbare Lücke klafft, sei nur am Rande vermerkt. III. Bilanz: Rechtsphilosophische Diskussionslinien seit 1945 Auch wenn es nicht einfach erscheint, die rechtsphilosophischen Debatten in der Bundesrepublik auf einen Nenner zu bringen, erscheinen doch einige Themen als durchaus dominant; klassische Fragen wie das Widerstandsrecht oder die Strafzwecke gehören dazu. Andere Themen scheinen eher an Aufmerksamkeit zu verlieren, wie sozialphilosophische oder rechtssoziologische Fragen, wieder andere stoßen erstaunlich spät auf breiteres Interesse wie die Philosophie der Menschenrechte. Gleiches gilt für manche Autoren: Kant und Hegel sind die mit Abstand meistdiskutierten Autoren. Über Hannah Arendt, die wohl bedeutendste aus Deutschland kommende politische Theoretikerin des 20. Jahrhunderts, findet sich in der rechtsphilosophischen Literatur so gut wie gar nichts. Man wird bei einer Darstellung der Diskussionslinien darauf zu achten haben, die eigenen thematischen Schwerpunkte, im Fall des Verfassers: das 16

Bausteine einer auch systematischen Verbindung zwischen Rechtsphilosophie und Verfassungstheorie finden sich etwa bei Hofmann Legitimität und Rechtsgeltung, 1977 und Böckenförde Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes – ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, in: Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, 90.

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Öffentliche Recht, nicht überzubetonen und es doch nicht vermeiden können. Trotzdem erscheint es wenig zweifelhaft, dass sich die meisten rechtsphilosophischen Diskussionen in den letzten 60 Jahren auf den Gebieten des Verfassungsrechts und des Strafrechts abgespielt haben, während das Zivilrecht ganz allgemein zur theoretischen Auseinandersetzung sehr wenig beitragen konnte oder wollte. Dies ist umso bemerkenswerter, als gerade das Zivilrecht des 19. Jahrhunderts die weltweite Bedeutung der deutschen Rechtswissenschaften begründete. Vielleicht schon seit Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs zur vorletzten Jahrhundertwende scheint diese intellektuelle Vorherrschaft allerdings beständig zurück zu gehen. Auffällig und wohl nicht nur der Betriebsblindheit des Verfassers geschuldet bleibt jedenfalls, dass die im Folgenden kurz zu kennzeichnenden Debatten sich allesamt sehr dicht an Fragen des positiven Rechts entlang bewegen, dass von einer wirklich verselbstständigten rechtsphilosophischen Diskussionslandschaft in der Bundesrepublik, anders als im Kaiserreich und noch der Weimarer Republik, nur eingeschränkt die Rede sein kann.17 1. Recht und Moral im Systemübergang Nicht erst seitdem Gustav Radbruch bereits vor der Gründung der Bundesrepublik die rechtliche Beurteilung eines untergegangenen Regimes zu einem zentralen Problem der Rechtsphilosophie erklärte,18 treibt diese Fragestellung die Rechtswissenschaft in Deutschland um. Schon der Untergang des Kaiserreichs wie die ihm folgende beständige historische Erfahrung einer fortgesetzten staatlichen Identität bei Wechsel der verfassungsrechtlichen Grundlagen hatten die deutschen Rechtswissenschaften beschäftigt.19 Für Radbruch war die Moralisierung des Rechtsbegriffs eine angemessene Antwort auf die Frage der rückwirkenden juristischen, nicht nur der politischen Beurteilung der untergegangenen nationalsozialistischen Ordnung. Während das systematische Argument, dem Rückwirkungsverbot aus dem Rechtsbegriff bestimmte Grenzen zu ziehen, bis heute diskutiert wird,20 ließ sich die mit Radbruchs Gedankengang verbundene historisch-politische Einsicht in die Struktur des Nationalsozialismus nicht halten. Nicht der demokratische Positivismus hatte den Nationalsozialismus möglich gemacht, wie noch lange danach namentlich von an ihrer eigenen Rehabilitierung in17 Den Überlegungen liegt die Auswertung der Jahrgänge 1949/50–2009 der Zeitschrift Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie sowie der Jahrgänge 1970–2009 der Zeitschrift Rechtstheorie zugrunde. 18 Radbruch (Fn. 11). 19 Möllers Staat als Argument, 2000, Kap. 7. 20 Ausgearbeitet bei Alexy Begriff und Geltung des Rechts, 2002. Überzeugend gegen auch nur eine schwache Verbindung von Rechtsbegriff und moralischen Kategorien: Raz Legal Positivism and the Sources of Law, in: The Authority of Law, 1979, 37.

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teressierten ehemaligen NS-Richtern behauptet wurde; dieser gehörte vielmehr zu den wenigen Teilen der Rechtswissenschaft, die dem Nationalsozialismus widerstanden. Umgekehrt verläuft eine vergleichweise gerade Linie moralischer Anreicherung des Rechts durch die deutsche Rechtsprechung vor,21 während und nach dem Nationalsozialismus. Es ist dieser vergangenheitspolitische Hintergrund, der das große Interesse an der altbekannten Auseinandersetzung zwischen „Naturrecht“ und „Positivismus“, einer wenig hilfreichen Kennzeichnung rechtsphilosophischer Positionen,22 in Deutschland erst verständlich macht – auch wenn umgekehrt zuzugestehen ist, dass diese Debatte auch im angelsächsischen Raum einen erstaunlich breiten Raum einnimmt.23 Durch den Fall der Mauer 1989 geriet diese Diskussion wieder in den rechtsphilosophischen Vordergrund, in Deutschland vermutlich zum letzten Mal. Wiederum bestand der eigentliche Reiz der Debatte darin, dass die theoretische Frage eines moralischen Elements des Rechtsbegriffs praktische Relevanz bekam, weil an ihr die Möglichkeit hing, die Tötung von DDR-Flüchtlingen zu bestrafen oder auf eine solche Bestrafung wegen des Rückwirkungsverbots zu verzichten. Die von der Rechtsprechung schließlich befürwortete Strafbarkeit dürfte eine recht einmalige Rezeption rechtsphilosophischer Argumente durch die Gerichte darstellen.24 Ob gerade das Strafrecht, das aus guten Gründen besonders formstreng ist, sich von rechtsphilosophischen Debatten abhängig machen sollte, erscheint jedoch zweifelhaft. Die Anwendung des Strafrechts mag einen wachen Sinn für Milieus erfordern, aber als Philosophenkönige taugen Strafrichter wohl besonders schlecht. Die in diesem Diskussionsstrange übliche Gegenüberstellung von Recht und Gerechtigkeit gewann ihre Überzeugungskraft letztlich aus der negativen moralischen Beurteilung eines untergegangenen Rechtssystems. Solche Eindeutigkeiten dürften sich im die Zukunft mehr und mehr dominierenden Umgang mit nicht-westlichen Rechtsordnungen nicht mehr gleich plausibel machen lassen. 21 Caldwell Popular Sovereignty and the Crisis of German Constitutional Law, 1997, 145 ff.; Kübler Der deutsche Richter und das demokratische Gesetz, AcP 162 (1963) 104. 22 Dazu Osterkamp Juristische Gerechtigkeit, 2004. Die Unterscheidung ist aus mehreren Gründen unglücklich: Zum ersten wegen der Vieldeutigkeit des Begriffs „Positivismus“; zum zweiten wegen der pauschalen Gleichsetzung einer Moralisierung des Rechtsbegriffs mit dem anspruchsvollen und so gut wie nie eingelösten Konzept des Naturrechts. Selbst ausgearbeitete rechtsethische Positionen bleiben selten, als Ausnahme: von der Pfordten Rechtsethik, 2000. Zum dritten wegen der systematischen Ausblendung des moralischen Gehalts positiver Rechtssätze. 23 Hart Positivism and the Separation of Law and Morals, Harvard Law Review 71 (1958) 593 und Fuller Positivism and Fidelity to Law – A Reply to Professor Hart, Harvard Law Review 71 (1958) 630. 24 BVerfGE 95, 96, 134 ff.; BGHSt 39, 1, 15 ff.

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2. Menschenwürde – Verhältnismäßigkeit – Personalität Obwohl uns die ausgreifende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grundrechten heute wohl nicht zufällig gleichfalls als eine deutliche Moralisierung der Rechtsordnung erscheint, war sie doch ursprünglich ausdrücklich gegen die Vernaturrechtlichung des Rechts durch den Bundesgerichtshof gerichtet. Grundrechte sollten aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts keineswegs mit herrschenden Moralvorstellungen übereinstimmen, sondern sich auch gegen diese, etwa bei der Gleichstellung der Frau, durchsetzen. Viel von dem, was einst unter dem Stichwort des Verhältnisses von Recht und Moral auch als kritische Naturrechtslehre diskutiert wurde,25 scheint heute in die Grundrechte eingemündet zu sein. Eine theoretische Tradition, die die Freiheitsgarantien subjektiver Rechte schon seit der Weimarer Diskussion auch als objektive institutionelle Garantien deutete, beförderte diese Entwicklung.26 Damit stand das Verständnis der Grundrechte auf einmal näher bei Nicolai Hartmann als bei Kant oder Locke. Entsprechend wurde das von der materialen Wertethik nie ausgearbeitete Programm einer operationalisierbaren Verhältnisbestimmung unterschiedlicher Werte im deutschen Verfassungsrecht zu einem kaum noch überschaubaren Projekt überdifferenzierter Lehren von Objektivierung und verhältnismäßiger Abwägung grundrechtlicher „Güter“,27 das sich stark an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, aber so gut wie gar nicht an begrifflichen Alternativen, etwa der Notstandsdogmatik des Strafrechts orientierte. In der Sache handelte es sich hier also um eine rechtsphilosophische Diskussion, die vielleicht am stärksten ausgearbeitete gerechtigkeitstheoretische Debatte in den deutschen Rechtswissenschaften nach dem Krieg,28 auch wenn Philosophie in ihr so gut wie keine Rolle spielte. Schon die Einsicht, dass Wertethiken, anders als deontische Ethiken,29 stets Güter verrechnen und damit relativieren müssen, wurde so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen. Die Objektivierung von Freiheit galt eigentümlicherweise einfach als ein Mehr an Freiheit, als eine reine Ergänzung subjektiver Garantien.30 25 Zu wenig beachtet blieb in der Diskussion Bloch Naturrecht und menschliche Würde, 1961. 26 Smend Das Recht der freien Meinungsäußerung, VVDStRl 4 (1928) 45. 27 Noch zurückhaltend und mit Sinn für die Bedeutung des demokratischen Gesetzes: Lerche Übermaß und Verfassungsrecht, 1961. 28 Eher bescheiden nimmt sich dagegen die Debatte zum Verständnis des Sozialstaatsprinzips aus, vgl. dazu etwa Kersting Kritik der Gleichheit, 2002; Heinig Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008. 29 Zur Unterscheidung knapp Birnbacher Analytische Einführung in die Ethik, 2003, 113 ff. 30 Dagegen eine informierte Darstellung der Trade-offs verschiedener Freiheitskonzeptionen bei Koller Grundlinien einer Theorie politischer Freiheit, in: Nida-Rümelin/Vossenkuhl (Hrsg.) Ethische und politische Freiheit, 1998, 476.

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Dass das Nebeneinander von Abwägungsdoktrin und absolutem Schutz aber bruchlos nicht funktionieren kann, weil beide Konzepte in einem systematischen Widerspruch zueinander stehen, drang erst langsam ins wissenschaftliche Bewusstsein vor, nämlich in dem Moment, in dem es darum ging, eine absolute Garantie mit dogmatischen Mitteln zu bestimmen: die Menschenwürde.31 Entsprechend wurden die angelsächsischen Theorien des subjektiven Rechts komplett ignoriert,32 die alten deutschen Diskussionen zur Theorie subjektiver Rechte weitgehend vergessen.33 Dem juristischen Desinteresse an der eigentlichen philosophischen Diskussion steht aber umgekehrt ein solches der Fachphilosophie gegenüber, die sich ihrerseits nur sehr wenig mit Fragen der Theorie von Grund- und Menschenrechten beschäftigt hat. Dies beginnt sich zu ändern,34 aber noch erscheint die philosophische Diskussion zu grundsätzlich, um mit dem juristischen Menschenrechtsdiskurs ernsthaft ins Gespräch zu kommen. Schließlich gründet die Theorie der Menschenrechte ihrerseits auf Voraussetzungen, die der rechtsphilosophischen Thematisierung bedürfen: namentlich der Fähigkeit, überhaupt eine freie Entscheidung treffen zu können. Die hier ansetzenden unterschiedlichen Fragen nach Willensfreiheit, aber auch nach Beginn und Ende der Rechtsfähigkeit sind zusammen mit den Problemen der Bioethik, die sich ja gleichfalls im weitesten Sinne um Grund und Grenzen der Rechtsfähigkeit von Subjekten drehen, im Moment vielleicht die einzigen Schauplätze einer wirklich gemeinsamen philosophischen und juristischen Auseinandersetzung, die auch in einem internationalen Diskussionszusammenhang steht. Seitens der Rechtswissenschaftler spielt hier das Strafrecht die entscheidende Rolle, wiederum weil es maßgeblich mit handlungstheoretischen Grundlagen zu tun hat.35 3. Zwei Klassiker und ihre Folgen Die in der Rechts- und Sozialphilosophie viel beachtete Diskussion zwischen Niklas Luhmann und Jürgen Habermas hatte auf die rechtsphilosophische Diskussion in der Bundesrepublik einen bemerkenswert großen Einfluss. Das Strafrecht vermochte diese Debatte in der eigenen Katego31 Dazu Möllers Democracy and Human Dignity – Limits of a moralized conception of rights in German Constitutional Law, Israel Law Review 42 (2009). 32 Zum Überblick: Harel Theories of Rights, in: Golding/Edmundson (Hrsg.) Blackwell’s Guide to the Philosophy of Law and Legal Theory, 2005, 191; Kamm Rights, in: The Oxford Handbook on Jurisprudence and Philosophy of Law, 2002, 476, 33 Vgl. aber noch die Darstellung im später leider nicht fortgeführten historischen Teil bei Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 1991, 9, 22, 30 f. 34 Vgl. die sehr gute Darstellung bei Menke/Pollmann Philosophie der Menschenrechte, 2007, m.w.N. 35 Vgl. etwa Merkel Willensfreiheit und rechtliche Schuld – Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung, 2008.

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rienwelt abzubilden und ihr ein funktionalistisches und ein diskursethisches Strafrechtsverständnis gegenüberzustellen.36 In anderen Rechtsgebieten hatte die Rezeption Umwege zu nehmen: Luhmann, der zum Soziologen gewandelte Verwaltungsjurist, hatte durchaus konservative Vorstellungen von der strikten methodischen Abgeschlossenheit juristischer Argumentation. Er konnte überhaupt nur durch die Rechtswissenschaften rezipiert werden, soweit diese Vorbehalte ignoriert und seine soziologischen Einsichten in die Theorie des Rechts implementiert wurden.37 Luhmanns Wirkung bezog sich zunächst auf eine Vielzahl einzelner Rechtsgebiete, die – und das ist wohl einmalig – im Zivil-, Straf- und Öffentlichen Recht gleichermaßen von Bedeutung waren. Für die im engeren Sinne rechtsphilosophische Debatte war er zunächst nur ein rigoroser Theoretiker der Positivität des modernen Rechts, der insoweit bemerkenswerte Gemeinsamkeiten mit Kelsen aufweist.38 In einem zweiten Rezeptionsschub wurde die von Luhmann entwickelte Paradoxie der Selbstreferentialität zum Gegenstand vieler rechtstheoretischer Bemühungen.39 Luhmann diente, ob systematisch gerechtfertigt, mag man bezweifeln,40 damit auch als eine Art Durchgangsstation zur Rezeption postmoderner Rechtstheoretiker, vor allem der Rechtsphilosophie Jacques Derridas. Die Konsequenzen dieser Rezeption sind freilich ungewiss: Während hier eine der selten genutzten Möglichkeiten aufscheint, auch das Zivilrecht mit theoretischen Mitteln zu untersuchen,41 ist die im engeren Sinne rechtstheoretische Ergiebigkeit der Paradoxieentfaltung unklar. Habermas dagegen konnte lange Zeit mit dem Medium Recht wenig anfangen.42 Trotzdem hinterließ die kritische Theorie spätestens seit den 1970er Jahren Spuren in der Rechtstheorie,43 nicht zuletzt in der Einsicht, dass man Rechtsphilosophie und Sozialphilosophie nicht trennen könne.44 36 Vgl. Jakobs/Lüderssen Das Strafrecht zwischen Funktionalität und „alteuropäischem“ Prinzipiendenken, ZStW 107 (1995) 843, 877. 37 Als eine paradigmatische Auseinandersetzung über diese Rezeption, vgl. Teubner/ Willke Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht, ZfRSoz 6 (1984), dagegen Luhmann Einige Probleme mit „reflexivem Recht”, ZfRSoz 6 (1985), 1. 38 Dreier Hans Kelsen und Niklas Luhmann, Rechtstheorie 14 (1983), 419. 39 Vgl. viele der Beiträge in Calliess/Fischer-Lescano u.a. (Hrsg.) Soziologie des Rechts, 2009. 40 Überzeugend ausformuliert sind diese Zweifel bei Menke Subjektive Rechte: Zur Paradoxie der Form, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29 (2008), 81. 41 Calliess/Zumbansen Rough Consensus & Running Code – A Theory of Transnational Law, 2009. 42 Kurze Darstellung seiner Theorieentwicklung bei Möllers Demokratie und Recht, in: Brunkhorst/Kreide/Lafont (Hrsg.) Habermas-Handbuch, 2009, 254. 43 Hervorzuheben ist das schwer zu erschließende und maßgeblich durch seine immense mündliche Wirkung einflussreiche Werk Rudolf Wiethölters. 44 Als ein historisch gewendetes Dokument dieser Einsicht etwa Grimm Methode als Machtfaktor, in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, 347.

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Schaut man die älteren Jahrgänge der rechtsphilosophischen Zeitschriften durch, so scheint die Soziologie von Anfang an eine geringe Rolle gespielt zu haben, um in den siebziger Jahren eine recht kurze Blüte zu erleben.45 Unterdessen wurde das Fach allerdings durch die Berufungspolitik der juristischen Fakultäten so gut wie vollständig abgeschafft. Erst mit seinem Hauptwerk „Faktizität und Geltung“ begann Habermas, sich ausdrücklich für Recht zu interessieren. Heraus kam eine Kant verpflichtete Rekonstruktion des demokratischen Rechtstaats, die viele Fragen, die in der deutschen Diskussion liegen geblieben waren, etwa nach der Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit, aufnahm und maßgeblich unter Rückgriff auf die amerikanische Diskussion untersuchte. „Faktizität und Geltung“ ist nicht zuletzt eine Stellungnahme in der amerikanischen Diskussion zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. Gerade die verfassungsrechtliche Seite der Rechtsphilosophie war durch das Buch angesprochen und aufgefordert, ihre oftmals beschränkten Bezüge auf die Autoren der Weimarer Staatsrechtslehre durch eine ausgreifendere Wahrnehmung der politischen Theorie zu ergänzen. Tatsächlich bleiben solche Rezeptionen aber bis heute die Ausnahme.46 Schon vor dem Erscheinen dieses Buches stellte das Werk Robert Alexys eine eigentümliche Synthese aus der Habermasschen Diskurstheorie und der Prinzipienlehre Ronald Dworkins zur Verfügung, in der zwar die Einfügung juristischer Rationalität in den allgemeinen praktischen Diskurs konsequent vorgenommen wurde, aber nicht mehr wie bei Habermas in ein Spannungsverhältnis zum legitimen Eigensinn demokratischer Gesetzgebung gesetzt wurde: Alexy bereitete sozusagen einen Habermas für den Karlsruher Jurisdiktionsstaat, damit aber auch das wohl international am meisten rezipierte Stück juristischer Rechtsphilosophie. 4. Philosophische Konjunkturen in der Rechtsphilosophie Der größere Teil der rechtsphilosophischen Literatur der Bundesrepublik beschäftigte sich mit dem wissenschaftlichen Selbstverständnis der Rechtswissenschaft, er war Methodenliteratur. Der Großteil dieser Literatur blieb im schlichten Sinne naiv, es ging eher um Wissenschaftspropädeutik und Einführungsliteratur, entsprechend der niederschmetternden Diagnose, dass schlicht repetierende Lehrbücher in der deutschen Rechtswissenschaft allgemein, aber auch in der Rechtsphilosophie als wissenschaftliche Leistung anerkannt sind. 45 Diese bezog ihrerseits wichtige Inspiration aus der Soziologie, vgl. etwa Dahrendorf Bemerkungen zur sozialen Herkunft und Stellung der Richter an Oberlandesgerichten, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 1960, 260. 46 Ein seltenes Beispiel wäre die Rezeption von Rawls bei: Huster Die ethische Neutralität des Staates – Eine liberale Interpretation der Verfassung, 2002.

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Freilich diente die Methodendiskussion in einem weiteren Sinne auch der Rezeption der jeweils zeitgenössischen Philosophie: Ließen sich auf die Rechtswissenschaften die wissenschaftstheoretischen Standards des kritischen Rationalismus anwenden, musste sie sich dem Falsifizierungskriterium stellen?47 Oder handelte es sich um eine hermeneutische Wissenschaft, die Rechtstexte nur noch in weiteren Auslegungszusammenhängen zur Kenntnis nehmen konnte?48 Ging es bei der Auslegung gar um die „Natur der Sache“, die aristotelisch oder Heideggersch gedeutet werden konnte?49 War die Wissenschaftlichkeit der juristischen Argumentation nur mit den Mitteln der deontischen Logik zu erreichen?50 Oder taugte Recht nur noch als Gegenstand der Dekonstruktion, einer Theorie, die mit erstaunlicher Verspätung in der deutschen Rechtsphilosophie ankam.51 Einen solchen Durchgang mag man angesichts der Kurzlebigkeit mancher theoretischer Moden belächeln. Aber er dokumentiert doch eine transdisziplinäre Sensibilität, die für die Rechtsphilosophie, wenn sie denn mit dem, was in der Philosophie sich abspielt, etwas zu tun haben will, unverzichtbar erscheint. Irritierend bleibt aber – auf den zweiten Blick –, wie wenig Eigenstand die rechtsphilosophischen Diskussionsfronten gewonnen haben. Im Vergleich etwa zu den Debatten in den Vereinigten Staaten bleibt eine selbstständige Form von rechtsphilosophischer Schulenbildung die Ausnahme, wenn, orientiert sie sich mehr an der Auslegung einzelner kanonisierter Autoren,52 denn an thematischen Gesichtspunkten wie sie etwa im Legal Realism oder den Critical Legal Studies bei aller Diversität im Einzelnen zu erkennen sind. Solche Lager fehlen der deutschen Rechtsphilosophie. Das erstaunliche, nur politisch zu erklärende Ignorieren der „Reinen Rechtslehre“ mag dazu beigetragen haben. Eine Frontenbildung gelang wiederum eher innerhalb der theoretischen Teile konkreter Rechtsgebiete, etwa im Öffentlichen Recht auch im Umgang mit dem Bestand der Weimarer Staatsrechtslehre.53 In Einzelfällen konnten diese Debatten mit im engeren Sinne rechtsphilosophischen Fragestellungen verbunden werden. Weiterhin fällt auf, dass das Rezeptionsverhalten in aller Regel auf deutsche Theorietraditionen beschränkt ist, die Rechtsphilosophie also nicht in 47

Albert Rechtswissenschaft als Realwissenschaft: das Recht als soziale Tatsache und die Aufgabe der Jurisprudenz, 1993. Kritik dieses Programms bei Huster Rechtswissenschaft als Realwissenschaft? Anmerkungen zu Hans Alberts Konzeption der Jurisprudenz, in: Hilgendorf (Hrsg.) Wissenschaft, Religion und Recht, 2006, 385. 48 Esser Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970; Kriele Theorie der Rechtsgewinnung2, 1976. 49 Maihofer Recht und Sein – Prolegomena zu einer Rechtsontologie, 1954. 50 Klug Juristische Logik3, 1966. 51 Ladeur Postmoderne Rechtstheorie2, 2005. 52 Siehe oben, 3. 53 Möllers Braucht das öffentliche Recht einen neuen Methoden- und Richtungsstreit?, Verwaltungs-Archiv 90 (1999) 187.

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gleicher Weise an der Internationalisierung des wissenschaftlichen Gesprächs teilnimmt, wie die allgemeine praktische Philosophie. Am deutlichsten zeigt sich dies in der ungewöhnlich stark verzögerten Rezeption der analytischen Philosophie. Die Auseinandersetzung mit H.L.A. Hart, der ja im weiteren Sinne zur analytischen Philosophietradition gehört, hat hier vielleicht manches erübrigt. Aber allein das weitgehende Desinteresse an der Philosophie Wittgensteins, eines Grenzgängers zwischen deutscher und angelsächsischer Philosophie, ist bemerkenswert. Der Modernisierungsrückstand ist besonders auffällig, weil die Rechtsphilosophie eben anders als die dogmatische Rechtswissenschaft keine institutionelle Rechtfertigung für eine solche nationale Beschränktheit geben kann.54

IV. Perspektive: Möglichkeiten rechtsphilosophischer Forschung Die Disziplin bleibt auf eine schwierige Gratwanderung verwiesen: auf der einen Seite besteht die Notwendigkeit, sensibel auf die philosophische Diskussion zu reagieren, um doch auf der anderen Seite eigene Fragestellungen zu profilieren. Einige Forschungsperspektiven seien skizziert, die sich aus den oben angestellten Beobachtungen ergeben. 1. Diskursgeschichte der Rechtsphilosophie jenseits der Ideengeschichte Philosophische Forschung ist häufig auch philosophiehistorische Forschung, sei es in rein historisierender, sei es auch, sei es ausschließlich in systematischer Absicht. Die Diskussion in der historischen Forschung hat aber schon seit Längerem klar gemacht, dass reine Ideengeschichte ein problematisches Konzept ist, dass die Entwicklung von Theorien, namentlich von Theorien des Rechts nur in ihren politischen, aber auch medialen, ökonomischen und kulturellen Kontexten verstanden werden kann.55 Für die Rechtsgeschichte ist diese Einsicht gar nicht neu, man denke etwa an die Rezeption Carl Schmitts durch Reinhart Koselleck.56 Für die philosophische Forschung stellt dies eine besondere Herausforderung dar, sperrt sich ihr systematischer Beschreibungsanspruch doch der Historisierung.57 Für die praktische Philosophie und Rechtsphilosophie verschärft sich das Problem, weil die Bedeutung von Kontexten für die Ethik seit jeher umstritten ist, und etwa in der Diskussion zwischen einem eher universalisierenden theoretischen 54 Eine bemerkenswerte offene Rezeption neuerer Theorien findet sich aber bei Buckel/ Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.) Neue Theorien des Rechts, 2006. 55 Beispielhaft die Beiträge in: Tully (Hrsg.) Meaning and Context, 1989. 56 Koselleck Kritik und Krise, 1973. 57 Ausdrücklich für die Unterscheidung plädiert Böckenförde Geschichte der Rechtsund Staatsphilosophie, 2002, 9, der folgerichtig eine klassische Ideengeschichte anbietet.

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Liberalismus und einem eher kontextualisierenden Kommunitarismus Ausdruck gefunden hat. Man könnte sagen, wer die Historisierung der Rechtsphilosophie fordert, ergreift auch systematisch gegen eine universalisierende Rechtsphilosophie Partei. Zwingend ist dieser Zusammenhang freilich nicht, zumal für eine Philosophie der Rechte, die eben anders als eine Theorie der Moral stets auch auf das unvermeidlich kontextgesättigte Medium Recht verwiesen ist. Umgekehrt wäre daher zu erkennen, dass gerade ein universalistischer oder auch nur: angemessen abstrahierender begrifflicher Anspruch der Kontrolle bedarf. Dies gilt gerade, wenn die Rechtsphilosophie, wie hier vermutet, voller Ad-Hoc-Abstraktionen steckt, voller Aussagen über „das Recht“, die nur auf bestimmte Rechtsordnungen in bestimmten historischen Konstellationen passen. Auf der anderen Seite nimmt auch der juridische Diskurs an den theoretischen Konstellationen teil, die andere Disziplinen bewegen. Man vergleiche nur einmal Rechtswissenschaft und Theologie in Deutschland zwischen 1800 und 1933, von Savigny und Schleiermacher über Jellinek und Troeltsch bis zu Barth und Schmitt. Erst ein solcher auch diskursanalytischer Zugang würde der Disziplin eine angemessene Aufklärung über sich selbst ermöglichen, die es auch gestattete, die Perspektiven im engeren Sinne begrifflicher Arbeit auszuloten. 2. Analytische Perspektiven und das Problem der Naturalisierung des Rechts Weiterhin bleibt die analytische Philosophie in der deutschen Rechtsphilosophie erstaunlich unterrezipiert. Zwar zeigen neuere Monographien, dass das Interesse steigt, die analytische Philosophie rechtsphilosophisch zu nutzen,58 aber alles in allem scheint die Auseinandersetzung weiterhin erstaunlich beschränkt. Dies ist umso bedauerlicher, weil der Weg über die analytische Reformulierung rechtsphilosophischer Fragestellungen auch den Graben zwischen kontinentaleuropäischer und angelsächsischer Philosophie überbrücken könnte, der von der anderen Seite, etwa durch ein bemerkbares verstärktes Interesse an der Philosophie Hegels, schon lange verkleinert wird.59 Sowohl die analytische Sprachphilosophie als auch die Meta-Ethik untersuchen Fragestellungen, deren Relevanz für die Rechtsphilosophie zumindest möglich erscheint – doch selbst im angelsächsischen Theoriezusammenhang bleiben Autoren, die sich dem zuwenden, die Ausnahme: zu nennen ist vor allem Joseph Raz. 58 Namentlich Bung Subsumtion und Interpretation, 2004; Klatt Making the Law Explicit, 2008. Die Pionierarbeiten finden sich bei Friedrich Müller und seinen Schülern, z.B. Christensen Was heißt Gesetzesbindung?, 1990. 59 Vgl. etwa Brandom Reason in Philosophy: Animating Ideas, 2009 und bereits die angelsächsischen Beiträge im Tagungband: Henrich (Hrsg.) Kant oder Hegel, 1983.

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Zwei vielversprechende Fragestellungen sollen näher genannt werden: zum ersten die Frage nach der systematischen Bestimmung des Begriffs der Normativität selbst, einem Konzept, das zwar stets vorausgesetzt, aber trotzdem lange Zeit unbeachtet blieb und erst in der neueren meta-ethischen Diskussion wieder Aufmerksamkeit gefunden hat.60 An der Frage nach der Charakterisierung von Normativität, an der Zugehörigkeit oder NichtZugehörigkeit normativer Phänomene zur Welt empirisch beobachtbarer Fakten hängen viele andere Fragen, etwa die nach der Wahrheitsfähigkeit normativer Aussagen und damit auch der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft. Noch grundsätzlicher ist hier das Problem einer „Naturalisierung“ rechtlicher Phänomene aufgeworfen,61 damit auch das der Frage, inwieweit naturwissenschaftliche Erkenntnisse für die Rechtswissenschaften von Bedeutung sein können: von der Schuldlehre62 bis zur Verwendung evolutionstheoretischer Modelle für die Beschreibung der Rechtsentwicklung.63 Eine zweite Fragestellung betrifft die Bedeutung von Texten für die Rechtsbindung. Im 21. Jahrhundert wirken viele der im Lehralltag verwendeten Kategorien, etwa die haltlose Unterscheidung zwischen „wörtlicher“ und „systematischer“ Auslegung, nicht einmal mehr uninformiert, sondern wirklich zurückgeblieben. Gerade das schwierige Verhältnis zwischen Text und Kontext, zu dessen Verständnis die philosophische Hermeneutik wie auch die Theorie der Performativität im Anschluss an J.L. Austin Angebote gemacht hat, erscheint für eine Theorie des Rechts, dessen Worte ja auch immer sozial relevante Handlungen darstellen, von besonderem Interesse. 3. Intradisziplinäre Zugänge: Allgemeine Rechtslehren Die oben diagnostizierte Ausdifferenzierung der Rechtsphilosophie nach den Erkenntnisinteressen unterschiedlicher Rechtsgebiete ist nicht überwunden. Steht eine für die deutschen Rechtswissenschaften charakteristische Abschottung zwischen Bürgerlichem, öffentlichem und Strafrecht nicht selten sogar der Erforschung des positiven Rechts im Wege,64 so wird sie für die Rechtsphilosophie, wie gesehen, zu einem besonderen Mangel. Ein Zwischenschritt zu seiner Behebung bestünde in einer Wiederbelebung von Fragestellungen aus der Allgemeinen Rechtslehre. Dabei kann es nicht mehr, wie noch in den alten neukantianisch inspirierten Projekten,65 darum gehen, 60

Für viele: Wedgwood Normativity, 2008; Stemmer, Normalität, 2008. So im Anschluss an Quine die Formulierung bei Leiter (Fn. 13), 183 ff. 62 Pauen/Roth Freiheit, Schuld, Verantwortung – Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Verantwortung, 2008. 63 Vgl. etwa die Beiträge in Law, the State and Evolutionary Theory, German Law Journal 9 (2008), issue 4. 64 Schmidt-Aßmann Zur Situation der rechtswissenschaftlichen Forschung, JZ 1995, 2. 65 Zur Geschichte: Funke Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie, 2004. 61

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eine große begriffliche Synthese zu kreieren,66 die letztlich alle partikularen Lösungen zu vereinheitlichen sucht. Generell ist die in der deutschen Tradition starke Betonung systematischen Denkens einem positiven Rechtssystem wohl nicht mehr angemessen.67 Vielmehr wären, ähnlich dem Zugang im Rechtsvergleich, strukturähnliche Probleme und der unterschiedliche Zugang zu ihrer Lösung überhaupt erst einmal zur Kenntnis zu nehmen: Beispielhaft sei das Problem der Zurechnung genannt, für das es in den verschiedenen Rechtsgebieten ganz unterschiedliche Lösungsangebote gibt, so dass von einem einheitlichen Handlungsbegriff innerhalb einer Rechtsordnung nicht die Rede sein kann. Ähnliches gilt für das bereits erwähnte Kriterium der Verhältnismäßigkeit. Während der Vergleich zwischen den Verhältnismäßigkeitskriterien verschiedener nationaler und internationaler Rechtsordnungen langsam systematisch erforscht wird,68 gilt gleiches nicht für den – aus rechtsphilosophischer Perspektive unter Umständen ergiebigeren – Vergleich zwischen verschiedenen Teilen der Rechtsordnung, namentlich dem Strafrecht und dem Verfassungsrecht. Solche und ähnliche Untersuchungen werden, wie gesagt, kaum zu einer systematischen „Allgemeinen Rechtslehre“ führen; schon eher zu einer an die angelsächsische „Jurisprudence“ erinnernden vergleichenden Phänomenologie juristischer Begrifflichkeiten. Erkenntnisgewinne hängen hier aber nicht am Systemanspruch. 4. Theoretisierung der Rechtstheorie Wenn Rechtsphilosophie sich um eine Meta-Theorie des Rechts bemüht, Recht aber stets ein normatives Phänomen darstellt, dann folgt aus beidem nicht notwendig, dass eine solche Meta-Theorie ihrerseits normativ oder Teil der praktischen Philosophie sein muss. Dies scheint aber die zumindest implizite Annahme der meisten rechtsphilosophischen Ansätze zu sein. Sie orientieren sich an der praktischen Philosophie, nicht an der theoretischen. Selbst eine Frage wie diejenige nach der Wahrheitsfähigkeit von Normen scheint sich erst über den Umweg der Meta-Ethik in die Rechtsphilosophie importieren zu lassen. Die konventionelle Arbeitsteilung verläuft insofern zwischen normativer Rechtsphilosophie einerseits und deskriptiver Rechtssoziologie andererseits.69 Selbst eine moraldistanzierte Rechtstheorie wie 66 Siehe phänomenologisch stark, aber eben auch wenig systematisch: Röhl/Röhl Allgemeine Rechtslehre3, 2008. 67 Zutreffend Jestaedt Das mag in der Theorie richtig sein . . ., 2006, 81 ff. Die im Zivilrecht verwendete Figur des „beweglichen Systems“ erscheint eher als Rückzugsgefecht hin zu einer Topik. 68 Vgl. etwa Grimm Proportionality in Canadian and German Constitutional Jurisprudence, University of Toronto Law Journal 57 (2007) 383. 69 Kritisch zum normativen Anspruch der Rechtsphilosophie: Kahn The Cultural Study of Law, 1999, 8 ff.

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diejenige Kelsens legt großen Wert darauf, dass nicht allein das Recht, sondern auch seine theoretische Beschreibung Teil eines eigenen TheorieUniversums ist, das mit der theoretischen Philosophie nichts gemeinsam hat. Dies dürfte Kelsens Theorie allerdings wiederum von Hart unterscheiden, der seine eigene Theorie eher als analytische Prolegomena einer empirischen Beschreibung des Rechts versteht. Lässt man sich auf diese Überlegung ein, dann liegt es nahe, dass auch Zugänge der theoretischen Philosophie, etwa ontologische oder ästhetische, Elemente einer Philosophie des Rechts werden können.70 Dies ist wichtig, weil damit eine Theorie des Rechts möglich erscheint, die das Phänomen Recht mit einem anderen Kategorienspektrum aufarbeitet, als es der regelmäßige Rekurs auf Figuren der praktischen Philosophie zulässt, etwa auf das juristische Schließen mit Hilfe der Kategorie der Urteilskraft oder auf den Verpflichtungsgehalt von Normen mit Kategorien der Temporalität.71

V. Nützlichkeitsversprechen der Rechtsphilosophie? Der vorige Abschnitt sollte unterstreichen, dass es für die rechtsphilosophische Forschung viel zu tun gibt, dass Fragestellungen übersehen, Rezeptionen versäumt und Modernisierungen unterblieben sind. Gibt es aber auch ein diesen Forschungsperspektiven entsprechendes Nützlichkeitsversprechen der Rechtsphilosophie? Dies erscheint alles andere als gewiss, hängt aber nicht zuletzt auch von den Erwartungen an das juristische Studium ab. Die Legitimation akademischer Rechtswissenschaft in Deutschland war niemals durch Nützlichkeitserwägungen bedroht. Es handelt sich um ein Massenfach von immer noch bemerkenswert breitem praktischem Gebrauchswert. Der fortgesetzte Kampf gegen Juristenmonopole etwa seitens der politischen Wissenschaften und sie befördernder Public Policy Schools dokumentiert die Langlebigkeit dieses Erfolgs. Ob das Fach Rechtsphilosophie zu diesem etwas beizutragen hat, erscheint ungewiss, wenn auch nicht ausgeschlossen. Zuallermeist wird diese Frage unter dem Stichwort des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis diskutiert: Zu viel Theorie bereite schlecht auf die Praxis vor. Diese Antwort führt aber in keine Richtung weiter. Zwischen Theorie und Praxis kann ein universitäres Curriculum ohnehin nicht sinnvoll unterscheiden. Forschung und Lehre sind keine Praxis, so sehr sie auch danach streben. Überzeugender erscheint es, danach zu fragen, welches Wissen wie schnell veraltet und in welchen Zusammenhängen wei70 In diesem Sinne lässt sich das Naturalisierungsprojekt bei Leiter (Fn. 13) verstehen, aber auch andere Ansätze sind natürlich denkbar, vgl. etwa von der Pfordten Was ist Recht?, in: Brugger/Neumann/Kirste (Hrsg.) Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, 261. 71 Wichtige Ansätze dazu bei Ost Le temps du droit, 1999.

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terführt. So gewendet scheint klar zu sein, dass das Studium der Rechtsphilosophie ebenso wie das der Rechtsgeschichte eine begriffliche Distanzierung vom positiven Recht gestattet, die umso hilfreicher wird, je weniger sich die juristische Tätigkeit auf eine bestimmte Rechtsordnung oder auf definierte, sich ähnelnde Probleme beschränkt. Als Allheilmittel eines rechtswissenschaftlichen Bildungsganges taugt das Fach nicht. Rechtsphilosophisches Wissen mag der Ent-Routinisierung dienen, deswegen aber auch nur dort gefragt sein, wo Routinen alleine nicht ausreichen.

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Das Sozialmodell des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Wandel Das Sozialmodell des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Wandel Reinhard Singer

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I. Der Begriff des Sozialmodells und seine Funktion als Parameter der Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Entwicklung des Sozialmodells der Privatrechtsordnung im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Wandel des Sozialmodells des BGB . . . . . . . . . . . . . . . 1. Demokratisierung und Sozialstaatlichkeit im modernen Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbraucherschutz für Reiche und Professoren? . . . . . . . . . IV. Abschied von der formalen Freiheitsethik im Vertragsrecht? 1. Der Schutz vor Fremdbestimmung bei struktureller Unterlegenheit eines Vertragspartners nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers und die Beweislast für Ungleichgewichtslagen beim Vertragsschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schutz vor Fremdbestimmung durch Richterrecht: § 138 Abs. 2 BGB als Orientierungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . 4. Renaissance der Freiheit und prozedurale Vertragsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Gleichheit und Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gleichbehandlung als (Un-)Tugend? . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Diskriminierungsschutz als unzulässiges Sonderopfer? . . . . . 3. Gleichbehandlung und Vertragsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . 4. Gleichbehandlung im Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vor über 50 Jahren hat der Göttinger Rechtswissenschaftler Franz Wieacker in einem Vortrag vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe „Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft“ beschrieben. Sein Ergebnis, dass sich die „formale Freiheitsethik“, die der deutschen Privatrechtsordnung beim Inkrafttreten des BGB um 1900 zugrunde lag, „in eine materiale Ethik so-

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zialer Verantwortung zurückverwandelt“ habe,1 hat eine kontroverse Diskussion ausgelöst, die bis heute anhält.2 Nicht wenige Wissenschaftler kritisieren, dass der Prozess in die falsche Richtung gehe, die Vertragsfreiheit gefährde und die Bürger entmündige, weil sie nicht mehr selbst darüber entscheiden könnten, wie ihre Bedürfnisse zu befriedigen seien, sondern der Staat. Diese Bedenken werden immer lauter formuliert, seit der Umwälzungsprozess eine Dynamik entwickelt hat, die weit über die Veränderungen des Privatrechts hinausgeht, die Wieacker bei seinem Vortrag 1952 vor Augen gestanden haben. Damals gab es zwar ein soziales Arbeitsrecht mit der Anerkennung der Tarifautonomie – also der autonomen Festlegung der Arbeitsbedingungen durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände –, es gab eine betriebliche Mitbestimmung der Arbeitnehmer durch Betriebsräte, Kündigungsschutz und gesetzlich geregelte Arbeitszeiten, sowie ein soziales Mietrecht mit behördlich festgesetzten Höchstsätzen für den Mietzins. Aber davon abgesehen herrschte volle Vertragsfreiheit. Grenzen der Selbstbestimmung bestanden lediglich für Rechtsgeschäfte Minderjähriger und Geschäftsunfähiger sowie für Störungen der Willenserklärung und Willensbildung bei Irrtümern, Zwang und Täuschung. Besonders wichtige Rechtsgeschäfte wie z.B. die Veräußerung von Grundstücken waren nur gültig, wenn sie von einem Notar beurkundet wurden. Aber bei diesen Schranken der Privatautonomie handelt es sich nicht oder allenfalls in vernachlässigbarem Umfang um Vorschriften zum Schutz des Schwächeren. Viele Beispiele, die Wieacker anführte, um den Prozess der Materialisierung zu beschreiben, sind von Richtern entwickelt worden, um das Vertragsrecht zu verbessern, aber es handelte sich in den seltensten Fällen um „soziale“ Verbesserungen,3 sondern um Regeln der Fairness, die das Funktionieren des Rechtsverkehrs gewährleisten sollen. So dient es offensichtlich dem Schutz des Erklärungsempfängers, dass Willenserklärungen im Vertrag objektiv ausgelegt werden. Auf sein Vertrauen in die verkehrsübliche, ihm erkennbare Bedeutung der Erklärung – den Empfängerhorizont – kommt es an. Aber diesen Schutz genießen Verbraucher genauso wie Unternehmer, Arbeitnehmer wie Arbeitgeber, Mieter und Vermieter. Es handelt sich also nicht einmal ansatzweise um einen „sozialen“ Schutz. Entsprechendes gilt für die Rechtsscheinhaftung, die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage und die Haftung für „culpa in contrahendo“. 1 Wieacker Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, 1953, 18. 2 Vgl. insbes. Zöllner Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, 1996, 30 ff.; ders. Privatrecht und Gesellschaft, in: Riesenhuber Privatrechtsgesellschaft, 2007, 53 ff.; Canaris AcP 200 (2000) 273, 282 ff.; Bydlinski System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, 743 f.; Medicus Abschied von der Privatautonomie im Schuldrecht?, 1994, 20 f. 3 Krit. Zöllner Privatrechtsgesellschaft (Fn. 2), 33.

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Heute fällt es nicht schwer, die soziale Verantwortungsethik in dem dichten Netz zwingender Vorschriften zu erkennen, die der Vertragsfreiheit Grenzen setzen, vor allem zum Schutze des Verbrauchers, Arbeitnehmers und Mieters, aber auch des „Kunden“, dem formularmäßige Vertragsbedingungen gestellt werden. Gleichberechtigter Zugang zum Beruf und zu sozialen Sicherungssystemen für Frauen, Gleichberechtigung der Partner in der Familie und weitflächige Anerkennung von Teilhaberechten für gesellschaftliche Minderheiten kennzeichnen weitere Entwicklungssprünge eines Privatrechts, dessen soziale Standards weit über das Niveau hinausgehen, das Wieacker bei seinem Vortrag im Jahre 1952 vor Augen stand. Das „Menschenbild“ des Vertragsrechts orientiert sich längst nicht mehr vorwiegend am gebildeten und vermögenden Bürgertum, sondern zunehmend an den sozial, ökonomisch und intellektuell Schwächeren in der Gesellschaft. Vor allem unter dem Einfluss des europäischen Rechts hat sich das Vertragsrecht des BGB, aber auch dessen rechtliches Umfeld so verändert, dass manche Kritiker historische Anleihen bei der französischen Revolution nehmen und eine neue „Tugendrepublik der Jakobiner“4 heraufziehen sehen. Angesichts der nicht enden wollenden Kritik am Wandel des Sozialmodells erscheint es sinnvoll, sich über den Verlauf des Wandlungsprozesses zu vergewissern, die Legitimation des vorherrschenden Sozialmodells zu überprüfen und schließlich einen Blick in die Zukunft zu richten. I. Der Begriff des Sozialmodells und seine Funktion als Parameter der Rechtsentwicklung Der Begriff „Sozialmodell“ hat Anlass zu Missverständnissen und Mutmaßungen gegeben. Man hat ihm vorgeworfen, er sei „schillernd“ bzw. „kryptisch“ und erfasse zugleich deskriptive und normative Elemente.5 Nach Wieackers eigenem Verständnis kennzeichnet der Begriff die „Interdependenz zwischen dem Geist der Rechtsordnung und der Struktur der Gesellschaft“,6 eine Formulierung, die wegen ihrer angeblich mangelnden Aussagekraft ebenfalls kritisch aufgenommen worden ist.7 Indessen ist unschwer zu erkennen, dass Wieackers Analyse des Sozialmodells auf die Wechselwirkung zwischen (Privat-) Recht und Gesellschaft zielt, also auf eine klassische rechtssoziologische Thematik.8 Dies verdeutlicht auch Dau4

Säcker ZRP 2002, 287. Zöllner Privatrechtsgesellschaft (Fn. 2), 30; Canaris (Fn. 2), 289 Fn. 47; Bydlinski (Fn. 2), 743 f. 6 Das Bürgerliche Recht im Wandel der Gesellschaftsordnungen, in: 100 Jahre deutsches Rechtsleben, FS Deutscher Juristentag 1960, II, 6. 7 Zöllner Privatrechtsgesellschaft (Fn. 2), 31. 8 Vgl. nur Rehbinder Rechtssoziologie7, 2009, § 5 („Rechtsstruktur und Gesellschaftsstruktur“). 5

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ner-Liebs Deutung des Sozialmodells als „Bild der wirtschaftlichen Realität, auf die sich das Recht bezieht“,9 und tritt noch klarer hervor bei der Interpretation von Habermas: er erkennt in Ausdrücken wie Sozialmoral oder Sozialmodell „Bilder von der eigenen Gesellschaft, die der Praxis der Rechtssetzung und Rechtsanwendung eine Perspektive“ oder „Orientierung“ geben.10 Einerseits ist das geltende Recht Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, anderseits muss Recht auf die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse Antworten finden, so dass eine „Transformation von Sozialverhältnissen in Rechtsverhältnisse“11 stattfindet und – in umgekehrter Richtung – von Rechtsverhältnissen in Sozialverhältnisse. Für Wieacker bildete dementsprechend die Rechtsordnung – wie sie das BGB um 1900 verkörperte – den Rahmen, in dem sich vornehmlich „das besitzende Bürgertum“ entfalten konnte, und zwar „vorwiegend nur auf Kosten anderer Klassen und Berufsstände“,12 während die rechtliche und gesellschaftliche „Umwälzung“, die im folgenden halben Jahrhundert stattgefunden hat, das Recht so verändern sollte, dass es „für alle Schichten funktionsfähig“ geworden ist und nunmehr nicht nur formale, sondern auch „materiale“ Gleichheit herrscht.13

II. Die Entwicklung des Sozialmodells der Privatrechtsordnung im 19. Jahrhundert Mit der Gründung der Humboldt-Universität im Jahre 1810 ist nicht nur die Entwicklung eines bis heute wegweisenden Wissenschafts- und Bildungsverständnisses verknüpft, sondern auch der Beginn einer neuen systematisch-methodischen Rechtswissenschaft, in der dem Mitbegründer der Berliner Universität, Friedrich Carl von Savigny, eine herausragende Rolle zukam.14 Das ethische Fundament seines Rechtsdenkens entspringt der formalen Freiheitsethik Kants. Dessen berühmte Definition des Rechts als dem „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“,15 kehrt wieder in Savignys Bestimmung des Rechts, das „die freye Entfaltung“ der Sittlichkeit, „ihrer, jedem einzelnen 9 Dauner-Lieb Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, 1983, 52 (dort in Fn. 91). 10 Habermas Faktizität und Geltung, 1992, 472. 11 Assmann Wirtschaftsrecht in der mixed economy, 1980, 5, 150 und öfter. 12 Wieacker (Fn. 1), 10. 13 Rehbinder (Fn. 8), § 5 Rn. 74. 14 Wieacker Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2, 1967, 367 ff. 15 Kant Metaphysik der Sitten 1797 (Nachdruck der Ausgabe Königsberg 1990), § B, XXXIII.

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Willen innewohnenden, Kraft sichert“ oder in der Beschreibung des Rechtsverhältnisses zwischen Personen. Dieses sei durch die Rechtsregel bestimmt, „dass dem individuellen Willen ein Gebiet zugewiesen ist, in welchem er unabhängig von jedem fremden Willen zu herrschen hat“.16 Bemerkenswert klar sieht Savigny das Problem, dass der „Reiche den Armen untergehen lassen“ könne „durch versagte Unterstützung oder harte Ausübung des Schuldrechts“ und fährt fort: „Die Hilfe, die dagegen stattfindet, entspringt nicht auf dem Boden des Privatrechts, sondern auf dem des öffentlichen Rechts; sie liegt in den Armenanstalten, wozu allerdings der Reiche beizutragen gezwungen werden kann, wenngleich sein Beitrag vielleicht nicht unmittelbar merklich ist“.17 Diese Position ist bis heute aktuell und wird – mit wichtigen Einschränkungen – etwa von Canaris vertreten, dessen Denken insoweit ganz in der Tradition von Kant und Savigny steht. Dementsprechend hält auch Canaris es nicht für gerechtfertigt, das Privatrecht für distributive Zwecke in Anspruch zu nehmen, und spricht sich insbesondere dagegen aus, den Arbeitgeber mit der Entgeltfortzahlung für schwangere Arbeitnehmerinnen zu belasten, weil für den erforderlichen sozialen Ausgleich nicht dieser, sondern der Staat zuständig sei.18 Das Problem der „materialen“ Vertragsfreiheit wird in der Privatrechtswissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts kaum beachtet.19 Der Diskurs ist geprägt von gelehrten Richtungskämpfen, von der Abkehr vom Naturrecht und seiner Ablösung durch die maßgeblich von Savigny geprägte historische Rechtsschule, vom Streit um eine allgemeine deutsche Kodifikation nach dem Vorbild des allgemeinen Preußischen Landrechts, dem österreichischen ABGB und dem französischen Code civil und schließlich von der Spaltung der Rechtswissenschaft in Romanisten und Germanisten.20 Die rechtswissenschaftliche Grundanschauung der Zeit ist die des Positivismus, dessen Selbstverständnis eine Auseinandersetzung mit den sozialen und politischen Bedingungen des Rechts ausschließt. „Ethische( ), politische( ) (oder) volkswirtschaftliche( ) Erwägungen (sind) nicht Sache des Juristen als solchen“, schrieb noch 1884 Windscheid, einer der klassischen Vertreter des rechtswissenschaftlichen Positivismus.21 Die darin liegende „Entfremdung 16

Savigny System des heutigen Römischen Rechts, Band I, 1840, 332 f.; zu den wesentlichen Unterschieden im Verständnis von Recht und Sittlichkeit bei Kant und Savigny vgl. Nörr Eher Hegel als Kant, 1991, 20 ff. 17 Savigny (Fn. 16), 371; vgl. dazu und zur Legitimation der Vertragsfreiheit im 19. Jahrhundert Rückert in: Klippel (Hrsg.) Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1997, 135, 163. 18 Canaris Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, 91 ff. 19 Eingehende Analyse bei Rückert (Fn. 17). 20 Wieacker (Fn. 14), 372 ff., 430 ff. 21 Windscheid Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, in: Gesammelte Reden und Abhandlungen, 1904, 100, 112.

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der Rechtswissenschaft von der gesellschaftlichen, politischen und moralischen Wirklichkeit des Rechts“22 ist längst erkannt, gerät aber bisweilen auch noch in der Gegenwart in Vergessenheit, wenn die der Privatautonomie immanente Willkür gegenüber sozialpolitischen Forderungen immunisiert werden soll. Das 19. Jahrhundert wird auch heute noch trotz der massiven sozialen Spannungen zwischen Staat, Bürgertum und Proletariat förmlich idealisiert als geschützter Hort sich frei entfaltender Individuen. So schreibt Isensee über das Privatrecht des 19. Jahrhunderts: „Es sicherte Freiheitlichkeit und Chancengleichheit(!), Mobilität und Offenheit(!) der sozialen Ordnung, bot der Marktwirtschaft die rechtlichen Rahmenbedingungen und konstituierte so die Privatrechtsgesellschaft“.23 Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Preußen und anderen deutschen Staaten per Edikt eingeführte Vertrags- und Gewerbefreiheit24 bildete in der Tat eine wichtige rechtliche Voraussetzung für die Entwicklung des Bürgertums und die beginnende Industrialisierung. Kehrseite dieser liberalen Rechtsordnung war jedoch die Bildung privater Macht in der Hand von Grundbesitzern und Fabrikherren, vor allem gegenüber den ehemals leibeigenen Bauern und der wachsenden Gruppe der Fabrikarbeiter, die gezwungen waren, auf dem freien Arbeitsmarkt ihre Arbeitskraft gleichsam als „Ware“ anzubieten.25 Angesichts eines Überangebots von Arbeitskräften als Folge rationellerer Arbeitsmethoden und des starken Bevölkerungszuwachses bewegte sich die Lohnentwicklung regelmäßig um das Existenzminimum.26 Insofern erstaunt es kaum, dass von den Nutznießern dieser Entwicklung der Abschaffung der Leibeigenschaft kaum Widerstand entgegengesetzt wurde, erwies sich doch die freie Lohnarbeit profitabler als die Zwangsarbeit.27 Da ferner Betriebsordnungen dazu übergingen, auch das private Verhalten der Arbeiterschaft zu regulieren, gewährleistete die bürgerlich-liberale Vertragsordnung für weite Teile der Bevölkerung nur in einem vordergründigen Sinne die Freiheit, ihres eigenen Glückes Schmied zu sein, und schon gar keine reale Gleichheit. Die bestehenden Machtverhältnisse sicherten gesetzliche Verbote von Streiks und Vereinigungen, Polizeiund Strafrecht sowie eine „Klassenjustiz“, welche die Interessen des Bürger22

Wieacker (Fn. 14), 401; Schlosser Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte3, 1979, 79. 23 Isensee, in: FS Großfeld 1999, 485, 492. 24 Edikt des preußischen Königs Wilhelm III. vom 9.10.1807, in: Conze Quellen zur Geschichte der deutschen Bauernbefreiung, 1957, 102; Edikt des Königs von Württemberg Wilhelm I. vom 18.11.1817, in: Conze ebenda, 92; vgl. auch Hedemann Die Fortschritte des Zivilrechts im 19. Jahrhundert, Teil 1, 1910, 7 f. 25 Kaiser KritJ 1976, 60, 68 ff. 26 Kaiser (Fn. 25), 71. 27 Christian Jakob Kraus Gutachten über die Aufhebung der Privatuntertänigkeit in Ost- und West-Preußen 1802, in: Conze (Fn. 24), 70 ff.; von Rantzow Darstellung der Leibeigenschaft, in: Conze (Fn. 24), 66.

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tums und Adels gegen die Teilhabeansprüche der unterprivilegierten Schichten der Land- und Fabrikarbeiter verteidigte.28 Wie reagierte die Wissenschaft auf die soziale Realität der ungleichen Machtverteilung? Für Kant als Begründer der formalen Freiheitsethik stellte die Abhängigkeit des Armen vom Reichen, des Tagelöhners vom Lohnzahlenden keinen Widerspruch dar. Denn „dem Rechte nach“ sind sie „alle einander gleich“. Das Stimmrecht in der Gesetzgebung war freilich für den Staatsbürger reserviert, für den „citoyen“, der „sein eigener Herr sei, mithin irgendein Eigentum habe, welches ihn ernährt“, also nicht für die „operarii“ (Hausbedienstete, Ladendiener, Taglöhner), die keine „Staatsglieder“ seien, „mithin auch nicht Bürger zu sein qualifiziert“.29 Auch nach Hegels Rechtsphilosophie fordert Gerechtigkeit keine Eigentumsgleichheit; Recht sei vielmehr „das, was gleichgültig gegen die Besonderheit bleibt“, weswegen die Forderung der Gleichheit „dem leeren Verstande“ angehöre.30 Allerdings hat Hegel aus dem Widerspruch zwischen der „Anhäufung der Reichtümer“ und der „Abhängigkeit und Not“ der an die Arbeit „gebundenen Klasse“ die Schlussfolgerung gezogen, dass „durch diese ihre Dialektik die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben werde“.31 Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird der Widerspruch zwischen formaler Freiheit und realer Ungleichheit nur vereinzelt thematisiert. Während der Germanist Georg Beseler trotz der bedrückenden sozialen Lage des ehemals Vierten Standes, die nun als „Arbeiterklasse“ qualifiziert wurde, keine Veranlassung sah, daraus rechtliche Wirkungen abzuleiten,32 erkannte der aus Zürich stammende und in München und Heidelberg lehrende Johann Caspar Bluntschli, dass man auf die Fabrikarbeiter „einen abstrakten Begriff der individuellen Freiheit ausgedehnt habe“, ohne zu berücksichtigen, dass diese in Wirklichkeit „unter dem Scheine einer Freiheit dem Despotismus des Capitals schutzlos preisgegeben seien“. Dem Staat weist er folgerichtig die Aufgabe zu, schützend einzugreifen: „Je größer die Gefahren sind, welche . . . aus der glatten Gewinnsucht und Übermacht mancher Fabrikherrn . . . entstehen, desto nötiger ist es, dass die Staatswirtschaft diesem Berufszweige die sorgfältigste Aufmerksamkeit zuwende“.33 Diese vereinzelte Stimme bekam erst in der 28

Zur Klassenjustiz vgl. Liebknecht Rechtsstaat und Klassenjustiz, in: Gesammelte Reden und Schriften, Band II, 1954, 17 ff., 33 ff.; Fraenkel Zur Soziologie der Klassenjustiz, 1927, 10, 15 und 37; Schröder FS Gmür 1983, 201 ff.; ders. Die Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, 243 ff.; Rinken Einführung in das juristische Studium3, 1996, §§ 8 II–IV, 9 I. 29 Kant Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Kants Schriften VIII., Abhandlungen nach 1781, 1968, 275, 292 und 295. 30 Hegel Rechtsphilosophie (§ 200; siehe auch § 49). 31 Hegel (Fn. 30), § 246. 32 Beseler System des gemeinen deutschen Privatrechts1, 1847/55, Band III, 5; ders. Volksrecht und Juristenrecht, 1843, 217 f. 33 Bluntschli Allgemeines Staatsrecht, 1852, 96, 634.

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2. Hälfte des 19. Jahrhunderts kräftige Unterstützung, als Reaktion auf massenhaftes Elend und drückende Arbeitsbedingungen für das „Proletariat“. Hier war es vor allem die Entwicklung der gesellschaftsrechtlichen Vereinigungen, der „Genossenschaften“, die insbesondere von dem Berliner Juristen Otto von Gierke früh als wirksame Instrumente erkannt wurden, um die „Arbeitsherren zur Gewährung besserer Arbeitsbedingungen zu veranlassen“.34 Die Rechtsentwicklung im Bürgerlichen Recht ist auch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem durch Richtungskämpfe zwischen Germanisten und Romanisten, zwischen Begriffs- und Interessenjurisprudenz geprägt. Zur vorherrschenden Strömung wurde die Pandektenwissenschaft, die auf der Grundlage des antiken römischen Rechts eine systematische Rechtswissenschaft hervorbrachte, die das am Ende des Jahrhunderts geschaffene BGB prägte. Seine strenge Rationalität und Verankerung in den Leitprinzipien Eigentumsfreiheit und Vertragsfreiheit werden als tragende Säulen des wirtschaftlichen Aufschwungs im Prozess der Industrialisierung angesehen.35 Der wirtschaftliche und soziale Wandel bestimmt zwar auch zunehmend die öffentliche Diskussion,36 aber auf die Entwicklung des Privatrechts blieb diese ohne nennenswerten Einfluss. Die rechtspolitische Auseinandersetzung fand auf anderen Schauplätzen statt. Bei den Beratungen der 1868 erlassenen Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund, aus der später die Gewerbeordnung für das deutsche Reich hervorgegangen ist, erhoben links-liberale Abgeordnete substantielle Einwände gegen die vorherrschende liberale Doktrin des laissez faire und ihr Menschenbild, das von Materialismus und Egoismus geprägt sei und – getreu der Evolutionstheorie von Darwin – im Kampf ums Dasein keine Rücksicht auf den Schwächeren nehme.37 Im Mittelpunkt des politischen Kampfes stand nun die soziale Frage, kulminierend im Kommunistischen Manifest, in dem Karl Marx und Friedrich Engels die Überwindung der Klassengesellschaft proklamierten.38 34 V. Gierke Das deutsche Genossenschaftsrecht, Band I, 1868 (Nachdruck 1954), 1042; dazu Krause JuS 1970, 313, 315 f. 35 Wieacker Pandektenwissenschaft und Industrielle Revolution 1966, in: Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung 1974, 55, 59; ders. (Fn. 14), 441 f.; Schlosser (Fn. 22), 79; L. Raiser Die Zukunft des Privatrechts, 1971, 17. 36 Vgl. dazu Teuteberg Die Doktrin des ökonomischen Liberalismus und ihre Gegner, dargestellt an der prinzipiellen Erörterung des Arbeitsvertrages im „Verein für Socialpolitik“ (1872–1905), in: Coing/Wilhelm (Hrsg.) Wissenschaft und Kodifikation im 19. Jahrhundert, 1977, 47, 53 ff.; zur öffentlichen Diskussion der „sozialen Frage“ siehe ferner Fischer Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, 1972, 229 ff.; vom Bruch Bürgerliche Sozialreform im deutschen Kaiserreich, in: ders. (Hrsg.) Weder Kommunismus noch Kapitalismus, 1985, 61 ff. 37 Vgl. dazu Benöhr Wirtschaftsliberalismus und Gesetzgebung am Ende des 19. Jahrhunderts, ZfA 1977, 187, 197 ff.; Teuteberg (Fn. 36), 54. 38 Marx Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, 16 und öfter.

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Unter dem Druck der sozialen und politischen Spannungen reagierte der Staat mit Bismarcks Sozialversicherung und ersten Ansätzen einer Arbeiterschutzgesetzgebung. In dem 1872 gegründeten „Verein für Socialpolitik“ versammelten sich Wissenschaftler mit dem Ziel, der „sozialen Frage“ und den reformerischen Bestrebungen in der Öffentlichkeit mehr Gehör zu verschaffen. Es waren vor allem die Ökonomen Gustav Schmoller und Lujo Brentano, die in der Entfaltung des kollektiven Schutzes ein wirksames Instrument gegen die sozial unangemessenen Folgen aus dem Gebrauch der Arbeitsvertragsfreiheit durch Fabrikherrn und Gutsbesitzer sahen.39 Manche erkennen in dieser Ent-Individualisierung des Arbeitsrechts und dem damit verbundenen Funktionsverlust des Arbeitsvertrages den Ausgangspunkt für eine verhängnisvolle Entwicklung, welche nicht in der Lage sei, die heutigen Herausforderungen der Globalisierung zu bewältigen.40 Auf die Konzeption des BGB hatte diese gesellschaftspolitische Entwicklung praktisch keinen Einfluss. Wieacker bezeichnete das Gesetz anschaulich als das „spätgeborene Kind der Pandektenwissenschaft“,41 getragen von den „drei Grundfreiheiten des Privatrechts“: Vertrags-, Eigentumsund Testierfreiheit. Obwohl das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Rechtswirklichkeit längst Gegenstand einer eigenen wissenschaftlichen Forschungsmethode geworden ist, hat sich Max Weber noch in den 20er Jahren dezidiert gegen „materiale Anforderungen an das Recht“ gestellt und den „Formalismus des Rechts“ gegen Forderungen von „Rechtsinteressierten und Rechtsideologen“ verteidigt, die ein „soziales Recht auf der Grundlage pathetischer sittlicher Postulate (Gerechtigkeit, Menschenwürde) verlangen“.42 In der Rechtswissenschaft gab es nur wenige Stimmen, die an der liberalen Grundkonzeption des BGB Kritik übten. Eindrucksvoll war die Kritik am 1. Entwurf des BGB von Otto von Gierke, der die Vertragsfreiheit plastisch als „furchtbare Waffe in der Hand des Starken“ beschrieb, jedoch als „stumpfes Werkzeug in der Hand des Schwachen“, und daraus den Schluss zog, dass das Privatrecht dazu berufen sei, den Schwachen gegen den Starken, das Wohl der Gesamtheit gegen die Selbstsucht der Einzelnen zu schützen“.43 Der Wiener Kathedersozialist Anton Menger konstatierte, dass die „Grundlagen unseres Rechtssystems“, nämlich Eigentum- und Vertrags-

39 Vgl. Schmoller Verhandlungen der Eisenacher Versammlung zur Besprechung der socialen Frage am 6. und 7. Oktober 1872, 1873, 78, 80 ff.; Brentano Das Arbeitsverhältnis gemäß dem heutigen Recht, 1877, 216 ff.; ders. Über Arbeitseinstellungen und Fortbildung des Arbeitsvertrages, Einleitung, XXXI; dazu eingehend Teuteberg (Fn. 36), 55 ff.; vom Bruch (Fn. 36), 72 ff.; kritisch Zöllner AcP 196 (1996) 1, 17 f. 40 Reichhold Arbeitsrecht in der Risikogesellschaft – die Reaktion des Gesetzgebers, in: Hess (Hrsg.) Wandel der Rechtsordnung, 2003, 65 ff. 41 Wieacker (Fn. 1), 9 (siehe auch 16). 42 Weber Wirtschaft und Gesellschaft, 1921 (Ausgabe Winckelmann 1972), 507. 43 V. Gierke Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 1889, 28.

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freiheit, „auf Gewohnheitsrecht beruhen, das sich im Wesentlichen als das Resultat eines erfolgreichen Interessenkampfes der Mächtigen gegen die Schwachen darstellt“.44 Ebenfalls nur vereinzelt formierte sich Widerstand gegen das patriarchalische Familienrecht des BGB, vor allem in den neu entstehenden Frauenverbänden.45 Bis in die Gegenwart reicht die Skepsis gegenüber der Analyse des Sozialmodells durch Wieacker. Und wie damals wird die soziale Realität ausgeblendet. So schreibt etwa Zöllner in krassem Widerspruch zu der Deutung von Wieacker, dass das BGB um 1900 „von seinem Grundansatz her ein klassenloses Gesetzbuch“ sei, weil es „auf der wesentlichen Grundforderung der Demokratie, nämlich der Rechtsgleichheit aller Bürger“, aufbaue.46

III. Der Wandel des Sozialmodells des BGB 1. Demokratisierung und Sozialstaatlichkeit im modernen Privatrecht Über ein Jahrhundert nach Inkrafttreten des BGB hat sich das Sozialmodell des Privatrechts kräftig verändert. Die wesentlichen Forderungen der Kritiker am Menschenbild des BGB und seiner formalen Freiheitsethik sind heute erfüllt. Die Vertragsfreiheit des BGB ist zwar unverändert das Fundament der Privatrechtsordnung, ihr „Standbein“ – wie Stürner sie plastisch beschrieben hat47 –, aber neben dieser einen Säule steht inzwischen eine zweite Säule, die das soziale Fundament des Privatrechts bildet. Es handelt sich vor allem um Verbraucherrecht, das zunächst in Sondergesetzen verortet war, seit der Schuldrechtsreform aber zum großen Teil in das BGB integriert ist und dort ein dichtes Netz aus Normen bildet, mit denen der Staat seiner sozialen Steuerungsfunktion nachkommt. In der Metapher von Stürner handelt es sich um das „Spielbein“ der Privatrechtsordnung, unentbehrlich, um ihr Standfestigkeit zu verleihen, aber auch flexibel genug, um Fehlentwicklungen aus dem Gebrauch der Freiheit entgegenzuwirken. Zentrales Element dieser Entwicklung ist eine von Rechtsprechung, Wissenschaft und Gesetzgebung generierte Materialisierung des Vertragsrechts, die aber nicht – wie Wieacker glaubte – als Rückkehr „zu den ethischen Grundlagen des älteren europäischen Gemein- und Naturrechts“ zu begreifen ist,48 sondern als Spiegelbild eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses im „sozialdemokratischen 20. Jahrhundert“. Die Ausbildung eines „sozialen Privatrechts“ in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das Ergebnis einer fortschreitenden Demo44 45 46 47 48

Menger Das Bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen4, 1908, 6. Wesel Geschichte des Rechts, 1997, 445. Zöllner Privatrechtsgesellschaft (Fn. 2), 32. Stürner JZ 1996, 741, 743. Zöllner Privatrechtsgesellschaft (Fn. 2), 24.

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kratisierung von Recht und Gesellschaft, einer auch die privatrechtlichen Beziehungen prägenden Orientierung an Menschenrechten und der Wertordnung eines Grundgesetzes, das sich in Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes ausdrücklich zu seiner sozialstaatlichen Verpflichtung bekennt. Jörg Neuner plädiert mit guten Gründen dafür, den weit verzweigten Schutz des Schwächeren und existentieller Lebensbereiche im Privatrecht unmittelbar als „Erscheinungsform (. . .) des Sozialstaatsprinzips“ zu begreifen.49 Der Prozess der Materialisierung hat heute praktisch das gesamte Privatrecht erfasst. Zu den wichtigsten Elementen gehört die Missbrauchskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen,50 der soziale Schutz des Mieters, insbesondere vor Kündigung und unbegrenzter Erhöhung des Mietzinses, die Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher,51 das seit der großen Schuldrechtsreform im Jahre 2002 – wie das frühere AGBG und das AbzG aus dem Jahre 1896 – in das Bürgerliche Gesetzbuch integriert ist. Am signifikantesten sind wohl die Veränderungen im Arbeitsvertragsrecht, dessen sozialpolitische Aufgabe vom BGB-Gesetzgeber noch weitgehend ignoriert wurde. Einige Sondervorschriften über die Kündigungsfristen und die gesetzliche Verankerung der Schutz- und Fürsorgepflicht des Arbeitgebers für Leben und Gesundheit der sich ihm anvertrauenden Arbeitnehmer gemäß § 618 BGB bildeten nur einige „Tröpfchen“ des „sozialistischen Öls“, das Otto von Gierke beim Gesamtentwurf des BGB vermisst hatte. Heute bietet das Arbeitsrecht weitreichenden Schutz vor unangemessenen Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer, vor sozial ungerechtfertigter Kündigung, vor befristeten Arbeitsverhältnissen und beim Betriebsübergang. Es gewährt Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und bezahlten Mindesturlaub, Mutterschutz und Schutz vor unangemessenen Klauseln in Arbeitsverträgen, z.B. Verfallklauseln, Änderungsvorbehalte und Rückzahlungsklauseln. Allein die handliche Taschenbuchausgabe der wichtigsten Arbeitsgesetze umfasst mehr als 800 Seiten und ca. 2.500 Normen.52 Zu den sozialen Errungenschaften des Privatrechts gehören auch Teilhaberechte, die durch einen Kontrahierungszwang für Anbieter existentiell wichtiger Leistungen gesichert werden, durch Sanktionen für diskriminierendes Verhalten im Arbeitsleben und zivilrechtlichen Massenverkehr. Auf49

Neuner Privatrecht und Sozialstaat, 1999, 237 ff. Eine Entdeckung von L. Raiser Das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1935 (Neudruck 1961). 51 Die Berechtigung dieses Sonderprivatrechts ist umstritten; dafür Simitis Verbraucherschutz, Schlagwort oder Rechtsprinzip, 1976; Reifner Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung, 410; Reich ZRP 1974, 187 ff.; ders. Privatrecht und Verbraucherschutz in der EU, 1994; wegen der Abkehr von den Rechtsprinzipien Rechtsgleichheit und Selbstbestimmung Neuner (Fn. 49), 278; differenzierend Canaris (Fn. 2), 360 f. (dazu unten im Text unter IV 2). 52 Adomeit BGB – Bürgerliches Gesetzbuch, Eine Orientierungshilfe für Neugierige, Erstaunte, Verzweifelte und Frustrierte, 2005, 11. 50

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klärungspflichten sichern die Funktionsvoraussetzungen der Selbstbestimmung, indem sie Informationsasymmetrien ausgleichen. Und schließlich besteht ein „Schutz vor Hoffnungslosigkeit“,53 der vor allem durch die Möglichkeit der Restschuldbefreiung gemäß §§ 286 ff. InsO verwirklicht wird, aber auch durch Inhaltskontrolle von Verträgen, die eine wirtschaftliche Knebelung bewirken oder eine überlange Bindung eines Vertragspartners herbeiführen. Auch das Familienrecht hat heute nichts mehr gemein mit dem patriarchalischen Konzept der Ehe um 1900, das dem Ehemann das Alleinbestimmungsrecht in allen ehelichen Angelegenheiten einräumte,54 der Strafbarkeit der Scheidung und der Ausgrenzung von „Kindern, deren Eltern bei der Geburt nicht miteinander verheiratet sind“ – wie heute die diskriminierungsfreie Umschreibung der nichtehelichen Kinder lautet (§ 1626a BGB). Das Familienrecht der Gegenwart wird bestimmt vom Abbau der patriarchalischen zugunsten einer partnerschaftlichen Familienstruktur (z.B. §§ 1355, 1356, 1627 BGB), die vom Leitbild finanziell unabhängiger und gleichberechtigter Partner ausgeht und nach den jüngsten Reformen auch Abschied nimmt vom Modell einer lebenslangen Unterhalts- und Versorgungsgemeinschaft (§§ 1569, 1570 BGB).55 Im Schuldvertragsrecht hat sich der Prozess der Materialisierung nicht nur im Bereich der AGB-Kontrolle und des Verbraucherschutzes durchgesetzt, sondern auch bei der durch Wissenschaft und Rechtspraxis entwickelten Begründung von Aufklärungspflichten, von vertraglichen und vorvertraglichen Schutz- und Treuepflichten, die jetzt in §§ 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB gesetzlich geregelt sind, von Schranken der Rechtsdurchsetzung in Gestalt missbräuchlicher Rechtsausübung und der Begründung von Rechten wegen gewährten und in Anspruch genommenen Vertrauens. Um Materialisierungstendenzen handelt es sich hier deshalb, weil die durch fehlenden Schutz und Fürsorge in ihren Rechtsgütern und Interessen beeinträchtigten Parteien nicht nur mit dem formalen Hinweis auf ihre Selbstverantwortung konfrontiert werden, sondern weil hier eine Abwägung der Interessen erfolgt, bei der insbesondere die Zumutbarkeit des Selbstschutzes des Verletzten und die Verkehrserwartungen an die Fairness des Partners beim Zustandekommen und bei der Abwicklung von Verträgen eine Rolle spielen. 2. Verbraucherschutz für Reiche und Professoren? Im Bereich des Verbraucherschutzes beruht das Ungleichgewicht der Parteien oft auf der situativen Überlegenheit des Unternehmers – etwa bei 53

Neuner (Fn. 49), 264. Nicht ohne Bewunderung Adomeit (Fn. 52), 34 f.: „Das alte BGB hatte gewusst, wo es lang geht“. 55 Born NJW 2008, 1, 8; Borth FamRZ 2008, 2 f.; Peschel-Gutzeit FPR 2008, 24 ff. 54

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Haustürgeschäften oder Fernabsatzverträgen –, aber auch auf anderen Faktoren wie wirtschaftlicher Macht oder einem Gefälle an Sach- und Rechtskompetenz wie z.B. beim Verbraucherkreditgeschäft oder Verbrauchsgüterkauf. Dass hier Widerrufs- und Gewährleistungsrechte auch Personen eingeräumt werden, die prima facie wenig schutzwürdig scheinen – z.B. Professoren der Rechtswissenschaft56–, hängt wiederum damit zusammen, dass die Verkehrsfähigkeit des Vertragsrechts Typisierungen erfordert und aus Rechtssicherheitsgründen daher zwangsläufig nicht danach gefragt werden darf, ob die geschützte Person im konkreten Einzelfall wirklich unterlegen war. Deshalb kommt auch ein prominenter Fußballspieler oder Fernsehmoderator in den Genuss von Arbeitnehmerschutzvorschriften. Und der „reiche Mieter“57 genießt genauso Schutz vor Kündigung und Mieterhöhung wie der arme und sozial schwache Mieter. Wenn vermögende und gebildete Verbraucher auch geschützt werden, könnte man daran zweifeln, ob der Schutz des Verbrauchers wirklich eine soziale Errungenschaft ist. „Verbraucher ist jedermann“, schreibt Canaris58 und versucht die Sonderstellung des Verbraucherrechts durch eine Umkehrung des Blickwinkels zu erklären: Es sei nicht zu fragen, warum Verbraucher besonders schutzwürdig sind, sondern umgekehrt, warum Menschen bei ihrer gewerblichen oder selbständigen Berufstätigkeit weniger schutzwürdig oder – bedürftig sind. Auch bei dieser Verschiebung der Perspektive erhält man freilich keine befriedigende Antwort auf die Frage, warum der reiche Mieter oder der kompetente Professor der Rechte nicht wie ein professioneller Verkehrsteilnehmer behandelt wird. Diese Frage stellt sich auch bei dem Wechsel der Perspektive. So oder so geht es um die Bildung zweier Gruppen, die – bei typisierender Betrachtung – unterschiedlich schutzwürdig sind. Wenn man die eine Gruppe für gewandter und kompetenter hält, ist damit automatisch das Urteil verknüpft, dass die andere Gruppe – typischerweise – nicht über diese Eigenschaften verfügt, also „unterlegen“ ist. Diese Unterlegenheit beruht teilweise auf situativen Umständen, teilweise aber auch auf einem Machtgefälle der beteiligten Akteure. Wenn nun aber das Recht die „Ohnmächtigen“ schützt, lässt sich die „soziale“ Zielsetzung der Gesetze zum Schutz des Verbrauchers kaum leugnen. Es geht um den Schutz des Schwächeren und nicht nur um Fairness, da diese auch der professionelle Vertragspartner erwarten dürfte. Im Übrigen muss der Gesetzgeber schon aus Rechtssicherheitsgründen typisieren und folglich darauf verzichten, den Verbraucherschutz von der konkreten Schutzwürdigkeit des einzelnen Konsumenten abhängig zu machen. So kommt es, dass auch Professoren der Rechte Haustürgeschäfte 56 So fragt Zöllner AcP 188 (1988) 85 nach dem „Freiheitswert bestimmter neuer zivilrechtlicher Errungenschaften . . . wie er z.B. darin liegen soll, dass Persönlichkeiten wie Marcus Lutter oder Eike von Hippel ein Haustürgeschäft widerrufen dürfen“. 57 Adomeit NJW 1981, 2168 f. 58 Canaris (Fn. 2), 360 f.

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oder Fernabsatzverträge widerrufen können, auch wenn sie in der Regel weder intellektuell noch sozial als „schwach“ eingestuft werden können und man ihnen durchaus zumuten könnte, sich selbst zu helfen.

IV. Abschied von der formalen Freiheitsethik im Vertragsrecht? Einen gewissen Höhepunkt des Materialisierungsprozesses markierten Urteile des Bundesverfassungsgerichts,59 in denen der Schutz der Selbstbestimmung vor einseitiger Fremdbestimmung durch den überlegenen Vertragspartner als verfassungsrechtliches Gebot proklamiert wurde. Das Recht begnügt sich nicht mehr mit der Gewährleistung formaler Vertragsfreiheit, die das Phänomen wirtschaftlicher und sozialer Macht förmlich ignoriert, sondern soll materiale Vertragsgerechtigkeit gewährleisten, um jene zu schützen, deren Selbstbestimmung durch Fremdbestimmung bedroht ist. Da diese Urteile den Kern des Spannungsfeldes zwischen formaler und materialer Vertragsgerechtigkeit berühren, gilt ihnen das Hauptaugenmerk der Vertragsrechtstheorie. 1. Der Schutz vor Fremdbestimmung bei struktureller Unterlegenheit eines Vertragspartners nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Mit den Handelsvertreter- und Bürgschaftsurteilen hat das Bundesverfassungsgericht einem rein formalen Verständnis der Vertragsfreiheit eine klare Absage erteilt. Privatautonomie beruht nach Ansicht des Gerichts auf dem Prinzip der Selbstbestimmung, setzt also voraus, dass auch die Bedingungen freier Selbstbestimmung tatsächlich gegeben sind. Wenn es an einem „annähernden Kräftegleichgewicht“ der Beteiligten fehle, so dass eine Vertragspartei vertragliche Regelungen faktisch einseitig setzen könne, bewirke dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung. Zu seinem Schutz müsse dann der Gesetzgeber eingreifen, und wenn dieser untätig bleibe, die Rechtsprechung.60 Dabei ging das Gericht im Handelsvertreter-Fall von einer strukturellen Unterlegenheit aus und konnte sich dabei auf die Einschätzung des Gesetzgebers beziehen, der wegen der typischerweise bestehenden wirtschaftlichen Abhängigkeit des Handelsvertreters von seinem Prinzipal einige zwingende Schutzvorschriften in das HGB eingefügt hatte, u.a. auch die Verpflichtung zur Zahlung einer Karenzentschädigung, wenn im Vertrag ein nachvertragliches Wettbewerbsverbot vereinbart wurde. Da diese Entschädigung ausgeschlossen war, wenn der Unternehmer durch schuldhaftes Verhal59 BVerfGE 81, 242, 255 f. – Handelsvertreter, BVerfGE 89, 214, 232 – Bürgschaft, BVerfGE 103, 89, 102 und BVerfG NJW 2001, 2248 – beide zum Unterhaltsverzicht. 60 BVerfGE 81, 242, 255 f.

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ten des Handelsvertreters zur außerordentlichen Kündigung gezwungen war, hielt das Gericht den Schutz des Handelsvertreters nicht für ausreichend.61 Im Bürgschafts-Fall machte das Bundesverfassungsgericht den Schutz vor Fremdbestimmung durch den stärkeren Vertragsteil davon abhängig, dass es sich zum einen um eine „typisierbare Fallgestaltung“ handle, die „eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen“ lasse, und verlangte zum zweiten, dass „die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend“ sein müssen.62 Beide Voraussetzungen lagen nach Ansicht des Gerichts vor, weil die zum Zeitpunkt der Bürgschaftserklärung 21-jährige Bürgin unter dem Druck der familiären Verbundenheit zu ihrem Vater und dem Drängen des Sparkassenangestellten, der das Ausmaß des Risikos bagatellisiert hatte („Sie gehen keine große Verpflichtung ein“), ein außerordentlich hohes Risiko übernommen hatte. Dabei hatte sie keine realistische Aussicht, im Falle der Inanspruchnahme aus der Bürgschaft die Schuld je abtragen zu können, weil sie damals weder über eigenes Vermögen noch über ein nennenswertes Einkommen verfügte, sondern überwiegend arbeitslos war und in einer Fischfabrik gerade einmal 1.150 DM monatlich netto verdiente. Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht auch die ungleiche Lastenverteilung in einem Ehevertrag nicht toleriert, wenn dieser vor der Ehe und im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft der Frau geschlossen worden ist. Eine strukturelle Unterlegenheit ist nach Ansicht des Gerichts regelmäßig anzunehmen, „wenn eine nicht verheiratete schwangere Frau sich vor die Alternative gestellt sieht, in Zukunft entweder allein für das erwartete Kind Verantwortung und Sorge zu tragen oder durch Eheschließung den Kindesvater in die Verantwortung einzubinden, wenn auch um den Preis eines mit ihm zu schließenden, sie aber stark belastenden Ehevertrages“.63 Diese Zwangslage schwäche ihre Verhandlungsposition, so dass zu ihrem Schutz geprüft werden müsse, ob der Ehevertrag eine ausgewogene, nicht nur die Interessen des Ehemannes einseitig berücksichtigende Regelung enthalte. 2. Die Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers und die Beweislast für Ungleichgewichtslagen beim Vertragsschluss Im Schrifttum haben diese Urteile ein zwiespältiges Echo hervorgerufen. Während manche darin Meilensteine zur Gewährleistung von Vertragsge61

BVerfGE 81, 242, 260 ff. BVerfGE 89, 214, 232. 63 BVerfGE 103, 89, 102; siehe ferner BVerfG NJW 2001, 2248; Schwenzer AcP 196 (1996) 88, 108 ff. – Der BGH hat lange Zeit keine Rücksicht auf die Zwangslage des Ehegatten genommen, vgl. noch BGH FamRZ 1997, 156; inzwischen unterliegen Eheverträge einer intensiven Inhaltskontrolle, grundlegend BGH FamRZ 2004, 601. 62

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rechtigkeit sehen,64 bezweifeln andere die Tragfähigkeit des Konzepts.65 Die Kritiker bemängeln vor allem, dass nun neben die gesetzlichen Regeln über die Geschäftsfähigkeit ein durch Richterspruch erzeugter Tatbestand der wirtschaftlichen Geschäftsfähigkeit trete. Klaus Adomeit befürchtet mit Blick auf das Kriterium der „strukturellen Unterlegenheit“, dass „die ganze Vielfalt und Buntheit des Lebens und der Welt von Vertragsverhandlungen an Größen gemessen (werde), die kaum feststellbar sind und schwerlich einen brauchbaren Maßstab hergeben“.66 Wolfgang Zöllner vermisst ebenfalls „eine passende Waage“, um das Vorliegen einer Ungleichgewichtslage zu bestimmen. Er kann sich den Erfolg des „Theorems der Ungleichgewichtigkeit“ nur mit dessen angeblich schlichter intellektueller Struktur erklären: „Hie reich, dort arm, hie Unternehmer dort Kunde, hie Bank dort Kreditbürge, hie Mann dort Frau.“ In Wahrheit seien oft „deutlich einfach strukturierte Gemüter . . . geschickter im Verfolgen ihrer elementaren Interessen“.67 Vor allem jedoch sei Ungleichgewicht „kein Grund, die Vertragsfreiheit einzuschränken oder die Validität eines Vertrages in Zweifel zu ziehen“. Wenn jemand ein Bürgschaftsversprechen abgebe, ohne dazu gezwungen zu sein, sei er gerade nicht fremdbestimmt. An dieser Kritik ist berechtigt, dass die Vertragsfreiheit nicht generell unter den Vorbehalt eines wirtschaftlichen und/oder intellektuellen Gleichgewichts der Parteien gestellt werden kann. Angesichts der Schwierigkeiten, in jedem Einzelfall festzustellen, ob zwischen den Parteien eines Vertrages Parität oder Imparität bestanden hat, wäre die Verbindlichkeit und Verlässlichkeit von Rechtsgeschäften extremer Unsicherheit ausgesetzt.68 Dass diese die Funktionsfähigkeit des Rechtsgeschäfts beeinträchtigen würde, liegt auf der Hand. Entsprechendes gilt für Vorschläge wie die von Manfred Wolf oder Josef Drexl, die „rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit“ oder „wirtschaftliche Selbstbestimmung“ als Funktionsvoraussetzung eines gerechten Interessenausgleichs von Verträgen anzusehen.69 Auf der anderen Seite ist nicht zu verkennen, dass die zahlreichen gesetzlichen Beschränkungen der Vertragsfreiheit, wie sie insbesondere das soziale Arbeits- und Mietrecht sowie das AGB-Recht und den Verbraucherschutz prägen, nur verständlich 64

Wiedemann JZ 1994, 411, 412; Honsell NJW 1994, 565 f.; Staudinger/Singer, BGB, 2004, Vorbem. zu §§ 116–144 Rn. 11; zust. auch Canaris (Fn. 2), 296 ff. 65 Adomeit NJW 1994, 2467 f.; Medicus (Fn. 2), 20 f.; Zöllner (Fn. 39), 9 ff.; ders. Privatrechtsgesellschaft (Fn. 2), 36 ff.; Hönn, in: FS Kraft 1998, 251 (259 ff.); differenzierend Neuner (Fn. 49), 269 ff. 66 Adomeit (Fn. 65), 2468. 67 Zöllner Privatrechtsgesellschaft (Fn. 2), 35 f. 68 Hönn Kompensation gestörter Vertragsparität, 1982, 29; Singer Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, 19; Neuner (Fn. 49), 220. 69 Wolf Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, 1970, 122 und öfter; Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers 1998, 206 ff.

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sind, wenn man von einem typischen Versagen der Funktionsvoraussetzungen des Vertragsschlusses ausgeht. Es liegt auf der Hand, dass die in den westlichen Industrieländern weite Bereiche des Arbeitslebens kennzeichnende Konkurrenz um eine begrenzte Zahl von Arbeitsplätzen dazu führt, dass typischerweise Arbeitgeber die Bedingungen des Arbeitsvertrages diktieren können. Es ist daher konsequent, dass Arbeitsverträge einer Inhaltskontrolle unterzogen werden, und zwar unabhängig davon, ob es sich um AGB handelt.70 Zwar wird auch hier bestritten, dass Arbeitnehmer – typischerweise – „unterlegene“ Vertragspartner sind,71 aber es ist jedenfalls dem Gesetzgeber unbenommen, im Rahmen seines Prognose- und Einschätzungsspielraums von einer ungleichen Verhandlungsmacht auszugehen. Das ist auch die Position des Bundesverfassungsgerichts, das im Handelsvertreter-Urteil die Einschätzung des Gesetzgebers, dass „Handelsvertreter in ihrer Mehrzahl wirtschaftlich abhängig sind und deshalb – bei typisierender Betrachtungsweise – nicht über ausreichende Verhandlungsstärke verfügen, um ihre Rechte und Pflichten mit den Unternehmern frei aushandeln zu können“, als „vertretbar“ und „im Rahmen der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers“ liegend qualifiziert hat.72 Gesteht man dem Gesetzgeber aber eine solche Einschätzungsprärogative zu, liegt die Beweislast für die gegenteilige Behauptung, dass in Wahrheit keine Paritätsstörung vorliege, bei den Kritikern und Zweiflern. Wer also etwa bezweifelt, ob Arbeitnehmer im Verhältnis zu Arbeitgebern – typischerweise – unterlegen sind, muss das Bestehen eines Verhandlungsgleichgewichts nicht nur behaupten, sondern auch beweisen. Man wende nicht ein, dass es sich hier um einen simplen Trick handele. Immerhin wird die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in Frage gestellt. Dieser ist demokratisch legitimiert, so dass seinen Akten Legalität und – bis zum Beweis des Gegenteils – auch Legitimität zukommt. Die zugrunde liegende Annahme imparitätischer Vertragsbedingungen basiert ihrerseits auf der trivialen ökonomischen Gesetzmäßigkeit, dass die erhöhte Nachfrage nach Arbeitsplätzen – die den gesamten Prozess der Industrialisierung begleitet hat und gegenwärtig den Prozess der Globalisierung prägt – die Position des Arbeitgebers stärkt. Die von den Kritikern aufgestellte Vermutung, die Ursache für die unbestrittenen Hungerlöhne und elenden Arbeitsbedingungen im 19. Jahrhundert beruhe auf der geringeren Produktivität der Un70 Für eine Beschränkung auf AGB noch Preis Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993, 255 ff.; da Arbeitnehmer als Verbraucher angesehen werden (BAGE 115, 19), erstreckt sich der Anwendungsbereich der Inhaltskontrolle auch im Arbeitsrecht auf sämtliche Verträge, die der Arbeitgeber stellt (§ 310 Abs. 3 BGB), auch wenn es sich nicht um AGB handelt. 71 Zöllner AcP 176 (1976) 221; ders. (Fn. 39), 15 ff.; ders. Privatrechtsgesellschaft (Fn. 2), 36 mit Fn. 68. 72 BVerfGE 81, 242, 260 f.

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ternehmen in der Frühphase der Industrialisierung,73 ist solange spekulativ, wie nicht ein Vergleich mit dem auch von den Arbeitnehmern erwirtschafteten Unternehmensgewinnen geführt wird. Außerdem ist alles andere als widerlegt, dass die allmähliche Verbesserung der Löhne und anderer Arbeitsbedingungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihre wesentliche Ursache in den zunehmenden sozialen Druck hatte, dem Staat und Bürgertum durch die sich in Koalitionen und politischen Verbänden organisierende Arbeitnehmerschaft ausgesetzt waren. Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber Imparität herrsche, ist nicht nur mit Blick auf die historische Entwicklung des Arbeitnehmerschutzrechts plausibel, sondern auch mit Blick auf die Vertragspraxis des zeitgenössischen Arbeitsrechts, das gegenwärtig in unzähligen Prozessen an das Schutzniveau des allgemeinen Zivilrechts angepasst werden muss.74 Vergleichbare Verhältnisse herrschen im sozialen Mietrecht, das der Gesetzgeber aus guten Gründen nicht dem freien Spiel der Kräfte ausgesetzt sehen will. Wie im Arbeitsrecht stehen hier existentiell bedeutsame Interessen auf dem Spiel, so dass diese beiden Rechtsgebiete lange vor dem Aufkommen des Verbraucherschutzes zu Gegenständen umfangreicher legislativer Eingriffe in die Vertragsfreiheit geworden sind. Bei der Verwendung von AGB beruht das Marktversagen vor allem auf der Asymmetrie der ökonomischen Anreize, die eigenen Interessen bei der Ausgestaltung der Vertragsbedingungen durchzusetzen. Während es sich für den Verwender lohnt, mit Blick auf die Verwendung der AGB in einer Vielzahl von Fällen Zeit und Geld in die Gestaltung der Vertragsbedingungen zu investieren, ist es für den Kunden unter ökonomischen Gesichtspunkten im Regelfall nicht sinnvoll, im Vorfeld des Vertragsschlusses über einzelne Bedingungen zu verhandeln oder beim Scheitern von Verhandlungen zur Konkurrenz zu wechseln.75 Allenfalls bei hochwertigen Investitionsgütern mag es sich lohnen, sich um günstigere Regeln etwa für Leistungsstörungen und andere Vertragsrisiken zu bemühen. 3. Schutz vor Fremdbestimmung durch Richterrecht: § 138 Abs. 2 BGB als Orientierungsmaßstab Dass der Gesetzgeber befugt ist, im Interesse der Vertragsgerechtigkeit der Vertragsfreiheit Schranken zu errichten, dürfte denn auch unbestritten sein.76 73

Vgl. insbesondere Zöllner (Fn. 71), 231; ders. (Fn. 39), 20. Vgl. BAG AP Nr. 1 zu § 308 BGB; NZA 2007, 87; 2007, 853; 2008, 1173; Singer RdA 2006, 362; ders. in: FS Canaris 2007, 1467; Hanau/Hromadka NZA 2005, 73; Preis/Lindemann NZA 2006, 632, 635. 75 MünchKomm/Basedow5, 2007, vor § 305 Rn. 5; Fastrich Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, 1992, 79 ff.; Drexl (Fn. 69), 1998, 332 ff.; Canaris (Fn. 2), 321 f. 76 Unmissverständlich Medicus (Fn. 2), 24. 74

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Es ist bisher auch noch niemand auf den Gedanken gekommen, Vorschriften des Verbraucherschutzes oder des sozialen Miet- und Arbeitsrechts für verfassungswidrig zu erklären, weil die geschützten Personen angeblich nicht schutzwürdig seien. Auch das Bundesverfassungsgericht geht selbstverständlich davon aus, dass im Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern die Vertragsparität nachhaltig gestört ist.77 Wie steht es aber mit der Gewährleistung von Vertragsgerechtigkeit, wenn der Gesetzgeber untätig geblieben und der Richter mit dem Problem gestörter Vertragsparität konfrontiert ist? Da der Gesetzgeber zwar weiträumig, aber eben nicht generalisierend auf Ungleichgewichtslagen reagiert hat, verbietet sich schon aus Respekt vor der – negativen – Entscheidung des Gesetzgebers, qua Richterrecht ein allgemeines Prinzip der Inhaltskontrolle bei gestörter Vertragsparität zu proklamieren. Insoweit haben die Kritiker also Recht: Es gibt kein allgemeines Prinzip der Vertragskontrolle bei gestörter Vertragsparität.78 Nicht, weil die wirtschaftliche, rechtliche oder intellektuelle Unterlegenheit keine Beachtung verdienen würde, sondern weil die Anerkennung eines allgemeinen Prinzips gestörter Vertragsparität als Vertragsaufhebungsgrund mit der Grundentscheidung des Gesetzgebers gegen ein solches allgemeines Prinzip nicht vereinbar wäre. Die Zurückhaltung des Gesetzgebers ist mehr als berechtigt, sichert diese doch zugleich der Vertragsfreiheit den notwendigen Spielraum zu ihrer Entfaltung. Aber was dem Richter als Aufgabe zugewiesen ist, ist nicht nur die schlichte Anwendung des Gesetzes, sondern auch dessen Fortbildung, wenn es lückenhaft ist. Denn der Gleichheitssatz gebietet, dass Gleiches gleich behandelt wird.79 Die Regulierung von Ungleichgewichtslagen hat daher dort ihre volle Berechtigung, wo sie dazu dient, eine Lücke im geltenden Recht unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes zu schließen. Dem trägt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Sache nach durchaus Rechnung, weil es sich nicht mit der bloßen Störung der Selbstbestimmungsfreiheit begnügt, sondern ein weiteres Kriterium verlangt.80 Der Richter soll nur eingreifen, wenn die Regelung eine „Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke“ sowie „für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen“ ist. Bisher sind es gerade einmal drei Konstellationen, in denen das Bundesverfassungsgericht diese Voraussetzungen als erfüllt ansah. Dabei handelt es sich durchweg um Fälle, die sehr nahe am Tatbestand des § 138 Abs. 2 BGB angesiedelt sind, so dass sich hinter der praktizierten Rechtsfortbildung nicht – wie von den Kriti77

BVerfGE 81, 242, 260. Neuner (Fn. 49), 269 f.; Medicus (Fn. 2), 19 ff. 79 Canaris Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1. Auflage 1964, 2. Auflage 1983, 57 f. und öfter. 80 BVerfGE 89, 214, 234. 78

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kern behauptet wird – die Formulierung eines allgemeinen Prinzips verbirgt, sondern die tatbestandlich durchaus begrenzte Ausdehnung einer – wie sich zeigt – zu eng gefassten Vorschrift auf rechtsähnliche Konstellationen.81 Ausdrücklich erwähnt das Gericht in dem betreffenden Kontext § 138 Abs. 2 BGB und die dort genannten „typischen Umstände, die zwangsläufig zur Verhandlungsunterlegenheit des einen Vertragsteils führen und zu denen auch dessen Unerfahrenheit gerechnet wird“. Mindestens genauso nahe hätte es gelegen, auf ein anderes Tatbestandsmerkmal des § 138 Abs. 2 BGB abzustellen, nämlich die „Ausbeutung der Zwangslage“ des anderen Vertragsteils. Die frühere Praxis der Kreditinstitute, die Kreditvergabe an den Hauptschuldner grundsätzlich davon abhängig zu machen, dass sich Familienangehörige verbürgen, lief auf ein solches Ausnutzen der Zwangslage der Sicherungsgeber hinaus, da bei einer Ablehnung der verlangten Kreditsicherheit das Risiko bestanden hätte, dass der Hauptschuldner keinen Kredit bekäme und womöglich seine wirtschaftliche Existenz aufgeben müsste. Die Sittenwidrigkeit und Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts macht nun § 138 Abs. 2 BGB zusätzlich davon abhängig, dass sich der Gläubiger für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen. Es muss also zur negativen Beurteilung der Verfahrensvoraussetzungen für einen Vertrag mit Richtigkeitsgewähr – der Beeinträchtigung der Selbstbestimmungsfreiheit – noch eine negative Bewertung des Inhalts des Rechtsgeschäfts hinzukommen, die man verallgemeinernd als „evidente Unangemessenheit“ charakterisieren kann. Es drängt sich förmlich der Gedanke auf, dass das zweite – objektive – Kriterium neben der strukturellen Unterlegenheit, nämlich dass die Regelung „für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen“ sein müsse, dieses negative Urteil über den Inhalt des Vertrages ermöglichen soll. Evident unangemessen sind freilich nicht nur Verträge, bei denen Leistung und Gegenleistung in einem „auffälligen Missverhältnis“ stehen, sondern auch solche, bei denen offensichtlich kein ausgewogener Ausgleich der beiderseitigen Interessen erfolgte und die deshalb für eine Seite „ungewöhnlich belastend“ sind. Wäre § 138 Abs. 2 BGB als Norm abschließend, läge eine planwidrige Lücke vor, da nur ein besonderer Fall evidenter Unangemessenheit erfasst wird. Abs. 2 ist jedoch nur ein besonders hervorgehobener Spezialfall eines sittenwidrigen Rechtsgeschäfts („Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, . . .“), so dass Fälle, die dem besonders geregelten Fall rechtsähnlich sind, ohne weiteres unter § 138 Abs. 1 BGB subsumiert werden können. Dies trifft auf Bürgschaftsverträge von Familienangehörigen zu, wenn diese so vermögenslos sind, dass sie nicht in der Lage sind, von ihrem Einkommen und Vermögen die Zinsen zu 81 Den Modellcharakter von § 138 Abs. 2 betonen auch Neuner (Fn. 49), 270; Canaris (Fn. 2), 296.

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zahlen. Die Evidenz der Unangemessenheit hat das Bundesverfassungsgericht darin gesehen, dass das übernommene Haftungsrisiko „ungewöhnlich hoch“ war und die Bürgin kein eigenes wirtschaftliches Interesse an dem Geschäft hatte.82 Das ist zweifellos ein wichtiger Gesichtspunkt, schöpft aber die rechtlichen und wirtschaftlichen Dimensionen der Haftung nicht aus. Sehr viel näher hätte es gelegen, auf die Bedrohung der in Art. 1 Abs. 1 und 3 GG unter absolutem Schutz stehenden Menschenwürde abzustellen, wenn sich jemand ohne Geschäftserfahrung und unter familiärem Zwang zu einer Leistung verpflichtet, die er voraussichtlich niemals abtragen kann. Die seit nunmehr 10 Jahren bestehende Möglichkeit der Restschuldbefreiung gemäß §§ 286 ff. InsO trägt diesem Wertverständnis Rechnung. Wenngleich die Restschuldbefreiung die Folgen finanzieller Überforderung abschwächt, gehen die Zivilgerichte nach wie vor mit Recht davon aus, dass der Schuldner, der aus mangelnder Geschäftserfahrung und familiären Zwängen unerfüllbare Verpflichtungen eingeht, auch davor zu schützen ist, dass er dadurch für Jahre auf ein Leben am Rande des Existenzminimums zurückgeworfen wird, ohne dass dies durch ein legitimes Interesse der Kreditinstitute gerechtfertigt ist.83 Einen massiven Eingriff in grundrechtlich geschützte Positionen hatte auch das Wettbewerbsverbot zur Folge, das im Handelsvertreter-Fall vom Bundesverfassungsgericht wegen der strukturellen Unterlegenheit des Handelsvertreters gegenüber dem Unternehmer für unwirksam gehalten wurde. Hätte das Verbot Bestand gehabt, wäre der Handelsvertreter auf die Dauer von 2 Jahren seiner wirtschaftlichen Existenzgrundlage beraubt gewesen. Mit Blick auf diese einschneidenden und unzumutbaren Konsequenzen liegt zweifellos auch hier eine „ungewöhnlich belastende“ Regelung vor, die mit Blick auf den Schutz der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 BGB als Interessenausgleich evident unangemessen ist.84 Um einschneidende Folgen geht es auch bei der Unterzeichnung von Unterhaltsverzichtserklärungen, die eine extrem einseitige, vom gesetzlichen Leitbild stark abweichende Lastenverteilung bewirken. Wer auf gesetzliche Unterhaltsansprüche für den Fall des Scheiterns der Beziehung verzichtet und verabredungsgemäß sich der Kinderbetreuung widmet, ist im Ernstfall ebenfalls existentiell betroffen und schutzwürdig, wenn solche Erklärungen in einer Situation struktureller Unterlegenheit abgegeben werden. Nach der Reform des Unterhaltsrechts 2009 hat sich zwar das gesetzliche Leitbild zu Lasten der Unterhaltsberechtigten – in der Regel also der Frauen – verändert, weil Betreuungsunterhalt für Kinder nach Vollendung des 3. Lebensjahrs davon abhängt, ob dies der Bil82

BVerfGE 89, 214, 234. Vgl. insbesondere BGHZ 156, 302, 307; BGH NJW 2005, 973, 975. 84 Das Obsiegen des Handelsvertreters vor dem Bundesverfassungsgericht kommt dagegen nach Ansicht von Zöllner wegen dessen „Doppelspiels“ einem Skandal nahe, Privatrechtsgesellschaft (Fn. 2), 36 Fn. 68. 83

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ligkeit entspricht. Schutz verdient aber nach wie vor das Vertrauen auf eine verabredete Rollenverteilung, so dass weiterhin solche Unterhaltsverzichtsvereinbarungen sittenwidrig sind, welche diese gesetzliche Lastenverteilung aushöhlen. 4. Renaissance der Freiheit und prozedurale Vertragsgerechtigkeit Die mit der Materialisierung des Schuldvertragsrechts verbundene Verengung der privatautonomen Spielräume hat vielfältige Kritik hervorgerufen. Es wird als grundlegender Widerspruch zum Gedanken der Privatautonomie angesehen, dass Selbstbestimmung und Selbstverantwortung in weiten Bereichen des Privatrechts nicht mehr die Grundlage für die Regelung der privaten Rechtsbeziehungen bilden.85 Das Bild des zur Selbstbestimmung unfähigen Verbrauchers, seine Entmündigung als Person, erscheint den Verfechtern eines liberalen Vertragsmodells geradezu als Degradierung der Rechtssubjekte zu „Objekten“ paternalistischer Fürsorge.86 Die Vorzüge der Privatautonomie, ihr hoher Gerechtigkeitsgehalt87 und ihre ökonomische und soziale Leistungsfähigkeit bei der Befriedigung der wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen88 sieht man gefährdet, wenn die Vertragsfreiheit systemwidrigen Einschränkungen ausgesetzt sei. Zur Verschärfung der Lage trage die Globalisierung bei, da diese erhöhte Anforderungen an die Wettbewerbsfähigkeit stelle, die unter der übertriebenen Regulierung der Handlungsspielräume leide. Am Ende steht gar die Sorge vor einem omnipotenten, totalitaristischen Staat, der das wesensgemäß staatsferne Privatrecht vollends beseitige und alle menschlichen Lebensbereiche kontrolliere.89 Die Diskussion über die Grenzen der Vertragsfreiheit hat zweifellos dazu beigetragen, dass der Wert der Privatautonomie und ihre Stellung im Rechtssystem wieder stärker in den Blick geraten sind. Mit Recht werden die Vorzüge der Privatrechtsgesellschaft hervorgehoben, ihre Fundierung in den ethischen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, ihre Funktionstüchtigkeit für das Gemeinwohl. Aber der Nachweis, dass der Prozess der Mate85

Zöllner (Fn. 56), 97 f. Zöllner (Fn. 56), 98; Habermas (Fn. 10), 490 f.; Callies Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2000, 85, 92; Hayek Die Verfassung der Freiheit 1971, 107: „Die Forderung nach Gleichheit“ ist das „erklärte Motiv der meisten, die der Gesellschaft ein vorher zurecht gelegtes Verteilungsschema aufdrücken wollen“. 87 Eingehende und differenzierte Analyse bei Canaris (Fn. 18), 44 ff. (zusammenfassend 75 ff.). 88 Canaris (Fn. 18), 63 ff.; Hayek (Fn. 86), 31 ff., 49 ff.; aus ökonomischer Sicht Böhm Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, Ordo 17 (1966) 75, 94 ff. 89 Zu dieser Befürchtung Bydlinski Das Privatrecht im Rechtssystem einer „Privatrechtsgesellschaft“, 1994, 5, der freilich mit Augenmaß für ein Gleichgewicht zwischen autonomer Ordnung und staatlicher Korrektur plädiert (77). 86

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rialisierung die apostrophierten Schäden angerichtet hat, ist bisher auch nicht geführt worden. Die gegenwärtig zu bewältigende Weltwirtschaftskrise scheint denn auch erneut ins Bewusstsein zu rufen, dass die Selbststeuerungsfähigkeit der Märkte kein unbegrenztes Vertrauen verdient. Nach den historischen Erfahrungen mit einer weitgehend ungezügelten Privatautonomie im 19. Jahrhundert ist jedenfalls die Vorstellung, dass Privatrecht, Marktwirtschaft und freier Wettbewerb geradezu „naturwüchsig für soziale Gerechtigkeit“ sorgen, kaum seriös aufrechtzuerhalten.90 Auch ausgesprochen leidenschaftliche Verfechter einer „Privatrechtsgesellschaft“ wie Zöllner distanzieren sich von dem Gedanken, dass Privatautonomie grundsätzlich die inhaltlich richtige Regel produziere.91 Insofern liegt es nahe, die staatliche Intervention an Schranken zu binden, die der Privatautonomie wieder größere Handlungsspielräume zuerkennen. So sollen Korrekturen beschränkt sein auf Fälle, in denen die Funktionsvoraussetzungen der Selbstbestimmung beeinträchtigt sind, weil die Fähigkeit zur Selbstverantwortung fehlt. In die gleiche Richtung gehen prozedurale Theorien der Vertragsgerechtigkeit, die sich damit beschränken wollen, „faktische Voraussetzungen der Richtigkeitsgewähr des Vertrages zu benennen“.92 Die Überlegenheit der prozeduralen Gerechtigkeitstheorien resultiert für ihre Vertreter aus dem vollständigen Scheitern aller materialer Gerechtigkeitstheorien.93 Die Überzeugungskraft prozeduraler Gerechtigkeitstheorien beruht freilich nicht nur auf dem Verzicht auf inhaltliche Aussagen, sondern auch auf materialen Wertvorstellungen, nämlich dem Konsensprinzip bzw. der Maxime „volenti non fit iniuria“. Wenn man hingegen – wie Luhmann – auf den Anspruch, Gerechtigkeit zu verwirklichen, verzichtet,94 setzt man sich dem Einwand aus, dass Recht zur fungiblen Größe denaturiert.95 Sofern man jedoch mit dem Konsens ethische Vorstellungen verbindet, wird man mit der Fragilität der Prämissen konfrontiert: Um prozedurale Gerechtigkeit zu gewährleisten, muss nicht nur formale, sondern auch faktische Vertragsfreiheit herrschen. Die tatsächlichen Voraussetzungen freier 90 Günther Rechtshistorisches Journal 11 (1992) 473 in Auseinandersetzung mit Mestmäcker Rechtshistorisches Journal 11 (1992) 177, 183 f., der für die Entfaltung der sozialen Marktwirtschaft eine anspruchsvolle rechtliche und gesellschaftliche Umwelt verlangt. 91 Zöllner (Fn. 56), 97 in Abgrenzung zu der von Schmidt-Rimpler entwickelten Theorie der Richtigkeitsgewähr von Verträgen, AcP 147 (1941) 130, 149 ff.; 2007 ist Zöllner wieder optimistischer: „Die Privatrechtsgesellschaft . . . wäre möglich“ (Privatrecht [Fn. 2], 73, im Anschluss an Böhms Konzeption der Privatrechtsgesellschaft, die im Wesentlichen auf den Funktionsvoraussetzungen Markt und Wettbewerb basiert, Nachweise Fn. 88). 92 Callies (Fn. 86), 104. 93 Callies, Prozedurales Recht 1999, 28 f.; ders. (Fn. 86), 94 ff. 94 Luhmann Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 53 (1967) 567 f.; vgl. auch ders. Legitimation durch Verfahren 1969, 11 f. 95 Kaufmann Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, 1989, 12.

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Selbstbestimmung lassen sich aber ihrerseits nicht rein formal bestimmen, sondern hängen von den Koordinaten des jeweiligen Rechtssystems ab. So ist es eine Frage der Wertung, ob beim Abschluss eines Verbrauchervertrages an der Haustür oder im Fernabsatz die Selbstbestimmungsfreiheit so stark beeinträchtigt ist, dass man dem Verbraucher das Recht einräumen muss, den Vertrag zu widerrufen. Vor 30 Jahren wurde die Frage anders beantwortet als heute. Außerdem lassen sich die Bedingungen für eine freie Selbstbestimmung nur in jenen Fällen herstellen, in denen die Schwäche des Konsenses ausschließlich in der informationellen oder situativen Unterlegenheit einer Partei beruht. Gegen unangemessene Allgemeine Geschäftsbedingungen hilft keine Aufklärung, weil der Kunde keine realistische Chance zum Aushandeln der Vertragsbedingungen hat.96 Evident ist die fehlende Möglichkeit zur Durchsetzung der eigenen Interessen in Bereichen, in denen die Gegenpartei eine überlegene Machtposition hat wie im Regelfall im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder im Bürgschaftsfall. Dem familiären Druck kann man mit noch so sorgfältiger Aufklärung nicht entgehen. Und die Tatsache, dass das Arbeitsschutzrecht ganz überwiegend zwingendes Recht ist, hat seine Ursache eben darin, dass eine Vertragsparität des einzelnen Arbeitnehmers nicht hergestellt werden kann. Prozedurale Lösungen sind allerdings nicht ausgeschlossen, sondern dann sinnvoll, wenn zwischen den Parteien Parität besteht. Auf dieser Grundlage basiert die betriebliche Mitbestimmung und das Tarifvertragsrecht. Das Kollektiv verfügt über ausreichende Gegenmacht, aber – das kann ich hier nur andeuten97 – auch bei der kollektiven Interessenwahrnehmung besteht die Gefahr, dass Minderheiten und andere Benachteiligte ausgegrenzt werden. Es gibt daher in Deutschland eine gewisse Kontrolle von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen durch die Arbeitsgerichte. Da auch prozedurale Konzeptionen nicht uneingeschränkt „richtige“ Ergebnisse produzieren, bedarf es zwangsläufig einer Kombination von prozeduralen und materialen Elementen bei der Rechtsschöpfung. Die Skepsis gegenüber der Begründbarkeit „objektiver“ materialer Rechtssätze ist zwar berechtigt. Mit der zunehmenden Anerkennung und Durchsetzung materialer Vertragsrechtsgrundsätze ist aber immerhin ein pragmatischer Vorrat an Leitbildern und ethischen Prinzipien entwickelt worden, die das Gerechtigkeitsempfinden prägen und neben den autonomen Regelungen eine zweite, gleichberechtigte Säule der Privatrechtsordnung bilden. Eine „gerechte“ Vertragsrechtsordnung muss bemüht sein, beiden Formen der Vertragsgerechtigkeit optimal zu entsprechen und folglich mit dem prozeduralen 96

Canaris (Fn. 2), 321 f. Vgl. näher Singer Die Grundrechte im deutschen Arbeitsrecht, in: Neuner (Hrsg.) Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, 2007, 245 ff. 97

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Grundprinzip materiale Elemente verbinden, die einen angemessenen sozialen Ausgleich von Übermacht und Fremdbestimmung bewirken. Welcher Maßstab hier einzuhalten ist, ist primär Sache des Gesetzgebers. Trotz aller Bemühungen ist bis heute keine abstrakte subsumtionsfähige Formel gefunden, mit der sich das rechte Mischungsverhältnis zwischen formaler und materialer Vertragsgerechtigkeit bestimmen lässt. Das ist auch nicht notwendig, weil die Zuständigkeit für materiale Regeln in den Händen des demokratischen Gesetzgebers liegt und damit auch – auf einer anderen Ebene – eine prozedurale Legitimation besteht. Die hier vertretene Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers bei der Begrenzung der Vertragsfreiheit durch zwingendes Recht lässt sich somit auch wegen ihrer „Legitimation durch Verfahren“ auf prozedurale Elemente der Rechtserzeugung zurückführen, so dass den Zweifeln an der Begründbarkeit inhaltlicher Aussagen zur Vertragsgerechtigkeit nicht das gleiche Gewicht zukommt wie gegenüber der naturrechtlichen Ableitung von Rechtssätzen und Prinzipien aus der Sittlichkeit oder Vernunft. Die Rechtsfortbildung bei gestörten Funktionsvoraussetzungen der Selbstbestimmung bezieht ihre Legitimation wiederum aus dem Gleichheitssatz und damit aus einem materialen Rechtsgrundsatz von höchster Autorität und – wegen seiner positivrechtlichen Verankerung in der Verfassung – prozeduraler Legitimationsgrundlage. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Handelsvertreter- und Bürgschafts-Fall sowie bei einseitigen Eheverträgen genügt diesen Anforderungen, da sich das Gericht offensichtlich an dem Grundmodell der Eingriffsvoraussetzungen des § 138 Abs. 2 BGB orientiert und diese Wertung des Gesetzgebers zu eigen gemacht hat. Die Schwächen des sozialstaatlichen Paternalismus, seine Tendenz, jene Autonomie zu beeinträchtigen, um deren Willen die faktischen Funktionsvoraussetzungen der Vertragsfreiheit gewährleistet werden sollen, werden zwar oft betont. Aber das beschworene Versagen der Privatautonomie ist bisher nicht eingetreten, vermutlich auch deshalb, weil der Gesetzgeber es vermieden hat, die Handlungsspielräume so weit einzuengen, dass die Selbststeuerungskräfte in volkswirtschaftlich relevantem Umfang erlahmen oder schädliche Ausweichstrategien überhand nehmen. Eine positive Reaktion auf die negativen Effekte staatlicher Bevormundung verkörpern zweifellos alternative Verfahren zur Organisation von Interessenkonflikten, die stärker auf Kooperation, Kommunikation und Partizipation setzen und damit auf prozedurale Gestaltungselemente.98 Dazu gehört etwa die Kol98 Grundlegend Habermas (Fn. 10), 492 f.; als „Formen experimenteller Demokratie“ bezeichnet diese dezentralisierten Subsysteme der gesellschaftlichen Selbstkoordination Beck Risikogesellschaft, 1986, 368; zu den Vorzügen dezentraler Kooperation Magen Zur Interaktion von Recht und sozialen Normen bei der dezentralen Bereitstellung von Gemeinschaftsgütern, in: Stolleis/Streeck (Hrsg.) Aktuelle Fragen zu politischer und rechtlicher Steuerung im Kontext der Globalisierung, 2007, 185 ff.

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lektivierung der Rechtsdurchsetzung, die Einrichtung von Ombudsleuten, Schiedsstellen sowie die Beteiligung von Verbänden an Verfahren der Rechtsfindung und Rechtserzeugung.99 Auch hier ist aber im Auge zu behalten, dass die Kollektivierung der Interessen keine Gewähr dafür bietet, dass sich neue Formen gesellschaftlicher Macht bilden, die Interessen von Minderheiten und Randgruppen nicht ausreichend repräsentiert sind, und sich die „gerechte“ Balance zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung nicht zwangsläufig einstellen muss. Auch die prozeduralen Gerechtigkeitstheorien, schreibt Arthur Kaufmann, „ersparen uns nicht das mühsame Unternehmen der empirischen Wahrheitssuche: des Auffindens von Erfahrungen im Bereich des Werthaften“.100 In diesem Prozess ist die Rechtsordnung immerhin deutlich fortgeschritten.

V. Gleichheit und Teilhabe Der Prozess der „Materialisierung“ des Vertragsrechts bewirkt nicht nur Schutz vor unerwünschten, fremdbestimmten Verträgen, sondern auch Schutz vor Ausgrenzung durch Verweigerung des Vertragsschlusses.101 Die formale Abschlussfreiheit wird zunehmend eingeschränkt, um Chancengleichheit herzustellen und möglichst allen Menschen die Teilhabe am Privatrechtsverkehr zu ermöglichen. Diese Ausprägung des Gleichbehandlungsprinzips hat in jüngster Zeit erheblich an Bedeutung gewonnen, nachdem der europäische Gesetzgeber den lange Zeit auf die Bekämpfung der geschlechtsbezogenen Diskriminierung im Arbeitsleben beschränkten Schutz auf weitere Rechtsgebiete und Diskriminierungsmerkmale ausgedehnt und der nationale Gesetzgeber im Jahre 2006 die einschlägigen europäischen Richtlinien102 in Gestalt des Allgemeinen Gleichbehandlungsgeset99 Zu den Legitimationsproblemen privater Regeln vgl. insbesondere Bachmann Private Ordnung, 2005. 100 Kaufmann (Fn. 95), 30. 101 Zu den folgenden Ausführungen vgl. die Beiträge des Verfassers in der FS Adomeit 2008, 703; in: Brömmelmeyer u.a. (Hrsg.) Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform, Schwachstellen der VVG-Reform, Versicherungswissenschaftliche Studien 34, 2009, 13; FS Zachert 2010, 341 (344 ff.). 102 RL 2000/43/EG vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl.EG L 180/22 – sog. Antirassismus-Richtlinie), RL 2000/78/EG vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl.EG L 303/16 – sog. Rahmenrichtlinie Beschäftigung), RL 2002/73/EG vom 23. September 2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl.EG L 269/15 – sog. Gender-Richtlinie) und RL 2004/113/ EG vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung

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zes103 umgesetzt hat. Verboten sind nunmehr nicht gerechtfertigte Benachteiligungen aus Gründen der Rasse, wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität im Arbeits- und Berufsleben, im allgemeinen Zivilrechtsverkehr im Wesentlichen bei Massengeschäften und mit der Einschränkung, dass eine Diskriminierung wegen der „Weltanschauung“ nicht verboten ist. 1. Gleichbehandlung als (Un-)Tugend? Leidenschaftliche Kritik104 begleitete den Entstehungsprozess des nationalen Umsetzungsgesetzes von Anfang an. Die erforderliche Untersuchung der Motive privatautonomer Entscheidungen kennzeichne das neue Gesetz als Wegbereiter für eine neue „Tugendrepublik der neuen Jakobiner“ und verkehre den Grundsatz der Privatautonomie „stat pro ratione voluntas“ in sein glattes Gegenteil.105 Privatautonomie beinhalte das Recht, die eigenen Rechtsverhältnisse in Selbstbestimmung – d.h. in „Willkür“ – zu regeln. Dies entspreche ur-menschlichem Wollen und finde seinen Ausdruck in der Vielfalt der individuellen Lebensformen von der bürgerlichen Familie bis zu Phänomenen wie Wohngemeinschaft, Szene-Café oder Club.106 Klaus Adomeit stellt darüber hinaus auch die gesellschaftspolitischen Ziele der Reform in Frage. Die Ideale einer multikulturellen Gesellschaft, religiöser Toleranz und Emanzipation der Frau konfrontiert er mit der demografischen Entwicklung, der schwierigen Integration von Angehörigen fremder Ethnien und der zunehmenden Bedrohung durch islamistische Gewalt.107 Indessen ist das Schreckensszenario, dass die Privatautonomie nunmehr in ihr Gegenteil verkehrt sei, kräftig überzeichnet. Die Diskriminierungsvon Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (ABl.EG L 373/37 – sog. Gleichbehandlungsrichtlinie Geschlecht). 103 BGBl. I, 1897. 104 Kritisch äußerten sich insbesondere Adomeit NJW 2002, 1622; 2003, 1162; 2005, 721; ders. in: Adomeit/Mohr, KommAGG, 2007, Einleitung, insbesondere Rn. 235 ff.; Braun JuS 2002, 424; Picker JZ 2002, 880; ders. JZ 2003, 540; ders. Antidiskriminierungsprogramme im freiheitlichen Privatrecht, Karlsruher Forum 2004, 7; ders. ZfA 2005, 167; Säcker (Fn. 4), 286; ders. ZEuP 2005, 1 – Den zivilrechtlichen Diskriminierungsschutz tendenziell befürwortend (mit Unterschieden im Einzelnen) Armbrüster ZRP 2005, 41; Baer ZRP 2002, 290; ZESAR 2004, 204; Neuner JZ 2003, 57; ders. in: Leible/Schlachter Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, 2006, 74; Reichold NZA 2002, 1270; ders. JZ 2004, 384; Thüsing NZA 2004, Sonderbeilage zu Heft 22, 3; ders. in: MünchKomm Einl. AGG Rn. 20 ff.; ders. Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, 2007, Rn. 21 f. 105 Säcker (Fn. 4), 287; Picker JZ 2003, 542. 106 Picker JZ 2003, 543; ders. ZfA 2005, 173. 107 Adomeit NJW 2005, 722; die Summe der in vielen Beiträgen dargelegten Einwände und Bedenken gegen das AGG zieht Adomeit in der Einleitung zu dem gemeinsam mit Mohr herausgegebenen Kommentar zum AGG (Fn. 104).

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verbote im „Zivilrechtsverkehr“ beziehen sich im Wesentlichen auf Massengeschäfte (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG), also auf Rechtsgeschäfte, bei denen das Ansehen der Person keine Rolle spielt oder von nachrangiger Bedeutung ist. Hier dürften Ausgrenzung und Diskriminierung die große Ausnahme sein.108 Deshalb darf – um eines der Paradebeispiele zu benutzen – die ältere Dame ihr Zimmer selbstverständlich an eine evangelische Studentin vermieten, da es sich nicht um ein Massengeschäft gemäß § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG handelt, eine Benachteiligung anderer Bewerber nicht aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft erfolgt und zwischen den Parteien ein besonderes Näheverhältnis gemäß § 19 Abs. 5 AGG begründet werden soll, bei dem die Benachteiligungsverbote nicht gelten. Natürlich bedeutet das neue Gesetz nicht wirklich das Ende der Frauenfitness, Männersauna oder ‚Ladies Night‘, der ‚Ü-30-Parties‘ und der Partnervermittlung im Internet.109 Für diese exklusiven Angebote an Angehörige eines Geschlechts gibt es durchweg sachliche Gründe, die gemäß § 20 Abs. 1 AGG berücksichtigt werden müssen. Die durch die Benachteiligungsverbote erzwungene Einschränkung der Vertragsfreiheit ist aus verschiedenen Gründen gerechtfertigt. Wer diskriminieren will, macht keinen funktionsgerechten Gebrauch von der Vertragsfreiheit, sondern missbraucht seine Macht. Die Vertragsfreiheit steht zwar als eine Ausprägung der allgemeinen Handlungsfreiheit unter dem Schutz der Verfassung, aber das Grundrecht ist nicht schrankenlos gewährleistet, sondern darf insbesondere zum Schutze der Rechte anderer eingeschränkt werden. Zu den Rechten anderer gehört zweifellos die Menschenwürde und das Persönlichkeitsrecht der Diskriminierten, aber auch deren Recht auf Selbstbestimmung. Dieses kann nur ausgeübt werden, wenn Benachteiligte nicht systematisch und willkürlich ausgegrenzt werden.110 2. Diskriminierungsschutz als unzulässiges Sonderopfer? Eines der zentralen Argumente gegen den Schutz vor Diskriminierung besteht darin, dass die zum Vertragsschluss Verpflichteten verfassungsrechtlich unzulässige Sonderopfer erbringen müssten. So werde der Vermieter genötigt, Verträge mit Personen abzuschließen, die das soziale Umfeld veränderten, was über kurz oder lang eine Entwertung des Mietobjekts zur Folge habe.111 Und vom Arbeitgeber werde verlangt, dass er weniger leistungsfähige Arbeitnehmer – Frauen, Behinderte, Alte – einstelle und beför108

Armbrüster (Fn. 104), 42. Rath/Rütz NJW 2007, 1498. 110 Baer ZRP 2002, 291; Neuner JZ 2003, 60 ff. 111 Picker Karlsruher Forum 2004, 70 ff.; ders. ZfA 2005, 177 ff.; zustimmend Franzen Diskriminierungsverbote und Privatautonomie, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Jahresband 2004 (2005), 49, 67 f. 109

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dere. Vermieter und Arbeitgeber müssten auf diese Weise Einkommensverluste in Kauf nehmen, obwohl sie die Benachteiligung der abgelehnten Vertragsinteressenten streng genommen „nichts angehe“.112 Das sei verfassungsrechtlich nicht zulässig, weil das Bundesverfassungsgericht die Auferlegung von Sonderabgaben davon abhängig mache, dass zwischen dem Kreis der Abgabepflichtigen und dem mit der Abgabeerhebung verfolgten Zweck eine spezifische Beziehung bestehe.113 Indessen muss man sich schon die Frage stellen, ob Frauen, Behinderte und Alte wirklich per se die schlechteren Arbeitnehmer sind. Beruht der Attraktivitäts- und Wertverlust eines Wohnquartiers wirklich auf der ethnischen Zusammensetzung der Einwohnerschaft oder sind es die schlechten Strukturbedingungen wie Lage, Infrastruktur und baulicher Zustand der Immobilie, die tendenziell einkommensschwache Mieter anziehen?114 Immerhin ist das gleiche Phänomen in Problem-Quartieren ohne nennenswerten Ausländeranteil – etwa in den neuen Bundesländern – zu beobachten, so dass der Ursachenzusammenhang zwischen Diskriminierungsverboten und dem Wertverlust von Immobilien mehr als zweifelhaft erscheint. Davon abgesehen wird der Antidiskriminierungsschutz den Maßstäben, die das Bundesverfassungsgericht an die Rechtfertigung von Sonderabgaben stellt, durchaus gerecht. Gefordert ist eine spezifische Beziehung zwischen dem Kreis der Abgabepflichtigen und dem mit der Abgabenerhebung verfolgten Zweck. Die Belastung des Arbeitgebers mit den Kosten des Mutterschaftsgeldes erfüllt diese Voraussetzungen, weil das Arbeitsverhältnis nicht nur ein schuldrechtliches Austauschverhältnis ist, sondern aufgrund seiner Funktion, die Existenz des Arbeitnehmers zu sichern,115 wichtige soziale Aufgaben erfüllt. Wenn ein Arbeitnehmer seine Arbeitskraft dem Arbeitgeber zur Verfügung stellt, „reichen die Auswirkungen in die gesamte Lebensführung des Arbeitnehmers hinein“. Das arbeitsrechtliche Schutzprinzip ist nur verständlich, wenn man diese soziale – und menschliche – Dimension des Arbeitsverhältnisses berücksichtigt. Ob und wie die geschuldete Arbeitsleistung erbracht werden kann, hängt von den persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten des verpflichteten Menschen ab. Zu dessen Wesen gehört es aber, dass er krank oder schwanger wird, dass seine Kräfte 112

Picker Karlsruher Forum 2004, 80, 94; ders. ZfA 2005, 178, 181; ders. JZ 2003, 542. BVerfGE 55, 274, 306; 75, 108, 158 f.; BVerfG NJW 2004, 146, 149; dazu Picker Karlsruher Forum 2004, 82 ff.; ders. ZfA 2005, 179 f. 114 Vgl. Häußermann/Siebel Soziale Integration und ethnische Schichtung, 2001, 43 f.; Janssen/Polat Zwischen Integration und Ausgrenzung – Lebensverhältnisse türkischer Migranten der zweiten Generation, 2005, 76 ff.; dazu aus Sicht der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft Metzger WuM 2007, 47, 49. 115 Wiedemann Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und Gemeinschaftsverhältnis, 1966, 15; eine ökonomische Erklärung für die Vertragsgerechtigkeit von Schutz- und Fürsorgepflichten des Arbeitgebers bietet Brors Die Abschaffung der Fürsorgepflicht, 2002, 105 ff., 248. 113

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schwanken. Insofern ist es alles andere als willkürlich, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer mit dessen menschlicher Natur und seinen ganzen Schwächen akzeptieren muss und sich am gebotenen Sozialschutz beteiligt, zumal er von dessen Leistung bei störungsfreiem Verlauf des Arbeitsverhältnisses profitiert. 3. Gleichbehandlung und Vertragsgerechtigkeit Adressat des Diskriminierungsverbotes ist nicht der Staat, sondern der potentielle Vertragspartner. Der Schutz vor Ausgrenzung ist gar nicht anders zu bewerkstelligen als durch eine Inanspruchnahme des Diskriminierenden, und sei es in Form von Sanktionen, die mittelbar Anreize zu diskriminierungsfreiem Verhalten setzen. Die Verantwortung der Arbeitgeber und Vermieter liegt geradezu in der Natur der Sache begründet. Man kann zwar darüber streiten, ob die iustitia distributiva prinzipiell Sache des Staates ist – wie Canaris in Abgrenzung zur iustitia commutativa, die sich im Interessenausgleich des Vertrages verwirklicht, dargelegt hat116 – oder ob man lediglich verlangt, dass die Heranziehung Privater durch den Gesetzgeber bei der Verteilung von Lasten und Risiken nicht willkürlich erfolgen darf.117 Bei der Frage des Diskriminierungsschutzes kommt es auf diese Unterscheidung nicht an. Denn der Zugriff auf Personen, die diskriminieren wollen, ist offensichtlich nicht willkürlich. Und die prinzipielle Zuständigkeit des Staates für die Verwirklichung der iustitia distributiva ist auch nach der Konzeption von Canaris keine absolute Forderung, sondern erfordert eine Differenzierung nach der Art der Leistung. Während der Staat für die Verteilung von Geld und finanziellen Belastungen jedenfalls dann zuständig ist, wenn niemand sonst zur Verantwortung gezogen werden kann, kann dies auch nach Auffassung von Canaris nicht gelten, wenn es um die Erhaltung und Erlangung eines vertragsrechtlichen „Status“ geht.118 Genau darum geht es beim Diskriminierungsschutz. So ist – auch nach Canaris‘ Ansicht – die Kündigung oder Anfechtung eines Arbeitsvertrages einer schwangeren Arbeitnehmerin ausgeschlossen, weil diese sonst wegen ihres Geschlechts diskriminiert würde. Arbeitnehmerinnen vor und nach der Entbindung vor einem Verlust des Arbeitsplatzes zu schützen, ist nämlich gar nicht anders möglich als durch ein Kündigungsverbot. Schwerbehinderte können gar nicht anders in das Arbeitsleben integriert werden als durch die Verpflichtung des Arbeitgebers zu deren Einstellung. Gleiches gilt nun aber auch für den Schutz vor Diskriminierung aus anderen Gründen. Abgesehen von allenfalls mittel- bis langfristig wirksamen „erzieherischen“ Maßnahmen gibt 116 117 118

Canaris (Fn. 18), 78 ff. Das ist die Position des Bundesverfassungsgerichts (Nachweis Fn. 113). Canaris (Fn. 18), 87 ff.

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es überhaupt keine andere Möglichkeit, die Ausgrenzung der benachteiligten Personen und die Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts zu verhindern, als durch ein Verbot der Benachteiligung und deren Sanktion. Das AGG sieht zwar keinen Kontrahierungszwang vor, aber auch bei den Sanktionen wie Schadensersatz oder Entschädigung (§§ 15, 21 AGG) geht es darum, Anreize zu diskriminierungsfreiem Verhalten zu schaffen. Dementsprechend ist es auch unter dem Gesichtspunkt distributiver Gerechtigkeit gerechtfertigt, Privatrechtssubjekte und nicht den Staat für den Diskriminierungsschutz in Anspruch zu nehmen. Die Tatsache, dass Diskriminierungsschutz Geld kostet, bildet im Übrigen nach der zutreffenden Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs keinen hinlänglichen Grund, um die Diskriminierung benachteiligter Personen zu rechtfertigen. Der Arbeitgeber darf eine schwangere Bewerberin nicht ablehnen, weil ihn die Schwangerschaft Geld kostet.119 Entsprechendes gilt für die Diskriminierung bei der Auswahl von Mietern. Zwischen ökonomischen und ethischen Werten besteht ein klarer Vorrang der Ethik, gilt also nicht das von den Kritikern der Antidiskriminierung angenommene umgekehrte Rangverhältnis. 4. Gleichbehandlung im Arbeitsrecht Der inzwischen erreichte Ausbau des Diskriminierungsschutzes hat durchaus eine gewisse Tradition. So liegt die Vermutung nahe, dass der seit langem anerkannte und von der Rechtsprechung praktizierte arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz120 im Schutz vor Diskriminierung und Ausgrenzung wurzelt. Dass sich der Diskriminierungsschutz zunächst im Arbeitsleben entwickelt hat, dürfte wiederum damit zusammen hängen, dass Arbeitnehmer auf die Leistungen des Arbeitgebers existenziell angewiesen sind und diese eine „Ausgrenzung“ innerhalb der sozialen Gemeinschaft besonders hart trifft. Es ist die „Sozialpflichtigkeit des Arbeitsverhältnisses“, die ein Eingreifen des Staates zugunsten der ausgegrenzten Arbeitnehmer rechtfertigt. Damit wird verständlich, warum der Gleichbehandlungsgrundsatz keine universale Geltung im Privatrecht besitzt, sondern vor allem dort zur Anwendung kommt, wo seine Verletzung gravierende und „unsoziale“ Folgen für die Betroffenen hat.

119

Vgl. nur EuGH 8.11.1990 Slg. 1990, I-3941, 3973 – Dekker; 3.2.2000 AP Nr. 18 zu § 611a BGB, Tz. 29 – Mahlburg. 120 Vgl. dazu Wiedemann Die Gleichbehandlungsgebote im Arbeitsrecht, 2001, 11; Singer FS Zachert 2010 (Fn. 101), (im Druck).

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VI. Zusammenfassung und Ausblick Von der formalen Freiheitsethik der deutschen Privatrechtsordnung des 19. Jahrhunderts ist heute nur noch das Gerüst übrig. Die Vertragsfreiheit bildet nach wie vor die Grundlage für die Gestaltung der privaten Rechtsverhältnisse und damit für die Befriedigung der meisten menschlichen Bedürfnisse, aber der Gesetzgeber vertraut längst nicht mehr blind auf die „prozedurale Gerechtigkeit“ des vertraglichen Konsenses, sondern trifft in weitem Umfang Vorsorge, wenn die Funktionsvoraussetzungen der Selbstbestimmung typischerweise beeinträchtigt oder gefährdet sind. Das zugrunde liegende Sozialmodell trägt unverkennbar paternalistische Züge, aber es ist eine unbewiesene Behauptung, dass diese „Fürsorge“ des Sozialstaats das Funktionieren der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen ernsthaft gefährdet. Im Gegenteil dürfte die Teilhabe möglichst breiter Schichten am Marktgeschehen tendenziell zur Belebung des Wirtschaftsgeschehens beitragen. Dazu bedarf es des Vertrauens der Marktteilnehmer auf die Einhaltung ethischer Standards. Der „Überbau“ der Privatrechtsordnung durch ein relativ dichtes Netz von Schutznormen, die vertragliche Ungleichgewichtslagen ausgleichen, ist daher ohne Alternative. Das zugrundeliegende Sozialmodell ist nicht – wie vereinzelt angemerkt wird121 – der „dämliche“ Verbraucher, sondern der Bürger, der gleichberechtigt am Rechts- und Wirtschaftsverkehr teilnehmen soll. Der Prozess dieser Materialisierung liegt in erster Linie in der Hand des Gesetzgebers und ist daher ebenso wie die autonome Rechtsgestaltung der Privaten prozedural legitimiert. Richterliche Korrekturen sind nicht ausgeschlossen, setzen aber den Nachweis voraus, dass der Rechtsschutz in Ungleichgewichtslagen lückenhaft ist. Je enger sich die richterliche Regelbildung an gesetzliche Wertentscheidungen anlehnen kann, desto größer ist ihre Überzeugungskraft und Legitimation. Im Übrigen zeichnet sich ab, dass der schroffe Antagonismus zwischen Privatautonomie und staatlicher Steuerung der Privatrechtsordnung zunehmend aufgebrochen wird durch die zivilgesellschaftliche Organisation von Interessenkonflikten, also durch „Kommunikationsformen“, die prozedural legitimiert sind und die Autonomie der Beteiligten respektieren.122 Ein Allheilmittel bilden die kollektiven Organisationsformen aber auch nicht, da sie nicht immun sind gegenüber der Ausbildung gesellschaftlicher Macht. Für die gegenwärtigen und zukünftigen Bemühungen um die Harmonisierung der Europäischen Privatrechte123 bedeutet dies, dass die rechte 121 122 123

Callies (Fn. 86), 92; Schünemann in: FS Brandner 1996, 279 ff. Vgl. dazu oben III 4 a.E. Vgl. dazu Wagner ZEuP 2007, 180 ff.

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Mischung gefunden werden muss aus autonomen und heteronomen Gestaltungskräften. Die autonome Selbststeuerung durch die Gewährleistung faktischer, materialer Vertragsfreiheit sollte ebenso gestärkt werden wie die prozedurale Organisation von Konflikten und die Sicherung sozialer Standards. Das künftige europäische Vertragsrecht sollte jedenfalls nicht hinter dem Niveau des ohnehin stark von den europäischen Richtlinien zum Verbraucherschutz und zur gleichberechtigten Teilhabe am beruflichen Sektor sowie am Güter- und Dienstleistungsverkehr geprägten, gegenwärtig geltenden Privatrechts zurückbleiben. Dass dieser Schutz Geld kostet und womöglich von allen Konsumenten bezahlt werden muss, weil die Kosten von den Unternehmen über die Preise abgewälzt werden,124 darf keine ernsthafte Rolle spielen. Im Konflikt „ethics versus commercialism“ sollte stets die Ethik siegen.125

124

So Wagner ZEuP 2007, 180, 210 f.; ob es der Markt immer ermöglicht, gestiegene Kosten über die Preise weiterzugeben, ist mindestens zweifelhaft. 125 Dazu in anderem Kontext: Singer Zwischen Berufsethos und Kommerz – Eine Frage der Ehre!? Gedanken zur anwaltlichen Berufsethik, AnwBl. 2009, 393.

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Zukunft des Vertragsrechts Zukunft des Vertragsrechts Stefan Grundmann

Zukunft des Vertragsrechts STEFAN GRUNDMANN

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Institutionelle Rahmenbedingungen und Fragen des Gesamtzuschnitts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangspunkt: Neue Ebenen und Regelsetzer . . . . . . . . a) Supranationale Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Private Ordnung und Regelsetzer? . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheitsoptimierung bei höherer Schutzintensität . . . . . . a) Wichtigste Beispiele heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Charakterisierung des Spannungsverhältnisses und seine Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kodifikation – ohne Universalitätsanspruch . . . . . . . . . . a) Kodifikation zeitgemäß? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ohne Universalitätsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Generalisierung bei verstärkter Ausdifferenzierung . . . . . a) Vordringen von Generalklauseln . . . . . . . . . . . . . . . b) Die ausdifferenzierte Einheitsregelung . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Exkurs: Markttransaktion und Unternehmung . . . . . . . . III. Einige Kerngebiete der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangspunkt: Modernisierungsgebiete und tradierte Gebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Information als Kern des Konsenses . . . . . . . . . . . . . . . 3. Individual- und Standardvereinbarungen . . . . . . . . . . . . 4. Austausch- und Langzeitverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Personenvielfalt (Vertragsnetze) . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Für das Vertragsrecht bedeutet das zeitliche Umfeld der Gründung der Humboldt-Universität und ihrer Juristische Fakultät, die Zeit um 1810 und im Umfeld der französischen Revolution, einen tiefen Einschnitt, geradezu

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einen „Anfang“. Eine Rückbesinnung 200 Jahre danach ist also im Vertragsrecht nicht nur rein äußerlich Pflicht – um des Jubiläums willen –, sondern die Zeit in den Dekaden um und vor allem vor 1810 bilden Gründungsjahre für das Vertragsrechtsdenken. Nun mag dies für manches Einzelrechtsgebiet gelten, immerhin handelt es sich bei diesen Dekaden um das, was in den Geschichtswissenschaften im Anschluss an Koselleck als die prägende „Sattelzeit“ der Weltgeschichte, die Geburt der Gegenwart, gesehen wird.1 Und ist dies so – gerade auch in der sozialen und politischen Entwicklung –, so ist für manches zentrale Rechtsgebiet Gleiches anzunehmen wie für das Vertragsrecht. Dass dieser Gedanke jedoch für Letzteres in besonderem Maße zutrifft, unterstreicht einmal mehr seine paradigmatische Bedeutung. Für den Vertrag sind die Dekaden um und vor 1810 u.a. aus folgenden Gründen so zentral: Geht man von der zentralen Ordnungsmacht (damals) aus, so ist vielleicht am wichtigsten die konsequente verfassungstheoretische Begründung staatlicher und hierarchischer Ordnungsmacht aus dem Gedanken des Vertrages heraus.2 Sicherlich liegen die Wurzeln bereits bei Hobbes, dennoch ist der Schritt hin zu den schottischen Moralisten und vor allem zu Rousseau doch nochmals ein qualitativ kaum zu unterschätzender: sowohl in der moralischen, grundsätzlich positiven Bewertung des Gesellschaftsvertrags als der Grundlage staatlichen und auch gesellschaftlichen Zusammenlebens als auch in der begrifflichen Absolutheit. Nicht mehr der (bändigende und seinerseits selbst zu bändigende) Leviathan, sondern der Gesellschaftsvertrag in seiner gesellschaftskonstituierenden Funktion steht im Vordergrund. Für stärker privatrechtliches und privatwirtschaftliches Denken von ebenso und vielleicht von noch größerer Bedeutung ist eine zweite Entwicklung in dieser Zeit: die Formulierung des Austauschgedankens als des zentralen wirtschafts-, ja gesellschaftssteuernden Mechanismus.3 Der Mensch ist dem Menschen nicht mehr Wolf, sondern auf Austausch angewiesen und dieser – mit dem einher gehenden Wettbewerbsgedanken – wird fundamental positiv gesehen. Es entsteht der Gedanken, dass der Aus1 Koselleck Geschichtliche Grundbegriffe (hrsg. von Brunner/Conze/Koselleck), Band 14, 1994, Einleitung XV; und zur Rezeption etwa Palonen Die Entzauberung der Begriffe – das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, 2004, bes. 246–251, 314–317. 2 Vgl. nur Kersting Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1996; ders. Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.) (Fn. 1), Band 6, 1990, 901; an der Berliner Universität (seit 1818) freilich dezidiert anders Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821 (Ausgabe Moldenhauer/Michel Werke in 20 Bänden), etwa § 75 (S. 157 ff.). 3 Smith An Inquiry into the Nature and Cause of the Wealth of Nations, 1776 (deutsch: Waenthig [Hrsg.] Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes, 1923); dazu etwa Malloy Law in a Market Context, 2004, 27; vorher in diese Richtung schon Mandeville The Fable of the Bees: or, Private Vices Publick Benefits, erstmals 1714, deutsche Ausgabe (hrsg. Eucchner)2, 1980.

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tausch als Mechanismus für beide Parteien, aber auch für das Gesamtwohl grundsätzlich positive Wirkungen zeitigt – gleichsam gesteuert durch die „unsichtbare Hand“, obwohl jeder Partner sein eigenes Wohl sucht. Er zeitigt diese Wirkungen, ohne dass dies die Intention der Parteien sein muss. Eigennutz führt (regelmäßig) zu Gemeinnutz. Entscheidend ist, dass der Zuschnitt des Austausches primär von den Parteien selbst festgelegt wird und nicht mehr heteronom (durch Zunftvorgaben etc.). Adam Smith legte damit die Grundlage für diejenige Gesellschaftswissenschaft, die heute wohl dominiert, die Wirtschaftswissenschaften, und sah sogar bereits auch die Notwendigkeit, dass staatliche Eingriffe (Regulierung) nötig sein können, um den Austauschmechanismus und die Voraussetzungen seines Wirkens zu erhalten. Dass solchermaßen der Konsens Legitimation und Voraussetzung der Ordnung zwischen den Parteien ist, also Regel setzend wirkt, wurde wohl nie wieder so schön in Worte gefasst wie in Art. 1134 des französischen Code Civil von 1804, der statuiert: “Les conventions légalement formées tiennent lieu de loi à ceux qui les ont faites.” Die französische Revolution, in deren Umfeld die Gründung der Berliner Universität selbstverständlich ebenfalls zu sehen ist, hat jedoch auch im Verhältnis beider genannten Organisationsrahmen – Staat und Markt – signifikante Verschiebungen gebracht. Es spricht manches für Franz Böhms – historische wie wertende – Interpretation, nach der diese Zeit den Übergang zu einer Privatrechtsgesellschaft brachte und dass dies als Gesellschaftsmodell auf der Grundlage eines normativen Individualismus zu begrüßen ist. Geprägt ist sie durch einen grundsätzlichen – quantitativen und normativen – Vorrang konsensualer Schaffung von Ordnung (im Geiste einer Gleichordnung) gegenüber hierarchischen Mitteln der Gesellschaftsgestaltung und -führung.4 Bei all dem verwundert es zuletzt nicht, dass auch die Kunst, diese „Seele der Gesellschaft“, Ähnliches offenbart und im Drama um 1800 alle Personen zu verhandeln beginnen, Verträge schließen, zwischen den verschiedenen Schichten, dass das Ringen um den Konsens ganz in den Vordergrund tritt, etwa in der Minna von Barnhelm, aber auch im Zerbrochenen Krug und 4 Böhm Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO 17 (1966) 75; Canaris Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, FS Lerche 1993, 873; Mestmäcker Franz Böhm, in: Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.) Deutschsprachige Zivilrechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler – eine Ideengeschichte in Einzeldarstellungen, Band 1, 2007, 31; Riesenhuber (Hrsg.) Privatrechtsgesellschaft – Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 2007; Zöllner Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, 1996. Zur Ausweitung dieses Konzepts auch auf eine Abwehr gegen nationalstaatliche Macht, die nunmehr über die EG-Grundfreiheiten und das EG-Wettbewerbs- und -Beihilfenrecht kontrolliert wird: Grundmann The Concept of the Private Law Society after 50 Years of European and European Business Law, 16 (2008) ERPL 553 (deutsche Fassung in Riesenhuber a.a.O., 105); durchaus nicht unähnlich Maine Ancient Law, 1885, 170: „. . . the movement of the progressive societies has hitherto been a movement from Status to Contract.“

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überall in Europa.5 1810 und die Jahre zuvor brachten also vor allem drei Entwicklungen von fundamentaler Bedeutung für Vertrag und Vertragsdenken: Alle handeln und schließen Verträge und das ist gut so – von der Moralphilosophie bis zum bürgerlichen Drama. Selbst hoheitliche Gewalt wird konzeptionell als im Konsens gründend verstanden. Und zwischen dem einen und dem anderen, der hierarchischen Regelsetzung einerseits und der konsensualen andererseits, verschieben sich die Gewichte dramatisch zugunsten Zweiterer. Als Folie für die gegenwärtige Entwicklung ist all dies allemal wichtig. Für den zu feiernden Zeitraum von 200 Jahren stellt sich freilich folgerichtig die Frage, ob derzeit ein Einschnitt in Vertragsdenken, Vertragsdogmatik und praktischer Wirklichkeit zu konstatieren ist, der annähernd ebenso gewichtig oder doch zumindest signifikant ist. Diese Frage ist letztlich Gegenstand dieses Beitrags. Um jedoch die Antwort zumindest teilweise vorweg zu nehmen: In den Punkten, die unter 1. bis 3. im zweiten Abschnitt (II.) behandelt werden, werden in der Tat doch sehr grundlegende Änderungen bei den maßgeblichen Ebenen ebenso wie in einem zentralen Inhaltsaspekt gesehen, so grundlegend, dass von einer echten Entwicklungsschwelle gesprochen werden sollte. Umgekehrt bildet freilich die Entdeckung des Konsenses als universales Lenkungsinstrument um 1800 einfach einen „Paukenschlag“, den es vergleichbar äußerst selten gibt.

II. Institutionelle Rahmenbedingungen und Fragen des Gesamtzuschnitts Fragt man nach dem Betrachtungsgegenstand, dem Vertragsrecht, so ist seine „Zukunft“ – so der Gegenstand des Beitrages – offensichtlich nicht allein im nationalen Vertragsrecht zu sehen. Damit ist der größere institutionelle Zuschnitt zwingend ebenfalls in den Blick zu nehmen. Dieser freilich betrifft nicht nur die neuen Regelsetzer (unten 1.), sondern auch die Inhalte: vor allem den Bezug zum „Nachbargebiet“ Verfassungsrecht und zu anderen Tendenzen einer „Materialisierung“ (unten 2.). Dabei sollen Europäisierung und Materialisierung als die aller wichtigsten Punkte – institutionell und inhaltlich – ganz am Anfang stehen. Es folgen mit den Überlegungen zu Kodifikation (unten 3.) und Generalisierung (unten 4.) zwei Punkte, die jeweils die in unserer komplexen Welt unvermeidbare Ausdifferenzierung zum Gegenstand haben und vor allem für eine mögliche Europäische Kodifizierung von Bedeutung sind. Wichtig ist in all dem nicht zuletzt auch der Bezug zu den „Überschneidungs-„ oder „Nachbargebieten“ Verbraucherrecht, Regulierung, Organisationsrecht (unten 6.). In der „Materialisierung“ 5

Vgl. nur Vogl Kalkül und Leidenschaft – Poetik des ökonomischen Menschen, 2004.

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sehe ich sogar die signifikanteste allgemeine inhaltliche Entwicklung überhaupt, weshalb sie im Folgenden relativ früh in den Blick genommen wird. 1. Ausgangspunkt: Neue Ebenen und Regelsetzer a) Supranationale Ebene Die Zukunft des Vertragsrechts ist nahezu sicherlich weniger national als heute, vielleicht etwas internationaler, vor allem jedoch noch stärker supranational – Europäisch – geprägt als heute. Bereits heute sind aufgrund der Entwicklungen zur sog. richtlinienkonformen Auslegung und zur überschießenden Umsetzung folgende Gebiete zwingend oder jedenfalls im Zweifel nicht primär nach nationaler Methodik, sondern primär nach europäischer Vorgabe – anhand der jeweiligen Richtlinie – auszulegen:6 (i) das Informationsregime im vorvertraglichen Bereich, bis hin zur Werbung; die regelmäßig ganz am Anfang steht; (ii) das Recht des Vertragsschlusses in Fernabsatz, elektronischem Geschäftsverkehr und bei Haustürgeschäften (einschließlich Informations- und Widerrufsrechten), nicht jedoch im traditionellen Präsenzgeschäft; (iii) das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, wobei nur der Referenzpunkt, das jeweilige dispositive Recht, von dem nicht allzu sehr abgewichen werden darf, unharmonisiert ist: (iv) das Antidiskriminierungsrecht; (v) das Recht der Leistungsstörungen im Kaufrecht und (da hierauf verwiesen wird) generell das Leistungsstörungsrecht des Allgemeinen Schuldrechts, mit gewissen Ausnahmen beim Schadensersatzanspruch, die freilich durch die derzeit vorgeschlagene EG-Verbraucherrechte-Richtlinie ebenfalls zurückgedrängt würden; (vi) recht flächendeckend fast alle zentralen Typen des Bankvertragsrechts und der volumenstarken Verträge des Tourismus, teils auch des Versicherungswesens und des geistigen Eigentums (Software etc.); (vii) wichtige Vertragsphänomene des Gesamtbereichs Vertrieb. All diese Bereiche werden zwar in der nationalen Rechtspraxis und -literatur häufig noch immer nicht wirklich auf dem Hintergrund des supranationalen „Originals“ erörtert. Umgekehrt steht jedoch bei EuGH, BVerfG und BGH nicht wirklich in Zweifel, dass ebendies – eine Auslegung nach dem Europäischen Original – methodisch der einzig zutreffende Ansatz ist, etwa im Wege der richtlinienkonformen Auslegung, auch bei sog. überschießender Umsetzung. Es ist eine Frage der Zeit, dass sich auf Grund von Vorlageverfahren auch das Europäische Fallrecht verbreitert und entsprechend prägend wird und dass dieser Ansatz in neuen, europaoffenen Juristengenerationen immer mehr mit Leben gefüllt wird. 6 Gesamtkommentar zu allem Folgenden (und Nachweise zu den Rechtsakten etc.) bei: Grundmann Europäisches Vertragsrecht, 2. Aufl. 2010/11.

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Umgekehrt ist auf der internationalen Ebene zwar mancher Impuls weiterhin zu erwarten. Dass nochmals ähnlich breit ansetzend wie im UN-Kaufrecht von 1980 legiferiert wird, dass also nochmals ein internationales, vergleichbar breites (wenn auch praktisch häufig abbedungenes) Vertragsrechtsmodell geschaffen wird, ist hingegen auf absehbare Zeit unwahrscheinlich. Wichtige internationale Rechtsakte verlieren gar an Bedeutung, namentlich das Internationale Wechsel- und Scheckrecht. Die dominante Ebene ist die mittlere, diese „Regionalisierung der Welt“ ist wohl auch andernorts zu erwarten. Die eigentliche Frage ist weniger, ob die Europäische Ebene zunehmend die dominante sein wird, sondern in welcher Form. Derzeit sind vor allem zwei Entwicklungslinien denkbar: Möglich ist, dass sich die Harmonisierung weiter verdichtet und dass sie auf Grund eines verstärkten Vollharmonisierungsansatzes auch immer stärker tatsächlich die nationalen Vertragsrechte verdrängt. Diesen Weg scheint derzeit vor allem der Gesetzgeber einer EG-Verbraucherrechte-Richtlinie beschreiten zu wollen. Es ist jedoch auch denkbar, dass es in der Tat zu einer Europäischen Kodifikation kommt, wie sie vor allem das Europäische Parlament favorisiert und dies als optionales Instrument, wie dies jedenfalls derzeit einheitlich von allen EG-Gesetzgebungsorganen favorisiert wird, soweit sie denn überhaupt eine Kodifikation in den Blick nehmen.7 Eine offene Folgefrage in diesem zweiten Szenario geht dahin, ob es durch Kombination oder Fortentwicklung solch eines Kodex jedenfalls mittelfristig nicht doch zu einer ähnlich weit reichenden Verdrängungswirkung gegenüber dem nationalen Recht kommt, namentlich: ob (i) ein optionales Europäisches Instrument kombiniert wird mit dennoch fortbestehender breiter Harmonisierung oder ob ein optionales Instrument mittelfristig die nationalen Vertragsrechte ganz ablöst (exklusive Kodifikation). Eine echte Alternative bildet das optionale Instrument also nur, wenn umgekehrt (ii) dieses optionale Instrument optional bleibt und die Harmonisierung eher zurückgenommen wird, dieses optionale Instrument also eher eine echte Alternative zu den nationalen Rechten bilden soll und diese wieder „freier“ von supranationalem Einfluss fort existieren. Im ersten Fall (beiden Varianten) überlagert das Europäische Regime das natio7 Vgl. zunächst die Ratsentschließung auf dem Gipfel Tampere, SI(1999) 800, n. 39; dann die drei „Mitteilungen“ der EG Kommission: Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Privatrecht, KOM(2001) 398 endg. = ABl.EG 2001 C 255/1; vgl. die internationale Diskussion hierzu in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.) An Academic Green Paper on European Contract Law, 2002; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan vom 12.2.2003, KOM(2003) 68 endg. = ABl.EG 2003 C 63/1; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen, KOM(2004) 651 endg. Dann die beiden Fortschrittsberichte zum Gemeinsamen Referenzrahmen, KOM(2005) 456 endg. und KOM(2007) 447 endg.

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nale weitgehend oder verdrängt es gar vollständig (viel Vereinheitlichung), im zweiten tritt es neben nationale Modelle (Leitbildfunktion eines Regimes ohne Exklusivitätsanspruch). Aus meiner Sicht sprechen gute inhaltliche Gründe für die zweitgenannte Spielform des Kodifikationsszenarios, also die Koexistenz eines supranationalen optionalen Instruments und relativ freier nationaler Rechte – mit echter und vollständiger Wahlfreiheit zwischen beiden Alternativen (auch im Inlandsfall).8 Für eine Kodifikation (als „optionales Instrument“, in welcher Form auch immer) spricht jedenfalls im Vergleich zu stets weiter fortschreitender Harmonisierung vor allem die ungleich größere Chance, System zu bilden und für ein modernes Vertragsrecht des 21. Jahrhunderts modellhaft zu wirken und dies mit weltweit deutlicher Sichtbarkeit. Für das Vertragsrecht und seine inhaltliche Durchformung wäre demnach eine gut vorbereitete Kodifikation auf Europäischer Ebene hilfreicher als fortschreitende Harmonisierung. Wie auch immer supranationales Recht fortentwickelt wird, sicher ist, dass die Stilmerkmale inhaltlich und in Diskussionsform prägend sein werden, die charakteristisch für Europäisches Vertragsrecht sind und die von denen im nationalen Recht durchaus signifikant abweichen.9 Deutlich stärker steht dort die Bewertung der jeweiligen Lösungen im Vordergrund und spielen daher auch interdisziplinäre Ansätze eine besonders gewichtige Rolle. Kaum zu unterschätzen ist auch die Neuerung, die sich ergäbe, wenn tatsächlich auch im innerstaatlichen Fall nationales Vertragsrecht und optionaler Europäischer Kodex gleichermaßen gewählt werden könnten, also mehrere Regelwerke (nicht nur AGBs) wahlweise als Alternativen zur Verfügung stünden – ganz wie bisher im Gesellschaftsrecht. b) Private Ordnung und Regelsetzer? Als Alternative oder in Ergänzung zur Europäisierung des Vertragsrechts wird teils privat geschaffenes Recht gesehen. Teils wird gar davon ausgegangen, dass die Standardvertragswerke, die die großen internationalen Kanzleien schreiben und praktizieren, eine Europäische Harmonisierung oder gar Kodifikation weitgehend überflüssig machen.10 8 Breite Diskussion (mit Meinungsbild) bei Grundmann/Kerber European System of Contract Laws – a Map for Combining the Advantages of Centralised and Decentralised Rule-making, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.) (Fn. 7), 295; Kerber/Grundmann An Optional European Contract Law Code – Advantages and disadvantages, 21 (2005) European Journal of Law and Economics 215; anders in der Tendenz beispielsweise Gomez The Harmonisation of Contract Law through European Rules – a Law and Economics Perspective, 4 (2008) ERCL 89. 9 Dazu etwa: Hesselink The New European Private Law, 2002; und unten IV. 10 Vor allem Merkt Angloamerikanisierung und Privatisierung der Vertragspraxis versus Europäisches Vertragsrecht, ZHR 171 (2007) 490, bes. 506–508 (für Handelsverträge grundsätzlich kein Raum für Europäisches Vertragsrecht); interessant zu den Phasen der

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Sollte eine Europäische Kodifikation in der Tat weitgehend von einer Wissenschaftler- oder sonstigen Expertengruppe ausgearbeitet werden,11 so würde dies durchaus noch traditionellen Pfaden staatlicher oder hoheitlicher Rechtssetzung folgen, wie sie auch die supranationale Gesetzgebung beschreiten könnte. Denn solche Vorarbeiten finden sich auch etwa für die großen Gesetzbücher in Frankreich, Österreich, der Schweiz und Deutschland. Abgesehen von solcher – nichtstaatlicher – Vorarbeit ist genuine „private Ordnung“ derzeit in Deutschland, Europa und darüber hinaus im Gesellschaftsrecht ungleich präsenter als im Vertragsrecht, nämlich als privat, nicht staatlich gesetzte Regelwerke, die in unveränderter Form, wenn auch erst nach einem Zulassungsakt, als positives Recht Anwendung finden, namentlich im Bereich Bilanzrecht, Corporate Governance und Prospektstandards. Im Vertragsrecht sind die von großen internationalen Kanzleien geschaffenen und praktizierten Standardvertragswerke nicht vergleichbar, ihnen fehlt die einheitliche Formulierung für ganze Märkte und die hierfür nötige Öffentlichkeit; es handelt sich schlicht um vielfach praktizierte Vertragswerke („Muster“, „Formulare“), teils AGB – auch wenn eine gewisse Konvergenz offensichtlich erscheint. Am ehesten den genannten Beispielen aus dem Gesellschaftsrecht vergleichbar sind von den maßgeblichen Verbänden ausgehandelte AGBs, wie die VOB, die in Zukunft durchaus nicht nur auf nationaler Ebene, sondern europaweit denkbar, ja sogar wahrscheinlich erscheinen. Das adäquate Umfeld hierfür zu schaffen, also die tatsächliche Zirkulation bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Schutzbedürfnisse zu ermöglichen, ist eine Frage der Fortentwicklung der EG-Klausel-Richtlinie, Verfestigung solchen Kautelarrechts bis hin zur Gesetzgebungsberatung (Formulierung, Standardisierung, Empfehlung) und bis hin zum Eingang in formelle Gesetze: Quack Governance durch Praktiker – Vom privatrechtlichen Vertrag zur transnationalen Rechtsnorm, in: Botzern/Hofmann/Quack/Schuppert/Straßheim (Hrsg.) Governance als Prozeß – Koordinationsformen im Wandel, 2009, 575; zum Gesamtbereich private Ordnung: Ellickson Order without Law – How Neighbours Settle Disputes, 1991; Bachmann Private Ordnung – Grundlagen ziviler Regelsetzung, 2006. 11 Derzeit natürlich die Diskussion um den Entwurf eines Gemeinsamen Referenzrahmens: von Bar/Clive/Schulte-Nölke et al. for the Study Group on a European Civil Code and Research Group on EC Private Law (Acquis Group) (Hrsg.) Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Draft Common Frame of Reference (DCFR), 2008, inzwischen überarbeitete Ausgabe mit Kommentierungen. Überwiegend wird ihm freilich in der Wissenschaft die Potenz abgesprochen, als hinreichende Grundlage für eine Europäische Kodifikation zu fungieren: etwa Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann Der Gemeinsame Referenzrahmen für das Europäische Privatrecht – Wertungsfragen und Kodifikationsprobleme, JZ 2008, 529; Ernst Der „Common Frame of Reference“ aus juristischer Sicht, AcP 208 (2008) 248; Grundmann The Structure of the DCFR – Which Approach for Today's Contract Law?, 5 (2008) ERCL 225. Vgl. jüngst Entscheidung der EG-Kommission zur Einsetzung einer Expertengruppe, ABl.EG 2010 L 105/109. Auf internationaler Ebene parallel die Unidroit-Principles (ursprünglich 1994), an denen ebenfalls parallel weiter gearbeitet wird.

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teils auch der Anwendung der EG-Grundfreiheiten.12 Dass im Vertragsrecht private Regelwerke vergleichbar unverändert durch Zulassungsakt ins Werk gesetzt werden wie im Gesellschaftsrecht und (wie dort) nicht nur für einzelne Branchen, sondern für einen bestimmten Regelungsbereich allgemein, erscheint demgegenüber unwahrscheinlich (jedenfalls außerhalb des Arbeitsvertragsrechts).13 Die Gruppe der Betroffenen ist nicht vergleichbar klar umrissen und durchorganisiert wie im Bilanz- und Prospektrecht und im Bereich der Corporate Governance kapitalmarktorientierter Unternehmen. Und wenn das Verbraucherrecht über die letzten zwei Dekaden eine ähnlich große Dynamik für das Vertragsrecht entfaltete wie das Kapitalmarktrecht für das Kapitalgesellschaftsrecht, so ist (oder war) doch die Skepsis gegenüber Marktkräften und Selbstregulierung bei zentralen Entscheidungsträgern und in der öffentlichen Wahrnehmung im Verbraucherrecht eine ganz andere als im Kapitalmarktrecht. 2. Freiheitsoptimierung bei höherer Schutzintensität Das Konzept einer „Freiheitsoptimierung bei höherer Schutzintensität“, die m.E. wichtigste inhaltliche Entwicklung der letzten Dekaden, erscheint zunächst als Widerspruch in sich. Angesprochen ist das Phänomen, das Canaris mit dem Begriff der „Materialisierung“ umschrieben hat.14 Anschaulich 12 Collins The Freedom to Circulate Documents: Regulating Contracts in Europe, 10 (2004) ELJ 787; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht, ein Aktionsplan vom 12.2.2003, KOM(2003) 68 endg. = ABl.EG 2003 C 63/1, n. 37–39; außerdem Wittacker On the Development of European Standard Contract Terms, 2 (2006) ERCL 51. 13 Phänomene wie ERI, ERA (Einheitliche Richtlinien und Gebräuche für Dokumenteninkassi/-akkreditive) etc., d.h. Regelwerke aus dem Handel heraus, verlieren eher an Bedeutung als dass sie solche gewinnen würden: vgl. Darstellung ERA etwa in MünchKommHGB/Nielsen2, 2009, Zahlungsverkehr Rn. H 6 ff. Zu verweisen ist natürlich auch auf die alte Diskussion um eine lex mercatoria, die freilich außerhalb der genannten ausformulierten Richtlinienwerke nicht auf „private Regelsetzung“ gestützt wird, sondern auf „allgemeine Rechtsgrundsätze“. Durchaus Bedeutung haben außerdem die „privat gesetzten“ Standardisierungsnormen. Dazu Möllers (Hrsg.) Standardisierung durch Markt und Recht, 2008; ders. (Hrsg.) Vielfalt und Einheit – Wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen von Standardbildung, 2008; auch Micklitz Services Standards – Defining the Core Elements and Their Minimum Requirements, www.anec.eu; breit Köndgen Privatisierung des Rechts – Private Governance zwischen Deregulierung und Rekonstitutionalisierung, AcP 208 (2008) 477, 481–494 (auch zu den anderen Phänomenen). 14 Canaris Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000) 273; mit deutlichen Parallelen zum Folgenden schon Bydlinski Fundamentale Rechtsgrundsätze, 1988, 186–202; ders. System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, 71–74 (das genannte Spannungsverhältnis zentral betonend), 147–164, 624– 628; und vor allem schon die Idee von der „verdünnten Freiheit“ bei: L. Raiser Vertragsfunktion und Vertragsgerechtigkeit, FS 100 Jahre deutsches Rechtsleben 1960, 101, 126; zum Folgenden ausführlicher meine Sicht in Grundmann European Contract Law(s) – of

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wird das Phänomen anhand der wichtigsten Beispiele, von denen daher zunächst auszugehen ist, um dann allgemeiner das Phänomen „Freiheitsoptimierung bei höherer Schutzintensität“ zu charakterisieren. Insgesamt geht es um die Tendenz, dass einer Verbürgung materialer Freiheit für beide Vertragsparteien zunehmend mehr Gewicht eingeräumt wird – in Abkehr von einer Betonung maximaler (nur) formaler Freiheit. a) Wichtigste Beispiele heute Eine „Freiheitsoptimierung bei höherer Schutzintensität“ ist vor allem in vier Strängen zu konstatieren: Der erste betrifft die Intensivierung der klassischen Grenzen, die die Privatautonomie in den guten Sitten, bei Täuschung, Drohung und Zwang findet. Diese klassischen Grenzen sind als Kernbereich auch rechtsvergleichend weitgehend konsentiert. Zunehmend wird über diese klassischen Grenzen jedoch hinausgegangen und werden strengere Anforderungen angenommen. Für Deutschland erscheint dieser Strang sogar als besonders prominent, weil er in der vertragsrechtlichen Dogmatik als konzeptionell besonders wichtige Entwicklung verstanden und hervorgehoben wurde, mehr noch als die anderen Stränge: Instrumentalisiert wurden in den prominentesten Entscheidungen die Grundrechte, sie wurden als ein Standard gesehen, dessen Kerngehalt der Richter – und jede sonstige staatliche Stelle – auch im Privatrechtsverhältnis zum Tragen zu bringen hat (Schutzpflichttheorie).15 Die Stoßrichtung hat das Bundesverfassungsgericht unter dem Begriff der „strukturellen Ungleichgewichtslage“ zusammengefasst, bei deren Vorliegen eine Schutzpflicht des Staates zugunsten der schwächeren Partei grundsätzlich bestehe. Inhaltlich handelt es sich freilich keineswegs allein um eine deutsche Entwicklung, nur wurden im Ausland sehr ähnliche Ergebnisse ganz überwiegend unter Fortentwicklung allein der zivilrechtlichen Instrumente erzielt, etwa über eine breitere Auslegung des Begriffes der Täuschung („Haftungserklärung [sei] nur für die Akten“) und des Zwanges („Ihrem Ehemann/Vater jetzt einmal Ihre Liebe beweisen“).16 What Colour?, 1 (2005) ERCL 184 (deutsche Fassung JZ 2005, 860) – und stärker auf das Wirtschafts- und Marktrecht bezogen: Grundmann (Fn. 4), 553. 15 Handelsvertreter- und Bürgschaftsfall: BVerfGE 81, 242–263; 89, 214–236; grundlegend im Schrifttum Canaris Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984) 201; ders. Grundrechte und Privatrecht – eine Zwischenbilanz, 1999. Zu den verschiedenen Theorien der Einwirkung etwa Neuner Privatrecht und Sozialstaat, 1999, bes. 158–161, 170–173; auch Grundmann Constitutional Values and European Contract Law – an Overview, in: ders. (Hrsg.) Constitutional Values and European Contract Law, 2008, 1 (auch mit rechtsvergleichender Übersicht). 16 Breite rechtsvergleichende Darstellung in Cherednychenko Fundamental Rights, Contract Law and the Protection of the Weaker Party – a Comparative Analysis of the Constitutionalisation of Contract Law, with Emphasis on Risky Financial Transactions,

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Den zweiten Strang bilden die Informationsregeln, die das Vertragsrecht in den letzten zwei Dekaden zunehmend flächendeckend zu prägen begannen17 – nachdem eine vergleichbare Entwicklung im Gesellschaftsrecht durch Intensivierung von Bilanz- und Kapitalmarktrecht schon etwas früher zu konstatieren war. Mit prägend war hier eine ausgereifte ökonomische Theorie, entwickelt seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts.18 Für das Kaufrecht wurde – im Vergleich zwischen Anfang und Ende des 20 Jahrhunderts – von einem Übergang vom caveat emptor-Prinzip zu einem caveat praetor-Prinzip gesprochen – und dies sogar für das englische Recht, das tendenziell zu den weniger schutzintensiven zählt.19 In der Tat können der EG-Kaufrechts-Richtlinie jedenfalls zwei Grundideen entnommen werden: Den Anbieter treffen detaillierte Informationsobliegenheiten, soweit sein Angebot den Marktdurchschnitt unterschreitet (er muss den „Defekt“ ziemlich genau benennen), und er hat für jede von der Absatzkette gegebene präzise Information, selbst solche in der Werbung, inhaltlich auch einzustehen. Das ist für den Kunden ein „bequemes“ Informationsregime – gut erkennbar bzw. mit einer „Bringschuld“ des Anbieters. Mit Letzterem wird dann Information auch Vertragsinhalt und als solcher durchsetzbar (oder Anfechtungsgrund). Dies betrifft zunächst direkt nur den Kaufvertrag, an der Durchführung dieses Gedankens allgemein im Vertragsrecht wird jedoch laufend gearbeitet. In Fällen der Informationspflichtverletzung bilden das Recht des Kunden, sich vom Vertrag zu lösen, und der Anspruch auf das positive Interesse die für den Anbieter ungleich stärker belastenden Rechtsfolgen, umgekehrt für den Kunden regelmäßig auch die attraktivsten, auch aus Gründen der Beweisbarkeit. Auch eine schon etwas ältere Entwicklung

2007; dies. EU Fundamental Rights, EC Fundamental Freedoms and Private Law, 14 (2006) ERPL 23. Vgl. auch Grundmann (Sammelband vorige Fn.). 17 Zum Informationsmodell im Vertragsrecht: Fleischer Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, 2001; Grundmann Information, Party Autonomy and Economic Agents in European Contract Law, 39 (2002) CMLR 269; Grundmann/Kerber/Weatherill (Hrsg.) Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market, 2001; Schulze/Ebers/ Grigoleit (Hrsg.) Informationspflichten und Vertragsschluss im Acquis Communautaire, 2003. Übersichten zu den Regeln auch in: Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers EG-Verbraucherrechtskompendium, 2008. 18 Grundlegend Akerlof The Market for ,Lemons‘: Quality Uncertainty and the Market Mechanism, 84 Quarterly Journal of Economics 488 (1970); und vorher schon Stigler The Economics of Information, 3 Journal of Political Economy 213 (1961); vgl. die breite Darstellung (rechtlich und ökonomisch) von Fleischer (Fn. 17); außerdem Magat in: Newman (Hrsg.) The New Palgrave Dictionary of Economics, 1998, Band 2, 307–310 (‚Information regulation‘); und der Sammelband zu Vertrags- und Wirtschaftsrecht von Grundmann/ Kerber/Weatherill (vorige Fn.). 19 Hedley Quality of goods, information, and the death of contract, (2001) J.B.L. 114, bes. 123; zum Folgenden auch Grundmann Deutsches Kaufrecht nach der Reform – vom römischrechtlichen zum anglo-europäischen ius commune?, Jahrbuch für italienisches Recht 17 (2004) 51, 61 f.

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ist natürlich im Kontext der Informationsökonomie und eines Informationsmodells zu sehen: die Entwicklung hin zu einer allgemeinen schärferen Inhaltskontrolle von vorformulierten Klauseln (AGB).20 Den dritten Strang bilden die zunehmend ausgebildeten Widerrufsrechte. Teils als Ausdruck eines stärker kompetitiven Vertragsrechts gesehen,21 teils als Reuerechte umschrieben, die eine Lösung vom Vertrag gänzlich ohne Grund erlauben,22 erscheinen mir diese Rechte doch auf zwei Hauptüberlegungen zu beruhen: Soweit die Widerrufsrechte gegeben werden, weil der Vertrag als Haustürgeschäft oder im Fernabsatz abgeschlossen wurde (außerdem beim Timesharing), steht der Gedanke im Vordergrund, dass mit diesen Absatztechniken erheblich vom Modell eines Vertragsabschlusses abgewichen wird, vor dem sich beide Seiten hinreichend informieren können: Auf Grund der Absatztechnik scheidet für den Kunden ein Produktvergleich oder eine Produktinspektion aus und/oder ist seine Entscheidung, ob er überhaupt solch einen Vertrag abschließen will, tendenziell unfrei. In verschiedenen Konstellationen des Fernabsatzes ist das im Einzelnen schwerer zu begründen oder gar fragwürdiger. Dennoch ist im Grundsatz zu konstatieren: Die einfache Antwort in diesen Fällen besteht darin, dass dem Kunden die Informationsmöglichkeit (Produktvergleich) bzw. die Möglichkeit einer Entscheidung ohne Zwang nachgeliefert wird, dies in Form einer kurzen Frist, während der er nochmals Information einholen und sich entscheiden kann. Entscheidend ist, dass die ursprüngliche Entscheidung in der Tat im Wesentlichen ohne Grund und ohne Nachteile (Kosten) revidiert werden kann, umgekehrt freilich nur für eine kurze Zeit, um ex-post-Opportunismus seitens des Kunden kaum Raum zu geben. Davon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen der Vertragsschluss durchaus informiert und auch zwangfrei erfolgen konnte, in denen jedoch das Reuerecht als neuere Form des Übereilungsschutzes zu sehen ist: Bei einigen als existentiell zu bezeichnenden Verträgen – etwa bei der Lebensversicherung – wird ein Widerrufsrecht unabhängig von der Absatzform eingeräumt. Die Begründung ist hier weniger einfach, insbesondere auch, ob nicht andere Formen des Überei20 Zum (heute wohl herrschenden) informationsökonomischen Verständnis dieser Inhaltskontrolle vgl. Adams Ökonomische Begründung des AGB-Gesetzes – Verträge bei asymmetrischer Information, Betriebsberater 1989, 781, 787; Schäfer/Ott Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts4, 2005, 513–515; auch Richter/Furubotn Neue Institutionenökonomik3, 2003, 154 f. 21 Micklitz Perspektiven eines Europäischen Privatrechts – Ius Commune praeter legem?, ZEuP 1998, 253, 265–267 (der Kunde bleibt für Konkurrenzangebote länger offen); dagegen etwa Riesenhuber Europäisches Vertragsrecht2, 2006, Rn. 943–945. 22 Lorenz Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997, etwa 167 et passim; über die kurze Systematisierung im Folgenden weit hinaus gehend Kalss/Lurger Zu einer Systematik der Rücktrittsrechte insbesondere im Verbraucherrecht, JBl. 1998, 89, 153 und 219; zusammengefasst in Lurger/Augenhofer Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht2, 2008, 221–226.

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lungsschutzes und der Beratung besser geeignet wären. Dies stellt freilich die Charakterisierung der Gesamtentwicklung nicht in Frage. Den vierten großen Strang bildet das Antidiskriminierungsrecht, das im letzten Jahrzehnt über das Arbeitsvertragsrecht hinaus ausgedehnt wurde, jedenfalls für die Fälle von Geschlechts- und Rassendiskriminierung, in Deutschland auch für diejenigen der Alters- und Weltanschauungsdiskriminierung.23 Vor allem in Deutschland mehrfach als das Ende eines in der Privatautonomie gründenden Vertragsrechts gegeißelt,24 sind diese Verbote in der Tat von äußerster Wichtigkeit für eine Charakterisierung der Entwicklung: b) Charakterisierung des Spannungsverhältnisses und seine Rahmenbedingungen Alle genannten Entwicklungen – und vor allem das Antidiskriminierungsrecht, die Grundrechtsüberprüfung von Verträgen, aber auch die Ausbildung eines Informationsmodells – wurden vielfach als Zeichen einer zunehmenden Freiheitsbeschränkung im Vertragsrecht verstanden.25 Die Entwicklung 23 Richtlinie 2000/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl.EG 2000 L 180/22; Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13.12.2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. EG 2004 L 373/37. Vgl. hierzu, vor allem zur im Folgenden angesprochenen Wirktheorie: McCrudden/Kountouros Human Rights and European Equality Law, Oxford Law Working Paper 8/2006; Fredman Equality: A New Generation, 30 (2001) Industrial Law Journal 145; Howard Anti Race Discrimination Measures in Europe: An Attack on Two Fronts, 11 (2005) ELJ 468; Mabbett The Development of Rights-based Social Policy in the European Union: The Example of Disability Rights, 43 (2005) JCMS 97–120; Masselot The State of Gender Equality Law in the European Union, 13 (2007) ELJ 152; meine eigene Sicht Grundmann (Fn. 4), 571–575. 24 Vgl. etwa Picker Antidiskriminierungsgesetz – Der Anfang vom Ende der Privatautonomie?, JZ 2002, 880; Braun Übrigens – Deutschland wird wieder totalitär, JuS 2002, 424; von Koppenfels Das Ende der Vertragsfreiheit?, WM 2002, 1489, Säcker „Vernunft statt Freiheit!“ – Die Tugendrepublik der neuen Jakobiner – Referentenentwurf eines privatrechtlichen Diskriminierungsgesetzes, ZRP 2002, 286. 25 Vgl. neben den Nachw. vorige Fußnote für die Debatte um die Grundrechtseinwirkung im Privatrecht etwa Zöllner Regelungsspielräume im Schuldvertragsrecht – Bemerkungen zur Grundrechtsanwendung im Privatrecht und zu den sogenannten Ungleichgewichtslagen, AcP 196 (1996) 1, 3 f. et passim; und für die Informationsregeln etwa Martinek Unsystematische Überregulierung und kontraintentionale Effekte im Europäischen Verbraucherschutzrecht oder: Weniger wäre mehr, in: Grundmann (Hrsg.) Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts – Gesellschaftsrecht, Arbeitsrecht, Schuldvertragsrecht, 2000, 511. In der internationalen Diskussion: Atiyah The rise and fall of the freedom of contract, 1979; Beale Inequality of Bargaining Power, 6 Oxf.J.Leg.Stud. (1986) 123; Thal The Inequality of Bargaining Power Doctrine – the Problem of Defining Contractual Unfairness, 8 Oxf.J.Leg.Stud. (1986) 17; Gilmore The death of contract, 1974; dagegen von Hayek Law, legislation and liberty – a new statement of the

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kann jedoch auch aus einem anderen Blickwinkel gesehen werden: Alle genannten Entwicklungen können auch als der Versuch gewertet werden, die tatsächlich ausgeübte Freiheit in der Summe beider Parteien möglichst zu maximieren. Entscheidend wäre dann also das Bemühen, in Fällen einzugreifen, in denen eine Partei materiell ohne solch einen Eingriff relativ unfrei handeln würde oder gar nicht handeln könnte, und dies um den Preis, dass die Freiheit der anderen Partei beschnitten wird, freilich deutlich weniger beschnitten wird, als der Freiheitsgewinn auf der anderen Seite ausfällt. Ob dieses Ziel stets erreicht wird, ist zwar fraglich. Dass gerade das Genannte angestrebt wird und darin die Hauptintention liegt, ist jedoch wohl kaum zu bezweifeln. So ist für die Informationsnormen charakteristisch, dass es sich zwar regelmäßig formal um zwingende Vorgaben und Normen handelt, diese jedoch gänzlich anders wirken als inhaltlich zwingende Regeln. Denn sie geben den Inhalt des Vertrages gerade nicht vor, sondern sollen es ermöglichen, dass beide Parteien möglichst gehaltvoll an der Gestaltung des Vertrages mitwirken können oder dessen Gehalte verstehen, um ihre Zustimmung möglichst frei zu geben. Soweit Widerrufsrechte (wie meist) dem Ziel dienen, dass der betroffene Kunde die ursprünglich fehlende Informationsmöglichkeit oder freie Entscheidungsmöglichkeit nachgereicht erhält, ist die Charakterisierung offensichtlich eine ähnliche. Und selbst in der Grundrechtsrechtsprechung, namentlich in den Bürgschaftsentscheidungen, ist Vergleichbares zu konstatieren: Wägt man den Freiheitsgewinn des potentiellen Bürgen einerseits, der in den entschiedenen Fällen erheblich unter psychischen Druck gesetzt wurde und auch recht gezielt falsch über die Folgen informiert wurde, und den Freiheitsverlust der Kreditinstitute andererseits ab, bei denen durch strengere Standards einzig eine Abschlusschance reduziert wird, so scheint in der Summe doch recht deutlich ein Freiheitsgewinn zu entstehen. Selbst das Antidiskriminierungsrecht kann unter dieser Perspektive gesehen werden. Bewusst wird es auf öffentliche Verträge, teils Massenverträge beschränkt, in denen das Anliegen individueller Auswahl typischer Weise geringer ist. Bewusst wurde um sehr differenzierte Rechtfertigungsgründe und breite Ausnahmebereiche lange gerungen. Die richtige Justierung war offensichtlich ein besonderes Anliegen. Und zugleich wurden jedenfalls mit Geschlecht und Rasse zwei Kriterien zuvörderst herausgegriffen, in denen über die Jahrzehnte hinweg auch nicht ansatzweise negiert werden kann, dass nach ihnen massenhaft diskriminiert wurde. Und dies bedeutete eben auch erhebliche Unfreiheit im Zugang zu teils sehr wichtigen Gütern – etwa liberal principles of justice and political economy, Band 2, the mirage of social justice, 1976; auch Buckley (Hrsg.) The fall and rise of freedom of contract, 1999; sowie Grundmann/Kerber/Weatherill (Fn. 17); sehr differenziert auch Trebilcock The Limits of Freedom of Contract, 1993.

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Wohnraum oder Versicherungsschutz – oder persönliche Herabsetzung auf Grund der Begleitumstände. Ob das im Vertragsrecht beim öffentlichen Angebot von Gütern und Dienstleistungen gleichermaßen zutrifft wie im Arbeitsrecht, mag im Einzelnen diskutabel sein,26 immer wieder gilt jedoch: Der Freiheitsgewinn auf der einen Seite ist tendenziell und meistens größer, in der Summe wohl tatsächlich sogar deutlich größer als der Freiheitsverlust auf der anderen. Das scheint mir jedenfalls jeweils der gewollte Ansatz. Ziel ist es, nicht über einen formal verstandenen Freiheitsbegriff für beide Parteien diejenigen Potentiale zu verspielen, in denen, um bei der einen Partei die Freiheit materiell zu vergrößern, in die Freiheit der anderen Partei zwar eingegriffen werden muss, doch deutlich weniger tief als der Zugewinn gegenüber ausfällt. Und das gilt selbst, soweit etwa im Antidiskriminierungsrecht Rationalitätsanforderungen an privates Handeln auch mit dem Ziel gesetzt werden, den gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu verändern. Interessant ist, dass diese Suche nach Freiheitspotentialen zunehmend auch den Vertragsorganismus in seiner ganzen Dauer in den Blick nimmt. Sehr charakteristisch ist insofern beispielsweise § 490 Abs. 2 BGB und die diesem vorangegangene höchstrichterliche Rechtsprechung. Kreditinstituten sollte die Chance zu ex-post-Opportunismus genommen werden, die darin liegt, dass sie, auch wenn sie für ihre Verluste entschädigt werden, Kreditnehmer nicht vorzeitig aus Kreditverträgen entlassen (um so Freikaufgebühren durchsetzen zu können, die ihren Schaden teils deutlich überstiegen).27 Fragt man nach den Rahmenbedingungen, die solch eine Suche nach immer stärker ausdifferenzierten Lösungen begünstigten, Lösungen, mit denen die Freiheitspotentiale in ihrer aufaddierten Summe immer weiter ausgelotet werden, so scheint eines charakteristisch. Diese Lösungen entstanden in einem Umfeld institutionell reichen Wettbewerbs: Verschiedene Gerichte hatten daran ihren Anteil, Bundesgerichtshof, Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof wirkten zusammen, Letzterer vor allem im Bereich Informationsparadigma und Antidiskriminierung. Zugleich wirkte 26 Für die Rassendiskriminierung auch im Vertragsrecht jüngst wieder plastisch Wallraff In fremder Haut, ZEITMagazin 15.10.2009; differenzierte Diskussion u.a. bei Eidenmüller Party Autonomy, Distributive Justice and the Conclusion of Contracts in the DCFR, 5 (2009) ERCL 109, bes. 121–123; Riesenhuber Verbot der Geschlechtsdiskriminierung im Europäischen Vertragsrecht, JZ 2004, 529; ders. (Hrsg.) Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz – Grundsatz- und Praxisfragen, 2007 (mit Einleitung zu den Europarechtlichen Grundlagen). 27 BGHZ 136, 165–172; BGH NJW 1997, 2878–2879. Eine heute etablierte Fallgruppe des efficient breach, die bei guter Nachweisbarkeit des positiven Schadens (wie hier) rechtspolitisch zu befürworten ist: vgl. Grundmann/Hoerning Leistungsstörungsmodelle in Europa im Lichte der ökonomischen Theorie – nationales, europäisches und internationales Recht, in: Eger/Schäfer (Hrsg.) Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung – Beiträge zum X. Travemünder Symposium zur ökonomischen Analyse des Rechts, 2007, 420, 429–439.

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wohl der Wettbewerb der Lösungen im Rechtsvergleich stimulierend (dazu später noch), desgleichen das Zusammenspiel verschiedener Disziplinen, wobei der Einfluss ökonomischer Modelle bei den Informationsregeln durchaus prägend und m.E. kaum wegzudiskutieren ist – ebenso wie in jüngster Vergangenheit und Zukunft zunehmend das Wissen um Grenzen der Rationalität und der Einfluss der Verhaltenswissenschaften. Die Suche nach Freiheitspotentialen und optimalen Gleichgewichten wäre zu einem Gutteil Frucht eines Wettlaufes von Institutionen, Rechtsordnungen und Disziplinen. Generell geht mit diesem Ausloten der Freiheitspotentiale durch Abwägung der Freiheit aller Betroffenen eines einher: die immer engere Verwobenheit zwischen Vertragsfreiheit einerseits und Regulierung andererseits. Anfangs, im Wettbewerbsrecht als dem „Urvater“ von Marktregulierung und -ordnung, war die Trennung vom Vertragsrecht als einem primär Gestaltung erleichternden Recht noch relativ deutlich. Heute finden sich demgegenüber beide Aspekte – der Freiheitsausübung ermöglichende und der Freiheit erhaltende und schützende – zunehmend in enger Verquickung. Vertragsrecht ist – ähnlich wie lange schon Gesellschaftsrecht – auch in seinem Innersten zunehmend regulierend durchwirkt. Mit der Suche nach – in der Summe – größeren Freiheitspotentialen als charakteristischem Gegenwartsphänomen und als Zukunftsaufgabe geht also zwingend die genannte Verwobenheit zwischen Vertragsfreiheit einerseits und Regulierung andererseits als ebenso charakteristisches Gegenwartsphänomen und als Zukunftsaufgabe einher. Gerade für das Vertragsrecht erscheint daher eine Konzeption angezeigt, die jedenfalls auch die wirtschaftsrechtliche Theoriebildung berücksichtigt, möglichst in engem Austausch mit den Gesellschaftsrechtswissenschaften (Fn. 42). Nun mag eingewandt werden, diese Suche nach Freiheitsoptimierung bei gleichzeitiger Schutzintensivierung sei doch eine allzu allgemeine Tendenz, als dass ihr ein relevanter Aussagegehalt eignen könnte. Wenn damit gemeint ist, dass Vergleichbares auch in anderen Rechtsgebieten beobachtet werden kann, ist der Einwand für die vorliegenden Ausführungen kaum von Bedeutung. Denn dann ist das, was hier für das Vertragsrecht konstatiert wird, als breiteres, für die Rechtsentwicklung allgemein zu beobachtendes Phänomen zu sehen. Die beschriebene Tendenz wäre dann allgemein tauglich als Charakteristikum, das folglich sichtlich eine Schwelle markieren würde. Für das Vertragsrecht relevant wäre der Einwand erst, wenn das Beschriebene so sehr im Allgemeinen bleibt, dass man letztlich Gleiches schon immer konstatieren konnte, wenn also das Beschriebene (im Vertragsrecht) die letzten Dekaden nicht signifikant von der Entwicklung im ganzen 19. Jahrhundert und in den sieben oder acht vorangegangenen Dekaden des 20. Jahrhunderts unterschiede. Eben dies ist jedoch m.E. in der Tat der Fall: Informationsnormen, Widerrufsrechte, Antidiskriminierungsregeln im Ver-

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tragsrecht gab es offensichtlich vor den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts auch nicht in annähernd vergleichbarem Maße. Und auch die Grundrechtsrechtsprechung ist doch signifikant anders zugeschnitten als es noch diejenige frühere Entwicklung war, die am ehesten vergleichbar erscheint: Wenn seit den 20er Jahren das Institut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage auf der Grundlage von § 242 BGB entwickelt wurde, so ging es doch hierbei nicht darum, die materiale Freiheit beim Vertragsschluss regulierend zu schützen (so die Grundrechtsrechtsprechung), sondern darum, unter fundamental veränderten Umständen die dann geltenden Intentionen der Parteien zu „rekonstruieren“.28 Abgesehen hiervon hat sich das Institut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage international nie durchsetzen können, die Idee eines Grundrechtsschutzes im Privatrecht inzwischen europaweit durchaus (unten 4.) – und das ist nach dem Gesagten die zunehmend relevanteste Betrachtungsebene. 3. Kodifikation – ohne Universalitätsanspruch Ebenso wie schon die Idee einer Freiheitsoptimierung bei höherer Schutzintensität (oben 2.) erscheint auch die Idee einer „Kodifikation ohne Universalitätsanspruch“ in sich widersprüchlich. Jedenfalls scheint sie der Entwicklung seit dem Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1780/94 und vor allem dem französischen Code Civil von 1804 (und später ABGB, BGB, ZGB, Codice Civile etc.) bis hin zum niederländischen (Nieuwe) Burgerlijke Wetboek doch sehr zu widersprechen. Ging dort nicht das Anliegen gerade dahin, die möglichen Rechtsfragen zwischen Privatrechtssubjekten im Wesentlichen umfassend abzubilden?29 Zunächst stellt sich also die Frage, ob die Kodifikationsidee unter heutigen Bedingungen überhaupt noch tragfähig ist, daran anschließend die Frage, welchen Zuschnitt ein Kodex am Anfang des 21. Jahrhunderts (in Europa) haben muss.

28 Aus diesem Grunde wird das Institut häufig ja auch als Fall der ergänzenden Vertragsauslegung verstanden oder jedenfalls in deren Nähe gesehen: Dazu Musielak Grundkurs BGB11, 2009, Rn. 369, MünchKommBGB/Roth5, 2007, § 313 Rn. 20, Lettl Die Anpassung von Verträgen des Privatrechts, JuS 2001, 248. 29 Zu dieser Frage und der Kodifikationsidee etwa Lurger Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union, 2002, 36 f.; Schreckenburger Die Gesetzgebung der Aufklärung und die Europäische Kodifikationsidee, in: Merten/ Schreckenburger (Hrsg.) Kodifikation gestern und heute, 1995, 87, 89 f.; K. Schmidt Die Zukunft der Kodifikationsidee, 1995; Münch Strukturprobleme der Kodifikation, in: Behrends/Sellert (Hrsg.) Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Bürgerlichen Gesetzbuches, 2000, 147; Canaris Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz – entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 1969; Zimmermann Codification: history and present significance of an idea, 3 (1995) ERPL 95.

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a) Kodifikation zeitgemäß? Ob die Europäische Union die Kraft hat, eine überzeugende Kodifikation des Vertragsrechts überhaupt vorzulegen, ist zwar nicht sicher. Im Sinne einer kohärenten Entwicklung des Vertragsrechts ist die Kodifikation jedoch ihrer Alternative, der Entwicklung durch Rechtsprechungsrecht, gerade auf supranationaler Ebene deutlich überlegen. Gerade auf dieser Ebene erscheint die Kodifikationsidee letztlich sogar als alternativlos – wenn denn ein level playing field in Form eines im Binnenmarkt stets in gleicher Form verfügbaren Vertragsrechts zu wünschen ist. Der Unterschied zwischen Vertragsrechtsentwicklung durch Kodifikation und durch Rechtsprechungsrecht liegt ja vor allem darin, dass Letzteres langsam entsteht und dass es einen in hohem Maße homogenen Rechtsprechungsapparat mit gemeinsamem Grundverständnis voraussetzt. Schon heute zeigt die Erfahrung, dass die Schaffung einer (in Stücken) einheitlichen supranationalen Vertragsrechtsordnung auf der Grundlage eines einheitlichen Textes, einheitlicher Normen, etwa Richtliniennormen und Grundfreiheiten, zwar nicht einfach ist, durchaus jedoch möglich, insbesondere wenn ein einheitliches Gericht die Gelegenheit erhält, daran zu arbeiten. Vorzugswürdig wäre hier wohl ein genuines Europäisches Zivilgericht. Ohne solch eine einheitliche Grundlage – vorzugsweise flächendeckend, d.h. kodifikatorisch – ist die Aufgabe ungleich schwieriger, eventuell gar unrealistisch. Sowohl in Fragen der Konsistenz als auch in Fragen der Zügigkeit der Regelentwicklung hat die gesetzgeberische Setzung entscheidende Vorteile. Die Erfahrung zeigt: Einheitlich weltweites Vertragsrecht wie das UN-Kaufrecht für den Bereich Handelskauf gibt es außerhalb des UN-Kaufrechts auch nicht annähernd, vergleichbar auch nicht einheitlich US-amerikanisches Vertragrecht außerhalb des Uniform Commercial Code (obwohl dort die Gerichte der Einzelstaaten ungleich mehr auf der Grundlage eines einheitlichen Grundverständnisses judizieren, die eben angesprochene Grundvoraussetzung also gegeben ist, was in Europa jedenfalls auf nationaler Ebene noch höchst zweifelhaft ist). b) Ohne Universalitätsanspruch Wenn demnach die Kodifikation für die Entwicklung eines umfassend einheitlichen Vertragsrechts in Europa alternativlos ist, so stellt sich die zweite Frage dahin gehend, welche Form sie annehmen soll und wird. Und hier zeigt sich ein Paradox: Während einerseits die Kodifikation als Form für die kohärente Fortentwicklung eines Vertragsrechts umso alternativloser wird, je stärker der supranationale Raum in den Vordergrund tritt, muss umgekehrt der herkömmlich mit der Kodifikation einher gehende „Universalitätsanspruch“ zunehmend reduziert werden. Zuletzt ist er nur noch in einem Kern spürbar. Die Zukunft, gerade im supranationalen Raum und

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unter den heutigen Gegebenheiten, gehört der relativ eng umrissenen und „aufgefächerten“ Kodifikation. Jedenfalls erscheint dies als die wünschenswerte Entwicklung. Konkret für das Vertragsrecht bedeutet dieses: Der Universalitätsanspruch wäre schon eindrucksvoll erschüttert, wenn die Kodifikation tatsächlich optional ausgestaltet wäre, also stetig in Konkurrenz träte zu alternativen Regelwerken (nicht nur, wie herkömmlich, im Auslandsfall kraft Rechtswahl). Auch die Konkurrenz in der Zeit wird heute stärker gesehen, die Kodifikation als eine Momentaufnahme in einer bestimmten Zeit, nicht als ein ewiges Modell, wie noch beispielsweise das BGB.30 Vor allem ist der Universalitätsanspruch in der klassischen Form jedoch unvereinbar mit einer stets wachsenden Komplexität. Das hat vor allem zwei Auswirkungen: (i) Wer mehr kodifizieren will als nur das Vertragsrecht, etwa allgemein das Schuldrecht oder gar das ganze Vermögensrecht (wie die ersten drei Bücher des BGB), der wird der modernen Komplexität des Vertragsrechts schlicht nicht mehr Herr. Das DCFR belegt ebendies deutlich.31 Zudem ist (ii) ein gleiches Vertragsrecht für alle Personen und für alle Vertragsarten nicht mehr möglich. Wer Verbrauchervertragsrecht und allgemeines Vertragsrecht zusammenbringen will, ein Recht der einfachen Austauschverträge mit einem voll entwickelten Recht der Langzeitverträge kombinieren will, ein Recht der ausgehandelten Verträge mit einem Recht der heteronom „gesetzten“ Klauseln, ein Vertragsrecht der Einzelverträge mit einem Recht der vertragsgestützten Organisationsverbünde (zu all dem näher unten III.), ein Vertragsrecht, das vor allem ermöglichend wirken und als (dispositive) Reservevertragsordnung fungieren soll, mit dem stetig anwachsenden Teil an steuernder Vertragsregulierung (vgl. schon oben 2.), der muss seine Kodifikation an diesen Unterscheidungen ausrichten, konkret: innerhalb einer zusammenhängenden Kodifikation diese Vielfalt von Regelungszwecken gleichzeitig abbilden. Solch ein Gesetzgeber kann nicht um formaler Ähnlichkeiten willen Vertrag und Delikt und andere „Obligationen“ zusammen bringen. Die Aufgabe der rechten Gruppierung allein im Vertragsrecht ist allzu anspruchsvoll, als dass sich der Regelsetzer solchermaßen verzetteln dürfte. Handhabbarkeit ist der Maßstab: Der Zuschnitt ist also allein an der Frage auszurichten, wie groß der Kodex sein kann, in dem die moderne Wirklichkeit abgebildet ist, in dem die Unterscheidungen umgekehrt jedoch noch handhabbar bleiben und dennoch nichts genuin Gleichartiges weggelassen werden muss. Solch eine Einheit 30 Vgl. Planck in einer Reichstagsrede 1896: „Geben Sie dem deutschen Volk in dem bürgerlichen Gesetzbuch, ohne an den Einzelheiten zu mäkeln, sein gutes, sein deutsches, sein einheitliches Recht, und das deutsche Volk wird Ihnen die That danken in aller Zeit.“, zitiert nach Oertmann Das bürgerliche Gesetzbuch im Deutschen Reichstag, 11 (1896) Archiv für Bürgerliches Recht, 4, 7. 31 Vgl. die Nachweise oben Fn. 11, am stärksten fokussiert auf die vorliegende Frage mein dort zitierter Beitrag.

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bildet das Vertragsrecht, also eines der beiden großen Teilgebiete, in denen es um planende Gestaltung auf der Grundlage von privatautonomen Entscheidungen geht, dieses Rechtsgebiet dann in seiner Gänze. Gegenüber Rechtsgebieten, die nicht in der privatautonomen Gestaltung fußen, eventuell jedoch auch gegenüber dem Organisationsrecht, obwohl es das zweite große Rechtsgebiet der Gestaltung bildet, ist der Unterschied so groß, dass hier der Schnitt zu setzen ist – um der Handhabbarkeit willen. Umgekehrt ist innerhalb des Vertragsrechts zwar die genannte Ausdifferenzierung nötig und muss sie sogar System bildend wirken. Umgekehrt würde jedoch mit einem gänzlichen Ausgliedern von Teilen die erhöhte Gefahr von Wertungswidersprüchen einhergehen, denn der Zwang, Unterschiede sorgsam inhaltlich zu begründen, nimmt durch Ausgliederung erheblich ab. Das gilt etwa für das Verhältnis zwischen Verbrauchervertrags- und sonstigem „allgemeinen“ Vertragsrecht (unten 4.). Für die ausdifferenzierte, vielfach aufgefächerte zusammenhängende Kodifikation finden sich auch zunehmend Vorbilder. Auf Europäischer Ebene erscheint das Beispiel Wertpapierhandel besonders eindrucksvoll: In der ersten Harmonisierungsgeneration gab es für den Wertpapierhandel noch relativ einheitlich anwendbare Wohlverhaltenspflichten. Doch führte die Erkenntnis, dass unterschiedliche Kundengruppen signifikante Unterschiede in den Schutzbedürfnissen aufweisen, zu einem vielfach abschattierten Kernbereich der Pflichtenformulierung in der zweiten Generation (vgl. vor allem Art. 13, 18–24 der Finanzmarkt-Richtlinie, §§ 31–31d, 33–34a, 37a WpHG).32 Die Vielfalt ist jedoch in eine Einheit gebannt. Und für den zunehmend engeren Zuschnitt von Kodifikationen stehen die zahlreichen Verbraucher(vertrags-)rechtskodifikationen in vielen Mitgliedstaaten,33 besonders paradigmatisch jedoch der seit einigen Jahren in Italien verfolgte Ansatz eng zugeschnittener Kodifikationen zu Einzelgebieten – etwa im Codice (Testo) Unico della Finanza, im Codice del Consumo, im Codice delle assicurazioni private und einer Reihe vergleichbar fokussierter Kodifi32 Beschreibungen etwa bei Fleischer Die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente und das Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz – Entstehung, Grundkonzeption, Regelungsschwerpunkte, BKR 2006, 389, 394; Grundmann in: Ebenroth/Boujong/Joost/ Strohn (Hrsg.) Handelsgesetzbuch, Band 22, 2009, BankR VI Rn. 239 f., 275; Seyfried Die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID) – Neuordnung der Wohlverhaltensregeln, WM 2006, 1375, 1375–1378; Teuber Finanzmarkt-Richtlinie (MiFID) – Auswirkungen auf Anlageberatung und Vermögensverwaltung im Überblick, BKR 2006, 429, 434 f.; Weichert/Wenninger Die Neuregelung der Erkundigungs- und Aufklärungspflichten von Wertpapierdienstleistungsunternehmen gemäß Art. 19 RiL 2004/39/EG (MiFID) und Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz, WM 2007, 627, 629. 33 Beschreibungen etwa bei Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Fn. 17); und die nationalen Entwicklungsberichte für die fraglichen Länder in 1 (2005) ERCL 373 (Frankreich); 3 (2007) ERCL 214 (Österreich); 4 (2008) ERCL 175 (Griechenland); 5 (2009) ERCL 357 (Portugal).

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kationen.34 M.E. nach ist freilich der rechte Zuschnitt, wie er derzeit für die supranationale Ebene diskutiert wird, durchaus der eines Vertragsrechtskodex, nicht enger. Entscheidend ist an der Entwicklung, dass heute vielfach nach dem rechten Zuschnitt gesucht wird und grandiose, inhaltlich nicht angezeigte Breite hier schadet und auch aus der kodifikatorischen Praxis eher verschwindet. Auf einzelne Aspekte hiervon wird zurück zu kommen sein, namentlich auf die Frage nach einer Aufgliederung zwischen Verbrauchervertrags- und sonstigem „allgemeinen“ Vertragsrecht. In der Essenz ist also zu antworten, dass in der Frage nach der Gestalt der Kodifikation ein immer komplexeres Umfeld und ein daher zunehmend vielschichtiges Vertragsrecht dem alten Universalitätsanspruch doch dezidiert widersprechen. „Think slim and consistent first!“ – scheint die zukunftsträchtigste Devise. Umgekehrt soll nicht das Ziel von Kohärenz durch zu engen Zuschnitt an einem allzu frühen Punkte aufgegeben werden. 4. Generalisierung bei verstärkter Ausdifferenzierung Zuletzt erscheint auch die Idee „Generalisierung bei verstärkter Ausdifferenzierung“ auf den ersten Blick in sich widersprüchlich. In der Tat geht es um einen speziellen Aspekt der bereits unter 2. und 3. angesprochenen Entwicklungen. Und wieder ist das in dieser Zusammenstellung angesprochene Spannungsverhältnis Ausdruck des Bemühens, mit gestiegener Komplexität umzugehen: a) Vordringen von Generalklauseln Auf der einen Seite steht ein erheblicher Zuwachs an Generalklauseln über die letzten Jahrzehnte. Die für Deutschland „heroische“ Zeit dieser Entwicklung liegt bereits einige Dekaden zurück: Es handelt sich um den Moment, in dem für vorformulierte Klauseln eine Inhaltskontrolle nach § 242 BGB befürwortet wurde.35 Die Kontrollintensität reichte seitdem weit über die nach § 138 BGB hinaus – schon vor Erlass des AGBG. Es handelte sich auch um eine Entwicklung, die keineswegs mit solchen in der Zwischenkriegszeit vergleichbar war. Denn während die Flucht in die Generalklauseln, die Hedemann konstatierte, noch Ausnahmesituationen, etwa Krisenzeiten, geschuldet war, wurde nunmehr die Generalklausel Vehikel für die Überprüfung eines massenweise und zu jeder Zeit zu konstatierenden 34 Beschreibungen etwa bei Grundmann in: Grundmann/Zaccaria Einführung in das italienische Recht, 2007, 190–192; Zaccaria Dall’età della de-codificazione alla ricodificazione, Studium iuris 2005, 697; auch in Antwort auf Natalino Irti’s berühmtes Buch L’età della decodificazione von 1979 (4. Auflage 1999). 35 Bahnbrechend BGHZ 38, 183 (Anwendung des § 242 BGB auf AGB unabhängig von einer Monopolstellung des Verwenders).

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Marktphänomens, eines der beiden üblichen Phänotypen des Vertrages heute, des vorformulierten Standardvertrages. Fast zeitgleich konstatiert man denn auch im Gesellschaftsrecht eine erhebliche Zunahme der Inhaltskontrolle (vor allem bei den Publikumspersonengesellschaften), aber auch eine spürbare Intensivierung allgemein des Minderheitsschutzes,36 wieder auf der Grundlage von Generalklauseln, wieder bezogen auf ein „gängiges“ und „häufiges“ Phänomen, nicht eine einmalige Ausnahmesituation. Diese Entwicklung ist nach dem Gesagten freilich nicht mehr ganz jung, welchen Bezug hat sie zur Zukunft? Die Entwicklung erfolgte primär auf der Grundlage der Generalklausel von Treu und Glauben.37 Schutzziele wurden daneben im deutschen Recht auch auf der Grundlage der Generalklauseln in den Grundrechten verfolgt. Generalklauseln bildeten also für das deutsche Recht jeweils die Grundlage für zwei zentrale, vielleicht sogar die beiden wichtigsten Wege, über die Schutzgehalte im Vertragsrecht ausgebaut wurden. Nimmt man nun diese beiden Entwicklungen in den Blick, so liegt ihre Bedeutung für die Zukunft gar nicht einmal primär in Deutschland, sondern darin, dass es sich um zwei der nicht allzu vielen großen Entwicklungen handelt, in denen sich Ansätze des deutschen Privat- und Vertragsrechts europaweit breit durchsetzten und zwar in den letzten ein oder zwei Dekaden: gleichermaßen im Recht der Standardverträge wie bei der Frage nach einer (indirekten) Grundrechts- und vor allem auch Grundfreiheitenbindung des Privatrechtsverkehrs.38 Dies gilt sicherlich für die EG-Ebene, doch auch im nationalen Recht anderer Mitgliedstaaten finden sich zunehmend Parallelen. Dass dann die privaten Kodifikationsvorschläge stark auf Generalklauseln setzen und außerdem zunehmend ein einleitender Prinzipienkatalog im Raume steht, unterstreicht die Breite dieser – inzwi36 Bahnbrechend einerseits BGHZ 64, 238; 84, 11, 13 f.; 104, 50; BGH NJW 1982, 2495, 2495 (alle zur Inhaltskontrolle nach § 242 BGB); und andererseits (zum Minderheitenschutz/Treupflicht zwischen Aktionären) BGHZ 103, 184, bes. 194 f. (Linotype); BGHZ 129, 136, 142–144 (Girmes); BGH NJW 1992, 3167, 3171 (IBH/Scheich Kamel); vgl. jüngst umfassend Hofmann Minderheitsschutz im Gesellschaftsrecht, 2010. 37 Daneben im Gesellschaftsrecht die sogenannte Treupflicht. Zum Verhältnis zwischen Treupflicht und der aus § 242 BGB hergeleiteten sog. bloßen „Rücksichtsnahmepflicht“ und zur Sonderung einer Interessenwahrungspflicht stricto sensu in diesem Kontext vgl. nur GroßkommAktG/Grundmann4, 2008, § 136 Rn. 50–52; Grundmann Der Treuhandvertrag, 1997, 202–220; GroßkommAktG/Henze/Notz4, 2004, Anh. § 53a Rn. 53 f.; Windbichler Gesellschaftsrecht22, 2010, § 26 Rn. 26; Schmidt/Lutter/Fleischer Aktiengesetz, 2008, § 53a Rn. 55. 38 Im Bereich Standardverträge Art. 3 der EG-Klausel-Richtlinie. Für den Bereich der Grundrechtseinwirkung vgl. Nachw. oben Fn. 16. Für Italien, das ähnlich prominent hervor trat wie Deutschland, freilich eher im Deliktsrecht; vgl. etwa Grundmann/Zaccaria (Fn. 34), V f. und 261 f. Zur Drittwirkung von Grundfreiheiten etwa Cherednychenko ERPL (Fn. 16), 34 ff.; Kluth Die Bindung privater Wirtschaftsteilnehmer an die Grundfreiheiten des EG-Vertrages – eine Analyse am Beispiel des Bosman-Urteils des EuGH, AöR 1997, 557; Riesenhuber (Fn. 21), Rn. 70 f., 80 f.

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schen paneuropäischen – Entwicklung. Das steht in krassem Gegensatz zu der traditionell sehr restriktiven Haltung gegenüber Generalklauseln etwa in Frankreich oder England. Besondere Bedeutung hat die Generalklausel zudem bei der Statuierung von Pflichten im vorvertraglichen Bereich. b) Die ausdifferenzierte Einheitsregelung Die Generalklausel bildet vor allem einen Auftrag an den Richter, prinzipiengestützt das Recht zu entwickeln. Der schwerwiegendste Vorwurf in diesem Zusammenhang geht dahin, dass der Regelsetzer selbst die Verantwortung übernehmen sollte – auch mit dem Ziel größerer Rechtssicherheit.39 Darauf wird zurück zu kommen sein. In seltsamem Kontrast zu dieser „Sehnsucht nach Allgemeinheit“ und auch fehlender Festlegung steht eine andere Entwicklung, die m.E. nicht weniger prägend für die heutige Entwicklung von Dogmatik und auch Kodifikationsbestrebungen ist und die sicher noch zentrale Zukunftsaufgabe ist. Es handelt sich um die Konzeption – durchaus auch legislatorische Konzeption – eines einheitlichen Vertragsrechts, das jedoch innerhalb dieser Einheit, auch innerhalb seines Allgemeinen Teils, vielfach nach Gruppen unterscheidet: Gruppen von Personen, Gruppen von Verträgen und Vertragskonstellationen. Das Signifikante an dieser Entwicklung wird vielleicht am deutlichsten an der Aufspaltung nach verschiedenen Gruppen von Personen, besonders am Verhältnis zwischen Verbrauchervertrags- und sonstigem „allgemeinen“ Vertragsrecht, vielleicht zusätzlich Handelsgeschäftsrecht. Häufig wird heute unterschieden zwischen business to consumer (b2c), business to business (b2b) und sonstigen Verträgen (person to person, p2p). Auf den ersten Blick scheint eine vergleichbare Aufspaltung nach beteiligten Personengruppen jedoch bereits in der Unterscheidung zwischen Zivil- und Handelsrecht angelegt, hat also bereits eine 200-jährige Tradition (mit dem Code Civil von 1804 und dem Code de Commerce von 1807). Je nachdem, ob bei der Abtrennung des Handelsrechts nach dem subjektiven („personalistischen“) System oder nach dem objektiven System (nach Geschäftstypen) vorgegangen wird, fällt die Aufspaltung etwas unterschiedlich aus: Im deutschen Handelsrecht gibt es beispielsweise nur relativ wenige allgemeine Vertragsrechtsregeln (in §§ 343 ff. HGB), von denen zudem die meisten heute ohnehin allgemein gelten,40 gefolgt von einigen wenigen speziellen, typisch han39 Grundmann (Fn. 11), 227, 239 f. et passim; auch schon Hedemann Die Flucht in die Generalklauseln, 1933, 68 f.; Wiedemann Rechtssicherheit – ein absoluter Wert?, FS Larenz 1973, 199; Weber Einige Gedanken zur Konkretisierung von Generalklauseln durch Fallgruppen, AcP 192 (1992) 516 (520 f.). 40 Grundmann Generalreferat – Internationalisierung und Reform des deutschen Kaufrechts, in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.) Europäisches Kaufgewährleistungsrecht

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delsrechtlichen Vertragstypen, die ebenfalls auch grundsätzlich Personen offen stehen, die nicht dem HGB unterfallen. Und im objektiven System wird ohnehin nur unterschieden zwischen verschiedenen Vertragstypen und die stärker handelsgeprägten werden dann rein äußerlich in ein anderes Gesetz eingestellt. Die solchermaßen umrissene Unterteilung zwischen „bürgerlichrechtlichem“ Vertragsrecht und Handelsgeschäftsrecht ist in zwei Punkten anders als die viel jüngere Unterscheidung nach Verbraucherverträgen und sonstigen „allgemeinen“ Verträgen. Der erste Punkt betrifft das derzeit zu konstatierende Maß an Integration: Wenn man nicht schlicht neue Sondergesetze konzipiert, etwa Verbrauchergesetze, sondern den Weg der Schuldrechtsmodernisierung beschreitet, so ergibt sich: Mit der Einstellung in ein einziges Gesetz wird in diesem Gesetz die Unterscheidung auch im Allgemeinen Vertragsrecht nach verschiedenen Personengruppen nötig. Einzelne Pflichten – einzelne Normen – können dann gruppenweise oder in einzelnen Aspekten auf manche Personenkonstellationen Anwendung finden, auf andere nicht. Jedenfalls wenn es für alle Personenkonstellationen einen durchaus beachtlichen gemeinsamen Bestand gibt, hat diese Integrationslösung gegenüber der alten Aufteilung in verschiedene Gesetze den Vorteil, dass viel bewusster der Gesetzgeber selbst die Abschattierung in der Pflichtenbindung vornimmt und bestimmt. Natürlich könnte ein vergleichbarer Schritt auch für das Recht der Handelsgeschäfte getan werden und wäre wünschenswert (beispielsweise Italien ging diesen Weg bereits). Der zweite Punkt betrifft die Inhalte und Zielrichtung der jeweiligen „Sonderrechte“: Die oben genannte Aufgliederung nach b2c, b2b und p2p ist vor allem in den letzten Jahrzehnten entwickelt worden. Die Abschattierung wird damit zunehmend reicher als nur nach Bürgerlichem und Handelsrecht. Vor allem jedoch werden die Gründe für die Verschiedenbehandlung facettenreicher (Erleichterung des Rechtsverkehrs, besondere Schutzbedürfnisse, Charakter eines bloßen Gelegenheitsgeschäfts etc.). Aus einer eher äußerlichen Abtrennung wird ein dicht geordnetes System unterschiedlicher Interessen je nach Personenkonstellation und ihrer Berücksichtigung. Geradezu paradigmatisch ausgereift ist diese Konzeption im bereits erwähnten Wertpapierhandel, wenn dort in der zweiten Regelungsgeneration nach dem Typ der Gegenpartei zum Wertpapierdienstleistungsunternehmen unterschieden wird und danach dann Fragen wie die des Pflichteninhalts (Beratung, bloße Information, bloße Standardinformation etc.), aber auch der Abdingbarkeit und der Nachforschungsobliegenheit („know your customer“) unterschiedlich beantwortet werden (Fn. 32). Dass sich Verbrauchervertragsrecht und – Reform und Internationalisierung des deutschen Schuldrechts, 2000, 281, 286 f. (m.w. Nachw.); Kindler Gesetzliche Zinsansprüche in Zivil- und Handelsrecht – Plädoyer für einen kreditmarktorientierten Fälligkeitszins, 1996, bes. 12–19; MünchKommHGB/Schmidt2, 2009, vor § 343 Rn. 1 f., 5, 8, 20.

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sonstiges Vertragsrecht, ja sogar reines Handelsvertragsrecht, nicht unversöhnlich gegenüber stehen müssen, also tatsächlich in solch ein geordnetes System gebannt werden können, legt ein Blick auf das wichtigste supra- und internationale Einheitsrechtsregime nahe: Obwohl das UN-Kaufrecht nur für den internationalen (zweiseitigen) Handelskauf gilt und die EG-Kaufrechts-Richtlinie nur für den Verbraucherkauf, sind doch die Lösungen in beiden in fast allen Fragen die gleichen. Es prallen also keineswegs zwei gänzlich heterogene, miteinander unvereinbare Welten aufeinander.41 Eine Unterscheidung innerhalb eines Allgemeinen Vertragsrechts – im Unterschied zu einem Besonderen Vertragsrecht, in dem einzelne Vertragstypen gesondert geregelt werden – hat freilich m.E. in Zukunft keineswegs nur an Personengruppen anzusetzen: etwa b2c, b2b, p2p. Ebenso wichtig, tendenziell wohl sogar noch wichtiger, ist für eine prinzipienorientierte Fortbildung des Vertragsrechts eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Vertragstypengruppen und -konstellationen im Allgemeinen Teil. Das wird schnell einsichtig, wenn man sich die Unterschiede zwischen einfachen Austausch- und Langzeitverträgen vor Augen hält (unten III. unter 4.), desgleichen die fundamentalen Unterschiede im Vertragsschlussmodell bei ausgehandeltem Vertrag und bei gestelltem Standardvertrag (unten III. unter 3.). Es entspräche vielleicht der Welt von 1900, einfach ein Modell (den ausgehandelten einfachen Austauschvertrag) als Grundmodell zugrunde zu legen und dann punktuell größere (bei den AGBs) oder sehr moderate Modifikationen (bei den Langzeitverträgen) einzustreuen. Angesichts der Massenhaftigkeit von Standardvertrag und von Langzeitvertrag – beide bilden keine Variante, sondern sind tendenziell volumenmäßig bereits dominant, jedenfalls jedoch höchst signifikant – können diese jedenfalls heute nicht (mehr) als kleine Modulationen, sondern nur als gleichwertige Pole im Gesamtgefüge eines Allgemeinen Vertragsrechts gesehen werden. Die Frage stellt sich, ob nicht sogar weiter gehend auch zwischen einem Recht des Einzelvertrages und einem Recht der Vertragsnetze in einem Allgemeinen Teil des Vertragsrechts zu unterscheiden ist (unten III. unter 5.), vielleicht auch nach Verträgen im eigenen, im fremden und im gemeinsamen Interesse. Anders als bei der Integration ratione personae, hat die Schuldrechtsmodernisierung 41 Drexl Verbraucherrecht – Allgemeines Privatrecht – Handelsrecht, in: Schlechtriem (Hrsg.) Wandlungen des Schuldrechts, 2002, 97; Grundmann Verbraucherrecht, Unternehmensrecht, Privatrecht – warum sind sich UN-Kaufrecht und EU-Kaufrechts-Richtlinie so ähnlich?, AcP 202 (2002) 40; Hondius Consumer Law and Private Law – the case for integration, in: Heusel (Hrsg.) Neues Europäisches Vertragsrecht und Verbraucherschutz – Regelungskonzepte der Europäischen Union und ihre Auswirkungen auf die nationalen Zivilrechtsordnungen – New European Contract Law and Consumer Protection – the concepts involved in Community regulations and their consequences fordomestic civil law – Le nouveau droit des contrats et la protection des consommateurs – concepts de la réglementation communautaire et leurs conséquences pour le droit civil national, 1999, 1, 19.

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– und jüngst das DCFR – bei dieser Art Integration und Ausdifferenzierung ratione materiae keinen wirklichen Beitrag geleistet. Das ist eine gänzlich andere Frage als diejenige danach, ob auch die Unterscheidung zwischen Allgemeinem Teil des Vertragsrechts und Besonderem Teil eine Zukunft hat – eine Frage, die m.E. bejahend zu beantworten ist, um der Ausdifferenzierung in Einzelvertragstypen gerecht zu werden, in der freilich umgekehrt der eingeschlagene Weg einer möglichst weitgehenden Vereinheitlichung etwa des Leistungsstörungsrechts (etwa zwischen Kauf- und Werkvertrag) sinnvoll erscheint. Die Vorteile von Generalklauseln auf der einen und die viel tiefere Ausdifferenzierung auch im Allgemeinen Vertragsrecht – zusammen bringt man beides, wenn zwar Prinzipien in der Tat möglichst weitgehend explizit gemacht werden, aber wie bei Strafnormen mit Regelbeispielen, zugleich auch die wichtigsten bekannten Massenfälle mit möglichst präzisen Normen durchreguliert werden. Das Stehenbleiben in Massenfällen bei der bloßen Generalklausel (wie relativ häufig im DCFR zu konstatieren) bedeutet demgegenüber Kapitulation des Regelsetzers vor den bekannten (Massen-)Problemen heutiger Vertragsrechtswirklichkeit. 5. Zwischenergebnis Dass das Hauptgewicht der Vertragsrechtsentwicklung, jedenfalls ihrer markantesten Linien, auf der supranationalen Ebene liegen wird, werden wohl wenige bezweifeln – obwohl die Dogmatik heute noch immer primär national ist. Die Auswirkungen auf Stil und Inhalt sind voraussichtlich dramatisch, im Einzelnen jedoch schwerer zu fassen: Die Komplexität und der Reichtum, den sich das Vertragsrecht über die letzten Dekaden erwarb, sprechen m.E. zwingend für eine Kodifikation auf supranationaler Ebene in einem maßvollen Zuschnitt. Dies ist allein eine Vertragsrechtskodifikation, diese dann jedoch umfassend. Ich halte ebendiese Entwicklung auch mittelfristig für die wahrscheinlichste. Inhaltlich scheint mir das zentrale Charakteristikum des Vertragsrechts der letzten Dekaden und der Zukunft in dem Versuch zu liegen, materielle Freiheit aller Beteiligten, vor allem beider Parteien, in der Summe zu fördern und zu diesem Zweck weder ganz primär nur auf die formale Privatautonomie zu setzen noch jedoch breit auf paternalistische Eingriffe. Vielmehr scheint mir charakteristisch, dass Freiheitseinschränkungen auf der einen Seite typischer Weise durch deutlich signifikantere materielle Freiheitsgewinne auf der anderen gerechtfertigt werden und dass diese Freiheitseinschränkungen auf der einen Seite auch tunlichst auf ein tragbares Maß beschränkt bleiben, mit dem versucht wird, die Verhältnismäßigkeit zu wahren. Dass es Ausreißer in Rechtsprechung und Gesetzgebung in beide Richtungen geben mag, ändert m.E. nichts an der Grundausrichtung. Letztlich haben alle drei als charakteristisch herausge-

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stellten Spannungsverhältnisse (2.–4.) eines gemeinsam: Es handelt sich um ein Vertragsrecht, mit dem auf eine komplexere Welt reagiert wird und gerade die Vielfalt der Interessen besser erfasst werden soll. Das bedeutet insbesondere auch, dass das Gewicht der regulatorischen Aspekte im Vertragsrecht erheblich zugenommen hat – jedoch, wie im Leitbild allen Regulierungs- oder Ordnungsdenkens, dem Wettbewerbsrecht, mit dem Ziel, materielle Freiheit in der Summe zu mehren. Dies geht einher mit einer zunehmend systematischen – und damit auch ausdifferenzierenden – Durchdringung, wobei – sicherlich auch Erbe der postmodernen Philosophie – vor scheinbar Heterogenem nicht mehr zurückgeschreckt, vielmehr hierin sogar das Spannungsvolle, Fruchtbare gesehen wird. 6. Exkurs: Markttransaktion und Unternehmung Wird heute Vertragsrecht mit anderen Rechtsgebieten in Bezug gesetzt, wissenschaftlich oder in Kodifikationsprojekten, so steht im Vordergrund die Zusammenstellung aller Obligationen, teils auch des bürgerlichrechtlichen Vermögensrechts. Besteht das Proprium des Privatrechts jedoch zuvörderst in der privatautonomen Gestaltungsfreiheit, so ist solch eine Sicht keineswegs selbstverständlich, sondern wohl überwiegend durch die Tradition des BGB bedingt. Denn die Rechtsgebiete, die für eine privatautonome Gestaltungsfreiheit überragend wichtig und von ihr gänzlich durchdrungen und geprägt sind, sind eher das Vertragsrecht und das Gesellschaftsrecht – viel mehr schon als das Sachen- oder Familienrecht, jedenfalls jedoch als das Deliktsrecht oder das Bereicherungsrecht, soweit es nicht inhaltlich einen Annex zum Vertragsrecht bildet (etwa Eingriffs- oder Verwendungskondiktion). Nicht von ungefähr ist gerade für das Gesellschaftsrecht die Figur des „nexus of contracts“ prominent. Und auch gerade zwischen diesen beiden, Vertrags- und Gesellschaftsrecht, haben sich die Zwischenbereiche prominent entwickelt, bis hin zu eigenständigen Rechtsgebieten (teils mit einem Hauptakzent auf der regulierenden Seite): Kapitalmarktrecht, outsourcing und Vertragsnetze sind hier wichtige Stichworte. Wenn dennoch im vorliegenden Beitrag die Verbindungslinien zwischen Vertrags- und Gesellschaftsrecht nicht im Vordergrund stehen sollen und daher auch die Frage nicht diskutiert werden kann, ob vielleicht sogar eine kodifikatorische Zusammenbindung erwägenswert erscheint, so ist das vor allem dem verfügbaren Raum und der Handhabbarkeit geschuldet.42 Entscheidend ist nur, dass vom Proprium des Privatrechts her eine Zusammenstellung, wie wir sie heute im BGB finden, historisch bedingt erscheint, keineswegs etwa zwingend aus 42 Näher zu meinen Überlegungen zu diesem Fragenkomplex: Grundmann Welche Einheit des Privatrechts? Von einer formalen zu einer inhaltlichen Konzeption des Privatrechts, FS Hopt 2010, 45.

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der Sache begründet. Diese Zusammenstellung hat u.a. dazu geführt, dass umgekehrt Parallelen zwischen den Gestaltungs- und den Schutzfragen in den beiden großen Bereichen der privatrechtlichen Gestaltung, dem Vertragsund dem Gesellschaftsrecht, relativ wenig untersucht werden. In manchen Fragen ergeben sich daraus schmerzliche Lücken (vgl. unten III. 4.). Beschränkt man sich aus Handhabbarkeitsgründen dennoch auf das Vertragsrecht, so erscheint es umgekehrt auf Grund der skizzierten Entwicklung doch sehr angezeigt, ja unverzichtbar, dieses als Kern eines breiten Marktrechts zu verstehen, also unter Einschluss des regulierenden Teils. Das hat durchaus Folgen für den Stil: Nimmt man privatrechtliche Gestaltung und Schutzbedürfnisse als zentral in den Blick, so erhält das Vertragsrecht ein Gepräge, das traditionell eher dem Unternehmens- und Wirtschaftsrecht eignet. Vertragsrecht ist auch als Wirtschaftsrecht zu verstehen.

III. Einige Kerngebiete der Entwicklung 1. Ausgangspunkt: Modernisierungsgebiete und tradierte Gebiete Deutlich kürzer muss der zweite Teil ausfallen, dennoch sollen einige zentrale Modernisierungsgebiete angesprochen werden. Als solche sind wohl diejenigen Gebiete zu verstehen, die in der Praxis überragende Bedeutung haben und die inzwischen überwiegend auch intensiv diskutiert werden, die jedoch relativ jung sind und deren Struktur idR auch bisher noch nicht wirklich Niederschlag in Kodifikationen gefunden hat. Immerhin wird vorliegend einer Kodifikation jedenfalls für die supranationale Ebene erhebliche Bedeutung für die Entwicklung der Vertragsrechtslehre zugeschrieben. In einem der im Folgenden genannten Gebiete (unten 5.) steht sogar – trotz seiner praktischen Bedeutung – selbst die juristische Diskussion noch weitgehend am Anfang. 2. Information als Kern des Konsenses Eine sehr dynamische Entwicklung nahm das Recht des Vertragsabschlusses – als eine der beiden vertragsrechtlichen Hauptmaterien neben dem Leistungsstörungsrecht. Diese Entwicklung kann zusammengefasst werden als der Übergang von einem Regime, für das noch das Willensprimat in der Tradition Kants und von Savignys prägend war, damit auch der „Konsens“, zu einem Regime, in dem die Information, genauer: die realistische Möglichkeit einer Information deutlich im Vordergrund steht.43 Auf die Vielfalt 43 Vgl. bereits Nachw. oben Fn. 17 und Text dort; für eine kurze (kritische) Betrachtung der Fortschritte, die der DCFR in den im Folgenden andiskutierten Fragen erzielt:

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der Informationsregeln (einschließlich der Widerrufsregeln als Flankenschutz) wurde hingewiesen. Zudem ist die Vertragsabschlussphase rechtlich deutlich ausgedehnt worden und zwar unter dem Eindruck der Frage, wann relevante Informationen begeben werden: schon lange vor ersten Verhandlungen in öffentlichen Aussagen, etwa in der Werbung. Die Informationsproblematik war auch zentral bei der Frage, welche Absatz- und welche Präsentationsformen besonders reguliert werden sollen. Insgesamt ist festzustellen: Die Rechtsgeschäftslehre wird erheblich beeinflusst einerseits durch die völlig andere Dimension von Werbemaßnahmen und durch das Aufkommen völlig neuer Absatzwege – von der Fernseh- und Internetwerbung über alternative Absatztechniken wie etwa die Telefonwerbung bis hin zum großen Bereich neuer Informationstechnologien, vor allem des elektronischen Geschäftsverkehrs. In allem zeigt sich: Die Informationsgesellschaft – und ihr Recht – wurde Wirklichkeit Ende des 20. Jahrhunderts. Daneben erscheinen die Regeln über die innere Formung des Willens und des Konsenses „alt“ und von eher geringerer praktischer Relevanz. In der Tat fügt sich diese Entwicklung auch allgemeiner ein in die Entwicklung hin zu einem Vertragsschlussmodell, in dem die Zurechnung und die Bindung an veranlasstes Vertrauen zentrales Gewicht haben. Nicht mehr die Freiheit, seinen Willen zu betätigen, sondern die Verantwortung für die Wirkung nach außen, die veranlasste Planung bei der Gegenseite, bildet die Hauptlegitimation für Bindung. Und hierfür ist (Möglichkeit zur) Information unabdingbar. Es liegt sogar nahe, hier von einer Tendenz hin zu einer generellen Ablösung der Willenssemantik im Privatrecht zu sprechen. Noch jung ist die Frage nach dem Informationsregime im Vertragsrecht jedoch nicht nur wegen der noch jungen Entwicklung der Informationsregeln, jedenfalls der Masse dieser Regeln. Vielmehr besteht noch immer eine Zukunftsarbeit darin, das (alte) Recht der Willensmängel, insbesondere des Irrtums, mit dem jungen Recht der (erheblich verbreiterten) Aufklärungspflichten wirklich organisch zusammen zu führen und beide aufeinander abzustimmen. 3. Individual- und Standardvereinbarungen Das „älteste“ der hier angesprochenen vertragsrechtlichen „Gegenwartsund Zukunftsprobleme“ bilden die Standardverträge (mit Allgemeinen Geschäftsbedingungen). Kind schon der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der wegweisenden Betrachtungen von L. Raiser und Großmann-Doerth, datiert seine breite rechtswissenschaftliche Diskussion und diesbezügliche Gesetzgebung in die 70er bis 90er Jahre des 20. Jahrhunderts, bis dahin dann auch schon breit rechtsvergleichend in den verschiedenen Mitgliedstaaten Grundmann (Fn. 11), 238–241; vgl. auch Kramer Bausteine für einen „Common Frame of Reference“ des Europäischen Irrtumsrechts, ZEuP 2007, 247–259.

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und sogar auf EG-Ebene.44 Doch so reich dieses Rechtsgebiet auch ausgebildet ist, ganz besonders im deutschen Recht, stehen doch zentrale Entwicklungen aus, die eine erhebliche Zukunftsperspektive begründen: Das ist zunächst eine Inhaltskontrolle, die wirklich europäisiert ist, denn bekanntlich legt der EuGH die Generalklausel des Art. 3 der EG-Klausel-Richtlinie nur in einigen Fällen selbst (und damit europaeinheitlich) aus, in anderen nicht, und bekanntlich ist der Referenzpunkt, von dem die jeweilige AGB nicht allzu weit abweichen darf, weit überwiegend das dispositive Vertragsrecht und dieses ist in vielen Punkten nicht harmonisiert. Zukunftsaufgabe ist sodann ein Regime, kraft dessen AGBs in der Tat europaweit zirkulieren können, derzeit sehen sie sich in jedem einzelnen Mitgliedstaat neuer Inhaltskontrolle ausgesetzt. Das ist ein ganz anderer Zustand als etwa bei Bilanzen, Emissionsprospekten oder sonstigen vergleichbaren Informationszusammenstellungen im Gesellschaftsrecht – alles „Rechtsprodukten“ (mit mehr oder weniger weit gehenden Versprechensgehalten), die sich durch eine Gestaltung nach einem bestimmten Recht auszeichnen. Und Zukunftsaufgabe ist nicht zuletzt, dass das AGB-Vertragsabschlussregime wirklich als eigenständige Vertragsabschlussform anerkannt wird, auch kodifikatorisch und konzeptionell, nicht nur als eine Variante des ausgehandelten Vertrages. In der Sache handelt es sich, wie die Informationsökonomie zutreffend herausgearbeitet hat, um heteronome Rechtssetzung kraft Unwissenheit. Der zweite große Phänotyp des Standardvertrages ist – trotz Harmonisierung in der EG-Klausel-Richtlinie – eben im Europäischen Kontext keineswegs vergleichbar unproblematisch wie der ausgehandelte Individualvertrag und seine Erfassung in einer Rechtsgeschäftslehre ist noch immer weniger schlüssig. Ebenso wie die Informationsregeln, zu denen das Recht der AGB auf Grund des Phänomens eines Market for Lemons auch enge Bezüge aufweist, steht das Recht der AGB in besonderem Maße für die bereits erörterte Tendenz, Vertragsrecht, hier vor allem das Recht des Vertragsabschlusses, mit regulierenden Gehalten zu durchwirken. Davon gibt es etliche weitere, nicht zuletzt das Recht der unlauteren Geschäftspraktiken und die diese zu einem erheblichen Teil regelnde EG-Richtlinie von 2005,45 die für das Recht des Vertragsabschlusses noch längst nicht ausgelotet sind. 44 Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl.EG 1993 L 95/29. Vgl. vor allem die rechtsvergleichende „technische Beilage“ zum ersten Kommissionsvorschlag in KOM(90) 322 endg. – SYN 285, 6–64; von Hippel RabelsZ 41 (1977) 237 (Gutachten für die EG-Kommission); auch ders. RabelsZ 45 (1981) 353, 367 (Zusammenfassung); Hondius Unfair Contract Terms – New Control Systems, 26 (1978) Am.J.Comp.L. 525. 45 Richtlinie 2005/29/EG der Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Ra-

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4. Austausch- und Langzeitverträge Wendet man sich nach dem Vertragsschluss dem Inhalt des Vertrages zu, so fällt auf, dass beim Übergang von einem Industriezeitalter zu einem (auch) Dienstleistungszeitalter das Vertragsrecht nicht gleichermaßen gefolgt ist. Bildet für das erste der Kaufvertrag den Hauptvertragstyp und ist dieser Vertragstyp dann auch umfangreich Gegenstand internationaler und supranationaler Vereinheitlichungsbemühungen geworden, so ist Gleiches beim Hauptvertragstyp einer Dienstleistungsgesellschaft nicht der Fall. Gleiches gilt für die Schuldrechtsmodernisierung, die ganz auf die Anpassung des Kaufgewährleistungsrechts an das allgemeine Leistungsstörungsrecht und dessen Fortentwicklung für die einfachen Austauschverträge fokussiert war (sie diente ja auch der Umsetzung vor allem der EG-Kaufrechts-Richtlinie), nur recht peripher, etwa in § 314 BGB, wurde auch der Langzeitvertrag in den Blick genommen. Ob nun das nationale Recht einen allgemeinen Dienstleistungsvertrag kennt oder einen Dienstleistungs-, einen Werk- und einen Geschäftsbesorgungsvertrag – für alle gilt, dass der Komplex Dienstleistungen legislatorisch im Allgemeinen Teil eines Vertragsrechts und in der Schaffung von internationalem Einheitsrecht auch nicht annähernd so intensiv erfasst wurde wie der Kaufvertrag (oder auch die neutrale Leistung).46 Dies ist umso bemerkenswerter, als die Bandbreite der Konstellationen eher größer ist, als beispielsweise die Qualitätsbestimmung häufig noch schwieriger ist (Erfolgs- oder Bemühenspflichten), und als die existentielle Bedrohung der Vertragspartner durch Leistungsstörungen häufig sogar noch größer sein dürfte. All dies ist vor dem Hintergrund dessen zu sehen, dass Dienstleistungen inzwischen in fast allen entwickelten modernen Marktwirtschaften einen größeren, jedenfalls jedoch einen gleich großen Anteil an der Wertschöpfung haben wie die industrielle Produktion,47 und dass auch beim Absatz der industriellen Produktion in der Mehrzahl Verträge und Vertragsnetze mit Dienstleistungselementen ebenfalls unverzichtbar sind. Verwunderlich ist dieses legislatorische „Hinterherhinken“ tes, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken), ABl.EG 2005 L 149/22. Dazu etwa Collins (Hrsg.) The Forthcoming EC Directive on Unfair Commercial Practices – Contract, Consumer and Competition Law Implications, 2004; Gomez The Unfair Commercial Practices Directive: a Law and Economics perspective, 2 (2006) ERCL 4. 46 Die EG-Dienstleistungs-Richtlinie (Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl.EG 2006 L 376/36) umfasst wenig Vertragsrecht, nach Auffassung ihrer Autoren dient sie (fast ausschließlich) einer Deregulierung verwaltungsrechtlicher Hindernisse (vgl. 4. Erwägungsgrund). Zum wenigen Vertragsrecht etwa Schauer Contract Law of the Services Directive, 4 (2008) ERCL 1. 47 Vgl. zusammenfassend Love/Lattimore in OECD Insights Internationaler Handel: Frei, fair und offen?, 2009, 51.

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freilich nicht wirklich. Denn der Boom dieser Verträge folgt u.a. auch aus dem steilen Anstieg dieses Segments in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts. Zwei Aspekte sind besonders bemerkenswert im Hinblick auf das Thema Zukunft des Vertragsrechts und der Vertragsrechtswissenschaften. Auch in der Diskussion fristet der Langzeitvertrag, dessen Form die Dienstleistungsverträge zum Großteil annehmen, noch immer ein Schattendasein.48 Es scheint noch immer die bisher nicht breit diskutierte und hinterfragte Vorstellung vorzuherrschen, dass Langzeitverträge recht weit gehend doch den Regeln zu Inhalt, Erfüllung und Nichterfüllung von einfachen Austauschverträgen folgen. Da freilich die Möglichkeiten, die Inhalte solcher Verträge vorher zu bestimmen, in vielen Fällen fundamental anders sind (Unkenntnis der Zukunft),49 und da die Anreizmechanismen gänzlich andere sind in Verträgen, in denen sukzessive vielfach geleistet wird und daher jede Seite die andere immer wieder abstrafen kann,50 ist der Grundansatz selbst verfehlt. Der zweite Punkt hängt mit dem ersten zusammen, er ist wissenschaftssoziologischer Natur: Für Gesellschaftsrechtler scheint diese Blindheit für die Eigenständigkeit des Langzeitvertrages – Eigenständigkeit als gleichwertiger Pol des Vertragsrechts neben dem einfachen Austauschvertrag – erstaunlich. Denn Gesellschaftsrechtler beschäftigten sich mit beiden für den Langzeitvertrag genannten, charakteristischen Problemen im Kern. Freilich sind Gesellschaftsrechtler selten im Kern auch Vertragsrechtler und umgekehrt, so dass die Diskussion am Schnittpunkt eher schwach ist. Häufig publizieren zu Langzeitverträgen und auch Vertragsnetzen mit ihrer Nähe zum Gesellschaftsrecht als klassischem „Organisationsrecht“ in der Tat vor allem gesellschafts- oder wirtschaftsrechtlich ausgerichtete Autoren. Möglicherweise bewirkt hier die Finanzkrise, in der Gesellschafts- und Vertragsrecht an zentralen Verursachungspunkten nahe beieinander lagen, ein Umdenken. 5. Personenvielfalt (Vertragsnetze) Besonders jung als rechtswissenschaftliches Betrachtungsobjekt ist das in der Praxis bereits seit einiger Zeit überragend wichtige Phänomen der Vertragsnetze. Langzeitverträge sind häufig, wohl sogar überwiegend in solche 48 Zum Langzeitvertrag vgl. insbesondere Jickeli Der langfristige Vertrag, 1996; Niklisch (Hrsg.) Vertragsnetzwerke komplexer Langzeitverträge, 2001; Kern Ökonomische Theorie der Langzeitverträge, JuS 1992, 13; speziell zur Beendigungsfrage Oetker Das Dauerschuldverhältnis und seine Beendigung, 1994. 49 Dazu Williamson Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 J. Law & Econ. 233 (1979); ders. The Economic Institutions of Capitalism, 1985, 43–63, 68–84. 50 Vgl. etwa MacNeil The Many Futures of Contracts, 47 Southern California Law Review 691, 738–740 (1974); Hadfield Problematic Relations: Franchising and the Law of Incomplete Contracts, 42 Stanford Law Review 927 passim (1990).

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Netze eingebunden. Hier nun steckt auch die rechtswissenschaftliche Diskussion noch in ihren Kinderschuhen.51 Vor allem ist streitig, ob klassisches Vertragsrecht schlicht unverändert angewandt werden sollte, ob es ein eigenes Recht zwischen Vertrags- und Gesellschaftsrecht geben sollte, gespeist teils aus der einen, teils aus der anderen Rechtsmaterie, oder ob zwar vom Vertragsrecht auszugehen ist und von einer Abrede getrennter Kassen, Ansätze in der vertragsrechtlichen Dogmatik jedoch dazu genutzt werden sollten, das Faktum gebührend zu berücksichtigen, dass alle Parteien gemeinsam auf Bestand und Funktionieren des Netzes angewiesen sind.52 Steht auch die Diskussion an ihrem Anfang, ist dies umgekehrt beim Phänomen an sich ganz und gar nicht der Fall. Es hat überragende wirtschaftliche Bedeutung – so erhebliche, dass ein moderndes Vertragsrecht das Phänomen zumindest als Testfall der eigenen Leistungsfähigkeit verstehen müsste, besser in seine Systemüberlegungen einbeziehen müsste. In der Tat sind weder Produktion noch Absatz ohne Vertragsnetze denkbar – und damit das Rückgrat der volkswirtschaftlichen Wertschöpfungskette –, Gleiches gilt für weiteste Teile des Finanzwesens (Zahlungsverkehr, Großkredite, Emissionsgeschäft, Wertpapierhandel etc.). Bisher bildet das Vertragsnetz dennoch eine Materie für Spezialisten dieser Gebiete und einige wenige generellere Studien. Für die Entwicklung des Vertragsrechts wichtig wäre es, dieses Phänomen – und genereller das „innen“ und das „außen“ von Verträgen und Vertragswirkungen – verstärkt in den Blick zu nehmen. Der zu schwach ausgeprägte Blick auf die Außen- und Verbundwirkungen von Verträgen wird im Rückblick auf die Ursachen der Finanzkrise als ein schmerzliches Versäumnis allzu deutlich.

IV. Stil Die genannten Entwicklungen beeinflussen auch den Stil der Vertragsrechtswissenschaften. Mit der gebotenen Zurückhaltung, die bei Stilfragen angebracht ist, kann wohl festgehalten werden: (i) Der Stil wird dezidiert in51

Buxbaum Is „Network“ a Legal Concept?, (1993) 149 Journal of Institutional and Theoretical Economics, 698–706; Cafaggi Contractual Networks and the Small Business Act – Towards European Principles?, 4 (2008) ERCL 493; Grundmann Die Dogmatik des Vertragsnetzes, AcP 207 (2007) 708–767; Ott Contract Network in Distribution Systems, (1995) 151 Journal of Institutional and Theoretical Economics 212–217; Teubner Netzwerk als Vertragsverbund – Virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-in-time aus sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht, 2004. Zuletzt Secola-Konferenz 2009: Cafaggi/ Grundmann (Hrsg.) Form Exchange to Cooperation – Long-Term Contracts and Networks of Contracts in European Contract Law, 2010. 52 Für das erste fast die gesamte klassische Lehre, noch häufiger freilich schweigt sie. Für das Zweite besonders prominent Teubner (vorige Fn.), für das Dritte meine Beiträge (vorige Fn.).

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ternationaler in der Diskussion. Der Schritt dahingehend, dass sich jede Aussage auch zum nationalen Recht gleichsam selbstverständlich auch „internationalrechtlich“ absichert, steht zwar noch aus. Er steht freilich bevor, viele Schriften verfahren bereits danach. (ii) Das bedeutet zugleich, dass rechtsvergleichende Betrachtungen wichtiger werden, damit zugleich auch überhaupt die Betrachtung in Vergleichen, und das heißt: Lösungsvergleichen. (iii) Stehen Lösungsvergleiche im Vordergrund, so bedeutet dies den Wandel von einer stärker auf die Auslegung von Gesetzen ausgerichteten Wissenschaft zu einer stärker (auch) auf die Bewertung von gesetzlichen Lösungen ausgerichteten und gestaltungsorientierten Wissenschaft. (iv) Dies fördert fast zwangsläufig eine stärker interdisziplinäre Herangehensweise, einen für alle Regelsetzungsfragen offenen Ansatz (einschließlich der demokratietheoretischen Fragen), eine Rechtswissenschaft unter Einbeziehung – nicht Dominanz – der Nachbarwissenschaften, im Vertragsrecht vor allem der Ökonomie, der Verhaltenswissenschaften, teils auch der Soziologie und Philosophie, aber auch den stärkeren Dialog mit dem öffentlichen Recht. (v) Wenn dann Vertragsrecht im Konnex zum Marktregulierungsrecht gesehen wird,53 so bedeutet dies auch im Stil eine Annäherung an wirtschaftsrechtliche Ansätze, in denen die Systembildungsleistung der Dogmatik nicht negiert wird und nicht negiert werden sollte, tendenziell jedoch auch anderen Aspekten, vor allem Praxis, Vergleich und Interdisziplinärität, vergleichbares Gewicht eingeräumt wird – vielleicht auch bedingt dadurch, dass mit der Mehrzahl der Gesellschaftsformen stets auch Fragen der Auswahl im Vordergrund standen. (vi) All dies führt dazu, dass die Orientierung an Governance-Fragen auch im Vertragsrecht stärker werden wird, dem Thema „Contract Governance“ ein prominenter Platz zu prognostizieren ist; ein mächtiger Impetus hierfür mag tatsächlich von dem Umstand ausgehen, dass die große weltweite Finanzkrise doch zu einem Großteil auf Versagen von Vertragsmechanismen beruhte (Kreditvergabe, Verantwortungsaufgabe durch Verbriefung, völlige Intransparenz auf Grund der Vervielfachung der Vertragsverhältnisse, falsche Anreize in den Vertragsbeziehungen zu den Ratingagenturen und den handelnden Investmentbankern). In der Quintessenz bedeutet all dies – erstaunlich genug –, dass eine Vertragsrechtswissenschaft der Gegenwart, die weniger zentriert auf die Gesetzesauslegung ist und souverän die Grenzen überschreitet, im Stil der Vertragsrechtswissenschaft zu Zeiten eines von Savigny in manch wichtigem Punkt näher erscheint als der Vertragsrechtswissenschaft um 1900 – trotz aller erheblicher Unterschiede zwischen 2010 und 1810. 53

So in Anlage und Konzept dezidiert Grundmann Europäisches Schuldvertragsrecht, 1999, bes. Rn. 15–17, 203–210 und Teil 5; dann für die EG-Geschäftspraktiken-Richtlinie die Secola-Konferenz 2002: Collins (Fn. 45). Und demnächst breit die Habilitation von Augenhofer Vertragsrecht und Wettbewerbsrecht, (im Erscheinen).

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V. Thesen 1. Das Vertragsrecht der Zukunft ist supranational, mehr noch als international. 2. Inhaltlich ist es geprägt durch die eine stets tiefer die Potentiale auslotende Suche nach einem optimalen Gleichgewicht zwischen den (Vertrags-) Freiheiten aller Betroffenen, namentlich beider Parteien. 3. Dadurch kommt es zu einer zunehmend untrennbaren Vermischung zwischen ermöglichenden Teilen des Vertragsrechts (Reservevertragsordnung) und regulierenden, ordnenden Teilen. 4. Der Allgemeine Teil des Vertragsrechts wird – auch legislatorisch – deutlicher an Leitprinzipien ausgerichtet, vor allem jedoch stärker aufgefächert: indem in den Regeln und Regelblöcken im Allgemeinen Vertragsrecht stärker unterschieden wird nach Personengruppen, nach Vertragstypengruppen und Vertragskonstellationen. 5. Eine Kodifikation auf supranationaler Ebene ist wünschenswert, sie gäbe einem Europäischen Sozialmodell sichtbaren Ausdruck, in dem die Vielfalt der Interessen prägend ist. Entscheidend ist freilich, dass diese Kodifikation handhabbar bleibt – auf das Vertragsrecht beschränkt, dieses jedoch ausschöpfend – und dass es sich um eine Kodifikation handelt, die den heutigen Stand von Gesellschaft und Vertragsrechtsentwicklung wieder abbildet. Das System des BGB auf supranationale Ebene zu heben, löst nicht das Problem, dass es den Stand von 1900 wiedergibt. 6. Zentrale Modernisierungsgebiete wurden benannt und sind besonders zu beachten. 7. Der Stil wird ein reicherer: internationaler, stärker interdisziplinär, stärker am Lösungsvergleich und an den praktischen Auswirkungen sowie dem Prozess der Regelsetzung (der „Governance“) ausgerichtet. Vielleicht finden Vertrags- und Gesellschaftsrecht tendenziell näher zueinander.

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Die Zukunft des Europäischen Verbraucherrechts und seine Bedeutung für die Weiterentwicklung des Vertrags- und Wettbewerbsrechts1 SUSANNE AUGENHOFER

I. II. III. IV.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die personale Begrenzung des Verbraucherrechts . . . . . . . . a) Das Abstellen auf typisierte Ungleichgewichtslagen . . . . . b) Verbraucherbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik von beiden Seiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schutzbestimmungen und ihr Zweck . . . . . . . . . . . . . . e) Verbraucherrecht und DCFR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Selbstverantwortung, Rechtssicherheit und social justice . . g) Überwindung der Probleme des personalen Anwendungsbereiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wechselwirkungen zwischen Verbraucherrecht und Lauterkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schein und Sein im Verbraucherrecht: Die (mangelnde) Durchsetzbarkeit von Ansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Wer sich mit der Zukunft beschäftigt, sollte die Vergangenheit sowie die Gegenwart und deren Auswirkung auf die Zukunft nicht außer Acht lassen. Dies gilt insbesondere für ein – zumindest auf europäischer Ebene – ver1 Bydlinski System und Prinzipien, 1986, 718, kam 1986 zum Schluss, dass die Literatur zum Verbraucherrecht „völlig unübersehbar“ sei. Diese Feststellung gilt 14 Jahre später umso mehr, sowohl für das Verbraucherrecht als auch im Hinblick auf den (Draft) Common Frame of Reference. Die Literaturangaben erheben daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit und können nur eine kleine Auswahl der erschienenen Kommentare, Monographien und Aufsätze zu den behandelten Themengebieten erwähnen.

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hältnismäßig junges Rechtsgebiet: Der Beginn des Europäischen Verbraucherrechts kann in etwa mit der Einsetzung einer eigenen Dienststelle für Umwelt und Verbraucherschutz bei der Europäischen Kommission im Jahre 1973, sowie den beiden verbraucherpolitischen Programmen der Kommission 1975 und 1981, festgesetzt werden. Richtig „in Fahrt gekommen“ ist das Verbraucherrecht jedoch erst in den letzten Jahren.2 Seit der Haustürgeschäfts-RL3 1985 wurden insgesamt 14 Richtlinien und 3 Verordnungen erlassen, die dem Verbraucherprivatrecht im engeren Sinn zugerechnet werden können4 – die meisten davon in den letzten 13 Jahren. Von manchen Richtlinien der „ersten Stunde“ gibt es bereits „eine 2. Generation“ bzw. wird an dieser gearbeitet.5 Es handelt sich bei dem Verbraucherrecht somit um ein Rechtsgebiet, dessen Gegenwart besonders lebendig ist. Dies lässt eine ereignisreiche Zukunft erwarten. Neben der rasanten Entwicklung6 in den letzten Jahren zeichnet das Verbraucherrecht auch seine Verästelung mit anderen Rechtsgebieten aus: 2 Gsell Verbraucherschutz, in: Staudinger Eckpfeiler des Zivilrechts, Neubearbeitung 2008, 482, weist auf die Bedeutung der Einheitlichen Europäischen Akte (ABl. 1987 L 169/1) für den „Boom“ des europäischen Verbraucherrechts hin: Durch sie wurde das Mehrheitsverfahren des Rates im Rahmen der Binnenmarktkompetenz (damals Art. 100a Abs. 1 EWGV, nunmehr Art. 114 VAEU) ermöglicht und der Verbraucherschutz ausdrücklich in diese Kompetenz aufgenommen. Zur Bedeutung des Primärrechts für das (Verbraucher)Vertragsrecht vgl. Riesenhuber Europäisches Vertragsrecht2, 2006, 32 ff. 3 RL 85/577/EWG des Rates vom 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (Haustürgeschäfts-RL). 4 Mitgezählt wurden auch Rechtsakte, die sowohl den Verbraucher als auch sonstige Kunden schützen. Soweit es von einer Richtlinie eine „alte“ und eine „neue“ gibt, wurde sie nur einmal gezählt. Die Zahl erhöht sich entsprechend, wenn man auch die Richtlinien im Versicherungssektor und Richtlinien zum Schutz vor Diskriminierungen mitzählt. Alle Normen sind unter www.europa.eu abrufbar und zum Großteil abgedruckt bei Grundmann/Riesenhuber Textsammlung Europäisches Privatrecht, 2009. 5 So ersetzt die RL 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.1.2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen die Timesharing-RL 94/47/EG; die RL 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge ersetzt die Verbraucherkredit-RL 87/102/EWG; und der Vorschlag für eine RL des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher, KOM(2008) 614 endg., sieht die Zusammenfassung und Änderung der RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter (Verbrauchsgüterkauf-RL), der HaustürgeschäftsRL, und der RL 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz (Fernabsatz-RL) und der 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (Klausel-RL) vor. 6 Die Beschleunigung der Verbraucherrechtsentwicklung ist auch auf die gesteigerte Anzahl von Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH zurückzuführen. Dieser haucht mit seiner Rechtsprechung den teilweise doch sehr knapp gehaltenen Bestimmungen erst Leben ein. Vgl. etwa zuletzt EuGH 19.11.2009, verbundene Rs. C-402/07, C-432/07 =

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Verbraucherrecht mag zwar hinsichtlich der personalen Anwendbarkeit begrenzt sein – wobei auf die Sinnhaftigkeit dieser Einschränkung weiter unten eingegangen werden soll –, sachlich ist eine solche Beschränkung keinesfalls gegeben. So dienen nicht nur privatrechtliche sondern auch öffentlichrechtliche Vorschriften dem Verbraucherschutz. Verbraucherrecht überschreitet gewissermaßen die „tradierten Fächereinteilungen in Öffentliches Recht und Privatrecht“7. Ebenso umfassen die europäischen Richtlinien und Verordnungen unterschiedliche Lebenssachverhalte, die von der Buchung einer Pauschalreise bis zur Aufnahme eines Kredites reichen. Auch erfasst das europäische Verbraucherrecht nicht nur vertragsrechtliche Beziehungen.8 LMK 2010, 295994 mit Anm. Schulz. In dieser Entscheidung hat der EuGH die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.2.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (Fluggastrechte-VO) so interpretiert, dass die bei Flugannullierung vorgesehenen Rechtsbehelfe dem Reisenden auch bei einer sogenannten großen Verspätung zustehen müssen. Dadurch wurde der Anwendungsbereich dieser VO – die auch auf den Reisenden anzuwenden ist, der zu gewerblichen Zwecken reist – erheblich erweitert. Vgl. als weitere Beispiele für EuGH-Entscheidungen mit erheblichen Auswirkungen EuGH 17.4.2008, Rs. C-404/06 Quelle AG (kein Wertersatz bei Austausch des vertragswidrigen Verbrauchsgut); EuGH 3.9.2009, Rs. C-489/07 Pia Messner (keine generelle Pflicht zum Nutzungsersatz bei Geltendmachung des Widerrufsrechts im Fernabsatz); EuGH 14.1.2010, Rs. C-304/08 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e.V. sowie EuGH 23.4.2009, verbundene Rs. C-261/07 und C-299/07 Total Belgium NV und Sanoma Magazines Belgium NV (generelles Kopplungsverbot widerspricht der RL 2005/29/EG vom 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 48/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004, ABl. 2005 Nr. L 149/22, UGP-RL). 7 Schuhmacher Der Konsumentenschutzgedanke in der österreichischen Rechtsordnung – Zur Position des KSchG im System eines umfassenden Konsumenten(schutz)rechts, in: Krejci (Hrsg.) Handbuch zum Konsumentenschutzgesetz, 1981, 1, 8. Wendehorst Auf dem Weg zu einem zeitgemäßen Verbraucherprivatrecht: Umsetzungskonzepte, in: Jud/Wendehorst (Hrsg.) Neuordnung des Verbraucherprivatrechts in Europa? Zum Vorschlag einer Richtlinie über Rechte der Verbraucher, 2009, 153, 154 unterscheidet zwischen Verbraucherschutzrecht als Summe der öffentlichrechtlichen Vorschriften und Verbraucherprivatrecht. Dem Verbraucherprivatrecht ordnet Wendehorst das Verbrauchervertragsrecht und das Verbrauchermarketing zu, sowie Annexvorschriften des Prozessrechts und des Kollisionsrechts. M.E. vermag diese Einteilung nicht zu überzeugen: Zunächst besteht keine einheitliche Verwendung des Begriffes Verbraucherschutz nur für öffentlichrechtliche Vorschriften, insbesondere spricht der AEU ausschließlich vom Verbraucherschutz. Vor allem sind jedoch die Grenzen zwischen Vertragsrecht und Vorschriften des „Marketings“ fließend (vgl. unten IV./2.). Außerdem wird das Verständnis kollisionsrechtlicher und prozessrechtlicher Vorschriften als bloße „Annexmaterie“ deren Bedeutung nicht gerecht. 8 RL 85/374/EWG vom 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 Nr. L 141/20.

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Gleichwohl zeitigt das europäische Verbraucherrecht insbesondere Auswirkungen auf das Vertragsrecht. Das gilt sowohl für die nationalen Vertragsrechte der Mitgliedstaaten als auch für die Entwicklung eines europäischen Vertragsrechts. Im folgenden Beitrag interessieren nur die Vorschriften, die dem Privatrecht zuzuordnen sind. Dabei soll zunächst kurz auf die Entwicklung (II.) und Gegenwart (III.) des Verbraucherrechts eingegangen und dann drei Punkte dargestellt werden, die das Verbraucherrecht auch in Zukunft beeinflussen werden (IV/1., IV/2., IV/3.).

II. Vergangenheit Verbraucherrecht wurde plakativ als „Kind der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts“9 bezeichnet. Diese Aussage stimmt unzweifelhaft: So stammt die bekannte Verbraucherbotschaft von John F. Kennedy aus dem Jahr 1961.10 Diese Rede, in der der amerikanische Präsident vier wesentliche Rechte (Recht auf Sicherheit, Information, Auswahl und Anhörung) des Verbrauchers postulierte, hatte Katalysatorwirkung für die Verbraucherschutzbewegung in Amerika. Auch auf europäischer Ebene gehen, wie eingangs erwähnt, die ersten Bemühungen hinsichtlich einer Stärkung der Position des Verbrauchers auf die 70er Jahre zurück: 1973 wurde eine eigene Generaldirektion für Verbraucherschutz in der Kommission eingerichtet, in den Jahren 1975 und 1981 erstmals verbraucherpolitische Programme – in denen unter Anlehnung an Kennedy Rechte des Verbrauchers postuliert wurden – verabschiedet. Auch auf nationaler Ebene kann man zu dieser Zeit eine verstärkte Beschäftigung mit der Verbraucherschutzthematik feststellen, insbesondere die Verabschiedung entsprechender Kodifikationen. So stammt z.B. das österreichische Konsumentenschutzgesetz11 aus dem Jahre 1979, die finnische Verbraucherschutzkodifikation12 aus dem Jahre 1978. Die Verbraucherschutzthematik hat also ganz unzweifelhaft seit den 1960er Jahren sowohl in den USA als auch Europa immer mehr Bedeutung erlangt. Erstmals aufgetaucht ist der Gedanke jedoch schon viel früher, auch in Deutschland. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg lag verschiedenen Gesetzen der Schutz des schwächeren Vertragspartners zu Grunde. Genannt sei hier vor allem das Abzahlungsgesetz 1894.13 Interessanterweise war Schutz9

Schricker Verbraucherschutzrecht – ein neues Rechtsgebiet?, GRURInt 1976, 315, 316. Abgedruckt bei von Hippel Verbraucherschutz3, 1986, 281 ff. 11 Bundesgesetz vom 8.3.1979, mit dem Bestimmungen zum Schutz der Verbraucher getroffen werden (Konsumentenschutzgesetz, KSchG), öst. BGBl. Nr. 140/1979. 12 Konsumentskyddslag 20.1.1978/38. 13 Gesetz betreffend die Abzahlungsgeschäfte vom 16.5.1894, RGBl. 1894, 450. Ausführlich zur Entwicklung des Verbraucherschutzes in Deutschland und Österreich Schuh10

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subjekt etwa des Abzahlungsgesetzes nicht nur der Verbraucher i.S.d. diversen europäischen Verbraucherschutz-RL, also eine natürliche Person, die zu Zwecken außerhalb ihrer geschäftlichen oder beruflichen Tätigkeit handelt.14 Vielmehr war Hintergrund für die Verabschiedung dieses Gesetzes auch der Schutz von Klein(st)unternehmern in der Gründungsphase: In dieser Zeit der aufkommenden Massenproduktion wurden häufig Webstühle und Klaviere durch Abzahlungsgeschäfte vertrieben. Diese waren dazu gedacht, den Verkäufern als Weber oder Klavierlehrer ein Einkommen zu sichern. Die in den Abzahlungsverträgen vorgesehenen Verfallsklauseln führten bei Zahlungsunfähigkeit des Schuldners zum Verlust der Kaufsache sowie der bereits bezahlten Beträge, und dadurch auch zur Zerstörung der beruflichen Existenz.15 Durch das Abzahlungsgesetz geschützt war jedermann, mit der Ausnahme eingetragener Kaufleute. Rein zeitlich hätte die im Abzahlungsgesetz von 1894 geregelte Materie nicht notwendigerweise in ein Sondergesetz aufgenommen werden müssen. Sie hätte auch im BGB geregelt werden können. Davon wurde jedoch Abstand genommen.16 Auch die in der Folge erlassenen Regelungen zum Schutz des schwächeren Vertragspartners wurden zum Großteil in Sondergesetzen erlassen: So das Haustürwiderrufsgesetz,17 das AGB-Gesetz,18 das Teilzeitwohnrechte-Gesetz,19 das Verbraucherkreditgesetz,20 das Fernabsatzgesetz.21 Die Bestimmungen des die Privatautonomie betonenden BGB wurden im Gegensatz zu diesen „schützenden“ Gesetzen gesehen und von Otto von Gierke bekanntlich das Fehlen „sozialistischen Öls“22 moniert. Schon hier sei jedoch darauf hingewiesen, dass das BGB durchaus seit sei-

macher Verbraucher und Recht in historischer Sicht, 1981. Vgl. auch Zimmermann The new German law of obligations, 2005, 159, 163, der darauf hinweist, dass schon dem römischrechtlichen Ädilensystem verbraucherschützende Wirkung inne wohnte. 14 Ebenso Ebers in: Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (ed), EC Consumer Law Compendium, 2008, 454. 15 Vgl. zu den weiteren mit den Abzahlungsverträgen einhergehenden Problemen (überhöhte Preise, Mangelhaftigkeit des Kaufgegenstandes, irreführende und aggressive Geschäftspraktiken) Benöhr Konsumentenschutz vor 80 Jahren, ZHR 138 (1974) 492, 496 f.; vgl. zu dem sich zeitgleich mit der gleichen Problematik befassenden, teilweise hinsichtlich des gewährten Schutzes jedoch weitergehenden, österreichischen Ratengesetz Schuhmacher (Fn. 13), 70 ff. 16 Zu den Gründen vgl. Zimmermann (Fn. 13), 166 f. 17 Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften vom 6.1.1986, BGBl. I 1986, 122. 18 Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen vom 9.12.1976, BGBl. I 1976, 3317. 19 Gesetz über die Veräußerung von Teilzeitnutzungsrechten an Wohngebäuden vom 20.12.1996, BGBl. I 1996, 2154. 20 Verbraucherkreditgesetz vom 17.12.1990, BGBl. I 1990, 2840. 21 Fernabsatzgesetz vom 27.6.2000, BGBl. I 2000, 897. 22 Von Gierke Die soziale Aufgabe des Privatrechts2, 1948, 10.

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nem Inkrafttreten Bestimmungen kennt, die zu einer gewissen „Materialisierung“ der Vertragsfreiheit führen.23 Eine Abkehr der Regelung verbraucherrechtlicher Materien in Sondergesetzen erfolgte durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz 2001. Der deutsche Gesetzgeber nahm die Verpflichtung zur Umsetzung der Verbrauchsgüterkauf-RL, der E-Commerce-RL24 sowie der ZahlungsverzugsRL25 zum Anlass, die lang geplante Reform des Schuldrechts zu verwirklichen.26 Im Rahmen der Schuldrechtsreform wurden auch die obengenannten Nebengesetze in das BGB überführt. Schon davor27 hatten die Begriffe „Verbraucher“ und „Unternehmer“ Eingang in die §§ 13 und 14 BGB gefunden. Auch als die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (UGPRL)28 umzusetzen war, nahm der deutsche Gesetzgeber von der Umsetzung in einem „Verbraucher-UWG“ erfreulicherweise Abstand und setzte diese RL im UWG um.29 Die Implementierung verschiedener Sondergesetze in das BGB hatte jedoch nicht zur Folge, dass sich der beschränkte persönliche Anwendungsbereich der Sondergesetze – ein Verbraucher i.S.d. § 13 BGB kontrahiert mit einem Unternehmer i.S.d. § 14 BGB – vergrößert.30 Die 23 Zu den Begriffen formelle/materielle Vertragsfreiheit vgl. Bydlinski (Fn. 1), 158 ff., 753; ders. Die Suche nach der Mitte als Daueraufgabe des Privatrechts, AcP 204 (2004) 309, 373 ff.; Canaris Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu einer „Materialisierung“, AcP 200 (2000) 273, 277 ff., beide m.w.N. Canaris a.a.O., unterscheidet weiter zwischen einer Materialisierung der Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit. 24 RL 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt. 25 RL 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.6.2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr. 26 Zur Geschichte der Schuldrechtsreform vgl. etwa Zimmermann Schuldrechtsmodernisierung?, in: Ernst/Zimmermann (Hrsg.) Zivilrechtswissenschaft und Schuldrechtsreform, 2001, 1 ff. 27 Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro vom 27.6.2000, BGBl. I 2000, 897 vom 30.6.2000. 28 RL 2005/29/EG vom 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 48/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/ 2004, ABl. 2005 Nr. L 149/22. 29 Erstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb vom 22.12.2008, BGBl. 2008 Teil I, 2949 ff; vgl. dazu etwa Köhler Die Umsetzung der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken in Deutschland, in: Augenhofer (Hrsg.) Die Europäisierung des Kartell- und Lauterkeitsrechts, 101 ff. In anderen Mitgliedstaaten wurde die UGP-RL nur für den Bereich Business to Consumer (B2C) umgesetzt, so etwa in England. Vgl. zur Umsetzung in England etwa Collins Harmonisation by Example: European Laws against Unfair Commercial Practices, MLR 2010, 89. 30 Es wurden jedoch nicht alle Nebengesetze in das BGB überführt. Die Integration von Nebengesetzen sagt überdies nichts darüber aus, ob das Verbraucherrecht als Sonderprivatrecht zu qualifizieren ist, vgl. jedoch Reymann Das Sonderprivatrecht der Handelsund Verbraucherverträge, 2009, 107, der Lurger/Augenhofer Österreichisches und Euro-

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Verbrauchsgüterkauf-RL wurde hingegen weitgehend „überschießend“ umgesetzt,31 sodass sich im BGB unter dem Untertitel „Verbrauchsgüterkauf“ nur sechs Bestimmungen finden, von denen wiederum nur vier unmittelbar die Position des Verbrauchers betreffen. Die §§ 478 und 479 BGB regeln hingegen den Händlerregress. Generell kann beobachtet werden, dass das europäische Verbraucherrecht zunächst Fragen aufgegriffen hat, die im deutschen Recht bereits geregelt waren (z.B. Haustürgeschäfte, Pauschalreisen, AGB-Kontrolle). Das deutsche Recht hatte daher zum Teil Vorbildwirkung für europäische Richtlinien, die entsprechenden deutschen Vorschriften mussten daher nur an die europäischen Vorgaben angepasst werden. In den letzten Jahren gehen die Impulse für neue verbraucherrechtliche Vorschriften hingegen primär von Europa aus,32 Richtlinien mussten umgesetzt werden und Umsetzungsvorschriften wiederum an die EuGH-Judikatur angepasst werden.33 Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. So trat etwa am 4.8.2009 das Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen34 in Kraft, das auf keine Richtlinie zurückgeht.

III. Gegenwart Wo endet die Vergangenheit, wo beginnt die Gegenwart? Die Gegenwart des Europäischen Verbraucherschutzes kann nicht punktuell mit dem Jahre 2010 – in dem wir das freudige Ereignis des 200. Geburtstages der Humboldt Universität zu Berlin begehen – festgesetzt werden. Sie hat vielmehr päisches Konsumentenschutzrecht, 2005 (nunmehr 2. Auflage 2008), 14, eine gegenteilige Auffassung unterstellt. Vgl. zu dieser Problematik auch Krejci Ist das Verbraucherrecht ein Rechtsgebiet?, in: FS Mayrhofer 2002, 120 ff. 31 Zur überschießenden Umsetzung vgl. etwa Heiderhoff Gemeinschaftsprivatrecht2, 2007, 40; zur Frage, ob eine Auslegung überschießend umgesetzter RL durch den EuGH zulässig ist, vgl. etwa EuGH 23.3.2000, Rs. C-208/98 Berliner Kindl. 32 Zuletzt wurde die Verbraucherkredit-RL 2008 durch das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie, des zivilrechtlichen Teils der Zahlungsdiensterichtlinie sowie zur Neuordnung der Vorschriften über das Widerrufs- und Rückgaberecht vom 29.6.2009, BGBl. I 2009, 2355, in das deutsche Recht umgesetzt. Vgl. Zimmermann (Fn. 13), 178, der davon spricht, dass nach der Regelung des Reisevertragsrechts “the German Government appeared to have lost its élan in the field of consumer legislation“. 33 So musste etwa § 355 BGB an die Entscheidung des EuGH vom 13.12.2001, Rs. C-481/99 Heininger angepasst werden. 34 Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen vom 29.7.2009, BGBl. I 2009, 2413. Vgl. dazu Köhler Neue Regelungen zum Verbraucherschutz bei Telefonwerbung und Fernabsatzverträgen, NJW 2009, 2567 ff.; Alexander Neuregelungen zum Schutz der Verbraucher bei unerlaubter Telefonwerbung, JuS 2009, 1070 ff.

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spätestens35 im Jahre 2005 begonnen: Damals beauftragte die Europäische Kommission das sogenannte CoPECL Network of Excellence mit der Ausarbeitung eines Common Frame of Reference (CFR).36 An dem CoPECL Netzwerk waren verschiedene Forschergruppen, unter der Federführung der Study Group on a European Civil Code und der Acquis Group, beteiligt. Das mit dem CFR verfolgte Ziel ist Gegenstand hitziger Debatten.37 Nach Auffassung der Europäischen Kommission ist der CFR “a long-term project which aims at providing the European Legislators (Commission, Council and European Parliament) with a ‚toolbox‘ or a handbook to be used for the revision of existing and the preparation of new legislation in the area of contract law. This toolbox could contain fundamental principles of contract law, definitions of key concepts and model provisions.”38 Zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrages gibt es noch keinen CFR. Sehr wohl gibt es einen sogenannten Draft Common Frame of Reference (DCFR), d.h. einen von den beteiligten Forschergruppen ausgearbeiteten Entwurf eines CFR. Dieser DCFR wurde Ende 2007 als interim outline edition und im Februar 2009 als outline edition veröffentlicht. Im Oktober 2009 folgte dann die um full comments and notes ergänzte full edition.39 Die Endversion des DCFR umfasst 10 Bücher und geht weit über das von der Europäischen Kommission anvisierte Vertragsrecht hinaus. Vielmehr ähnelt es einem Entwurf für ein europäisches Zivilgesetzbuch, allerdings ohne Familien- und Erbrecht sowie ohne Verbraucherkreditrecht. Gesondert veröffentlicht wurden die Arbeiten zum Versicherungsrecht.40 Nach Auffassung der Europäischen Kommission haben die Vorarbeiten für den CFR, die das Verbrauchervertragsrecht betreffen, bereits als “starting point” für das im Februar 2007 veröffentlichte Grünbuch zur Überarbeitung des Verbraucher-Acquis41 und für den im Oktober 2008 veröffent35 Vgl. schon die Mitteilung der Europäischen Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, vom 11.7.2001, KOM(2001) 398 endg. 36 Zu weiteren Rechtsvereinheitlichungsprojekten und deren Verhältnis zum DCFR vgl. Zimmermann Textstufen in der modernen Entwicklung des europäischen Privatrechts, EuZW 2009, 319 ff. 37 Vgl. etwa Jansen/Zimmermann Was ist und wozu der DCFR?, NJW 2009, 3401 ff.; Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Wagner/Zimmermann Der Gemeinsame Referenzrahmen, JZ 2008, 539 ff.; dagegen Schulte-Nölke Arbeiten an einem europäischen Vertragsrecht – Fakten und populäre Irrtümer, NJW 2009, 2161 ff. 38 Http://ec.europa.eu/consumers/rights/contract_law_en.htm#green. 39 Study Group on a European Civil Code/Research Group on EC Private Law (Acquis Group) (ed) Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Draft Common Frame of Reference (DCFR), Full Edition, 2009. 40 Getrennt veröffentlicht wurden die Principles of European Insurance Contract Law. 41 Grünbuch zur Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz von 8.2.2007, KOM(2006) 744 endg.

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lichten Entwurf für eine Verbraucherrechte-RL42 gedient.43 Das Grünbuch und der Entwurf für die Verbraucherrechte-RL sind Bestandteil der Überarbeitung des Verbraucherbesitzstandes, also des bereits de lege lata existierenden europäischen Verbraucherrechts.44 Am europäischen Verbraucherrecht wird also im Moment „von zwei Seiten“ gearbeitet,45 auf der einen Seite durch die Arbeiten am CFR, auf der anderen Seite durch die Überarbeitung bereits existierender Regelungen.46 Inwieweit die Vorarbeiten am CFR tatsächlich das Grünbuch und den Entwurf für eine Verbraucherrechte-RL beeinflusst haben und inwiefern die Arbeiten an den verschiedenen Projekten tatsächlich koordiniert sind, mag an dieser Stelle dahingestellt bleiben.47 Während das Grünbuch noch die Überarbeitung von 8 Richtlinien zur Diskussion stellte, umfasst der Vorschlag für den Entwurf einer Verbraucherrechte-RL nunmehr nur noch vier Richtlinien: Die Verbrauchsgüterkauf-RL, die Klausel-RL, die Haustürgeschäfts-RL und die FernabsatzRL sollen zu einer einheitlichen Richtlinie verschmolzen werden. Dabei sollen die verschiedenen Widerrufsrechte vereinheitlicht und allgemeine, d.h. sowohl für den Verbrauchsgüterkauf, den Fernabsatz, Haustürgeschäfte und AGB geltende Informationspflichten vorgeschrieben werden. Daneben ist teilweise auch eine Absenkung des bereits bestehenden Schutzniveaus vorgesehen, z.B. die Einführung einer Rügepflicht des Verbrauchers beim Verbrauchsgüterkauf.48 Der Entwurf ist der Maximalharmonisierung ver42 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher vom 8.10.2008, KOM(2008) 614 endg. 43 Communication from the Commission to the Council, the European Parliament, the European Economic and Social Committee and the Committee of the regions. Justice, freedom and security in Europe since 2005: An evaluation of the Hague programme and action plan, 10.6.2009, SEC(2009) 767 endg., 114 f. A.A. von Bar/Beale/Clive/SchulteNölke DCFR – Outline edition, introduction, 63 (“In its present form, however, and perhaps for reasons of timing, the latter does not make any explicit use of the DCFR”). 44 Vgl. auch die von der Acquis Group veröffentlichten Acquis Principles (als “restatement” des bestehenden europäischen Vertragsrechts) Research group on the existing EC private law (Acquis group) (ed) Principles on the existing EC contract law (Acquis Principles) – Contract II, 2009. 45 Die existierenden Regeln wurden auch im DCFR berücksichtigt. Nach Ernst Der ‚Common Frame of Reference‘ aus juristischer Sicht, AcP 208 (2008) 248, 252, hat man „gleichsam die insoweit einschlägigen Richtlinien ‚umgesetzt‘, nur eben nicht in die Rechtsordnung eines bestimmten Mitgliedsstaates, sondern in die ‚ideale‘ Vertragsrechtsordnung, wie man sie aus einem innereuropäischen Rechtsvergleich zu destillieren versucht hat.“ 46 Neben den vier vom Entwurf aufgegriffenen Richtlinien steht auch die Überarbeitung anderer europäischer Verbraucherschutzvorschriften zur Debatte: So konnten etwa bis Februar 2010 Stellungnahmen zur Modernisierung der Pauschalreiserichtlinie sowie der Fluggastrechte-VO abgegeben werden. 47 Vgl. dazu etwa Zimmermann (Fn. 37), 321; Hesselink The consumer rights directive and the CFR: two worlds apart?, ERCL 2009, 290 ff. 48 Zum Entwurf vgl. etwa Jud/Wendehorst (Fn. 7); Rott/Terryn The proposal for a directive on consumer rights, ZEuP 2009, 456 ff.; Twigg-Flesner/Metcalfe The proposed Consumer Rights Directive – less haste, more thought?, ERCL 2009, 391 ff.

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pflichtet.49 Die in dem Entwurf vorgesehenen Regelungen sind daher abschließend, strengere nationale Vorschriften in den von ihr erfassten Bereichen nicht mehr möglich. Damit bestätigt der Entwurf eine sich offenbar abzeichnende Trendwende im europäischen Verbraucherrecht:50 Alle älteren Richtlinien – mit Ausnahme der RL über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen und der Produkthaftungs-RL51 – sind Mindestrichtlinien. Strengere, d.h. für den Verbraucher vorteilhaftere, nationale Vorschriften bleiben zulässig. Die UGP-RL aus 2005 sieht hingegen eine Vollharmonisierung vor.52 Alle seitdem im Bereich des Verbraucherrechts erlassenen Richtlinien53 schreiben wie auch der Entwurf für eine Verbraucherrechte-RL eine Maximalharmonisierung vor. Begründet wird dieses Vorgehen mit der von der Mindestharmonisierung ausgehenden Rechtszersplitterung.54 Diese wiederum wirke einem gemeinsamen Binnenmarkt entgegen: Unterschiedliche Rechtsnormen verhinderten sowohl grenzüberschreitendes Anbieten als auch grenzüberschreitendes Nachfragen, weil in beiden Fällen die Transaktionskosten zu hoch seien. Diese Argumentation überzeugt allerdings nicht: Zunächst haben die Mindest-Richtlinien nicht zu einer Rechtszersplitterung geführt. Vielmehr hatten die einzelnen Mitgliedstaaten schon davor unterschiedliche Rechtssysteme. Die Mindest-Richtlinien haben somit zumindest zu einem gemeinsamen Mindestmaß an Verbraucherrechten geführt. Viele Mitgliedstaaten haben die Richtlinien überschießend umgesetzt. Das zeigt wohl, dass die von den Verbraucherrichtlinien vorgesehenen Instrumente nur ein Mindestmaß vorsehen, dieses von den einzelnen Mitgliedstaaten jedoch oft nicht als ausreichend angesehen wird. Käme es nun zur Verwirklichung der Verbraucherrechte-RL im vorgeschlagenen Umfang, würde daraus eine Absenkung des bereits erreichten Schutzniveaus resultieren. Dadurch würde das „Verbrauchervertrauen“ jedoch nicht gefördert werden.55 Schließlich weisen die Richtlinien, die von einer Vollharmonisierung 49

Erwägungsgrund 2 des Entwurfes für eine Verbraucherrechte-RL. Vgl. in diesem Sinne auch Micklitz/Reich Der Kommissionsvorschlag vom 8.10.2008 für eine Richtlinie über „Rechte der Verbraucher“, oder: „der Beginn des Endes einer Ära . . .“, EuZW 2009, 279 ff., 279: „radikale Abkehr vom bisherigen EU-VerbraucherAcquis“. 51 Bis zu einer Klarstellung durch den EuGH im Jahre 2002 (EuGH 24.4.2002, Rs. C-183/00 María Victoria González Sánchez; 25.4.2002, Rs. C-154/00 Kommission/ Griechenland; 25.4.2002, Rs. C-52/00 Kommission/Frankreich) ging die h.L. davon aus, dass auch diese RL nur eine Mindestharmonisierung vorsieht. 52 Das wurde in den beiden ersten Entscheidungen zur UGP-RL vom EuGH bestätigt (EuGH 14.1.2010, Rs. C-304/08 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e.V.; 23.4.2009, Rs. C-261/07 und C-299/07 Total Belgium NV und Sanoma Magazines Belgium NV). 53 Verbraucherkredit-RL 2008, Timesharing-RL 2008, Zahlungsdienste-RL. 54 Vgl. 1 ff. des Entwurfes für eine Verbraucherrechte-RL. 55 Davon abgesehen, muss man sich fragen, ob die beklagte geringe grenzüberschreitende Nachfrage von Verbrauchern wirklich mit der mangelnden Rechtseinheit zusam50

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ausgehen, so viele Ausnahmebereiche auf, dass es schwierig sein wird, geregelte und nicht geregelte Bereiche zu harmonisieren.56 Auch lassen alle vollharmonisierten Richtlinien ebenso wie die Mindest-Richtlinien konkrete Regelungen über die Rechtsfolgen von Verstößen gegen die Richtlinien vermissen. Eine einheitliche Rechtslage wird dadurch gerade nicht geschaffen. Schließlich verhindert eine Vollharmonisierung die flexible Anpassung in den einzelnen Mitgliedstaaten oder die Berücksichtigung kultureller Besonderheiten. Es sollte daher vorerst das Prinzip der Mindestharmonisierung beibehalten werden. Gleichwohl könnte schon jetzt eine abschließende Regelung für einzelne Bereiche Sinn machen, so etwa für die Zeitdauer der Widerrufsrechte oder für das vorgeschlagene Widerrufsformular.57 Die Arbeiten am CFR und den Entwurf für eine Verbraucherrechte-RL verbindet, dass aus heutiger Sicht nicht abschätzbar ist, wie sich diese beiden Projekte konkret weiterentwickeln werden. Einer Mitteilung der Europäischen Kommission vom 10.6.200958 ist jedoch zu entnehmen, dass die Verabschiedung des CFR für 2010 geplant sei. Nach dem Stockholmer Programm,59 das die Themen für die Jahre 2010-2014 vorgibt, soll der politische CFR als “a non-binding set of fundamental principles, definitions and model rules to be used by the lawmakers at Union level to ensure greater coherence and quality in the lawmaking process”60 dienen. Für eine rasche Verabschiedung eines „politischen“ CFR spricht auch, dass die Zuständigkeit für “contract law and marketing law” in der 2010 eingesetzten Kommission nicht mehr in der Generaldirektion für Gesundheit und Verbraucherschutz sondern in der Generaldirektion für Justiz liegt. Die dafür zuständige Kommissarin Reding hat in der schriftlichen Beantwortung der Fragen des Europäischen Parlaments dargelegt,61 dass 2010 die Arbeiten am CFR abgeschlossen sein sollen. Mittelfristig soll auf dessen Grundlage sowie aufbauend auf den Verbraucherrechten und dem Europäischen Vertragsrecht ein Europäisches Zivilgesetzbuch entstehen. Dieses soll als „tool“ für künftige

menhängt. Viele Verbraucher werden sich überhaupt nicht überlegen, welche Rechte ihnen gegebenenfalls zustehen und sich eher von pragmatischeren Gründen davon abhalten lassen, geplant – also nicht nur anlässlich eines Auslandsaufenthaltes – grenzüberschreitend Rechtsgeschäfte zu tätigen. 56 Ebenso und zu weiteren Argumenten gegen eine Vollharmonisierung Micklitz/Reich (Fn. 51), 279 ff. 57 Micklitz/Reich (Fn. 51), 286. 58 Communication from the Commission to the Council, the European Parliament, the European Economic and Social Committee and the Committee of the regions. Justice, freedom and security in Europe since 2005: An evaluation of the Hague programme and action plan, 10.6.20009, SEC(2009) 767 endg., 114 f. 59 Http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/09/st17/st17024.de09.pdf. 60 Fn. 60, 33. 61 Http://www.europarl.europa.eu/hearings/static/commissioners/answers/reding_ replies_en.pdf.

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Zivilgesetzgebung, als optionales Instrument („28. Rechtsordnung“) oder „ehrgeizigeren Zielen“ dienen. Daher kann man wohl folgende Prognose wagen: Sowohl CFR als auch Verbraucherrechte-RL werden kommen, vermutlich bald. Fraglich ist somit nicht das „ob“, sondern das „wie“. Im Folgenden soll daher nicht auf Einzelheiten von Entwürfen eingegangen werden, die zwar sicherlich für die Zukunft des Verbraucherrechts maßgebliche Bedeutung haben, deren weitere Entwicklung jedoch ungewiss ist. Vielmehr sollen drei Punkte aufgegriffen werden, die m.E. für die Weiterentwicklung des Verbraucherrechts maßgebliche Bedeutung haben und daher sowohl bei der Verabschiedung des CFR als auch der Überarbeitung des VerbraucherAcquis sowie bei der Gestaltung des autonomen deutschen Verbraucherrechts berücksichtigt werden sollten. IV. Zukunft 1. Die personale Begrenzung des Verbraucherrechts Aus der personalen Begrenzung des Verbraucherrechts resultieren mehrere Probleme: Einerseits wird auf typisierte Ungleichgewichtslagen abgestellt. Das führt zur Gewährung von Schutz auch in Fällen, in denen keine Schutzbedürftigkeit besteht. Andererseits wird mitunter kein Schutz gewährt, obwohl Schutzbedürftigkeit besteht. Außerdem existiert – 25 Jahre nach der Haustürgeschäfts-RL – noch immer kein einheitlicher Verbraucherbegriff. a) Das Abstellen auf typisierte Ungleichgewichtslagen Das Verbraucherrecht zeichnet ein eingeschränkter persönlicher Anwendungsbereich aus: Die diesem Rechtsgebiet zugeordneten Vorschriften kommen grundsätzlich nur dann zur Anwendung, wenn ein Verbraucher beteiligt ist.62 Das alleine reicht jedoch nicht aus. Vielmehr muss der Verbraucher auf einen Unternehmer treffen, erst dann wird das betreffende Geschäft zu einem „Verbrauchergeschäft“. Daneben erfassen die Regelungen des Verbraucherrechts meist bestimmte, sachlich eng umgrenzte Anwendungsgebiete: den Abschluss eines Geschäftes an der Haustür, die Buchung einer Pauschalreise, die Aufnahme eines Verbraucherkredites etc. Weiter ist hingegen der sachliche Anwendungsbereich der Verbrauchsgüterkauf-RL und der Klausel-RL. 62 Zu den sogenannten Kundenschutz-Richtlinien bzw. Verordnungen, die sowohl Verbraucher als auch sonstige Kunden schützen, gehören etwa die Pauschalreise-RL, die Fluggastrechte-VO, die Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr (Fahrgastrechte-VO).

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Wer ist aber nun Verbraucher? Kennedy erklärte in seiner eingangs zitierten Rede „consumers, by definition include us all“. Aus diesem so banalen wie richtigen Satz resultiert auch ein grundlegendes Problem des Verbraucherrechts. Das Verbraucherdasein ist eine Rolle,63 in die jeder von uns schlüpfen kann, z.B. der Rechtsanwalt, der Handwerker, der Arzt, der Arbeiter, der Verkäufer, der Landwirt, der Professor und der Rentner. Dabei lassen die betreffenden Personen jedoch ihren persönlichen Hintergrund nicht zurück, wenn sie als Verbraucher agieren: Kauft der Handwerker im Baumarkt Beton, um in seiner Freizeit an seinem Privathaus zu bauen, besitzt er nicht weniger Kenntnisse über die Qualität der Kaufsache, als wenn er den Beton zur Weiterverarbeitung in seinem Betrieb kaufen würde.64 Diese Tatsache interessiert das Gesetz jedoch ebenso wenig wie die Fälle, in denen ein kleiner Unternehmer im Verhältnis zu einem Konzern schutzwürdig ist. Durch das Abstellen auf typisierte Ungleichgewichtslagen kommt es jedoch zur Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachlagen und damit zwangsläufig zu Wertungswidersprüchen.65 Sowohl das deutsche wie auch das europäische Verbraucherrecht stellen nur auf typisierte Ungleichgewichtslagen ab.66 Es wird davon ausgegangen, dass der Verbraucher dem Unternehmer typischerweise unterlegen ist. Zum Schutz des Verbrauchers existieren daher Vorschriften, die von den allgemeinen Regeln des Zivilrechts abweichen. Dabei bedient sich das europäische Verbraucherrecht primär der Schutzinstrumente der Informationspflichten und Widerrufsrechte. Daneben finden sich jedoch auch inhaltliche Eingriffe in die Vertragsfreiheit, vor allem in der Verbrauchsgüterkauf-RL sowie in der Klausel-RL, aber z.B. auch in der Pauschalreise-RL und der neuen Verbraucherkredit-RL. Auch hier zeigt sich, dass das Abstellen auf typisierte Ungleichgewichtslagen häufig zu kurz greift: Ist der Verbraucher nämlich nicht in der Lage, die teilweise sehr umfangreichen Informationspflichten zu verstehen, so steht ihm kein weiterer Schutz zu. Auch die Widerrufsrechte bei langfristigen und komplexen Verträgen werden dem Verbraucher in der Praxis oft nicht helfen: Der Grund für Widerrufsrechte bei langfristigen Verträgen liegt vor allem in deren Komplexität.67 Das Widerrufsrecht besteht jedoch nach Richtlinienrecht nur innerhalb von maximal 63

Zimmermann (Fn. 13), 161; Bydlinski (Fn. 1), 726. Bydlinski (Fn. 1), 726. 65 Vgl. z.B. Bydlinski (Fn. 1), 708 ff.; ders. (Fn. 24), 360 ff.; Koziol Verbraucherschutz als Selbstzweck oder als Mittel sachgerechter Interessenwahrung?, in: FS Mayrhofer 2002, 103 ff. Zur Inhomogenität der Gruppe der Verbraucher vgl. auch Lurger Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der Europäischen Union, 2002, 335 ff. 66 Micklitz in: Säcker/Rixecker (Hrsg.) Münchener Kommentar zum BGB, Band 15, 2006, Vorbemerkung zu §§ 13, 14 Rn. 70. 67 Zu einer Systematik der Widerrufsrechte und ihrer Begründung vgl. etwa Kalss/ Lurger Rücktrittsrechte (2001); dies. Zu einer Systematik der Rücktrittsrechte insbesondere im Verbraucherrecht, JBl 1998, 89, 153, 165, 219. 64

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14 Tagen nach Vertragsabschluss (zumindest wenn der Verbraucher ordnungsgemäß belehrt wurde). Die Komplexität des Vertrages und seine Belastung durch den Vertrag wird dem Verbraucher jedoch im Regelfall erst während der Vertragslaufzeit bewusst werden, wenn er tatsächlich finanzielle Leistungen erbringen muss.68 Dies gilt jedenfalls dann, wenn der betreffende Verbraucher tatsächlich schutzwürdig ist. Ist der Verbraucher hingegen ein Banker, der für die Finanzierung seiner privaten Yacht einen Kredit aufnimmt, dann hat er gegenüber der kreditgebenden Bank ohnehin keinen Informationsnachteil und die vom Gesetz angenommene typische Ungleichgewichtslage existiert nicht. Bevor weiter auf diese Problematik eingegangen wird, ist darzustellen, wer de lege lata überhaupt Verbraucher und daher durch die einschlägigen Normen geschützt ist. b) Verbraucherbegriff69 Die Teilnahme eines Verbrauchers an einem Rechtsgeschäft ist subjektive Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Mehrzahl der europäischen Richtlinien und Verordnungen. Dennoch kennt das europäische Recht keine einheitliche Verbraucherdefinition.70 Betrachtet man Art. 2 Abs. 1 des Entwurfes für die Verbraucherrechte-RL, findet man folgende Verbraucherdefinition: „jede natürliche Person, die bei von dieser Richtlinie erfassten Verträgen zu Zwecken handelt, die außerhalb ihrer gewerblichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit liegen“. Ähnlich lautet auch die Definition in der neuen Timesharing-RL 2008. Verbraucher ist nach Art. 2 Abs. 1 lit. f dieser RL „jede natürliche Person, die zu Zwecken handelt, die nicht ihrer gewerblichen, geschäftlichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können“. Schon diese beiden Definitionen stimmen nicht miteinander überein. Anders als der Entwurf für eine Verbraucherrechte-RL setzt die neue Timesharing-RL voraus, dass das Geschäft auch außerhalb der geschäftlichen Tätigkeit stattfindet. Die Verbraucherkredit-RL 2008 weicht hingegen wiederum von beiden genannten Definitionen ab. In Art. 3 lit. a der neuen VerbraucherkreditRL fehlt der Zusatz „außerhalb der handwerklichen Tätigkeit“, der sich das erste Mal in der Verbraucherdefinition der UGP-RL (Art. 2 lit. a) findet. Inhaltliche Unterschiede ergeben sich durch diese unterschiedlichen Formulierungen – die im Übrigen wiederum von anderen Sprachfassungen abweichen – keine. Die Begriffe „gewerbliche“ und „berufliche“ Tätigkeit sind weit genug, um darunter auch „handwerkliche“ und „geschäftliche“ Tätig68 So z.B. auch Micklitz Jack is out of the box – the efficient consumer-shopper, JFT 3–4/2009, 417, 433; Zimmermann (Fn. 13), 215. 69 Vgl. zum Verbraucherbegriff ausführlich etwa Denkinger Der Verbraucherbegriff, 2007. 70 Grünbuch (Fn. 42), 17; Heiderhoff (Fn. 32), 88.

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keiten subsumieren zu können. Auch in den älteren VerbraucherschutzRichtlinien lässt sich kein formal einheitlicher Verbraucherbegriff finden. Inhaltlich kann man jedoch aus allen verschiedenen Definitionen ableiten, dass Verbraucher eine natürliche Person ist, die außerhalb ihrer geschäftlichen oder beruflichen Tätigkeit handelt.71 Inhaltlich abweichend ist hingegen die Definition des Verbrauchers in Art. 2 Nr. 4 Pauschalreise-RL. Nach dieser Bestimmung ist es unerheblich, ob der Reisende die Reise aus geschäftlichen oder privaten Gründen antritt. Während gute Gründe dafür sprechen können, den persönlichen Anwendungsbereich von Regelungen auszudehnen, so ist es unglücklich, in diesen Fällen trotzdem den Begriff „Verbraucher“ zu verwenden.72 Die Unterschiede der verschiedenen Verbraucherdefinitionen wurden auch im Grünbuch zur Überarbeitung des Verbraucher-Acquis festgestellt und die Vereinheitlichung dieses Begriffes – sowie des korrespondierenden Unternehmer-Begriffes73 – zur Diskussion gestellt.74 Umso befremdlicher ist es, dass zwei Richtlinien sowie ein Richtlinien-Entwurf, die nach dem Grünbuch verabschiedet wurden, einen solchen einheitlichen Begriff vermissen lassen. Wenn grundsätzlich ein inhaltlich homogener Verbraucherbegriff gewünscht ist, sollte der europäische Gesetzgeber in den verschiedenen Verbraucherschutzmaßnahmen auch einen einheitlichen Begriff verwenden.75 Vergleicht man nun den Verbraucherbegriff des Entwurfes für eine Verbraucherrechte-Richtlinie mit Art. 1:201 der Acquis-principles und 71 So auch z.B. Möller Verbraucherbegriff und Verbraucherwohlfahrt im europäischen und amerikanischen Kartellrecht, 2008, 75; Ebers (Fn. 14), 454. 72 Die Fluggastrechte-VO ist ebenfalls unabhängig vom Zweck der Flugreise anzuwenden. Konsequenterweise verzichtet die VO daher auf eine Bezugnahme auf den Verbraucher und spricht vom „Fluggast“. Eine Definition desselben fehlt jedoch überhaupt. Dasselbe gilt für die Fahrgastrechte-VO. Auch sie kennt weder eine Definition des Verbrauchers noch eine Definition des „Fahrgastes im Eisenbahnverkehr“ und ist unabhängig vom geschäftlichen oder beruflichen Zweck der Eisenbahnfahrt anzuwenden. Die Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten (Universaldienst-RL) spricht wiederum vom Endnutzer. Interessanterweise ist dieser nicht definiert. Vielmehr sind zum Verständnis der Universaldienst-RL die Definitionen der Rahmenrichtlinie (RL 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste) heranzuziehen. Die Rahmen-RL definiert jedoch in Art. 2 lit. I nicht den Endnutzer, sondern den Verbraucher und zwar als „jede natürliche Person, die einen öffentlich zugänglichen elektronischen Kommunikationsdienst zu anderen als gewerblichen oder beruflichen Zwecken nutzt oder beantragt“. Auch wenn die Universaldienst-RL nicht Gegenstand weiterer Betrachtungen ist, ist sie doch auch ein Beispiel für die Leichtfertigkeit und Ungenauigkeit, mit der der europäische Gesetzgeber den Begriff „Verbraucher“ verwendet. 73 Zu diesem vgl. Ebers (Fn. 14), 465 ff. 74 Grünbuch (Fn. 42), 17. 75 Ebenso Ebers (Fn. 14), 496 ff.

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mit der Definition im DCFR, erscheinen die beiden letzteren Begriffe weiter: Verbraucher nach dem DCFR ist “any natural person who is acting primarily for purposes which are not related to his or her trade, business or profession”.76 Vom Verbraucherbegriff erfasst sind daher auch Fälle der sogenannten gemischten Zweckverwendung (dual use), d.h. Fälle, in denen eine Sache sowohl für private als auch für unternehmerische Zwecke verwendet wird,77 solange nur der private Gebrauch überwiegt. Der EuGH hat hingegen im Vorabentscheidungsverfahren Gruber78 eine Verbrauchereigenschaft nur dann für gegeben erachtet, wenn die gewerbliche Nutzung eine ganz untergeordnete Rolle spiele. Eine überwiegend private Nutzung ist daher nicht ausreichend. Das Verfahren betraf die Anwendbarkeit von Art. 13 EuGVÜ79 (nunmehr 15 VO Brüssel-I80 – EuGVVO). Es ist nicht abschließend – nämlich durch den EuGH selbst – geklärt, inwieweit die EuGHRechtsprechung zum EuGVÜ auch für die Auslegung der Verbraucherschutz-Richtlinien Geltung hat. In der Literatur ist diese Frage strittig.81 Es ist jedoch davon auszugehen, dass die EuGH-Judikatur zum Recht der internationalen Zuständigkeit nicht völlig ohne Relevanz für den Verbraucherbegriff der Richtlinien ist. Der EuGH wird den Begriff nur bei Vorliegen spezieller Gründe anders auslegen. Diese sind jedoch nicht zwangsläufig ersichtlich. Zwar begründete der EuGH seine Entscheidung in Gruber damit, dass der Verbrauchergerichtsstand eine Ausnahme vom allgemeinen Gerichtsstand darstelle und daher eng auszulegen sei. Aber auch materiellrechtliche Vorschriften des Verbraucherrechts stehen im Ausnahmeverhältnis zu allgemeinen Vorschriften des Bürgerlichen Rechts. Daher ist wohl zu erwarten, dass der EuGH seine in Gruber entwickelte Auffassung auch auf den Verbraucherbegriff der Richtlinien übertragen würde.82 Es ist so76

Die “Acquis-Principles” sprechen hingegen von „mainly“. Als „Schulbeispiel“ gilt der einen Computer kaufende Rechtsanwalt, der diesen in der Folge sowohl für Schriftsätze als auch für private Zwecke nutzt. 78 EuGH 20.1.2005, Rs. C-464/01 Gruber. Siehe dazu die Anmerkungen von Reich EuZW 2005, 244 und Mankowski EWiR 2005, 305. Vgl. auch Ebers Wer ist Verbraucher? – Neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung des BGH und EuGH, VuR 2005, 361, 364 ff. 79 Brüsseler Übereinkommen vom 27.9.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (konsolidierte Fassung), ABl. C 27 vom 26.1.1998, 1. 80 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. 81 Dagegen Ebers (Fn. 79), 365; Micklitz/Reich (Fn. 51), 281; dies. Crónica de una muerte anunciada: The commission proposal for a “Directive on consumer rights“, CMLR 2009, 471, 482. Dafür Mankowski (Fn. 79), 305 f. Vgl. auch Faber Elemente verschiedener Verbraucherbegriffe in EG-Richtlinien, zwischenstaatlichen Übereinkommen und nationalem Zivil- und Kollisionsrecht, ZEuP 1998, 854 ff. 82 So auch Schmidt-Räntsch Beck'scher Online-Kommentar BGB15, Stand 1.2.2007, § 13 Rn. 12. 77

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mit festzustellen, dass sowohl der DCFR als auch die Acquis-Principles im Vergleich zum status quo der Verbraucherschutz-Richtlinien sowie im Vergleich zur geplanten Verbraucherrechte-RL wohl von einem weiteren Verbraucherbegriff ausgehen.83 Im Grünbuch zur Überarbeitung des Verbraucher-Acquis war die Ausdehnung des Verbraucherbegriffes auf gemischte Geschäfte angedacht gewesen. Der Entwurf für die Verbraucherrechte-RL hat diesen Vorschlag nicht aufgenommen. Sowohl der Entwurf für eine Verbraucherrechte-RL als auch der DCFR versäumen es zudem, weitere Anwendungsfragen im Hinblick auf den europäischen Verbraucherbegriff zu klären.84 Zu diesen offenen Fragen, die hier nicht weiter diskutiert werden sollen, gehören die Zuordnung unselbständiger beruflicher Tätigkeit,85 die Aufnahme einer unternehmerischen Tätigkeit sowie die private Vermögensverwaltung. Wenn die Anknüpfung an den Verbraucherbegriff Voraussetzung für die Anwendbarkeit gewisser Rechtsnormen ist, dann sollte es zumindest eine einheitliche Definition desselben geben. Insbesondere in Zeiten der Überarbeitung von Richtlinien und Ausarbeitung von neuen Entwürfen sollte doch genügend Zeit auf die Entwicklung kohärenter Begriffe und Definitionen verwendet werden. c) Kritik von beiden Seiten Das Verbraucherrecht befindet sich in der unglücklichen Lage, oft der Kritik von zwei Seiten ausgesetzt zu sein: Während ein Teil der Kritiker den Eingriff in die Privatautonomie bemängelt und der Idee des Verbraucherschutzes insgesamt kritisch gegenübersteht, ist für den anderen Teil der durch das Verbraucherrecht gewährte Schutz nicht ausreichend.86 Verbraucherrecht findet sich also zwischen Paternalismuskritik und der Forderung nach social justice87 wieder. 83 Wendehorst The CFR and the review of the acquis communautaire, in: SchmidtKessel (Hrsg.) Der gemeinsame Referenzrahmen, 2009, 335 (“. . . the DCFR has made a political statement rather than a restatement of current EC law”). 84 Vgl. Wendehorst (Fn. 84), 333 (zum DCFR); Jud/Wendehorst Vorschlag für eine Richtlinie über Rechte der Verbraucher – Ein akademisches Positionspapier, ecolex 2009, 279, 280; Schulte-Nölke Scope and Role of the Horizontal Directive and its Relationship to the CFR, in: Howells/Schulze (eds.) Modernising and Harmonising consumer Contract Law, 2009, 29, 35 (zur mangelnden Schaffung allgemeiner Definitionen durch den Entwurf für eine Verbraucherrechte-RL). 85 Diese ist von § 13 BGB erfasst, vgl. Weick in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2004, § 13 Rn. 53; Micklitz (Fn. 67), § 13 Rn. 46. 86 Interessanterweise wurde die gleiche Diskussion schon bei der Einführung des Abzahlungsgesetzes 1894 geführt, vgl. Benöhr (Fn. 15), 499 ff. 87 Study Group on Social Justice in European Private Law Social Justice in European Contract Law: a Manifesto, ELJ 2004, 653 ff. Vgl. z.B. auch die unterschiedlichen Auffassungen von Reich und Martinek in: Grundmann (Hrsg.) Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, 2000, 481 ff. und 511 ff.

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d) Schutzbestimmungen und ihr Zweck Ausgegangen werden kann davon, dass allen Zivilgesetzbüchern der Mitgliedstaaten der Gedanke der Privatautonomie zugrunde liegt. Dieser Gedanke äußert sich vor allem im Vertragsrecht. Es bleibt grundsätzlich den Parteien überlassen, ob und wie, d.h. mit welchem Inhalt, und mit wem sie einen Vertrag abschließen. Die Vertragsfreiheit basiert allerdings auf der Annahme, dass die Vertragsparteien einander gleichberechtigt gegenüber stehen. In der Realität ist dies jedoch oft nicht der Fall. Dabei geht es nicht darum, dass eine der Vertragsparteien zum Nachteil der anderen „ein gutes Geschäft“ macht. Vielmehr geht es um Fälle, in denen eine der Parteien der anderen Partei strukturell überlegen ist, sei es an Informationen,88 sei es an „wirtschaftlicher Macht“, oder bei Vertragsabschluss unlauter agiert. Oder eine der beiden Vertragsparteien weist ein solches Defizit an Verstandeskraft auf oder befindet sich in einer solchen Zwangslage, dass keine Parität gegeben ist. In diesen Fällen der bloß formellen Vertragsfreiheit kann das uneingeschränkte Gelten der Privatautonomie unbillig sein. Das hat schon der historische Gesetzgeber gesehen. So findet man auch im BGB Vorschriften, die der Verwirklichung der materiellen Vertragsfreiheit dienen. Zu nennen sind die Vorschriften zur Geschäftsfähigkeit, die §§ 138, 134 und 242 BGB, die Vorschriften über Arglist und Irrtum, die Möglichkeit zur Minderung einer Vertragsstrafe und Formvorschriften.89 Einige heute im Rahmen des Verbraucherrechts geregelte Sachverhalte wurden hingegen vielleicht deswegen nicht geregelt, weil die betreffenden Sachverhalte schlicht nicht existierten:90 Wo es z.B. keine Ferienkultur mit Pauschalreisen, Flügen und Timesharing-Immobilien gibt, braucht man keine entsprechenden Regelungen. Zu beachten ist, dass die genannten Normen des BGB (mit Ausnahme des Minderungsrechtes bei Vertragsstrafen) nicht nur gegen, sondern auch für Unternehmer gelten und auch im Rechtsverkehr zwischen zwei Privatpersonen. Auch das bereits erwähnte und dem BGB zeitlich nahestehende Abzahlungsgesetz setzte gerade nicht ein Business to Consumer (B2C) Geschäft im heutigen Sinne voraus. Ebenso war das AGB-Gesetz weitgehend auf zwischen Unternehmern vereinbarte Klauseln anwendbar; das Gleiche gilt auch noch nach der Überführung des AGB-Gesetzes in die §§ 305 ff. BGB durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz. Die AGB-Kontrolle im Verhältnis Business to Business (B2B) wird zwar immer wieder als Beispiel 88 Zur Privatautonomie, Informationsasymmetrien und dem Binnenmarkt vgl. die Beiträge in Grundmann/Kerber/Weatherill (eds.) Party autonomy and the role of information in the internal market, 2001 sowie Grundmann Privatautonomie im Binnenmarkt, JZ 2000, 1133 ff.; umfassend zur Informationsasymmetrie Fleischer Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, 2000. 89 Vergleichbare Normen scheinen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität, in allen Mitgliedstaaten vorhanden zu sein. 90 Zimmermann (Fn. 13), 162.

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für die schwindende Privatautonomie genannt,91 negative Konsequenzen scheint die Wirtschaft jedoch durch die AGB-Kontrolle keine davongetragen zu haben.92 Die AGB-Kontrolle wird freilich zwischenzeitlich nicht mehr mit der Schutzbedürftigkeit des Vertragspartners des Verwenders begründet, sondern mit einem partiellen Marktversagen, das es zu korrigieren gilt.93 Dieses wird auch im B2B Bereich angenommen und zur Rechtfertigung der Klauselkontrolle herangezogen.94 Die Informationspflichten im europäischen Verbraucherrecht sind ebenfalls mit partiellem Marktversagen erklärbar. Aber auch anderen dem Verbraucherrecht zugeordneten Normen liegen durchaus ökonomische Überlegungen zu Grunde. So wurde dargelegt, dass § 476 BGB zu einem schnelleren Warenabsatz führt: Diese Bestimmung erspart dem Käufer eine umständliche Prüfung bei Gefahrenübergang, ob die Sache mangelfrei ist und dem Verkäufer damit verbundene Zeitverzögerungen.95 Dieses Argument trägt beim unternehmerischen Käufer dann nicht, wenn dieser ebenfalls Kaufmann ist und ihn ohnehin eine Rügepflicht trifft. Allerdings wird auch bei einem Kauf im Bereich (B2C) der Verkäufer den Nachweis, ob der Mangel bei Gefahrenübergang vorgelegen hat oder nicht, leichter erbringen können. Daher hat etwa der österreichische Gesetzgeber den § 476 BGB zugrundeliegenden Art. 5 Abs. 3 der Verbrauchsgüterkauf-RL nicht nur für den Bereich B2C umgesetzt.96 Auch ist zu fragen, ob der Warenabsatz im Wege des Fernabsatzes so boomen würde, wie es derzeit der Fall ist, wenn der Verbraucher kein Widerrufsrecht und somit nicht die Möglichkeit hätte, die Ware97 zu retournieren, wenn sich nach der Zusendung herausstellt, dass sie nicht seinen Erwartungen oder der Beschreibung im Internet entspricht. Vielmehr wird durch das Widerrufsrecht der Warenkauf im Fernabsatz für den Verbraucher mit dem Warenkauf im Geschäft gleichgesetzt.98 Das Widerrufsrecht ersetzt in die91 Berger Abschied von der Privatautonomie im unternehmerischen Geschäftsverkehr?, ZIP 2006, 2149 ff. 92 Von Westphalen 30 Jahre AGB-Recht – Eine Erfolgsbilanz, ZIP 2007, 149 ff. (Erwiderung auf Berger, siehe vorige Fn.). 93 Vgl. nur die Nachweise bei Basedow in: Krüger (Hrsg.) Münchener Kommentar zum BGB, Band 25, 2005, Vorbemerkung zu § 305 Rn. 5. 94 Vgl. Kötz Freiheit und Zwang im Vertragsrecht, in: FS Mestmäcker 1996, 1037 ff. 95 Maulzsch Der Ausschluss der Beweislastumkehr gem. § 476 BGB, NJW 2006, 3091, 3092; zu § 476 BGB in der Judikatur vgl. Rühl Die Vermutung der Mangelhaftigkeit beim Verbrauchsgüterkauf: Die Rechtsprechung des BGH in rechtsvergleichender Perspektive, RabelsZ 72 (2009) 912 ff. 96 Vgl. § 924 ABGB. 97 Anders liegt der Fall bei Dienstleistungsverträgen. Der Verbraucher erkennt unabhängig davon, ob der Dienstleistungsvertrag im Fernabsatz oder direkt abgeschlossen wird, erst bei oder nach Leistungserbringung, ob diese seinen Vorstellungen entspricht. Dienstleistungen sind jedoch nur teilweise von der Fernabsatz-RL ausgenommen. 98 Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es jedoch verfehlt, wenn der Generalanwalt es für unzulässig erachtet (Urteil vom 15.4.2010, Rs. C-511/08), dass der Verbraucher eine

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sem Fall gewissermaßen die im Geschäft sofort gegebene Möglichkeit, die Kaufsache in Augenschein zu nehmen. Dadurch sinkt die Hemmschwelle im Fernabsatz zu kaufen, was auch im Interesse des im Fernabsatz vertreibenden Händlers liegt.99 Eine Widerrufsfrist von 14 Tagen, wie im Entwurf für die Verbraucherrechte-RL vorgesehen, konfrontiert den Verkäufer auch nicht mit einer besonders langen Ungewissheit. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint ein Widerrufsrecht auch außerhalb des Bereiches B2C vertretbar. Fraglich erscheint außerdem, warum Art. 6 der Verbrauchsgüterkauf-RL in § 477 BGB und daher nur für den Verbrauchsgüterkauf umgesetzt wurde. Nach § 477 BGB muss eine Garantie einfach und verständlich abgefasst sein, einen Hinweis darauf enthalten, dass die gesetzlichen Rechte nicht eingeschränkt werden, sowie alle Informationen, die für die Geltendmachung der Garantie notwendig sind. Warum sollen Garantien, die einem Unternehmer gegeben werden, nicht die für die Geltendmachung notwendigen Angaben enthalten? Natürlich könnte man mit der Selbstverantwortung der Vertragspartner argumentieren, auf Grund derer sich der Erwerber der Garantie selbst um diese Informationen bemühen müsste. Aber der Garantiegeber ist wohl derjenige, der zwangsläufig leichter Zugang zu diesen Informationen hat. Auch fördert es den Vergleich zwischen Garantien verschiedener Anbieter, wenn die wesentlichen Eckpunkte der Garantie bei Vertragsabschluss dargelegt und diese dadurch vergleichbar werden.100 Hier wird nicht für eine unreflektierte Ausdehnung des Anwendungsbereiches des gesammelten Verbraucherrechts für alle Rechtsgeschäfte plädiert. Vielmehr wird vorgeschlagen,101 Vorschrift für Vorschrift auf die Versandkostenpauschale für die Versendung vom Verkäufer zu ihm zu tragen hat: Hätte er in einem Geschäft kaufen wollen, war dann aber von den angebotenen Waren nicht überzeugt, so hätte er dennoch die Kosten der Fahrt zum Geschäft tragen müssen. 99 Aus diesem Grund haben auch Versandhäuser in Zeiten vor dem Internet und vor der Fernabsatz-RL ihren Kunden ein „Umtauschrecht“ eingeräumt. Unternehmer im Fernabsatz haben zudem die Möglichkeit, sofern sie es tatsächlich mit einem in notorischer Weise vom Widerrufsrecht Gebrauch machenden Verbraucher zu tun haben, mit diesem in Zukunft keine Verträge mehr zu schließen, vgl. OLG Hamburg 25.11.2004, MMR 2005, 617. 100 Völlig unverständlich ist schließlich eine Trennung in B2C und B2B dort, wo es nicht mehr um materielle Vertragsfreiheit im eigentlichen Sinn geht, sondern schlicht eine Seite unlauter, oder sogar mit krimineller Energie, handelt. Daher ist es – soweit solche Fälle nicht ohnehin besser im Strafrecht aufgehoben wären – zweifelhaft, warum § 241a BGB nur die unerwünschte Zusendung von Waren an Verbraucher erfasst. 101 Für eine Integration des Verbraucherrechts in das allgemeine Vertragsrecht haben sich etwa ausgesprochen Bydlinski (Fn. 1), 708; Grundmann The structure of the DCFR – Which approach for today’s contract law?, ERCL 2008, 225, 237; ders. Verbraucherrecht, Unternehmensrecht, Privatrecht – warum sind UN-Kaufrecht und EU-KaufrechtsRichtlinie so ähnlich?, AcP 202 (2002) 40, 60 ff.; Lurger (Fn. 66), 333, 353 ff., 386 ff. (allerdings ohne Aufgabe des Verbraucherbegriffes); dies. Vertragliche Solidarität, 1998, 87 ff., dies. Consumer Law – Forerunner for or part of a European contract law code? The Case of Austrian consumer law, in: Grundmann/Schauer (eds.) The architecture of European

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Allgemeingültigkeit der ihr innewohnenden Überlegungen zu prüfen.102 Ebenso ist jede Norm dahingehend zu untersuchen, ob sie überhaupt geeignet ist, die mit ihr verfolgten Ziele zu erreichen. So führen vielleicht manche der vorgeschriebenen Informationen tatsächlich zu einem information overload, und zwar nicht nur beim besonders ungebildeten Verkehrsteilnehmer. Das Ziel mancher Widerrufsrechte könnte vielleicht besser durch einen Rückgriff auf die culpa in contrahendo103 oder auf das Irrtumsrecht104 erreicht werden. Ein einerseits entsprechend entrümpelter,105 andererseits auch auf Geschäfte zwischen Privaten oder zwischen Unternehmern übertragener Normenbestand würde es erlauben, gleiche Sachverhalte gleich zu behandeln. Damit würden auch Abgrenzungsfragen, wann jemand Verbraucher ist und wann nicht, entfallen. Nach Aufgabe von nicht als zielführend erachteten Bestimmungen verbliebe ein Vakuum an expliziten rechtlichen Regelungen für tatsächlich existierende Fälle von nur formeller Gleichheit. Diese könnten jedoch m.E. bei entsprechender Anwendung der allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften, vor allem der Normen §§ 134, 138 oder 242 BGB, zielführend gelöst werden. Bevor auf die Kritik eingegangen wird, die solche Vorschläge zu einer Integration von originär verbraucherrechtlichen Vorschriften ins allgemeine Zivilrecht immer hervorgerufen haben, stellt sich die Frage, welche Stellung dem Verbraucherrecht im DCFR zukommt. e) Verbraucherrecht und DCFR106 Da der DCFR auf dem Acquis aufbaut, übernimmt er grundsätzlich das existierende europäische Verbraucherrecht. Gleichwohl sind den einleitenden Bemerkungen Zweifel zu entnehmen, ob der Verbraucherbegriff codes and contract law, 2006, 205, 211; Zimmermann (Fn. 13), 224 ff., (wohl auch ohne Aufgabe des Verbraucherbegriffes) alle m.w.N. 102 Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann (Fn. 38), 529, 544; Zimmermann Die Rückabwicklung von Verbraucherverträgen, JBl 2010, 205 ff. 103 Vgl. dazu Lorenz Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag; Lehmann Die Zukunft der culpa in contrahendo im Europäischen Privatrecht, ZEuP 2009, 691 ff. 104 Vgl. Bydlinski (Fn. 24), 362 f. 105 Solange entsprechende Richtlinienvorgaben existieren, ist eine „autonome Entrümpelung“ schwierig, zumindest eine Ausdehnung der allgemein tragfähigen Regelung über Verbrauchergeschäfte hinaus jedoch möglich. 106 Vgl. dazu ausführlich Herrestahl Consumer Law in the DCFR, in: Wagner (ed.) The Common Frame of Reference: A view from Law & Economics, 2009, 163 ff.; Hesselink Common Frame of Reference & Social Justice, ERCL 2008, 248 ff.; Lurger Much Ado About (Almost) Nothing: The Integration of the so-called ‘Consumer Acquis’ in the Draft Common Frame of Reference, in: Somma (ed.) The Politics of the Draft Common Frame of Reference, 2009, 131 ff.; vgl. auch Grundmann, Grand European Code Napole´on or Concise Uniform Contract Law ? Defining the scope of & Common Frame of Reference, in: Somma (a.a.O.) 89 ff.; Roppo From consumer contracts to asymmetric contracts: a trend in European contract law?, ERCL 2009, 304 ff., 331 ff.

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der beste Weg ist “of identifying those in need of special protection”.107 Der DCFR beantwortet dieses Problem, indem er “the protection of those in a weak or vulnerable position” als Teilaspekt des allgemeinen Gerechtigkeitsprinzips erklärt, das dem DCFR zugrundeliegt. Die Auseinandersetzung mit der Kritik an der Anknüpfung am Verbraucherbegriff verschiebt er hingegen auf die Zukunft.108 Sollte der CFR wie geplant bereits 2010 verabschiedet werden, erscheint es unwahrscheinlich, dass diese Zukunft noch davor stattfinden wird. Das ist bedauerlich. Dadurch bleibt erneut die Chance ungenutzt, sich grundsätzlich mit Fragen der materiellen Vertragsfreiheit auseinanderzusetzen und sich sowohl von unzulänglichen als auch überschießenden Regelungen zu lösen. Dabei würde die Herausarbeitung von möglichst allgemein gültigen Normen viel eher zu einer Verwirklichung des Binnenmarktes beitragen, als die Idee der Maximalharmonisierung. Gleichwohl finden sich im DCFR durchaus Bestimmungen, die von ihrer Grundtendenz her wieder eher auf einen allgemeinen Geltungsbereich abstellen. So z.B. die Vorschriften über die Inhaltskontrolle. Auch sieht der DCFR Generalklauseln vor, die eine Korrektur erlauben, wo Privatautonomie und allgemeine Vorschriften versagen und keine materielle Vertragsfreiheit verwirklicht ist.109 Gerade an diesen Vorschriften wurde jedoch starke Kritik geübt. Eine Übertragung von Vorschriften des Verbraucherrechts in das allgemeine Zivilrecht führe endgültig zu einer Aufgabe des Prinzips der Selbstverantwortung und Privatautonomie, die Verwendung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen hingegen zu einer unerträglichen Rechtsunsicherheit.110 f) Selbstverantwortung, Rechtssicherheit und social justice Selbstverantwortung111 kann und soll niemandem, der am Rechtsverkehr teilnehmen darf, abgenommen werden. Sie kann grundsätzlich jedem zugemutet werden, der am Rechtsverkehr teilnehmen darf. Daher kann auch der geäußerten Kritik, die jüngeren europäischen Verbraucherrechte-Richtlinien orientierten sich zu sehr am ökonomisch und rational agierenden Verbraucher, nicht zugestimmt werden.112 Behavioural law and economics und die 107

DCFR, outline edition (Fn. 44), 89. DCFR, outline edition (Fn. 44), 89: “However this question may be answered in the future, the point remains that the protection of those in a weak or vulnerable position can be considered an aspect of the underlying principle of justice within the DCFR.” 109 Hier kann keine Analyse dieser Bestimmungen geboten werden, vgl. jedoch ihre Darstellung bei den in Fn. 103 gebrachten Nachweisen. 110 So z.B. Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann (Fn. 38), 535, 536 ff. 111 Zur Selbstbestimmung vgl. Drexl Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, vor allem 281 ff.; Singer Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärung, 1995. 112 Vgl. etwa Micklitz (Fn. 69), 425 ff. 108

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Lehre von der bounded rationality haben zwar gezeigt,113 dass die absolute Rationalität des Handelns eine reine Utopie ist. Aber jede einen Haushalt führende Person muss dennoch – heute genauso wie vor 50 Jahren – ökonomische Entscheidungen treffen, um mit dem zur Verfügung stehenden Geld auszukommen und dafür das Maximum an Quantität und Qualität (entsprechend den eigenen Präferenzen) der erworbenen Güter zu erhalten. Genauso ist auch in sonstigen Bereichen grundsätzlich eine gewisse ökonomische Grundhaltung zu erwarten.114 Es ist auch weniger große Wirtschaftstheorie gefragt als Hausverstand, um zu wissen, dass Abzahlungsgeschäfte im Endeffekt teurer sind als Barzahlungsgeschäfte und es das perfekte Anlagemodell nicht gibt. Es gibt jedoch Fälle, wo eben keine Gleichheit der Waffen zwischen den Vertragspartnern gegeben ist, sondern Vertragsfreiheit nur auf dem Papier und formal existiert. Dann ist es die Aufgabe des Rechts, dem betreffenden Vertragspartner dazu zu verhelfen, dass er trotzdem seiner Selbstverantwortung nachkommen kann. Entsprechende Vorschriften verhindern daher nicht Selbstverantwortung, sondern ermöglichen diese. Darüber hinausgehend ist es jedoch m.E. nicht im Kern die Aufgabe des Privatrechts, für eine soziale Umverteilung oder für die Gewährleistung sozial wünschenswerter Ziele zu sorgen. Das ist und sollte vielmehr Aufgabe des öffentlichen Rechts, insbesondere wohl des Steuerrechts und des Sozialrechts, bleiben. Die Rechtssicherheit ist hingegen grundsätzlich umso größer, je weniger Rechtszersplitterung es gibt, man also nicht im Voraus wissen muss, mit wem (Verbraucher oder Unternehmer) man kontrahiert um zu wissen, welche Normen Anwendung finden. Was die Rechtssicherheit von Generalklauseln betrifft, so hatten Gerichte und Rechtswissenschaft schon bislang die Aufgabe, diese mit Leben und Prinzipien zu füllen.115 Gerade in Deutschland scheint das bislang ausgezeichnet gelungen zu sein und dennoch scheinen Generalklauseln hier mehr als in anderen Mitgliedstaaten großer Skepsis zu begegnen.116 g) Überwindung der Probleme des personalen Anwendungsbereiches Langfristig sollte daher das Verbraucherrecht im heutigen Sinn aufgegeben werden. Normen sollte entweder ein so grundlegender Gedanke inne113

Vgl. die Nachweise bei Herrestahl (Fn. 107), 200 Fn. 156 f. Vgl. Posner Economic Analysis of Law5, 1998, 13: “... Although no effort will be made in this book to defend efficiency as the only worthwhile criterion of social choice, the book does assume, and most people would probably agree, that it is an important criterion.” 115 Vgl. Bydlinski (Fn. 1), 757. 116 Inwieweit diese Skepsis vor „Richterrecht“ (vgl. Zimmermann Richterliches Moderationsrecht oder Totalnichtigkeit?, 1979) mit der Rolle des Richters in einem Rechtssystem zusammenhängt, mag an dieser Stelle offen bleiben. 114

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wohnen, dass sie allgemein zur Anwendung kommen können. Verbleibende reelle Schutzbedürfnisse sollten über allgemeine Generalklauseln gelöst werden, abstellend auf individuelle und nicht auf typisierte Schutzbedürftigkeit. Auf europäischer Ebene bieten die gegenwärtigen Arbeiten an der Rechtsvereinheitlichung eine Chance dafür, sofern man sich genügend Zeit für eine gründliche Ausarbeitung nimmt. Kurzfristig ist realistischerweise weder vor einer Reduktion der bestehenden Regeln noch vor einer Ausdehnung ihres Anwendungsbereiches auf alle Marktteilnehmer auszugehen. Zumindest sollte jedoch der aktuelle Trend zur Vollharmonisierung aufgegeben werden. Sie führt zu der absurden Situation, dass die Mitgliedstaaten Unternehmer im Verhältnis zueinander vorteilhafter behandeln können, als Verbraucher, die mit Unternehmern kontrahieren. Die beiden weiteren Punkte, die m.E. große Bedeutung für die Zukunft des Verbraucherrechts haben, können hier nur kurz skizziert werden: 2. Wechselwirkungen zwischen Verbraucherrecht und Lauterkeitsrecht Die aktuelle europäische Entwicklung lässt eine vernetzte Betrachtung zusammenhängender Aspekte vermissen. Als Beispiel dafür sei die UGP-RL genannt. Art. 3 Abs. 2 UGP-RL bestimmt, dass sie das Vertragsrecht und „insbesondere die Bestimmungen über die Wirksamkeit, das Zustandekommen oder die Wirkungen eines Vertrages unberührt“ lässt. Diese Bestimmung überzeugt nicht, da sich das Lauterkeitsrecht zwangsläufig mit dem Vertragsrecht überschneidet.117 Sie erscheint auch wenig kohärent im Hinblick auf Nr. 1 desselben Artikels, der normiert, dass die RL „vor, während und nach Abschluss eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts“ gilt – also im selben Zeitraum, in dem das „auf ein Produkt bezogene Handelsgeschäft“ auch vertragliche Wirkungen entfalten wird. Die Autorin dieses Beitrages hatte 2005 die Vermutung geäußert,118 dass das Vertragsrecht zumindest dem Wortlaut der RL nach ausgeklammert bleiben sollte, um einerseits eine rasche Verabschiedung der RL nicht zu gefährden, andererseits um der anstehenden Weiterentwicklung des europäischen Vertragsrechts nicht vorzugreifen. Im Hinblick auf die Weiterentwicklung des europäischen Vertragsrechts scheint sich die Autorin auf den ersten Blick getäuscht zu haben: So erwähnt der DCFR das Lauterkeitsrechts nicht, 117 Vgl. zum Verhältnis von Vertrag und Wettbewerb Leistner Richtiger Vertrag und lauterer Wettbewerb, 2007; Busch Informationspflichten im Wettbewerbs- und Vertragsrecht – Parallelen in UWG und BGB, 2008; Ahrens Das Verhältnis von UWG und Vertragsrecht aufgrund der EU-Richtlinien, in: FS Lowenheim 2009, 407 ff.; Alexander Vertrag und unlauterer Wettbewerb, 2002; zur Stellung des Lauterkeitsrechts im Privatrechtssystem vgl. Bydlinski (Fn. 1), 602 ff. 118 Augenhofer Ein „Flickenteppich“ oder doch der „große Wurf“? – Überlegungen zur RL über unlautere Geschäftspraktiken, Zeitschrift für Rechtsvergleichung 2005, 204, 207.

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ebenso wenig wie andere Rechtsgebiete, die sich mit dem Vertragsrecht zwangsläufig überschneiden.119 Auf den zweiten Blick hat die UGP-RL jedoch sehr wohl Einfluss auf die Weiterentwicklung des europäischen Verbraucherrechts und auch des europäischen Vertragsrechts. So ist Chapter 3: Marketing and pre-contractual duties, Section 1: Information duties des DCFR eindeutig durch die in Artikel 7 UGP-RL normierten Informationspflichten beeinflusst. Entsprechend der europäischen Vorgaben nehmen auch die Wechselwirkungen zwischen UWG und BGB zu. Die UGP-RL ist außerdem ein Beispiel für die Probleme, mit denen sich nationale Gesetzgeber konfrontiert sehen, wenn Richtlinien von einer Maximalharmonisierung ausgehen. Die UGP-RL erfasst nur Geschäftspraktiken im Bereich B2B. Deutschland und Österreich ist eine Trennung in ein B2B und ein B2C Lauterkeitsrecht jedoch fremd. Daher wurde in beiden Ländern die UGP-RL erfreulicherweise überschießend umgesetzt. Nunmehr hat der EuGH entschieden, dass ein allgemeines Koppelungsverbot nicht mit der durch die RL vorgesehene Vollharmonisierung vereinbar ist.120 Koppelungsverbote im Bereich B2B können hingegen – weil nicht von der UGP-RL erfasst – bestehen bleiben.121 3. Schein und Sein im Verbraucherrecht: Die (mangelnde) Durchsetzbarkeit von Ansprüchen Gesetze sind immer nur so gut wie ihre Durchsetzung. Lange Zeit führte die Frage der Rechtsdurchsetzung jedoch ein „Stiefkinddasein“ im europäischen Verbraucherrecht.122 Zwar wurde 1997 die Unterlassungsklagen-RL123 verab119

Vgl. z.B. Lurger (Fn. 107), 142. EuGH 14.1.2010, Rs. C-304/08 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e.V. sowie EuGH 23.4.2009, verbundene Rs. C-261/07 und C-299/07 Total Belgium NV und Sanoma Magazines Belgium NV. Vgl. dazu Boesche Über die Folgen der Vollharmonisierung und die vergebliche Rettung der Zugabeverbote, WRP 2009, 661. 121 Mit der Frage, ob eine Norm zulässig ist, die Zugabenverbote verbietet, jedoch nicht nur dem Verbraucherschutz, sondern auch dem Schutz der Mitbewerber und der Medienvielfalt dient, hat sich der EuGH demnächst in einem österreichischen Vorabentscheidungsverfahren zu beschäftigen, vgl. die Schlussanträge der GAin vom 24.3.2010, Rs. C-540/08. 122 Gleichwohl gehörte das Recht auf Rechtszugang schon zu den Forderungen im ersten verbraucherpolitischen Programm der europäischen Kommission. Zur Frage nach der Kompetenz zur Regelung der Rechtsdurchsetzung vgl. Micklitz/Rott Durchsetzung des EG-Verbraucherrechts, in: Dauses (Hrsg.) Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 24. Ergänzungslieferung, 2009, Rn. 570 ff. Früh schon zu Fragen der kollektiven Rechtsdurchsetzung Koch Prozeßführung im öffentlichen Interesse, 1983; ders. Kollektiver Rechtsschutz im Zivilprozeßrecht, 1976. 123 Richtlinie 98/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.5.1998 über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen. Vgl. dazu Micklitz/ Rott/Docekal/Kolba (Hrsg.) Verbraucherschutz durch Unterlassungsklagen, 2007. 120

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schiedet. Diese hat jedoch keine große Bedeutung erlangt. Sie kann nur von Verbraucherschutzverbänden geltend gemacht werden und ist nur auf Unterlassung gerichtet. Dementsprechend kann mit ihr nur das Abstellen verbraucherrechtswidrigen Verhaltens erreicht werden. Sie ist jedoch nicht dazu geeignet, bereits begangene Verstöße gegen Verbraucherrechtsvorschriften zu sanktionieren. Dieser Problematik nahm sich die Europäische Kommission jedoch lange Zeit nicht an. Vielmehr überlassen alle Verbraucherschutz-RL den Mitgliedstaaten einen sehr großen Spielraum, wie die Rechtsdurchsetzung zu erfolgen hat. Ob dem Verbraucher ein Individualanspruch zukommt oder nicht, wird den Mitgliedstaaten überlassen. Selbst wenn dem Verbraucher ein Anspruch zukommt, wird er diesen jedoch häufig nicht geltend machen. Rechtsverletzungen im Verbraucherrecht führen oft zu sogenannten Streuund Bagatellschäden:124 Viele Verbraucher erleiden den gleichen Schaden, der Schaden des einzelnen Verbrauchers ist allerdings häufig relativ gering. Da die Rechtsverfolgung jedoch mit Kosten verbunden ist und der Ausgang des Verfahrens ungewiss ist, kommt es zum sogenannten „rationalen Desinteresse“,125 der Verbraucher macht seinen Anspruch nicht geltend. Der Grad der Aufmerksamkeit, der den Fragen der Rechtsdurchsetzung mittlerweile zuteil wird, ist nach dem EuGH-Urteil Courage schlagartig angestiegen.126 Dieses erging nicht im Gebiet des Verbraucherrechts, sondern im Kartellrecht. Der EuGH hat in dieser Entscheidung ausgesprochen, dass „jedermann“ – also in letzter Konsequenz auch ein Verbraucher – Anspruch auf Ersatz des durch einen Verstoß gegen europäisches Kartellrecht verursachten Schadens verlangen kann. Dieses Urteil hat die Diskussion über die Grundlagen, Notwendigkeit und allfällige Gefahren der sogenannten privatrechtlichen Durchsetzung des Kartellrechts eröffnet.127 2005 wurde ein Grünbuch,128 2008 ein Weißbuch129 über Schadensersatzklagen im Kartell124 Unter „Streuschäden“ werden hier Schäden verstanden, die in gleichartiger Weise bei einer Vielzahl von Geschädigten auftreten. Weisen diese Schäden überdies eine ganz geringe Höhe auf, so sind sie als »Bagatellschäden« zu bezeichnen. 125 Schäfer Anreizwirkungen der Class Action und der Verbandsklage, in: Basedow/ Hopt/Kötz/Baetge (Hrsg.) Die Bündelung gleichgerichteter Interessen im Prozess, 1999, 67, 69; Basedow, in: Baudenbacher (Hrsg.) Neueste Entwicklungen im europäischen und internationalen Kartellrecht – Zwölftes St. Galler Internationales Kartellrechtsforum 2005, 2006, 354, 363. 126 EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99 Courage. Vgl. zu dieser Entscheidung etwa Reich, The “Courage” Doctrine: Encouraging or discouraging compensation for antitrust injuries? CMLR 42 (2005) 35 ff. Vgl. auch EuGH 13.7.2006, Rs. C-295/04 Manfredi. 127 Zu den Problemen des private enforcements vgl. etwa Basedow (ed.) Private enforcement of EC competition law, 2007; Bulst Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite im Kartellrecht, 2006; Hempel Privater Rechtsschutz im Kartellrecht, 2002; Komninos EC Private Antitrust Enforcement, 2008; Wils Principles of European Antitrust Enforcement, 2005. 128 Grünbuch Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts, vom 19.12.2005, KOM(2005) 672 endg.

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recht veröffentlicht. Ungefähr zeitgleich mit der Entscheidung Courage hat die Diskussion auch das Verbraucherrecht erreicht. Zuletzt wurde ein Grünbuch über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher sowie eine weitere Studie veröffentlicht.130 Auch in Deutschland wurden „autonom“ Versuche unternommen, die Rechtsdurchsetzung zu verbessern. So wurde mit dem UWG 2004 ein Gewinnabschöpfungsanspruch im Lauterkeitsrecht eingeführt131 und mit dem Kapitalanlegermusterverfahren132 eine Variante kollektiver Rechtsdurchsetzung verwirklicht. Auch wenn auf die Einzelheiten hier nicht näher eingegangen werden kann, so zeigt sich doch auch bei der Rechtsdurchsetzung sowohl die Problematik des beschränkten persönlichen Anwendungsbereichs sowie der mangelnden Berücksichtigung der Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Rechtsgebieten: So fehlt im Weißbuch im Kartellrecht, das sich mit Kartelldeliktsrecht beschäftigt, völlig die Einbindung in sonstige europäische Vorhaben zur Vereinheitlichung des Deliktsrechts. Weder greift der DCFR das Weißbuch auf, noch nimmt das Weißbuch auf den DCFR Bezug oder die European Principles of Tort Law, die von der European Group on Tort Law mit Sitz in Wien ausgearbeitet wurden.133 Damit ist nicht gesagt, dass es keine guten Gründe dafür geben mag, Detailfragen kartellrechtlicher Schadensersatzklagen gesondert zu regeln. Nicht nachvollziehbar erscheint eine derartige An129 Weißbuch Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, KOM(2008) 165 endg., vom 2.4.2008. Das Weißbuch wird durch ein Commission Staff Working Paper on Damages Actions for Breach of the EC antitrust rules, KOM(2008) 165 endg. (abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/antitrust/actionsdamages/files_ white_paper/impact_study.pdf) vom selben Tag ergänzt. Vgl. für einen Überblick zum Weißbuch etwa Bulst Of Arms and Armour – The European Commission’s White Paper on Damages Actions for Breach of EC Antitrust Law, Bucerius Law Journal 2008, 81 ff. Vgl. auch Keßler Schadensersatz und Verbandsklagerechte im Deutschen und Europäischen Kartellrecht, 2009. 130 Grünbuch über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher vom 27.11.2008, KOM(2008) 794 endg. Der rechtsvergleichende Teil der Studie sowie die einzelnen Länderberichte sind unter http://ec.europa.eu/consumers/redress_cons/collective_ redress_en.htm abrufbar. Vgl. dazu auch Koch/Zekoll Europäisierung der Sammelklage mit Hindernissen, ZEuP 2010, 125 ff. Zu weiteren europäischen Rechtsakten, die die Rechtsdurchsetzung fördern sollen vgl. die Nachweise bei Lurger/Augenhofer (Fn. 31), 258 ff. 131 Vgl. dazu Alexander Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht – Privatrechtliche Sanktionsinstrumente zum Schutze individueller und überindividueller Interessen im Wettbewerb, 2010. 132 Stadler Collective Actions as an efficient means for the enforcement of European Competition Law, in: Basedow (Fn. 127), 196, 202 ff.; Micklitz Collective private enforcement of consumer law: the key questions, in: van Boom/Loos (ed.) Collective enforcement of consumer law: securing compliance in Europe through private group action and public authority intervention, 2007, 13, 14 ff.; Zimmer/Höft “Private Enforcement” im öffentlichen Interesse?, ZGR 2009, 662 ff. alle m.w.N. 133 European Group on Tort Law (ed.) Principles of European Tort Law – Text and Commentary, 2005.

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nahme einfach ohne die Ergebnisse anderer Forschungsarbeiten überhaupt miteinzubeziehen. Das Grünbuch über kollektive Rechtsdurchsetzung im Verbraucherrecht nimmt auf das Weißbuch der DG Wettbewerb hingegen sehr wohl Bezug. Es betont jedoch seine Unzuständigkeit für Klagen von Opfern von Verstößen gegen europäisches Kartellrecht. Für diese Opfer sehe bereits das Weißbuch Maßnahmen zur kollektiven Rechtsdurchsetzung vor.134 Die dort vorgeschlagenen Maßnahmen würden auf die Besonderheiten des Kartellrechts eingehen. Worin dieser „besondere Charakter des Kartellrechts“ liegt, wird im Grünbuch nicht dargelegt.135 Die im Weißbuch betonte Kostenintensivität von Kartellverfahren kann durchaus auch bei Verletzungen von Verbraucherschutz-Richtlinien auftreten. Sollte es bei dieser „zweispurigen“ Entwicklung kollektiver Rechtsdurchsetzung bleiben, zeigt sich wiederum die Gefahr von Inseln harmonisierten Rechts.136 Verschärft wird diese Entwicklung dadurch, dass natürlich Unternehmer genauso Bagatellschäden erleiden können. Handelt es sich dabei um Schäden, die aus Kartellrechtsverletzungen resultieren, hätten sie bei entsprechender Verwirklichung der genannten Projekte Möglichkeiten zur kollektiven Rechtsdurchsetzung, bei Einbußen durch Verstöße gegen das Lauterkeitsrecht hingegen nicht.

V. Zusammenfassung Soll man dem Verbraucherrecht einen Wunsch mit auf den Weg in die Zukunft geben, so mag man ihm eines wünschen: Zeit. Zeit, die diejenigen, die seine Zukunft in der Hand haben, nutzen, um keine vorschnellen Entscheidungen zu fassen. Vielmehr sollte die aktuelle Diskussion dazu genutzt werden, sich kritisch mit dem personalen Anwendungsbereich des Verbraucherrechts, seiner Verknüpfung mit anderen Rechtsgebieten und der Rechtsdurchsetzung zu beschäftigen. Dann bedeutet Zukunft vielleicht auch Abschied vom Verbraucher – aber zugleich die Verwirklichung des mit diesem Rechtsgebiet eigentlich verfolgten Ziels, nämlich die selbstbestimmte Wahrnehmung der Privatautonomie durch den Einzelnen zu gewährleisten. 134

Grünbuch (Fn. 130), 4. Für die Entwicklung für allgemeine Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung etwa Weidenbach/Saller BB 2008, 1023; Österreichische Stellungnahme zum Weißbuch (http://ec.europa.eu/competition/antitrust/actionsdamages/white_paper_comments/ oster_de.pdf) 4; hingegen für einen „Praxistest“ kollektiver Rechtsdurchsetzung im Kartellrecht die Stellungnahme Studierender und Doktoranden der Universität Basel und der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg (http://ec.europa.eu/competition/antitrust/ actionsdamages/white_paper_comments/studi_de.pdf) 4. 136 Vgl. schon 1986 Kötz Rechtsvereinheitlichung – Nutzen, Kosten, Methoden, Ziele, RabelsZ 1986, 1, 12 („Fragmentarische Rechtsvereinheitlichung, die in einem Meer nationalen Rechts winzige Inseln vereinheitlichten Rechts schafft, ist problematisch“). 135

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Orientierungen für die kapitalmarktorientierte Aktiengesellschaft

Orientierungen für die kapitalmarktorientierte Aktiengesellschaft Christine Windbichler

Zukunft des Gesellschaftsrechts: Orientierungen für die kapitalmarktorientierte Aktiengesellschaft CHRISTINE WINDBICHLER

I. Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Arbeitsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit, das „Unternehmen an sich“ und die Vertragsnetztheorie . . . . . . . . . . . . . . . 2. Management und Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Gruppe als Normalfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Information und Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ökonomische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dispositives Recht und soft law . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Orientierung und Navigationshilfen . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Gegenwart Das Aktienrecht, ein Kernbereich des Gesellschaftsrechts, scheint hinter dem Schlagwort „Corporate Governance“ und dem Kapitalmarktrecht in den Schatten zu treten. Ein genauerer Blick auf die aktuell verhandelten Probleme zeigt aber, dass sich weniger die Fragestellungen1 als die Rahmenbedingungen und die Herangehensweise verändern. Sowohl externe als auch interne Corporate Governance verfolgen das übergreifende Ziel funktions1 Vgl. von Jhering Der Zweck im Recht, 2. Auflage 1884, Band 1, 218 (www.archive. org/stream/derzweckimrecht02goog#page): „Die Aktiengesellschaften haben sich unter den Augen des Gesetzgebers in organisierte Raub- und Betrugsanstalten verwandelt . . .“; Meyers Großes Konversations-Lexikon6, 1902, Eintrag „Aktie und Aktiengesellschaft“: „Die Geschichte des Aktienwesens beweist, dass Schwindel und Missbrauch bei den verschiedensten gesetzlichen Regelungen vorkamen. Lassen sich dieselben auch durch gesetzliche Reformen zum Teil mindern und beseitigen, so wird doch das Publikum selbst durch Hebung der wirtschaftlichen Einsicht und Förderung einer gesunden Geschäftsmoral das wichtigste zur Besserung beitragen müssen.“

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fähiger Steuerung und Kontrolle in und von Kapitalgesellschaften. Dazu gehören die Kompetenzverteilung der Organe, Aktionärsrechte, Informations- und Publizitätspflichten, staatliche Aufsicht sowie Kontrolle durch Märkte und soft law. Das „reine“ Verbandsrecht, das die Beziehungen der Mitglieder zum Verband und untereinander regelt, wird durch marktbezogene Regulierung, die rein rechtliche Betrachtung wird durch andere Elemente der Verhaltenssteuerung ergänzt. In einem inzwischen berühmten Buch, der „Anatomy of Corporate Law“,2 sind international vorfindliche Charakteristika der Kapitalgesellschaft beschrieben, nämlich Rechtspersönlichkeit, beschränkte Haftung, übertragbare Anteile, Verwaltung im Rahmen eines Ratssystems und gemeinsame wirtschaftliche Eigentümerstellung der Aktionäre. Darüber hinaus gibt es weitere Gemeinsamkeiten für börsennotierte Gesellschaften: das Erfordernis der Rechnungslegung, der externen Prüfung und der Publizität.3 Die Frage „Empfehlen sich besondere Regelungen für börsennotierte und für geschlossene Gesellschaften?“ war Thema des 67. Deutschen Juristentags 2008;4 gleichwohl steht eine besondere Rechtsform der kapitalmarktorientierten Gesellschaft nicht wirklich zur Debatte. Es gibt besondere Regelungen für börsennotierte und für geschlossene Gesellschaften, die teils im Gesellschaftsrecht, teils im Kapitalmarktrecht und anderswo angesiedelt sind, so dass sich eher die Frage nach deren Verzahnung und dem Proprium des Gesellschaftsrechts stellt.5 Inhaltlich ist vieles hier durch Europäisches Gemeinschaftsrecht vorgezeichnet; auch die jüngsten Änderungen des AktG 2009 betrafen nicht zuletzt die Umsetzung von Richtlinien.6 Die Herausforderung an das Gesellschaftsrecht besteht darin, genuin gesellschaftsrechtliche, insolvenzrechtliche und kapitalmarktrechtliche Probleme und Lösungen zu identifizieren und zu verzahnen.7 Der Konvergenzthese, dass sich in einer globalisierten Welt die ein für alle mal beste Corporate Governance-Form schon herausmendeln werde (oder 2 Kraakman/Armour/Davies/Enriques/Hansmann/Hertig/Hopt/Kanda/Rock The Anatomy of Corporate Law – A Comparative and Functional Approach2, 2009. 3 Windbichler Gesellschaftsrecht22, 2009, § 25 Rn. 35. 4 Bayer Empfehlen sich besondere Regelungen für börsennotierte und für geschlossene Gesellschaften?, Gutachten E zum 67. Deutschen Juristentag, 2008; dazu Schäfer NJW 2008, 2536; Windbichler JZ 2008, 840; Spindler AG 2008, 598; Mülbert Referat, Verhandlungen des 67. Deutschen Juristentages, Band II/1, 2009, N 51. 5 Fleischer Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht als wissenschaftliche Disziplin, in: Engel/Schön (Hrsg.) Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, 50; aus kollisionsrechtlicher Sicht Windbichler/Krolop, in: Riesenhuber (Hrsg.) Europäische Methodenlehre2, 2010, § 20 Rn. 73 ff. 6 Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts – BilMoG – vom 25.5.2009, BGBl. I, 1102; Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie – ARUG – vom 30.7.2009, BGBl. I, 2479; Grundmann/Möslein Europäisierung in: Bayer/Habersack (Hrsg.) Aktienrecht im Wandel Band 2, 2007, 31 ff. 7 Fleischer ZIP 2006, 451; ders. ZGR 2007, 500.

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sich bereits herausgemendelt habe),8 steht die Divergenzbeobachtung gegenüber, nämlich dass gewachsene Strukturen nachhaltig prägend wirken.9 Ein häufiger Anstoß für Gesetzgebung im In- und Ausland sind Ereignisse von hohem Aufmerksamkeitswert, die politisch eine Reaktion nahe legen.10 Im Zuge der Krisen- und Skandalbekämpfung sowie Modernisierungsbemühungen überlagern sich gegenseitig die Entwicklungen in anderen Rechtsgebieten mit denen des Gesellschaftsrechts, das an Konsistenz und Stringenz zu verlieren droht und zunehmend unsystematisch und fragmentiert erscheint. Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es, systematisch und prinzipiengeleitet die Ordnungsfunktion des Gesellschaftsrechts zu wahren, ggf. wieder herzustellen und weiter zu entwickeln. Das Gesellschaftsrecht ist ein wesentliches Element der Infrastruktur, die menschliche Entfaltung und produktives Wirtschaften ermöglicht, ebenso wie Energieversorgung, Verkehrs- und Kommunikationswege;11 Gesellschaften sind eine erstklassige Koordinationsleistung für wirtschaftliche Prozesse. Nachfolgend werden einige inhaltliche und methodische Schwerpunkte der Entwicklung des Rechts der börsennotierten Aktiengesellschaft skizziert.

II. Arbeitsfelder 1. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit, das „Unternehmen an sich“ und die Vertragsnetztheorie Im deutschen Arbeits- und Aktienrecht wird die Repräsentation von Arbeitnehmern im Aufsichtsrat, einem Gesellschaftsorgan, historisch als Ausdruck der Gleichberechtigung oder genossenschaftlichen Kooperation von „Kapital und Arbeit“ beschrieben.12 Die Umgestaltung des Gesellschafts8 Hansmann/Kraakman The end of history for corporate law, in: Gordon/Roe (Hrsg.) Convergence and Persistence in Corporate Governance, 2004, 33; Siems Die Konvergenz der Rechtssysteme im Recht der Aktionäre, 2005, 474 ff.; vgl. auch schon Kohler GrünhutsZ 28 (1901) 273, 280; zu Kohler Großfeld in diesem Band S. 375; zur Konvergenz allgemeiner von Hein Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, 2008, 39 ff.; Siems Die Konverganz der Rechtssysteme im Recht der Aktionäre, 2005. 9 Bebchuk/Roe A theory of path dependence and complementarity in corporate governance, in: Gordon/Roe (Fn. 8), 69; R.H. Schmidt/Spindler, in: Gordon/Roe (Fn. 8), 114. 10 „Hard cases make bad law” gilt auch für die Gesetzgebung; vgl. Fleischer ZGR 2007, 500, 504 f.; Spindler in: Hopt/Wymeersch/Kanda/Baum (Hrsg.) Corporate Governance in Context, 105, 106 ff. 11 Windbichler Kapitalmärkte als Vorsorgeinstrument, in: Münkler/Bohlender/Meurer (Hrsg.) Handeln unter Risiko, bei Fn. 18 (demnächst); Fleischer (Fn. 5), 63: juristische Infrastrukturleistung. 12 Junker Grundkurs Arbeitsrecht 8, 2009, Rn. 801; Krause Arbeitsrecht, 2005, § 1 Rn. 11; Kübler/Assmann Gesellschaftsrecht6, 2006, § 33 I 1; Raiser/Veil MitbestG und DrittelbG5,

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rechts zu diesem Zweck war Gegenstand der Diskussion zur Entwicklung eines „Unternehmensrechts“ oder einer „Unternehmensverfassung“.13 Das MitbestG 1976 hat freilich ausweislich der Regierungsbegründung das Gesellschaftsrecht weitgehend unberührt lassen wollen.14 Die Rede vom Gegensatz von Kapital und Arbeit ist gleichwohl nicht ausgestorben. Die Anknüpfung an die Vorstellung von „Klassen“ und der Überwindung von Klassengegensätzen ist offensichtlich. Sie vernachlässigt allerdings u.a. das Agenturproblem, das in der Tatsache steckt, dass nicht das „Kapital“ in der AG agiert, sondern das Management. Die Verwaltung der AG und die Kapitalgeber sind gerade kein homogenes Interessenpaket. Das Kapital, das in die großen Kapitalgesellschaften von institutionellen Anlegern eingebracht ist, ist oftmals die Altersversorgung der Arbeitnehmer. Die Zusammenhänge sind also etwas komplexer, als es der „Gegensatz von Kapital und Arbeit“ glauben machen möchte. Die Vorstellung vom Unternehmen als einer rechtlich verfassten Organisation15 unter Beteiligung von Arbeitnehmern und Anteilseignern (und anderen?) wiederum zeigt Anklänge an die schon früher entwickelte Lehre vom „Unternehmen an sich“.16 Die Großunternehmung wurde als autonomes, gemeinwirtschaftliches und anstaltsähnliches Institut gedeutet. Die tatsächliche Erscheinung des organisierten Ganzen, von Otto von Gierke17 als reale Verbandsperson bezeichnet, hat zwar nie wirklich eine rechtliche Ausformung erreicht,18 taucht aber immer wieder als rechtlich relevant auf,19 wenn die tatsächliche unternehmerische Tätigkeit der AG auf den Unter2009, Einl. Rn. 8; auch BVerfGE 50, 290, 350, den Gesetzesmaterialien folgend; BegrRegE, BR-Drucks. 200/74, 16; Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BTDrucks. 7/4845; – kritisch z.B. Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht2, 2006, Einl. MitbestG Rn. 4; Wiedemann Gesellschaftsrecht Band I, 1980, 594. 13 Zur Begrifflichkeit und ihrer mangelnden Leistungsfähigkeit Windbichler (Fn. 3), § 1 Rn. 10; vgl. auch Th. Raiser FS Schwark 2009, 59; nachdem nunmehr das FamFG sein fünftes Buch mit „Verfahren in Registersachen, unternehmensrechtliche Verfahren“ überschreibt, dürfte der Begriff endgültig anders besetzt sein; vgl. Eidenmüller ZGR 2007, 484, 485 f. 14 BegrRegE, BR-Drucks. 200/74, 16. 15 So insbesondere Th. Raiser Das Unternehmen als Organisation, 1969. 16 Riechers Das ›Unternehmen an sich‹, 1996, zur Begriffs- und Ideengeschichte; Spindler Kriegsfolgen in: Bayer/Habersack (Fn. 6) Band 1, 440, 478 ff.; Wiedemann (Fn. 12), 300 ff. 17 Zu Otto von Gierke Thiessen in diesem Band S. 343. 18 Zur Bedeutung Otto von Gierkes für das ‚Unternehmen an sich‘ Riechers (Fn. 16), 53 ff., 63; vgl. auch Thiessen „Eine Association von Kapitalien“ – Gründungsrecht und Finanzverfassung von Kapitalgesellschaften im historischen Kontext zwischen 1861 und 1945 (demnächst) (Habilitationsschrift, Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin). 19 Vgl. von Hein (Fn. 8), 227 ff.; aus arbeitsrechtlicher Sicht Windbichler FS Wiedemann 2002, 673, zur Bedeutung der organisatorischen Einbettung des ZweipersonenVerhältnisses ‚Arbeitsvertrag’ in den betrieblichen Zusammenhang.

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nehmensträger einwirkt, insbesondere im Zusammenhang mit der Unternehmensmitbestimmung und der Bestimmung des sog. Unternehmensinteresses,20 auch in der terminologisch modernisierten Version von shareholder- und stakeholder-value. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG bindet das Vorstandshandeln an das Wohl „der Gesellschaft“, nicht der Aktionäre, der Arbeitnehmer oder der Allgemeinheit. Zu § 76 AktG hat sich, mit Nuancen im Einzelnen, eine interessenpluralistische Deutung durchgesetzt, die es dem Vorstand immerhin erlaubt, Interessen der Arbeitnehmer und der Allgemeinheit in sein unternehmerisches Kalkül einzubeziehen, in der deutschen Rechtsentwicklung eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die aber durch die shareholder-value-Diskussion vorübergehend in Frage gestellt wurde.21 Auf elegante Weise integriert der englische Combined Code22 die Interessenpluralität, indem er eine Vielzahl von Perspektiven aufführt, die zu verfolgen sind, soweit es das Interesse der Aktionäre zulässt. Im US-amerikanischen Gesellschaftsrecht dominiert hingegen immer noch eine zumindest vordergründig ausschließliche Orientierung an Aktionärsinteressen.23 Dem liegt zunächst eine andere Deutung der Rolle der Direktoren, nämlich als trustees und den Aktionären als beneficiaries, zugrunde.24 In der Wissenschaft wurde dem die sog. team-production theory und die nexus of contract theory gegenüber gestellt.25 Aus ökonomischer Sicht, die vom Individuum ausgeht, wird die Frage aufgeworfen, warum nicht alle Wirtschaftsvorgänge durch bilaterale Verträge gesteuert werden. Der Schlüssel zur „firm“ liegt darin, dass die Ressourcenpoolung Kosten spart; 20 Riechers (Fn. 16), 172 ff.; Raiser/Veil Recht der Kapitalgesellschaften5, 2010, § 6 Rn. 7 sehen im Unternehmensinteresse als Handlungsmaxime einen bleibenden Ertrag der Lehre vom Unternehmensrecht. 21 Großkomm-AktG/Hopt4 § 93 Rn. 86 ff.; Großkomm-AktG/Kort4 § 76 Rn. 52 ff.; Schmidt/Lutter/Seibt AktG, § 76 Rn. 12 f.; MünchKomm-AktG/Hefermehl/Spindler § 76 Rn. 73–74 f.; Windbichler (Fn. 3), § 27 Rn. 22 ff.; vgl. auch von Hein (Fn. 8), 227 ff. 22 UK Combined Code 2003 [www.frc.org.uk/corporate/combinedcode.cfm]; vgl auch den Versuch in Nr. 4.1.1 des Deutschen Corporate Covernance Kodex (DCGK) [www. corporate-governance-code.de]. 23 Cox/Hazen Corporations2, 2003, § 4.06, § 10.09; Merkt/Göthel US-amerikanisches Gesellschaftsrecht2, 2006, Rn. 821, 877; für die Theorie Hansmann/Kraakman (Fn. 8), 33, 35, 42 ff., 67: „The triumph of the shareholder-oriented model . . . is now assured . . .“. 24 Nobel Anstalt und Unternehmen, 1978, 499 ff. m.w.N.; Palmiter Corporations5, 2006, § 11.1. 25 Blair/Stout A Team Production theory of Corporate Law, 85 Va.L.Rev. (1999) 247; Jensen/Meckling Theory of the firm: Mangerial behaviour, agency costs and ownership structure, 3 J. FinEcon. (1976) 305 ff.; O’Connor Restructuring the Corporation’s Nexus of Contracts: Recognizing a Fiduciary Duty to Protect Displaced Workers, 69 N.C.L.Rev. (1990-1991) 1189; zu den Varianten der Vertragsnetztheorie Ruffner Die ökonomischen Grundlagen eines Rechts der Publikumsgesellschaft, 2000, 129 ff.; zu den verschiedenen stakeholder-statutes außerhalb von Delaware Cox/Hazen (Fn. 23), § 4.05.

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letztlich handele es sich um ein Bündel von Verträgen aller Beteiligten. Der Charme dieser Deutung liegt für amerikanische Wissenschaftler darin, dass so allseitige vertragliche Treuepflichten begründet werden können, die ausschließliche Orientierung am Aktionär als beneficiary wird überwunden. Bei aller Anschaulichkeit ist die Vertragsbündeltheorie jedoch keine juristische Hilfe, da sie die unterschiedliche Qualifikation der Beziehungen der Beteiligten vernachlässigt und außerdem spätestens dann scheitert, wenn es zu entscheiden gilt, was innerhalb des Bündels, was außerhalb und was dem Bündel gegenüber steht.26 Aus wirtschaftswissenschaftlicher oder soziologischer Sicht mag das Modell fruchtbar sein,27 die rechtliche Potenz bleibt jedoch zweifelhaft. Interessant ist aber, dass das Vertragsbündel und die Ressourcenpoolung28 stark an das Unternehmen als verselbständigte Einheit erinnern, in der Arbeitnehmer und Kapitalgeber zusammenwirken.29 Wesentliche Verfechter der team-production-theory haben zeitweise an der Brookings-Institution gearbeitet, zitieren aber nicht Brookings (oder gar Otto von Gierke, Rathenau oder Haussmann). Brookings selbst hat in den späten 20er und frühen 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts ähnliche Deutungen des Industrieunternehmens ventiliert.30 Für die Zukunft des Gesellschaftsrechts bringt es nach allem wohl keinen Ertrag, die Steuerung der unternehmerischen Prozesse unter Einschluss aller arbeitsteilig zusammen Wirkenden in einem das Gesellschaftsrecht ausweitenden „Unternehmensrecht“ bewältigen zu wollen.31 Abgesehen davon, dass die vielfältigen Versuche dieser Art weitgehend erfolglos geblieben sind, sprechen auch die nachfolgenden Aspekte dagegen. Bereits in der Lehre vom „Unternehmen an sich“ angesprochen, aber letztlich ungelöst ist die Rolle des Managements. Wer trifft die unternehmerischen Entscheidungen in der großen, börsennotierten Kapitalgesellschaft? Wer wählt die Entscheidungsträger aus? Gibt es eine Überwachung? Bearle und Means haben 1932 die Trennung von Eigentum und Kontrolle eindrücklich beschrieben. Gäbe es kein Kontrollproblem hinsichtlich des Managements, gäbe es auch keine Corporate-Governance-Debatte (dazu sogleich unter 2.). Ferner ist die Vorstellung von der AG als unternehmerisch tätige Einheit ein Idealtyp, den es in der Rechtswirklichkeit kaum

26 Eisenberg The Conception That the Corporation is a Nexus of Contracts, and the Dual Nature of the Firm, 24 J.Corp.L. (1998–1999) 819. 27 Von Werder FS Schwark 2009, 285, 286 ff. 28 Vanberg Markt und Organisation, 1982, 10 ff., 61 ff., 111 ff., der aber gerade zwischen bilateralen Beziehungen und kollektivem Handeln genau unterscheidet. 29 Einschließlich der damit verbundenen Vereinnahmungsgefahren, Wiedemann (Fn. 12), § 6 I 2. 30 Von Hein (Fn. 8), 141 ff. mit Nachweisen der Rezeption in Deutschland; Riechers (Fn. 16), 39 f. 31 Eindrücklich Zöllner AG 2003, 2 ff. m.w.N.; siehe auch Vanberg (Fn. 28), 113–122.

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gibt. Der Normalfall ist die Unternehmensgruppe, oftmals grenzüberschreitend nach verschiedenen nationalen Rechten organisiert. Die operativen Einheiten stimmen oft nicht mit der rechtlichen Gliederung der Unternehmensträger überein; andere Kooperationsformen und Minderheitsbeteiligungen erhöhen die Komplexität (dazu unter 3.). Hinzu kommen andere Steuerungsmechanismen, insbesondere der Kapitalmarkt und das Kapitalmarktrecht, das in großem Umfang auf Information und die sog. wall street rule setzt, aber auch mitgliedschaftliche Elemente einsetzt (dazu unter 4.). 2. Management und Überwachung Die gesetzliche Ausgestaltung der Aufgabenverteilung an die verschiedenen Organe der AG verarbeitet langjährige Erfahrungen dazu und bezweckt deren sinnvolles Zusammenwirken und gegenseitige Kontrolle, also Corporate Governance. Aktienrechtsgeschichte und Aktienrechtsvergleich zeigen, dass die bei Armour/Hansmann/Kraakman ebenso weise wie unspezifisch bezeichnete „board structure“32 bestimmte Aufgaben zu erfüllen hat, nämlich die Organisation des Tagesgeschäfts, die Festlegung der Unternehmensstrategie und die Überwachung des Managements. Eine Diskussion darüber, ob ein einstufiges board-System oder ein zweistufiges Aufsichtsratsmodell diese Funktionen besser erfüllt, ist weder aktuell noch zielführend. Die Rechtsordnungen, in denen nach dem Verwaltungsratssystem (z.B. Schweiz, Frankreich wahlweise, Italien, Spanien, Griechenland, Großbritannien, Irland, USA) Geschäftsführung und Kontrolle nicht formal auf zwei Organe aufgeteilt sein müssen, haben eine funktionale Differenzierung innerhalb des Verwaltungsrats nach geschäftsführenden Mitgliedern und solchen, die für Überwachung zuständig sind, erlebt. Die deutschen Aktienrechtsreformen der letzten Jahre befassten sich u.a. mit einer Intensivierung der Aufsichtsratsarbeit und einer Verbesserung der Zusammenarbeit von Vorstand und Aufsichtsrat. Der Deutsche Corporate Governance Kodex empfiehlt die enge Zusammenarbeit von Vorstand und Aufsichtsrat.33 Schon früher hat der BGH die Beratungsaufgabe des Aufsichtsrates hervorgehoben.34 Der praktische Unterschied zwischen dem ein- und dem zweigliedrigen System ist also nicht so sehr groß, es handelt sich eher um eine Frage der Rechtskultur.35 32

Armour/Hansmann/Kraakman in: Kraakman et al. (Fn. 2), 12 ff. DCGK Nr. 3 (Fn. 22). 34 BGHZ 114, 127; BGHZ 126, 340; Henze BB 2005, 165; Großkomm-AktG/Hopt/ Roth4, § 111 Rn. 52 ff.: Aufsichtsrat als „mitentscheidendes Kontrollorgan“; DCGK (Fn. 33), Nr. 3. und 5.1.1.; Lutter ZIP 2003, 417. 35 Böckli in: Hommelhoff/Hopt/von Werder (Hrsg.) Handbuch Corporate Governance, 2003, 201, 212 ff.; Davies ZGR 2001, 268; Hopt in: Hopt/Kanda/Wymeersch/Prigge (Hrsg.) 33

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Gleichwohl bleibt eine Reihe unbewältigter Probleme, die sich durch eine ein-, zwei- oder dreigliedrige Organisation nicht glatt lösen lassen. Während im board-System die Unterscheidung von geschäftsführenden und nichtgeschäftsführenden Mitgliedern und im Aufsichtsrats-System die strategische Mitberatungs- und -entscheidungsfunktion weit vorangeschritten sind, ist die Integration der Überwachungsaufgabe ein dorniger Weg. Das Kontrollproblem besteht nicht nur bei überwiegendem Streubesitz, wenn die Aktionäre in rationaler Passivität kein Interesse an der Wahrnehmung ihrer mitgliedschaftlichen Rechte haben. Auch bei der in Deutschland verbreiteten Aktionärspopulation unter Einschluss größerer Blockaktionäre besteht kein homogenes Aktionärsinteresse.36 Je stärker ein Gremium in strategische Aufgaben eingebunden ist, desto eher gerät die Überwachung zur Selbstprüfung. Das spiegelt sich in der Unabhängigkeitsdebatte: Nach amerikanischem Kapitalmarktrecht,37 der Empfehlung der Europäischen Kommission zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren bzw. Aufsichtsratsmitgliedern38 und nunmehr § 100 Abs. 5 AktG sollen eine ausreichende Anzahl von Organmitgliedern wohl hauptsächlich im Interesse einer effektiven Überwachung „unabhängig“ sein. Soweit darunter mehr verstanden werden soll als Nicht-Befassung mit der aktuellen Geschäftsführung,39 tauchen mannigfache Konflikte auf. Nicht nur die Einbindung in strategische Entscheidungen steht in einem Spannungsverhältnis zur Überwachungsaufgabe. Auch die Rolle als Anteilseignervertreter und die verschiedentlich geforderte Unabhängigkeit von (Groß-)Aktionären passt jedenfalls mit der Ausgangsposition der deutschen Unternehmensmitbestimmung nicht zusammen.40 Handelt es sich bei einem mit „unabhängigen“ Mitgliedern besetzten audit committee noch um ein Verbandsorgan oder um ein externes, kapitalmarktrechtsinduziertes Aufsichtsorgan, das sich dem Abschlussprüfer annähert? Die Sondervorschrift für kapitalmarktorientierte Unternehmen (§ 100 Abs. 5 AktG) wirkt sich nachhaltig auf das Aktienrecht aus; zum ersten Mal werden qualitative Anforderungen an Aufsichtsratsmitglieder gesetzlich festgeschrieben. Die geComparative Corporate Governance, 1998, 223 ff.; Großkomm-AktG/Kort4, Vor § 76 Rn. 2; Marsch-Barner in: Marsch-Barner/Schäfer Handbuch börsennotierte AG, § 2 Rn. 9 ff.; Windbichler ZGR 1985, 50; vgl. auch DCGK (Fn. 33), Präambel: „Das auch in anderen kontinentaleuropäischen Ländern etablierte duale Führungssystem und das monistische Verwaltungsratssystem bewegen sich wegen des intensiven Zusammenwirkens von Vorstand und Aufsichtsrat im dualen Führungssystem in der Praxis aufeinander zu und sind gleichermaßen erfolgreich.“ 36 Claussen FS K. Schmidt 2009, 217. 37 Sarbanes Oxley Act 2002 (SOX) [www.sec.gov/about/laws/soa2002.pdf]. 38 Empfehlung 2005/162/EG vom 15.2.2005, ABl.EU vom 25.2.2005 L 52/51, Nr. 4 sowie Anh. II. 39 Windbichler FS Schwark 2009, 805, 807 f., 816 f. 40 Hopt FS Canaris 2007, Band 2, 105, 118.

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sellschaftsrechtlichen Mechanismen zur Umsetzung dieses Erfordernisses ließ der Gesetzgeber aber im Dunkeln.41 Sowohl im Verwaltungsrats- als auch im Aufsichtsratssystem spielt die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers eine herausragende Rolle. Deshalb wurde in den letzten Jahren verstärkt die Auswahl und die Vergabe des Prüfungsauftrags von der Geschäftsführung isoliert. Im deutschen Recht und in den meisten europäischen Rechtsordnungen bestimmt die Hauptversammlung den Abschlussprüfer,42 der Aufsichtsrat erteilt den Prüfungsauftrag, ggf. mit Setzung besonderer Schwerpunkte (§ 111 Abs. 2 S. 3 AktG, eingefügt 1998). Mit den Verschiebungen im materiellen Rechnungslegungsrecht hin zum sog. business accounting hat sich auch die Aufgabe des Abschlussprüfers verschoben. Differenzen zwischen den Organen oder Organmitgliedern im Einzelfall werden aber auch durch eine ausdifferenzierte Organisation nicht ausgeschlossen. Die gesetzlichen Regelungen für den Konfliktfall gewähren Lösungsmöglichkeiten, die sich nicht auf klagbare Rechte oder überhaupt die Inanspruchnahme der Gerichte festlegen lassen, z.B. Abberufungsmöglichkeit oder auch schon Nicht-Wiederbestellung, Verweigerung der Entlastung und besondere Kontrollrechte wie die Sonderprüfung etc. Hinzu kommen „weiche“ Elemente wie z.B. Reputationsverlust. In engem Zusammenhang damit stehen die Ausgestaltung und die Effekte von Auswahl- und Rekrutierungsverfahren. Das in den amerikanischen Gesellschaftsrechten immer noch außergewöhnliche Vorschlagsrecht der Hauptversammlung für die Wahl von Verwaltungsratsmitgliedern ist im deutschen Recht eine Selbstverständlichkeit. Bei näherem Hinsehen erweist sich hier wie dort die „Wahl“ durch die Hauptversammlung als Ratifizierung eines mehr oder minder verdeckten Kooptationsprozesses (vgl. § 124 Abs. 3 S. 1 AktG). Ein nomination committee oder, nach Nr. 5.3.3. DCGK, ein Nominierungsausschuss gehört zum Bestand guter Corporate Governance. Dafür sprechen gute Gründe. Wenn aber geschäftsführende Verwaltungsratsmitglieder bei der Nominierung von unabhängigen (kontrollierenden) Mitgliedern oder Vorstandsmitglieder bei Vorschlägen für die Aufsichtsratsbesetzung (informell) mitwirken, kann dieser Prozess nicht mehr überzeugen. Die Problematik weist beispielhaft über die rechtliche Gestaltung hinaus. Es ist auch nach der Leistungsfähigkeit von Gruppen, den darin wirkenden Kräften und Prozessen zu fragen, also Gegenständen der Psychologie, Soziologie und Verhaltensökonomik. Die Aufsichtsratsorganisation wird nicht umsonst als „synthetisches Arbeitsfeld“ bezeichnet.43 41

Vgl. von Falkenhausen/Kocher ZIP 2009, 1601; Habersack AG 2008, 98, 101 ff.; Kropff FS K. Schmidt 2009, 1023, 1032 ff. 42 § 119 Abs. 1 Nr. 4 AktG; Art. 37 RL 2006/43/EG (Fn. 58). 43 Fleischer (Fn. 5), 75.

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3. Die Gruppe als Normalfall Die Steuerung unternehmerischer Tätigkeit erfolgt arbeitsteilig; die betriebliche, operative Ebene wird überwölbt von der unternehmerisch-strategischen Planung, so jedenfalls die grundsätzliche Vorstellung in der Betriebsverfassung.44 Weder rechtlich noch in der Realität lassen sich die betriebliche und die unternehmerische Ebene sauber trennen, zumal letztere ihrerseits eingebettet ist in nationale oder geschäftsfeldspezifische Einheiten, die wiederum einer Konzernleitung unterstehen.45 Das ist der, in unterschiedlichen Ausprägungen auftretende, Normalfall. Die rechtliche Einheit „Gesellschaft“ kommt darin mehrfach vor; dass die Konzernspitze eine börsennotierte Aktiengesellschaft ist, die als Repräsentant der ganzen Gruppe wahrgenommen wird, ändert an dieser Vielheit nichts. Rechtsträger und Vertragspartner können nur die rechtlich verfassten Einheiten, also die einzelnen Gesellschaften, sein, nicht die Gruppe. Das hat Folgen in vielen Rechtsgebieten; die Erfassung der Gruppe als Einheit bedarf jeweils der rechtlichen Begründung und Gestaltung. Ein Beispiel dafür ist § 5 MitbestG, der mitbestimmungsrechtlich die Arbeitnehmer der inländischen Konzerntöchter zu solchen der Muttergesellschaft erklärt; die Zurechnung zu den jeweiligen Vertragsarbeitgebern wird dadurch freilich nicht aufgehoben. Im Insolvenzrecht wird das Fehlen eines einheitlichen Verfahrens für eine ganze Unternehmensgruppe (Konzerninsolvenz) mehr oder minder schmerzlich vermisst.46 Das Bilanzrecht macht den Einheits-Vielheits-Aspekt ebenfalls deutlich. Die Einzelbilanz der jeweiligen Gesellschaft ist für Ausschüttungen maßgeblich (auch die der Konzernmutter); die Konzernbilanz hingegen bildet die gesamte Gruppe ab und dient Informationszwecken (§ 297 Abs. 2 Satz 2 HGB). Im deutschen Recht diente die Legaldefinition des Konzerns (§ 18 AktG) vor allem als Einstiegsnorm in die Konzernrechnungslegung (§§ 329 ff. AktG), die heute durch die formale Ansiedlung im HGB und der IAS-VO aus dem Gesellschaftsrecht heraus gelöst erscheint. Sowohl § 290 HGB als auch IAS 2747 und SIC-1248 zeigen aber, dass der Schritt vom einzelnen Rechtsträger zur hypothetischen Einheit „Unternehmensgruppe“ 44 GKBetrVG/Wiese8 2005, Einl. Rn. 40 ff., § 87 Rn. 141 m.w.N.; GKBetrVG/Oetker vor § 106 Rn. 7 f. 45 Zu den Organisationsmodellen vgl. von Werder Führungsorganisation, 2005, 330 ff. 46 Vgl. Ehricke Das abhängige Konzernunternehmen in der Insolvenz, 1998 (zugl. Habilitationsschrift, Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin); Paulus DB 2008, 2523; ders. ZGR 2010 (demnächst). 47 VO (EG) Nr. 1126/2008 Anh., International Accounting Standard 27: Konzern- und Einzelabschlüsse, vom 3.11.2008, ABl.EU L 320/1, 156. 48 VO (EG) Nr. 1126/2008 Anh., Standing Interpretations Committee, Interpretation SIC-12: Konsolidierung – Zweckgesellschaften, vom 3.11.2008, ABl.EU L 320/1, 466.

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zunächst von einem gesellschaftsrechtlichen Sockel aus erfolgt. Der Erzählstil dieser Vorschriften weckt nachgerade nostalgische Gefühle für die §§ 1519 AktG. Die überlagernde wirtschaftliche Betrachtungsweise interpretiert gesellschafts- und zivilrechtliche Gestaltungen, die ihrerseits von den Rechnungslegungspflichten beeinflusst werden. Ähnliches gilt für § 22 WpHG und andere Zurechnungsvorschriften. Die Grenzen zwischen schuldrechtlicher Gestaltung und gesellschaftsrechtlicher Organisation verschwimmen.49 Für die Zukunft des Gesellschaftsrechts bedeutet der rechtstatsächliche Normalfall der Unternehmensgruppe nicht, dass ein gesetzlich ausformuliertes „Konzernrecht“ die adäquate und einzige Lösung sein muss. Der Versuch des AktG 1965 in dieser Richtung ist bruchstückhaft geblieben und hat auch als Exportartikel nur wenig Anklang gefunden.50 Jedoch ist die Gruppenproblematik allgemein bekannt und wird teils durch Sondervorschriften, teils durch Fallgruppen des allgemeinen Gesellschaftsrechts verarbeitet.51 Wichtig für die Weiterentwicklung des Rechts der börsennotierten Aktiengesellschaft ist vielmehr, dass einerseits die Beschränktheit einer Argumentation ausschließlich im Hinblick auf „die AG“ im Blickwinkel bleibt, andererseits die naive Einheitsbetrachtung der Gruppe (mit automatischen Durchgriffen in alle Richtungen) die notwendigen Differenzierungen nicht verdrängt. 4. Information und Markt Information ist als Steuerungselement auch aus dem Gesellschaftsrecht nicht mehr wegzudenken.52 Treibende Kraft ist dabei nicht zuletzt das Kapitalmarktrecht, das in großem Umfang auf Information baut. Gesellschaftsrechtlich dient das Recht des Aktionärs auf Information, aus der Mitgliedschaft abgeleitet, dem Gedanken der Rechenschaft und der Ermöglichung der Ausübung von Aktionärsrechten. Zur Bestimmung von Inhalt und Reichweite trägt das aber nicht notwendig bei.53 Anders begründet und strukturiert sind Informationsrechte und -pflichten kapitalmarktrechtlicher Art, die vor der gesellschaftsrechtlichen Organisation und dem Zusammen49 Dazu demnächst Krolop Habilitationsschrift, Juristische Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin; vgl. auch Veil Unternehmensverträge, 2003 (zugl. Habilitationsschrift, Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin); Weber Vormitgliedschaftliche Treubindungen, 1999, 241 ff. (zugl. Habilitationsschrift, Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin). 50 Emmerich/Habersack Konzernrecht9, § 1 Rn. 13, 15, 17 f. 51 Vgl. Forum Europaeum Konzernrecht ZGR 1998, 672; Windbichler 1 EBOR (2000) 265; Vagts in: Druey (Hrsg.) Das St. Galler Konzernrechtsgespräch, 1988, 31, 32, bezeichnete das als „antitheoretische Methode“. 52 Grundmann European Company Law, 2007, Rn. 85 ff. 53 Druey FS K. Schmidt 2009, 249.

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spiel der Organe nicht halt machen.54 Hier ist die Grundidee, dass den Akteuren am Kapitalmarkt möglichst gleichmäßige55 und umfassende Informationen zur Verfügung stehen sollen, damit der Marktprozess funktioniert. Andererseits sollen bei effizienten Kapitalmärkten ohnehin alle Informationen in den Preisen enthalten sein. Es bestehen allerdings sowohl Zweifel an der sog. efficient capital market hypothesis56 als auch an der unbegrenzten Verfügbarkeit sowie Kapazität zur Produktion und Verarbeitung von Informationen.57 Für das Gesellschaftsrecht, wie auch für andere Rechtsgebiete, ist das die Herausforderung, das ausgewogene und funktionstaugliche Informationsregime zu entwickeln. Ein Beispiel für die begrenzte Leistungsfähigkeit der Offenlegung sind Vorstandsvergütungen. Die Vierte Richtlinie (Jahresabschlussrichtlinie) verlangt lediglich die Offenlegung der Vergütung des Gesamtvorstandes ohne Individualisierung.58 Die Empfehlung der EU-Kommission zur angemessenen Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften von 2004 sieht eine sowohl individualisierte als auch detaillierte Offenlegung vor.59 In Deutschland empfahl zunächst der DCGK die individualisierte Offenlegung. Dem Gesetzgeber ging die freiwillige Umsetzung nicht schnell genug, weshalb 2005 das VorStOG verabschiedet wurde,60 das börsennotierte Gesellschaften zur individualisierten und nach Komponenten aufgeschlüsselten Offenlegung verpflichtet. Die Offenlegungsregelung wird unter verschiedenen Gesichtspunkten kritisiert. Manchen gehen die deutschen Vorschriften nicht weit genug,61 anderen gehen sie zu weit.62 Die Effekte der Publizität sind nach wie vor unklar und umstrit54 Zur Rückwirkung von Informationspflichten auf die Informationsgenerierung Windbichler in: Möllers (Hrsg.) Geltung und Faktizität von Standards, 2009, 19, 34 f.; dies. FS Hopt 2010 (demnächst). 55 Bachmann FS Schwark 2009, 331; Fleischer ZGR 2009, 505. 56 Heutzutage wird nur noch eine schwache ECMH vertreten; Ruffner (Fn. 25), 352 ff., 359 f.; zur Entwicklung von Hein (Fn. 8), 639 ff. 57 Avgouleas ECFR 2009, 440, 450 ff.; Merkt Unternehmenspublizität, 2001, 208 ff.; Schön FS Canaris 2007, Band 1, 1191, 1205 ff. 58 Art. 43 Abs. 1 (12) der 4. Richtlinie 78/669/EWG, ABl.EWG vom 14.8.1978 L 222/ 11, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2006/43/EG vom 17.5.2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen . . ., ABl.EU vom 9.6.2006 L 157/87. 59 Empfehlung der Kommission vom 14.12.2004 zur Einführung einer angemessenen Regelung für die Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften 2004/913/EG Absch. II und III., ABl.EU vom 29.12.2004 L 385/55; ergänzt durch Empfehlung 2009/385/EG vom 30.4.2009, ABl.EU vom 15.5.2009 L 120/28. 60 Gesetz über die Offenlegung der Vorstandsvergütungen (Vorstandsvergütungsoffenlegungsgesetz – VorstOG) vom 3.8.2005, BGBl. I, 2265. 61 Baums ZHR 169 (2005) 299, 301 ff.; ders. mit einem eigenen Gesetzesvorschlag ZIP 2004, 1877. 62 Vgl. Gesetzentwurf der FDP-Fraktion, BT-Drucks. 15/5582; krit. auch Augsberg ZRP 2005, 105, 106 ff.; Fleischer NZG 2006, 561; Menke/Porsch BB 2004, 2533.

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ten. Die Offenlegungspflichten in den USA haben jedenfalls keine spürbar steuernden Effekte gebracht.63 Die Publizität ist schließlich nicht Selbstzweck, sondern soll Steuerungsprozesse in Gang setzen. Das GovernanceProblem, nämlich die ausgewogene Vergütungsfindung ohne Selbstbedienungseffekte, blieb ungelöst. Eine erneute gesetzgeberische Korrektur setzte zusätzlich auf materieller Ebene ein, nämlich das VorstAG,64 dessen Wirkungen abzuwarten bleiben. Neben zahlreichen anderen Problemen65 blieben die Anwendungsfragen in der Unternehmensgruppe ausgeblendet;66 die (Finanzmarkt-)Krise hat sich als schlechter Ratgeber erwiesen.67 Sowohl für den Verband selbst als auch den Kapitalmarkt, Vertragspartner, je nach Branche auch für staatliche Regulierung, insbesondere von Banken und Versicherungen, unentbehrlich ist das Bilanzrecht. Das Fortschreiten der Rechnungslegung vom rückblickenden Zahlenwerk zur Beschreibung der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens einschließlich, zukunftsorientiert, Chancen und Risiken sowie der Binnenorganisation der Gesellschaft wurde durch die Bilanzrechtsreform 2009 auch im deutschen Recht deutlich.68 Aus Berichts-, Prüfungs- und Offenlegungspflichten ergibt sich nicht nur ein Informationseffekt, über dessen Grund und Grenzen man im Einzelnen streiten kann, sondern auch der faktische Zwang, GovernanceStrukturen für ein internes System der Dokumentation und Rechnungslegungskontrolle zu etablieren und seinerseits zu dokumentieren. Rechtstechnisch begründen die Rechnungslegungs- und Abschlussprüfungsvorschriften keine Rechtspflicht zur Einführung der Systeme oder Maßnahmen, über die zu berichten ist, schon gar nicht hinsichtlich bestimmter Standards.69 Die Anreiz- und Ausstrahlungswirkung von Berichts- und Prüfungsvorschriften ist jedoch unübersehbar.70 Wie sich eine Transaktion in der Rechnungsle63 Bebchuk/Fried Pay Without Performance, 2004, 67 f., 72; Cheffins Company Law, 1997, 700 f.; Hopt FS Canaris 2007, Band 2, 105, 119 f. 64 Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG) vom 31.7.2009, BGBl. I, 2509. 65 Dazu Fleischer NZG 2009, 801; Hohenstatt ZIP 2009, 1349. 66 Dazu etwa OLG München vom 7.5.2008, NZG 2008, 631 mit Anm. Habersack; Tröger ZGR 2009, 447. 67 Siehe oben bei Fn. 10 und Fn. 56. 68 Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz – BilMoG) vom 25.5.2009, BGBl. I, 1102. 69 So eindeutig BegrRegE BilMoG (Fn. 68) zu § 289 Abs. 5 HGB: Mit der Vorschrift wird weder die Einrichtung noch die inhaltliche Ausgestaltung eines internen Kontrollsystems oder eines internen Risikomanagementsystems im Hinblick auf den Rechnungslegungsprozess verpflichtend vorgeschrieben . . .; Melcher/Mattheus DB Beil. 1/2008, 52, 53; vgl. auch Zimmer, in: Ulmer (Hrsg.) GroßkommHGB-Bilanzrecht, § 317 Rn. 34 betr. Dokumentation des Risikofrüherkennungssystems. 70 Sehr anschaulich O’Kelley/Thompson Corporations and Other Business Associations4, 2003, 828 (Nr. 5): “The line between disclosure and substance is further blurred by the extent to which disclosure is a thinly disguised regulation of substance. Consider, for

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gung abbildet, ist oft von entscheidendem Einfluss auf Vornahme und Ausgestaltung des Geschäfts. Aus ökonomischer Sicht wird ferner auf die Gefahr von Überinvestition in die interne Kontrolle hingewiesen.71 In der Praxis werden die Berichts- und Prüfungspflichten und die Pflichten den Berichts- und Prüfungsgegenstand betreffend nicht immer sauber getrennt.72 Dokumentations-, Offenlegungs- und Prüfungspflichten sind stark von nicht staatlichen Standardsettern geprägt.73 Solches „Expertenrecht“ ist zumindest teilweise unvermeidlich, wirft aber auch Legitimationsfragen auf.74 Zwar sind Informationsregeln gegenüber der materiellen Regulierung der geringere Eingriff; der privatautonome Entscheidungsspielraum wird (vordergründig) nicht angetastet.75 Das ist aber nur bedingt überzeugend, denn nicht nur die Sammlung und Aufbereitung von Information mit entsprechender Selbstinformation des Verpflichteten76 folgt aus den Informationsregeln, sondern im hier angesprochenen Bereich auch eine Rückwirkung auf die zu beschreibenden Gegenstände. In der Physik würde man vom Einfluss der Messung auf das Objekt sprechen. Die Strategie, durch bilanz- oder kapitalmarktrechtliche Berichts- und Prüfungspflichten mittelbar materiell Verhalten zu steuern, bedarf der rechtswissenschaftlichen Untersuchung und gehört zu den Herausforderungen auch an das Gesellschaftsrecht. example, § 406 of the Sarbanes Oxley Act of 2002, which requires a company to disclose ‘whether or not and if not, the reasons therefore, such issuer has adopted a code of ethics for senior financial officers.’ Many practicioners will tell you such disclosure is closer to a command that you violate at your own peril.”; zu sog. Anregungsnormen Beier Der Regelungsauftrag als Gesetzgebungsinstrument im Gesellschaftsrecht, 2002, 81 ff. 71 Lehmann, in: Möllers (Fn. 54), 37, 60. 72 Vgl. etwa betrieblich interne Kontrollsysteme IdW PS 261, dazu Marten/Quick/ Ruhnke Wirtschaftsprüfung3, 2007, 270 f.; Ballwieser in: Hommelhoff/Hopt/von Werder (Fn. 35), 429, 430 f.; Preußner/Becker Ausgestaltung von Risikomanagementsystemen durch die Geschäftsleitung – Zur Konkretisierung einer haftungsrelevanten Organisationspflicht, NZG 2002, 846, 848; dagegen Großkomm-AktG/Kort4 § 91 Rn. 51 f., 57 ff.; pragmatisch Glass Lewis & Co (www.glasslewis.com), RiskMetrics Group (www. riskmetrics.com) mit dem Angebot: “Operational and Compliance Solutions: Comprehensive services unique for their accuracy, transparency and auditability” (Hervorhebung vom Verf.). 73 Windbichler (Fn. 54), 19, 35. 74 Kalss in: Riesenhuber (Hrsg.) Europäische Methodenlehre, 2006, § 19 Rn. 7 ff.; Köndgen in: Riesenhuber ebenda, § 7 Rn. 55 ff.; Baumbach/Hopt/Merkt, HGB33, 2008, Einl. v. § 238 Rn. 97 ff.; allgemein zur zivilen Regelsetzung Bachmann Private Ordnung, 2006 (zugl. Habilitationsschrift, Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin). 75 Grohmann Das Informationsmodell im Europäischen Gesellschaftsrecht, 2006, 57 m.w.N.; Grundmann/Kerber/Weatherill Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market, 2001, 17 f., 24 ff.; Schön (Fn. 57), 1193 ff., kritisch 1205 ff.; Stürner FS Canaris 2007, Band 1, 1489. 76 Grohmann (Fn. 75), 67; LaPorta/Lopez-de-Silanes/Shleifer/Vishny 106 (1998) J. of Pol.Econ. 1113, 1120, bezeichnen die Qualität von Rechnungslegungsstandards als Konsequenz von Offenlegungsregeln.

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III. Methoden 1. Ökonomische Perspektiven Das Recht der börsennotierten Kapitalgesellschaft bietet sich für ökonomische Argumente ganz besonders an, zeigt aber auch deutlich die Grenzen der jeweiligen Disziplin. Das eingangs geschilderte Agenturproblem verdankt seine Entdeckung und Analyse der institutionenökonomischen Betrachtung. Seine Formulierung hat sich als außerordentlich hilfreich erwiesen, alte und neue Rechtsprobleme und ihre Lösungen zu verstehen. Als Negativbeispiel möge die „Erfindung“ der Aktienoptionen für Geschäftsleiter dienen, die von amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern als Zaubermittel zur Angleichung der Interessen von Direktoren und Aktionären, also Lösung des Agenturproblems, angepriesen wurden.77 Dem lag die ebenfalls ökonomische (nicht: rechtliche) Überzeugung zugrunde, dass der Börsenkurs den „Wert“ der Unternehmung widerspiegele, dessen Steigerung wiederum die Leistung des Managements zum Ausdruck bringe. Beides trifft nicht zu. Börsenkurse werden von vielen Elementen bestimmt,78 das Aktionärsinteresse ist nicht notwendig identisch mit der Steigerung des Börsenkurses, und die Vergütung nach Maßgabe des Börsenkurses verleitet zu dessen Manipulation, aber nicht notwendig zur besseren Unternehmensführung. Wenig plausibel ist eine börsenkursgetriebene Vergütung auch unter dem Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung in der Unternehmensgruppe,79 die sowohl breit gefächerte Geschäftsfelder als auch börsennotierte Tochtergesellschaften kennt. Ferner hat die Überzeugung, dass Arbeitnehmermitbestimmung zur Überbrückung von Interessenkonflikten und gemeinsamer Arbeit zum Unternehmenswohl führe,80 in ihrer rechtlichen Ausformung den Import untauglicher Vergütungssysteme81 nicht verhindert. Modernere ökonomische Untersuchungen widmen sich intensiv dem tatsächlichen menschlichen Verhalten (behavioral economics).82 Gesetzgeber, 77

Wheelan naked economics, 2002, 32. Siehe oben bei Fn. 56 zur ECMH; Cheffins (Fn. 63), 114. 79 Vgl. OLG München NZG 2008, 631; dazu Habersack NZG 2008, 634; Tröger (Fn. 66), 447. 80 Siehe oben BegrRegE (Fn. 12). 81 Zu den Mängeln Bebchuk/Fried (Fn. 63); siehe auch Cheffins (Fn. 63), 653 ff.; Cox/ Hazen (Fn. 23), § 11 A; Lutter ZIP 2006, 733; Peltzer FS Lutter 2000, 571; Thüsing ZGR 2003, 457; rechtstatsächliche Angaben in der DSW Studie zur Vorstandsvergütung http:// www.dsw-info.de/DSW-Vorstandsverguetungsstudie.1321.0.html [28.5.2009]; zum Import Cheffins The Metamorphosis of „Germany Inc.“: The Case of Executive Pay, 49 (2001) Am.J.Comp.L. 479, 507 ff. 82 Vgl. dazu die Beiträge in Altman (Hrsg.) Handbook of Contemporary Behavioral Economics, 2006; Engel/Englerth/Lüdemann/Spiecker gen. Döhmann (Hrsg.) Recht und Verhalten, 2007; Schön (Fn. 57), 1209 f.; Ulen in: Grundmann/Kerber/Weatherill (Fn. 75), 98. 78

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Rechtsanwender und Gestalter von Rechtsgeschäften sind schon immer von Vorverständnissen über menschliches Verhalten ausgegangen, manchmal aus treffender Erfahrung,83 manchmal ganz zu unrecht.84 § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG impliziert Zusammenhänge von Information und Verhalten. Mit der Neufassung des § 87 Abs. 1 AktG hat der Gesetzgeber mittelbar den Auftrag erteilt, Anreizeffekte zu erforschen, soll die Rechtsordnung nicht auf dem Stand ungesicherter Alltagstheorien verharren. Die positive oder gar normative Annahme des homo oeconomicus hat damit ausgedient.85 Im Kapitalmarktrecht stellt die Forschungsrichtung „behavioral finance“ die entsprechende Herausforderung dar und geht über das ebenfalls junge Mischgebiet „law and finance“86 noch hinaus. Für die interdisziplinäre Arbeit weiter erforderlich ist ein kritischer Umgang mit den disziplinären Angeboten. Für die ökonomischen Perspektiven bedeutet das eine gewisse Skepsis hinsichtlich der Fruchtbarkeit der Neoklassik für das Gesellschaftsrecht. Wie gezeigt bietet die Institutionenund verhaltensorientierte Ökonomik dagegen vielfache Anknüpfungspunkte. Ein dritter Ansatz verdient aber noch Erwähnung, zumal sich darum eine ganze „cottage industry“ gebildet hat: die empirisch-statistischen Methoden. Grundlegend dafür war eine Untersuchung von LaPorta et al.,87 die, ausgehend von der Hypothese, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Kapitalmärkte verantwortlich sind, die „Aktionärsfreundlichkeit“ verschiedener Rechtsordnungen untersuchten. Es wurden u.a. als „aktionärsfreundlich“ gedeutete Regeln aufgelistet und ausgezählt. Als Ergebnis wurden die vom angelsächsischen Recht geprägten Länder als diejenigen mit den entwickeltsten Kapitalmärkten und zugleich als die „aktionärsfreundlichsten“ identifiziert. Diese sog. legal-origin-Theorie hat, vor allem unter Ökonomen, eine breite Gefolgschaft gefunden, ist aber methodisch in vieler Hinsicht defizitär und wenig überzeugend.88 Der Rechtsvergleicher bemängelt z.B. den voreingenommenen Zugang zu den rechtli83 Etwa wenn im Familienrecht nicht allgemeines gegenseitiges Wohlwollen vorausgesetzt wird, denn die Normen des Familienrechts werden erst im Konfliktfall nachgefragt, so treffend Kirchgässner JZ 1991, 104, 108. 84 Etwa wenn entgegen kriminologischen Erkenntnissen die Abschreckungswirkung von Strafdrohungen oder im Zivilrecht die Leistungsfähigkeit von Schadensersatzdrohungen überschätzt werden; dazu GroßKomm-AktG/Hopt4 § 93 Rn. 15. 85 Fliessbach/Weber/Trautner/Dohmen/Sunde/Elger/Falk 318 Science (2007) 1305 [http://www.sciencemag.org/cgi/content/abstract/318/5854/1305?ijkey=wQeHRuQG0gS /w&keytype=ref&siteid=sci]; van Aaken „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, 82 ff. 86 Haar JZ 2008, 964 unter Berücksichtigung der gesellschaftsrechtlichen und Corporate-Governance-Implikationen. 87 LaPorta et al. (Fn. 76). 88 M. Roth in: Baum/Fleckner/Hellgardt/Roth (Hrsg.), Perspektiven des Wirtschaftsrechts, 2008, 237, 241 ff.; Voigt Are International Merchants Stupid? – Their Choice of Law Sheds Doubt on the Legal Origin Theory, 5 (2008) JELS 1; siehe auch Fn. 90.

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chen Regeln, der nach Gestaltungselementen, die im gewohnten rechtlichen Umfeld keine Rolle spielen oder nicht bekannt sind, gar nicht fragt.89 Ferner wird nicht ausreichend nach zwingendem und dispositivem Recht unterschieden90 etc. Eine korrekte Codierung rechtlicher Rahmenbedingungen, die eine statistische Erfassung und Auswertung ermöglicht, ist außerordentlich schwierig und mit großer Skepsis zu betrachten.91 Der sog. quantitative Rechtsvergleich setzt den deskriptiven und funktionalen Rechtsvergleich voraus, anderenfalls ist er nicht brauchbar. 2. Rechtsvergleich Für die Zukunft des Gesellschaftsrecht unerlässlich ist der Rechtsvergleich, der sich auch in der Vergangenheit vielfach bewährt hat,92 nicht etwa als akademische Kür, sondern als angewandte Methode. Das folgt schon aus den tatsächlichen Verhältnissen, nämlich den grenzüberschreitenden Aktivitäten der Gesellschaften bei offenen Kapitalmärkten, der Rechtsformwahl über das nationale Angebot der Formen hinaus, der Umsetzung von EGRichtlinien und der Integration der Aktivitäten in der Unternehmensgruppe. Fragen des Internationalen Gesellschaftsrechts führen immer wieder zu einem Funktionsvergleich der nationalen Regelungen. In hochentwickelten, marktwirtschaftlich orientierten Ländern sind Gesellschaften die Hauptträger wirtschaftlicher Aktivitäten. Das regelungsbedürftige Zusammenwirken der Akteure Gesellschafter, Fremdkapitalgeber, Gläubiger, Mitarbeiter, Kunden und Management wirft grundsätzlich die gleichen Fragen auf,93 die je nach Rechtstradition, wirtschaftlich-historischer Entwicklung und Eingriffsfreude des Staates mehr oder weniger unterschiedlich beantwortet werden. Teils mit Bedacht, teils unreflektiert werden Elemente fremder Rechtsordnungen in das nationale Gesellschaftsrecht übernommen, was ohne ver89 Z.B. zwingende Hauptversammlungszuständigkeiten, Bindungswirkung von Hauptversammlungsbeschlüssen, Anfechtungsrecht etc. 90 LaPorta et al. (Fn. 76), 1121 schieben das Problem mit leichter Hand beiseite; relevant dürfte das sein z.B. beim Bezugsrecht, das in ca. 90% der börsennotierten amerikanischen Gesellschaften abbedungen ist, für Belgien und Deutschland als nicht vorhanden aufgeführt ist (1130), obwohl dort selbstverständlich die 2. gesellschaftsrechtliche Richtlinie gilt. 91 Z.B. Pozen The Regulation of Labor and the Relevance of Legal Origin, 28 (20062007) Comp.Lab.L.&Pol’yJ. 43, 46 ff. am Beispiel eines arbeitsrechtlichen Vergleichs nach derselben Methode; Spamann On the Insignificance and/or Endogeneity of LaPorta et al.’s ‚Antidirector Rights Index’ under Consistent Coding, http://ssrn.com/abstract=894301; allgemeiner zur quantitativen Rechtsvergleichung Twining General Jurisprudence, 2009, 251 ff., 291. 92 Umfassend von Hein (Fn. 8), 63 ff. 93 Cheffins (Fn. 63), 47 ff.; Grundmann Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004, § 3; Armour/Hansmann/Kraakman (Fn. 32), 1; Hopt in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.) The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 1161.

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tiefte rechtsvergleichende Arbeit nicht gelingen kann. Fleischer spricht von der Aufgabe der „Domestizierung von Rechtstransplantaten“.94 Im Gesellschaftsrecht sind die Einflüsse von außerhalb praktische Realität,95 weshalb die Debatte über das Theoriedefizit in der Rechtsvergleichung96 zwar als Merkposten, aber nicht als Argument gegen den Rechtsvergleich als Methode ins Feld geführt werden kann. 3. Dispositives Recht und soft law Die genuin juristische Aufgabe, Rechtsregeln auszulegen und zu systematisieren, auf ihre Kohärenz und Konsistenz hin zu untersuchen und weiter zu entwickeln, kann sich insbesondere im Gesellschaftsrecht nicht auf zwingende Normen beschränken. Die Rolle des dispositiven Rechts verdient größere Beachtung. Die Satzungsstrenge des deutschen Aktienrechts, § 23 Abs. 5 AktG, ist zwar Gegenstand vielfältiger Auseinandersetzungen, doch bedeutet größere Gestaltungsfreiheit nicht notwendig den vollständigen Rückzug des Gesetzes, sondern zunächst einmal Dispositivität.97 Leistungsfähiges dispositives Recht spart Kosten und fördert Transparenz. Rechtstechnisch relativ neu in Deutschland ist das Musterprotokoll (Anl. zu § 2 Abs. 1a S. 2 GmbHG); der britische Companies Act kennt eine Mustersatzung. Dabei handelt es sich um ein Gestaltungsangebot, das hinter dispositivem Recht zurück bleibt, aber als Vereinfachung durchaus reizvoll sein kann. Auch der Verordnungsentwurf für eine Europäische Privatgesellschaft sieht in der Anlage I einen umfangreichen Katalog von Regelungsaufträgen vor. Die dort genannten Punkte müssen im Gesellschaftsvertrag vereinbart werden; die inhaltliche Ausgestaltung bleibt aber weitgehend den Gesellschaftern überlassen. Dieser Katalog bestimmt zugleich den Bereich, in dem der Satzung Vorrang vor dem jeweiligen nationalen Recht zukommt.98 Mit dem Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) und dessen Würdigung in § 161 AktG hat auch das sog. soft law die Aufmerksamkeit 94

Fleischer (Fn. 5), 73 f.; kritisch zur Figur der „legal transplants“ von Hein (Fn. 8), 57 ff. Z.B. von Hein (Fn. 8); Hopt (Fn. 63), 105. 96 Prominent Reimann The Progress and Failure of Comparative Law in the Second Half of the Twentieth Century, 50 (2002) Am.J.Comp.L. 671, 685 ff.; Twining (Fn. 91), 41 ff., 244; vgl. auch van Aaken (Fn. 85), 130 ff., 141 ff. 97 Dazu demnächst Möslein Habilitationsschrift, Juristische Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin. 98 Vorschlag für eine VO (SPE) über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft vom 25.6.2008, KOM 2008, 396, http://ec.europa.eu/internal_market/company/epc/ index_de.htm; dazu Arbeitskreis Europäisches Unternehmensrecht NZG 2008, 897 (Näheres zu diesem Arbeitskreis unter www.akeur.eu); Bücker ZHR 173 (2009) 281; Hadding/ Kießling WM 2009, 145; Hommelhoff FS K. Schmidt 2009, 671; Hügel ZHR 173 (2009) 309; Krejci Societas Privata Europaea – SPE, 2008. 95

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des deutschen Gesetzgebers gefunden. Die zunehmende Bedeutung von Verhaltenskodizes spiegelt sich auch in Nr. 1. und 3. des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG, der unwahre Angaben über die Einhaltung von Kodices zur unzulässigen geschäftlichen Handlung erklärt. Die Einhaltung des DCGK wird empirisch aus betriebswirtschaftlicher Sicht erforscht.99 Aus der Entwicklung des gesellschaftsrechtsrelevanten Kapitalmarktrechts ist der City Code on Takeovers and Mergers nicht mehr weg zu denken, während dem deutschen Übernahmekodex kein Gedeihen beschieden war.100 Soft law allgemein, dessen Erscheinungsformen und Leistungsfähigkeit verdienen gerade für das Gesellschaftsrecht der kapitalmarktorientierten Unternehmen vertiefter rechtswissenschaftlicher Aufmerksamkeit.101

IV. Orientierung und Navigationshilfen Das Recht der kapitalmarktorientierten Kapitalgesellschaften ist ein wichtiges Element einer freiheitlichen, produktiven und nachhaltigen Wirtschaftsordnung; es befindet sich in einem dynamischen Entwicklungsprozess, dessen Ergebnisse stets wieder in Frage zu stellen sind, selbst wenn die Ausgangsprobleme geringerem Wandel unterworfen sind. Im Sinne einer „roadmap“, einem Begriff, der sich für die Strukturierung komplexer Prozesse in Wissenschaft und Politik eingebürgert hat, sind daher nicht nur Themenfelder, sondern auch Verfahren des Voranschreitens zu beschreiben und bereits begangene Wege als solche zu markieren. Die Rechtsdogmatik hat als Instrument der Rechtssicherheit und mit ihrer Stabilisierungs- und Entlastungsfunktion keineswegs an Bedeutung eingebüßt.102 Gleichwohl sind zusätzliche Perspektiven unerlässlich, zumal die gesellschaftsrechtsdogmatischen Konstruktionen eine pfadabhängige Entstehungsgeschichte hinter sich und vielfältige Einflusskomponenten vor sich haben. Rechtsvergleich und Intersdisziplinarität sind nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern Navigationshilfe.103 Inhaltlich wird sich das Gesellschaftsrecht der börsennotierten Aktiengesellschaft weiter mit dem Marktbezug auseinandersetzen. Das ist insofern

99 Von Werder/Talaulicar Kodex Report DB 2010, 853; dies. DB 2009, 689; dies. DB 2008, 825; dies. DB 2007, 869; dies. DB 2006, 849. 100 KölnerKommWpÜG/Hirte Einl. Rn. 43 ff., 72 f. 101 Zum Zusammenspiel der verschiedenen Steuerungsmechanismen Grundmann (Fn. 93), § 13; Merkt in: Hommelhoff/Hopt/von Werder (Fn. 35), 715; Pistor in: Hopt/ Wymeersch/Kanda/Baum (Hrsg.) Corporate Governance in Context, 2005, 249; Windbichler (Fn. 54), 20 ff. 102 Fleischer FS K. Schmidt 2009, 375, 379. 103 Für eine strikt juristische Jurisprudenz Ernst in: Engel/Schön (Fn. 5), 3, 15 ff.; dagegen Fleischer (Fn. 5), 64 f., 74 f.; dazu Reimann in: Engel/Schön (Fn. 5), 87, 96 f.

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nicht neu, als vor der Ausformung eines spezifischen Kapitalmarktrechts die Aktiengesellschaft als Grundtyp der marktorientierten Rechtsform ohnehin entsprechende Elemente enthielt. Die Herausforderung besteht eher darin, dass das Kapitalmarktrecht inzwischen ein ausgeprägtes Eigenleben führt. Der Aktionär kann nicht immer bruchlos gleichzeitig als Mitglied und als Investor behandelt werden. Die Erscheinungsformen von Informationsstrategien sind stark kapitalmarktrechtlich geprägt, ihre Bedeutung und Leistungsfähigkeit allgemein und für das Gesellschaftsrecht im Besonderen sind aber noch keineswegs abschließend geklärt. Das deutsche materielle Konzernrecht hat zwar keine umfassende Nachahmung gefunden, das Recht der Unternehmensgruppe ist aber als unentbehrliches Element des Gesellschaftsrechts etabliert, wenn auch oft im Gewande allgemeiner Regeln. Rechnungslegung und Offenlegungspflichten fordern dazu heraus, die Produkte der Kautelarjurisprudenz zur Verbindung von Unternehmen gesellschaftsrechtlich zu hinterfragen und die Stabilisierungs- und Entlastungsfunktion der Rechtsdogmatik anzumahnen. Die Verteilung von Kompetenzen und Kontrolle in der Aktiengesellschaft und Unternehmensgruppe ist ein großes, altes Thema. Die Bezeichnung als „Corporate Governance“ ändert daran nichts. Interne und externe Governance wandeln sich und sind von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. Deshalb bleibt das Thema auch in Zukunft ein Kernbereich des Gesellschaftsrechts. Die „roadmap“ zeigt allerdings, dass die Suche nach einem Unternehmensrecht im Sinne der Gegenüberstellung von Kapital und Arbeit keine aktuellen Wegweiser sind. Eine aktualisierte Wegbeschreibung mag dazu beitragen, die Einschränkungen durch unreflektierte Pfadabhängigkeit zu vermindern.

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Gehalt und Zukunft des Kapitalmarktrechts Gehalt und Zukunft des Kapitalmarktrechts Eberhard Schwark

Gehalt und Zukunft des Kapitalmarktrechts EBERHARD SCHWARK

I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Kapitalmarktrecht als neues Rechtsgebiet . . . . . . . . . 2. Gründe für die Sonderstellung des Kapitalmarktrechts . . . 3. Rechtssystematische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Irrelevanz der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Normengebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Aktualität des Kapitalmarktrechts . . . . . . . . . . . . . . II. Prinzipien des Kapitalmarktrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Funktionsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allokative Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Institutionelle Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Operationale Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anlegerschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überindividueller Anlegerschutz . . . . . . . . . . . . . . . b) Individueller Anlegerschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Staatliche Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Notwendigkeit und Umfang staatlicher Kontrolle . . . . b) Zur Notwendigkeit supra- und internationaler Kontrolle 4. Überschneidungen und Konflikte im Zielsystem des Anlegerschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kapitalmarktrecht und Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . 1. Nebeneinander oder Vorrang eines der beiden Rechtsgebiete? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kapitalsverkehrsfreiheit versus Aktionärsprivilegien . . . . . 3. Die Publikums-KG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kapitalmarktrecht und Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Verhältnis der Wohlverhaltenregeln zum Zivilrecht . . 2. Kapitalmarktrechtliche Schutzgesetze . . . . . . . . . . . . . . 3. Kapitalmarktrecht und Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . V. Kapitalmarktrecht und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Kapitalmarktrechtliche Konsequenzen aus der Finanzkrise VII. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Grundlagen 1. Das Kapitalmarktrecht als neues Rechtsgebiet Für das deutsche und weitgehend auch das kontinentaleuropäische Recht stellt das Kapitalmarktrecht ein junges Rechtsgebiet dar. Erste umfangreiche Monografien erschienen in den Siebziger-Jahren des vergangenen Jahrhunderts.1 Sein eigentliches Momentum hat das Kapitalmarktrecht durch das Ziel des EG-Vertrages erhalten, einen einheitlichen europäischen Kapitalmarkt zu schaffen, um Grundfreiheiten des Vertrages, nämlich Niederlassungs-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit, auf diesem zentralen Wirtschaftssektor durchzusetzen. Auf den Segré-Bericht 1996, der dieses Ziel konkretisierte, folgte eine Vielzahl von EG-Richtlinien,2 die mit der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFiD) im Jahre 2004 ihren vorläufigen Abschluss fand. Inzwischen hat sich das Kapitalmarktrecht zu einem geradezu modischen Sujet entwickelt. Das belegen die Vielzahl von Schriften aus dem akademischen Raum,3 eine Reihe von Lehr- und Handbüchern, zumeist verbunden mit dem Bank- oder Börsenrecht,4 und die zunehmende Auseinandersetzung mit kapitalmarktrechtlichen Fragen in der Rechtsprechung des XI. und II. Zivilsenats des BGH. An vielen Universitäten sind Institute entstanden, zu deren Forschungsgebiet das Kapitalmarktrecht gehört; es hat schließlich im Rahmen der Schwerpunktfächer Eingang in den Unterrichtskanon der juristischen Fakultäten gefunden. Gegenstand des Kapitalmarktrechts ist der Markt für langfristige Kredite und Unternehmensbeteiligungen, über den den Unternehmen ein großer Teil der Mittel zur Investitionsfinanzierung zufließt. Im Gegensatz zum Kapitalmarkt werden dem Geldmarkt kurzfristige Finanzierungen von bis zu etwa einem Jahr Laufzeit zugeordnet, während der Handel in Währungen am Devisenmarkt stattfindet. Investitionen am Kapitalmarkt werden regelmäßig in Wertpapieren (Schuldverschreibungen, Aktien, Investmentanteile etc.) verbrieft; begriffsnotwendig ist das aber nicht. So hat sich um die Grundformen der SchuldHerrn Prof. Dr. Martin Weber danke ich für weiterführende Hinweise und Diskussion. 1 Hopt Der Kapitalanlegerschutz im Recht der Banken, 1975; Schwark Anlegerschutz durch Wirtschaftsrecht, 1979. 2 Überblick bei Kalss/Oppitz/Zollner Kapitalmarktrecht, Band 1, 2005, Rn. 36–53. 3 Genannt seien nur Sethe Anlegerschutz im Recht der Vermögensverwaltung, 2005; Benicke Wertpapiervermögensverwaltung, 2006; Hellgardt Kapitalmarktdeliktsrecht, 2008. 4 Assmann/Schütze (Hrsg.) Handbuch des Kapitalanlagerechts3, 2007; Habersack/ Mülbert/Schlitt (Hrsg.) Handbuch der Kapitalmarktinformation, 2008; Kümpel Bank- und Kapitalmarktrecht3, 2004; Langenbucher Aktien- und Kapitalmarktrecht, 2008; Lenenbach Kapitalmarkt- und Börsenrecht2, 2005; Schwintowski/Schäfer Bankrecht, Commercial Banking-Investment Banking2, 2004.

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verschreibungen und Aktien ein Kranz von Derivaten und Finanzprodukten gelegt, die nicht der Verbriefung bedürfen (vgl. § 1 Abs. 2, 3 WpHG). Als Beispiel seien die Optionsgeschäfte genannt. Sie ermöglichen den Kauf oder Verkauf von Wertpapieren mit zeitlich verzögerter Erfüllung und können in Optionsscheinen verbrieft oder als unverbriefte Geschäfte durchgeführt werden.5 Zudem hat sich ein Beteiligungsmarkt in öffentlich angebotenen, nicht verbrieften Anteilen an Kommanditgesellschaften und Gesellschaften bürgerlichen Rechts entwickelt,6 der durch das Anlegerschutzverbesserungsgesetz 2004 partiell in den kapitalmarktrechtlichen Regelungsrahmen einbezogen wurde (§ 8 f VerkProspG). Für das Verständnis des Kapitalmarktrechts von Bedeutung ist die Zweiteilung dieses Marktes in einen Primär- und einen Sekundärmarkt. Der Primärmarkt umfasst die Ausgabe (Emission) von Finanzinstrumenten durch den Emittenten oder einen mit dieser Aufgabe betrauten Intermediär, der Sekundärmarkt den zeitlich darauf folgenden Handel in diesen Instrumenten, der an Börsen oder außerbörslichen Handelseinrichtungen stattfindet. Das Kapitalmarktrecht zeichnet sich weit stärker als andere Rechtsgebiete durch seine Interdisziplinarität aus. Eine besonders enge Verbindung besteht zu den Wirtschaftswissenschaften. Denn die juristischen Leitbilder und Prinzipien des Kapitalmarktrechts werden überwiegend aus Funktionsbedingungen der Kapitalmärkte abgeleitet, wie sie die Kapitalmarktforschung entwickelt hat (dazu unter II). Eine enge, noch wenig ausgeleuchtete Beziehung besteht auch zu den Verhaltenswissenschaften. So hat sich in der Praxis gezeigt, dass die Marktakteure zu einem herdenartigen Verhalten neigen, wenn es um die Beteilung an Wertpapieremissionen geht. Engagiert sich ein führendes Institut, drängen auch kleinere Banken ohne nähere Prüfung auf eine quotale Beteiligung. Ähnliches lässt sich in der Vergangenheit beim Erwerb hoch risikobehafteter Wertpapiere und Neuschöpfungen der Finanzwirtschaft konstatieren. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass nicht nur die großen Institute betroffen sind, sondern auch die kleineren in gleicher Reihe marschierten und angesichts ihrer geringen Finanzkraft in umso größere Schwierigkeiten gerieten.7 2. Gründe für die Sonderstellung des Kapitalmarktrechts Der Grund für die herausgehobene Stellung des Kapitalmarktrechts liegt in erster Linie in seiner zentralen Bedeutung für das Wirtschaftsleben nicht nur des nationalen sondern auch eines einheitlichen EG-Wirtschaftsraumes. 5 6 7

Schwark/Beck Kapitalmarktrechtskommentar (KMRK)3, § 2 WpHG, Rn. 10. Dazu Assmann/Schütze (Fn. 4), § 16, § 19. Zum sog. Herdenverhalten Kübler FS Schwark 2009, 499, 507 f.

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Kapital bildet das Vehikel für unternehmerische Investitionen in allen Sektoren der Volkswirtschaft; die von den Investoren oder Kapitalsammelstellen (Banken, Versicherungen, Investment- und Pensionsfonds) zur Verfügung gestellten Mittel sind die Grundlage für Wirtschaftswachstum und allgemeinen Wohlstand. Das Recht kann diesen Prozess nicht dem Wildwuchs eines nur durch Wettbewerb geordneten Marktes überlassen, sondern hat dessen gutes Funktionieren, wo nötig, sicherzustellen, ohne die Einzelentscheidungen der Kapitalgeber und der Kapitalnachfrager dirigistisch zu lenken. Ein weiterer Grund für den Siegeszug des Kapitalmarktrechts ist in der Massenhaftigkeit der Kapitalanlage in den modernen Industriestaaten8 und der Eigenart der Anlagen als Erwerbsgegenstand zu sehen. Die Vermögensbildung der privaten Hauhalte vollzieht sich heute zu großen Teilen unmittelbar oder mittelbar über den Kapitalmarkt. Die Investition erfolgt jedoch in Objekte und Ansprüche, deren Sicherheit und Ertragsaussichten der Anleger nur schwer nachprüfen kann. Anders als beim Erwerb einer bestimmten Sache, erhält der vorleistungspflichtige Investor Rechte, die allenfalls in Wertpapieren verbrieft sind, deren Bonität aber durch den dahinter stehenden Emittenten oder bei drittverwalteten Kapitalanlagen durch die Art der Anlage bestimmt wird. Der einzelne Anleger ist in der Regel nicht in der Lage, eine sachgerechte Bewertung seines Investment vorzunehmen. Diese Umstände, d.h. die Massenhaftigkeit der Kapitalanlage und die defizitäre Position der Investoren haben zur Entwicklung eines Rechtsprinzips geführt, das heute unter der Bezeichnung „Anlegerschutz“ firmiert und einen wichtigen Aspekt des Kapitalmarktrechts bildet. Denn das Vertrauen der Anleger in die Integrität des Marktes und sein effizienter Schutz bei der Anlageentscheidung sind Grundbedingungen für einen funktionsfähigen Kapitalmarkt.9 Schließlich wird in Zukunft eine Entwicklung, die, wie die Finanzkrise zeigt, zu einer Aufblähung des Handels in neu geschaffenen Wertpapieren, Derivaten und sonstigen Finanzinstrumenten geführt hat, das Kapitalmarktrecht verstärkt auf den Plan rufen. Die Securitisation einer Vielzahl von Ansprüchen und Risiken hat nicht nur eine immense Ausweitung des Eigenhandels der Bankwirtschaft bewirkt sondern auch zum Transfer von Risiken auf Versicherungsgesellschaften und öffentlichen Körperschaften geführt, die eine globale Erschütterung der Wirtschaft zur Folge hatte (dazu unter VI).

8 Zum empirischen Befund bereits Schwark (Fn. 1), 3 ff.; zur weiteren Entwicklung vgl. die Jahresberichte des Deutschen Aktieninstituts. 9 Köndgen in: Ferrarini (Hrsg.) European Securities Markets – The Investment Services Directive and Beyond, 1998, 115; Rothenhöfer in: Baum u.a. (Hrsg.) Perspektiven des Wirtschaftsrechts, 2008, 55, 59.

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3. Rechtssystematische Einordnung Kapitalmarktrecht ist Marktrecht. Es regelt die Organisation der Markteinrichtungen und – Partiell – der Marktteilnehmer,10 deren Verhalten am Markt und die Aufsicht über Einrichtungen und Akteure. Im Unterschied zum allgemeinen Verbandsorganisationsrecht, wie es sich z.B. im AktG findet, und zur Regelung individueller vertraglicher Beziehungen steht als Regelungsziel das Funktionieren eines als zentral angesehenen Wirtschaftssektors im Vordergrund. Dafür hat sich seit langem die Bezeichnung Wirtschaftsrecht herausgebildet. Wurde das Wirtschaftsrecht zunächst noch blass als „Zusammenhang von Normen, welche die Wirtschaft gestalten und ihre Abläufe regeln sollen“ umschrieben,11 so lassen sich inzwischen wesentliche Charakterzüge dieses Rechtsgebiets erkennen. An erster Stelle zu nennen ist die enge Beziehung zum tatsächlichen Wirtschaftsprozess, d.h. im Kapitalmarktrecht zum „Lebenssachverhalt Kapitalmarkt“.12 Dies darf freilich nicht dazu führen, dass Kapitalmarktrecht zum Tummelplatz einer normativen Kraft des Faktischen wird. Die von der Kapitalmarktforschung erarbeiteten Funktionsbedingungen des Marktes können nicht eins zu eins in Kapitalmarktrecht übertragen werden; vielmehr gilt auch hier der Primat der rechtlichen Wertung. So ist von ökonomischer Seite wiederholt die Auffassung vertreten worden, Insidergeschäfte führten zur raschen Anpassung der Marktpreise an die reale wirtschaftliche Lage der Emittenten und seien deshalb marktförderlich.13 Aus juristischer Sicht steht dagegen der Schutz uninformierter Marktteilnehmer und der Schaden, der ihnen durch Insidertransaktionen entstehen kann, im Vordergrund. Insidergeschäfte sind deshalb als unfair zu verbieten. Ein zweites Charakteristikum des Kapitalmarktrechts als Wirtschaftsrecht liegt in seinem politischen Bezug. Es geht darum, viel stärker als in den vergleichsweise abstrakten Normenwerken des Zivilrechts und des Verbandsrechts, bestimmte wirtschaftspolitische Zielvorstellungen, hier einen effizient, kostengünstig und EG-weit arbeitenden Kapitalmarkt zu ermöglichen und rechtlich abzusichern. Die gesetzgeberischen Motive bestimmen deshalb maßgeblich die Auslegung des Kapitalmarktrechts. Schließlich ist das Kapitalmarktrecht, wie das Wirtschaftsrecht insgesamt, durch seinen gesamtwirtschaftlichen Bezug bestimmt. Die Interessen des Einzelnen werden denen der Gesamtheit untergeordnet. Schon Walter Schmidt10 Vgl. etwa § 33 WpHG (Organisationspflichten der Wertpapierdienstleistungsunternehmen). 11 Rittner in: Staatslexikon6, VII, 819; ähnlich nun wiederum Assmann/Schütze (Fn. 4), § 1 Rn. 1. 12 Kalss/Oppitz/Zollner (Fn. 2), § 1 Rn. 13; Bachmann ZHR 172 (2008) 597, 601. 13 Vgl. nur Schörner Gesetzliches Insiderhandelsverbot, 1990, 142 ff., 247 f. mit befürwortendem Geleitwort von Dieter Schneider.

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Rimpler hatte in diesem normativen Bezug die „rechtliche Richtigkeit“ des Wirtschaftsrechts gesehen.14 So ging es bereits dem Börsengesetz von 1896, das nicht nur Börsenzulassung und Börsenhandel, sondern auch die Prospekthaftung regelte, darum, „empfindliche Störungen für das Ganze der Volkswirtschaft oder Teile von ihr zu vermeiden“.15 Das Dritte16 und das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz17 rekurrierten bereits im Titel auf den gesamtwirtschaftlichen Bezug. Beide Gesetze dienen der „Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland“. Die Strukturmerkmale des Kapitalmarktrechts als Teil des Wirtschaftsrechts erlauben es, den Rechtsstoff dieses Rechtsgebietes näher zu bestimmen. In zeitlicher Reihenfolge gehört dazu zunächst die Emission von Wertpapieren aller Art (§ 2 WpHG) und von nicht verbrieften Unternehmensbeteiligungen (§ 8f VerkProspG), soweit diese durch den Emittenten oder einen Intermediär öffentlich zum Erwerb angeboten werden oder zum Handel an der Börse zugelassen werden sollen. Es ist dann ein Prospekt zu veröffentlichen, der die Investoren über die Vermögensanlage eingehend informieren soll und von der BaFin vor Veröffentlichung ausdrücklich zu billigen ist (§ 13 WpPG) oder jedenfalls überprüft wird (§ 8i Abs. 4 VerkProspG), und es greift eine Prospekthaftung ein. Die Erwerbsvorgänge selbst sind zivilrechtlicher Natur. Soweit Unternehmensbeteiligungen durch Beteiligungsgesellschaften (Private-Equity-Fonds)18 erworben werden, liegt zwar aus ökonomischer Sicht eine Investition am Kapitalmarkt vor. Zum Kapitalmarktrecht im engeren Sinne zählt ihre Tätigkeit aber nur, wenn sie nach den Regeln des Investmentgesetzes erfolgt.19 Daran wird deutlich, dass das Kapitalmarktrecht des Primärmarktes nur Beteiligungen erfasst, denen der Gedanke der breiten Streuung der Anteile zugrunde liegt.20 Diese Begrenzung des primärmarktbezogenen Kapitalmarktrechts auf öffentliche Angebote an breite Personenkreise und die damit verbundene Prospektpflicht und Prospekthaftung sollten auch zukünftig beibehalten werden. Denn nur bei der massenhaften Kapitalanlage können die oft viele Millionen erreichenden Schäden entstehen, die das Vertrauen in das Funktionieren der Kapitalmärkte erschüttern. Breit gefächert stellt sich das Kapitalmarktrecht des Sekundärmarktes dar. Ausgehend von Marktzugangsregelungen werden im BörsG und im WpHG die Markteinrichtungen geregelt. An den Markt gelangende Aufträ14

Artikel „Wirtschaftsrecht“ in: HdSW, Band 12, 691 ff. Bericht der Börsenenquêtekommission, Reichsanzeiger 1894, Nr. 21, 30/31. 16 BGBl. I 1998, 529. 17 BGBl. I 2002, 1310. 18 Dazu Pfundt/von Rosen (Hrsg.) Kapitalmarkt im Wandel, 2008, 125 ff. 19 Sargasser/Schlösser in: Assmann/Schütze (Fn. 4), § 26, Rn. 149, 150. 20 Eine Ausnahme bilden die Anteile an sog. Spezialfonds (§ 121 InvestmentG), die jedoch nur von Unternehmen erworben werden können. 15

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ge und die erzielten Preise unterliegen der Vor- und Nachhandelstransparenz. Zahlreiche Vorschriften sollen einen ordnungsgemäßen Handelsverlauf sichern (Verfahren der Preisfeststellung, Insiderhandelsverbot, Verbot der Kursmanipulation, Offenlegung von Geschäften der Unternehmensleitung, sog. Directors dealings). Der Marktinformation dienen die Publizitätspflichten der Emittenten (Jahres- und Halbjahresfinanzberichte, Zwischenmitteilungen) und die nach Handelsrecht zu veröffentlichenden Einzel- und Konzernabschlüsse. Für den Markt relevant sind auch die Mitteilungs- und Publikationspflichten von Aktionären, deren Anteilsbesitz bestimmte Schwellenwerte erreicht, überschreitet oder unterschreitet (§§ 21 ff. WpHG). Alle diese Vorschriften belegen die Bedeutung der Transparenz als bevorzugtes Instrument der Kapitalmarktregulierung. Ohne Zweifel hängt das ordnungsgemäße Funktionieren des Marktes und das Vertrauen der Anleger in den Markt auch vom Verhalten der Intermediäre und ihrer Mitarbeiter vor und bei Ausführung der von ihnen erbrachten Dienstleistungen ab. Der rechtliche Charakter der Verpflichtungen der Wertpapierdienstleistungsunternehmen (§§ 31 ff. WpHG) ist nicht endgültig geklärt (dazu unten IV 1); doch handelt es sich jedenfalls um genuines Kapitalmarktrecht. Der kursorische Blick auf einzelne Felder des Kapitalmarktrechts soll hier abgebrochen werden;21 er reicht aus, um seine Vielfalt und den erreichten Stand deutlich zu machen. Für das systematische Verständnis des Kapitalmarktrechts wesentlich ist die Erkenntnis, dass zahlreiche zivilrechtliche Vorgänge, Teile des Unternehmensrechts und des Wertpapierrechts, sei es aufgrund gesetzlicher Regelung, sei es durch Veränderung der Sichtweise heute unter kapitalmarktrechtlichen Aspekten gesehen werden und dadurch einen Bedeutungswandel erfahren. Hinsichtlich der zivilrechtlichen Rechtsverhältnisse liegt der Grund darin, dass der Anlegerschutz als Prinzip des Kapitalmarktrechts anerkannt ist und die (vor)vertraglichen Beziehungen zwischen Investor und Intermediären durch kapitalmarktrechtliche Regelungen beeinflusst werden.22 Auch die Prospekthaftung gehört in diesen Kontext. Zudem sind bestimmte Vertragsformen, z.B. die Finanztermingeschäfte, Kapitalmärkten eigentümlich. Durch die stärkere Betonung der Finanzierungsseite, beflügelt durch den Ausbau des Investment Banking auch in Kontinentaleuropa, tritt die kapitalmarktrechtliche Seite vieler unternehmensrechtlicher Vorgänge deutlich hervor. Das beginnt bei der Jahresabschlusspublizität, zeigt sich in der durch das KonTraG 198223 erweiterten Rückkaufsmöglichkeit eigener Akti21

Zu ergänzen wäre er vor allem um die im Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG) geregelten kapitalmarktrechtlichen Transaktionsvorgänge. 22 Assmann in: Assmann/Schütze (Fn. 4), § 1, Rn. 3. 23 BGBl. I 1998, 786.

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en, den Aktienoptionsprogrammen, dem vereinfachten Bezugsrechtsausschluss bei geplanten Beteiligungskäufen, dem sog. Sqeeze out und der Berücksichtigung des Börsenkurses bei der Bemessung von Abfindungen,24 um nur einige Beispiele zu nennen. Über die wertpapierrechtlichen Grundformen der Schuldverschreibungen und Aktien hinaus haben die Investmentbanken zahlreiche Derivate, Zertifikate und Sicherungsinstrumente entwickelt, deren finanzierungsbegleitende oder spekulative Funktion in den Vordergrund tritt und die deshalb eher dem Kapitalmarktrecht als dem Wertpapierrecht zuzuordnen sind. Soweit rechtliche Regelungen fehlen, hat die Rechtsprechung es übernommen, das erforderliche Kapitalmarktrecht zu entwickeln. Bekanntestes Beispiel ist die allgemeine zivilrechtliche Prospekthaftung beim Vertrieb von Kommanditanteilen und anderen Vermögensanlagen.25 4. Die Irrelevanz der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Normengebiet Das Kapitalmarktrecht liegt quer zur herkömmlichen Unterteilung des Rechts in Zivilrecht, öffentliches Recht und Strafrecht.26 Diese für das Wirtschaftsrecht allgemein geltende Eigenart ergibt sich aus der problemorientierten, funktionalen Ausrichtung des Kapitalmarktrechts, das die maßgeblichen Wertungskriterien nach Gesichtpunkten der Zweckmäßigkeit, der Effizienz und der entstehenden Kosten bestimmt.27 Für den Gesetzgeber ist es deshalb von nachrangiger Bedeutung, ob kapitalmarktrechtliche Ziele in öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlich zwingender Form kodifiziert werden. Die Mehrspurigkeit des Kapitalmarktrechts drückt sich in zivilrechtlichen, unternehmensrechtlichen, aufsichtsrechtlichen und strafrechtlichen Normen aus. Aus methodischer Sicht folgt daraus, dass originär zivilrechtliche Vorgänge oder strafrechtliche Normen zu Instrumenten des Kapitalmarktrechts werden und entsprechend auszulegen sind. Ein hervorragendes Beispiel bilden Haftungsregelungen, die als „fleet in being“ eine ordnungsgemäße Kapitalmarktinformation28 sichern oder Insidergeschäften vorbeugen sollen.29 Soweit, wie in Fällen der Kursmanipulation, Straf- und Bußgeldsanktionen vorgesehen sind,30 ist ihr Tatbestand unter Berücksichtigung der kapitalmarktrechtlichen Wertungen des § 20a WpHG auszufüllen. 24

Vgl. BVerfGE 100, 289, 305 ff.; BVerfG AG 2007, 897 f. Dazu BGHZ 71, 284; 72, 382; 79, 337; 111, 314; 145, 121; ausführlich Assmann in: Assmann/Schütze (Fn. 4), 2. Auflage § 7 Rn. 97; 3. Auflage § 6 Rn. 130 ff., 137. 26 Kalss/Oppitz/Zollner (Fn. 2), § 1 Rn. 13; Schwark (Fn. 1), 67. 27 Ähnlich bereits Rittner Planung V, 1971, 59, 62. 28 §§ 44, 45 BörsG; allgemeine zivilrechtliche Prospekthaftung in der PublikumsKG. 29 §§ 37b, c WpHG. 30 § 38 Abs. 2, § 39 Abs. 1 und 2, Abs. 2 Nr. 11 WpHG. 25

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Eine übergreifende kapitalmarktrechtliche Bedeutung individueller zivilrechtlicher Ansprüche kann auch durch Verfahrensrecht erreicht werden. So sieht das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz aus dem Jahre 200531 ein Verfahren für Ansprüche aus fehlerhafter Kapitalmarktinformation, z.B. aus Prospekthaftung, vor, dessen Ergebnis (Musterentscheid des OLG) die Prozessgerichte späterer Verfahren in gleicher Sache bindet. 5. Die Aktualität des Kapitalmarktrechts Die aktuelle Bedeutung des Kapitalmarktrechts ist in erster Linie auf eine geradezu hektische Aktivität der EU-Kommission und des Rates in den vergangenen zwanzig Jahren zurückzuführen.32 Die Richtlinien und Verordnungen wurden sukzessive in deutsches Recht umgesetzt,33 zuletzt durch das Finanzmarktrichtlinie-Umsetzungsgesetz (FRUG) von 2007.34 Der deutsche Gesetzgeber hat es dabei aber nicht belassen. Im Zuge des Anlegerschutzverbesserungsgesetzes35 wurden öffentlich angebotene, nicht verbriefte Unternehmensbeteiligungen einer Prospektpflicht und Prospekthaftung unterworfen.36 Damit wurde der größte Teil des sog. grauen Kapitalmarktes, der bis dahin nur durch Richterrecht erfasst war, gesetzlich geregelt, wenn auch nur im Stadium des Primärmarktes. Auf das zeitlich zunächst bis 2010 befristete Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, eine Reaktion auf Prospekthaftungsklagen von fünfzehn Tausend Erwerbern von TelekomAktien der Emissionen 1999 und 2000, wurde bereits in anderem Zusammenhang hingewiesen. Nicht weiterverfolgt wurde bisher der Entwurf eines „Gesetzes zur Verbesserung der Haftung für falsche Kapitalmarktinformationen“,37 das die Emittentenhaftung auf Bekanntmachungen und Mitteilungen am organisierten Kapitalmarkt erweitern sollte. Wenngleich der Entwurf auf Kritik gestoßen ist,38 dürfte kein Weg daran vorbeigehen, das Projekt, reduziert auf schriftliche kapitalmarktbezogene Informationen, weiterzuverfolgen, um internationalen Standards gerecht zu werden. Ebenso relevant wie der Ausbau eines speziellen Kapitalmarktrechts ist der Prozess einer kapitalmarktorientierten Umbildung des Rechts der AG, der seit dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbe-

31 32 33 34 35 36 37 38

BGBl. I 2005, 2437. Überblick bei Kalss/Oppitz/Zollner (Fn. 2), § 1 Rn. 26 ff. Überblick bei Assmann in: Assmann/Schütze (Fn. 4), § 1 Rn. 21 ff. BGBl. I 2007, 1330. BGBl. I 2004, 2630. Siehe §§ 8f, 13, 13a VerkProspG. Abgedruckt in NZG 2004, 1042. Veil BKR 2005, 91 ff.; Schwark FS Hadding 2004, 1117 ff.

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reich (KonTraG) von 199839 zu einer Vielzahl weiterer Aktienrechtsnovellen40 und der Einführung eines inzwischen mehrfach geänderten deutschen Corporate Governance Kodex41 geführt hat. In diesem Kodex geht es zwar um Regeln guter Unternehmensleitung und -kontrolle, also um ein auf den ersten Blick originär gesellschaftsrechtliches Thema. Doch sind die meisten Empfehlungen an den Interessen der Anleger ausgerichtet, die über die Mechanismen des Kapitalmarktes durchgesetzt werden sollen. Als eine die Kontrollfunktion des Kapitalmarktes einsetzende Regelung ist auch das Vorstands-Vergütungsoffenlegungsgesetz 200542 anzusehen, das ein Öffentlichkeit und Rechtswissenschaft43 bewegendes Problem zwar nicht löst, aber doch Ansätze zur Kontrolle unangemessen hoher Bezüge enthält. Angesichts der gesellschaftspolitischen Brisanz der immer stärker auseinander driftenden Einkommen in Unternehmen, besteht hier weiterer Regelungsbedarf (siehe unten III). Schließlich fordert die globale Finanzkrise eine Durchmusterung des gesamten Kapitalmarktrechts heraus. Sie hat die Frage der Kontrolle der am Kapitalmarkt tätigen professionellen Akteure und der von ihnen geschaffenen Finanzinstrumente ebenso einzubeziehen wie das Verhältnis der Wertpapierdienstleister zu ihren Kunden, den Anlegern, und die offensichtlichen Defizite einer weitgehend national agierenden Aufsicht (siehe unten VI).

II. Prinzipien des Kapitalmarktrechts Es ist Aufgabe der Wissenschaft, den disparaten Rechtsstoff des Kapitalmarktrechts mit dem Ziel einer Systembildung zu ordnen. Dies geschieht sinnvoller Weise unter Zuhilfenahme der von der wirtschaftswissenschaftlichen Kapitalmarktforschung entwickelten Regelungsziele, die der Optimierung der Funktionsfähigkeit des Marktes unter Einbeziehung des Anlegerschutzes dienen. Da beide Ziele regelmäßig in den Präambeln der einschlägigen EG-Richtlinien wie auch in der Begründung der Umsetzungsgesetze genannt werden, sind sie heute auch als Rechtsprinzipien anzuerkennen.

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BGBl. I 1998, 786. Überblick bei Assmann in: Assmann/Schütze (Fn. 4), § 1 Rn. 34, 48. 41 § 161 AktG schreibt eine jährliche Entsprechenserklärung börsennotierter Gesellschaften vor. 42 BGBl. I 2005, 2267. 43 Vgl. Lutter ZIP 2003, 737 ff.; Peltzer FS Lutter 2000, 571 ff.; Schwark FS Raiser 2005, 377 ff. 40

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1. Funktionsschutz Der marktorientierte Funktionsschutz wird herkömmlicher Weise dreifach unterteilt; Überschneidungen und Antinomien sind dabei nicht ausgeschlossen (siehe unten II 4). a) Allokative Effizienz Ein allokativ effizienter Markt sorgt dafür, dass das von den Investoren zur Verfügung gestellte Kapital seiner bestmöglichen Verwendung zugeführt44 und damit zum „Wachstumsmotor“45 der Wirtschaft wird. Dieses gemeinwohlverpflichtete Ziel wird im Kapitalmarktrecht vornehmlich durch Transparenz erreicht. Ihr dienen die Publizitätspflichten der Emittenten im Stadium der Emission und während der Handelsphase, die Publikation des Beteiligungsbesitzes von Aktionären bei Berühren bestimmter Schwellenwerte (§§ 21 ff. WpHG) und die Vor- und Nachhandelstransparenz der Handelseinrichtungen (Börsen und außerbörsliche Markteinrichtungen). Zur Emittentenpublizität gehört auch die handelsrechtlich geregelte Veröffentlichung der Jahresabschlüsse und die Publikation nicht öffentlich bekannter, marktpreisrelevanter Umstände durch den Emittenten (§ 15 WpHG mit Haftungssanktion §§ 37b, 37c WpHG). Durch das Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG) wurde die Beteiligungstransparenz durch eine Publizitätspflicht bei Erlangen der Kontrollmehrheit an einem börsennotierten Unternehmen (30% der Stimmrechte) ergänzt, verbunden mit einem (Pflicht-) Angebot, die Aktien der außenstehenden Aktionäre zu übernehmen (§ 35 WpÜG). Angesichts der Vielfalt der die Informationseffizienz des Kapitalmarktes sichernden Publizitätsvorschriften, kann es nicht ausbleiben, dass auch die Kritik daran vielfältig ist. Sie stellt nicht das Transparenzprinzip als solches in Frage, sondern nimmt sich Defizite einzelner Regelungen vor. Nur einige seien hier genannt: aa) Kapitalmarktinformationen enthalten oft kurze, dem Leser ohne weiteres verständliche Nachrichten, etwa die Mitteilung, ein Aktionär habe 10% der Stimmrechte an einer AG erworben oder der das Unternehmen prägende Vorstandsvorsitzende habe sein Amt niedergelegt, eine nach § 15 WpHG publizitätspflichtige Tatsache. Teilweise werden jedoch, wie im Falle von Prospekten, umfangreiche Darstellungen unter Einbeziehung der Bilanz46 gefordert. Ein solcher Prospekt kann seine Informationsfunktion nur erfüllen, wenn er vom Anleger auch verstanden werden kann. § 5 Abs. 1 44

Fischer Insiderrecht und Kapitalmarktkommunikation, 2006, 228. Kübler Gesellschaftsrecht5, § 31 II, 391. 46 Siehe VO(EG) Nr. 809/2004 der Kommission vom 29.4.2004, ABl.EG Nr. L 149/1; Nr. L 215/3. 45

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Satz 1 WpPG verlangt eine „leicht analysierbare und verständliche Form sämtlicher Angaben“. Der BGH hat für das insoweit deckungsgleiche frühere Recht auf das Niveau eines aufmerksamen Lesers und durchschnittlichen Anlegers abgestellt, der zwar eine Bilanz zu lesen versteht, aber über kein überdurchschnittliches Fachwissen verfügt.47 Ein aufmerksamer und durchschnittlicher Anleger wird aber kaum in der Lage sein, eine Bilanz zu lesen, also z.B. die Eigenkapitalquote eines Unternehmens im Branchenvergleich zu deuten, die sonstige Finanzierungsstruktur, die verwendeten Bewertungsmethoden oder deren Änderungen zu qualifizieren und stille Reserven zu entdecken. Dies gilt erst recht, wenn der Jahresabschluss, wie nach § 315a HGB zulässig, nach US-GAAP oder IFRS aufgestellt ist. Der BGH verlangt mithin Inkompatibles.48 Rechtsprechung und Wissenschaft werden sich um eine weitere Klärung bemühen müssen. bb) Die Beteiligungspublizität der §§ 21 ff. WpHG stellt eine wichtige Verhaltensmaxime für den Kapitalmarkt zur Verfügung. Wird bekannt, dass ein Großaktionär eine Beteiligung am Unternehmen besitzt oder ausbaut, ist dies unmittelbar kursrelevant. Umgehungen der Meldepflicht sollen deshalb durch die Zurechnung von Stimmrechten Dritter, die mit dem Mitteilungspflichtigen in rechtlicher Beziehung stehen, verhindert werden (§§ 22, 25 WpHG); auch Erwerbsrechte des Mitteilungspflichtigen werden in gewissem Umfang zur Bestimmung der Schwellenwerte mit einbezogen. Dazu gehören sog. dingliche Optionen, bei denen der Erwerber durch einseitige Willenserklärung die Aktien erwerben kann (§ 22 Abs. 1 Nr. 5 WpHG), aber auch schuldrechtliche Optionsgeschäfte, durch die der andere Teil zum Abschluss eines Kaufvertrages über die veroptionierten Wertpapiere verpflichtet wird, wenn der Inhaber der Option dies verlangt (§ 25 Abs. 1 WpHG). Wie der Porsche/VW-Fall und der Fall Schaeffler/Continental gezeigt haben, gibt es jedoch weiterhin Praktiken, die es einem Aktionär erlauben, sich ohne Verletzung einer Mitteilungspflicht an das Unternehmen „heranzuschleichen“.49 Dazu gehören etwa Swap-Geschäfte, die es dem Stillhalter bei Verfall erlauben, bei höherem Marktkurs als dem Einstandskurs die Differenz zu zahlen oder Aktien zu liefern. Das geltende Recht würde überdehnt, wenn mit Mitteln der Analogie oder einer erweiternden Auslegung eine Lösung gesucht würde.50 Der Gesetzgeber ist deshalb gehalten, im Interesse der Effektuierung der Beteiligungspublizität Techniken zu unterbinden, die weiterhin eine Umgehung der Beteiligungspublizität erlauben. Dabei kann hilfreich sein, dass regelmäßig eine Abstimmung der Betei47 BGH NJW 1982, 2823, 2824; BGH NJW 2004, 1831, 1835 – EM.TV; für das neue Recht ebenso Groß Kapitalmarktrecht3, § 5 WpPG, Rn. 4. 48 Zur Kritik Fleischer Gutachten DJT 2002, F 44 f.; Wienecke NZG 2005, 109, 111; Schwark in: Schwark/Zimmer KMRK4, §§ 44, 45 BörsG, Rn. 22. 49 Dazu Schneider AG 2008, 557, 562 ff. 50 A.A. Schneider (Fn. 49); vgl. auch Weber/Meckenbach BB 2008, 2022, 2030.

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ligten (Aktionär und Investmentbank) über die wahren Ziele des Vorgehens erfolgen und auch nachweisbar sein wird. Ähnliche Probleme ergeben sich im Übernahmerecht dann, wenn ein Aktionär, der die zur Abgabe eines Pflichtangebots vorgeschriebenen 30% der Stimmrechte hält, diese unbemerkt aufstocken will (sog. creeping-in).51 Veröffentlicht er pflichtgemäß ein (unattraktives) Angebot, das nur von wenigen Aktionären angenommen wird, kann er ohne Verletzung des WpÜG weitere Zukäufe vornehmen. Das deutsche Kapitalmarktrecht sollte für diese und ähnliche Fälle die Pflicht zu einem erneuten Angebot vorsehen; es könnte sich dabei auf eine Reihe anderer europäischer Recht berufen.52 cc) Zu den Instrumenten, die eine allokative Kapitalmarkteffizienz sichern sollen, gehört auch die sog. Ad-hoc-Publizität (§ 15 WpHG). Die Unternehmen haben danach Insiderinformationen unverzüglich zu veröffentlichen. Abweichend vom US-amerikanischen Recht, das alternativ die Veröffentlichung oder die Nichtausnutzung der Insiderinformation (publish or abstain) vorsieht, lässt das dem EG-Recht entsprechende deutsche Recht nur in Ausnahmefällen ein eigenverantwortliches Absehen von der Publizität vor (§ 15 Abs. 3 WpHG). Ein solcher Ausnahmefall wird jedoch von der Aufsichtsbehörde bereits angenommen, wenn eine vom Vorstand getroffene kurserhebliche Entscheidung noch nicht die im konkreten Fall erforderliche Zustimmung des Aufsichtsrates erhalten hat. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Zustimmung reiche nicht aus.53 Der BGH hat kürzlich ebenfalls die eigenständige Bedeutung der Aufsichtsratsentscheidung betont.54 Die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Aufsichtsratsentscheidung könne nur unter strengen Maßstäben prognostiziert werden. Die für die Unternehmenspraxis und den Kapitalmarkt sehr wichtige Frage muss m.E. zugunsten einer weitgehenden Publizitätspflicht gelöst werden. Wenn die Zustimmung des Aufsichtsrates abzusehen ist, etwa weil bereits – wie häufig – im Vorfeld Beratungen mit ihm stattgefunden haben und dieser dabei seine Zustimmung signalisiert hat oder in Fällen von Entlassungsgesuchen von Vorstandsmitgliedern, die der Aufsichtsrat wegen bestehender Differenzen schlichtweg nicht ablehnen kann, sollte die Ad-hoc-Publizitätspflicht bereits mit der Vorstandsentscheidung einsetzen.55 b) Institutionelle Effizienz Institutionelle Effizienz zielt auf einen wirksamen Marktmechanismus. Anleger, Emittenten und Wertpapierdienstleister müssen einen freien, gleich51 52 53 54 55

Dazu mit Fallbeispielen Merkt FS Schwark 2009, 529, 542 ff. Nachweise bei Merkt (Fn. 51), 542 f. BaFin Emittentenleitfaden, 55; Entwurf Emittentenleitfaden 2008, Teil II, I.3.1. (26). BGH DB 2008, 857 f. – Schrempp. Näher Schwark FS Bezzenberger 2000, 771 ff.

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berechtigten56 Zugang zum Markt haben. Der „exit“ aus dem Markt (Delisting) darf nur soweit eingeschränkt werden, wie Anlegerinteressen dies gebieten. Anlageprodukte, die der Markt nachfragt, sind in geeigneter standardisierter Form zur Verfügung zu stellen, erforderlichenfalls zu entwickeln. Die Markteinrichtungen selbst müssen gewährleisten, dass sich ein hinreichend breiter und tiefer Markt bilden kann, der Zufallspreise und chaotische Kursbewegungen tunlichst verhindert. Dadurch entsteht ein stabiler Markt, der für das Vertrauen der Investoren, ohne das es keinen funktionsfähigen Markt geben kann, unerlässlich ist. Ein ausgeprägter Schutz des Vertrauens in einen fairen Marktablauf (Preisbildungsprozess, Chancengleichheit der Investoren) trägt wesentlich zur institutionellen Effizienz bei. Bestandteil der letztgenannten Effizienzbedingung ist auch das Verbot von Insidergeschäften (§ 14 WpHG). Bevorzugt informierte Personen sollen ihre Kenntnisse nicht ausnutzen dürfen, wenn diese bei Bekanntwerden geeignet wären, den Marktpreis erheblich zu beeinflussen. Nach überkommener Auffassung wird die Qualität der Preise auf Wertpapierhandelsmärkten durch zentralisierte Markteinrichtungen positiv beeinflusst, weil diese am ehesten die erforderliche Marktqualität garantieren. Deshalb sahen viele europäische Rechtsordnungen einen Börsenzwang für den Wertpapierhandel vor. Die EG-Finanzmarktrichtlinie (MiFiD) hat nun jedoch neben die Börsen außerbörsliche Handelssysteme gestellt (§ 31f WpHG) und daneben die interne Ausführung von Kundenaufträgen durch Wertpapierhäuser zugelassen (§§ 32–32d WpHG; sog. Internalisierung). Der damit bezweckte Anbieterwettbewerb der Wertpapierdienstleister führt zu einer Fragmentierung des Orderstroms und kann sich deshalb negativ auf die Preisqualität auswirken.57 Es wird Aufgabe der empirischen Kapitalmarktforschung sein, solche negativen Effekte zu verifizieren oder auszuschließen. Treten sie ein, muss der Anbieterwettbewerb gegenüber dem Interesse der Anleger an höchstmöglicher Preisqualität zurücktreten. c) Operationale Effizienz Operational effizient ist ein Kapitalmarkt, auf dem die Transaktionskosten für Emittenten und Investoren möglichst gering sind. Solche Kosten entstehen in Form von Gebühren der Handelsplätze, Maklerprovisionen oder auch einer Börsenumsatzsteuer. Aus rechtlicher Sicht fällt es schwer, die Kostenminimierung als Teil eines Rechtsprinzips zu verstehen. Erst dann, wenn Kosten eine nachweisbare Barriere für das Funktionieren des Kapitalmarktes bilden, dieser z.B. auszutrocknen droht, weil Emittenten und Anleger auf andere kostengünstigere Kapitalmärkte ausweichen, sind recht56 Zum kapitalmarktrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz Wienecke in: Grundmann u.a. (Hrsg.) Anleger- und Funktionsschutz durch Kapitalmarktrecht, 2006, 37, 53 ff. 57 Näher Schwark FS Immenga, 723, 727 ff. mit Argumenten für und wider.

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liche Maßnahmen zwingend. Ungeachtet dessen, zielt eine Reihe gesetzlicher Regelungen auf eine Reduzierung der Transaktionskosten; das gilt für die Einrichtung außerbörslicher Handelssysteme, vor allem der systematischen Internalisierer ebenso wie für die Abschaffung der Börsenumsatzsteuer in Deutschland vor einigen Jahren. 2. Anlegerschutz Funktionsschutz und Anlegerschutz werden häufig als zwei Seiten einer Medaille bezeichnet.58 Das deutet auf eine Gleichwertigkeit unterschiedlicher oder gar gegenläufiger Ziele hin. Tatsächlich ist das durch Anlegerschutz intendierte Vertrauen in den Markt eine Funktionsbedingung des Kapitalmarktes, d.h. dem Funktionsschutz kommt ein übergeordneter Stellenwert zu. Dementsprechend wird in der Präambel der EG-Richtlinie über Kapitalmärkte, die in Form der Verhaltensregeln der Wertpapierdienstleister klassisches Anlegerschutzrecht enthält, der Anlegerschutz nur als „ein Ziel“ der Richtlinie bezeichnet.59 Zudem ist der Anlegerschutz sowohl im Primärmarkt als auch im Verhältnis der Finanzinstitute zu den Anlegern im „professionellen Sektor“ deutlich reduziert. Da Angebote an „qualifizierte Anleger“ und Angebote mit großer Mindeststückelung von der Prospektpflicht befreit sind (§ 3 Abs. 2 Nr. 1, 3 WpPG), soweit sie nicht zum Börsenhandel zugelassen werden, bleibt der Handel in Finanzinstrumenten und Terminkontrakten zwischen Kreditinstituten, Kapitalsammelstellen und Großunternehmen außen vor. Der Sache nach gilt Vergleichbares hinsichtlich der Informations- und Beratungspflichten der Wertpapierdienstleister. Finanzunternehmen und Großunternehmen werden als sog. geeignete Gegenparteien davon in aller Regel ausgenommen (vgl. § 31a Abs. 4 WpHG). a) Überindividueller Anlegerschutz Die dienende Funktion des Anlegerschutzes wird insbesondere dort deutlich, wo es vornehmlich um die Fairness des Wertpapierhandels geht (Insiderhandelsverbot, Verbot der Marktmanipulation). Die Interessen der Investoren werden dadurch nur reflexmäßig geschützt, es sei denn, es liegt eine vorsätzliche Schädigung vor. Gleiches trifft zu für die ComplianceVorschriften der Wertpapierdienstleister (§ 33 WpHG), Organisationspflichten, die eine bestmögliche Ausführung der Kundengeschäfte sichern sollen (§ 33a WpHG), und die Regeln über Mitarbeitergeschäfte (§ 33b WpHG). 58 Vgl. etwa Rothenhöfer (Fn. 9), 55, 59 f.; Grundmann Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004, Rn. 622 ff. 59 Präambel Nr. 31 der MiFiD.

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b) Individueller Anlegerschutz Von individuellem Anlegerschutz sprechen wir, wenn das Verhalten von Wertpapierdienstleistern gegenüber Investoren im Einzelfall geregelt wird und/oder durch Haftungsnormen Schadensersatzansprüche gegenüber Emittenten oder anderen Marktakteuren eingeräumt werden. Ein Teil der Literatur sieht in den Wohlverhaltensregeln des WpHG (§§ 31, 31c WpHG) ambivalente Rechtsnormen, die auch den Schutz des individuellen Anlegers bezwecken und bei Verletzung zu Schadensersatzansprüchen führen.60 (Dazu näher unter IV 1). Ohne Zweifel dienen Prospekthaftungsansprüche (§§ 44, 45 BörsG, §§ 13, 13a VerkProspG) und Ansprüche wegen unterlassener oder fehlerhafter Veröffentlichung von Insiderinformationen (§§ 37b, 37c WpHG) dem individuellen Anlegerschutz. Soweit zivilrechtliche Ansprüche ein Verhalten am Kapitalmarkt sanktionieren, kann staatliche Kontrolle reduziert oder gänzlich durch marktwirtschaftskonforme Instrumente kostengünstig ersetzt werden. Deshalb fragt sich, ob der individuelle Anlegerschutz in Zukunft ausgebaut werden soll. Das war die Absicht des Entwurfs eines Kapitalmarktinformationshaftungsgesetzes,61 das freilich den Bogen überspannte (siehe oben I 4), aber für schriftliche Äußerungen gegenüber dem Kapitalmarkt durchaus Sinn macht. Die Effizienz der Kapitalmarktinformationshaftung wird durch die Bündelung der Ansprüche, wie sie durch das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz erfolgt (siehe oben II 1 a bb), verstärkt. Dagegen würde die Einführung einer aus dem US-amerikanischen Prozessrecht bekannten class action ein kompliziertes Verteilungsverfahren an die Klasse der betroffenen Anleger nach sich ziehen und eher kontraproduktiv wirken. 3. Staatliche Kontrolle a) Notwendigkeit und Umfang staatlicher Kontrolle Kapitalmärkte wurden wegen ihrer gesamtwirtschaftlichen Bedeutung (siehe oben I 3) seit Ende des 19. Jahrhunderts als Betätigungsfeld staatlicher Regelungsgewalt betrachtet. Sie äußert sich in Form gesetzlicher Regelung, behördlicher Aufsicht oder – in Einzelfällen – der Einbeziehung in die staatliche Organisation. So sind die deutschen Börsen heute als Teil der mittelbaren Staatsverwaltung anzusehen.62 Gesetzliche Regelung und Aufsicht umfassen die Zulassung und Tätigkeit der Wertpapierdienstleistungsunter60

Mülbert WM 2007, 1149, 1157; Veil ZBB 2008, 34, 40; eingehend Leisch Informationspflichten nach § 31 WpHG, 2004, 44 ff. 61 Abgedruckt in NZG 2004, 1042. 62 Schwark/Beck (Fn. 5), § 1 Rn. 8 ff.

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nehmen,63 der Kapitalsammelstellen (Investmentgesellschaften, Versicherungen),64 der Börsen65 und außerbörslichen Handelssysteme. Den Emittenten werden Publikations- und Transparenzpflichten beim öffentlichen Angebot ihrer Wertpapiere und in der Zeit danach auferlegt. Die heute weitgehend der BaFin obliegende staatliche Kontrolle greift nicht in unternehmerische Einzelentscheidungen ein; sie setzt ihnen aber im Interesse des Funktionsund Anlegerschutzes Grenzen. Das Ausmaß staatlicher Eingriffe wird von zeitbedingten wirtschaftspolitischen Grundeinstellungen bestimmt. In der jüngeren Vergangenheit sind auf der einen Seite Deregulierungstendenzen deutlich erkennbar. Im nationalen Kapitalmarktrecht wurde beispielsweise das staatliche Genehmigungserfordernis für die Ausgabe von Schuldverschreibungen (§ 795 BGB a.F.) beseitigt. Der Abschluss von Finanztermingeschäften, die früher für Privatpersonen unverbindlich waren,66 wurde zunächst einem speziellen Informationsmodell unterworfen67 und sodann durch das FRUG voll liberalisiert. Auch die Abschaffung des Börsenzwangs (siehe oben II 1b) gehört in diesen Kontext. Auf der anderen Seite wird unter dem Eindruck der Finanzkrise ein Ausbau der staatlichen Kapitalmarktkontrolle gefordert (siehe unten VI). b) Zur Notwendigkeit supra- und internationaler Kontrolle Da die nationalen Kapitalmärkte heute international verknüpft und vermöge der modernen Informationstechnologie jederzeit erreichbar sind, agieren auch die Kapitalmarktakteure (Finanzkonglomerate und Investoren) zunehmend international. Das hat zur Folge, dass eine nationale Kapitalmarktaufsicht zu kurz greift. Innerhalb der EU und des Europäischen Wirtschaftsraums soll ein einheitlicher Kapitalmarkt nicht nur durch Harmonisierung materiellen Rechts sondern auch durch die Zusammenarbeit der zuständigen Aufsichtsstellen erreicht werden (§ 7 WpHG). Die nationale Aufsichtsbehörde wird danach auf Ersuchen einer anderen tätig; auch Vereinbarungen über einen Informationsaustausch sind vorgesehen. Da Handlungsinitiative und Entscheidungskompetenz bei den nationalen Behörden verbleiben, ist diese Regelung von einer einheitlichen Aufsicht jedoch weit entfernt. Sie sollte, ähnlich wie im Wettbewerbsrecht (Art. 81 ff. EGV), als Aufgabe der Kommission eingeführt werden. Entsprechende Konzepte werden diskutiert.68 63

Grundlagen im KWG, WpHG, PfandbriefG, DepotG. Grundlagen im Investmentgesetz und Versicherungsaufsichtsgesetz. 65 Aufsicht durch die BaFin, die Börsenaufsichtsbehörden der Länder, Handelsüberwachungsstellen und Börsengeschäftsführungen. 66 Siehe § 53 BörsG a.F. 67 Siehe § 37d WpHG a.F., eingefügt durch das 4. Finanzmarktförderungsgesetz 2002. 68 Geplant sind europäische Aufsichtsagenturen für Banken, Versicherungsunternehmen und Wertpapiermärkte, denen ein Teil der bisher den nationalen Aufsichtsbehörden 64

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Weiter in die Zukunft reichen die berechtigten Forderungen, eine internationale Kapitalmarktaufsicht einzurichten etwa durch Erweiterung der Zuständigkeiten des Internationalen Währungsfonds. Die Unterschiede der nationalen Rechte und Aufsichtsphilosophien und die Befürchtung, Nachteile im internationalen Wettbewerb zu erleiden, stehen einer Verwirklichung dieser vor allem von kontinentaleuropäischen Staaten in der Finanzkrise unterstützten Vorstellungen im Wege. Es ist schwer vorstellbar, dass die USA, aber auch andere Staaten (China, Russland) sich einer über Analyse und Empfehlungen hinausgehenden weltweiten Kontrolle mit Eingriffbefugnissen unterwerfen würden. 4. Überschneidungen und Konflikte im System des Anlegerschutzes Das Rechtsprinzip des Anlegerschutzes ist keine Erfindung des Kapitalmarktrechts. Es findet sich in Form des Minderheitenschutzes im Aktienrecht und in Form des Publikumsschutzes im Börsenrecht. Das kann zu Überschneidungen unterschiedlicher Rechtsgebiete führen, wie sich am Beispiel des börsenrechtlichen Delisting demonstrieren lässt. Gemäß § 39 Abs. 2 BörsG kann die Zulassung zum Börsenhandel auf Antrag des Emittenten widerrufen werden. Der Widerruf darf, so heißt es dort weiter, nicht dem Schutz der Anleger widersprechen. Die Börsenordnungen suchen diesen Schutz dadurch zu verwirklichen, dass sie in Fällen, in denen das Papier nicht weiterhin an anderen Plätzen gehandelt wird, eine halbjährliche Frist zwischen dem Widerruf und dessen Wirksamkeit vorsehen.69 Während dieser Zeit kann sich der Aktionär von seiner Beteiligung trennen. Wegen der Bedeutung des Delisting für den mitgliedschaftlichen Vermögensschutz hat der BGH in seiner bekannten Macroton-Entscheidung70 jedoch zusätzliche gesellschaftsrechtliche Erfordernisse rechtsfortbildend entwickelt. Das börsenrechtliche Delisting bedarf danach eines Beschlusses der Hauptversammlung sowie eines Pflichtangebots der AG bzw. des Großaktionärs, dessen Höhe gerichtlich überprüft werden kann. Das Urteil wirft ein Licht auf das generelle, bisher nicht gelöste Problem des Verhältnisses von Kapitalmarktrecht und Gesellschaftsrecht. Stehen sie kumulativ nebeneinander oder gebührt einem der beiden Rechtsgebiete der Vorrang? (dazu siehe unten III). Auch innerhalb des Kapitalmarktrechts können sich Konflikte ergeben, vor allem dann, wenn sich eines seiner Ziele nur auf Kosten eines anderen optimal verwirklichen lässt.71 So fördert eine stetige Preisbildung an der zustehenden Kompetenzen übertragen werden soll; vgl. den Report der sog. de Larosière Group vom Februar 2009, 42 ff. 69 So § 61 Abs. 2 Satz 3 BörsO der Wertpapierbörse Frankfurt. 70 BGH ZIP 2003, 387. 71 Zu diesen sog. trade-off-Beziehungen Rudolph/Röhrl in: Hopt/Rudolph/Baum (Hrsg.) Börsenreform, 1997, 143, 189 f.; Fleischer (Fn. 48), 31.

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Börse die institutionelle Funktionsfähigkeit des Marktes und das Vertrauen der Anleger in den Markt. Eine hohe Markttransparenz, wie sie der allokativen Funktion entspricht, führt jedoch zu vergleichsweise volatilen Preisen und beeinträchtigt damit das Vertrauen der Anleger. Im Insiderrecht behindert das Verbot des Insiderhandels offensichtlich die Informationseffizienz72 des Marktes, weil relevante Informationen nicht sogleich Eingang in den Markt finden. Durch die Ad-hoc-Publizitätspflicht (§ 15 WpHG) kann dies nur teilweise verhindert werden, weil die Pflicht nur den Emittenten trifft. Gleichwohl sieht das Gesetz aus Gründen der Fairness ein umfassendes Insiderhandelsverbot vor. Bei der Weiterentwicklung des Kapitalmarktrechts sind solche Antinomien zu einer bestmöglichen Konkordanz zu bringen.

III. Kapitalmarktrecht und Gesellschaftsrecht 1. Nebeneinander oder Vorrang eines der beiden Rechtsgebiete? Historisch betrachtet ist das deutsche Gesellschaftsrecht im wesentlichen Verbandsrecht, das die Binnenorganisation und die Außenbeziehungen der Gesellschafter regelt.73 Die Funktion der AG als Kapitalsammelstelle hat freilich im Aktienrecht stets durch Minderheitenschutz und Rechnungslegungspublizität Beachtung gefunden. Erst in neuerer Zeit hat das Aktienrecht zunehmend durch Novellierungen, aber auch durch den Corporate Governance Kodex, eine stärker kapitalmarktrechtliche Orientierung erhalten (siehe oben I 5). Ungeachtet dessen kann heute nicht generell von einem konfliktfreien Nebeneinander von Kapitalmarktrecht und Gesellschaftsrecht ausgegangen werden. Einen Beleg dafür bildet das Verhältnis der Haftung des Emittenten für fehlerhafte Prospekte zum aktienrechtlichen Kapitalschutz. Kapitalaufbringung (§ 185 Abs. 3 AktG), Kapitalerhaltung (§ 57 Abs. 1 AktG) und Verbot des Erwerbs eigener Aktien (§§ 71 ff. AktG) gehören zu den tragenden, vor allem den Gläubigerinteressen dienenden, Grundsätzen des deutschen Aktienrechts. Wäre der Aktionär unter Berufung auf die Prospekthaftung berechtigt, die im Primär- oder Sekundärmarkt erworbenen Aktien an das Unternehmen zurückzugeben, verstieße das gegen Prinzipien des Aktienrechts.74 Überwiegend wird deshalb im Primärmarkt ein Anspruch des Aktionärs gegen die Gesellschaft verneint, im Sekundärmarkt auf eine Haftung des sog. freien Kapitals der AG beschränkt. Das bedeutet: es ist von einem Vorrang des 72 73 74

Dazu Fischer (Fn. 44), 231 ff. Vgl. Windbichler Gesellschaftsrecht, 200 ff.; 284 ff. Im Einzelnen siehe Henze NZG 2005, 115 ff.; ders. FS Schwark 2009, 425 ff.

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Aktienrechts auszugehen. Eine andere, im Vordringen begriffene Auffassung, räumt dem Anleger uneingeschränkte Prospekthaftungsansprüche auch gegenüber der AG ein.75 Das bedeutet: das Kapitalmarktrecht geht vor. Solche und ähnliche Divergenzen in der Beurteilung des Verhältnisses beider Rechtsgebiete werden sich auch in Zukunft nicht vermeiden lassen. Die international vergleichbaren Problemlösungen des Kapitalmarktrechts werden jedoch voraussichtlich die größere Durchschlagskraft besitzen und zum Zurücktreten mancher Positionen der nationalen gesellschaftsrechtlichen Dogmatik zwingen. 2. Kapitalverkehrsfreiheit versus Aktionärsprivilegien Ein Kampf, der angesichts der Rechtsprechung des BGH nur zu Lasten des deutschen Rechts ausgehen kann, ist der um das VW-Gesetz. In diesem Gesetz sind das – gemäß § 101 Abs. 2 AktG zulässige – Entsenderecht des Bundes und des Landes Niedersachsen in den Aufsichtsrat des VW-Konzerns vorgesehen, ferner eine Sperrminorität einer Beteiligung von 20% des Kapitals und bei wichtigen Beschlüssen der Hauptversammlung eine Mehrheit von über 80%. Diese Regelungen sichern den Einfluss des Landes Niedersachsen auf VW und sind auch dazu bestimmt. Bekanntlich hat der EuGH in seiner Entscheidung vom 23. Oktober 200776 in einer Gesamtschau diese Bestimmungen als Beschränkung des freien Kapitalverkehrs (Art. 56 EGV) angesehen, weil sie Anleger aus anderen Mitgliedstaaten von Direktinvestitionen in die VW-AG abhielten. Sie könnten sich wegen der Privilegien der staatlichen Aktionäre nicht effektiv an der Verwaltung und Kontrolle der AG beteiligen. Die Auseinandersetzung um das VW-Gesetz unterstreicht, dass der EuGH, wie bereits in der Vergangenheit, auch in Zukunft Sonderregelungen der Mitgliedsländer, die den ungehinderten und gleichberechtigten Zugang von Investoren zu den nationalen Kapitalmärkten, wenn auch nur wirtschaftlich, behindern, mit dem Schwert der Kapitalverkehrsfreiheit bekämpfen und beseitigen wird. Das nationale Gesellschaftsrecht zieht auch hier den Kürzeren. 3. Die Publikums-KG Durch das Anlegerschutzverbesserungsgesetz 200477 sind geschlossene Fonds, die regelmäßig78 in der Form der Kommanditgesellschaft organisiert 75 Fleischer (Fn. 48), 74; Langenbucher ZIP 2005, 239, 245 m.w.N.; noch unentschieden BGH WM 2005, 1358, 1360 – EM.TV. 76 EuGH Slg. 2007, I-08995; dazu Kilian NJW 2007, 3469 ff.; Kerber NZG 2008, 9 ff. 77 BGBl. I 2004, 2630. 78 § 8f VerkProspG i.V. mit §§ 13, 13a VerkProspG.

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sind, in die börsengesetzliche Prospekthaftung einbezogen worden. Weitgehend ungeklärt ist jedoch bisher das Verhältnis der neuen Vorschriften zu der von der Rechtsprechung des BGH entwickelten allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung, mit der bis dahin die geschlossenen, öffentlich angebotenen Fonds erfasst wurden. Soll der wesentlich engere Adressatenkreis der gesetzlichen Prospekthaftung den weiteren, in der Rechtsprechung judizierten verdrängen? Und wie steht es mit der Prospekthaftung der Gesellschaft selbst, die von der Rechtsprechung bisher abgelehnt wurde,79 für die AG aber möglicherweise in Zukunft bejaht wird (siehe oben III 1)? Würde sie auch für die Publikums-KG bejaht, wäre eine Haftung der für den Prospekt nicht verantwortlichen Mitgesellschafter die Folge, die von der Rechtsprechung bisher stets abgelehnt wurde.80 Ungeklärt ist auch der anzuwendende Haftungsmaßstab. Während die gesetzliche Prospekthaftung grobe Fahrlässigkeit voraussetzt, greift die aus der cic entwickelte allgemeine zivilrechtliche Prospekthaftung bereits bei leichter Fahrlässigkeit ein. Rechtswissenschaft und Rechtsprechung werden deshalb zuvörderst das Verhältnis von neu eingeführter gesetzlicher Prospekthaftung und zivilrechtlicher Prospekthaftung klären müssen, wenn nicht der Gesetzgeber sich zu einer wünschenswerten Angleichung der Haftungen entschließt. Nach herkömmlicher Gesetzesauslegung müsste sich die gesetzliche Regelung gegenüber der bisherigen Rechtsprechung durchsetzen.81

IV. Kapitalmarktrecht und Zivilrecht Dass zivilrechtliche Regelungen kapitalmarktrechtliche Funktionen übernehmen können, wurde bereits angemerkt (I 4). Ungeklärt ist aber, ob individualschützende Vorschriften, die sich im Normengefüge des Kapitalmarktrechts finden, stets zivilrechtliche Ansprüche begründen. Für anlegerschützende Haftungsregelungen steht das außer Frage; sie sehen expressis verbis zivilrechtliche Ansprüche vor. Dagegen ist die Einordnung der sog. Wohlverhaltensregeln der Wertpapierdienstleister (§§ 31 ff. WpHG) weiterhin umstritten (siehe unten IV 1). Unklar ist auch der Anwendungsbereich des § 823 Abs. 2 BGB; nur reflexartig wirkender Drittschutz ist hier von unmittelbarem Drittschutz abzugrenzen (siehe unten IV 2). Schließlich ist das Verhältnis von Anlegerschutz und Verbraucherschutz, konkret die Anwendbarkeit des Verbraucherschutzrechts auf Kapitalanlagen zu prüfen (siehe unten IV 3). 79

BGH NJW 1978, 424. BGH (Fn. 79). 81 A.A. Baumbach/Hopt HGB33, Anh. § 177a Rn. 59: Nebeneinander von gesetzlicher Regelung und zivilrechtlicher Prospekthaftung. 80

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1. Das Verhältnis der Wohlverhaltensregeln zum Zivilrecht Die §§ 31 ff. WpHG enthalten z.T. Organisationsvorschriften für Wertpapierunternehmen ohne zivilrechtliche Relevanz, z.T. Vorschriften, die das Verhalten dieser Unternehmen gegenüber den Anlegers im Einzelfall regeln.82 Schon die Rechtsnatur der Vorschriften der zweiten Kategorie ist ungeklärt. Die wohl herrschende Meinung sieht darin öffentliche Aufsichtsrecht,83 das auf das Zivilrecht (cic, Vertragrecht) nur ausstrahlt, die Gegenauffassung spricht ihnen eine rechtliche Doppelnatur zu84 und leitet daraus z.T. ab, sie stellten zugleich eine Maximalregelung für das deutsche Vertragsrecht dar.85 Eine solche Selbstaufgabe des nationalen Zivilrechts dürfte durch die EG-Finanzmarktrichtlinie (MiFiD) aber nicht gefordert sein.86 Da der durch die Richtlinie auch bezweckte Investorenschutz nicht durch nationales Recht unterlaufen werden darf, werden durch die Wohlverhaltensregeln jedoch Mindeststandards für das deutsche Zivilrecht gesetzt. Der BGH hat sich zu dieser für die Praxis eminent wichtigen Streitfrage noch nicht geäußert.87 Wenn das Gericht jedoch den §§ 31 ff. WpHG in der vor Inkrafttreten des FRUG geltenden Fassung keine eigene zivilrechtlich Bedeutung zumisst, dürfte es auch für das neue Recht auf der hier vertretenen Linie judizieren. 2. Kapitalmarktrechtliche Schutzgesetze Ob kapitalmarktrechtliche Normen Schutzgesetze i.S. des § 823 Abs. 2 BGB sind, hängt in erster Linie vom Schutzgut der Vorschriften ab. Dienen sie der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Kapitalmärkte, stellt sich der damit mittelbar bezweckte Anlegerschutz als Rechtsreflex ohne Schutzgesetzeigenschaft dar. Für die Organisationsvorschriften des WpHG, etwa die §§ 33–34a WpHG, ist das unstreitig; doch werden schon hinsichtlich der Qualifikation des Verbots der Marktmanipulation (§ 20a WpHG) unterschiedliche Auffassungen vertreten.88 Einen Schutzgesetzcharakter der Verhaltensregeln der Wertpapierunternehmen gegenüber ihren Kunden hat der BGH entgegen der herrschenden Meinung kürzlich aus systematischen 82 Z.B. Informations- und Beratungspflichten nach §§ 31, 31c Abs. 1 Nr. 6, 31d Abs. 3, 2. HS. WpHG. 83 Vgl. nur Fuchs WpHG, 2009, vor §§ 31 ff., Rn. 56. 84 Vgl. nur Mülbert (Fn. 60), 1157. 85 Mülbert ZHR 172 (2008) 170, 185 unter Hinweis auf das durch das FRUG übernommene EG-Recht. 86 Vgl. Koller FS Huber 2006, 821, 839 f.; Schwark in: Schwark/Zimmer (Fn. 48), vor §§ 31 ff. WpHG, Rn. 17. 87 Für das frühere Recht unklar BGHZ 142, 345, 356; 147, 343, 348. 88 Gegen Schutzgesetzcharakter Schwark in: Schwark/Zimmer (Fn. 48), vor §§ 31 ff., Rn. 7; a.A. Henze FS Schwark (Fn. 74), 433.

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Gründen abgelehnt;89 er führe zu einer Haftung der an Front Handelnden für fahrlässige Vermögensschäden. Das entspricht dem überkommenen Haftungssystem des deutschen Rechts. Zu fragen ist jedoch, ob bei Information und Beratung der Anleger nicht Haftungsstandards zu entwickeln wären, die – über die sog. Vertreterhaftung hinaus – stärker auf die berufliche Sachkunde der im unmittelbaren Kontakt mit dem Anleger stehenden Personen und die Schutzbedürftigkeit der Gegenseite abstellen.90 Soweit der Gesetzgeber ausdrücklich konkurrierende deliktische Ansprüche zulässt (§ 47 Abs. 2 BörsG; § 15 Abs. 6 WpGH), sind Schutzgesetzverletzungen auf vorsätzliche und grob fahrlässige Verstöße gegen strafrechtliche Normen beschränkt. Die kapitalmarktrechtlichen Haftungsvorschriften selbst stellen wegen ihrer eigenen Sanktionsregelung keine Schutzgesetze dar. Die weiter zu führende Diskussion zum Schutzgesetzcharakter kapitalmarktrechtlicher Normen wird auch die Rechtslage in anderen wirtschaftsrechtlichen Gesetzen, insbesondere dem Kartellrecht, berücksichtigen müssen.91 3. Kapitalmarktrecht und Verbraucherschutz Das Verbraucherrecht schützt Einzelpersonen, die zur Deckung ihres Bedarfs beim privaten Verbrauch Verträge über Waren oder Dienstleistungen abschließen.92 Dass der private Kapitalanleger zu diesem Personenkreis zählt, ist nicht unmittelbar einsichtig. Kapitalanleger wollen nämlich nicht ihren eigenen Bedarf decken, sondern sie investieren, um aus den graduell unterschiedlich spekulativen Anlagen Gewinn zu erzielen.93 Im Verbraucherkreditrecht, das auf Konsumentenkredite bezogen ist, wird der finanzierte Erwerb bestimmter Wertpapiere, Devisen und Edelmetalle von den Vorschriften über verbundene Verträge im Wesentlichen ausgenommen (§ 491 Abs. 3 BGB). In Art. 3 Abs. 2 lit. e der Haustürgeschäfterichtlinie wurde deren Schutzbereich nicht auf Wertpapiergeschäfte erstreckt. Wer sich an einer Publikums-KG beteiligt, wird vom deutschen Steuerrecht regelmäßig als Mitunternehmer behandelt. Unternehmerische Tätigkeit gehört jedoch nicht zum privaten Be-

89 BGHZ 175, 276; dazu kritisch Balzer/Lang WM 2008, 825, 826 und eingehend K. Schmidt FS Schwark, 753 ff. 90 Vgl. Baumbach/Hopt (Fn. 81), § 347 Rn. 22, 23. 91 Dazu K. Schmidt (Fn. 89), 753, 763 ff. 92 Palandt/Grünberg BGB, § 312 Rn. 3; Assmann in: Assmann/Schütze (Fn. 4), § 3 Rn. 4. 93 Vgl. Wagner BKR 2003, 649, 652 ff.; der BGH wendet das Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften jedoch auf den Beitritt zu geschlossenen Fonds an (BGHZ 148, 201, 203); vgl. aber nunmehr den Vorlagebeschluss des II. Senats vom 5.5.2008, NZG 2008, 460 ff.

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reich. Soll abweichend vom Steuerrecht die Beteiligung eines Privaten an einer solchen KG, für die besondere Schutzmechanismen gelten,94 dem Verbraucherschutzrecht unterfallen? Auch der Gesetzgeber des FRUG hat, insoweit der zugrundeliegenden EG-Richtlinie folgend, das Problem erkannt. Privatkunden (sog. retail-Anleger), die über besondere Kenntnisse und Erfahrungen verfügen, können danach als professionelle Kunden eingestuft werden; für sie gelten dann bestimmte Anlegerschutzvorschriften nicht.95 Spricht somit vieles für eine, jedenfalls situative, Einschränkung des Verbraucherschutzrechts bei Kapitalanlagen Privater, so steht doch die auch vom BGH nicht teleologisch reduzierte,96 weite Bestimmung des Verbraucherbegriffs (§ 13 BGB) einer Exemption der privaten Kapitalanlage aus dem Verbraucherschutz entgegen. Eine sachgerechte Konfliktlösung, die die Besonderheiten des Kapitalanlegerschutzes berücksichtigt, bleibt gleichwohl ein Desideratum an Wissenschaft und europäischen Gesetzgeber. V. Kapitalmarktrecht und Strafrecht Die Sanktionierung kapitalmarktrechtlicher Vorgänge durch Bußgeldund Straftatbestände bereitet dem Strafrecht erhebliches Kopfzerbrechen. Dies gilt weniger für Tatbestände, die sich als Vermögensgefährdungsdelikt im Vorfeld des Betruges darstellen (§ 264a StGB)97 oder die Entschließungsfreiheit des Anlegers schützen sollen,98 mithin mit dem Schutz individueller Rechtsgüter verbunden sind. Kommt jedoch als geschütztes Rechtsgut nur ein „wolkiges“,99 „luftiges“100 Rechtsgut wie die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes in Frage, scheint das Gebot eines hinreichend klaren und bestimmten Straftatbestandes verletzt zu sein.101 Dem Insiderstrafrecht und der Sanktionierung des Marktpreismanipulation kann aber nur ein solches überindividuelles Rechtsgut zugrunde gelegt werden.102 Hinzu kommt, dass das Insiderstrafrecht (§ 38 Abs. 1 WpHG) nur eine Gefährdung des Schutzgutes voraussetzt, der Tatbestand also auch erfüllt ist, wenn der Kurs bei Bekanntwerden der Insiderinformation nicht beeinflusst worden wäre.103 Nämlich Prospektpflicht und Prospekthaftung, §§ 8f, 13, 13a VerkProspG. §§ 31a Abs. 2 und 7 i.V. mit § 31 Abs. 9 WpHG. 96 BGHZ 149, 80, 82 ff. 97 Zur Diskussion über das Rechtsgut des § 264a StGB vgl. Schönke/Schröder/Cramer StGB, § 264a, Rn. 1 m.w.N. 98 Z.B. § 26 BörsG (Verleitung zu Spekulationsgeschäften). 99 So Hassemer JuS 1990, 850. 100 So Weigend FS Triffterer 1996, 695, 699. 101 Vgl. Vogel in: Assmann/Schneider (Hrsg.) WpHG5, vor § 38 Rn. 5. 102 A.A. für das Insiderstrafrecht Ziouvas Das neue Kapitalmarktstrafrecht, 2005, 138 ff., 206 (Vermögen des individuellen Anlegers). 103 Gleiches gilt für die Bußgeldtatbestände des § 39 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 WpHG (Kursmanipulation). 94 95

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Aus wirtschaftsrechtlicher Sicht ist diesen Bedenken entgegenzuhalten, dass die zentrale wirtschaftliche Bedeutung der Kapitalmarktmechanismen, auf deren ordnungsgemäßes Funktionieren die Investoren vertrauen, die Einführung von Straftatbeständen rechtfertigt, die ein solches der öffentlichen Ordnung verwandtes Rechtsgut schützen sollen. Die Bedenken würden an Brisanz verlieren, wenn an die Stelle des Kriminalstrafrechts des § 38 Abs. 1 und 2 WpHG harte Geldbußen träten.104 Dafür hat sich bekanntlich der Gesetzgeber des Kartellrechts, dem es um den Schutz der Wettbewerbsordnung geht, entschieden (§ 81 GWB). Das zweite Gravamen der kapitalmarktrechtlichen straf- und bußgeldbewehrten Vorschriften besteht nach verbreiteter Auffassung in der Unbestimmtheit der Tatbestände.105 Tatsächlich können unbestimmte Rechtsbegriffe, wie „Bewertungserheblichkeit“, „irreführende Signale“ oder „sonstige Täuschungshandlungen“ (§ 20a WpHG), dem potentiellen Täter kaum ein Vorstellungsbild vom Gehalt des Tatbestandes vermitteln. Das Sanktionsinstrumentarium suggeriert so vordergründig dem Anleger einen Marktschutz, obwohl ein rechtsstaatliches Strafrecht dessen Exekution durch die Gerichte zu überfordern scheint. Hinzu kommen kaskadenartige Verweisungen auf Verordnungsrecht, das die Tatbestände konkretisieren soll. Das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) verlangt jedoch, dass die strafoder bußgeldbewehrte Vorschrift selbst hinreichend bestimmt ist. Die Rechtsprechung hat allerdings im Vermögensstrafrecht, das ebenfalls eine Reihe von unbestimmten und auslegungsbedürftigen Merkmalen enthält, diese interpretiert, ohne an der Bestimmtheit der Normen zu zweifeln. Dementsprechend hat der BGH in einer eingehend begründeten Entscheidung zur Kursmanipulation106 das Merkmal „sonstige Täuschungshandlungen“ als hinreichend bestimmt gewertet. Den verfassungsrechtlichen Einwänden dürfte deshalb kein durchschlagender Erfolg beschieden sein.

VI. Kapitalmarktrechtliche Konsequenzen aus der Finanzkrise Wer aus einer Krise Lehren ziehen will, muss deren Ursachen kennen. Sie werden gewöhnlich in der laxen Geldpolitik der US-Notenbank und der US-amerikanischen Immobilienkrise gesehen, die auf einer sehr großzügigen, staatlich erwünschten107 Kreditgewährung zu niedrigen Zinsen beruht. Als die Zinsen anstiegen und zugleich der Preisboom für WohnungseigenVogel (Fn. 101), vor § 38 Rn. 6. Kutzner WM 2005, 1401, 1408; Park NStZ 2007, 369, 376 ff. 106 BGHSt 48, 373 = ZIP 2003, 2354, 2358. 107 Vgl. Paul Sturm – Finanzmarktkrise und Konsequenzen für die Bankaufsicht, wissen&handeln Dezember 2008, 4 ff.; Möschel ifo Schnelldienst 24/2008, 15 f.; Claussen DB 2009, 999 f. 104 105

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tum in sich zusammenfiel, wurde ein erheblicher Teil der Kredite notleidend. Die Auswirkungen auf das Finanzsystem sind auf die Verbriefung der in Tranchen gepoolten Kredite und ihre Weiterveräußerung, oft begleitet von erneuten Aufteilungen des Pools,108 an Banken oder Zweckgesellschaften109 in aller Welt zurückzuführen. Zum entscheidenden Vertrauensverlust innerhalb des Finanzsystems führte dann der Zusammenbruch der großen Investmentbank Lehmann Brothers am 15. September 2008.110 Dieser Geschehensablauf bietet jedoch keine zureichende Erklärung für die Finanzkrise und die ihr folgende Weltwirtschaftskrise. Darauf deutet bereits der astronomische Anstieg der Geschäfte in Finanzinstrumenten in den letzten beiden Jahrzehnten hin. Nach Angaben der Baseler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) und der Weltbank überstieg der Betrag der weltweit gehandelten Derivate und sonstigen Finanzprodukte das Weltbruttosozialprodukt (Produktion und Handel) um das Zehnfache.111 Allein das Geschäft in handelbaren Kreditabsicherungen (Credit Default Swaps) entsprach der Höhe nach etwa dem gesamten Bruttosozialprodukt eines Jahres.112 Nach Angaben von Hoppenstedt113 reichen die Devisengeschäfte des Finanzsektors aus, den gesamten Bedarf im Außenhandelsverkehr in fünf Tagen zu decken; der Rest sei Spekulation. Es ist die Entkoppelung des internationalen Geld- und Kapitalverkehrs (der vor allem auf dem Eigenhandel der Finanzwirtschaft beruht) von der Finanzierung realer Geschäfte, der zu einer Krise des gesamten Systems geführt hat und führen muss, wenn wichtige Glieder herausbrechen.114 Diese Dominanz des stets neue, schwer durchschaubare und noch schwerer zu bewertende Wertpapierinnovationen erfindenden Finanzsektors kann nicht allein durch eher akzidentielle Reformen des Kapitalmarktrechts beseitigt werden. Sie erfordert vielmehr eine deutliche Beschränkung der Geldschöpfung durch das Finanzsystem selbst, die nur durch weltweite Übereinkunft 108

Eingehend dazu Kübler (Fn. 7), 503. Zweckgesellschaften (special purpose vehicles, conduits) sind Gesellschaften, deren Zweck allein im Erwerb der durch Vermögenswerte gedeckten Wertpapiere (asset backed securities) besteht und die sich am Geldmarkt refinanzieren. Als die kurzfristigen Zinsen stiegen und gleichzeitig der Wert des assets sank, brachen diese Zweckgesellschaften, zu denen auch die Depfa gehörte, zusammen. 110 Möschel (Fn. 107), 16 (vermutlich durch Defizite im Kreditabsicherungsgeschäft mit Credit Default Swaps, CDS). 111 Eggert FAZ vom 12.11.2008, B 11; Möschel (Fn. 107), 18; Hankel FR vom 25./26.10. 2008, 19 (Weltbruttosozialprodukt 2007 ca. 55 Billionen US-Dollar; Derivatevolumen: ca. 600 Billionen US-Dollar). 112 Haasis Sparkasse März 2009, 4. 113 In einem Vortrag anlässlich der 52. Bitburger Gespräche „Neuordnung der Finanzmärkte – Von der Krise zur Reform“ am 7.1.2009. 114 Aufschlussreich Pfaff Global Capitalism: The Suicide Version, siehe truth.dig.com vom 24.3.2009; dazu Zielke SZ vom 30.3.2009, 14 (Erfinden und weltweites Bewirtschaften künstlicher, nicht berechenbarer Risiken). 109

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oder weltweites paralleles Handeln und entsprechende Kontrolle erreicht werden kann. Die Aussichten dafür, dass dies gelingt, sind nicht gut (siehe oben II 3b).115 Weniger einschneidend wäre eine Reform, die an den Finanzprodukten ansetzt. Vorgeschlagen wird eine Registrierung und Prüfung aller neu geschaffenen Derivate vor ihrer Zulassung zum Handel.116 Leuchtet ein solcher „TÜV“ für strukturierte Wertpapiere, die, wie Credit Default Swaps,117 besonders riskant sind, ein, so spricht doch der erforderliche Kontrollaufwand und der direkte Eingriff in den Innovationswettbewerb der Institute dagegen. Erforderlich erscheint jedoch eine höhere Transparenz des Handels in solchen Papieren, die es der Aufsicht erlaubt, die Risiken für das einzelne Institut besser abzuschätzen.118 Dazu wäre es hilfreich, die Abwicklung solcher Geschäfte über eine Clearingstelle als zentralen Kontrahenten vorzuschreiben und damit eine Marktbewertung zu erreichen. Denn diese Wertpapiere werden bisher ganz überwiegend im Interbanken- und Tafelgeschäft (over the counter) gehandelt, für das es keine Marktbewertung gibt. Optimal wäre deshalb ein zusätzlicher Börsenzwang.119 Damit einhergehen muss eine Verbesserung der institutsinternen Risikokontrolle. Vorgeschlagen wird ferner ein Selbstbehalt des verbriefenden Instituts (ownership stake) bei Veräußerung der Wertpapiere.120 Die Verpflichtung, einen signifikant hohen Anteil am Risiko zurückzubehalten, würde der Praxis der schnellen Verbriefung und Weiterveräußerung von verbrieften Forderungen und Risiken („originate and distribute“) entgegenwirken. Im Bankaufsichtsrecht müsste zudem die Risikogewichtung für asset backed securities und andere risikoreiche Finanzprodukte, die bisher recht niedrig ist,121 erhöht werden. Dies gilt vor allem für sog. Wiederverbriefungen, denen ihrerseits Verbriefungen zugrunde liegen.122 Im heutigen Finanzsystem führt der drohende Zusammenbruch eines großen Instituts wegen des damit verbundenen systemischen Risikos, d.h. der zu erwartenden Kettenreaktion, zur Staatshilfe zu Lasten des Steuerzahlers. Das Prinzip des „too big to fail“ begrenzt das unternehmerische Risiko 115

Generell kritisch Möschel (Fn. 107), 18 f. Stiglitz SZ vom 23./24.8.2008, 21; entsprechende Pläne (Registrierung) bestehen im US-Finanzministerium, vgl. SZ vom 6./7.6.2009, 23, Artikel „Die Abwehr steht“. 117 Durch Spekulationen mit CDS ist die größte Versicherungsgesellschaft der Welt, die AIG, zusammengebrochen. 118 Ebenso der Richtlinienvorschlag der EG-Kommission KOM(2008) 602 vom 1.10. 2008. 119 Er wird in den USA diskutiert, ist von der Regierung aber bisher nicht geplant. 120 Deutsche Bundesbank, Geschäftsbericht 2008, 94; Vorschlag EG-Kommission (Fn. 118). Der vorgeschlagene Selbstbehalt von 5% ist jedoch zu niedrig, vgl. Claussen (Fn. 107), 1002. 121 Kübler (Fn. 7), 504. 122 Deutsche Bundesbank (Fn. 120), 94. 116

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in einer Weise, die nicht nur marktwirtschaftlichen Grundsätzen widerspricht sondern letztlich auch das Management in Ruhe die nächste Krise abwarten lassen kann. Simon Johnson, der frühere Leiter der Forschungsabteilung des Internationalen Währungsfonds, hat deshalb die Zerschlagung systemrelevanter Banken nach kartellrechtlichen Grundsätzen befürwortet.123 Es verwundert, dass in Europa ein solcher, zugegebenermaßen radikaler Weg nicht einmal diskutiert wird. Seine Realisierungschancen sind aber in der Tat gering. Realistischer erscheint eine durch eine hohe Eigenkapitalunterlegung von Risikoprodukten zu erreichende abschreckende Wirkung auf die Finanzwirtschaft. Dem Kapitalmarktrecht im engeren Sinne geht es um effiziente, geordnete Märkte und einen das Vertrauen in den Markt sichernden Anlegerschutz. Dazu gehört es, dass die Marktakteure und die den Markt beeinflussenden Institutionen nicht außerhalb des Systems der staatlichen Aufsicht stehen dürfen. Wichtige und sehr finanzkräftige Akteure am Kapitalmarkt sind die HedgeFonds, d.h. Kapitalsammelstellen, deren Manager Anlagemärkte, Instrumente und Strategien frei wählen und ihre Anlageziele, sieht man von den abschreckenden und für Hedge-Fonds uninteressanten Vorgaben des deutschen Investmentgesetzes ab (§§ 112 ff. InvestmentG), frei wählen. Sie spekulieren auf die künftige Entwicklung von Aktien und Wechselkursen, nehmen Einfluss auf Unternehmen und investieren in Kreditderivate. Ihr Management agiert von den USA oder London aus; ihr Sitz befindet sich häufig an exotischen Plätzen mit schwacher oder fehlender Aufsicht. Der Zusammenbruch eines Hedge-Fonds kann das internationale Finanzsystem erschüttern.124 HedgeFonds stehen regelmäßig breiten Anlegerkreisen nicht offen; von ihnen können aber systemische Risiken ausgehen. Es erscheint deshalb geboten, sie einer Registrierung bei den Aufsichtsbehörden ihres Verwaltungssitzes zu unterwerfen sowie ihre Geschäftspolitiken und Transaktionen transparent zu machen. Entsprechende Initiativen sind zu Recht von den zuständigen Ausschüssen des EU-Parlaments ergriffen worden:125 die EG-Kommission hat dazu eine öffentliche Konsultation eingeleitet und auch der im Februar vorgelegte Bericht der de Larosière-Kommission enthält entsprechende Vorschläge.126 Eine vergleichbar unregulierte Position nehmen die Rating-Agenturen ein,127 auf deren Bewertung von Unternehmen und Wertpapieren der Markt und auch die Aufsichtsbehörden128 jedoch vertrauen. Gefordert wird zu 123

SZ vom 20./21.5.2009 und vom 22.4.2009, 26. Siehe den Fall LTCM aus dem Jahre 1998. 125 Siehe Fischer zu Kramberg Finanzplatz März 2009, 28 f. 126 Bericht der de Larosière-Kommission vom 29.2.2009, 23 ff. 127 Marktführend Standard&Poors, Moody’s, Fitch. 128 Sanio (Vorsitzender des Direktoriums der BaFin) Sparkasse Dezember 2008, 6: „Auch wir von der Aufsicht haben an das Triple A geglaubt“. 124

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Recht, dass die Bewertungsverfahren dieser Agenturen transparent zu machen sind und ihnen eine gleichzeitige Beratung und Bewertung bei Einführung neuer Finanzinstrumente zu untersagen. Die EG-Kommission hat am 12. November 2008 den Entwurf einer Verordnung vorgelegt,129 die angesichts des Versagens der Rating-Agenturen im Zusammenhang mit der Finanzkrise eine Registrierungspflicht, eine zu belegende Qualitätssicherung ihrer Bewertungen, eine Informationspflicht über die historischen Ausfallquoten ihrer Ratingkategorien und eine behördliche Aufsicht vorsieht. Das Problem einer Haftung der Rating-Agenturen bleibt allerdings nach wie vor ungelöst. Ein schlagender Beweis für die Notwendigkeit einer Kontrolle der Rating-Agenturen ergibt sich daraus, dass Standard & Poors noch am Freitag vor dem Zusammenbruch von Lehmann Brothers deren Zertifikate als sichere Anlage bezeichnete. Durch die Finanzkrise hat eine Vielzahl von Investoren hohe Verluste erlitten. Dies gilt in gleicher Weise für Privatanleger wie für Investoren, die dem öffentlichen Sektor angehören (Kommunen, Landesbanken). Verluste stellen immanente Risiken des Kapitalmarktes dar. Wenn Investitionsentscheidungen auf einer zureichenden Informationsbasis und, soweit gewünscht, einer fachkundigen Beratung beruhen, kann dieses Risiko jedoch signifikant vermindert werden. Bekanntlich sieht das FRUG Informationsund, wenn eine Beratung erfolgt, Beratungspflichten vor. Der Nachweis einer schuldhaften Verletzung dieser Pflichten fällt dem Anleger jedoch schwer. Erleichtert wird dies, wenn, wie bereits heute empfohlen und z.T. auch praktiziert wird,130 Protokolle über die erfolgte Information und vor allem die Beratung angefertigt werden. Dadurch wird faktisch auch eine Beweislastumkehr erreicht. Denn wenn die schriftlich festgehaltene Beratung Lücken aufweist, ist es Sache des Wertpapierdienstleisters nachzuweisen, dass die Beratung umfassend war. Ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vom Februar 2009131 will diesem Petitum gerecht werden, indem er grundsätzlich ein schriftliches Protokoll über die Anlageberatung verlangt, das dem Anleger auf Verlangen auszuhändigen ist und ihm die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen erleichtert. Darüber hinaus ist zu fragen, ob besonders risikoreiche Geschäfte, insbesondere als Festgeschäfte ausgebildete Termingeschäfte und Derivategeschäfte, bei denen dem Anleger – abgesehen vom Bonitätsrisiko der Gegenseite – ein Totalverlust der Anlage oder ein unbegrenzter Verlust droht, bestimmten Anlegergruppen nicht in Zukunft verschlossen bleiben sollten. Gemeint sind zum einen öffentlich-rechtliche Körperschaften und Landes129

KOM(2008) 704 endgültig; 2008/0217 (COD). Schwark in: Schwark/Beck (Fn. 5), § 31 Rn. 42 und § 34 Rn. 13. 131 BR-Drucks. 180/09 vom 20.2.2009 (14 f., 41 f.); inzwischen verabschiedet, s. BGBl. I 2009, S. 2512. 130

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banken, zum anderen Privatanleger. In der Literatur wird z.T. aus der Bindung an den öffentlichen Zweck bereits de lege lata ein Verbot des Eigenhandels der Landesbanken in spekulativen Wertpapiergeschäften abgeleitet, auch wenn deren Satzungen dies nicht ausdrücklich untersagen.132 Nachdem diese Banken durch Wegfall von Gewährträgerhaftung und Anstaltslast privaten Banken weitgehend gleichgestellt wurden, lässt sich ein solcher Wettbewerbsnachteil jedoch nicht rechtfertigen.133 Doch sollte das Volumen solcher Geschäfte in Abhängigkeit vom gesamten Bilanzvolumen durch Gesetz oder Satzung beschränkt werden. Öffentlich-rechtlichen Körperschaften sollten Geschäfte in Derivaten und Termingeschäften mit Totalverlustrisiko gänzlich untersagt werden. Sie besitzen keine Erfahrung im Bankgeschäft und haben in der Vergangenheit, insbesondere durch Zins-Swap-Verträge, hohe Verluste erlitten.134 Privatanlegern blieb nach früherem deutschen Börsenrecht (§§ 50 ff. BörsG a.F.) der Terminhandel bekanntlich weitgehend verschlossen; ihre Geschäfte waren unverbindlich. Die Vorschriften wurden dann schrittweise liberalisiert und schließlich durch die allgemeinen Informations- und Beratungsregeln, die für alle Wertpapiergeschäfte gelten, abgelöst. Derivatgeschäfte und Termingeschäfte auch hochspekulativer Art können danach auch von privaten Anlegern wirksam abgeschlossen werden. Die damit verbundenen Risiken lassen es angezeigt erscheinen, erneut über die Frage eines beschränkten Zugangs privater Anleger zu solchen Geschäften nachzudenken und sie nicht auf individuelle Schadensersatzansprüche (vor)vertraglicher Art bei unzureichender Information oder Beratung zu verweisen. Dies kann für Finanztermingeschäfte nach geltendem Recht durch Rechtsverordnung gemäß § 37e WpHG geschehen; hinsichtlich der Derivate wäre die Bestimmung zu ergänzen. Im kapitalmarktrechtlichen Unternehmensrecht sind Fehlanreize, die zur Aufblähung des Eigenhandels und der spekulativen Angebote gegenüber dem breiten Publikum geführt haben, zu beseitigen. Dazu gehört vor allem das auf kurzfristigen Gewinn angelegte Bonussystem, ein Vergütungssystem, das später auftretende Unternehmensrisiken nicht berücksichtigt. Da pflichtwidriges, zum Schadensersatz führendes Handeln gegenüber den Anlegern oft nur schwer nachzuweisen ist, können so strategische Fehlentscheidungen zumindest eingedämmt werden. Angesichts der Komplexität vieler Finanzgeschäfte bedarf es zudem einer verbesserten, der Aufsichtsbehörde nachzuweisenden internen Risikokontrolle und Compliance.

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Lutter BB 2009, 786, 789 ff. Ebenso im Ergebnis Badura ZHR 146 (1982) 448, 456 ff. 134 Unter diese Kategorie fallen nicht die, wie sich herausgestellt hat, risikoreichen Lease- und Lease-back Geschäfte (Cross Border Leasing), die wegen nachzureichender Zahlungsgarantien zur Schieflage vieler deutscher Kommunen geführt haben. 133

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Nicht zuletzt ist die Aufsicht über den Finanzsektor stärker an den in der Finanzkrise sichtbar gewordenen Risiken unter Einbeziehung des globalen Garantiegeschäfts der Versicherungsgesellschaften auszurichten. Dazu gehört eine neue Sicht von Klumpenrisiken, die sich nicht notwendig durch Verteilung auf viele Risikoträger vermindern, und Maßnahmen, die die Akteure von vornherein zu einer Disziplinierung ihres Geschäftsgebarens zwingen. Es geht nicht darum, mit viel Bürokratie eine Aufsichtsillusion zu erzeugen, sondern den materiellen Kern der Risiken durch ein Frühwarnsystem in den Griff zu bekommen. Für die Bundsrepublik stellt sich zudem die Frage einer Konzentration der Aufsicht bei einer Behörde (Zentralbank oder BaFin).

VII. Schluss Das Kapitalmarktrecht hat sich heute als eigenständiges Rechtsgebiet etabliert. Disparat, wie es nun einmal ist, finden sich Baustellen an vielen Orten. Sie wurden, zumeist exemplarisch, beschrieben. Für die Zukunft lassen sich einige wesentliche Linien erkennen: 1.) Die zunehmende Entwicklung globaler Kapitalmärkte auf der Anbieter- und Nachfragerseite wird eine weitere internationale Angleichung der Kapitalmarktrechte nach sich ziehen müssen. Die Rechtswissenschaft hat diesen Prozess vor allem durch Rechtsvergleichung zu begleiten, mit dem Ziel, die Problemlösungen und die tragenden Prinzipien der nationalen Rechte zu ermitteln und in Richtung auf ein allgemein akzeptables Regelungssystem hin fortzuschreiben. 2.) Transparenz am Kapitalmarkt ist kein Allheilmittel; sie wird jedoch dort auszubauen sein, wo kapitalmarktrelevante Informationen von den Akteuren nicht selbst in zumutbarer Weise beschafft werden können. 3.) Eine Kontrolle der Kapitalmärkte durch öffentliche Stellen oder effizient arbeitende Selbstverwaltungseinrichtungen wird auch in Zukunft unentbehrlich sein. Sie wird auf die Internationalisierung der Märkte abzustimmen sein. 4.) In das Kapitalmarktrecht und die Kontrolle sind sämtliche für den Kapitalmarkt relevante Kapitalsammelstellen einschließlich der Versicherungsgesellschaften und der Hedge-Fonds einzubeziehen, ebenso Intermediäre und sonstige Akteure, deren Tätigkeit Daten für den Kapitalmarkt setzt, wie Rating-Agenturen, Analysten und Wirtschaftsprüfer. 5.) Der Einfluss des Kapitalmarktrechts auf Nachbargebiete, vor allem auf das Gesellschaftsrecht, das Wertpapierrecht und das die Geschäftsvorgänge am Markt regelnde Zivilrecht wird weiter zunehmen. Die Internationalität des Kapitalmarktrechts wird dazu führen, dass Eigenarten nationaler Rechte in diesen Rechtsgebieten eingeebnet oder gänzlich beseitigt werden müssen.

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Josef Kohler und die Entwicklung des modernen Insolvenzrechts Christoph G. Paulus

Josef Kohler und die Entwicklung des modernen Insolvenzrechts CHRISTOPH G. PAULUS

I. II. III. IV.

Kohler als Konkursrechtler Kohlers Verständnis . . . . . Heutiges Verständnis . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . .

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I. Kohler als Konkursrechtler Auch wenn es außerhalb der „Zunft“ vielleicht nicht allzu bekannt ist, dass Josef Kohler neben allem anderen auch ein Insolvenzrechtler – noch dazu einer der großen in Deutschland – gewesen ist, kann das eigentlich niemanden recht wirklich überraschen. Hat doch das stupende Wissen dieses juristischen Universalgenies eine solche Fülle von Schriften über eine solche Breite von Fachgebieten hervorgebracht, dass allein das (von seinem Sohn posthum erstellte) Schriftenverzeichnis ein eigenständiges Büchlein veritablen Ausmaßes abgibt, und hat doch eben dieses Phänomen noch mehr als zehn Jahre nach seinem Tod dazu geführt, dass 138 herausragende amerikanische Gelehrte in einem Schreiben an die Mitglieder des Völkerbundes, in dem sie zur Unterstützung ihres Anliegens – nämlich Prof. Wigmore zum Richter am Weltgerichtshof vorzuschlagen – zum Lobe dessen vortragen: „In fecundity and range of creation Wigmore has been compared with the late Josef Kohler. Kohler was an authority in bankruptcy and patent law, something of a musician and poet, and much else. In many ways Wigmore’s literary style, legal and non legal interests and activities, and dynamic force are comparable to Kohler’s . . .“.1 1 Arthur Kohler Josef Kohler – Bibliographie, 1931, Vorwort, VIII f. In dieser Bibliographie finden sich fast 2500 Titel in 481 Kategorien, in die die Publikationen Josef Kohlers aufgegliedert sind: Sie reichen vom Völkerrecht über den gewerblichen Rechtsschutz bis hin zum Strafrecht, von den antiken Rechten über die mittelalterlichen bis hin zu den modernen, von dem japanischen Recht über das Common Law bis hin zum islamischen Recht. Darüber hinaus erfassen viele dieser Kategorien nicht-juristische Literatur wie Gedichte, Lieder etc. Um das Phänomen vollkommen zu machen, war Josef Kohler einer der aktivsten Lehrer – er hat bis zu 27 Stunden wöchentlich Kolleg gehalten und war regelmä-

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Angesichts eines derartigen Weltruhmes nimmt es nicht wunder, dass aus der Feder Kohlers Pretiosen nicht nur zur Geschichte des Konkursrechts stammen – als ein Beispiel von vielen möglichen sei auf seine Beschreibung und Charakterisierung der Antwerpener Statuten von 1582 bzw. 1608 verwiesen.2 Vielmehr hat er auch solche zur Dogmatik des Konkursrechts hinterlassen – hierfür soll die Bezugnahme auf sein Lehrbuch3 und, in der Fortwirkung bedeutsamer, auf seinen Leitfaden des Deutschen Konkursrechts4 genügen – wie auch zur Rechtsvergleichung – geradezu vorbildlich und in ihrer Fülle fast schon erschlagend die Exkurse zum ausländischen Recht etwa im Leitfaden.5 Ein einzelnes Thema aus diesem, das gesamte Spektrum des Konkursrechts umfassenden, überreichen Angebot auszuwählen zur Fortsetzung eines Generationen überspannenden Gesprächs unter Fakultätskollegen aus Anlass des mit dieser Schrift zu feiernden Jubiläums, bedeutet somit zwangsläufig eine ungebührliche Einengung des Blickfeldes. Sie lässt sich allerdings allein schon aus Platzgründen nicht vermeiden und verlangt daher den klarstellenden und mahnenden Hinweis, dass die nachfolgende Auseinandersetzung an sich in dem ungleich weiter gespannten Rahmen des Kohler’schen Gedankengebäudes gesehen werden muss. Die vorerwähnte Wahl fällt auf das internationale Insolvenzrecht, weil sich bei diesem Thema deutlicher als bei jedem anderen so etwas wie eine historische Entwicklung – vielleicht sogar (abhängig von dem eigenen Standpunkt) ein Fortschritt – offenbart, der nach dem Vergleich der damaligen Position (II) mit der heutigen (III) die Folgefrage provoziert (IV), ob sich anhand dieser durch die Fixierung zweier Positionen auf der Zeitachse festgeschriebenen Entwicklungslinie Prognosen für zukünftige Änderungen oder Modifikationen herleiten lassen. Dieser Frage nachzugehen, drängt sich auch und besonders deswegen auf, weil – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – Kohler zur Rechtfertigung seines eigenen Standpunktes bemerkenswert hellsichtige Überlegungen über noch lange nicht erreichte politische Zustände anführt.

ßig Prüfer im Referendarsexamen –, hat eine Unmenge von Briefen geschrieben, hat Lieder komponiert und verreiste gern und viel. 2 Kohler Das Konkursrecht der Antwerpener Statuten, in: Konkursrechtliche Studien, AcP 81 (1893) 329, 415 ff. Siehe dazu auch Paulus Entwicklungslinien des Insolvenzrechts, KTS 2000, 239, 241 ff. 3 Kohler Lehrbuch des Konkursrechts, 1891. Zur Auseinandersetzung mit dem von Kohler propagierten konkursrechtlichen Beschlagsrecht siehe Henckel Wert und Unwert juristischer Konstruktion im Konkursrecht, FS Weber 1975, 237 ff. 4 Kohler Leitfaden des Deutschen Konkursrechts2, 1903. 5 Kohler (Fn. 4), 317 ff.; siehe aber auch die Länderdarstellungen: 40 ff.

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II. Kohlers Verständnis Demjenigen, der kein vertieftes Wissen über das internationale Insolvenzrecht hat, mag es überraschend erscheinen, wenn soeben auf (nicht erreichte bzw. zu erreichende) politische Zustände Bezug genommen wird, wo doch hier die Rede von Recht ist. So verständlich eine solche Überraschung ist, so sehr verkennt sie die enge Verquickung des Rechtlichen mit dem Politischen gerade an dieser Stelle. Darauf wird insbesondere unter III zurückzukommen sein, wiewohl dieser Zusammenhang indirekt auch schon gleich im Nachfolgenden durchgängig zwischen den Zeilen mitschwingen wird. 1. Ausgangspunkt des nachfolgenden Dialogs mit Josef Kohler ist der Abschnitt über „Internationales Konkursrecht“, wie er sich in dem bereits angesprochenen Leitfaden findet.6 In ihm präsentiert sich der Autor als strikter Verfechter des Territorialitätsgrundsatzes, also der Begrenzung jeglicher konkursrechtlicher Wirkungen allein auf das Inland. Den Kontrapunkt hierzu bildet der Universalitätsgrundsatz, demzufolge die Wirkungen eines Konkursverfahrens weltweit sind bzw. jegliches, wo auch immer belegenes Vermögen des (Gemein-)Schuldners erfassen. Kohlers zentrales Argument für seine Position ist sein Verständnis vom Konkurs als „eine (auf Selbsthilfe gestellte) Vollstreckung“; daher gilt die Folge: „er [i.e. der Konkurs] reicht in seiner Beschlagswirkung nur soweit, als die Vollstreckungskraft des Inlandes reicht; er reicht also nicht in das Ausland hinein“.7 Zur Untermauerung der Richtigkeit dieser Ansicht für das deutsche Recht verweist er auf § 237 KO, der folgendermaßen lautet: Besitzt der Schuldner, über dessen Vermögen im Auslande ein Konkursverfahren eröffnet worden ist, Vermögensgegenstände im Inlande, so ist die Zwangsvollstreckung in das inländische Vermögen zulässig. Ausnahmen von dieser Bestimmung können unter Zustimmung des Bundesrats durch Anordnung des Reichskanzlers getroffen werden. Indem diese Norm die Zwangsvollstreckung in das im Inland belegene Vermögen gestattet, obgleich das schuldnerische Vermögen einem ausländischen Konkursverfahren unterworfen ist, negiert sie kategorisch jeglichen eventuellen Anspruch ausländischen Rechts auf eine Wirkungserstreckung in das Inland hinein. Die Eröffnung der Vollstreckungsmöglichkeit ist die Legitimierung einer Singularexekution und damit die implizite Zurückweisung der ausländischen Generalexekution – mit der das Verbot der Einzelbefriedigung zwingend einhergeht, vgl. § 14 KO.8 Der für das Konkursrecht 6 7 8

Kohler (Fn. 4), 310 ff. Kohler (Fn. 4), 310. § 14 KO Abs. 1 lautet:

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so essentielle Grundsatz der Gläubigergemeinschaft,9 der par condicio creditorum, wird mithin ausgeschaltet bzw. auf das vom Gesetzgeber erreichbare Territorium eingegrenzt.10 Damit stellt sich diese Vorschrift tatsächlich als ein veritabler Repräsentant des Territorialitätsprinzips dar. Den Versuch, demgegenüber den Universalitätsgrundsatz zu rechtfertigen, weist er als untauglich zurück. Wenn nämlich diesbezüglich vorgetragen werde, dass „Ereignisse in der Person des Schuldners allgemeine Wirkung haben müssten, sofern sie durch das Gesetz des Wohnsitzes oder des Heimatlandes des Schuldners beherrscht würden“,11 hält Kohler dagegen: „Allein der Konkurs bewirkt keine Geschäftsunfähigkeit, keine persönliche Rechtsverwirkung; er beruht auf objektivem Vermögenseingriff, und für diesen gilt jeweils die Vollstreckungsgewalt des örtlichen Kreises, in welchem der Eingriff stattfinden soll. Festzustellen ist, daß in der neueren Zeit die Universalitätsbestrebungen, die ich in meinem Lehrbuch bekämpfte, nachgelassen haben.“12 Mit diesem Verweis bezieht er sich auf seine Äußerungen, die 1891 veröffentlicht wurden und sich dort (u.a.) mit einem erst kurz zuvor erfolgten Meinungsumschwung des Reichsgerichts auseinandersetzten. 2. Unter Berufung auf (den von Kohler im Leitfaden nur ganz am Rande erwähnten) § 238 KO13 hatte nämlich das Reichsgericht noch 188214 entschieden, dass das deutsche Konkursrecht dem Universalitätsgrundsatz folge. Indem nämlich für die Eröffnung eines Inlandskonkurses der Nachweis der Zahlungsunfähigkeit und damit des Eröffnungsgrundes als unnötig deklariert werde, erkenne das deutsche Recht die universelle Wirkung des im Ausland bereits erklärten Eröffnungsgrundes und damit die weltweit einheitliche Behandlung des schuldnerischen Vermögens an. Nur zwei Jahre später war es Während der Dauer des Konkursverfahrens finden Arreste und Zwangsvollstreckungen zugunsten einzelner Konkursgläubiger weder in das zur Konkursmasse gehörige noch in das sonstige Vermögen des Gemeinschuldners statt. 9 Kohler (Fn. 4), 8, 203 f. 10 So explizit im Lehrbuch (Kohler [Fn. 3]), 607. 11 Kohler (Fn. 4), 311. 12 Kohler (Fn. 4), 311. Die weiteren Ausführungen dieses Abschnittes beschreiben kurz noch historische und ausländische Alternativen, thematisieren dann aber nur mehr die Konsequenzen aus dem mit dieser Argumentation begründeten Territorialitätsgrundsatz. Insbesondere spricht er dem Eröffnungsbeschluss die Qualität eines privatrechtlichen Urteils ab, das mittels eines (den heutigen §§ 722, 723 ZPO entsprechenden) Exequaturs ins Inland wirken könnte. Zu den Universalitätsbestrebten gehörte etwa auch Savigny System des heutigen römischen Rechts, Band VIII, 1849, 288 f. (mit Hinweis auf Voet, Pufendorf und Dabelow). Weitere Gesetzgebungsnachweise in Kohlers Lehrbuch (Fn. 3), 617 ff. 13 Dessen für die vorliegende Argumentation ganz besonders bedeutsamer Abs. 3 lautet: Ist im Auslande ein Konkursverfahren eröffnet, so bedarf es nicht des Nachweises der Zahlungsunfähigkeit zur Eröffnung des inländischen Verfahrens. Im Übrigen regelt die Vorschrift die Voraussetzungen für einen auf das inländische Vermögen begrenzten Partikularkonkurs. 14 Urteil vom 28. März 1882, RGZ 6, 400 ff.

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dann allerdings schon wieder vorbei mit dieser Offenheit; das Reichsgericht entschied ab dem 14. Band15 territorialistisch (wenn auch mit großen Schwankungen im Detail). Die auslandsfreundlichere Haltung der Gesetzesmaterialien16 und die Beweiskraft des § 238 KO wichen der des § 237 KO, und das blieb so (allerdings mit erheblichen Schwankungen im Detail17), bis der BGH im Jahre 198518 einen von Hanisch19 als „Wende“ bezeichneten erneuten Umschwung in Richtung Universalitätsgrundsatz vollzog. Kohlers rigoroses Bekenntnis zur Maßgeblichkeit des Territorialitätsprinzips steht nicht nur in einem gewissen Spannungsverhältnis zu seiner eigenen Liberalität und Weltoffenheit,20 es tut auch den Entwicklungen vor seiner Zeit und denen der Völkergemeinschaft nicht ganz Recht. Hatte sich doch die Haager Konferenz für Internationales Privatrecht schon seit (spätestens) 1894 um „Prinzipien zum Konkursrecht“ und in diesem Zusammenhang um eine mehr oder minder intensive Überwindung einer derartig ausschließenden Territorialität bemüht. Insbesondere die Dritte Haager Konferenz von 1900 – und ihr direkt folgend – die Vierte Konferenz von 1904 waren von einem Durchbruch der Befürworter der Universalität und Einheit des Konkurses gekennzeichnet.21 Aber auch das Institut für Völkerrecht beschäftigte sich um diese Zeit mit dem grenzüberschreitenden Insolvenzrecht; es hatte sich in den Brüsseler Beschlüssen von 1902 zu „Nouvelles règles sur les conflits de lois en matière de faillite“ und dort zum Prinzip der Universalität und Einheit des Konkurses bekannt.22 3. Diese Beschlüsse in seinem neu aufgelegten Leitfaden nicht berücksichtigt zu haben, macht ihm Friedrich Meili, der schweizer Doyen des in15 Vgl. RGZ 14, 412 und 424; 16, 61; RG JW 1899, 227; ferner RGZ 21, 7; 52, 155; 89, 181; 100, 241; 114, 82; 153, 200; RG LZ 1929, 1274. 16 Auf sie rekurrierte das Reichsgericht noch in seiner ersten Entscheidung aus dem Jahr 1882. 17 Vgl. dazu Merz Probleme des internationalen Konkursrechts im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien, Jahrbuch für italienisches Recht 1 (1988) 3, 5. 18 BGHZ 95, 256 = NJW 1985, 2897 = ZIP 1985, 944 (in erklärter Abkehr von BGH NJW 1960, 774). 19 Hanisch Die Wende im deutschen Internationalen Insolvenzrecht, ZIP 1985, 1233. Siehe auch Riesenfeld Das neue Gesicht des deutschen internationalen Konkursrechts, FS Merz 1992, 497 ff.; ders. Transnational Bankruptcies in the Late Eighties: A Tale of Evolution and Atavism, FS Merryman 1990, 136 ff. 20 Zu Kohlers bemerkenswert moderner Toleranz und seiner persönlichen Herkunftsprägung (altbadischer Liberaler) siehe Gast Historischer Optimismus – Die juristische Weltsicht Josef Kohlers, ZvglRWiss 85 (1986) 1, 3. Man mag noch hervorheben, dass er Völkerrechtler und Begründer (u.a.) der Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft war. 21 Zu dieser Entwicklung insgesamt eindringlich Trunk Internationales Insolvenzrecht, 1998, 41 ff. Siehe aber auch Meili Deutsche Literaturzeitung 1903, 2707 f. mit Verweis auf dens. Das internationale Privatrecht und die Staatenkonferenzen im Haag, 1900, 80–84. 22 Abrufbar unter: www.idi-iil.org/idiF/navig_res_them.html#f unter dem Stichwort „faillite“.

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ternationalen Insolvenzrechts, in einer Rezension23 zum Vorwurf. Von einer derartigen Autorität ausgesprochen, wiegt das schwer genug, um Kohler zu einer weiteren Publikation zu veranlassen, in der er explizit zu diesem Tadel Stellung bezieht.24 Nicht nur, dass ihm diese Beschlüsse selbstverständlich nicht entgangen waren (sie stellten aber eben noch nicht autoritative Dokumente dar), sie waren vor allem aber seiner Ansicht nach ihrer Zeit viel zu weit voraus. Die Zeit für ein derartiges Ansinnen hielt er für noch nicht reif. Die Argumente, die er hierfür anführt, sind die folgenden:25 „Ein solches Ideal [i.e. „wenn die Staaten alle zusammen eine große Rechtsvereinigung böten, in der Art, daß, wie in einem Bundesstaat, Urteile und Vollstreckungsakte über die ganze Erde hin wirkten, ohne Rücksicht auf die Grenzen der Staatsgewalt“] aber ist noch Jahrzehnte lang unerreichbar, denn es setzt voraus, daß 1) unter den Staaten eine solche Gleichartigkeit in der Rechts- und Gerichtsverfassung besteht, daß man sich auf ausländische Behörden in gleicher Weise verlassen kann wie auf die des Inlandes;26 2) daß der Verkehr unter den Einzelstaaten so leicht ist, daß trotz der sprachlichen Verschiedenheit die rechtliche Staatshilfe überall ebenso leicht erzielt werden kann wie im eigenen Staate; 3) daß auch, was Anwalts- und prozessuale Vertretung betrifft, jeder im Auslande ebenso gut wie im Inlande das Nötige finden kann; 4) daß die Kommunikationsmittel so erleichtert sind, daß uns der Personenund Nachrichtenverkehr nach den verschiedenen Teilen der Erde keine Schwierigkeiten macht und daher, wenn beispielsweise in einem südamerikanischen Staat ein Konkurs ausbricht, man ebenso leicht Mitteilung bekommt und in der Lage ist, sofort sein Interesse zu wahren, wie wenn in einer entfernten Provinz des eigenen Staates ein Konkurs ausgebrochen wäre; 5) es wäre auch eine Gleichartigkeit in den Rechtseinrichtungen erforderlich, sodaß, wenn in dem einen Staate irgend eine Handlung der Justiz oder der freiwilligen Gerichtsbarkeit stattfindet, sie in ganz ähnlicher Weise wie im eigenen, so auch im fremden Land ihre Durchführung und Wirksamkeit finden kann. Von diesem Ideal sind wir noch weit entfernt, und solange nicht einigermaßen zwischen den einzelnen Staaten eine solche Gemeinsamkeit besteht, halte ich das Prinzip der Universalität des Konkurses für undurchführbar 23

Meili (Fn. 21), 2707 f. Kohler Neue konkursrechtliche Forschungen, AcP 95 (1904) 339, 346 ff. 25 Kohler (Fn. 24), 347 f. 26 In seinem Lehrbuch (Fn. 3), 608, verdeutlicht Kohler das hier Zusammengefasste, indem er dazu aufruft: „Fördere man darum zunächst die Gleichartigkeit des Konkurswesens bei den verschiedenen Nationen.“ 24

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oder, wenn es durchgeführt wird, für im höchsten Grade schädlich und verderblich.“ Von den vielen weiteren Begründungen seien die folgenden noch hervorgehoben: Der Universalitätsgrundsatz kreiere einen Wertungswiderspruch, indem er der Generalexekution eine Wirkung im Ausland einräume, die im Falle einer Singularexekution allenfalls mit Hilfe eines besonderen Aktes erreichbar sei.27 Ferner schaffe er eine „Ausnahme von der Regel staatlicher Souveränität (. . .)“, welche nur im Falle eines besonderen Vertrauens in die „Gerichtsübung“ des anderen Staates gerechtfertigt sei.28 Und aus letzterem folgert er, „daß das Territorialitätsprinzip nicht eine engherzige Ausnahme, sondern die unmittelbare Folge des Souveränitätsbegriffes ist, und daß eine Andersgestaltung der Dinge zwar möglich ist, aber eine Ueberwirkung fremder Souveränität auf unser Staatsgebiet darstellt, welche durch die individuelle Gestaltung der Staaten und ihre Beziehungen zu einander gerechtfertigt sein muß.“29

III. Heutiges Verständnis Die letzten Bemerkungen offenbaren den (rechts-)politischen Gehalt der ganzen Argumentation: Es geht in allererster Linie um Souveränität und um Vertrauen in die anderen Rechtssysteme. Verbindet man diese Grundpfeiler noch mit dem Grundverständnis, dass Insolvenzrecht Vollstreckungsrecht ist, ist die Argumentation Kohlers – auf sie wird weiter unten noch detaillierter einzugehen sein – von bewunderungswürdiger Konsistenz und Konsequenz. Wenn nämlich die Generalexekution Singularexekution gleichsam im großen Stile ist, stellt jeder Übergriff auf einen anderen Staat einen Eingriff in dessen Souveränität dar – nicht anders als die Zwangsvollstreckung etwa aus einem brasilianischen Urteil auf deutschem Boden.30 Das jedoch erscheint nur dann akzeptabel, wenn die Gewissheit besteht oder doch wenigstens das Vertrauen gerechtfertigt ist, dass die Rechtsschutzgarantien dieses anderen Landes dem einheimischen Standard entsprechen. Das dürfte am ehesten garantiert sein, wenn bilaterale Abkommen geschlossen werden.31 Von denen gab es auch damals schon einige;32 als Beispiel für das Scheitern multilateraler Konkursverträge dagegen hätte Kohler auf den “Montevideo Treaty on Commercial International Law”33 verweisen können, den Argen27 28 29 30 31 32 33

Kohler (Fn. 3), 349 f. Kohler (Fn. 3), 353. Kohler (Fn. 3), 354. Ein vergleichbares Beispiel verwendet Kohler (Fn. 3), 349. Kohler (Fn. 3), 352. Vgl. Kohler (Fn. 4), 311 Fn. 1. Siehe dazu etwa Wessels International Insolvency Law, 2006, 37 f.

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tinien, Bolivien, Kolumbien, Paraguay, Peru und Uruguay 1889 geschlossen hatten – ohne je damit große praktische Bedeutung erzielt haben zu können. Bei dieser Ausgangslage stellt sich die Frage, ob denn die heutige Zeit, gemessen an dem Kohler’schen Standard, reif ist für das Universalitätsprinzip. Immerhin gibt es auch heute noch eine ganze Anzahl von Ländern, die dem Territorialitätsprinzip Folge leisten, und auch durchaus namhafte Gelehrte, die in das gleiche Horn blasen.34 Die Antwort auf diese Frage soll in zwei Schritten gefunden werden: Zunächst durch die rein deskriptive Darstellung des Ist-Zustandes (1); und sodann im Wege einer Auseinandersetzung mit den Kohler’schen Argumenten (2). 1. Es klang schon im Vorangehenden wiederholt an, dass die geschichtliche Entwicklung des Internationalen Insolvenzrechts35 nicht etwa geradlinig vom Territorialitäts- hin zum Universalitätsprinzip verlaufen ist. Vielmehr hat schon immer ein Kampf zwischen den beiden stattgefunden, wobei vielleicht als eines der ausschlaggebenden Momente für das Überwiegen des einen Prinzips über das andere der Grad des grenzüberschreitenden Handels festgemacht werden kann. Je intensiver der nämlich ist, desto lauter wird der Ruf nach Universalität. Das hängt mit der damit einhergehenden Häufung von Verletzungen des Prinzips der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger zusammen, weil dann die Wahrscheinlichkeit wächst, dass Schuldner Vermögen in mehr als nur einem Territorium haben. Es wurde ebenfalls zuvor schon angesprochen, dass auch die Rechtsprechung zum internationalen Insolvenzrecht die ersten 100 Jahre nach Inkrafttreten der Konkursordnung alles andere als konsistent war, dass sich aber spätestens seit 1985 der BGH auf eine seither getreulich beibehaltene Linie eingeschworen hat, die man als kontrollierte Universalität bezeichnet hat.36 Jene Entscheidung in Verbindung mit einem zumindest im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften im Vordringen begriffenen Verständnis hat den zu dieser Zeit tätig gewordenen Gesetzgeber dazu veranlasst, sich vorerst allein mit der Neuordnung des nationalen Insolvenzrechts zu beschäftigen und das internationale auf die längere Bank zu schieben. In diesem Kontext heißt es im Zweiten Bericht der vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Kommission für Insolvenzrecht: Eine moderne Insolvenzordnung muß auch Vorschriften über das internationale Insolvenzrecht enthalten, die es ermöglichen, die Probleme der 34 Der wohl prominenteste derzeitige Vertreter dieser Meinung ist LoPucki Cooperation in International Bankruptcy: A Post-Universalist Approach, 84 Cornell L. Rev. (1999) 696; gegen ihn etwa Westbrook A Global Solution to Multinational Default, 98 Mich. L. Rev. (2000) 2276; Guzman International Bankruptcy: In Defense of Universalism, 98 Mich. L. Rev. (2000) 2177. 35 Dazu außer Trunk (Fn. 21), 34 ff., besonders Meili Die geschichtliche Entwicklung des internationalen Konkursrecht, 1908. 36 Vgl. Hanisch (Fn. 19), 1233.

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grenzüberschreitenden Insolvenzfälle zu bewältigen. In einer Zeit, in der die Volkswirtschaften immer stärker miteinander verflochten sind, in der die internationale Arbeitsteilung fortschreitet, weithin Niederlassungsfreiheit und Freizügigkeit des Kapitalverkehrs herrschen, nimmt die Zahl transnationaler Insolvenzfälle erheblich zu. Immer stärker wird es als Gebot der Gerechtigkeit empfunden, daß beim finanziellen Zusammenbruch eines transnational tätigen Unternehmens alle Gläubiger gleichbehandelt werden, und zwar ohne Ansehung ihrer Nationalität oder ihres Sitzes. Im modernen Wirtschaftleben erscheint die territoriale Begrenzung der Insolvenzverfahren anachronistisch.37 Der Gesetzgeber sah das internationale Insolvenzrecht durch den neuen Trend des BGH jedoch in ebenso geordneten wie gesollten Bahnen, zumal die zu jener Zeit bereits mehr als zwei Jahrzehnte andauernden Bemühungen um eine europäische Insolvenzregelung genau in dieselbe Richtung zielten;38 infolgedessen konnte er sich voll und ganz dem als vordringlicher eingestuften Bedürfnis nach einem modernen nationalen Insolvenzrecht widmen. So kam es, dass das europäische Insolvenzrecht früher fertig gestellt war als das deutsche internationale Insolvenzrecht, was seinerseits dazu führte, dass Deutschland nunmehr ein autonomes internationales Insolvenzrecht hat, das dem europäischen Modell in Vielem nachgebildet ist.39 a) In Anbetracht dieser Entwicklung ist es vorzugswürdig, zunächst einmal den Status Quo des europäischen Rechts vorzustellen, schafft er doch durch seine Verordnungsform40 unmittelbar geltendes Recht in den 26 Mitgliedstaaten41 und bildet somit einen Teil, statistisch gesehen sogar den maßgeblichen Teil des deutschen internationalen Insolvenzrechts. aa) In einem kaum stärker denkbaren Kontrast zu den Überzeugungen Kohlers ist der Ausgangspunkt der Verordnung der der Universalität.42 Wird ein in Art. 2 lit. a) EuInsVO definiertes und im Anhang A eigens aufgelistetes Verfahren in einem der Mitgliedstaaten eröffnet, erstrecken sich all seine Wirkungen, ohne dass es eines gesonderten weiteren Aktes bedürfte, also automatisch, auf das durch die 26 Mitgliedstaaten abgesteckte Territo37

Zweiter Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, 1986, 14. Zur Geschichte dieser Bemühungen siehe statt vieler nur Paulus Europäische Insolvenzverordnung3, 2010, Einl. Rn. 1 ff. 39 Der Ablauf der Ereignisse ist im Detail natürlich ungleich filigraner, als diese grobstiftige Skizze auch nur erahnen lässt. Gleichwohl genügt diese Beschreibung für die vorliegenden Zwecke. 40 Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren; abgekürzt: EuInsVO. 41 Dänemark hat sich nicht an der Annahme der Verordnung beteiligt, siehe Erwägungsgrund 33 der EuInsVO. 42 Kohler (Fn. 3), 613, konzediert immerhin, dass sich der „Gedanke der Universalität als ein Ideal“ eigne. 38

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rium. Denn Art. 4 EuInsVO sieht vor, dass auf ein derartiges Insolvenzverfahren das Insolvenzrecht des Eröffnungsstaates, die lex concursus, anzuwenden ist. Die Eröffnung eines estländischen Konkursverfahrens entfaltet mithin all die ihm eigenen, dem estländischen Insolvenzgesetz zu entnehmenden Wirkungen in Portugal, Irland, Griechenland oder jedem weiteren Mitgliedstaat, in dem sich Vermögen des Schuldners befindet. Um dieses – mit den Augen Kohlers gesehen – radikale Konzept umzusetzen, ordnet Art. 3 Abs. 1 EuInsVO selbst die Eröffnungszuständigkeit an und flankiert diese Maßnahme mit den Artt. 16 und 17 EuInsVO, die die erwähnte, bedingungslose Wirkungserstreckung vorschreiben. Im Klartext heißt das, dass der Verwalter jenes estländischen Verfahrens mit seinem estländischen „Instrumentenkoffer“ in allen anderen Mitgliedstaaten genauso agieren kann wie bei sich daheim in Estland. bb) Allerdings – und das dürfte Kohlers bis hierhin zu erwartende Irritation ein wenig reduzieren – ist dieser Ausgangspunkt der Verordnung radikaler, als er sich selbst auf dem Papier präsentiert. Er wird nämlich durch eine Vielzahl von Modifikationen abgeschwächt, nähert sich also insoweit durchaus dem Gegenpol des Territorialitätsverständnisses an. Am krassesten ist diese Annäherung dort, wo es um den örtlichen Anwendungsbereich der Verordnung geht: Denn auch wenn er weit über das Territorium eines jeden der 26 Souveräne hinausreicht, ist er dennoch nicht universal. Vielmehr gibt sich die Verordnung in bemerkenswert spröder Manier und in erstaunlicher Ausschließlichkeit einer reinen Binnenperspektive hin. Die Beziehungen zu den jenseits der Mitgliedstaaten liegenden Rechtsordnungen – zu denen auch etwa die Schweiz gehört – sind schlichtweg ausgeblendet (und damit dem je autonomen internationalen Insolvenzrecht überantwortet). Bei Lichte betrachtet, hat die Europäische Gemeinschaft damit ein insolvenzrechtliches Instrumentarium geschaffen, das sich in großer Eindeutigkeit dem Territorialitätsprinzip verschrieben hat – nur eben, dass das betreffende Territorium über den Umfang eines jeden der Mitgliedstaaten hinaus reicht. Aber auch über diese örtliche Begrenzung hinaus finden sich in der Verordnung Annäherungen an das Territorialitätsprinzip. Mit Kohler wird man sagen können und müssen, dass die Zeit für jenes, zuvor vorgestellte radikale Konzept der reinen Universalität auch heute noch nicht gekommen zu sein scheint. Denn als Konzession an dessen Unzeitgemäßheit sieht die EuInsVO folgende zwei Einschränkungen vor: Zum einen in den Artt. 5 bis 15 EuInsVO eine nicht unbeträchtliche Reihe von Ausnahmen von der Maßgeblichkeit der lex concursus; zum anderen in den Artt. 3 Abs. 2 bis 4, 27 ff. EuInsVO die Möglichkeit, rein territorial begrenzte Parallelverfahren durchzuführen. Damit ist also weder die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung noch die Einheitlichkeit des Verfahrens zur condicio sine qua non eines europäischen Insolvenzverfahrens erhoben – ein schließlich erzielter

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Kompromiss, der das lange Zeit einem Scheitern anheim gegebene Projekt rettete. b) Das autonome internationale Insolvenzrecht Deutschlands fand in kodifizierter Form erst einige Jahre nach ihrem Inkrafttreten Eingang in die Insolvenzordnung und damit, wie schon erwähnt, auch erst geraume Zeit nach dem Inkrafttreten der Europäischen Insolvenzverordnung. Im Jahre 2003 wurden der InsO die §§ 335 bis 358 angefügt, die diejenigen Insolvenzfälle regeln, die einen grenzüberschreitenden Bezug zu anderen Ländern als gerade den Mitgliedstaaten der EuInsVO aufweisen. Diese Regelungsgruppe basiert auf dem in § 335 InsO ausgedrückten, den Artt. 4, 16 und 17 EuInsVO nachempfundenen Grundgedanken, dass ein „ausländisches Insolvenzverfahren und seine Wirkungen (. . .) dem Recht des Staats [unterliegen], in dem das Verfahren eröffnet worden ist.“ Darin kommt bereits zum Ausdruck, was § 343 InsO noch bestärkend hervorhebt, dass nämlich die Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens anerkannt wird, vorausgesetzt dass bestimmte Negativkriterien (Unzuständigkeit des eröffnenden Gerichts, Verletzung des Ordre Public) nicht verletzt sind. Mit dieser Aussage ist rechtstechnisch klargestellt, dass grundsätzlich eine automatische Anerkennung stattfindet, und dass nur ausnahmsweise eine solche verweigert werden kann. Diesem mutigen Schritt in eine noch vor einer Generation kaum vorstellbare global denkende Konzeption hinein stehen freilich – wie auch bei der europäischen Verordnung – Absicherungen der Territorialität zur Seite. So ist es auch nach autonomen deutschem Recht zulässig, §§ 354 ff. InsO, hierzulande ein partikular wirkendes Parallelverfahren durchzuführen. Und es enthalten die §§ 336 bis 340 InsO Einschränkungen der Maßgeblichkeit einer fremden lex concursus, die denjenigen der Artt. 6, 8, 9, 10 und 13 EuInsVO weitgehend entsprechen. 2. Wendet man sich nach dieser Darstellung des derzeitigen Ist-Zustandes erneut den oben angeführten Erwägungen zu, die Kohler zu einem erklärten Verfechter des Territorialitätsgrundsatzes haben werden lassen, so erkennt man zunächst die bemerkenswerte Diskrepanz zwischen seinem Ausgangspunkt und dem heutigem Zustand. Dass damit die Überzeugungskraft seiner Argumente keinesfalls erschüttert zu sein braucht, ist eine triviale Feststellung – besonders für einen jeden, der sich auch nur zeitweise mit rechtspolitischen Entwicklungen näher beschäftigt hat. Dementsprechend ist die nachfolgende Auseinandersetzung mit Kohler nicht etwa als besserwisserischer Korrekturhinweis eines Spätgeborenen zu verstehen, sondern als eine Überprüfung dessen, ob sich überhaupt – und bejahendenfalls: wo und inwieweit – die Parameter verändert haben. a) Beginnen wir mit dem rechtspolitischen Grunddatum der der Universalität inhärenten „Ueberwirkung fremder Souveränität“, welche allenfalls bei begründetem Vertrauen in die „Gerichtsübung“ der anderen Staaten denkbar und zu rechtfertigen sei. Kohler hat damit die Quintessenz eines jeden

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grenzüberschreitenden Insolvenzrechts, das sich nicht mit territorialer Abschottung begnügt, auf den Punkt gebracht. Übergriffe auf andere Staaten berühren deren Souveränität, so dass die Erlaubnis dazu nur dann vorstellbar erscheint, wenn Vertrauen in die der eigenen vergleichbare Rechtsstaatlichkeit des anderen Staates besteht. Dass hierbei sogar ein ganz erhebliches Vertrauen im Spiele steht, verdeutlicht etwa der Umstand, dass Insolvenzverfahren auch heute noch in manchen Ländern durchaus als billige Alternative zu einer Enteignung benutzt werden,43 oder dass beispielsweise die Schweiz auch heute noch keine Übergriffe fremder Insolvenzverfahren auf ihr Gebiet duldet und statt dessen ein eigenes Hilfsverfahren anbietet, das primär auf die bevorzugte Befriedigung der eigenen Bürger angelegt ist.44 aa) So nimmt es denn nicht wunder, dass die EuInsVO in ihrem Erwägungsgrund 22 das wechselseitige Vertrauen als Grundlage der Verordnung hervorhebt. Auch wenn diese Platzierung ein wenig versteckt ist, ist doch allseitig anerkannt,45 dass damit die Basis des ganzen Unterfangens angesprochen ist. Wo etwa noch im Jahre 2000 ein mehrjähriges Verfahren benötigt wurde, um die Anerkennungsfähigkeit eines deutschen Insolvenzverfahrens in Spanien festzustellen,46 war nur zwei Jahre später ein Automatismus getreten, dem allenfalls bei massiven Verstößen gegen den Ordre Public Einhalt geboten werden kann. Dass hinter diesem auf eine sprunghafte Entwicklung hindeutenden Beispiel kein allmählicher Wachstumsprozess stecken kann, versteht sich von selbst. Vielmehr dürfte der eigentliche Grund der eines politischen Veränderungswillens sein, und das politisch motivierte „fiat“ wird als Vertrauen deklariert. Wohlgemerkt, eine derartige Fehletikettierung muss nicht per se etwas Irreführendes sein: Zeigen doch das oben schon erwähnte südamerikanische Beispiel des Montevideo-Vertrages sowie dessen mehrere Folgeversuche die Möglichkeit auf, dass ein derartiger politischer Gestaltungswille durchaus auch scheitern kann. Wenn demnach mehr erforderlich ist als politische Absicht, so ist dieses „mehr“ durchaus zutreffend als „Vertrauen“ beschrieben. Dafür hatte die Europäische Gemeinschaft beim Erlass der EuInsVO mit ihrer gesamten 43

Es gibt durchaus beachtliche Verdachtsmomente, dass der unrühmliche russische Yukos-Fall auf diese Weise verstanden werden kann; siehe etwa Rechtsbank Amsterdam, Urteil vom 31.10.2007 – 355622/HA ZA 06-3612. Vgl. ferner Paulus Global Insolvency Law and the Role of Multinational Institutions, 32 Brooklyn J. of Int’l Law (2007) 755, 758; Affaki A European View on the U.S. Courts’ Approach to Cross-Border Insolvency – Lessons From Yukos, in: Affaki (Hrsg.) Fallite internationale et conflit de jurisdiction, 2007, 13. 44 Zu diesem Modell (recht einseitig und stark pro domo) Bull Recognition of Foreign Bankruptcies: Swiss Law as an Example to the World?, FS Baudenbacher 2007, 727. 45 Statt vieler Paulus (Fn. 38), Einl. Rn. 19 f. 46 Tribunal Supremo (Madrid), EWiR 2000, 889 (Paulus).

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bisherigen Prozessrechts-Politik bereits ein solides Fundament geschaffen; herausragendes Beispiel war (und ist) das Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ) bzw. seine Brüssel I-Nachfolgeverordnung (EuGVVO). Dieser gemeinsame Grundstock ist – so darf man wenigstens zum jetzigen Zeitpunkt nach nicht einmal 10-jähriger Erfahrung sagen – tragfähig genug, um die nach wie vor durchaus erheblichen Diskrepanzen zwischen den materiellen Konkurs- bzw. Insolvenzrechten der 26 Mitgliedstaaten47 aufzufangen und abzufedern. Dieses Konglomerat aus Entwicklungsprozess und starkem politischen Gestaltungswillen48 dürfte entscheidend dafür sein, dass der Verweis auf wechselseitiges Vertrauen Früchte trägt und von den Rechtsanwendern in praktische Realität transformiert wird. bb) Die beiden letztgenannten Komponenten sucht man freilich vergeblich, wenn man sich nunmehr dem deutschen autonomen internationalen Insolvenzrecht mit seiner eingeschränkten Universalität zuwendet und sich dessen Ähnlichkeit mit dem Grundkonzept der EuInsVO vor Augen führt. Im Verhältnis zu so disparaten Staaten wie etwa Australien, Nigeria, Paraguay oder Korea fehlt es sowohl an einem auch nur halbwegs kontinuierlichen gemeinsamen Entwicklungsprozess als auch an einem durchsetzungsfreudigen politischen Gestaltungswillen. Und doch bekennt sich das deutsche Recht im Grundsatz zur Universalität. Ist Kohlers Skeptik damit obsolet? Mit Sicherheit nicht, aber es hat Entwicklungen gegeben, die er (wie alle seine Zeitgenossen) seinerzeit gar nicht vor Augen hat haben können. Zum einen das Ausmaß an globalisierter Wirtschaft, in der Deutschland eine ganz maßgebliche Rolle spielt; zum anderen – und spezifisch insolvenzrechtsrelevant – die Rolle, die die Bretton Woods-Institutionen (Internationaler Währungsfonds und Weltbank) erst seit kurzem in diesem Bereich einnehmen.49 Die Ostasienkrise ganz am Ende des vergangenen Jahrhunderts hat zunächst

47 Der Internationale Währungsfonds etwa hatte in den letzten Jahren wiederholt Anlass, bei einigen Mitgliedstaaten ganz erhebliche Nachbesserungsanstrengungen anzumahnen, um die Insolvenzrechte auf einen kompatiblen Standard anzuheben. 48 Ein Beispiel dafür, dass ohne diese beiden Komponenten eine vergleichbare Erfolgsgeschichte ungleich schwerer zu erreichen ist, zeigt das Beispiel der zentralafrikanischen Organisation pour l’Harmonisation en Afrique du Droit des Affaires (OHADA; www. ohada.org), die sich ebenfalls (u.a.) ein der EuInsVO nachempfundenes insolvenzrechtliches Rahmenkonzept geschaffen hat, ohne dadurch aber bislang erhebliche Erfolge erzielt zu haben. Zu OHADA insgesamt siehe Martor/Pilkington/Sellers/Thouvenot Business Law in Africa – OHADA and the Harmonization Process, 2002; zum Insolvenzrecht Sawadogo OHADA – Droit des enterprises en difficulté, 2002, 359 ff. 49 Zum Folgenden Paulus Der Internationale Währungsfonds und das internationale Insolvenzrecht, IPRax 1999, 148; ders. Rechtsvergleichung im nationalen und internationalen Insolvenzrecht: Eine Erfolgsgeschichte, FS Geimer 2002, 795; ders. (Fn. 43), 755; ders. Die Weltbank und das Insolvenzrecht, FS Braun 2007, 447.

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den IWF auf den Plan gerufen, damit er sich für eine weltweite Modernisierung und Verbesserung der Insolvenzgesetze einsetze. Dieses Gebot haben sodann das seinerzeit neu etablierte Financial Stability Forum und die Weltbank aufgegriffen, welch letztere mit beharrlichem Eifer an einer noch vor 15 Jahren unvorstellbaren Konvergenz der Insolvenzrechte dieser Welt arbeitet. Nimmt man zu diesen Anstrengungen noch die kontinuierliche Tätigkeit der United Nations’ Commission on Internationale Trade Law (UNCITRAL) auf diesem Gebiet hinzu, so kann der heutige Betrachter ein breitflächiges Bemühen feststellen, einen weltweit sich mehr und mehr vereinheitlichenden Standard im Insolvenzrecht zu erreichen. Diese Vereinheitlichungstendenz, gepaart mit der immensen Beteiligung an dem globalen Wirtschaftsgeschehen, macht es verständlich, warum das deutsche internationale Insolvenzrecht mit einem solchen, nicht unerheblichen Vertrauensvorschuss agiert. Die in § 335 InsO implizit steckende Aufforderung an das Ausland, es möge das deutsche Insolvenzrecht im Inland anerkennen, wie auch Deutschland das ausländische Pendant anzuerkennen bereit ist, ist das in langer rechtsgeschichtlicher Erfahrung bestätigte Begehren eines jeden grenzüberschreitend wirtschaftlich Tätigen. Dieses Phänomen war Kohler selbstverständlich bekannt; was er aber nicht kennen konnte, waren die heute gegebenen äußeren Umstände. b) Nach dem Voranstehenden gestaltet sich die Auseinandersetzung mit Kohlers weiteren, oben aufgelisteten Argumenten einfacher; denn mit dem Verhältnis zu dem Duo Souveränität und Vertrauen ist die Richtung des internationalen Insolvenzrechts vorgegeben. aa) Bezogen auf den heutigen Zustand in der Europäischen Gemeinschaft könnte Kohler prophetischer kaum sein, wenn er die „Gleichartigkeit in der Rechts- und Gerichtsverfassung“ zur Voraussetzung für eine Öffnung hin zur Universalität verlangt. Wie schon erwähnt, war die auf die (heutigen) Artt. 61 lit. c und 65 EG-Vertrag gestützte Vereinheitlichung der justitiellen Zusammenarbeit in Zivilsachen schon vor Erlass der EuInsVO so weit fortgeschritten, dass sich bereits eine eigenständige Rechtsmaterie „Europäisches Zivilprozessrecht“50 herauskristallisiert hatte. Sie bildet nach wie vor das – zumindest politisch postulierte51 – Rückgrat der justitiellen Zusammenarbeit auch im Bereich des Insolvenzrechts. Und wenn Kohler in diesem Kontext des weiteren dazu auffordert, man möge sich zunächst darum kümmern, „die Gleichartigkeit des Konkurswesens bei den verschiedenen Nationen“52 zu fördern, so dürfte es ihm eine Genugtuung sein, dass man dem – wie zu50

Siehe nur statt vieler Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010. Die Rechtswirklichkeit dokumentiert, dass es in der Realisierung des gesollten Zustandes von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat große Unterschiede gibt, vgl. zuletzt Sander/ Breßler Das Dilemma mitgliedstaatlicher Rechtsgleichheit und unterschiedlicher Rechtsschutzstandards in der Europäischen Union, ZZP 122 (2009) 157. 52 Vgl. Kohler (Fn. 3), 608. 51

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vor gezeigt – nunmehr Folge leistet,53 und das auch gleich auf globaler Ebene. bb) Die bestehende sprachliche Divergenz dürfe kein Hindernis dafür sein, rechtliche Staatshilfe überall gleich leicht zu erlangen wie im eigenen Staate; Gleiches gelte auch für anwaltliche und prozessuale Vertretung. So zutreffend der Hinweis auf die sich multiplizierenden Probleme bei Sprachenvielfalt ist, so wenig ist Spracheneinheit auch schon ein Garant für das Gelingen eines universalistischen Konzepts. Das belegen die zuvor schon erwähnten wiederholten Versuche innerhalb Südamerikas, insolvenzrechtliche Übereinkommen mit Leben zu füllen; sie sind allesamt mehr oder minder gescheitert. Gleichwohl ist eine Vorschrift wie die des Art. 42 EuInsVO von essentieller Bedeutung für die Akzeptanz des europäischen Regelwerks: Sie gestattet jedem von der Verordnung erfassten Gläubiger die Anmeldung seiner Forderung in seiner eigenen Amtssprache, und sie verpflichtet die Amtsträger dazu, die Gläubiger zumindest in deren eigener Amtssprache darauf hinzuweisen, dass Forderungen in einem Insolvenzverfahren anzumelden sind. Das autonome internationale Insolvenzrecht enthält sich einer diesbezüglichen Regelung; es gilt mithin für ein in Deutschland eröffnetes Verfahren § 184 GVG, demzufolge die Amtssprache deutsch ist.54 Für ein ausländisches Verfahren gilt dann natürlich Entsprechendes, kein deutscher Gläubiger wird sich daher erfolgreich darauf berufen können, er sei etwa über die Forderungsanmeldung nur in Japanisch oder Arabisch unterrichtet worden. Auch hier gilt, dass der an sich wünschenswerte Schutz der inländischen Insolvenzbeteiligten dem höherrangigen Anliegen einer der globalisierten Wirtschaftsbeteiligung Rechnung tragenden Universalität Tribut zollen muss. Was darüber hinaus die anwaltliche Vertretung anbelangt, so beweist Kohler mit diesem Hinweis seinen scharfen Blick auch für die durch und durch praktischen Bedürfnisse des von ihm dogmatisch durchleuchteten Stoffes. Denn wer an einem Insolvenzverfahren etwa in Bangkok teilnehmen muss, wird sich regelmäßig schwer tun, einen passenden Anwalt zur Unterstützung zu finden. Dass sich hierfür zwischenzeitlich ein Markt eröffnet hat, auf dem eine Vielzahl von global vernetzten Anwaltsfirmen tätig ist, konnte Kohler beim besten Willen nicht voraussehen. Hier hat sich mit der rapiden Verbreitung insbesondere des US-amerikanischen Rechts eine völlig neue Anwaltskultur entwickelt. cc) Fast schon visionär ist die Mahnung Kohlers, es müssten für die Realisierung der Universalität die Kommunikationsmittel so erleichtert sein, dass 53

Insbesondere UNCITRAL ist nach wie vor intensiv an der Fortentwicklung des Insolvenzrechts beteiligt, vgl. Paulus Wege zu einem Konzerninsolvenzrecht, ZGR 2010 (im Erscheinen). 54 Vgl. hierzu auch Paulus Ein Plädoyer für unscheinbare Normen, JuS 1994, 367, 368.

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„uns der Personen- und Nachrichtenverkehr nach den verschiedenen Teilen der Welt keine Schwierigkeiten macht.“ Ganz in diesem Sinne arbeitet etwa die in Europa für justitielle Zusammenarbeit zuständige Behörde (dem Vernehmen nach) an einem einheitlichen Insolvenzregister, während man auf dem weltweiten Forum noch auf individuelle Benachrichtigung angewiesen ist. Demgemäß ergeben sich in der Tat ganz praktische Probleme der Insolvenzbeteiligung, wenn sich ein deutscher Gläubiger in der Gläubigergemeinschaft eines Schuldners aus einem südamerikanischen Staat (so das Beispiel Kohlers) wieder findet. Nur dass diese Probleme heute billigend in Kauf genommen werden um des höheren Zieles der Universalität Willen, während sie Kohler noch als nicht ertragbares Übel deklariert hat. dd) Und schließlich noch merkt Kohler das Fehlen einer „Gleichartigkeit in den Rechtseinrichtungen“ an, die einer Handlung der Justiz zur Durchführung und Wirkung im Ausland verhülfe. Dabei allerdings verkennt er die Möglichkeiten einer Wirkungsersteckung, wie sie die Artt. 16 und 17 EuInsVO bzw. § 335 InsO anordnen. Folge des einmal gesetzten Vertrauens in das ausländische Insolvenzrecht ist eben gerade das Akzeptieren einer Entscheidung einer ausländischen „Rechtseinrichtung“. In Europa geht diese Akzeptanz sogar so weit, dass ein Land wie Frankreich, das seit jeher sein Insolvenzrecht dem Handelsstand vorbehält, ein Verfahren wie das eines deutschen Verbrauchers nach den §§ 304 ff. InsO anerkennen muss und anerkennt. Entsprechendes gilt beispielsweise nach § 335 InsO, wenn etwa ein ausländisches Insolvenzverfahren über eine Bank oder ein Versicherungsunternehmen55 ins Inland einwirken würde. ee) Zusammengefasst zeigt sich, dass Kohlers Bedenken kontextbezogen zutreffend gewesen sind, in heutiger Zeit aber – wegen der gründlich gewandelten Parameter in Wirtschaft, Politik und Recht – nicht mehr akzeptanzfähig sein dürften. Gerade wegen ihrer nach wie vor bestehenden Diskussionswürdigkeit zeigen sie aber auch, dass die Breite des Argumentationsarsenals eine endliche ist – will sagen, dass die Überlegungen Kohlers auch heute noch hinreichend Reibungsfläche bieten, um die „moderne“ Konzeption der eingeschränkten Universalität zu verifizieren oder zu falsifizieren.

IV. Ausblick Letzteres leitet über zu einem Blick in die zukünftige Entwicklung. Dabei sollen nicht 100 Jahre gewählt werden, sondern eine kürzere Zeitspanne – eine Spanne allerdings, die gezeichnet sein dürfte von divergierenden Entwicklungen. Auf der einen Seite wird die Globalisierung der Wirtschaft vor55

Für beide Verfahrenstypen enthält das deutsche Recht Sondervorschriften.

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anschreiten, auf der anderen werden wahrscheinlich Gegentendenzen durch zumindest partielle protektionistische Enklaven aufgebaut werden; zu denen wird möglicherweise auch die Entwicklung etwa eines dem islamischen Recht adäquaten Insolvenzrechts gehören, über dessen besondere Strukturen zum gegenwärtigen Zeitpunkt, soweit mir ersichtlich, noch nichts bekannt ist. Kurzum, der Pendelschlag zwischen Territorialität und Universalität wird weitergehen. Er kann sich allerdings, im Gegensatz zur Kohler’schen Zeit, auf reichhaltigere Erfahrungen von Zwischenlösungen stützen, die von der Notwendigkeit eines wenig hilfreichen Schwarz-Weiß-Schemas befreien.

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Das Recht der Alternden Gesellschaft Das Recht der Alternden Gesellschaft Hans-Peter Schwintowski

Das Recht der Alternden Gesellschaft HANS-PETER SCHWINTOWSKI

A. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Zahlen, Daten, Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Bevölkerungsentwicklung – der Vormarsch der Alten C. Die Entwicklung des Sozialversicherungssystems . . . . . . . I. Die gesetzliche Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . 1. Die Leistungsfähigkeit der GKV . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ein neues Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Chancen für das neue Modell . . . . . . . . . . . . . II. Die gesetzliche Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . 1. Der Ist-Zustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Was getan werden könnte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Reformbremse: Die Alternde Gesellschaft . . . . . . . . . III. Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zahlen, Daten, Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wer schließt die Deckungslücke? . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Anstalten zur Schließung der Deckungslücke . . . D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Thesen Die Alten werden die Jungen ausplündern – sie werden zu den Waffen des Rechtsstaates greifen und die Jungen werden gar nicht merken, wie ihnen das Fell über die Ohren gezogen wird. Diese Tendenz, die wir in allen modernen Rechtsstaaten seit Jahrzehnten beobachten können, ist, so die Grundthese dieses Beitrags, für Alternde Gesellschaften typisch. Der Anteil an Regelungen nimmt zum einen quantitativ zu – die Alten verkraften eine höhere Regelungsdichte und Komplexität besser als die Jungen und verbarrikadieren sich hinter dem Schutzschild immer komplizierter werdender Gesetzbücher und überbordender Bürokratie. Dabei bedient sich die Alternde Gesellschaft der nachwachsenden jungen Intelligenz durch einen interessanten Schachzug. Sie bildet sie zu ihren Kämpfern und Vasallen aus – die Ritter und Leutnants der modernen Zeiten sind die jungen, hochqualifizierten, meist auch promovierten Juristen, deren

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Dichte in den modernen Rechtsstaaten geradezu exponentiell zunimmt. Allein in Deutschland wächst die Zahl der zugelassenen Anwälte pro 1.000 Einwohner jährlich zwischen 4-6%. Während sich im Jahr 1950 ca. 5.400 Einwohner einen Anwalt teilen mussten, hat sich dieses Verhältnis bis zum Jahre 2008 um den Faktor 10 verändert – nunmehr versorgen etwa 560 Menschen einen Anwalt.1 In den USA ist die Entwicklung schon erheblich weiter – auf 270 Einwohner kommt ein Anwalt; in England ist das Verhältnis 1 : 490, in Luxemburg 1 : 660 – immer mit steigender Tendenz. Heussen verweist darauf, dass die Frage, von welchen Faktoren die Anwaltsdichte genau abhängt, wissenschaftlich noch nicht untersucht worden ist.2 Diese Tatsache allein ist wissenschaftstheoretisch interessant, denn sie belegt, dass die alternde Gesellschaft gar kein Interesse daran hat, offen zu legen, wie sie die rechtlichen Strukturen im Eigeninteresse umgestaltet. Heussen vermutet, dass wesentliche Einflussfaktoren für die Anwaltsdichte die Komplexität des Rechtssystems, die politische Grundstruktur eines Landes und die kulturelle Tendenz der Konfliktbeilegung sind.3 Hinzu kommt das Ausmaß staatlicher Regulierung von Rechtsberatung und Anwaltschaft.4 Mit diesem Mittel der Regulierung schanzt die alternde Gesellschaft den jungen nachwachsenden Anwälten per Honorarrecht jene Pfründe zu, um die es sich zu kämpfen lohnt. Damit werden die Jungen zu Vasallen der Alten – sie kämpfen um deren Interessen und nicht um ihre eigenen. Da sie selbst bei diesem Kampf in erheblicher Weise profitieren und sie außerdem davon ausgehen, dass sie eines Tages die Alten beerben, fällt gar nicht auf, dass es in Wirklichkeit um einen gigantischen Umverteilungsprozess zwischen der Jungen und der Alternden Gesellschaft geht. Da die geistige Elite der Jungen Gesellschaft vor den Karren der Alten gespannt wird, legitimieren die Jungen ihren Einsatz gleich selbst, denn der Kampf mit den Mitteln des Rechtsstaates ist intellektuell herausfordernd, befriedigend und zugleich auch noch finanziell lohnend und nachhaltig auskömmlich. Wer es versteht auf der Klaviatur des Rechtsstaates zu spielen, hat in der Regel ausgesorgt. Die Legitimationskraft des Rechtsstaates wächst mit zunehmender Anwaltsdichte geradezu exponentiell – das, was die Alternde Gesellschaft will, nützt der Elite der Jungen und wird zugleich zum Vorbild für die nachwachsende junge Generation.

1 Heussen Die Anwaltsdichte in der Schweiz, Österreich und Deutschland im Verhältnis zu anderen Staaten – ein internationaler Vergleich, Anwaltsrevue De l’Avocat 2006, 392 ff.; Flessner Ältere Menschen, demographische Alterung und Recht – das Recht der Vereinigten Staaten als Beispiel, 1996. 2 Heussen (Fn. 1), 393. 3 Heussen (Fn. 1), 393. 4 Heussen (Fn. 1), 393.

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Korrespondierend zur Anwaltsdichte nimmt die Flut der Gesetze Jahr für Jahr zu.5 Sie verändern sich auch inhaltlich – es werden Altenschutzgesetze. Die Umverteilung von jung zu alt findet unmerklich und fast wie selbstverständlich statt. Die Aufwendungen für die großen sozialen Sicherungssysteme (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung) nehmen kontinuierlich zu. Der Gedanke der Nachhaltigkeit beeinflusst große Teile der Gesetzgebung, nicht nur, aber auch, im Umweltrecht, im Energierecht, im Baurecht, im Straßenverkehrs- und Lebensmittelrecht, im Agrarrecht, im Wasserrecht, um nur einige Beispiele zu nennen. Nachhaltigkeit brauchen nur Gesellschaften, die altern. Junge Gesellschaften, also Gesellschaften, bei denen über 20% der Gesamtgesellschaft zwischen 15 und 24 Jahren ist,6 kümmern sich nicht um Nachhaltigkeit, sie kümmern sich auch nicht um soziale Absicherung, jedenfalls bei weitem nicht in dem Ausmaß, in dem dies Alternde Gesellschaften tun. In Alternden Gesellschaften fällt fast nicht auf, dass der Faktor Nachhaltigkeit eine massive Umverteilungskomponente beinhaltet, die aber weder als solche wahrgenommen noch als solche diskutiert wird. In einer Alternden Gesellschaft sind langfristige auf Nachhaltigkeit angelegte Sicherungssysteme schon ihrer Natur nach legitimiert – das empfinden nicht nur die Alten, sondern auch die Jungen so, d.h. die Jungen unterstützen die Absicherung der Wünsche und Bedürfnisse der Alten – sie bemerken nicht, dass sie als Lämmer zur Schlachtbank geführt werden. Dies alles – und das ist die letzte These – ist unumkehrbar. Das Recht der Alternden Gesellschaft wurzelt – ebenso wie das Recht einer jungen Gesellschaft – in evolutionären Prozessen. Der Stärkere setzt sich durch – stärker sind in den nächsten 50–70 Jahren die Älteren. Die meisten von ihnen wis5 Der Bestand des geltenden Bundesrechts lag im Jahre 2004 bei ca. 85.000 Einzelnormen, verpackt in ca. 1.928 Gesetze und 2.946 Rechtsverordnungen. Jahr für Jahr kommen etwa 330–550 neue Gesetze hinzu. In der 14. Legislaturperiode waren es sogar 559: http:// dip.bundestag.de/gesta/GESTA.online.14pdf/13.12.04. 6 Der Bremer Völkermordforscher Gunnar Heinsohn hat hierfür den Begriff „youth bulge“ geprägt und in seinem Werk „Söhne und Weltmacht“, 2003, die These entwickelt, dass in Gesellschaften mit dieser Altersverteilung, wie sie typisch ist etwa für Palästina, Pakistan oder Indonesien, die (Bürger-)Kriegsgefahr erheblich steigt. Die „überzähligen Söhne“ seien auf der Suche nach Status zu allem bereit – auch zu Gewalt. Eine Untersuchung des Berlin-Institutes für Weltbevölkerung von Steffen Kröhnert, Jugend und Kriegsgefahr, zeigt, dass in Gesellschaften mit einem Überschuss an Jugendlichen zwischen 19 und 21% das Kriegsrisiko in der Tat steigt, allerdings wieder absinkt, wenn der Anteil an jungen Menschen an der Gesamtbevölkerung größer als 21% ist. Die genauen Ursachen für dieses Absinken sind noch nicht erforscht und begriffen – möglicherweise spielt die Korrelation zwischen Anteil der Alten und der Jungen an einer Gesellschaft eine größere Rolle als bisher angenommen. Beim typischen youth bulge gibt es genügend Alte, die die 20% Jungen für ihre Ziele „einsetzen und manipulieren“ können. Bei Gesellschaften mit einem noch höheren Jugendanteil könnte die Festlegung auf Ziele der großen Leitfiguren schwierig sein, weil es zu wenige von diesen Leitfiguren gibt.

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sen dies noch gar nicht. Sie sind heute zwischen 30 und 40 Jahren alt. Aber in 20 bis 30 Jahren werden sie die Schalthebel dieser Gesellschaft bedienen – sie werden die wahlentscheidende Gruppierung sein und sie werden das tun, was ihnen nützt. Dabei werden sie scheinheilig behaupten, dass ihre Entscheidungen dem Gemeinwohl dienen. Tatsächlich aber werden die Alten verbrannte Erde hinterlassen – ihr Mittel dazu wird der Rechtsstaat sein. Die Jungen werden das Spiel nicht durchschauen – auch das ist Teil des evolutionären Prozesses. Sie werden um das Jahr 2080 in einem Erkenntnisdilemma stecken. – In dem einen Teil der Welt werden die Alten Strukturen hinterlassen, die für die Jungen langfristig nicht passen und nicht tragen. Die Jungen werden nicht wissen, wie sie mit diesen Strukturen umgehen sollen. Im anderen Teil der Welt, der von exzessivem Bevölkerungswachstum7 geprägt sein wird, werden die Jungen von einer Katastrophe in die nächste taumeln. In diesen von Gewalt und Bürgerkriegen geprägten Teilen der Welt wird niemand mehr die Kraft haben, den ausblutenden Nationalstaaten die Korsettstangen der Nachhaltigkeit und Sicherheit einzuziehen. So wird man denn dem Leviathan der Alternden Gesellschaft, dem Rechtsstaat, in beiden Teilen der Welt pompöse Denkmale errichten, weil das Zeitalter der Alternden Gesellschaft als das „wahrhaft goldene“ in die Geschichtsbücher eingehen wird. Wie wird es danach weitergehen? Auf jeden Fall evolutionär. Vielleicht kehren die Jungen zu jenen Formen der Auseinandersetzung zurück, die das Zeitalter des Frühkapitalismus geprägt haben, zu einer Zeit also, in der schon einmal eine vordem reiche, aber alte Gesellschaft (der Adel im Alten Europa) durch eine junge dynamische Gesellschaft (die Industriegesellschaft) abgelöst wurde. Wie auch immer, wir befinden uns in der Bundesrepublik Deutschland mitten im Herzen des „Alten Europa“ auf den letzten Stufen vor Beginn des Goldenen Zeitalters der Alternden Gesellschaft. Golden, geradezu diamanten, wird es für die Alten sein. Aber die Jungen werden nicht rebellieren, sie werden der Logik der Alternden Gesellschaft erliegen und eben jene goldenen Zustände anstreben, die ihre Eltern und Großeltern ihnen vorlebten. Dabei werden sie nicht bemerken, dass sie in Wirklichkeit von der Alternden Gesellschaft ausgeplündert und zu willfährigen Werkzeugen dritter Interessen degeneriert werden. Die Waffe der Alten wird der Rechtsstaat sein. Der Satz von Bärbel Bohley: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ wird am Nagel der Wiedervereinigung Deutschlands abgehängt werden, aber keine darüber hinausweisende Kraft entfalten. Der Rechtsstaat ist stark, komplex und vor allem in seinen Umverteilungswirkungen intransparent. Entscheidend ist allein, wer die Mehrheit hat und insoweit besteht kein Zweifel – in der Alternden Ge7 Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Die demografische Zukunft von Europa.

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sellschaft, die in diesen Zeiten beginnt und im Jahre 2040–2060 ihre Blüte erleben wird, haben die Alten das Sagen.

B. Zahlen, Daten, Fakten I. Die Bevölkerungsentwicklung – der Vormarsch der Alten Eine im nestor-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin entstandene rechtsbiometrische Arbeit8 kommt zu dem Ergebnis, dass die Bevölkerung von 2004 bis 2030 um 2,4 Mio., bis 2050 um 10,5 Mio. und bis 2070 um fast 19 Mio. schrumpft. Der Rückgang ist ab 2040 intensiver, da die starke Generation der Babyboomer (Geburtsjahr 1964) ausstirbt. Die Zahlen basieren – dank der stochastischen Modellierung – auf flexibleren Annahmen als die Prognosen des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahre 2006. Zeitgleich nimmt die Anzahl der Menschen über 65 Jahre zu. Im Jahre 2007 gibt es 16,3 Mio. 65-jährige. Diese Zahl steigt bis zum Jahre 2030 auf 22,6 Mio. an. Sie liegt im Jahre 2050 bei 22,7 Mio. Umgekehrt sinkt die Zahl der Personen im Erwerbsalter von 50 Mio. im Jahre 2007 bis zum Jahr 2030 um 5,7 Mio. und um weitere 6,3 Mio. bis zum 2050. Im Jahre 2070 sind nur noch 32,2 Mio. Menschen im erwerbsfähigen Alter. Das sind 17 Mio. weniger als im Jahre 2007.9 Der Altenquotient mit der Altersgrenze 65 verdoppelt sich von 30% (2007) auf 60% im Jahre 2040 und steigt dann bis zum Jahre 2074 auf 64% an.10 Der Altersquotient mit der Altersgrenze 67 hat einen analogen Verlauf. Er verdoppelt sich von 26% (2007) auf 53% im Jahre 2040 und steigt im Jahre 2074 auf 57% an.11 Diese Zahlen, Daten und Fakten sind im Grundsatz allgemein anerkannt – sie variieren im Zeitablauf nur leicht etwa gegenüber den Prognosen des Statistischen Bundesamtes (2006) oder den Berechnungen von Hans-Werner Sinn.12 Im Ergebnis heißt dies, dass die Bevölkerungszahl in Deutschland abnimmt und die Lebenserwartung steigt. Diese Veränderung hat große Aus8 Mysickova Stochastische Bevölkerungsvorausberechnung für Deutschland und ihre Bedeutung für ein zukünftiges Rentenmodell, November 2007; Mysickova Stochastic Population Forecast for Germany and its Consequence for the German Pension System, Discussion paper 009/2009, SFB649, Humboldt-Universität zu Berlin; aus juristischer Perspektive: Klinge Ein zukünftiger Altersrentenvertrag unter Wettbewerbsbedingungen, 2008, passim. 9 Mysickova (Fn. 8), 48. 10 Mysickova (Fn. 8), 49. 11 Mysickova (Fn. 8), 49. 12 Das demographische Defizit – die Fakten, die Folgen, die Ursachen und die Politikimplikationen, in: Birg (Hrsg.) Auswirkungen der demographischen Alterung und der Bevölkerungsschrumpfung auf Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, Plenarvorträge der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Demographie an der Universität Bielefeld, 2004, 53–90.

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wirkungen auf die Versorgung der Menschen, „denn es gibt immer weniger Personen im Erwerbsalter, die die Rentner versorgen können.“13 Beides ist hochproblematisch, die weniger werdenden jungen Menschen müssen nicht nur die Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung, sondern darüber hinaus das immer teurer werdende gesetzliche Krankenversicherungssystem und das Pflegeversicherungssystem finanzieren. Sie müssen aber auch für ihr eigenes Alter vorsorgen. Das heißt, bei höher werdenden Belastungen und daraus resultierendem geringer werdenden Einkommen werden die Lasten für die jungen Menschen kaum mehr bezahlbar sein. Schon heute versorgen 40 Mio. Erwerbsfähige 42 Mio. Nichterwerbsfähige, davon 17 Mio. Rentner, 17 Mio. Kinder und 8 Mio. Hartz-IV-Empfänger.14 Dieses Szenario wird sich deutlich zu Lasten der Erwerbsfähigen bis zum Jahre 2074 verschieben. Die Leistungsträger der Gesellschaft werden versuchen, Territorien zu finden, in denen ihre Belastung geringer ist (evtl. Schweiz, USA oder Kanada), sodass der Druck auf die junge Generation, die in der Bundesrepublik verbleibt, noch stärker werden wird. Obwohl diese Erkenntnisse bekannt und keineswegs neu sind, gibt es nur außerordentlich schwache Versuche, das System der sozialen Sicherung auf neue Füße zu stellen, um auf diese Weise die immer lauter tickende „demografische Zeitbombe“15 zu entschärfen. Drei Beispiele sollen dies zeigen:

C. Die Entwicklung des Sozialversicherungssystems I. Die gesetzliche Rentenversicherung 1. Die Leistungsfähigkeit der GRV Die Deutsche Rentenversicherung Bund erbringt unterschiedliche Leistungen – der Löwenanteil (89,92%) liegt aber bei den Rentenausgaben.16 Die 13

Mysickova (Fn. 8), 53. Zahlen von Heinsohn in einem Brief an den Verfasser. 15 So Miegel Die deformierte Gesellschaft – wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen, 2002, 13 ff. 16 Weiterführende Literatur: Schlussbericht der Enquête-Kommission Demografischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an die Einzelnen und die Politik, BT-Drucks. 14/8800 vom 28.3.2002; Becker Die alternde Gesellschaft – Recht im Wandel, JZ 2004, 929–938; Klinge (Fn. 8); Sunstein Gesetze der Angst, 2005; Mayr Das ist Evolution, 2003; Luhmann Legitimation durch Verfahren, 1983; Miegel (Fn. 15); Breit (Hrsg.) Die alternde Gesellschaft, 2005; Reichert/Gösken/Ehlers (Hrsg.) Was bedeutet der demografische Wandel für die Gesellschaft?, 2007; Hank Generationenbeziehungen im alternden Europa, MEA-Diskussionspapier 161/2008; Fehr/Halder Alternde Bevölkerung, öffentliche Budgets und intergenerative Wohlfahrt, FE 377/4-1; Börsch-Supan Gesamtwirtschaftliche Folgen des demografischen Wandels, MEA-Studie 51-2004; Preis Alternde 14

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im nestor-Institut vorgenommenen Berechnungen konzentrieren sich auf die Renten wegen Alters- und Witwen-/Witwerrenten. Waisenrenten wurden vernachlässigt, weil sie nur 0,4% der Gesamtausgaben der deutschen Rentenversicherung bilden. Die Ausgaben im heutigen Rentensystem werden kontinuierlich steigen. Das System kostete im Jahr 2007 149 Mrd. EUR. Die Kosten steigen im Jahre 2010 auf 151,1 Mrd. EUR, bis 2030 auf 179,1 Mrd. EUR, bis 2040 auf 201,9 Mrd. EUR und sinken dann bis 2050 auf 187,9 Mrd. EUR. Auf der Grundlage der äußerst optimistischen Annahmen der Rürup-Kommission17 führt dies zu einer Beitragserhöhung von 23,8% ab 2040. Die Bundeszuschüsse, also die Zuweisungen an die gesetzliche Rentenversicherung aus dem Steuertopf, betragen weiterhin 24%. 2. Ein neues Modell Obwohl also allein die zusätzlichen Lasten der gesetzlichen Rentenversicherung für die Generation um das Jahr 2040 nahezu unerträglich hoch sein werden, wird an diesem System von den heute Regierenden, die im Jahre 2040 zu der pensionierten und von diesem System profitierenden GeneraArbeitswelt, Beitrag zum 67. Deutschen Juristentag 2008; Oeppen/Vaupel Broken Limits to Life Acpectency, Science 2002, 1029 ff.; Binswanger/Schunk What is an adaquat standard of living during retirement?, MEA-Studie vom 25.9.2008; De Grey Resistance to debate on how to postpone aging is delaying progress at costing . . ., EMBO reports, VOL 6, 2005, 49–53; Fasshauer Das Principle-Agent-Verhältnis zwischen Bevölkerung und Politik als zentrales Problem der Alterssicherung in Deutschland, 2001; Preis/Kellermann Reform des Sozialstaats zwischen Sozialstaatsprinzip und Grundrechtsschutz, Die Sozialgerichtsbarkeit 1999, 329–340; Berkel/Börsch-Supan/Ludwig/Winter Sind die Probleme der Bevölkerungsalterung durch eine höhere Geburtenrate lösbar?, Verein für Sozialpolitik 2004, 72–90; Preis Ein modernisiertes Arbeits- und Sozialrecht für eine alternde Gesellschaft, NZA 2008, 922; Giesen Die „alternde Arbeitswelt“ vor arbeits- und sozialrechtlichen Herausforderungen, NZA 2008, 905; Milleniums-Erklärung der Vereinten Nationen, verabschiedet von der Generalversammlung zum Abschluss des vom 6. bis 8.9.2000 abgehaltenen Milleniumsgipfels in New York; Kröhnert Jugend und Kriegsgefahr – welchen Einfluss haben demografische Veränderungen auf die Entstehung von Konflikten?, BerlinInstitut; Heinsohn Die demografische Kapitulation, Cicero, Juni 2007; Kreibich Zukunftsforschung für die gesellschaftliche Praxis, Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, Arbeitsbericht Nr. 29/2008; Positionspapier Rente der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (SRzG); Kohli Generationengerechtigkeit ist mehr als Rentenfinanzierung, Zeitschrift für Gerontologie und Geriatri 34 (2002) 129–138; Künemund Beschäftigung, demografischer Wandel und Generationengerechtigkeit, in: Länge/Menke (Hrsg.) Generation 40+, Demografischer Wandel und Anforderungen an die Arbeitswelt, 2007, 11–32; Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland – Bericht der Sachverständigenkommission an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 8/2005; Handbuch Generationengerechtigkeit, herausgegeben von der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (SRzG). 17 Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung (Hrsg.) Abschlussbericht der Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme unter Vorsitz von Bernd Rürup, 2003.

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tion gehören wird, eisern festgehalten. Dabei gäbe es Möglichkeiten, das System so umzubauen, dass es für die Bürger insgesamt nicht nur höhere Leistungen im Alter sondern bis zum Jahre 2070 Einsparungen im Umfang von 4,13 Billionen EUR mit sich bringen würde. Der Staatsanteil läge zu diesem Zeitpunkt nahezu bei null. Das System würde sich von selbst finanzieren. Ein Vorschlag für dieses Konzept wurde auf der Grundlage der Arbeit von Alena Mysickova vom nestor-Institut Anfang 2009 vorgelegt.18 Im Kern ginge es darum, jedem Bürger der Bundesrepublik Deutschland in Zukunft im Alter von 67 eine monatliche Rente in Höhe von 1.000 EUR (statt heute durchschnittlich 730 EUR) zu gewähren. Die Hälfte hiervon (500 EUR) würde – wie bisher – umlagefinanziert. Die andere Hälfte (500 EUR) würde kapitalgedeckt finanziert werden. Der Sparvorgang für den kapitalgedeckten Teil könnte ab Geburt beginnen. Damit würde sich die Zinseszinsphase um mehr als 30 Jahre verlängern. Die Mysickova-Studie zeigt19 die finanziellen Wirkungen des alten und des neuen Systems. Bis zum Jahre 2015 sind die Belastungen fast deckungsgleich. Ab dem Jahre 2020 wird das heutige System immer teurer, es verursacht im Jahre 2040 Kosten von 201,92 Mrd. EUR. Im Vergleich dazu kostet das neue System zu jener Zeit 40 Mrd. EUR pro Jahr weniger. Der Abstand erhöht sich im Zeitablauf. Im Jahre 2050 kostet das alte System ca. 188 Mrd. EUR, während das neue 50 Mrd. EUR billiger ist und im Jahre 2070 liegt der Abstand bei 55 Mrd. EUR. Zu dieser Zeit ist der Staatsanteil auf nahezu null gesunken. Das System finanziert sich von nun an von selbst. Dabei ist zu bedenken, dass die Menschen im neuen System eine Basisrente von 1.000 EUR/mtl. bekommen, während sie im heutigen System mit einer deutlich niedrigeren Rente auskommen müssen (730 EUR/mtl.). Die Studie zeigt, dass die Einspareffekte im neuen System gewaltig sind. Aufsummiert kostet das heutige System bis zum Jahre 2010 ca. 620 Mrd. EUR – das neue ca. 560 Mrd. EUR (also 60 Mrd. EUR weniger), hätte man im Jahre 2008 umgestellt. Die Einspareffekte führen zugleich dazu, dass die Menschen deutlich mehr Geld im Portemonnaie haben werden. Mit diesem Geld gelingt es ihnen nach den Schätzungen des nestor-Institutes (mehr als Schätzungen können es im Moment nicht sein), den notwendigen kapitalgedeckten Rentenanteil (500 EUR/mtl.) anzusparen – aller Wahrscheinlichkeit nach reicht das Geld aber für eine sehr viel bessere und höhere Altersrente, wobei es im Einzelfall darauf ankommen wird, wann mit den Einzahlungen begonnen wird, wie lange also der Zinseszinseffekt andauert. In den Jahren nach 2010 nehmen die Ersparnisse drastisch zu und zwar wie folgt: 18 Schwintowski Auskömmliche und bezahlbare Rente für alle – ein neues Modell für Deutschland (Arbeitspapier). 19 Mysickova (Fn. 8), Tabelle 6.1, 61.

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Tabelle 1: Jahr

Heutiges System

Neues System

Entlastung

Bis 2020

2.620

2.420

200

Bis 2030

5.000

4.380

620

Bis 2040

7.730

6.380

1.350

Bis 2050

10.430

8.160

2.270

Bis 2060

12.880

9.730

3.150

Bis 2070

15.360

11.230

4.130

Bis zum Jahre 2070 werden Staat und Bürger also um 4,13 Billionen EUR entlastet. Dies ist nur wegen Ausnutzung des Zinseszinseffektes möglich. Die Annahmen, die die Mysickova-Studie macht, sind dabei sehr konservativ. Sie geht davon aus, dass erst vom 30. Lebensjahr an in das neue System eingezahlt wird. In der Lebenswirklichkeit wird es eine Vielzahl von Personen geben, die sehr viel früher mit den Einzahlungen beginnen können und wollen. Teilweise wird sogar ab Geburt eingezahlt werden. Hierin liegt auch die große Chance des neuen Systems. Wer nämlich ab Geburt ca. 30 EUR/ mtl. in das System einzahlt, erlangt durch den Zinseszinseffekt nach Ablauf von 67 Jahren eine monatliche Rente von etwa 500 EUR. Die Angaben sind inflationsbereinigt, deshalb wurde nur mit einem 2,5%igen Effektivzins gerechnet. Das heißt, die tatsächlichen Zahlungen liegen nominell höher. Erreicht wird auf diese Weise, dass die Menschen langfristig einen Betrag in den Händen halten, der 1.000 EUR/mtl. nach heutiger Kaufkraft entspricht. Das Gesamtsystem ist nur zu 50% kapitalgedeckt – die anderen 50% bleiben umlagefinanziert. Damit ist die Abhängigkeit vom Kapitalmarkt im Fälligkeitszeitpunkt der kapitalgedeckten Vorsorge – entsprechend den Vorschlägen des Wissenschaftlichen Beirats beim BMWi20 – angemessen und vertretbar begrenzt. Zu bedenken ist, dass die Weltbevölkerung insgesamt zunimmt, ebenso wie das globale Gesamtbruttosozialprodukt. Nur in einigen wenigen Ländern – vor allem Europa, Russland und China – findet eine Überalterung statt. Die Absicherung eines Teils der Rentenlast durch Kapitaldeckung wird im Fälligkeitszeitpunkt der jeweiligen Renten nicht zu einer Überlastung der Kapitalmärkte führen, weil diese wegen der Gesamtweltentwicklung stetig wachsen. Sollte das Gesamtweltwirtschaftssystem – ähnlich, wie wir es im Jahre 2009 durch die Finanzkrise erlebten – auf Dauer kollabieren, so wird das Rentenversprechen, das hier diskutiert wird, nicht eingehalten werden können. Das gilt aber sowohl für den umlagefinanzierten Teil als auch für die Kapitaldeckung. Bei einer Weltwirtschaftskrise 20 Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMWi, Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, 1998, 12, 57 ff.

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bricht immer das Gesamtsystem zusammen, ganz gleich, ob es auf dem Prinzip der Umlage oder der Kapitaldeckung beruht. In einer solchen Situation müssten sich die Bevölkerungen – wie etwa nach dem Zweiten Weltkrieg – neu orientieren. Das vom nestor-Institut vorgeschlagene Konzept einer flächendeckenden, jedem Bürger zu gewährenden Basisrente in Höhe von 1.000 EUR/mtl. könnte sofort eingeführt werden. Alle Bürger/innen würden gleichbehandelt werden. Sie bekämen mehr als heute und hätten eine präzise Planungssicherheit über ihre Altersmindestvorsorge. Würden wir dieses Konzept heute umsetzen, so benötigten wir dafür eine Übergangszeit von ca. 27 Jahren. Dabei könnte der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung sofort auf 10% gesenkt werden. Er würde 2030 bis zum Jahre 2070 langsam bis auf 15% ansteigen. Gleichzeitig würde der Bundeszuschuss stetig reduziert. Er betrug im Jahre 2008 ca. 56 Mrd. EUR und würde bis zum Jahre 2050 auf 7 Mrd. EUR sinken. Ab 2060 würde der Bundeszuschuss weniger als 1 Mrd. EUR pro Jahr betragen. 3. Keine Chancen für das neue Modell Obwohl die Einführung eines solchen Rentensystems jeden Bürger langfristig besser stellen würde und mit gigantischen Einspareffekten verbunden wäre, ist die Reaktion der Politik auf dieses Modell – wenn man überhaupt von einer Reaktion sprechen kann – verhalten bis ablehnend. Der vom Land Baden-Württemberg eingesetzte Ausschuss zur Entwicklung eines neuen Altersvorsorgesystems (PROSA) hat das Modell rundweg abgelehnt. Der Ausschuss war mit allen Kräften des öffentlichen und politischen Lebens paritätisch besetzt und spiegelt sozusagen die Grundstruktur der bundesrepublikanischen Gesellschaft wider. Ein derartig radikaler Systemwechsel – so der Tenor im Ausschuss – sei der Bevölkerung nicht zu vermitteln. Das derzeitige System der gesetzlichen Rente beruhe auf dem Äquivalenzprinzip. Dieses Prinzip, bei dem davon ausgegangen wird, dass die Altersrente dem Lebenseinkommen äquivalent und damit auskömmlich ist, dürfe, so der Arbeitskreis PROSA, nicht in Frage gestellt werden. Der Einwand der Wissenschaft, dass die angebliche Äquivalenz der Altersrente gerade einmal dazu führe, dass den Rentnern im Durchschnitt monatlich ein Betrag in Höhe von 730 EUR zufließe, wurde nicht gelten gelassen, weil die Höhe der Altersrente (was zutrifft) individuell differiere. Die Tatsache, dass eine 27jährige Übergangszeit vorgeschlagen wurde, sodass jeder Bürger in unserem Lande hinreichend Zeit hätte, sich auf das neue Modell einzustellen, wurde gar nicht erst diskutiert. Die unglaublichen Einspareffekte, allein bis zum Jahre 2070 mehr als 4,1 Billionen EUR, spielten überhaupt keine Rolle in der Diskussion. Die Tatsache, dass das gebräuchliche umlagefinanzierte Rentenversicherungssystem den Zinseszinsfaktor völlig vernachlässigt, be-

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eindruckte die Vertreter des Arbeitskreises PROSA ebenso wenig wie das Argument, dass mit dem Fortführen des derzeitigen Systems die immer älter werdende Generation die Jüngeren belasten werde. Sehr ähnlich reagierten einige wenige Bundestagsabgeordnete, denen das Konzept des nestor-Institutes bisher vorgestellt werden konnte. Sie alle wiesen in den Gesprächen darauf hin, dass ein Systemwechsel dieser Größenordnung den Wählern praktisch nicht vermittelbar sei. Lieber laufe man in eine Rentenfalle hinein, als sich mit einem solchen Systemwechsel zu beschäftigen. Die Konsequenz, die aus derartigen Reaktionen gezogen werden muss, entspricht der eingangs geäußerten Grundthese: Die älter werdende Generation setzt ihre Interessen gegenüber der jüngeren Generation mithilfe des Rechtsstaates ohne Rücksicht auf Verluste selbst dann durch, wenn intelligente Konzepte auf dem Tisch liegen, die einen Systemwechsel erlauben würden. Ältere Menschen reagieren ungern auf etwas Neues und Fremdes. Das scheint eine Erfahrung der Evolution zu sein. In der zunehmenden Altersstarre, die vielfach als Altersweisheit bezeichnet wird, liegt offenbar ein Evolutions- und damit Überlebensvorteil. Wer es schafft, in einer Gesellschaft älter zu werden, gehört zu den Erfahrenen, den Angesehenen, den Durchgesetzten und damit auch denjenigen, die über die finanziellen Ressourcen innerhalb der Gesellschaft verfügen. Dieser Teil der Gesellschaft prägt die Arbeit der Parlamente, der Ministerien und der Justiz. Bevor eingeführte und etablierte Systeme, wie das gesetzliche Rentensystem, über Bord geworfen werden, bedarf es entweder eines Weltkrieges oder einer gigantischen Naturkatastrophe, die derjenigen gleichkommen müsste, die zum Aussterben der Saurier geführt hat. Bloße Einspareffekte, wie sie die nestor-Studie zeigt, sind jedenfalls kein hinreichendes Argument, um ein tradiertes, wenn auch in vielerlei Hinsicht höchst ungerechtes, Altersvorsorgesystem durch eine gerechtes, faires und viel leistungsfähigeres System zu ersetzen. Die Alternde Gesellschaft setzt ihre Erstarrung mithilfe des Rechtssystems durch. Dieses System ist hochkomplex, von vielerlei gegenläufigen Wirkungen abhängig, beruht auf vielfältigen Grundannahmen und Werturteilen und ist damit sowohl juristisch als auch ökonomisch grundlegend diskutier- und angreifbar. Was kann es Schöneres als ein hochkomplexes intransparentes System geben, wenn man seine eigenen Pfründe und Interessen wahren will? Die Alternde Gesellschaft wird am Gesetzlichen Rentensystem festhalten, obwohl – wie die nestor-Studie gezeigt hat – ein intelligenteres, außerordentlich faires, alle Menschen einbeziehendes System zur Verfügung steht, das sehr viel preiswerter, sehr viel nachhaltiger, sehr viel stabiler und damit letztlich sogar generationsübergreifend wäre. Es wird zu diesem neuen System nicht kommen, weil die Alternde Gesellschaft kein Interesse an einem solchen Systemwechsel hat. Er würde nämlich dazu führen, dass die jüngere Generation tendenziell entlastet und die alternde Generation tendenziell ein Stückchen belastet

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werden würde. Es würde sich um eine sehr kleine Belastung handeln und es würde nicht einmal alle treffen, die älter werden. Aber: Man müsste völlig neu denken und neues Denken verlangen älter werdende Gesellschaften immer nur von der jüngeren nachwachsenden Generation, niemals aber von sich selbst.

II. Die gesetzliche Krankenversicherung 1. Der Ist-Zustand Nahezu 90% der Bevölkerung gehören der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) an.21, 22 Die Gesundheitsausgaben stiegen von 1996 bis 2006 um fast die Hälfte auf 240 Mrd. EUR, während das Bruttoinlandsprodukt in derselben Zeit nur knapp ein Drittel zulegte.23 Das bedeutet, in Deutschland werden etwa 11% des BIP für Gesundheitsleistungen ausgegeben. Die Tendenz ist steigend. Bis zum Jahre 2015 werden 13% erwartet.24 Damit liegt Deutschland in der Spitzengruppe der G8-Staaten – aber auch in anderen Staaten liegen die Gesundheitsausgaben bezogen auf das BIP auf Rekordhoch (USA 2005: 15,3% des BIP).25 In einigen Kategorien weicht Deutschland erheblich vom Länderdurchschnitt ab. So gibt es in Deutschland pro 1.000 Einwohner 8,5 Krankenhausbetten – nur in Japan ist die Bettenzahl höher. Die international durchschnittliche Bettenzahl liegt dagegen bei nur 5,9 pro 1.000 Einwohner, das heißt in Deutschland wird eine Überkapazität vermutet.26 Auch die durchschnittliche stationäre Verweildauer eines Patienten ist mit 10,2 Tagen relativ hoch, sie beträgt etwa in Dänemark nur 5,4 21 Blankart/Fasten/Schwintowski Das deutsche Gesundheitswesen zukunftsfähig gestalten, 2009, 9 ff. 22 Weiterführende Literatur: Merz (Hrsg.) Wachstumsmotor Gesundheit, 2008; Postler Modellrechnungen zur Beitragssatzentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung, Diskussionsbeiträge der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der Universität DuisburgEssen, Papier Nr. 298, 2003; Fetzer/Moog/Raffelhüschen Zur Nachhaltigkeit der Generationenverträge: Eine Diagnose der Kranken- und Pflegeversicherung, Diskussionsbeiträge 99/01; Hof Auswirkungen und Konsequenzen der demografischen Entwicklung für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, Gutachten im Auftrag des GDV, 2001; Ulrich Demografische Effekte auf Ausgaben und Beitragssatz der GKV, Diskussionspapier 09-03. 23 Deutsche Bank Research vom 12.6.2006, Demografische Entwicklung begünstigt Mediziner. 24 Deutsche Bank Research (Fn. 23). 25 Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 8. 26 Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 9 unter Hinweis auf die Studie von Erlandsen Improving the Efficiency of Health Care Spending: Selected Evidence on Hospital Performance, OECD Economics Department Working Papers, No. 555, OECD publishing, 2007.

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Das Recht der Alternden Gesellschaft

Tage, in Italien 7,7, Schweden 6,1 und im Gesamtdurchschnitt 8,1 Tage.27 Im internationalen Effizienzvergleich von OECD-Ländern landet Deutschland mit Platz 22/23 auf einem abgeschlagenen Platz. Dies bedeutet, es besteht erheblicher Bedarf an Veränderungen hin zu einem effizienten System.28 Darüber hinaus ist Deutschland auch im internationalen Vergleich ausgewählter Krankheitsbilder zum Teil weit abgeschlagen und befindet sich bei einigen Krankheitsbildern auf dem vorletzten Platz.29 Tabelle 2: Qualitätsranking ausgewählter Krankheitsbilder im OECD-Vergleich (Quelle: OECD, 2008) Indikator

Rang Deutschland

5-jährige Überlebenswahrscheinlichkeit Gebärmutterhalskrebs

18 von 19

5-jährige Überlebenswahrscheinlichkeit Brustkrebs

18 von 19

5-jährige Überlebenswahrscheinlichkeit colorektale Tumore (Männer)

9 von 11

Stationäre Sterberate – bei hämorrhagischem Schlaganfall

7 von 23

Stationäre Sterberate bei ischämischem Hirninfarkt

12 von 23

Stationäre Sterberate – Myokardinfarkt

20 von 24

Sterberate Asthma

14 von 25

Das schlechte Abschneiden Deutschlands im internationalen Vergleich ist von medizinischer Seite weitgehend unwidersprochen geblieben.30 Dies bedeutet, dass die systemimmanenten Defizite bei dennoch sehr hohen Ausgaben auf hohe Effizienzpotenziale hinweisen.31 Treiber auf der Ausgabenseite sind die demografische Entwicklung, der medizinisch-technische Fortschritt sowie die Nachfragesteigerung von Gesundheitsleistungen auf Seiten der Konsumenten.32 Paradigmatisch ist die in Deutschland stetig wachsende Ärztedichte – im Jahre 1970 gab es ca. 127.000 Ärzte in Deutschland – d.h. ein Arzt betreute 615 Einwohner. Im Jahre 2004 war die Zahl der Ärzte auf ca. 307.000 gestiegen. Ein Arzt betreute 270 Einwohner.33 Hinzu kommt ein Effekt, der von J.-M. von der 27 28 29 30 31 32 33

Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 11. Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 13. Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 13. Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 13. Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 13. Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 30. Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 30.

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Schulenburg im Jahre 1987 erstmals beschrieben wurde.34 Von 1980 bis 1984 stieg die Zahl der niedergelassenen Ärzte um 9%, während die Zahl der Behandlungsfälle um 1% sank. Mehr Ärzte mussten sich also eine rückläufige Zahl von Patienten teilen, sodass die Annahme nahe liegt, das ärztliche Einkommen müsse beträchtlich gesunken sein. Tatsächlich stieg aber das Honorarvolumen der Ärzte um 20% – die Zahl der Einzelleistungen pro Krankenschein nahm um ca. 19,1% zu.35 Dies bedeutet, dass bei zunehmender Ärztezahl auch die Gesundheitsausgaben aufblähen.36 Hinzu kommt, dass im deutschen System völlig intransparent bleibt, welcher Patient in welchem Lebensalter welche Risikostruktur hat und damit einhergehend welchen Aufwand verursacht. Die Prämien für die GKV werden nämlich nicht nach Geschlecht, Alter und Morbiditätsrisiko differenziert, sondern richten sich in erster Linie nach dem Arbeitseinkommen. Höher Verdienende werden stärker belastet als gering Verdienende. Familienmitglieder sind beitragsfrei mitversichert; Rentner bezahlen einen reduzierten Beitrag. Es findet keine Reservebildung statt, sondern es wird ein reines Umlageverfahren praktiziert.37 Schematisch steigt der Beitragssatz nach dem Eintritt in das Erwerbsleben stetig an und fällt dann mit Eintritt in das Rentenalter wieder ab. Dies bedeutet, es findet eine erhebliche „interne Subventionierung zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Männern und Frauen und zwischen Beschäftigten und Rentnern statt.“38 2. Was getan werden könnte An die Stelle eines medizinisch allenfalls mittelmäßigen, dafür aber sehr teuren Gesundheitssystems könnte ein System treten, das auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette geringstmögliche Kosten bei gleichzeitig größtem Nutzen für die Patienten realisiert, um so eine effiziente und nachhaltige Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsdienstleistungen zu sichern.39 Vorgeschlagen wird ein System der Krankenversicherung, basierend auf risikogerechten Prämien mit geringen staatlichen Interventionen.40 So wie heute schon in der privaten Krankenversicherung lassen sich die Probleme der adversen Selektion und des Moral Hazard durch Bonus- und Selbstbeteiligungsregelungen lösen; soziale Härten sollen durch eine Beitragshöchstgrenze (Vorschlag: 15% des Einkommens) vermieden werden. Der Wechsel 34 Graf von der Schulenburg Selbstbeteiligung. Theoretische und empirische Konzepte für die Analyse ihrer Allokations- und Verteilungswirkungen, 1987. 35 Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 30. 36 Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 30, unter Hinweis auf weitere Studien. 37 Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 32. 38 Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 32. 39 Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), ab 27. 40 Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), ab 34.

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zwischen den Versicherern wird durch Mitgabe der (prospektiven) Alterungsrückstellungen ermöglicht. Insgesamt entstünde ein freier Markt für Gesundheitsdienstleistungen mit geringer staatlicher Regulierung. Auf diesem Markt gäbe es eine Vielzahl von Leistungsanbietern und Versicherern, die um die Gunst der Patienten konkurrieren würden. Die Finanzierung würde risikoorientiert erfolgen, sodass die im derzeitigen System schlummernden Effizienzreserven zugunsten der Patienten, aber auch der besonders qualifizierten Leistungsanbieter, gehoben würden. Aufgrund der systemimmanenten Sparanreize (Selbstbeteiligungen/Boni) würde das System zumindest alle Überkapazitäten abbauen und insgesamt nur solche Kosten verursachen, die auf den Wünschen und Bedürfnissen der Patienten beruhten. Dabei wird der Wettbewerb – entgegen der Meinung vieler Kritiker – nicht allein über den Preis, sondern ebenso über die Qualität stattfinden, sodass auch hier mit einer Verbesserung zu rechnen ist.41 Ferner werden Innovationen nicht länger behindert, sodass das Leistungsspektrum erhöht und die Dynamik des „Wachstumsmotors Gesundheit“ zunehmen würde.42 3. Reformbremse: Die Alternde Gesellschaft Die Wahrscheinlichkeit, mit den eben beschriebenen Reformen das Deutsche Krankenversicherungssystem effektiv und effizient umzugestalten, ist klein. Die bisherigen Appelle an Politiker werden auch in Zukunft ungehört verhallen, da diese selbst Zwängen unterworfen sind, die es ihnen nicht erlauben, ihre Klientel – die Alternde Gesellschaft – zu verprellen.43 Die Ziele der Politiker sind auf ihre Wiederwahl ausgerichtet. Wahlen erfolgen kurzfristig – d.h. Reformen, die langfristige Projekte verfolgen, werden zurückgestellt, um kurzfristige positive Effekte zu erzielen.44 Dabei spielt die Dominanz etablierter Interessengruppen eine große Rolle. Dazu gehören die freie Ärzteschaft, die Kassenärztliche Bundesvereinigung oder auch der Gemeinsame Bundesausschuss als Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen.45 Auch der Europäische Gerichtshof, der über Art. 106 AEUV dafür sorgen könnte, dass die Nationalstaaten ihre inneffizienten Sozialversicherungssysteme in wettbewerblich dynamische umgestalten, deutet in einer Vielzahl von Urteilen an, dass er dies nicht zu tun bereit ist.46 Dabei weiß der Gerichtshof, dass die sozialen Systeme der Gemeinschaft, nicht nur in Deutschland, schon 41

Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 202. So der Titel des von Friedrich Merz herausgegebenen Werkes „Wachstumsmotor Gesundheit“, 2008. 43 Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 60 ff. 44 Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 60. 45 Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), 61. 46 Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), ab 81. 42

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heute von der Idee des Wettbewerbs so durchlöchert sind, wie ein Schweizer Käse. Immerhin hat der Gerichtshof in den vergangenen Jahrzehnten für das Aufbrechen alter staatlicher Monopole, etwa im Bereich der Telekommunikation, der Post oder auch der Energieversorgung, gesorgt. Bei den sozialen Sicherungssystemen ziert er sich und betont stattdessen, dass die Ausgestaltung dieser Systeme den Mitgliedstaaten selbst unterliegt (Art. 68 Abs. 5 AEUV). Dabei könnte der Gerichtshof grundlegende Systemveränderungen aus dem Geist des europäischen Vertrages bewirken, denn die Systeme der sozialen Sicherheit sind nur insoweit der Anwendung der Regeln des Europäischen Vertrages entzogen, als sie nicht wirtschaftlich arbeiten. Sind sie demgegenüber in der Lage wirtschaftlich – also im Wettbewerb – tätig zu sein, so unterfallen sie auch den Wettbewerbsregeln – insoweit haben die Mitgliedstaaten auch nach Art. 168 Abs. 5 AEUV gerade keine Wahlfreiheit. Sie sind vielmehr an das europäische Effektivitäts- und Effizienzprinzip gebunden – es wäre ein Leichtes für den Europäischen Gerichtshof, die Mitgliedstaaten auf diese Grundsätze des Europäischen Vertrages, die sich aus den Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 168 Abs. 5 AEUV herleiten, festzulegen.47 Der Gerichtshof tut dies aber nicht, obwohl er die Grundprinzipien des Europäischen Vertrages nicht nur kennt, sondern in vielen seiner Entscheidungen mitgestaltet hat und obwohl es in einer ganzen Fülle von Lebensbereichen Entscheidungen des Gerichtshofes gegeben hat, die die Mitgliedstaaten letztlich zur Aufgabe monopolartiger Strukturen gezwungen haben. Im Bereich des Gesundheitswesens verfällt der Gerichtshof aber in zunehmende Lethargie. Die Mitgliedstaaten dürfen an nationalen Sozialversicherungssystemen festhalten, sie dürfen den Wettbewerb über die Grenzen ausschließen, sie dürfen ihre eigenen nationalen Leistungserbringer bevorzugen und damit vergleichbare ausländische diskriminieren, sie dürfen Beihilfen gewähren, ohne sie nach Art. 108 AEUV notifizieren lassen zu müssen, sie dürfen einen Überhang an Krankenhausbetten vor sich herschleppen und die Kosten dafür auf den Steuerzahler verlagern, sie dürfen den Wettbewerb um Arzneimittel beschränken und damit die Preise zulasten der Patienten in die Höhe schrauben, sie dürfen an gigantischen Sozialversicherungsmonopolen festhalten und damit einer Regulierungsbürokratie Vorschub leisten, die ihresgleichen sucht und vollständig intransparent für jeden Bürger und Patienten ist. Wenn man sich fragt, wieso der Europäische Gerichtshof angesichts dieses Befundes, der ihm nicht entgangen sein kann, festhält, so bleibt als einzige nachvollziehbare Antwort diejenige, dass die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit von der Alternden Gesellschaft eben gewollt sind. Der Europäische Gerichtshof bricht vor der Macht der Alten ein und vernachlässigt dabei den Wortlaut des ihn bindenden Europäischen Vertrages. Da47

Vertiefend Blankart/Fasten/Schwintowski (Fn. 21), ab 203.

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bei kann er sich des Beifalls der Alten in allen Ländern Europas sicher sein. Die längst notwendige grundlegende Reform der nationalen Sozialversicherungssysteme, nicht nur im Bereich der gesetzlichen Renten, sondern vor allem auch der gesetzlichen Krankenversicherung, wird nicht kommen, weil es die ältere Generation nicht will. Die Tatsache, dass damit ein gigantisches Einsparpotenzial verspielt, eine Vielzahl von Einsparungen der jungen Generation verweigert und ein an Dynamik kaum zu überbietendes Innovationspotenzial für die Gesamtgesellschaft unterdrückt wird, spielt keine Rolle. Dem äußeren Anschein nach, geht es um die Bewahrung tradierter Sicherheitsstandards im Bereich der sozialen Sicherheit. Das bloße Nachdenken über diese Standards ist bereits ein Sakrileg. Auch die Jungen, die dies alles nicht durchschauen, folgen den Alten, in der Angst, ihre soziale Sicherung womöglich zu verlieren. Sie wissen nicht, was sie tun, aber gerade das gibt ihnen das Gefühl der Sicherheit.

III. Pflegeversicherung Die hier für die gesetzliche Krankenversicherung entwickelten und dargestellten Grundlinien gelten in gleicher Weise für die erst Mitte der 90er Jahre überhaupt eingeführte Pflegeversicherung. Die von Norbert Blüm („Die Rente ist sicher“) nach dem Modell der gesetzlichen Krankenversicherung durchgesetzte Pflegeversicherung ist ihrem Wesen nach keine Versicherung, sondern heißt nur so. Tatsächlich haben diejenigen, die aus der Pflegeversicherung Leistungen beziehen, in diese gar nicht oder nur wenig eingezahlt. Das liegt einfach daran, dass es die Pflegeversicherung erst seit Mitte der 90er Jahre gibt. Bereits eine Studie von Fetzer/Moog/Raffelhüschen48 aus dem Jahre 2001 belegt, dass die langfristige Finanzierung der GPV allein durch zukünftige Generationen getragen wird. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die zukünftigen Beitragszahler fast zwei Drittel ihres Einkommens für die Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherungen aufwenden müssen.49 Zutreffend weist die Studie darauf hin, dass es im „Selbstinteresse der heutigen Erwerbstätigen liegt, zukünftige Generationen nicht zur Kündigung der Generationenverträge zu zwingen.“50 Es wird fortgeführt: „Damit ist eine umfassende Reform insbesondere der Kranken- und Pflegeversicherung unausweichlich.“ Wirklich? Warum eigentlich? Solange sich die zukünftigen – also jüngeren – Generationen nicht wehren, warum sollte man etwas tun? 48

Zur Nachhaltigkeit der Generationenverträge: Eine Diagnose der Kranken- und Pflegeversicherung, Diskussionspapier 99/01. 49 Fetzer/Moog/Raffelhüschen (Fn. 22), 19. 50 Fetzer/Moog/Raffelhüschen (Fn. 22), 19.

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1. Zahlen, Daten, Fakten Sowohl in der privaten als auch in der gesetzlichen Pflegeversicherung werden die Leistungen nach drei Pflegestufen differenziert: • Pflegestufe I: erheblich pflegebedürftig • Pflegestufe II: schwer pflegebedürftig • Pflegestufe III: schwerst pflegebedürftig Jeder Neunte aus der Gruppe der über 65-Jährigen in Deutschland ist pflegebedürftig. Bei den über 80-Jährigen ist es jeder Dritte; bei den über 90-Jährigen ist nur etwa jeder Dritte nicht abhängig von Pflegemaßnahmen.51 Nach dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz 2008 betragen die Leistungen in Pflegestufe I maximal 1.023 EUR, in Pflegestufe II 1.279 EUR und in Pflegestufe III 1.470 EUR pro Monat.52 Tatsächlich sind aber die Kosten innerhalb der drei Pflegestufen jeweils mehr als doppelt so hoch – der Gesetzgeber geht also davon aus, dass in jeder Pflegestufe pro Monat ganz erhebliche Zuzahlungen geleistet werden. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die tatsächlichen Kosten in jeder Pflegestufe, über die Leistung der gesetzlichen Pflegeversicherung und über die daraus resultierende Deckungslücke: Tabelle von Roman N. Schulze53: Pflegestufe

Kosten in EUR

Leistung GPV in EUR

Deckungslücke in EUR

I

2.432

1.023

1.409

II

2.840

1.279

1.561

III

3.310

1.470

1.840

Die Deckungslücken pro Pflegestufe schwanken also zwischen 1.409 bis 1.840 EUR pro Monat. Dies bedeutet auf das Jahr bezogen Deckungslücken von ca. 20.000–30.000 EUR.54 Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz 2008 sieht für die Zukunft jährliche Leistungsanpassungen vor. Diese Leistungsanpassungen führen aber nicht dazu, dass die Deckungslücke geschlossen wird, sondern sich nur etwas langsamer vergrößert.55 Hochgerechnet bedeutet dies, dass bis zum Jahre 2050 je nach Pflegestufe eine Deckungs51 Schulze Pflegebedürftigkeit – Konsequenzen und Verpflichtungen auch aus der Sicht der Kinder, VersWissStud 2009, 45. 52 § 43 SGB XI und BMG (2008), Abschnitt I.1.; vertiefend zum Leistungskatalog Meyer Deckungslücken in der Pflegeversicherung, VersWissStud 2009, 63 ff. 53 Schulze (Fn. 51), 50/51. 54 Schulze (Fn. 51), 51 m.w.N. 55 Schulze (Fn. 51), 51; Meyer (Fn. 52), 70.

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lücke von 2.968 EUR, 3.607 EUR und 4.339 EUR – gemessen an der Kaufkraft 2008 – zu erwarten ist.56 Schulze kommt zu dem Ergebnis, dass die Verteilung der von ihm ermittelten Deckungslücke jene Eigenschaften besitzt, die ein risikoaverser Entscheider gerade zu vermeiden versucht: Sie sei hochvolatil, rechtsschief und leptokurtisch.57 2. Wer schließt die Deckungslücke? Schulze und Meyer59 machen sich Gedanken über die Frage, wer die beträchtliche Deckungslücke letztlich schließt. Eines steht fest – die Alten werden es nicht tun, denn schon im Jahre 2003 war nur jeder zweite der über 65-Jährigen in der Lage, aus dem laufenden Renteneinkommen die Deckungslücke zu finanzieren.60 Auch mit Blick auf bestehendes Vermögen wäre jeder dritte Rentner nicht in der Lage gewesen, die Deckungslücke auch nur für ein einziges Jahr zu bezahlen, wobei zu beachten ist, dass die durchschnittliche Pflegezeit zwischen vier und fünf Jahren liegt.61 Die hieraus resultierenden Konsequenzen führen direkt zu § 1601 BGB, der letztlich die Kinder, also die junge Generation, zur finanziellen Unterstützung der Pflegebedürftigen verpflichtet. Die Grenze der Belastbarkeit – so der BGH am 30.8.2006 – liegt dort, „wo der Unterhaltspflichtige bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außer Stande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts, den Unterhalt des Berechtigten zu gewähren.“62 Das OLG Düsseldorf konkretisiert diese Grundsätze mit der Düsseldorfer Tabelle. Die Teile des monatlichen Einkommens der Kinder, die einen Betrag von 1.400 EUR übersteigen, müssen zu 50% dazu verwendet werden, um die Eltern zu unterstützen.63 Geschwister werden entsprechend ihrer finanziellen Situation zum Elternunterhalt herangezogen64 In bestimmten Fällen leisten die Sozialämter vor, nehmen dann aber Regress bei den Kindern. Erst wenn diese insgesamt nicht mehr in der Lage sind zu zahlen, übernimmt die Sozialhilfe (also der Steuerzahler) den verbleibenden Teil.65 58

56 Zu den grundlegenden Annahmen dieser Entwicklung: Schulze (Fn. 51), 52, insbes. Fn. 54. 57 Schulze (Fn. 51), 52. 58 Schulze (Fn. 51), 53. 59 Meyer (Fn. 52), ab 70. 60 Schulze (Fn. 51), 53 m.w.N. 61 Schulze (Fn. 51), 53 m.w.N. 62 BGH XII ZR 98/04 vom 30.8.2006, Rn. 19; ähnlich BVerfG 1 BvR 1508/96 vom 7.6.2005, Rn. 4. 63 OLG Düsseldorf (2008) Abschnitt D und § 90 SGB XII. 64 BGH XII ZR 63/00 vom 25.6.2003 Abschnitt 3c und § 1606 Abs. 3 Satz 1 BGB; vertiefend: Schulze (Fn. 51), 54. 65 Schulze (Fn. 51), 54.

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3. Keine Anstalten zur Schließung der Deckungslücke Die eben beschriebene Deckungslücke wird bei der jungen Generation um das Jahr 2050 einen Zuzahlungsbedarf pro Jahr (Kaufkraft 2008) von 35.000–55.000 EUR auslösen. Wegen der vier- bis fünfjährigen Pflegedauer wird die Gesamtbelastung aus der Pflege bei etwa 150.000–300.000 EUR pro Familie liegen. Da die Familien kaum mehr als ein Kind hinterlassen, bedeutet dies, dass dieses eine Kind mit seinem Einkommen diese Lücke schließen muss. Bei Ehepartnern führt dies dazu, dass sich die Gesamtlasten verdoppeln. Sind die Kinder nicht in der Lage, diese Beträge, die leicht eine halbe Million Euro überschreiten können, aus dem Arbeitseinkommen aufzuwenden, so wird diese Last über das Sozialhilfesystem auf die Steuerzahler verlagert. Das ist die Gesamtheit der Erwerbstätigen – also die Gesamtheit der jungen Generation, die bereits durch die erhöhten Lasten in der Rentenund der Krankenversicherung gebeutelt ist. Da jeder Erwerbstätige in Zukunft nahezu einen Rentner wird finanzieren müssen, heißt dies, dass allein für die Pflege Beträge zwischen 150.000–300.000 EUR auf die junge Generation in den Jahren 2040 bis 2060 zurollen. Diese Fakten werden von der Wissenschaft nicht übersehen. Ulrich Meyer beschreibt, dass die alternde Generation selbst die Deckungslücke schließen könnte, indem sie nämlich heute private Zusatzversicherungen abschließt, um auf diese Weise einen Kapitalstock anzusammeln und den Zinseszinseffekt auszunutzen.66 Meyer zeigt, dass die Aufwendungen für eine private Zusatzpflegeversicherung durchaus erheblich aber doch sehr viel niedriger sind, als die Aufwendungen, die von der jungen Generation im Pflegefall tatsächlich zu erbringen sind. So liegen die Aufwendungen bei den Beispielrechnungen, die Meyer durchführt, bei monatlichen Prämien zwischen 55 bis etwa 85 EUR. Die Gesamtaufwendungen liegen bei seinen Beispielen (Eintrittsalter 45/55) zwischen 13.000 und 34.000 EUR. Das ist viel Geld, aber im Vergleich zu den 150.000–300.000 EUR, die die junge Generation pro Rentner in Zukunft wird zahlen müssen, sind diese Aufwendungen, die ungefähr ein Zehntel dessen ausmachen, doch eher moderat. Auch mit Blick auf die Pflegeversicherung gäbe es also die Möglichkeit durch intelligente Vorsorge – insbesondere durch Schaffung eines Kapitalstocks und Ausnutzung des Zinseszinseffektes, die Finanzierbarkeit des Systems für die spätere junge Generation zu stabilisieren und zu garantieren. Hinweise dafür, Schritte in diese Richtung zu tun, lassen sich in der politischen Diskussion nicht finden. Die Deckungslücke wird in der Öffentlichkeit überhaupt nicht wahrgenommen – sie wird weder von der Politik noch den Medien problematisiert. Nur in kleinen, wissenschaftlichen Zirkeln kursieren die eben vorgestellten Zahlen. 66

Meyer (Fn. 52), 70 ff.

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Versucht man sich klarzumachen, wo die Ursachen für dieses Verdrängen eines Problems, das ja gelöst werden könnte, liegen, fällt auf, dass die derzeit erwerbstätige Generation diejenige ist, die um das Jahr 2040 bis 2060 die Alternde Gesellschaft sein wird. Diejenigen, die heute durch Abschluss einer privaten Pflegezusatzversicherung ins Portemonnaie greifen müssten, um ihre eigene Pflegedeckungslücke vorsorgend zu schließen, können stattdessen das Problem auch verdrängen und auf die nachwachsende junge Generation verlagern. Auf diese Weise braucht die Alternde Gesellschaft heute keinen Konsumverzicht zu leisten und wird zugleich von der jungen Generation, das sind die Kinder, die gerade geboren werden, über § 1601 BGB oder den Steuertopf aufgefangen. Was kann es Schöneres geben, als auf diese Weise die Lasten des Alterns auf junge Schultern zu verteilen? Noch schöner ist daran, dass die junge Generation von dieser auf sie zurollenden Belastung gar nichts weiß. Sie bemerkt die Lawine nicht, weil ihr nicht klar ist, dass in einer Gesellschaft, die an die Stelle der Großfamilie die Ein-Kind-Gruppe gesetzt hat, es nicht mehr möglich ist, die Pflegeleistungen sozusagen familienintern aufzubringen. Müssen aber die Pflegeleistungen extern aufgebracht werden, so sind die daraus resultierenden Kosten eben nicht mehr familienintern zu verrechnen, sondern müssen in Euro und Cent aus dem Vermögen und laufenden Einkommen erbracht werden. Das alles könnte sich selbstverständlich die Alternde Gesellschaft klarmachen. Sie könnte den Generationenkonflikt, den sie gerade produziert, zum Anlass nehmen, um aus dem eigenen Einkommen und Vermögen vorzubeugen. Das allerdings würde Konsumverzicht bedeuten und dieser würde – jedenfalls auch – das eine nachwachsende Kind treffen. Also wird die Alternde Gesellschaft den Kindern erklären, dass das Leben ohnehin sehr teuer sei und dass man nicht zu viel sparen könne und dürfe, sonst müsse man am Taschengeld oder schlimmer, an den Kosten für Unterhalt und Ausbildung des einzigen Kindes womöglich sparen. Dies alles wird dem Kind einleuchten. Es wird seine Eltern bei dem Bemühen unterstützen, die Sparquote nicht allzu hoch werden zu lassen, weil es glaubt, damit nicht nur den Eltern, sondern sich selbst etwas Gutes zu tun. Wenn diese junge Generation in 30–40 Jahren erleben wird, wie hoch die Pflegelasten für ihre Eltern ausfallen, wird sie längst vergessen haben, wieso die Eltern in der eigenen Erwerbsphase nicht vorgesorgt haben. Das wird zumindest den Krieg zwischen der jungen und der alten Gesellschaft vermeiden. – Es wird aber nichts daran ändern, dass die Alternde Gesellschaft ihre eigenen Kinder „frisst“.

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D. Fazit Das Recht der Alternden Gesellschaft wird sich – wie könnte es auch anders sein – nach den Gesetzen der Evolution entwickeln.67 Die Alternde Gesellschaft wird ihre Interessen – weil sie die Mehrheit hat – durchsetzen. Die Jüngeren werden sich anpassen (müssen). Dabei werden sie diesen Anpassungsprozess nicht als Ausplünderung empfinden, weil Ihnen die Verhaltensweisen der Alten einleuchtend erscheinen und sogar vorbildlich sein werden. Weil dies so ist, werden die Alten keinen Grund haben, sich selbst anzupassen. – Sie werden folglich an Systemen festhalten, die es Ihnen weitgehend erlauben werden, ihre Interessen zu optimieren. Selbst mögliche und durchaus langfristig stabilisierende Reformen werden vermieden werden, weil der Anpassungsdruck, den die jüngeren auf die Alten ausüben können, nicht ausreicht – die Jüngeren haben einfach nicht genug Masse. Das Mittel, das die Alten zur Durchsetzung ihrer Interessen gegen die Jungen einsetzen werden, ist der Rechtsstaat. Er erlaubt es, durch immer komplexer werdende Regelwerke die jüngere Generation über die Wirkweisen des Umverteilungsprozesses zugunsten der Alten hinwegzutäuschen. Dabei wird die nachwachsende junge Elite alles dafür tun, die Interessen der Alten durchzusetzen, denn sie selbst werden als Anwälte in den großen Law Firms davon profitieren. Auch die Rechtswissenschaftler werden die entscheidenden Fragen nach den Wirkungszusammenhängen innerhalb sich entwickelnder Rechtssysteme nicht stellen. So kann es nicht verwundern, dass es keinerlei rechtssoziologische Untersuchungen über die Gründe und die Auswirkungen der permanent zunehmenden Gesetzesflut, der Gesetzesdichte und der Anwaltsdichte in vielen modernen Staaten dieser Welt gibt. Fragen dieser Art könnten offen legen, dass der Rechtsstaat, die ihn strukturierende Bürokratie,68 die zunehmende Anwaltsdichte womöglich von einem großen Umverteilungsprozess in unserer Gesellschaft begleitet wird, einem Umverteilungsprozess, der die Alternde Generation aber möglicherweise auch die Bessergebildeten begünstigt. Da die Rechtswissenschaft selbst Teil eines solchen Prozesses ist, verwundert es wenig, dass sie sich nicht mit Fragen beschäftigt, die ihre eigene Legitimation womöglich in Frage stellen könnte. Die hier entwickelten Thesen haben als Beispiel auf die großen Umverteilungssysteme in unserer Gesellschaft zurückgegriffen, also die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. In allen drei Systemteilen wären Reformen mit großen Entlastungspotenzialen für die junge Generation möglich. Die Tatsache, dass diese Erkenntnisse weder die Politik noch die 67 68

Grundlegend Mayr (Fn. 16). Hill Bürokratieabbau und Verwaltungsmodernisierung, DÖV 2004, 721.

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Medien noch die Rechtswissenschaft nennenswert beschäftigen, zeigt, dass die systemimmanenten Beharrungstendenzen nicht nur stark, sondern geradezu determiniert sind. Das Beharrungsvermögen verweist auf ein evolutionäres Verhaltensmuster Alternder Gesellschaften. Alternde Gesellschaften sind nicht deshalb reformunfähig, weil sie die Probleme womöglich nicht erkennen, sondern deshalb, weil es keinen hinreichenden Anpassungsdruck gibt. Dabei verbarrikadieren sich Alternde Gesellschaften hinter dem System Rechtsstaat. Welche Schlussfolgerungen kann man hieraus für die Zukunft ziehen? Eine gewiss: Der Beruf des Juristen hat Zukunft – die Alternde Gesellschaft wird sich des Juristenstandes in zunehmendem Maße zur Durchsetzung ihrer Interessen bedienen und dabei ein Gutteil der Pfründe ihnen zukommen lassen. Es wird dabei keine Rolle spielen, dass der eine und andere Rechtswissenschaftler der Alternden Gesellschaft den Spiegel vorhalten wird. Das alles ist Teil eines auf Selbstreferenz angelegten evolutionären Prozesses, der sich zwar nicht selbst steuert, gern aber selbst und sogar selbstkritisch beobachtet. Bei alledem werden übrigens die JuristInnen in den nächsten Jahrhunderten eine entscheidende Rolle spielen, denn beim Kampf ums Recht wird es erstmals in der Geschichte der Kriege nicht um körperliche oder technische Überlegenheit, sondern um Wissen, Kompetenz, geistige Präzision, Selbstbeherrschung und Durchsetzungskraft gehen. Dieses wird gepaart sein mit erheblichen Anforderungen an das Sprach- und Argumentationsvermögen. Schon heute zeigt sich, dass der Anteil der Frauen, dem der männlichen Studierenden in der Rechtswissenschaft gleichkommt – es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Frauen ihre intellektuelle und sprachliche Dominanz auch im beruflichen Alltag durchsetzen und damit letztlich die führende Rolle bei der Umverteilung des Vermögens zwischen den Jungen und den Alten und den besser und schlechter Ausgebildeten übernehmen. Aber das ist bereits ein neues Kapitel, über das man auch deshalb nicht unbedingt nachdenken muss, weil es sich als Teil der Evolutionsgeschichte sowieso verwirklichen wird – ob wir wollen oder nicht.

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Zuk. d. UrheberR u. eine monistisch geprägte Urheberrechtskonzeption

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Zuk. d. UrheberR u. eine monistisch geprägte Urheberrechtskonzeption Artur-Axel Wandtke

Zukunft des Urheberrechts und eine monistisch geprägte Urheberrechtskonzeption – Entwicklungslinien seit Josef Kohler ARTUR-AXEL WANDTKE

I. Kohlers Berufung an die Juristenfakultät der Berliner Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kohlers Auffassung vom Immaterialgüterrecht und Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Immaterialgüterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urheberpersönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Perspektiven des Urheberrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.

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. . . .

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I. Kohlers Berufung an die Juristenfakultät der Berliner Universität Die Bedeutung und die Perspektiven des deutschen und europäischen Urheberrechts sind ohne den Universalgelehrten Josef Kohler undenkbar. Josef Kohler, der am 9. März 1849 in Offenburg/B. geboren wurde, gehörte wohl zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Juristischen Fakultät der Berliner Universität, der er von 1888 bis zu seinem Tode am 3. August 1919 angehörte. Er war ein Riese auf dem Gebiet der rechtswissenschaftlichen Forschung.1 Er wird als Rechtslehrer und juristischer Schriftsteller mit seinen Hauptwerken im Schrifttum ausgewiesen.2 Josef Kohler studierte in Freiburg und Heidelberg und schloss 1871 und 1873 seine erste und zweite Staatsprüfung mit Auszeichnung ab. Nach seiner Promotion am 28. Januar 1873 war er in Mannheim 5 Jahre als An-

1 Vgl. Osterrieth Josef Kohler, 1920; A. Kohler Bibliografie für Josef Kohler, 1931; Spendel Josef Kohler, 1983; Adrian/Nordemann/Wandtke Josef Kohler und der Schutz des geistigen Eigentums in Europa, 1996; Püschel 100 Jahre Berner Union, 1986; Wadle (Hrsg.) Historische Studien zum Urheberrecht in Europa, 1993. 2 Meyers Konversationslexikon, Band 10, 1897, 344.

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waltsvertreter und Kreisgerichtsrat tätig. 1878 ging er als Ordinarius nach Würzburg und blieb dort 10 Jahre bis zur Berufung an die Juristische Fakultät der Berliner Universität. Interessant ist, dass der schon in der Rechtswissenschaft ausgewiesene Josef Kohler erst nach mehreren Anläufen Mitglied der Juristischen Fakultät wurde. In der Berufungsangelegenheit Josef Kohler war die Juristische Fakultät heillos zerstritten. In der Sitzung vom 10. Januar 1888 unter Leitung ihres Dekans Prof. Dr. Pernice wurde mit knapper Mehrheit die Berufung Kohlers abgelehnt. Unter den Gegnern Kohlers war nicht nur der Dekan, sondern auch Otto von Gierke, der Vertreter des bürgerlichen Rechts und Mitarbeiter am Entwurf des BGB war.3 In dem Votum der Gegner stand u.a.: „Von einer Anzahl der Mitglieder der Fakultät wurde die Berufung des Prof. Dr. Josef Kohler in Würzburg lebhaft empfohlen. Wir haben uns indes nicht überzeugen können, dass die Berufung des Prof. Kohler ein Gewinn für die Fakultät sein würde . . . Aber dieses Talent ist ohne Zucht und Selbstkritik. Prof. Kohler ist literarisch auf nahezu allen Gebieten der Rechtswissenschaft und darüber hinaus tätig. Es scheint uns bedenklich, eine wissenschaftliche Persönlichkeit wie diese an eine große Universität zu ziehen. Die Zerfahrenheit der Schriftstellerei Kohlers hat ihren Grund in seiner Individualität, nicht in äußeren Bedingungen.“4 Beim zuständigen Minister ist das Votum auf Unverständnis gestoßen. Der zuständige Geheime Regierungsrat Dr. Friedrich Althoff beauftragte den Rechtsgelehrten Prof. Rudolf von Ihering, der in Göttingen lehrte, trotz eines erbitterten Streites mit Josef Kohler ein positives Gutachten zu verfassen: „Er ist ein Mann ersten Ranges, in meinen Augen eine phänomenale Erscheinung. Er ist von einer wahrhaft staunenswerten, ich möchte fast sagen: unheimlichen Produktivität, der schafft für zehn . . . Der Mann liest alles, kennt alles, benutzt alles, ich begreife gar nicht, woher er nur die Zeit nimmt, alle die Bücher der in- und ausländischen Literaten zu lesen geschweige denn, alles zu verarbeiten . . . Ein solcher Mann gehört nach Berlin. Er wird eine Zierde der Fakultät werden und mit der Zeit alle anderen dortigen Kräfte weit in den Schatten stellen.“5 Der neue preußische König und deutsche Kaiser Friedrich III. gab dem Berufungsantrag am 19.3.1888 statt und Josef Kohler wurde zum ordentlichen Professor an der Berliner Universität durch Minister von Gossler mit Wirkung zum 31.3.1888 berufen.6

3

Malek-Kohler/Püschel Auf den Spuren Josef Kohlers, in: UFITA, Band 139, 1999,

58. 4 5 6

Malek-Kohler/Püschel (Fn. 3), 58. Malek-Kohler/Püschel (Fn. 3), 61. Malek-Kohler/Püschel (Fn. 3), 63.

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Bereits 1891 wurde er zum Dekan gewählt und konnte in dieser Amtsperiode den Probevortrag des damals 27jährigen Max Weber7 als Habilitand hören.8 Josef Kohler hatte sich einen internationalen Ruf als Wissenschaftler erworben. Im Jahre 1910, dem 100. Jahrestag der Gründung der Berliner Universität, wurde er erneut zum Dekan der Juristenfakultät gewählt. Die Juristische Fakultät hatte eine Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Fakultät vorbereitet, die von Josef Kohler als Dekan tatkräftig unterstützt wurde.9 Bei dem weit gespannten wissenschaftlichen Interessengebiet hätte man annehmen können, dass darunter die Wahrnehmung seiner Pflichten in seinem Lehramt an der Juristischen Fakultät gelitten hätte. Aber das Gegenteil war der Fall. Im Vordergrund stand für Josef Kohler seine Lehrtätigkeit. Sein erster Lehrauftrag war der Zivilprozess, französisches Zivilrecht und vergleichende Rechtswissenschaft. Später kamen die Vorlesungen über das Strafrecht und Strafprozessrecht, das bürgerliche Recht, das Handelsrecht, die Rechtsphilosophie und seit 1909 das Völkerrecht hinzu. Seine Sondervorlesungen hielt er über das Urheberrecht, Erfindungs- und Gewerberecht.10

II. Kohlers Auffassung vom Immaterialgüterrecht und Persönlichkeitsrecht 1. Immaterialgüterrecht Bereits in Mannheim und Würzburg beschäftigte sich Josef Kohler mit dem Immaterialgüterrecht. Sein erstes bedeutendes Werk auf dem Gebiet des Immaterialgüterrechts war das 1878 erschienene „Deutsches Patentrecht“.11 Für ihn waren Erfindungen und künstlerische sowie literarische Werke ein „unkörperliches Gut“ und die verliehenen Rechte Immaterialgüterrechte. Im Grunde hatte Josef Kohler einen Generalangriff gegen die bis dahin geltende Theorie vom geistigen Eigentum gestartet. Zwei Probleme waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Theorie ungelöst: die Frage der Einordnung des geistigen Eigentums in die Privatrechtsdog7 Max Weber lebte von 1864 bis 1920 und gehört zu den hervorragendsten Rechts- und Sozialwissenschaftlern, der mit dem Begriff der Rationalität des Rechts in der Rechtssoziologie Bedeutendes leistete. Siehe Raiser Max Weber und die Rationalität des Rechts, JZ 2008, 853 f. 8 Malek-Kohler/Püschel (Fn. 3), 103. 9 Malek-Kohler/Püschel (Fn. 3), 103. 10 Püschel (Fn. 1), 30. 11 Kohler Deutsches Patentrecht, 1878.

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matik und die Frage der Vereinbarkeit seines Monopolcharakters mit ökonomischer Freiheit und den Interessen der Gesellschaft. Josef Kohler löste dies mit seiner Immaterialgütertheorie und seiner Theorie des Persönlichkeitsrechts.12 Mit seiner Theorie über das Immaterialgüterrecht wollte er vor allem die Unterschiede deutlich machen, die zwischen dem Sacheigentum und den immateriellen Gütern bestehen. „Die Immaterialgütertheorie nimmt also von der Theorie des geistigen Eigentums herüber, was diese richtiges hat . . . beides sind absolute Rechte ... Rechte mit einer bestimmten Ausschließlichkeit . . . Die Immaterialgüterrechte haben wie das Eigentum ihre objektive und ihre subjektive Beschränkung.“13 Erfinderische und künstlerische Ideen waren nach seiner Auffassung Bestandteil des Immaterialgüterrechts, dessen Bedeutung für die geistige Produktion nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. „Wie es im Autorrecht die Schöpfung eines neuen künstlerischen Ganzen ist, welche den Rechtsschutz postuliert, so ist es im Patentrecht der Schöpfungsakt, es ist die Objectivation des Geistes in einem neuen technischen Geiste“.14 Obwohl Josef Kohler die Gemeinsamkeiten zwischen dem Sacheigentum und der Theorie vom geistigen Eigentum betont, lehnt er letztere vehement ab, soweit das Immaterialgüterrecht mit dem Sacheigentum gleichgesetzt wird. Die Befürworter15 und Ablehner16 der Theorie des geistigen Eigentums haben bis heute eine lange Tradition. Mit dem Immaterialgüterrecht wird im Grunde das System des geistigen Eigentums beschrieben. Denn der Begriff des geistigen Eigentums erfasst nicht mehr und nicht weniger als die zeitlich begrenzte Herrschaftsmacht des durch das Gesetz Berechtigen, der wiederum mit Ausschließlichkeitsrechten ausgestattet ist.17 Genau dies hat Josef Kohler gefordert. Ihm ging es um eine eigene positive Rechtsmacht des Erfinders oder des Urhebers, die er aus dem Recht der Arbeit abgeleitet hat. „Das Recht der Arbeit wird im verfeinerten Sinne zum Recht der Idee und der Satz: ‚Was du erarbeitest, ist dein‘ verwandelt sich in den Satz: ‚Dein ist auch die Idee, die du ersinnst, du bist ihr industrieller Herr und du allein darfst sie zur industriellen Geltung bringen.‘ Mit diesem Rechte der Idee hat die Jurisprudenz dem Großbetrieb den Kuß auf die Stirn gedrückt.“18 Josef Kohler hatte also schon sehr früh erkannt, wie wichtig die geistige Produktion ist und welche Impulse von der technischen Entwicklung ausgehen, die wiederum vom 12

Klippel Die Idee des geistigen Eigentums, in: Wadle (Fn. 1), 137 f. Kohler Handbuch des Deutschen Patentrechts in rechtsvergleichender Darstellung, 1900, 57 ff. 14 Kohler (Fn. 11), 22. 15 Schack Urheber- und Verlagsrecht4, 2010, Rn. 23. 16 Rehbinder Urheberrecht15, 2008, Rn. 97. 17 Fechner Geistiges Eigentum und Verfassung, 1999, 111. 18 Kohler Kultur und Leben, 1904, 163. 13

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Recht befruchtet werden kann.19 In diesem Zusammenhang versteht er auch das Recht als Kulturerscheinung und als Kulturelement.20 Er sieht die historische Errungenschaft der Theorie vom geistigen Eigentum, die vor allem aus dem Naturrecht gespeist war und sich gegen das Privilegienwesen wandte. Dieses Naturrecht ist aber immer ein Naturrecht der jeweiligen Kulturperiode und wenn wir es Naturrecht nennen, so meinen wir damit nicht, dass es aus der allgemeinen menschlichen Natur stammt, sondern dass es aus der Natur der menschlichen Verhältnisse hervorgeht.21 Das naturrechtlich geprägte geistige Eigentum spielt bis heute im Schrifttum und in der Rechtsprechung eine Rolle. Die Theorie vom geistigen Eigentum und damit das Immaterialgüterrecht hat die nationale und internationale Entwicklung des Urheberrechts beeinflusst. 2. Urheberpersönlichkeitsrecht Die Frage, die immer wieder im Laufe der Entwicklung des Urheberrechts aufgeworfen wurde, betrifft das Persönlichkeitsrecht. Die wissenschaftliche Leistung Josef Kohlers ist nur vor dem Hintergrund des bestehenden Schrifttums zum geltenden Urheberrecht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verstehen.22 Ist das Persönlichkeitsrecht, wie Josef Kohler es am Anfang des 20. Jahrhunderts im Verhältnis zum Immaterialgüterrecht gesehen hat, Bestandteil des Urheberrechts oder nicht? Seine Ausgangsthese lautet: „Das Autorrecht ist ein Immaterialgüterrecht, d.h. ein Recht an einem außerhalb des Menschen stehenden, aber nicht körperlichen, nicht fass- und greifbaren Rechtsgute . . . Neben ihr verdient nur noch die Theorie des Persönlichkeitsoder Individualrechts überhaupt eine Erwähnung, wonach das Rechtsgut nicht außerhalb, sondern innerhalb des Menschen stehe und von seinem Wesen grundsätzlich unzertrennlich, nur zufällig und ausnahmsweise ablösbar wäre“.23 Diese Konzeption der Trennung zwischen Autorrecht als Immaterialgüterrecht und Persönlichkeitsrecht nennt Josef Kohler selbst ein „Doppelrecht“.24 Josef Kohler wendet sich damit gegen die damals verbreitete Auffassung, dass das Urheberrecht ein Persönlichkeitsrecht sei.25 Vor allem Otto von 19

Kohler (Fn. 18), 159 f. Kohler Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1917, 12. 21 Kohler (Fn. 20), 52. 22 Stellvertretend dafür: Klostermann Das Urheberrecht an Schriftwerken, 1871; Daude Lehrbuch des Urheberrechts, 1888; Schuster Das Wesen des Urheberrechts, 1891; Osterrieth Die Reform des Urheberrechts, 1893. 23 Kohler Urheberrecht an Schriftwerken und Verlagsrecht, 1907, 1. 24 Kohler (Fn. 23), 18. 25 Gieseke Vom Privileg zum Urheberrecht, 1995, 115 f. 20

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Gierke, sein Fakultätskollege, der in schriftlicher Erklärung vom 21.1.1888, die er zu den Fakultätsakten gab, gegen die Berufung Kohlers war,26 vertrat die Konzeption der persönlichkeitsrechtlichen Prägung des Urheberrechts.27 Gegen die dogmatische Konzeption von Gierkes polemisierte Josef Kohler. Seine Argumentation gibt einen tiefen Einblick in die dualistische Theorie vom Urheberrecht. Welche Argumente hatte Josef Kohler? Erstens: Er war der Auffassung, dass aus der Urheberschaft nicht das Urheberrecht abgeleitet werden kann. Urheberschaft ist aber ein viel weiterer Begriff: vom Urheberrecht kann nur gesprochen werden, „wenn eine gewisse Idee sich verwirklicht hat, die Urheberschaft dagegen erstreckt sich auf Wärmeflaschen und Unterjacken der alltäglichsten Art und Güte.“28 Ein Urheberrecht entsteht nur, „wenn die Urheberschaft an einer körperlichen Sache zugleich die Verkörperung einer (noch nicht gemeinfreien) Idee enthält und damit den Untergrund eines Immaterialrechts bildet“.29 Zweitens: Wenn von Gierke das Urheberrecht als Persönlichkeitsrecht bezeichnet, indem er das Werk als „Bestandteil der Persönlichkeitssphäre“ erklärt,30 dann liegt darin ein methodischer Fehler, denn eine jede Schöpfung schafft „Entzweiung zwischen dem Schöpfer und dem Geschaffenen“.31 Nach Josef Kohler besteht also kein persönliches Band zwischen dem Schöpfer und seinem Werk. Drittens: Ein weiterer theoretischer Grund trennte beide Fakultätskollegen. Von Gierke war der Auffassung, dass nach dem Tod des Urhebers das Persönlichkeitsrecht nicht erlischt. Beide stimmten diesem Grundsatz zu, aber Josef Kohler wollte nur eine Frist von 5 Jahren gelten lassen oder 50 Jahre von der Zeit des Erscheinens an.32 Damit stellte sich Josef Kohler gegen die bereits gesetzlich festgelegte Frist von 30 Jahren p.m.a. Viertens: Ein weiterer bedeutender Gedanke zum Immaterialgüterrecht besteht darin, dass das Immaterialgüterrecht ein von der Person gelöstes Vermögensrecht ist, d.h. der Gegenstand eines Vermögensrechts kann der geistigen ebenso wie der Körperwelt angehören.33 Fünftens: Hinsichtlich des Persönlichkeitsrechts hat Josef Kohler zwei Wirkungsrichtungen. Die erste Wirkungsrichtung bezieht sich auf das Persönlichkeitsrecht ganz allgemein. Wenn ein Brief, der nicht urheberrechtlichen Werkcharakter aufweist, an die Öffentlichkeit gelangt, kann nur das 26 27 28 29 30 31 32 33

Malek-Kohler/Püschel (Fn. 3), 59. V. Gierke Deutsches Privatrecht, Band I, 1868. Kohler (Fn. 23), 4. Kohler (Fn. 23), 4/5. V. Gierke (Fn. 27), 756. Kohler (Fn. 23), 5. Kohler (Fn. 23), 8/9. Kohler (Fn. 23), 14.

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Persönlichkeitsrecht Schutz bieten.34 Die zweite Wirkungsrichtung betrifft urheberrechtliche Werke, deren Veröffentlichung ebenfalls nur mit Zustimmung des Autors erfolgen kann.35 Nach seiner dualistischen Theorie kann man auf das Autorrecht verzichten, nicht aber auf das Persönlichkeitsrecht.36 Die dogmatische Fundierung des Persönlichkeitsrechts wurde vor allem durch die urheberrechtliche Entwicklung beeinflusst.37 Die praktische Bedeutung des Persönlichkeitsrechts zeigt sich für Josef Kohler insbesondere bei der bildenden Kunst. Man wird dem Eigner des Bildes nicht verwehren können, wenn er das Bild übermalt in seinem Zimmer aufhängen will. Aber ein Maler brauche es sich nicht gefallen zu lassen, dass sein Bild in verunstalteter Form der Kunstausstellung einverleibt werde.38 Er wandte sich aus der Sicht des Persönlichkeitsrechts der Anerkennung der Verfasserschaft, insbesondere dem Plagiat und der Wahrung der Integrität des Werkes zu.39 Die Trennung zwischen Urheberrecht und Urheberpersönlichkeitsrecht, wie dies Josef Kohler zu begründen versuchte, hat sich in Deutschland nicht durchgesetzt. Schon vor und während seiner Schaffensperiode gab es neben der Auffassung von von Gierke andere Urheberrechtswissenschaftler, die einen anderen theoretischen Begründungsansatz des Urheberrechts vertraten.40 Am überzeugendsten hat Allfeld den dualistischen Begründungsansatz von Josef Kohler widerlegen können. Das Urheberrecht ist für ihn nicht ausschließlich ein Vermögensrecht, sondern ein Recht besonderer Art, das persönliche und vermögensrechtliche Interessen schützt.41 Das Reichsgericht hatte diesen monistischen Begründungsansatz des Urheberrechts ebenfalls vertreten. Bereits in der Entscheidung des Reichsgerichts vom 21. September 1880 hatte es zum Ausdruck gebracht: „Das Urheberrecht, wie es in dem Nachdruckgesetze und den übrigen sich daran anschließenden Gesetzen definiert und geschützt ist, hat nicht eine ausschließlich vermögensrechtliche Seite. Es beruht auf dem Grundgedanken, dass jeder die Herrschaft besitzt über die Gestaltungen seiner wissenschaftlichen oder künstlerischen Gedankentätigkeit und allein darüber zu bestimmen hat, ob, wie und wann sie zur öffentlichen Kundgebung gelangen sollen.“42 Interessant ist, dass das Reichsgericht in seiner Entscheidung vom 7. November 1908 noch ein all34

Kohler (Fn. 23), 16. Kohler (Fn. 23), 455. 36 Kohler (Fn. 23), 18. 37 Götting in: Götting/Schertz/Seitz Handbuch des Persönlichkeitsrecht, 2008, § 2 Rn. 13. 38 Kohler (Fn. 23), 20. 39 Kohler (Fn. 23), 463 f. 40 Siehe ausführlich Smoschewer Das Persönlichkeitsrecht im allgemeinen und im Urheberrecht, in: UFITA, Band 3, 1930, 261. 41 Allfeld Das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst, 1928, 21. 42 RGZ 2, 246. 35

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gemeines subjektives Persönlichkeitsrecht ablehnte. In den Gründen heißt es: „Ein allgemeines subjektives Persönlichkeitsrecht ist dem geltenden bürgerlichen Rechte fremd. Es gibt nur besondere, gesetzlich geregelte Persönlichkeitsrechte, wie . . . die persönlichkeitsrechtlichen Bestandteile des Urheberrechts.“43 Erst mit dem Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst vom 19. Juni 1901 (LUG) und dem Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie vom 9. Januar 1907 (KUG) wurde neben dem Veröffentlichungsrecht auch das Änderungsverbot aufgenommen. Ein umfassendes Verbot der Entstellung, Verstümmelung, sonstigen Änderung oder Beeinträchtigung des Werkes war erstmals auf der Rom-Konferenz 1928 durch Art. 6bis der Revidierten Berner Übereinkunft (RBÜ) eingeführt worden. Dieser Fassung der RBÜ war Deutschland mit Wirkung zum 21.10.1933 beigetreten.44 Das Urheberpersönlichkeitsrecht (droit moral) war damit im Wesentlichen kodifiziert. Nach dem II. Weltkrieg entstanden 1949 zwei deutsche Staaten, deren Urheberrechtsordnungen bis zum Inkrafttreten ihrer Urheberrechtsgesetze am 1.1.1966 von dem LUG und KUG geprägt waren. Das Urheberrecht der DDR, das vom 1.1.1966 bis zum 2.10.1990 galt, ging von der Konzeption des sozialistischen Persönlichkeitsrechts aus. Das Urheberrecht war Persönlichkeitsrecht, welches wiederum vermögens- und nichtvermögensrechtliche Befugnisse beinhaltete. Der Gesetzgeber ist dem Primat des Persönlichkeitsrechts des Urhebers gefolgt, wie dies bereits Otto von Gierke in seinem Hauptwerk45 vertrat.46 Seit der Wiedervereinigung am 3.10.1990 gilt ein einheitliches Urheberrecht, dessen theoretische Wurzeln in der monistischen Theorie vom Urheberrecht liegen. Die von Otto von Gierke entwickelte Theorie vom Persönlichkeitsrecht kann als Vorläufer der monistischen Theorie des Urheberrechts angesehen werden.47 Es bedeutet eine Erfassung der Verwertungs- und Urheberpersönlichkeitsrechte, die nicht voneinander getrennt werden können.

III. Perspektiven des Urheberrechts Erstens: Versuche, das Urheberrecht utilitaristisch begründen zu wollen, gehen am Wesen des Urheberrechts vorbei. Es klammert die Persönlichkeitsrechte aus 43

RGZ 69, 401 – Nietzsche-Briefe. Schricker/Dietz Urheberrecht3, 2006, § 14 Rn. 8. 45 V. Gierke (Fn. 27), 765. 46 Wandtke Zu einigen theoretischen Grundlagen des Urheberrechts in der DDR, in: Wadle (Fn. 1), 228. 47 Götting (Fn. 37), § 2 Rn. 13. 44

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und lässt das Urheberrecht als Wirtschaftsrecht erscheinen. Die Innovation ist in der geistigen Produktion unter den Bedingungen der Digitalisierung und des Internets mit Hilfe des Urheberrechts zu fördern. Die ausschließlich ökonomische Sichtweise des Urheberrechts, wie es Josef Kohler mit seiner Immaterialgüterrechtslehre betrachtet hat, kann nicht der Ansatz für ein modernes Urheberrecht sein. „Urheberrecht ist immer auch zuvörderst ein Persönlichkeitsrecht“.48 Das geistige Eigentum und damit das Immaterialgüterrecht nur auf die vermögensrechtliche Seite zu reduzieren, entspricht mehr dem CopyrightSystem. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass vor allem im TRIPSAbkommen das Urheberpersönlichkeitsrecht ausgeklammert wurde.49 Die Stimulierung kreativer Arbeit geschieht auch und gerade durch den Schutz der Urheberpersönlichkeitsrechte. Während das kontinentaleuropäische Droit d’auteur-System, dem sich die deutsche Urheberrechtsordnung verpflichtet fühlt, im Naturrechtsgedanken und in der Aufklärung verwurzelt ist und die individuelle schöpferische Arbeitsleistung als Werk der natürlichen Person mit seinen Persönlichkeitsinteressen in den Vordergrund stellt,50 betont das Copyright-System im angloamerikanischen Rechtskreis51 die wirtschaftlichen Aspekte. Die eigenschöpferische Prägung der wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Werke und Leistungen ist ein Alleinstellungsmerkmal des Kreativen und der eigentliche Grund für den Urheberrechtsschutz. Das persönlichkeitsrechtliche Fundament des Urheberrechts wurzelt in der Gestaltungskraft und der Einmaligkeit schöpferischer Leistungen. Da die gewerblichen Schutzrechte (z.B. Patent-, Gebrauchsmuster-, Geschmacksmuster- und Markenrecht) Bestandteil des Immaterialgüterrechts sind und weniger persönlichkeitsrechtliche Elemente als im Urheberrecht aufweisen, ist dies auch in der europäischen Verfassung zu berücksichtigen. Der lapidare Hinweis in Art. 17 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, dass das geistige Eigentum dem Schutz unterliegt, der überwiegend für alle Mitgliedstaaten nach der Verfassung von Lissabon verbindlich ist, reicht auch für das Urheberrecht nicht aus.52

48 Schack Zur Rechtfertigung des Urheberrechts als Ausschließlichkeitsrecht, in: FS Wadle 2008, 1016. 49 Schack Urheber- und Urhebervertragsrecht4, 2010, Rn. 998; Wandtke in: Wandtke/ Bullinger Urheberrecht Kommentar3, 2009, Einl. Rn. 86; Dreier in: Dreier/Schulze Urheberrecht Kommentar3, 2008, Einl. Rn. 47; Katzenberger in: Schricker/Katzenberger Urheberrecht Kommentar4, 2009, Vor §§ 120 ff. Rn. 21. 50 Peifer Eigenheit oder Eigentum – Was schützt das Persönlichkeitsrecht?, GRUR 2002, 63. 51 Garnett/James/Davies Copinger and Skone James on Copyright14, 1999, 1–01. 52 Dietz hat bereits den ersten Entwurf der Verfassung der Europäischen Union mit Recht kritisiert und einen eigenständigen Vorschlag unterbreitet. Siehe Dietz Verfassungs-

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Zweitens: Der Tendenz muss in der Zukunft entgegengewirkt werden, alle Leistungen und Ergebnisse der geistigen Arbeit urheberrechtlich schützen zu wollen, die zwar wirtschaftlich wegen der Investitionen interessant sind, aber mit den eigentlichen Schutzgegenständen des Urheberrechts nichts zu tun haben. So ist es ein Sündenfall, der durch die Richtlinienpolitik der Europäischen Union verursacht wurde, die Software und die Datenbanken in das Urheberrecht aufzunehmen. Technisch-organisatorische Leistungen gehören nicht in das Urheberrecht! Andere Rechtsgebiete – wie das Wettbewerbsrecht – wären dafür besser geeignet gewesen. Inwieweit die naturrechtlich geprägte europäische Werteordnung ein Umdenken in der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten und der Richtlinienpolitik der EU auslöst, bleibt abzuwarten. Denn es geht nicht allein um die freie Warenzirkulation urheberrechtlich relevanter Werke und künstlerischer Leistungen, sondern um die Stärkung der Ausschließlichkeitsrechte der Urheber und ausübenden Künstler, die sowohl in den Verwertungs- als auch in den Urheberpersönlichkeitsrechten zum Ausdruck gebracht werden.53 Nicht zutreffend ist deshalb, dass das Urheberrecht als ein Mischrecht von Persönlichkeits- und Immaterialgüterrecht definiert wird.54 Die Tatsache, dass im System des geistigen Eigentums die Persönlichkeitsrechte der Kreativen nicht integriert sind und nur die vermögensrechtlichen bzw. wirtschaftlichen Aspekte eine Rolle spielen, lässt nichts Gutes für die Zukunft erahnen.55 Josef Kohler hatte zwar einen anderen theoretischen Ansatz für das Urheberrecht, aber er würde sich heute ebenfalls vehement für die Persönlichkeitsrechte der Kreativen einsetzen. Er würde sich auch an der Diskussion einer modernen Schutzkonzeption der geistigen Produktion beteiligen. Denn eine Gesellschaft, die die „Edelsteine“ der Kreativen nicht mehr achtet, sich vielleicht an ihrer Verhunzung wiehernd ergötzt, verliert ihre prägende Gestalt. Deshalb gilt die Forderung: „Schützt Edelgut mit Dauerwert vor Unglimpf und Entstellung. Vielleicht hemmt ihr das rollende Rad. Und wenn’s misslingt, Fruchtlosigkeit der Bemühungen einst offenbar wird, so bleibt der Trost, dass nicht widerstandslos aufgegeben wurde, was des Schutzes wert war.“56 Die generelle Frage wird zu beantworten sein, ob alle Leistungen und Werke der geistigen Produktion, die den Stempel einer geringen Individualität aufweisen, vom Urheberrecht geschützt werden müssen.57 klauseln und Quasi-Verfassungsklauseln zur Rechtfertigung des Urheberrechts – gestern, heute und morgen, GRUR Int. 2006, 8. 53 Schack (Fn. 48), 1021. 54 So aber Götting (Fn. 37), § 2 Rn. 13. 55 Rehbinder (Fn. 16), § 1 Rn. 28. 56 Elster Schutz des Urhebers gegen Verschandelung seiner Werke, GRUR 1928, 34, 39. 57 Ausführlich zur Schutzkonzeption: Wandtke Medienrecht, 2008, Rn. 130 ff.

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Erforderlich wäre eine Richtlinie der EU über den Inhalt und Umfang von Urheberpersönlichkeitsrechten, um den Ursprung des Schutzes der geistigen Arbeit zu würdigen. Drittens: Die Sozialbindung des Urheberrechts wird auch künftig zu Einschränkungen der Verbotsrechte der Urheber notwendigerweise führen, indem die bestehenden Schrankenregelungen erweitert oder völlig neue erforderlich werden. Überlegungen, die Austauschbarkeit von Informationen zu erleichtern, indem eine urheberrechtliche Zwangslizenz eingeführt werden sollte, gehen in diese Richtung. Es sollen gleichsam bestimmte Verbotsrechte des Rechteinhabers eingeschränkt werden, nicht aber die Befugnis, über die Gegenleistung für das Nutzungsrecht eines Dritten (Zwangslizenznehmer) zu verhandeln.58 Es wäre aber ein Irrweg anzunehmen, dass durch völlige Aufhebung der gesetzlichen Vergütungsansprüche die objektiv bestehenden ökonomischen, politischen und kulturellen Widersprüche in der geistigen Produktion und Reproduktion beseitigt werden könnten. Nicht die Technik schafft Neues, sondern der Gesetzgeber muss die kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen der geistigen Produktion im 21. Jahrhundert beachten, in dessen Zentrum der Urheberschutz steht. Das Urheberrecht ist auch im 21. Jahrhundert den Herausforderungen eines globalen traditionellen und virtuellen Marktes gewachsen. Es ist nur die Frage, wo die Prioritäten gesetzt werden. Wird das Urheberrecht nur als Vermögensrecht betrachtet – wie sich Josef Kohler auszudrücken pflegte –, wird ein wesentlicher Begründungsansatz des Urheberrechts nicht mehr benötigt. Wird das Urheberrecht nur aus der Sicht eines Verbrauchers gesehen, indem das Urheberrecht aus den Schrankenregelungen erklärt wird, kann letztlich das Urheberrecht nur als Hemmnis der Open-Access-Bewegung betrachtet werden. Der weltweite Ruf nach unentgeltlichem Zugang kreativer Leistungen im Internet für den Nutzer weist auf ein generelles Problem hin, das nur bedingt etwas mit dem Urheberrecht zu tun hat. Es ist die technisch vereinfachte Art und Weise der Beschaffung und Bearbeitung kreativer Werke und künstlerischer Leistungen durch die Digitalisierung und das Internet. Vergleichbar ist dieser revolutionäre Prozess mit den technischen Erfindungen, z.B. dem Buchdruck im 15. Jahrhundert, der die Vervielfältigung und Verbreitung sowie die Verletzung der Rechte der Autoren und Verleger ermöglichte. Die neuen Produktions- und Reproduktionsbedingungen der geistigen Produktion verändern nicht nur die Lebensbedingungen, sondern auch die Verwertungsbedingungen der Werke und künstlerischen Leistungen. Der Streit um die richtige

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639.

Hilty/Reto Renaissance der Zwangslizenzen im Urheberrecht, GRUR 2009, 633,

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Balance zwischen dem Urheberrechtsschutz bzw. der Vergütung der Kreativen und dem Zugang der Allgemeinheit zu urheberrechtlichen Informationen wird auch im digitalen Zeitalter bleiben.59 Wird der Kreative im Verhältnis zum Verwerter und Nutzer als die entscheidende Person im künftigen Gesetzgebungsprozess angesehen, wie dies Josef Kohler gefordert hatte, dann kann das Urheberrecht eine wirkliche Perspektive haben. Von dem produzierten wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Reichtum profitieren die Kreativen, Verwerter und Nutzer sowie die Allgemeinheit. De lege ferenda wird es erforderlich sein, die Harmonisierung des Urheberrechts nicht nur durch die Brille der Europäischen Richtlinienpolitik zu betrachten. Über kurz oder lang wird die globale Marktordnung ein Welturheberrecht erzwingen. Dies wird die größte Herausforderung an die Urheberrechtswissenschaft im 21. Jahrhundert sein, die Josef Kohler mit seinen Theorien befruchtet hat.

59 Spindler Urheberrecht in der Wissensgesellschaft – Überlegungen zum Grünbuch der EU-Kommission, in: FS Loewenheim 2009, 287 ff.

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Erfindungsschutz und Verkehrsfreiheit in Deutschland bis zum Reichspatentgesetz 1877 Zwei frühe Parallelen zur neueren Geschichte des Patentrechts THEO BODEWIG

I. Die Denkschrift „Über Patentierungen“ von 1810 . . . . . . . II. Gottlob Johann Christian Kunth und die Brüder Humboldt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das „Publicandum über die Erteilung von Patenten“ von 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zersplitterung des Patentschutzes in den deutschen Staaten vor 1877 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Vergebliche Vereinheitlichungsbestrebungen in Deutschem Bund und Zollverein von 1815–1866 . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Vereinheitlichungsbestrebungen im Deutschen Zollverein VII. Patentschutz und freier Warenverkehr: Zollverein und EU . 1. Freier Warenverkehr im Zollverein . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freier Warenverkehr in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kurzer Vergleich Zollverein – EU . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Die Erstreckung älterer Schutzrechte: Deutsches Reich 1877 und Bundesrepublik Deutschland 1992 . . . . . . . . . . . 1. Übergangsvorschriften im Reichspatentgesetz von 1877 . . . 2. Erstreckungsgesetz von 1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kurzer Vergleich 1877 und 1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die Denkschrift „Über Patentierungen“ von 1810 Die Gründung der Alma Mater Berolinensis, der Berliner Universität, die sich in diesem Jahr zum zweihundertsten Male jährt, ist Anlass dieser Festschrift und dieses Beitrags. Ausgangspunkt meiner Ausführungen soll jedoch ein anderes, weniger beachtetes Ereignis sein, das wie die Aufnahme des Lehrbetriebs an der Universität ebenfalls 1810 stattfand und den An-

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fangspunkt für die Entwicklung eines preußischen Patentrechts darstellte1 und damit den Weg für die Einführung ähnlicher Regelungen in den wichtigsten der deutschen Partikularstaaten2 und später im Deutschen Reich bereitete. Dieses Ereignis war die Vorlage der Denkschrift „Über Patentierungen“,3 die den Entwurf eines preußischen Patentgesetzes enthielt und wesentliche Inhalte moderner Patentgesetze wie Neuheitsprüfung, begrenzte Schutzfrist, Gebührenpflicht, Veröffentlichungspflicht etc. vorwegnahm.4 Der Aufmarsch für den Russlandfeldzug Napoleons 1812, an dem 20.000 preußische Soldaten teilnahmen und der im Wesentlichen auf preußischem Gebiet stattfand, machte die Landesbehörden zu „bloßen Vollzugsorganen der fremden Machthaber“.5 Die sich nach Napoleons Niederlage anschließenden Befreiungskriege von 1813–1815, aber auch interne Widerstände in der Regierung verzögerten weiter die Umsetzung dieser Denkschrift in Rechtsregeln. Dies wurde schließlich erst am 14. Oktober 1815 mit dem „Publicandum über die Erteilung von Patenten“ zur – wie es dort heißt „Ermunterung und Belohnung des Kunstfleißes“ – vollzogen. Dabei handelte es sich allerdings nicht – wie ursprünglich angestrebt – um ein Gesetz, sondern um eine Verordnung.6 Sie etablierte keinen Anspruch auf die Erteilung eines Patents, sondern behandelte dies im Sinne der früheren, nunmehr vereinheitlichten und festen Regeln unterworfenen Privilegienpraxis als Gnadenerweis des Souveräns.

1 Vorher hatte das ALR von 1794 schon die Erteilung königlicher Erfindungsprivilegien ermöglicht, doch war davon nur wenig Gebrauch gemacht worden, Wischermann/ Nieberding Die institutionelle Revolution – Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, 2004, 138. 2 1799 war in den von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebieten Deutschlands das französische Patentgesetz von 1791 eingeführt worden, das meist auch nach den Befreiungskriegen in Kraft blieb, Damme Das deutsche Patentrecht, 1906, 42. So galt das französische Gesetz etwa in der bayerischen Pfalz bis zu einer einheitlichen bayerischen Regelung 1842. 1809 hatte Napoleon auch im Großherzogtum Berg ein Patentgesetz nach französischem Muster eingeführt. Dieses wurde mit der Angliederung von Berg an Preußen außer Kraft gesetzt, Heggen Erfindungsschutz und Industrialisierung in Preußen 1793–1877, 1975, 30. 3 Die Schreibweise der älteren Texte ist durchwegs der heutigen Rechtschreibung angepasst worden (im Original heißt es „Patentirungen“). 4 Zur Denkschrift siehe Heggen (Fn. 2), 28 ff. 5 Von Münchow-Pohl Zwischen Reform und Krieg – Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen 1809–1812, 1987, 365, zitiert bei Brandt Die Befreiungskriege in der deutschen Geschichte, http://www.fes.de/fulltext/historiker/00671003.htm#I0. 6 Erst mit der preußischen Gewerbeordnung von 1845 kam die gesetzliche Anerkennung, Damme (Fn. 2), 42. Zum Publicandum allgemein Müller Die Entwicklung des Erfindungsschutzes und seiner Gesetzgebung in Deutschland, 1898, 13. (Hinweis: Die meisten der hier zitierten historischen Werke sind einsehbar unter http://dlib-pr.mpier.mpg. de/).

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II. Gottlob Johann Christian Kunth und die Brüder Humboldt Zwischen der Erstellung der Denkschrift von 1810 und der Gründung der Berliner Universität besteht – wie ich zugeben muss – nur eine zeitliche Koinzidenz, kein direkter Zusammenhang. Allenfalls kann sie als ein Bestandteil der umfassenden Reformbestrebungen der Zeit angesehen werden,7 denen auch die Universität ihre Gründung verdankt. Dennoch ist aber auch ein indirekter persönlicher Bezug zu den Brüdern Humboldt gegeben, deren Namen die Universität heute trägt. Der Verfasser der Denkschrift war nämlich Gottlob Johann Christian Kunth (1757–1829).8 Kunth war 1777 vom Vater der Brüder, Major Alexander Georg von Humboldt, zum Hauslehrer der beiden bestellt worden. Wilhelm war zehn Jahre alt, Alexander acht. Zwölf Jahre lang blieb Kunth im Hause Humboldt, bis die Brüder 1789 als Studenten nach Göttingen gingen. Dabei gingen die Aufgaben Kunths weit über die Vermittlung klassischen und modernen Wissens hinaus. Alexander nannte ihn später seinen Führer, „der mit der edelsten Aufopferung zwölf Jahre die Mühseligkeiten der Erziehung ertragen hat und dem ich alles, die Bildung meines Kopfes und meines Herzens verdankt habe“. Und Wilhelm schrieb: „Er leitete meine ganze Kindheit. Wie ich jetzt bin, so ward ich, nicht durch ihn, aber bei ihm, auf seine Veranlassung.“9 Allerdings haben beide diese Kindheit nicht immer als glückliche empfunden. Nach dem frühen und unerwarteten Tod des Vaters 1779 zog sich die zum zweiten Mal verwitwete Mutter immer mehr zurück. Kunth war in Zukunft nicht nur Vermögensverwalter, Lehrer und Erzieher, sondern auch eine Art Ersatzvater. Das Leben von Wilhelm und Alexander war in dieser Zeit geprägt „von mütterlicher Kälte und hofmeisterlicher Kontrolle“.10 Später führte Kunth die Brüder als 16- bzw. 18-Jährige in die Berliner Gesellschaft der geistigen Elite der Aufklärung ein und vermittelte private Vorlesungen berühmter Fachvertreter über Nationalökonomie, Naturrecht, Philosophie.11 Wenn man natürlich Kunth nicht für Wilhelm von Humboldts spätere Vorstellungen von einer idealen Universität „verantwortlich“ machen kann, so gehen auf ihn und seine Erziehungs- und Bildungsbemühungen wohl

7 Nach der preußischen Niederlage in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt (1806) und dem Tilsiter „Diktat-“Frieden (1807) kam es zu einer ganzen Reihe von wichtigen Reformen: Erste Wahl einer Stadtverordnetenversammlung (1809), erste Tageszeitung (1810), Gewerbefreiheit (1810), Berufsfreiheit für Juden (1812), insgesamt das Bündel der Stein-Hardenbergschen Reformen. 8 Für eine Kurzbiografie Kunths siehe Die Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) unter http://de.wikisource.org/wiki/ADB:Kunth,_Christian. 9 Beide Zitate bei Geier Die Brüder Humboldt – Eine Biographie, 2009, 24 f. 10 So Geier (Fn. 9), 26 f., 28. 11 Geier (Fn. 9), 43 ff.

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doch die Grundeinstellungen Wilhelms und Alexanders zurück, welche die Basis ihrer späteren wissenschaftlichen und politischen Laufbahn waren. Auf diesem sehr indirekten Wege dürfte Gottlob Johann Christian Kunth auch auf die Gestaltung der Berliner Universität einen gewissen Einfluss gehabt haben. Nach seiner langjährigen Tätigkeit für die Familie Humboldt ging Kunth 1789 in den preußischen Staatsdienst und zwar als Assessor beim „Manufactur- und Commerzcollegium“.12 1801 wurde er dessen Direktor. 1808 avancierte er zum Staatsrat und befasste sich in der Folge u.a. mit der Reform des gewerblichen Bildungswesens. Kunth bemängelte den niedrigen Bildungsgrad der preußischen Gewerbetreibenden,13 der von ihm auch als Konkurrenznachteil gegenüber anderen sich industrialisierenden ausländischen und deutschen Staaten verstanden wurde. Nach längerem Bemühen wurden in Magdeburg (1819) und in Berlin (1824) von den städtischen Behörden auf Kunths Anregung und nach seinen Vorschlägen Gewerbeschulen eingerichtet, nach deren Muster später andere Schulen derselben Art entstanden.14 Auch wegen dieses starken Interesses an der Bildung der Bevölkerung ist zu vermuten, dass Kunth mit der Gründung und Gestaltung der Berliner Universität durch seinen früheren Schüler, der damals Sektionschef für Kultus und Unterricht im Ministerium des Innern war, wenn nicht befasst, so doch darüber informiert war, womöglich mit ihm darüber diskutiert hat.

III. Das „Publicandum über die Erteilung von Patenten“ von 1815 Teil von Kunths Bestreben, das preußische Gewerbe und die noch in den Kinderschuhen steckende Industrie international konkurrenzfähig zu machen, war auch seine Initiative zum Patentrecht. Er orientierte sich mit seiner Denkschrift stark am Beispiel Englands, dessen wirtschaftlicher Erfolg auch auf sein Patentsystem zurückgeführt wurde. Dennoch stießen seine Vorschläge nicht auf einhellige Zustimmung. Der einflussreiche Staatsrat Johann Gottfried Hoffmann (1765–1847), ein Nationalökonom und Statistiker mit stark ausgeprägten wirtschaftsliberalen Auffassungen, fand Patente „prinzipiell als Instrument der Gewerbeförderung untauglich“.15 Diese Gegnerschaft zum Patentrecht behielt er sein Leben lang bei. Noch 1841 12

Hierzu und zum Folgenden, Heggen (Fn. 2), 28. „. . . Noch jetzt bestehen selbst in Berlin Baumwollfabriken . . . mit einem Umsatze von 50–100 Tausend Talern, unter Verlegern, die mit Mühe ihren Namen schreiben, ihre einfachen Bücher nicht abschließen können, denen die Erde mit Potsdam und Frankfurt a.O. begrenzt ist . . .“, zitiert bei Lärmer Spione holten den Fortschritt in die Stadt, http:// www.luise-berlin.de/bms/bmstext/9809prob.htm. 14 ADB (Fn. 8). 15 Heggen (Fn. 2), 29. 13

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schrieb er, obwohl der Patentschutz in Preußen schon über 25 Jahre lang bestand: „Das Überladen mit Patenten wird endlich den Glauben an ihre Wirksamkeit zerstören: Die Regierungen können inzwischen nur durch möglichste Kürzung des Zeitraums, worauf sie fortan Patente verleihen, und durch Strenge der Beurteilung der angeblichen Neuheit der Erfindungen zur Verminderung der Nachteile des Patentwesens beitragen, ohne deshalb eine Störung der gewerblichen Fortschritte auf der einmal gewohnten Bahn zu besorgen.“16 Hoffmann war 1810, als er Kunths Denkschrift negativ kommentierte, nicht nur Staatsrat im Ministerium des Inneren, sondern wurde auch zum Direktor des Statistischen Büros und zum Professor der Staatswissenschaften an die neu gegründete Universität berufen, war also einer der Gründungsprofessoren.17 Kunths Gesetzesvorschlag versandete zunächst im Ministerium, wozu einerseits der interne Widerstand von z.B. Hoffmann, aber auch die politische Lage (Russlandfeldzug, Befreiungskriege gegen Napoleon 1813-1815) beigetragen haben dürften, und erwuchs erst 1815 in das erwähnte „Publicandum“.

IV. Zersplitterung des Patentschutzes in den deutschen Staaten vor 1877 Nach dem Wiener Kongress, der zu einer Neuordnung der staatlichen Gliederung Europas und insbesondere Deutschlands führte, war zwar die Zahl der selbstständigen deutschen Partikularstaaten erheblich vermindert worden, doch war die Zersplitterung immer noch ganz erheblich. Diese Zersplitterung zeigte sich auch in der Patentgesetzgebung, die nach 1815 mit Preußen begonnen hatte. Österreich, als Führungsmacht des deutschen Bundes, hatte sich 1820 ein Patentgesetz gegeben, das 1832 und 1852 reformiert wurde.18 Schon vor 1820 waren in Österreich aber seit vielen Jahren Privilegien für Erfindungen erteilt worden. In den linksrheinischen Gebieten blieb die unter Napoleon eingeführte Regelung des französischen Gesetzes von 1791 weiter wirksam. In Württemberg regelten die Gewerbeordnungen von 1828 und 1836 auch die Erteilung von Patenten. Bayerns Gewerbeordnung von 1825 enthielt Vorschriften zu Patenten, eine einheitliche Regelung für das damals zersplitterte bayerische Staatsgebiet kam allerdings erst 1842. Andere größere deutsche 16

Hoffmann Die Befugnis zum Gewerbebetrieb, 1841, 464. ADB unter http://de.wikisource.org/wiki/ADB:Hoffmann,_Johann_Gottfried. Ein besonderes Interesse der akademischen Juristen an der neu gegründeten Universität am Patentschutz war zu Beginn des Patentrechts in Preußen und auch noch während der kontroversen Diskussionen in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht ersichtlich. 18 Zur Geschichte des österreichischen Patentrechts vor dem deutschen Patentgesetz von 1877 siehe Damme (Fn. 2), 36 ff. 17

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Staaten folgten mit Hannover 1847, Sachsen 1853, Großherzogtum Hessen 1858. In den kleineren Staaten bestanden ältere Privilegienregelungen fort. Nur in Hamburg, Bremen und Lübeck (als hauptsächlich vom Handel lebend grundsätzlich gegen wirtschaftliche Beschränkungen eingestellt) sowie in den beiden mecklenburgischen Staaten (noch fast vollständig agrarisch geprägt) bestanden keine Möglichkeiten des Erfindungsschutzes durch Patente.19 Auch damals galt wie heute für die Patenterteilung das Territorialitätsprinzip: Ein im Staate X erteiltes Patent kann Schutzwirkung nur auf dessen Territorium entfalten. Die Folgen beschreibt Damme mit anschaulichen Worten: „Wer für das gesamte Wirtschaftsgebiet des deutschen Bundes den Patentschutz für eine Erfindung genießen wollte, hätte in 20 und mehr Staaten Patente erwerben müssen. Dass dies bei der Buntscheckigkeit der für die Patentnachsuchung geltenden Vorschriften und der Kleinheit der meisten dieser Staaten regelmäßig höchst verdrießlich, oft auch wegen des notwendigen Kostenaufwandes geradezu unmöglich war, leuchtet ohne weiteres ein. Was not tat, war also die Ausdehnung des Patentrechtsschutzes über die Grenzen des eigenen Vaterländchens.“20 Wenn diese Klage und diese Forderung auch heutigen Ohren nur allzu bekannt klingen, so verwundert das nicht: Das Territorialitätsprinzip gilt trotz vieler internationaler Verträge zu seiner Abmilderung auch heute noch. Vor denselben Problemen stand und steht die Europäische Union trotz des Europäischen Patents, solange ein Gemeinschafts- bzw. Unionspatent noch nicht Wirklichkeit geworden ist.

V. Vergebliche Vereinheitlichungsbestrebungen in Deutschem Bund und Zollverein von 1815–1866 Auf dem Wiener Kongress war 1815 der Deutsche Bund gegründet worden, dem zunächst 39 deutsche Staaten21 unter Einschluss von Österreich und Preußen angehörten.22 Er endete 1866 nach dem Sieg Preußens über die Koalition der meisten übrigen Bundesstaaten unter der Führung Österreichs. Der daraufhin von Preußen initiierte und dominierte Norddeutsche Bund umfasste zunächst nur die Gebiete nördlich der Mainlinie. Durch den Beitritt Badens, Bayerns und Württembergs 1871 wurde dann das Bundesgebiet auf das des kurz darauf gegründeten Deutschen Reiches ausgedehnt. 19

Damme (Fn. 2), 43 f. Damme (Fn. 2), 44. 21 Bis 1863 ging die Zahl durch Erbgang oder Kauf auf 35 zurück. 22 Allerdings unter Ausschluss der jeweiligen Gebiete, die nicht zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehört hatten. 20

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Zwar gehörte es zu den Zielen des Deutschen Bundes, die Wirtschaftsverhältnisse im Bundesgebiet zu vereinheitlichen, doch gelang dies keineswegs.23 Nicht einmal die Zölle zwischen den Mitgliedstaaten, die den inneren Wirtschaftsverkehr erheblich erschwerten und die Entwicklung von Handel und Industrie behinderten, konnten auf Bundesebene abgeschafft werden.24 Ebenso blieben die einzelstaatlichen Regelungen und Praktiken des Erfindungsschutzes mit ihrer jeweils nur territorialen Wirkung in Kraft. Zumindest für die Zölle brachte der am 1. Januar 1834 in Kraft getretene Deutsche Zollverein, der institutionell außerhalb des Deutschen Bundes durch Verträge zwischen den beteiligten Staaten zustande kam,25 eine teilweise Lösung, an der Österreich jedoch nicht teilhatte. Im Hinblick auf den Erfindungsschutz sind bereits 1819 und 1820 in Bayern und Baden Forderungen nach einem gemeinsamen Patentrecht des Deutschen Bundes aufgestellt worden. 1839 wiederholte Wieck diese Forderung: „Sollen . . . Patente auf Erfindungen ihren Besitzern von wirklichem Werte sein und Patente in Deutschland nicht nur eine illusorische Wirksamkeit, sondern eine reelle haben, soll die gesamte deutsche Industrie, fern aller provinziellen Absonderung, wahren Nutzen durch das Patentwesen genießen und die konkurrierende Industrie der verschiedenen deutschen Bundesstaaten sich nicht gegenseitig Wunden schlagen, indem diesseits patentierte Erfindungen jenseits frei nachgemacht werden und umgekehrt, so muss ein für alle deutschen Bundesstaaten gleich geltendes Patentgesetz unter Garantie des Bundestages in Wirksamkeit treten.“26 1855 unternahm von Kleinschrod einen weiteren publizistischen Vorstoß.27 Schließlich wurde durch Beschluss des Bundestages vom 5. Dezember 1861 die Einsetzung einer Kommission beschlossen, welcher folgende Auf23 Art. 19 der Bundesakte sah nur vor, dass die Bundesversammlung Beratungen über Handel und Verkehr zwischen den Bundesstaaten aufnehmen könne. Von FestenbergPakisch Geschichte des Zollvereins unter besonderer Berücksichtigung der staatlichen Entwicklung Deutschlands, 1869, 247 stellt fest: „Für Handel, Verkehr, Schifffahrt und andere nützliche Anstalten geschah trotz Art. 19 der Bundesakte von Bundes wegen nichts.“ 24 Seidel gibt an, dass es selbst innerhalb Preußens vor der Abschaffung der Binnenzölle im Zuge der Reformen nach 1806 noch 67 Zollgrenzen gab. Ein Warentransport von Königsberg nach Köln wurde 80 mal kontrolliert. Seidel Das Armutsproblem im deutschen Vormärz bei Friedrich List, in: Kölner Vorträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Heft 13, 1971, 4. Ausführlich zur Zollsituation in Deutschland um diese Zeit von Festenberg-Pakisch (Fn. 23). Innerhalb Preußens wurden die Binnenzölle im Zollgesetz von 1818 abgeschafft, ebenda, 124 ff., 148. Nach Darstellung von Festenberg-Pakischs war übrigens Kunth wieder maßgeblich an den Vorarbeiten und der politischen Begründung dieses Gesetzes beteiligt, 130. Siehe auch von Treitschke Die Gründung des Deutschen Zollvereins, 5. 25 Weber Der deutsche Zollverein2, 1871, V. 26 Wieck Grundsätze des Patentwesens, 1839, 30 f. 27 Von Kleinschrod Die internationale Patentgesetzgebung nach ihren Prinzipien nebst Vorschlägen für ein künftiges gemeines deutsches Patentrecht, 1855.

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gabe gestellt wurde: „Gutachtliche Vorschläge für eine den sämtlichen Bundesstaaten einheitliche Regelung der zum Schutz von Erfindungen aufzustellenden Vorschriften auszuarbeiten“. Am 16. Mai 1863 schloss die Kommission ihre Beratungen ab.28 Vorschläge für ein gemeinsames Patentgesetz legte die Kommission jedoch nicht vor, da ein solcher Eingriff in die Souveränitätsrechte der Bundesstaaten zu diesem Zeitpunkt nicht möglich sei. Statt dessen schlug die Kommission gemeinsame Grundsätze für die einzelstaatlichen Gesetze vor.29 Nicht zuletzt der Widerstand Preußens, das der Einrichtung der Kommission nicht zugestimmt hatte und an den Beratungen nicht teilnahm, führte dazu, dass diese Bestrebungen erfolglos blieben.30 Ab 1863 hatte sich das Misstrauen gegenüber Patenten in der preußischen Regierung so verstärkt,31 dass sogar die Abschaffung des Patentschutzes gefordert wurde.32 Dies war Ausdruck einer breiten anti-patentrechtlichen Strömung, die insbesondere von der ökonomischen Freihandelsschule ausging und die sich beim volkswirtschaftlichen Kongress 1863 mit der Forderung nach Abschaffung des Patentrechts durchsetzen konnte.33

28

Röhrich Die Patentgesetzgebung – Bericht für den VI. Volkswirtschaftlichen Kongress, 1863, 11. 29 Röhrich (Fn. 28), 14 ff. Heftig kritisiert der Autor, dass die Kommission nicht auch die Vorfrage der Sinnhaftigkeit des Patentschutzes überhaupt behandelt habe. Diese hatte gemeint, die positive Antwort auf diese Frage sei bereits in ihrer Auftragsstellung impliziert, 11 f. 30 Müller (Fn. 6), 58. 31 Die Ablehnungsquote von Patentgesuchen in Preußen lag wegen einer strengen Prüfungspraxis bei 80 %, Müller (Fn. 6), 18. 32 Klostermann Das Patentgesetz für das deutsche Reich vom 25. Mai 1877, 1877, 105. Noch 1868 hatte Bismarck im Reichstag des Norddeutschen Bundes (erfolglos) einen Antrag auf Abschaffung des Patentschutzes eingebracht, Heggen Zur Vorgeschichte des Reichspatentgesetzes von 1877, GRUR 1977, 322, 325. Der Antrag wurde modifiziert in einen Antrag auf Einsetzung einer Kommission, die sich mit der Frage beschäftigen sollte. Diese kam zu dem Ergebnis, dass die Sache einstweilen ruhen sollte, Treue Wirtschaftsund Technikgeschichte Preußens, 1984, 501. 33 Böhmert Die Erfindungspatente nach volkswirtschaftlichen Grundsätzen und industriellen Erfahrungen unter besonderer Rücksicht auf England und die Schweiz, Vierteljahresschrift für Volkswirtschaft und Kulturgeschichte, 7. Jahrgang, Erster Band, 1869, 28–106; Prince-Smith Über Patente für Erfindungen, Vortrag vor dem volkswirtschaftlichen Kongress 1863, Vierteljahresschrift für Volkswirtschaft und Kulturgeschichte, 3. Band, 1963, 150–161. In den Niederlanden war tatsächlich der ursprünglich durch Napoleon und später im niederländischen Gesetz von 1817 eingeführte Patentschutz 1869 abgeschafft (und erst 1910 mit Wirkung von 1912 wieder eingeführt) worden. Zum Patentstreit dieser Zeit siehe ausführlich Machlup/Penrose The Patent Controversy in the Nineteenth Century, 10 J.Econ.Hist. 1-29 (May 1950); ferner Beier Wettbewerbsfreiheit und Patentschutz – Zur geschichtlichen Entwicklung des deutschen Patentrechts, GRUR 1978, 123.

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VI. Vereinheitlichungsbestrebungen im Deutschen Zollverein Ziel des Zollvereins war die Schaffung eines wirtschaftlichen Binnenmarktes. Dem standen – auch schon nach damaliger Erkenntnis34 – die territorial begrenzten einzelstaatlichen Regelungen des Erfindungsschutzes über Patentgesetze, -verordnungen oder Privilegien entgegen. Die jeweiligen Inhaber der einzelstaatlich gewährten Schutzrechte konnten sich nach Maßgabe der partikularen Regelung der Einfuhr entsprechend geschützter Gegenstände aus anderen Vereinsstaaten widersetzen. Die zwischenstaatlichen Grenzen blieben für den Import patentgeschützter Waren verschlossen. Bei der Entwicklung des Binnenmarktes im Deutschen Zollverein war also ein Problem aufgetreten, welches über 120 Jahre später bei der Schaffung des Binnenmarktes in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der heutigen Europäischen Union, erneut auftreten sollte.35 Die beste Lösung dieses Problems wäre die Schaffung eines einheitlichen Patentgesetzes gewesen, das ein Vereinspatent mit Geltung für das gesamte Vereinsgebiet eingeführt hätte. Bestrebungen dazu gab es wie auf der Ebene des Deutschen Bundes, doch waren sie auch im Zollverein, wo zwischen 1836 und 1842 über Möglichkeiten der Rechtsvereinheitlichung auf dem Sektor des Patentwesens verhandelt wurde, nicht erfolgreich.36 Erst im Rahmen des Deutschen Reiches konnte dann 1877 ein Reichspatentgesetz erlassen werden. Auch in dieser Beziehung führt die historische Betrachtung beim Vergleich mit der Europäischen Union zu einem „deja vu“ Erlebnis. So wie im Deutschen Bund und im Zollverein hat man auch in der EU zunächst mit dem Luxemburger Abkommen von 1974 ein Gemeinschaftspatent einführen wollen, doch sind diese Bemühungen bisher erfolglos geblieben. Die Chancen der Einführung eines Gemeinschaftspatents durch eine Verordnung von Rat und Parlament haben sich aufgrund der Beschlüsse des

34 Klostermann (Fn. 32), 104: „Bei der Gründung des Zollvereins ergab sich zuerst das Bedürfnis einer übereinstimmenden Patentgesetzgebung, da die in den einzelnen Staaten erteilten Erfindungspatente die zwischen den Vereinsstaaten hergestellte Verkehrsfreiheit beeinträchtigten.“ 35 Siehe dazu schon Beier (Fn. 33), 129: „Im Bereich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft befinden wir uns heute in der gleichen Situation wie die Staaten des deutschen Zollvereins vor 120 Jahren. Heute wie damals stand man vor der Tatsache, daß die territorialen Schutzrechtsgrenzen den freien Warenverkehr innerhalb des von Zollschranken befreiten, einheitlichen Wirtschaftsgebiets behinderten. Hier wie da erwies es sich als politisch unmöglich, die nationalen Patentrechtssysteme sofort durch einheitliche Schutzrechte für das gesamte Wirtschaftsgebiet zu ersetzen und so mußte man heute wie damals nach Lösungen suchen, wie man trotz Fortbestand der territorialen Schutzrechte die dadurch bewirkten Störungen des Handelsverkehrs so weit als möglich beseitigen kann.“ Siehe auch Kraßer Patentrecht6, 2008, 63. 36 Klostermann (Fn. 32), 104; Heggen (Fn. 32), 323.

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Rates vom 4. Dezember 2009 zwar verbessert, doch ist ein erfolgreicher Abschluss dieser Bemühungen noch nicht abzusehen.37 Da man sich im Zollverein nicht auf eine gemeinsame Gesetzgebung zum Patentrecht einigen konnte, bestand das oben skizzierte drängende Problem der Territorialität weiter. Man suchte deshalb im Zollverein nach einer „second best“ Lösung. Laut Heggen „war es auf den Generalkonferenzen des Zollvereins von 1836, 1838 und 1842 von vornherein klar, dass nur eine Angleichung der Erteilungsprinzipien und ein Schutz gegen unerlaubte Nachahmung angestrebt werden konnten, weil die Patentgesetzgebung als Teilbestand hoheitlicher Gesetzesakte in die Kompetenz der Einzelstaaten fiel.“38 Unter diesen Voraussetzungen kam es schließlich am 21. September 1842 zur „Vereinbarung der Zollvereinsstaaten wegen Erteilung von Erfindungspatenten und Privilegien“.39 Darin wird in der Präambel die grundsätzliche Freiheit der Vereinsstaaten, Erfindungs- und Einführungspatente zu erteilen und die Bedingungen dafür aufzustellen, bestätigt. Das entspricht für diese Rechte dem heutigen Art. 345 AEUV (früher Art. 295 EG), wonach der Vertrag die Eigentumsordnung der Mitgliedstaaten der EU unberührt lässt. Dies hat der EuGH auch auf das Recht der Mitgliedstaaten bezogen, in Ermangelung europarechtlicher Regelungen, selbst zu entscheiden, ob und unter welchen Bedingungen Patente erteilt werden.40

VII. Patentschutz und freier Warenverkehr: Zollverein und EU Die aus dieser fehlenden „Vergemeinschaftung“ des Patentschutzes resultierenden Beschränkungen der Freiheit des Verkehrs sollten im Zollverein möglichst beseitigt und eine Harmonisierung in wesentlichen Punkten41 er37 Allerdings ist zu beachten, dass in der EU – anders als im Deutschen Bund und im Zollverein – das Europäische Patent nach dem Europäischen Patentübereinkommen den Druck zur Schaffung eines Gemeinschaftspatents vermindert hat. 38 Heggen (Fn. 32), 323. 39 Für den Wortlaut siehe Bitzer Vorschläge für ein deutsches Patentgesetz, 1864, 138 ff. 40 Siehe z.B. EuGH, Rs 144/81, Keurkoop v. Nancy Kean Gifts, Slg 1982, 2853; Rs 35/ 87, Thetford v. Fiamma, Slg 1988, 3585; Beier Gewerblicher Rechtsschutz und freier Warenverkehr im europäischen Binnenmarkt und im Verkehr mit Drittstaaten, GRUR Int 1989, 603. 41 Diese Punkte der Harmonisierung des materiellen Patentrechts, die hier nur erwähnt werden sollen, sind: Schutzvoraussetzung der Neuheit der Erfindung bezogen auf den Erteilungstag (Art. I); Patente für Verbesserungserfindungen (ohne Zwangslizenz) (Art. II); Veröffentlichungspflicht (Art. VII S. 1; VIII); Vorbenutzungsrecht (Art. VI S. 2); Rücknahmemöglichkeit bei nachträglicher Feststellung des Fehlens der Neuheit (Art. VI).

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reicht werden.42 Allerdings enthielt bereits Art. 7 lit. C der Grundverträge von 1833 eine Ausnahme vom freien Warenverkehr zugunsten solcher Gegenstände, „welche ohne Eingriff in die von einem der von den kontrahierenden Staaten erteilten Erfindungspatente oder Privilegien nicht nachgemacht oder eingeführt werden können und daher für die Dauer der Patente oder Privilegien von der Einfuhr in den Staat, welcher dieselben erteilt hat, noch ausgeschlossen bleiben müssen“.43 Der EuGH hat diesen gleichen Konflikt zwischen freiem Warenverkehr einerseits und territorial begrenztem Schutz von Immaterialgüterrechten, für die Art. 36 VFEU ebenfalls eine Ausnahme bereit hält, im Rahmen der EU in einer langen Reihe von Entscheidungen durch die Entwicklung seiner Lehre von der europaweiten Erschöpfung gelöst. Im Folgenden soll dieser Lehre die Lösung der Zollvereinsvereinbarung gegenübergestellt werden. 1. Freier Warenverkehr im Zollverein Art. V S. 1 der Vereinbarung des Zollvereins bestimmt: „Es sollen in jedem Vereinsstaate die Untertanen der übrigen Vereinsstaaten, sowohl in Betreff der Verleihung von Patenten, als auch hinsichtlich des Schutzes für die durch die Patenterteilung begründeten Befugnisse den eigenen Untertanen gleich behandelt werden.“ Die Vorschrift begründet also die Pflicht zur Inländerbehandlung, wie sie 40 Jahre später in der Pariser Verbandsübereinkunft von 1883 auch auf internationaler Ebene im Gewerblichen Rechtsschutz eingeführt wurde. Im Zusammenhang der EU entspricht diese dem Diskriminierungsverbot nach der Nationalität, das jetzt sogar in Art. 22 II Grundrechtscharta der EU aufgenommen wurde. Die Vereinbarung stellt weiter fest, dass die Erteilung eines Patents in einem Vereinsstaat keineswegs einen Anspruch darauf begründet, ein solches auch in den anderen Mitgliedstaaten zu erhalten. Vielmehr entscheide jeder Staat darüber im Einklang mit seinen eigenen Vorschriften. Dabei handelt es sich um eine reine Klarstellung, denn ein solcher Anspruch ließe sich aus dem Prinzip der Inländerbehandlung gerade nicht ableiten. Es würde vielmehr zu einer Bevorzugung von Ausländern führen, müsste man ihnen wegen der Patenterteilung im Heimatland auch ein Patent im Inland gewähren, das man den eigenen Bürgern nach den nationalen Regeln verweigern müsste. Insofern kann allerdings – wenn auch nicht im Hinblick auf die Erteilung nationaler Patente – ein Unterschied zur EU bestehen, soweit dort in manchen Bereichen das Herkunftslandprinzip zu einer Begünstigung von Ausländern gegenüber Inländern führen kann.44 42

Präambel der Vereinbarung. Von Kleinschrod (Fn. 27), 183 f. 44 So können etwa nach § 3 TelemedienG deutsche Anbieter wegen des Herkunftslandsprinzips an strengere Auflagen gebunden sein als ausländische. 43

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Eine weitere Regelung der Vereinbarung, die sich indirekt auch auf den freien Warenverkehr auswirkt, findet sich in Art. I Abs. 3 der Vereinbarung des Zollvereins: „Für eine Sache, welche als eine Erfindung als eines vereinsländischen Untertans anerkannt und zugunsten des letzteren bereits in einem Vereinsstaate patentiert worden ist, soll außer jenem Erfinder selbst, oder dessen Rechtsnachfolger, niemandem ein Patent in einem anderen Vereinsstaate erteilt werden.“ Somit wird dem ersten Patentinhaber ein Schutz vor Parallelpatenten Dritter in anderen Vereinsstaaten eingeräumt, was es ihm ermöglicht, die Produktion45 auch dort aufzunehmen und damit die Technologie weiter zu tragen. Soweit in dem anderen Mitgliedstaat die Voraussetzungen der Neuheit noch gegeben waren, lag in dieser Vorschrift auch der Keim eines Prioritätsrechts.46 Im Unterschied zur Verbandspriorität der Pariser Verbandsübereinkunft von 1883 wurde aber offensichtlich für die spätere Anmeldung die Feststellung der Neuheit nicht auf den Tag der ersten Erteilung vorverlegt. Für die EU besteht eine ähnliche Vorschrift nicht. Dort ist es – soweit es die Neuheitsvorschriften der nationalen Patentgesetze oder des Europäischen Patentübereinkommens überhaupt zulassen – möglich, dass derselbe Gegenstand für verschiedene Anmelder patentiert wird. Soweit dies praktisch relevant sein sollte, hat dies Auswirkungen auch auf den freien Warenverkehr, weil unter Umständen beim Inverkehrbringen durch einen dortigen Rechtsinhaber im Ausland mangels Genehmigung durch den einheimischen Inhaber keine Erschöpfung im Inland eingetreten ist.47 Der stärkste Schutz des freien Warenverkehrs geht in der Vereinbarung des Zollvereins aber von deren Art. III und IV aus. Dort werden die absoluten Rechte bestimmt, die dem Patentinhaber bei der Erteilung in einem Mitgliedstaat zustehen sollen. Danach musste er ein erhebliches Opfer für die Verkehrsfreiheit bringen, das letztlich den Erfindungsschutz im Zollverein fast entwertete. Dem Patentinhaber wurde nämlich nur das ausschließliche Herstellungsrecht im Schutzstaat zugestanden. Es war ihm danach verwehrt, die Einfuhr, den Verkauf und Absatz, den Gebrauch und Verbrauch von patentgegenständlichen Produkten zu untersagen, selbst wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat ohne seine Genehmigung hergestellt worden waren. Eine Ausnahme galt nur für Patente auf Maschinen und Werkzeuge für die Fabrikation und den Gewerbebetrieb, nicht aber von Handelsartikeln für ein größeres Publikum. Der Patentinhaber musste also die Herstellung im schutzfreien Ausland und den Vertrieb patentgeschützter Waren Dritter bis 45 Wie gleich gezeigt wird, konnte ein Patentinhaber den Vertrieb durch Dritte mangels ausschließlichem Vertriebsrecht sowieso nicht verhindern (Art. II). 46 Soweit bei der zweiten Anmeldung Neuheit nicht mehr vorlag, hätte nach Art. I auch ohne diese Vorschrift einem Dritten kein Patent mehr erteilt werden dürfen. 47 Siehe zum Markenrecht etwa EuGH Rs C-9/93, Ideal Standard v. Wabco Standard, Slg 1994 I-2789.

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auf die genannte Ausnahme selbst im Schutzland dulden. Der freie Warenverkehr war damit wahrlich „grenzenlos“, der Patentschutz minimal. 2. Freier Warenverkehr in der EU Ganz anders in der EU. Hier werden die national und europäisch gewährten Ausschließlichkeitsrechte umfassend nicht nur auf die Herstellung, sondern auch auf den Gebrauch, das Anbieten, das Inverkehrbringen, den Import und den Besitz erstreckt48 und es wird sogar die mittelbare Patentverletzung geahndet.49 Die Einschränkung zugunsten des freien Warenverkehrs gilt nur im Rahmen der Erschöpfungslehre. Danach kann der Rechtsinhaber sich nur dem Import solcher Waren nicht widersetzen, die von ihm selbst oder mit seiner Genehmigung in einem Mitgliedstaat des Europäischen Wirtschaftsraums rechtmäßig in Verkehr gebracht worden sind. Anders als im Zollverein muss er also keine von Dritten ohne seine Genehmigung hergestellten Waren dulden, er muss auch nicht den Import von (selbst eigenen) Waren aus Drittländern dulden. 3. Kurzer Vergleich Zollverein – EU Der Zollverein hat also im Hinblick auf die Verkehrsfreiheit im Verhältnis zur EU nur einen radikal verkürzten Patentschutz gewährt. Diese stärkere Betonung des freien Warenverkehrs lag sicherlich an dem insgesamt – gerade auch bei der preußischen „Führungsmacht“ – aufgrund der vorherrschenden wirtschaftsliberalen Vorstellungen in der Verwaltung stark ausgeprägten Misstrauen gegenüber den „Patentmonopolen“. Andererseits fehlte aber zu dieser Zeit auch noch die dogmatische Grundlage für eine Erschöpfungslehre, wie sie der EuGH (und die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Patentrechten schon vorher) anwendet. Die Erschöpfungslehre wurde für Deutschland erst am Ende des 19. Jahrhunderts von Josef Kohler, seit 1888 Professor an der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin tätig, zunächst als Theorie des Zusammenhangs der Benutzungsarten entwickelt50 und später mit dem Begriff der Erschöpfung verbunden.51 Dabei stützte sich Kohler auch auf US-amerikanische Präzedenzfälle.52 Aber auch diese Entscheidungen standen den Autoren der Vereinbarung des Zollvereins – selbst wenn sie rechtsvergleichend über den Atlantik geblickt hätten – nicht zur Verfügung. Die älteste Entscheidung des US Supreme 48 49 50

Siehe nur § 9 PatG. § 10 PatG. Kohler Handbuch des Patentrechts in rechtsvergleichender Darstellung, 1900,

452. 51 52

Kohler Lehrbuch des Patentrechts, 1908, 131 ff. Kohler (Fn. 50), 453.

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Court, welche die Erschöpfung von Patenten ausdrücklich anerkennt, stammt nämlich aus dem Jahre 1846,53 lag also nach der Vereinbarung.

VIII. Die Erstreckung älterer Schutzrechte: Deutsches Reich 1877 und Bundesrepublik Deutschland 1992 Mit der Einführung des ersten nationalen Patentgesetzes 187754 trat ein weiteres Problem auf, welches ebenfalls eine gewisse Parallele zur späteren deutschen Geschichte aufweist. Es ging um die Frage, was mit den in den Partikularstaaten erteilten Patenten nach der nationalen Einigung geschehen sollte. Bis 1877 waren sie für ihr jeweiliges Gebiet in Kraft geblieben, danach mussten Übergangsregeln geschaffen werden. Die (unvollkommene) geschichtliche Parallele besteht zur Wiedervereinigung Nachkriegsdeutschlands 1990 und der damit notwendigen Regelung des Schicksals der BRDund der DDR-Patente. 1. Übergangsvorschriften im Reichspatentgesetz von 1877 Das Patentgesetz von 1877 regelte dieses Problem in den Übergangsbestimmungen in §§ 45 ff.,55 der Bundesgesetzgeber im Erstreckungsgesetz von 1992. Nach § 41 PatG 1877 blieben die landesgesetzlich erteilten Patente in Kraft,56 sie konnten aber nicht mehr verlängert werden. Insofern bestand die Zersplitterung mit nur regional gültigen Schutzrechten fort. Allerdings konnte der Inhaber eines Landespatents die Erteilung eines Reichspatents beantragen und damit dieses in ein Reichspatent umwandeln, § 42. Die Prüfung erfolgte dann nach Maßgabe des Reichsgesetzes.57 Die Erteilung wurde versagt, wenn der Inhaber eines Parallelpatents ebenfalls ein Reichspatent beanspruchte oder dem ersten Antrag widersprach. In diesem Fall blieben also die Parallelpatente in ihren jeweiligen Territorien bestehen. Wurde auf der Grundlage eines Landespatents ein Reichspatent erteilt, erloschen die 53

Wilson v. Rousseau, 45 U.S. (4 How.) 646 (1846). Ausführlich zur Erschöpfung im US-Recht siehe Bodewig Die Erschöpfung der gewerblichen Schutzrechte und des Urheberrechts in den USA, GRUR Int. 2000, 597–610. 54 Die Zuständigkeit für das Patentrecht war durch die Reichsverfassung von den Ländern auf das Reich übergegangen, Art. 4 Ziff. 5. Siehe Damme (Fn. 2), 48. So auch schon die Verfassung von 1849, Art. 7 § 40, Müller (Fn. 6), 54. 55 Klostermann (Fn. 32), 270 ff. 56 In den Ländern, die kein eigenes Patentrecht in Form einer Verordnung oder eines Gesetzes hatten, galt direkt die Zollvereinsvereinbarung, die nach Art. 60 der Reichsverfassung in Kraft blieb, Klostermann (Fn. 32), 271. 57 Für die Neuheit war allerdings der Zeitpunkt der ersten landesrechtlichen Patenterteilung maßgeblich.

Zwei frühe Parallelen zur neueren Geschichte des Patentrechts

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Landespatente desselben Inhabers. Parallelpatente anderer Inhaber blieben bestehen. Der Schutz des neuen Reichspatents erstreckte sich nicht auf deren Gebiet. Eine Schutzausdehnung fand erst mit Ablauf des älteren Landespatents statt. Bei Erteilung eines Reichspatents wurde die Schutzfrist unter Abzug der bereits abgelaufenen Schutzdauer des ältesten Landespatents berechnet, § 43. Ein Vor- bzw. Weiterbenutzungsrecht bestand für diejenigen, die vor der Anmeldung zum Reichspatent die Erfindung schon ohne Patentverletzung benutzt hatten, § 44. Landespatente blieben also grundsätzlich in ihren jeweiligen Grenzen bestehen. Sie wurden nicht automatisch auf das Reichsgebiet erstreckt. Soweit es zu einer Erstreckung kam, galt diese jedoch nicht für das Gebiet von Parallelpatenten anderer Inhaber. Auf diese Weise kam es nicht zum Konflikt zwischen Inhabern von Parallelpatenten im selben räumlichen Schutzbereich. 2. Erstreckungsgesetz von 1992 Anders das Erstreckungsgesetz von 1992: Nach § 1 wurden alle im alten Bundesgebiet bestehenden Patente unter Beibehaltung ihres Zeitranges auf das Gebiet der ehemaligen DDR erstreckt. Gleiches galt umgekehrt für die Erstreckung der DDR-Patente auf die alten Bundesländer, § 4. Dadurch war es möglich, dass Parallelpatente unterschiedlicher Inhaber aufeinander stießen. Die Erstreckung wurde dadurch nicht beeinträchtigt, wohl aber die Nutzungsmöglichkeit durch die jeweiligen Inhaber. So konnten die Inhaber ihre Schutzrechte nicht gegeneinander oder gegen die Inhaber abgeleiteter Benutzungsrechte (Lizenzen) durchsetzen, § 26 (1). Außerdem waren sie in ihrer eigenen Benutzung in dem durch die Erstreckung hinzu gewonnenen Gebiet eingeschränkt, § 26 (2). Ferner war das Fortbestehen von älteren Vorbenutzungsrechten und Weiterbenutzungsrechten für Personen vorgesehen, welche die Benutzung in dem bisher patentfreien Gebiet aufgenommen hatten, §§ 27, 28. 3. Kurzer Vergleich 1877 und 1992 Anders als 1877 kam es 1992 also zur Einführung eines automatischen bundesweiten Schutzes vorbestehender Patente. Dies machte Regelungen für Konfliktfälle notwendig, die im Gesetz von 1877 nur bei der antragsgemäßen Umwandlung in ein Reichspatent auftraten, in den meisten Fällen also – allerdings um den Preis weiter bestehender Zersplitterung und regionaler Beschränkung bis zum Ablauf der Schutzfristen der jeweiligen Landespatente – vermieden wurden.

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Theo Bodewig

IX. Schlussbemerkung Gerne hätte ich im Zusammenhang mit dieser Festschrift über die entscheidende wissenschaftliche und politische Rolle der Juristischen Fakultät der frühen Berliner Universität bei der Entwicklung der Patentgesetzgebung in Deutschland zu Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts berichtet. Die Realität sah leider anders aus. Die politischen und wissenschaftlichen Diskussionen zum Patentschutz wurden vielmehr von Nationalökonomen (auch diese meist nicht aus dem akademischen Bereich, sondern Journalisten wie Böhmer, Prince-Smith, Faucher, Michaelis) und Praktikern aus der Industrie (Werner von Siemens) oder der Verwaltung (Kunth, Hoffmann, Beuth, Delbrück) getragen. Erst die Berufung von Josef Kohler, dessen 1878 veröffentlichte Schrift zum Patentrecht ihn an die Universität Würzburg gebracht hatte, an die Berliner Universität im Jahre 1888 etablierte dort auch zumindest in wissenschaftlicher Hinsicht das Patentrecht – das aber gleich durch einen der größten und einflussreichsten Vertreter dieses Fachs. Im selben Jahr 1888 erschienen auch Kohlers „Forschungen aus dem Patentrecht“ in Mannheim, denen er als Motto auf der Titelseite folgendes Zitat des US Supreme Court von 1876 voranstellte: „It (das Patentrecht) is no longer a scarcely recognized principle struggling for a foothold, but it is an organized system with well-settled rules, supporting itself at once by its utility and by the wealth which it creates and commands.“ Dass dies fortan auch in Deutschland gelten konnte, ist nicht zuletzt Kohlers Verdienst.

Strafrecht nach der Überwindung zweier Unrechtsregime in Deutschland

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Strafrecht nach der Überwindung zweier Unrechtsregime in Deutschland Klaus Marxen

Strafrecht nach der Überwindung zweier Unrechtsregime in Deutschland Ein Plädoyer für eine zeithistorische Rechtsschule im Strafrecht KLAUS MARXEN

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Geschichtsverlust im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriffliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strafrecht ohne Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Verschwinden der Geschichte aus dem Strafrecht . . . III. Vergeschichtlichung des Strafrechts durch Spezialisierung? IV. Zum Verhältnis von Strafrecht und strafjuristischer Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur gegenwärtigen Trennung der Fächer . . . . . . . . . . . . 2. Der Einwand der Historizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vom Nutzen der strafjuristischen Zeitgeschichte für das Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Eine zeithistorische Rechtsschule im Strafrecht . . . . . . . .

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I. Einleitung Kein anderes Thema beschäftigt die aktuelle strafrechtliche Diskussion mehr als das Feindstrafrecht. Diskutiert wird über eine Unterteilung des Sachgegenstandes Strafrecht nach personenbezogenen Kriterien.1 Tatsächliche und potentielle Straftäter sollen danach unterschieden werden, ob sie als Bürger der vorhandenen Rechtsordnung noch zugehörig sind oder diese Rechtsordnung als Feinde bekämpfen. Bürger-Straftätern wird eine Behandlung nach den Regeln des herkömmlichen Strafrechts zugestanden, das der Ausübung der Strafgewalt durch die Garantie von Freiheitsrechten Grenzen zieht. Für Feind-Straftäter soll ein Strafrecht zur Anwendung kommen, das 1 Zusammenfassende Darstellungen mit umfangreichen Nachweisen: Heinrich ZStW 121 (2009) 94 ff.; Hörnle GA 2006, 80 ff.; Morguet Feindstrafrecht – Eine kritische Analyse, 2009, 20 ff.; Sacher ZStW 118 (2006) 574, 605 ff.

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unter Befreiung von rechtsstaatlichen Bindungen allein darauf zielt, gefährliche Individuen unschädlich zu machen. Die Diskussion kreist um zwei Fragen. Ist die jüngste Entwicklung des Strafrechts bereits durch die Abspaltung eines Feindstrafrechts vom Bürgerstrafrecht geprägt? Erfordern gegenwärtige und sich abzeichnende Gefahren die Ausbildung eines Feindstrafrechts? Die Auseinandersetzung wird mit allen Kennzeichen einer wissenschaftlichen Diskussion geführt. Es gibt einen Initiator der Feindstrafrechts-These; er hat sie in unterschiedlichen Varianten ausgeführt.2 Seine Texte werden eingehend untersucht. Für die Diskussion der Feindstrafrechts-These werden alle Formen der wissenschaftlichen Publikation genutzt. Die Thematik hat auch bereits in Lehrbücher und Kommentare Eingang gefunden.3 Es haben sich Meinungslager gebildet. Resümierende Darstellungen präsentieren einen Meinungsstand.4 Ein Ende der Auseinandersetzung ist nicht in Sicht. Die Strafrechtswissenschaft hat ein Thema gefunden, das sie vermutlich noch lange beschäftigen wird. Es ist wissenschaftlich attraktiv, weil es ermöglicht, strafrechtliche Grundpositionen profiliert zu formulieren. Wie ist es angesichts einer zweifachen feindstrafrechtlichen Unrechtsvergangenheit in Deutschland möglich, dass eine solche Diskussion geführt wird? Zum Grundschema des nationalsozialistischen Unrechtssystems gehörte die Aussonderung von Personengruppen aus der Rechtsgemeinschaft als Feinde, Fremdrassige, Volksschädlinge oder Gemeinschaftsfremde. So wurde der „Volks- und Staatsfeind“ dem unkontrollierten polizeilichen Zugriff ausgesetzt.5 Ein Sonderstrafrecht beraubte Juden und Polen jeglichen Rechtsschutzes.6 Eine „Verordnung gegen Volksschädlinge“7 verschärfte drastisch die Strafen gegen Personen mit „gemeinschaftsfeindlicher Gesinnung“8. Ein Gesetzentwurf aus der Spätphase des NS-Staates zielte auf die Ausschaltung „gemeinschaftsfremder Schädlinge im Volkskörper“.9 2 Jakobs ZStW 97 (1985) 751 ff.; ders. in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.) Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, 41 ff.; HRRS 2004, 88 ff.; Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, 41 ff.; ZStW 117 (2005) 839 ff.; HRRS 2006, 289 ff. 3 Z.B. Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I4, 2006, § 2 Rn. 126 ff.; Hassemer/Neumann in: NK, StGB2, 2005, Vor § 1 Rn. 47; Lenckner/Eisele in: Schönke/Schröder, StGB27, 2006, Vor §§ 13 ff. Rn. 5; Paeffgen in: NK, ebenda, Vor §§ 32 bis 35 Rn. 223. 4 Siehe Fn. 1. 5 Etwa im Wege der „Schutzhaft“; näher dazu Werle Justizstrafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989, 547 ff. 6 Eingehend dazu Werle (Fn. 5), 179 ff., 351 ff., 449 ff. 7 RGBl. 1939 I, 1679. 8 So die Kennzeichnung durch das Reichsgericht in RGSt 74, 321, 322. 9 Vgl. Werle (Fn. 5), 619 ff.

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Die Bekämpfung des Feindes war als ein wesentliches Ziel dem Strafgesetzbuch der DDR von 1968 in seiner Präambel vorangestellt. Tatbestände wie z.B. die staatsfeindliche Hetze (§ 106), die staatsfeindliche Gruppenbildung (§ 107) oder die Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten (§ 249) ermöglichten die Aussonderung von Personenkreisen und -gruppen. Auf die Identifizierung und Eliminierung feindlicher Elemente waren die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit verpflichtet, das maßgeblichen Einfluss auf die Strafrechtspraxis ausübte.10 Die zweifache feindstrafrechtliche Unrechtsvergangenheit hätte dazu führen können, dass die Feindstrafrechts-These mit Schweigen übergangen oder für diskussionsunwürdig erklärt worden wäre. Das ist nicht geschehen. Denkbar wäre auch gewesen, dass bereits die These in Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit entwickelt worden wäre und dass der zeithistorische Zusammenhang zu einem zentralen Thema der Auseinandersetzung mit der Feindstrafrechts-These gemacht worden wäre. Auch das ist nicht eingetreten. Der Initiator geht auf das Verhältnis seiner These zum NS-Strafrecht und zum Strafrecht der DDR nicht ein. In den Diskussionsbeiträgen werden zwar gelegentlich zeithistorische Bezüge hergestellt. Sie sind jedoch zumeist von geringem Gewicht und beschränkter Reichweite. Das Strafrecht der DDR bleibt nahezu völlig unbeachtet. Die Hinweise zum nationalsozialistischen Strafrecht sind in der Regel allgemein gehalten und dienen vielfach nur der Absicherung einer primär anders begründeten Position. Ausnahmen stellen solche Diskussionsbeiträge dar, welche die These vom Feindstrafrecht in einen zeithistorischen Zusammenhang stellen.11 Ablesbar ist an der aktuellen Diskussion über das Feindstrafrecht, dass das Strafrecht der überwundenen diktatorischen Regime und dessen Aufarbeitung im rechtswissenschaftlichen Zeitgeist nicht präsent sind. Daher ist, wer eine Ansicht wie die Feindstrafrechts-These entwickelt, auch nicht genötigt, deren Vergangenheitsbezug zu klären und sie gegenüber dieser Vergangenheit zu rechtfertigen. Auch ist nur so erklärbar, dass die Auseinandersetzung wie ein konventioneller rechtswissenschaftlicher Meinungsaustausch geführt werden kann. Die Unrechtserfahrung der jüngeren Vergangenheit hat sich nicht zu einem wissenschaftlichen Prüfstein verfestigt. Es ist möglich, eine Begrifflichkeit zu etablieren, die in Diktaturen dazu diente, Menschen den Status einer Rechtsperson abzusprechen und zur Bekämpfung mit allen Mitteln freizugeben. 10 Vgl. zum Verhältnis von Rechtspraxis und Staatsicherheit in der DDR Engelmann/ Vollnhals (Hrsg.) Justiz im Dienste der Parteiherrschaft2, 2000, sowie zum Feindbegriff im Sprachgebrauch des Ministeriums für Staatssicherheit Bergmann Die Sprache der Stasi, 1999, 46 ff.; Suckut (Hrsg.) Das Wörterbuch der Stasi, 1996, 121 ff. 11 Albrecht ZStW 117 (2005) 852 ff.; Arnold HRRS 2006, S. 303, 307 ff.; Morguet (Fn. 1), 229 ff., 265 ff.

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Die Diskussion über das Feindstrafrecht indiziert einen Geschichtsverlust im Strafrecht. Ausmaß und Folgen sind näher zu betrachten.

II. Geschichtsverlust im Strafrecht 1. Begriffliches Als Strafrecht wird hier alles das angesprochen, was gegenwärtig die Ausübung von Strafgewalt anleitet oder zumindest beeinflusst. Dazu gehören die Verfassung, Gesetze und untergesetzliche Regelungen sowie Lehren und Entscheidungen, welche die Anwendung dieser Normen betreffen, und schließlich die dazu öffentlich geführte Diskussion. Gemeint ist also das aktuelle praktisch wirksame Strafrecht in einem weiten Sinne. Relevant für die weiteren Überlegungen ist ferner der Begriff der Zeitgeschichte. Damit ist derjenige Abschnitt der Geschichte gemeint, der an die Gegenwart heranreicht. Von der weiter zurückliegenden Geschichte hebt sich die Zeitgeschichte dadurch ab, dass sie noch unmittelbar in die Gegenwart hineinwirkt und wegen der Nähe zur Gegenwart über besonders ergiebige Forschungsmethoden verfügt.12 Die Unterteilung ist auf die Rechtsgeschichte übertragbar.13 Sowohl für die allgemeine Zeitgeschichte als auch für die juristische Zeitgeschichte ist umstritten, wie weit sie zurückreichen. Niemand bestreitet jedoch, dass zu ihrem Gegenstandsbereich die hier erörterten Zeiten der nationalsozialistischen Herrschaft und des DDR-Regimes gehören. 2. Strafrecht ohne Zeitgeschichte Was in der weit ausgreifenden Diskussion über das Feindstrafrecht anzutreffen war, findet sich an weiteren Beispielen bestätigt, so am Beispiel der Bestrafung des Versuchs.14 Die heutige gesetzliche Regelung einer nur fakultativen Milderung in § 23 Abs. 2 StGB geht auf den nationalsozialistischen Gesetzgeber zurück. Sein Konzept eines Willensstrafrechts verlagerte das „Kampffeld nach vorn“15 und zielte darauf, den Straftäter „möglichst früh und mit aller Macht“16 zu bekämpfen. Der im RStGB vorgesehene Milderungszwang war damit unvereinbar und wurde daher abgeschafft. Die Gesetzgebung der Nachkriegszeit hat die nationalsozialistische Reform unangetastet gelassen. Das gilt auch für die Gesetzgebung der DDR. Sie hat sogar 12

Vgl. Vormbaum Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2009, 6 ff. Vgl. Vormbaum (Fn. 12), 11 ff. 14 Vgl. zum Folgenden Marxen in: FS Rüter 2003, 138 ff.; Vormbaum (Fn. 12), 13. 15 Freisler in: Gürtner/Freisler Das neue Strafrecht, 1936, 136. 16 Freisler in: Gürtner (Hrsg.) Das kommende deutsche Strafrecht. Allgemeiner Teil2, 1935, 22. 13

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die willensstrafrechtliche Ausrichtung noch befördert durch die Einführung einer allgemeinen Strafbarkeit für Vorbereitungshandlungen, für die gleichfalls eine nur fakultative Strafmilderung galt.17 Beide Regime haben die Vorverlagerung der Strafbarkeit und die Verschärfung der Strafandrohung machtvoll genutzt. Die heutige strafrechtliche Dogmatik zum Versuch weiß nichts von dieser Vergangenheit oder hält sie für belanglos. Lehrbüchern und Kommentaren lässt sich nichts darüber entnehmen, wie das Strafrecht der DDR die Versuchsstrafe handhabte. Gelegentlich wird erwähnt, dass in der Zeit des Nationalsozialismus die zwingende Strafmilderung gegen eine nur fakultative ausgetauscht wurde.18 Dogmatische Bedeutung wird diesem Vorgang aber nicht beigemessen. Vielfach fehlt es bereits an historischer Genauigkeit. Nur selten wird der Vorgang vollständig und korrekt dargestellt.19 Geschichtsvergessenheit ist beispielsweise auch kennzeichnend für die Diskussion über die Erweiterung der Möglichkeiten zur Durchbrechung der Rechtskraft. Es wird nach Mitteln gesucht, die Bindung an den Verfassungsgrundsatz „ne bis in idem“ de lege lata oder de lege ferenda aus Gründen materieller Gerechtigkeit zu lockern. Unverarbeitet bleibt in diesem Zusammenhang die historische Erfahrung, dass gerade die Argumentation mit der „materiellen Gerechtigkeit“ in der NS-Zeit20 und in der Zeit der DDR21 die Grundlage gebildet hat für eine Aushöhlung der Rechtskraft durch Gesetz und Gesetzesanwendung. Nichts davon findet sich in den Begründungen für Gesetzesvorschläge, die darauf abzielen, die Gründe für eine Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten freigesprochener Personen auszuweiten.22 Auch die Passagen in Lehrbüchern, die sich mit Fragen einer Eingrenzung der materiellen Rechtskraft befassen, schweigen sich darüber aus.23 § 21 Abs. 4 Satz 3 StGB-DDR von 1968. Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil2, 1991, 735; Köhler Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, 485; Maurach/Gössel/Zipf Strafrecht Allgemeiner Teil Teilband 27, 1989, 52; Schmidhäuser Strafrecht Allgemeiner Teil2, 1975, 595; Stratenwerth/Kuhlen Strafrecht Allgemeiner Teil I5, 2004, § 11 Rn. 48; Herzberg in: MK, StGB, § 23 Rn. 12; Hillenkamp in: LK, StGB12, Vor § 22 Rn. 46. 19 Zu nennen sind hier Herzberg und Hillenkamp (Fn. 18). 20 Vgl. zur Reform des Wiederaufnahmerechts Marxen/Tiemann ZIS 2008, 188, 190 f., ferner zur Einführung des außerordentlichen Einspruchs und der Nichtigkeitsbeschwerde Gruchmann Justiz im Dritten Reich 1933–19402, 1990, 1074 ff., und insgesamt Koch Die Reform des Strafverfahrensrechts im Dritten Reich unter besonderer Berücksichtigung des StVO-Entwurfs von 1939, Diss. Erlangen 1972, 100 f. 21 Vgl. zu dem der Nichtigkeitsbeschwerde verwandten Rechtsbehelf der Kassation in der DDR Wentker Justiz in der SBZ/DDR 1945–1953, 2001, 462 ff. 22 Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts vom 29.1.1996, BT-Drucks. 13/3594; Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts vom 20.12.2007, BR-Drucks. 655/07. 23 Siehe etwa Kühne Strafprozessrecht7, 2007, Rn. 640 ff.; Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht26, 2009, § 52 Rn. 10 ff. 17 18

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Als weiteres Beispiel sei schließlich noch die Rolle der Polizei im Strafverfahren erwähnt. Die aktuelle Diskussion über die rechtliche und tatsächliche Ausweitung polizeilicher Kompetenzen zeugt zwar durchaus von Problembewusstsein. Unverwertet bleibt jedoch, dass das Hauptkennzeichen der nationalsozialistischen Strafrechtspraxis und der Strafrechtspraxis der DDR die Vorherrschaft der Polizei gewesen ist. Historische Untersuchungen, welche die Abhängigkeit des Strafjustizsystems im Nationalsozialismus von einem polizeilichen Vorbehalt24 und die weit reichende faktische Verfahrensherrschaft des MfS und seiner Organe in Strafverfahren der DDR25 nachweisen, haben kaum Spuren hinterlassen. Die neuere Diskussion über den Handlungsspielraum polizeilicher Tätigkeit im Ermittlungsverfahren und über Probleme, die sich aus der Zuständigkeit der Polizei sowohl für die Strafverfolgung als auch für die Gefahrenabwehr ergeben, ist, soweit sie sich in der Lehrbuchliteratur niederschlägt, frei von historischen Bezügen.26 Diese Beispielssammlung bedarf der Ergänzung. Zur Vervollständigung des Bildes müsste untersucht werden, ob denn überhaupt die Unrechtsregime und deren rechtliche Aufarbeitung im Strafrecht der Gegenwart noch Beachtung finden. Eine vollständige, systematische Untersuchung würde einen Aufwand erfordern, der hier nicht geleistet werden kann. Ergiebige Auskünfte sind aber auch schon von einer Befragung derjenigen Literatur zu erwarten, welche die für die Anwendung des Strafrechts wichtigen Lehren festhält und fortschreibt. Dabei ist in erster Linie an Lehrbücher zum Allgemeinen Teil des Strafrechts zu denken. Die Suche nach Spuren der Unrechtsvergangenheit in diesen Lehrbüchern hat Folgendes zum Ergebnis. Völlig ahistorisch ist das dort anzutreffende Strafrecht zwar nicht. Die Vergangenheitsverarbeitung hat für dieses Strafrecht aber keine grundlegende Funktion. Kein Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Strafrechts entwickelt seine Grundlagen aus einer Entgegensetzung zu Theorie und Praxis des Strafrechts in der NS-Zeit und in der Zeit der DDR. Man stößt nur gelegentlich auf sie und dann selten in begründender, zumeist in nur illustrierender Funktion. In nur leichter Zuspitzung lässt sich als Gesamteindruck27 festhalten: Die deutschen Unrechtsregime des 20. Jahrhunderts und deren 24

Werle (Fn. 5), insbes. 730 ff. Marxen in: Engelmann/Vollnhals (Fn. 10), 15 ff.; prägnantes Beispiel: das sog. Havemann-Verfahren; zu dessen Aufarbeitung siehe Marxen/Werle (Hrsg.) Strafjustiz und DDR-Unrecht, Band 5/2 Rechtsbeugung, 569 ff., insbes. 735 ff. 26 Siehe z.B. Krey Deutsches Strafverfahrensrecht, Band 1, 2006, Rn. 202 ff.; Kühne (Fn. 23), Rn. 146 ff.; Roxin/Schünemann (Fn. 23), § 9 Rn. 21 f.; Volk Grundkurs StPO6, 2008, § 7 Rn. 1 ff. 27 Das Folgende enthält die Ungerechtigkeiten eines Pauschalurteils. Sie nehmen zu, wenn man die Lektüre von Grundrissen auf größere Lehrbücher ausweitet. Gleichwohl trifft die Kernaussage in aller Regel auch auf diese Bücher zu. Auszunehmen ist lediglich Köhler (Fn. 18). Das Buch befasst sich vielfach und auch grundlegend mit deutscher Unrechtsvergangenheit. 25

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Aufarbeitung treten dem Leser von Strafrechtslehrbüchern zum Allgemeinen Teil im Wesentlichen in drei Figuren entgegen, erstens im 80-jährigen, der früher einmal KZ-Aufseher war, zweitens im Euthanasiearzt und drittens im Mitglied des nationalen Verteidigungsrates. Der 80-jährige dient als straftheoretisches Exempel.28 An ihm wird demonstriert, dass eine Bestrafung nicht allein davon abhängig gemacht werden kann, ob heute noch eine Gefahr vom Täter ausgeht. Am Euthanasiearzt wird der Entschuldigungsgrund des übergesetzlichen Notstandes vorgeführt.29 Der Arzt hat, um eine Massentötung seiner geisteskranken Patienten zu verhindern, einige wenige für die Tötungsaktion ausgewählt. Das Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates fungiert als Beispiel für den so genannten Täter hinter dem Täter.30 Es kann wegen mittelbarer Tötungstäterschaft auch dann belangt werden, wenn der Grenzsoldat für den Todesschuss selbst strafrechtlich voll verantwortlich war. Das Fazit lautet: Das in Lehrbüchern zum Allgemeinen Teil vermittelte Strafrecht ist weit entfernt von einer zeithistorischen Prägung. Ungenutzt bleibt die Möglichkeit, Grundlagen für ein Strafrechtssystem aus dem Kontrast zum Strafunrecht der jüngeren Vergangenheit und aus den Erkenntnissen zu entwickeln, die in den Bemühungen um dessen Aufarbeitung gewonnen wurden. Im Gegenteil: Kennzeichnend für den Umgang mit dieser Vergangenheit ist ein schwindendes Interesse. Es gibt sich vielfach in der Abfolge der Auflagen zu erkennen durch eine Reduzierung der Passagen, die sich mit dieser Thematik befassen. 3. Das Verschwinden der Geschichte aus dem Strafrecht Nicht allein die Zeitgeschichte bleibt in den Lehrbüchern zum Allgemeinen Teil des Strafrechts weitgehend ausgeblendet. Die Geschichte überhaupt findet kaum Beachtung in diesen Büchern. Ein allgemeiner historischer Zugang zum Strafrecht wird nicht angeboten. Die an Zahl deutlich überwiegenden Darstellungen in der Form eines Grundrisses lassen zumeist die Geschichte des Strafrechts ganz unberücksichtigt. Deren Behandlung in großen Lehrbüchern ist dadurch gekennzeichnet, dass die Abschnitte knapp gehal28 Z.B. Gropp Strafrecht Allgemeiner Teil3, 2005, § 1 Rn. 113; auch Baumann/Weber/ Mitsch Strafrecht Allgemeiner Teil11, 2003, § 3 Rn. 45; Haft Strafrecht Allgemeiner Teil9, 2004, 122; Krey Strafrecht Allgemeiner, Teilband 13, 2008, Rn. 119; Roxin (Fn. 3), § 3 Rn. 19. 29 Z.B. Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 28), § 23 Rn. 56 f.; Gropp (Fn. 28), § 7 Rn. 100 ff.; Kühl Strafrecht Allgemeiner Teil6, 2008, § 8 Rn. 153 f., § 12 Rn. 95 ff.; Jescheck/Weigend Strafrecht Allgemeiner Teil5, 1996, 367, 501; Maurach/Zipf Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 18, 1992, § 27 Rn. 26, § 33 Rn. 19 ff., § 35 Rn. 6; Roxin (Fn. 3), § 16 Rn. 33, 35 ff., § 22 Rn. 147; Wessels/Beulke Strafrecht Allgemeiner Teil38, 2008, Rn. 452. 30 Z.B. Freund Strafrecht Allgemeiner Teil2, 2009, § 10 Rn. 90; Gropp (Fn. 28), § 10 Rn. 51; Kühl (Fn. 29), § 20 Rn. 73a; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 18), § 12 Rn. 66.

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ten sind und sich oftmals auf die Reformgeschichte nach Erlass des RStGB im Jahre 1871 beschränken31. Ein deutlicher Unterschied tritt zutage, wenn zum Vergleich Lehrbücher zum Allgemeinen Teil des Strafrechts aus dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herangezogen werden. Sie enthalten regelmäßig im Eingangsteil umfangreiche Gesamtdarstellungen der Strafrechtsgeschichte und erörtern zumeist auch bei Einzelthemen deren historische Bezüge.32 Sicherlich wird man für das 19. Jahrhundert zur Erklärung auf den Einfluss der historischen Rechtsschule und auf den Reformbedarf verweisen können, den die Aufklärung an der auf der Carolina von 1532 fußenden Gerichtspraxis sichtbar gemacht hatte. Die reichseinheitliche Kodifizierung des Strafrechts führte insoweit jedoch keine Änderung herbei; weiterhin nahm die historische Entwicklung des Strafrechts breiten Raum in der Lehrbuchliteratur ein. Das änderte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die historischen Darstellungen im Eingangsteil nahmen immer weniger Raum ein. In dem sich immer stärker ausbreitenden Typus des Grundrisses entfielen sie schließlich ganz. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Sie müssen einer gesonderten Untersuchung vorbehalten werden und lassen sich hier nur andeuten. In der unmittelbaren Nachkriegszeit führten die Verdrängung der NS-Vergangenheit und das Erfordernis eines Neubeginns dazu, dass der Blick allein nach vorn gerichtet wurde. Die Strafrechtswissenschaft entzog sich der Aufgabe der Vergangenheitsaufarbeitung durch die Fortführung und Zuspitzung einer scheinbar politikfreien Diskussion über Handlungsbegriff und Systembildung. Im Reformprozess der sechziger und siebziger Jahre gab eine Richtung den Ton an, die eine grundsätzliche Erneuerung erstrebte und mit der Losung „Abschied von Kant und Hegel“33 auf Distanz zur Vergangenheit ging. Der Gedanke eines möglichst rationalen und effektiven Einsatzes der Strafe für Präventionszwecke beherrschte das straftheoretische Klima, was zur Folge hatte, dass Politik- und Gesellschaftswissenschaften ihren Einfluss zum Nachteil historischer Wissenschaften vergrößerten.

III. Vergeschichtlichung des Strafrechts durch Spezialisierung? Der Behauptung eines Geschichtsverlustes im Strafrecht scheint zu widersprechen, dass die Bemühungen um eine Erforschung der Strafrechtsgeschichte deutlich zugenommen haben. Insbesondere ist ein wachsendes InteSo z.B. Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 28), § 6; Roxin (Fn. 3), § 4. Verwiesen sei nur auf die seinerzeit führenden Lehrbücher von Berner, Beling, Binding und von Liszt. 33 So der Titel des Aufsatzes von Klug in: Baumann (Hrsg.) Programm für ein neues Strafgesetzbuch, 1968, 36 ff. 31 32

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resse an der (straf-)juristischen Zeitgeschichte festzustellen.34 Dabei zieht nach wie vor die Zeit des Nationalsozialismus die größte Aufmerksamkeit auf sich. Es bietet sich daher an, den beschriebenen Vorgang als eine bloße Auslagerung der Geschichte aus dem Strafrecht zu erklären und den dafür maßgeblichen Grund in dem modernen Prozess der Ausdifferenzierung der Wissenschaften zu sehen. Danach hätten wir es nicht mit einem Geschichtsverlust im Strafrecht zu tun, sondern im Gegenteil mit einer zunehmenden Vergeschichtlichung des Strafrechts, die aus einer fachlichen Spezialisierung hervorgegangen ist. Diese Erklärung beließe es indes bei einer nur oberflächlichen Betrachtung. In den Blick kämen lediglich äußere Vorgänge, wie zum Beispiel die Ausdehnung des Publikationsvolumens, die Konturierung des Faches durch Gesamtdarstellungen und die Ausbildung personenbezogener Fachprofile. Unberücksichtigt bliebe, dass mit der Auslagerung der Geschichte ein Wandel im Strafrechtsverständnis einhergeht. Was äußerlich als eine Vergeschichtlichung erscheint, ist in der Sache ein Geschichtsverlust. Mit der Verfachlichung der Strafrechtsgeschichte geht eine Enthistorisierung des Strafrechts einher, ablesbar an der ständig wachsenden Zahl solcher Lehrbücher, die ein geschichtsloses Strafrecht darstellen. Die Spezialisierung hat zu einer Separierung der Gebiete geführt: hier das historisch entleerte praktizierte Strafrecht und dort eine Strafrechtsgeschichte, die auf hohem fachlichen Niveau betrieben wird und sich als eigenständiges Fach etabliert hat. Zu beklagen ist nicht der Vorgang der Spezialisierung. Er ist nur konsequent angesichts einer allgemeinen Entwicklung in den Wissenschaften zur Ausdifferenzierung. Wissensvermehrung und methodische Fortschritte bedingen einen Forschungsaufwand, der notwendigerweise zum Spezialistentum führt. Im rechtshistorischen Bereich bildet sich diese Entwicklung vielfältig ab. Die traditionelle Konzentration auf die Erfassung und Interpretation zentraler Rechtstexte ist längst aufgegeben.35 Das Forschungsinteresse hat sich auch der Faktizität des Rechts zugewendet. Man will wissen, ob und wie vorgegebenes Recht gewirkt hat. Damit geraten die praktischen Umsetzungsakte, die handelnden Personen und der Rechtsalltag ins Blickfeld. Zugleich wird deutlich, wie groß der Einfluss politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ist. Das macht es erforderlich, die entsprechenden Fachwissenschaften zu konsultieren. Wie in diesen so werden auch in der rechtshistorischen Forschung zunehmend die Erkenntnismöglichkei34 Als deutliche Indizien seien genannt: der Aufbau einer Schriftenreihe (Schriftenreihe der Juristischen Zeitgeschichte, seit 2000), die Gründung einer Zeitschrift (Journal der Juristischen Zeitgeschichte, seit 2007), das Erscheinen eines Lehrbuchs (Vormbaum [Fn. 12]) und die Etablierung einer Schwerpunktbereichsausbildung (Humboldt-Universität zu Berlin, seit 2003). 35 Programmatisch: Grimm in: Grimm (Hrsg.) Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Teilband 2, 1976, 9 ff.

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ten quantitativer Untersuchungsmethoden genutzt. Die Erweiterung der Forschungsinteressen sowie der Ausbau und die Verfeinerung der Methoden machen sich in der juristischen Zeitgeschichte allein schon deswegen besonders bemerkbar, weil ihr adäquates Material in kaum überschaubarer Menge zur Verfügung steht. Mag die Spezialisierung somit auch ein notwendiger Vorgang sein, so gilt das nicht für die damit einhergehende Separierung. Wozu die Spezialisierung nötigt, das ist eine Konzentration der individuellen Arbeitskraft. Wer sich schwerpunktmäßig dem aktuellen Strafrecht widmet, wird zumeist nicht in der Lage sein, gleichermaßen intensiv historische Forschung zu betreiben. Das hindert aber nicht daran, die Ergebnisse moderner strafrechtshistorischer Forschung zu verwerten. Eine solche Rezeption erfolgt jedoch nicht. Offenbar wird ein sachlicher Grund dafür nicht gesehen. Vielmehr wird der Eindruck vermittelt, dass die Strafrechtsgeschichte ohne Nutzen für das aktuell praktizierte Strafrecht sei. Es besteht ein auffälliger Kontrast zur aktuellen Bedeutung der allgemeinen Zeitgeschichte in Politik und Gesellschaft. Insbesondere die beiden deutschen Unrechtsregime und deren Überwindung sind Gegenstand intensiver Bemühungen, den politischen und gesellschaftlichen Gegenwartsbezug herauszustellen und zu vertiefen. Die dafür eingesetzten Mittel sind vielfältig. Zu ihnen gehören Gedenkstätten, Erinnerungsfeiern, Ausstellungen und Diskussionsveranstaltungen. Als zusammenfassende Bezeichnung hat sich der Begriff der Vergangenheitspolitik etabliert.36 Er bringt treffend zum Ausdruck, dass es um eine Einbeziehung der Vergangenheit in die Gestaltung der gegenwärtigen Verhältnisse geht. „Vergangenheitsdogmatik“ wäre ein Parallelbegriff, mit dem ein dogmatisches Konzept bezeichnet würde, das darauf zielt, zeithistorischen Erkenntnissen bei der Ausbildung der praxisleitenden Rechtslehren Geltung zu verschaffen. Eine strafrechtliche Vergangenheitsdogmatik existiert nicht. Mit der Frage, ob es sie geben sollte, ist allgemein das Verhältnis von Strafrecht und strafjuristischer Zeitgeschichte angesprochen.

IV. Zum Verhältnis von Strafrecht und strafjuristischer Zeitgeschichte 1. Zur gegenwärtigen Trennung der Fächer Die Separierung der Fächer ist inakzeptabel. Das zeithistorisch entleerte Strafrecht verschließt sich Erkenntnissen, die für die Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung unerlässlich sind. Es ignoriert weiterhin wirksame Ent36

Begriffsprägend: Frei Vergangenheitspolitik2, 1997.

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wicklungszusammenhänge, die das NS-Strafrecht und das Strafrecht der DDR einschließen. Für das nationalsozialistische Strafrecht ist eine solche Kontinuitätsbeziehung vielfach nachgewiesen worden.37 Widerlegt ist die Auffassung, dass in der Zeit des Nationalsozialismus ein Strafrecht praktiziert worden sei, das mit der vorangegangenen Rechtsentwicklung gebrochen und nach dem Ende des Regimes auch keine Fortsetzung gefunden habe. Als gesichert kann gelten, dass das heutige Strafrecht von weit zurückreichenden Entwicklungslinien geprägt ist, die auch die Zeit des Nationalsozialismus durchziehen. Spezifisch nationalsozialistisch waren lediglich Verschärfungen, Zuspitzungen und Radikalisierungen. Als durchgängig wirkungsmächtig haben sich insbesondere Tendenzen zu einer Expansion des Anwendungsbereichs strafrechtlicher Gewalt, zu einer Flexibilisierung der Anwendungsinstrumente sowie zu einer Subjektivierung und Moralisierung der Anwendungsvoraussetzungen erwiesen.38 Gemeinsam ist diesen Entwicklungslinien, dass sie die Funktionalisierung des Strafrechts befördern: den Gebrauch als bloßes Mittel zur Durchsetzung beliebiger politischer Zwecke.39 Auch das Strafrecht der DDR fällt aus dieser Entwicklung nicht heraus.40 Das Attribut „sozialistisch“ kennzeichnet lediglich die Ausrichtung einer Politik, die sich intensiv des Strafrechts als Mittel bedient und eine expansive, flexible, subjektivierende und moralisierende Anwendung betrieben hat. Der Befassung mit dem gegenwärtigen Strafrecht fehlt die Orientierung, wenn dieser Kontinuitätszusammenhang ausgeblendet bleibt. Es ist ein unhaltbarer Zustand, wenn heute strafrechtlich gedacht und gehandelt wird, ohne dass die Vergangenheit bedacht wird. Aus der Feststellung durchgängiger Entwicklungslinien ergeben sich Konsequenzen für die Verarbeitung des Strafrechts der beiden Unrechtsregime. Es wäre falsch, die Zeitabschnitte herauszuheben und gesondert zu betrachten. Auch dürfte das Augenmerk nicht allein auf den exzessiven Missbrauch der Strafgewalt gerichtet sein. Das heutige Strafrecht muss daran interessiert sein, die Verbindung zwischen dem Strafterror und vorangegangenen sowie nachfolgenden Entwicklungen zu verstehen und zu verarbeiten. 37

Vgl. Vogel Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, 2004, 7 ff. m.w.N. Vgl. (mit unterschiedlichen Akzentsetzungen) Vogel (Fn. 37), 14 ff., Vormbaum (Fn. 12), 269 ff.; Pauli Die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen zwischen 1933 und 1945 und ihre Fortwirkung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, 1992, 3 ff. 39 Eingehend dazu Naucke Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2000, 361 ff., 393 ff. 40 Vgl. Vormbaum (Fn. 12), 252. 38

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2. Der Einwand der Historizität Auf offenen Widerspruch stößt die Meinung nicht, dass das aktuelle Strafrecht an seiner Unrechtsvergangenheit interessiert sein müsse, wohl aber auf Zurückhaltung und Widerstand, die sich in der aufgezeigten Abtrennung der Zeitgeschichte abbilden. Die Ablehnung dürfte – mehr oder weniger reflektiert – auf der Annahme beruhen, dass die damaligen und die heutigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse grundverschieden seien. Entwicklungszusammenhänge und Übereinstimmungen seien daher ohne Aussagekraft. Auf rechtliche Maßnahmen und Instrumente, die in den diktatorischen Regimen zu Strafterror missbraucht worden seien, müsse der demokratische Rechtsstaat nicht allein schon deswegen verzichten. Unter seinen Bedingungen könne sich eine Anwendung als unbedenklich erweisen. Geschichte wiederhole sich nicht. Von diesem spezifisch historisch, genauer: historizistisch ausgerichteten Einwand wird angenommen, dass er die „Schwäche des historischen Arguments“ offenbare.41 Dabei bleibt unberücksichtigt, dass er in anderer Hinsicht auf spezifische Weise unhistorisch ist. Geschichte lehrt auch, dass nichts von Dauer ist. Die Unbedenklichkeitsbescheinigung, die unter Berufung auf gegenwärtige Verhältnisse ausgestellt wird, lässt diese historische Einsicht vermissen. Wenn auch eine Wiederkehr gleicher Missbrauchsformen nicht anzunehmen ist, so ändert das nichts am Fortbestehen der Missbrauchsgefahr angesichts der Wandelbarkeit der Verhältnisse. Darin liegt die Stärke des historischen Arguments: Es bewahrt vor dem naiven Glauben an die Dauerhaftigkeit der Bedingungen, unter denen Recht angewendet wird. 3. Vom Nutzen der strafjuristischen Zeitgeschichte für das Strafrecht Der Nutzen der strafjuristischen Zeitgeschichte hängt davon ab, ob sie überhaupt in der Lage ist, das aktuell praktizierte Strafrecht zu erreichen und zu beeinflussen. Jedenfalls eine mittelbare Einwirkung wird für möglich gehalten. Erwartet wird, dass die Beschäftigung mit der strafjuristischen Zeitgeschichte ein kritisches Bewusstsein zu wecken imstande ist und dass zeithistorisch aufgeklärte Juristen rechtsstaatsgefährdenden Tendenzen mit zurückhaltender Ausübung der Strafgewalt begegnen. Die Erwartung kommt unter anderem in dem Appell zum Ausdruck, das gegenwärtige Strafrecht möge die nach wie vor bestehenden Verbindungen zum Rechtsdenken im Nationalsozialismus zur Kenntnis nehmen, sich entschieden davon distanzieren und „rechtsstaatlichen Selbstverständlichkeiten“ wieder Geltung verschaffen.42 41 42

Vogel (Fn. 37), 98. Wolf JuS 1996, 189, 195.

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Eine Konkretisierung der Kritik wird angestrebt mit der Ausbildung einer „kritischen Strafgesetzlichkeit“, die auf der Grundlage zeithistorischer Erfahrung und rechtsphilosophischer Erkenntnis das praktizierte Strafrecht mit den Anforderungen eines uneingeschränkt rechtsstaatlichen Strafrechts konfrontiert.43 Eine ähnliche Zielrichtung verfolgt die Aufzählung derjenigen Erscheinungen im gegenwärtigen Strafrecht, die zeithistorisch bedingt und rechtsstaatlich zu beanstanden sind.44 Gemeinsam ist diesen und ähnlichen Vorschlägen und Forderungen die Erwartung, dass zeithistorische Aufklärung ein juristisches Handeln nach sich zieht, das kritikwürdige rechtliche Zustände mit dem Ziel eines uneingeschränkt rechtsstaatlichen Strafrechts verändert. Gesetzt wird auf die Wirkungsmacht der Bildung. Man sollte jedoch fragen, ob nicht weitere Schritte nötig und möglich sind, um zeithistorischen Erkenntnissen zu strafrechtspraktischer Wirkung zu verhelfen. Denn der wissenschaftlich begründete Appell, die Konfrontation des derzeitigen Strafrechts mit theoretischen Modellen und die Auflistung seiner Mängel stehen in der Gefahr, jenseits des akademischen Bereichs kein Gehör zu finden oder als wenig realistische kriminalpolitische Forderungen abgetan zu werden. Damit soll nichts gegen eine Beteiligung der strafjuristischen Zeitgeschichte an der Reformdiskussion gesagt sein. Nur müsste es gelingen, ihr auch im geltenden Strafrecht einschließlich seiner Dogmatik, also einschließlich seiner gesamten Handhabungsregeln und -formen, einen Platz zuzuweisen und konkrete Konsequenzen aufzuzeigen. Es bedarf des Nachweises der Umsetzbarkeit der zeithistorischen Argumentation in das aktuell praktizierte Strafrecht. Legt man dasjenige Strafrecht zugrunde, das die strafrechtliche Lehre vermittelt, so entsteht der Eindruck, dass für eine zeithistorische Argumentation kaum Bezugspunkte vorhanden sind. Allenfalls die historische Auslegung bietet sich an. Ansonsten wird ein Modell der Anwendung staatlicher Strafgewalt präsentiert, das sich der Zeitgeschichte verschließt: Danach wird das Strafgesetz unter Vermittlung eines Straftatsystems und weiterer allgemeiner Lehren, die unabhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen sachliche Richtigkeit für sich in Anspruch nehmen können, auf den einzelnen Fall mit einem eindeutigen Ergebnis – Bejahung oder Verneinung der Strafbarkeit – angewendet. Dieser Eindruck täuscht. Das beruht zum einen auf einer Einengung des Blickwinkels. Keine oder nur geringe Beachtung findet der Bereich der Rechtsfolgen.45 Für ihn sind 43 Naucke in: Quaderni Fiorentini, Per la storia del pensiero giuridico moderno 36 (2007) 321, 338. 44 Vogel (Fn. 37), 50 ff., 68 ff., 76 ff., 87 ff., 95 f.; Vormbaum ZStW 107 (1995) 734, 737 ff. 45 In den meisten Lehrbüchern zum Allgemeinen Teil des Strafrechts bleiben die Rechtsfolgen unberücksichtigt. Soweit dieser praktisch eminent wichtige Bereich angesprochen wird, beschränkt sich die Darstellung in der Regel auf einen knappen Überblick.

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große Entscheidungsspielräume kennzeichnend, mit denen vernünftig umgegangen werden muss. Die Vernunftgründe liegen nicht fest. Hier hat die zeithistorische Argumentation ein Wirkungsfeld. Das sei an zwei Beispielen gezeigt. So muss das Wissen um den zeithistorischen Hintergrund von § 23 Abs. 2 StGB präsent gehalten werden für Entscheidungen über die Bestrafung eines Versuchstäters. Auch sollte die Vergangenheit des Täterstrafrechts46 zum Bestandteil der Dogmatik des aktuellen Maßregelrechts gemacht werden, das deutlich täterstrafrechtlich geprägt ist.47 Ferner ist es eine Fehleinschätzung, zu meinen, dass das Bindeglied zwischen Gesetz und Fall, das Straftatsystem, reiner Sachlogik entstamme und daher zeithistorischer Kritik unzugänglich sei. Man muss wissen, wie in der Zeit des Nationalsozialismus durch Umbau des Systems und Abkehr vom straftatsystematischen „Trennungsdenken“ Entscheidungsmacht für politische Zwecke freigesetzt wurde,48 um zu erkennen, welche Gefahren sich zum Beispiel mit der Einfügung eines weit ausgreifenden normativen Prüfungskriteriums der objektiven Zurechenbarkeit49 in das Straftatsystem verbinden. Auch kann gezeigt werden, dass die Straftatsystematik zeithistorische Lernprozesse nicht nachvollzogen hat. Es leitet zu einer Fallprüfung an, die mit dem Merkmal der Tatbestandsmäßigkeit sogleich Strafgesetz und Sachverhalt in Beziehung zueinander setzt. Eine Klärung der Frage, ob denn das Strafgesetz überhaupt anwendbar ist, sieht der straftatsystematische Prüfungsgang nicht vor. Keinen Niederschlag hat im Straftatsystem bislang gefunden, was im Zuge der Aufarbeitung der deutschen Unrechtsregime an Einsichten gewonnen wurde über „gesetzliches Unrecht“ und die Notwendigkeit einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Gesetzgebers. Nach wie vor fehlt eine Prüfungsstufe im Straftatsystem, welche die Anwendbarkeit des Tatbestandes zum Gegenstand hat.50 Auch werden Möglichkeiten einer zeithistorischen Argumentation verdeckt, wenn der juristische Umgang mit dem Strafgesetz als bloße Anwendung dargestellt wird, die mittels der konventionellen Auslegungslehre zu einem bestimmten Ergebnis führt. Keineswegs ist die Verwertbarkeit historischen Wissens auf die gleichnamige Auslegungsmethode beschränkt. Da sie nur eine Methode unter mehreren ist, bedarf es für eine abschließende Lösung einer Gewichtung der Methoden und der mit ihrer Hilfe gefunde46 Vgl. Marxen Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975, 189 ff.; Roxin (Fn. 3), § 6 Rn. 6 ff.; zum Täterstrafrecht in der DDR Hirsch Der Typus des „sozial desintegrierten“ Straftäters in Kriminologie und Strafrecht der DDR, 2008. 47 Vgl. zur täterstrafrechtlichen Ausrichtung des Maßregelrechts Roxin (Fn. 3), § 6 Rn. 23. 48 Marxen (Fn. 46), 214 ff. 49 Vgl. zur Kritik am Merkmal der objektiven Zurechenbarkeit Baumann/Weber/ Mitsch (Fn. 28), § 14 Rn. 100. 50 Siehe dazu bereits Marxen Straftatsystem und Strafprozeß, 1984, 358 ff.

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nen vorläufigen Ergebnisse. Bei diesem Vorgang muss sich juristische Vernunft bewähren; sie profitiert von der Kenntnis zeithistorischer Entwicklungszusammenhänge. Im Übrigen lässt das Modell der Gesetzesanwendung unberücksichtigt, dass die juristische Behandlung von Gesetzen mehr umfasst als die Anwendung durch Auslegung und Subsumtion. Zum Umgang mit Gesetzen gehören verschiedene Formen der Zuweisung von Relevanz. Dazu zählen die Verwendung von Gesetzen für die Bildung von Analogien und die Beschneidung ihres Anwendungsbereichs durch teleologische Reduktion. Auch ist an die Vermeidung einer Gesetzesanwendung mittels entsprechender Erfassung und Interpretation des Sachverhalts, an den Verzicht auf Gesetzesanwendung durch Verfahrenseinstellung und an die schlichte Unterlassung einer Anwendung angesichts einer absurd weiten Gesetzesfassung zu denken. Der Begriff der Gesetzesanwendung erfasst diese Handlungsformen nicht. Passender wäre es, von Gesetzeshandhabung zu sprechen. Die Handhabung eines Gesetzes, die neben der abschließenden Entscheidung eine Vielzahl von Vor- und Zwischenentscheidungen umfasst, erfordert zur Erfassung und Nutzung der Entscheidungsspielräume eine juristische Vernunft, die sich auch der zeithistorischen Zusammenhänge bewusst ist. So sollte bei der Strafverfolgung von Nötigungstaten bedacht werden, dass das Merkmal der Verwerflichkeit des Handelns in § 240 Abs. 2 StGB es in gleicher Weise ermöglicht, bloß sittenwidriges Verhalten zu bestrafen, wie der Begriff des gesunden Volksempfindens, den es ersetzt hat.51 Für die Handhabung von § 316a StGB, der den räuberischen Angriff auf Kraftfahrer für strafbar erklärt, sollte bekannt sein, dass sich im Tatbestand Reste der exzessiven Ausübung der Strafgewalt im NS-Staat erhalten haben.52 Sachdienliches zur Beantwortung der Frage, ob der Schutz der Willensfreiheit im Strafprozess durch § 136a StPO auf förmliche Vernehmungen zu begrenzen ist oder auf in der Sache gleichartige Beweiserhebungen ausgedehnt werden sollte, kann das Wissen darum beitragen, dass die Vorschrift auf die Prozesswillkür der NS-Zeit reagiert.53 4. Konsequenzen Die Integration von strafjuristischer Zeitgeschichte und aktuell praktiziertem Strafrecht bedarf einer systematischen und begrifflichen Absicherung. 51

Vogel (Fn. 37), 76. Herzog in: NK (Fn. 3), § 316a Rn. 2. 53 Degener GA 1992, 443, 453; Eb. Schmidt Lehrkommentar StPO, Teil II, 1957 § 136a Rn. 3. 52

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Im System des Strafrechts ist die strafjuristische Zeitgeschichte dem Allgemeinen Teil zuzuordnen, der die Grundlagen der Ausübung von Strafgewalt behandelt. Präziser ist der Plural: Der strafjuristischen Zeitgeschichte ist ein Platz zuzuweisen nicht nur im Allgemeinen Teil des materiellen Strafrechts, sondern auch in den Allgemeinen Teilen des Strafverfahrensrechts, des strafrechtlichen Gerichtsverfassungsrechts und des Strafvollzugsrechts. Das unterstreicht die Berechtigung der Forderung, einen „wirklichen Allgemeinen Teil des Strafens überhaupt“54 auszubilden. Denn genau in diesem Sinne kommt der strafjuristischen Zeitgeschichte eine grundlegende Funktion zu. Dass die strafjuristische Zeitgeschichte diesen Platz einnehmen kann, belegen Publikationen, die darauf zielen, (auch) die Relevanz zeithistorischer Erkenntnisse für das gegenwärtige Strafrecht aufzeigen.55 Strafjuristische Zeitgeschichte muss nicht mit dieser Zielsetzung betrieben werden. Eine stärker der Geschichtswissenschaft verpflichtete strafjuristische Zeitgeschichte bleibt bei ihrem jeweiligen Gegenstand, den sie als einen Ausschnitt aus der Geschichte des Strafrechts mit klar abgesteckten Grenzen betrachtet. Sie hält strafrechtliches Denken und Handeln dieser Zeit fest und interpretiert es mit den Mitteln historischer Fachmethodik in seiner Zeitbedingtheit.56 Es empfiehlt sich, die damit angesprochenen beiden Formen strafjuristischer Zeitgeschichte auch begrifflich auseinander zu halten.57 Für die hier behandelte strafjuristische Zeitgeschichte bleibt es bei diesem Begriff. Die Alternative ist als „Zeitgeschichte des Strafrechts“ treffend benannt.

V. Eine zeithistorische Rechtsschule im Strafrecht Die juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin blickt auf eine zweihundertjährige Geschichte zurück, die in ihren ersten Jahrzehnten geprägt gewesen ist von der historischen Rechtsschule. Zeitgebunden ist sie gewesen in ihrer spezifischen inhaltlichen Ausrichtung: der Abkehr vom Naturrecht und vom Rationalismus der Aufklärung und der Hinwendung zu einem historisch-organischen Rechtsverständnis, das im Volksgeist die maßgebliche rechtserzeugende und rechtsgestaltende Kraft sieht. Die Zeit überdauert hat das Beispiel einer Rechtswissenschaft, die es verstanden hat, rechtshistorische Erkenntnisse systematisch mit dem Recht der Gegenwart 54

Naucke Gesetzlichkeit und Kriminalpolitik, 1999, 253. Beispiele: Naucke in: FS Hamm 2008, 497 ff.; Vormbaum Der Judeneid im 19. Jahrhundert, 2006, insbes. 257 ff.; Marxen (Fn. 14). 56 Weitgehend stimmt damit die Unterscheidung zwischen summierender und protokollierender Strafrechtsgeschichte bei Naucke in: FS Hattenhauer 2003, 353 ff., überein. 57 Vgl. auch Vormbaum (Fn. 12), 16; ders. (Fn. 55), 2 f. 55

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zu verbinden.58 Das ist der Grund für die Entlehnung des Namens: Eine zeithistorische Rechtsschule wäre die angemessene Antwort des Strafrechts auf die Überwindung zweier Unrechtsregime in Deutschland.

58 Vgl. zur rechtspraktischen Ausrichtung der historischen Rechtsschule Eisenhardt Deutsche Rechtsgeschichte5, 2008, Rn. 529.

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Die Zukunft des Völkerstrafrechts Die Zukunft des Völkerstrafrechts Gerhard Werle

Die Zukunft des Völkerstrafrechts GERHARD WERLE*

I. II. III. IV. V.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die völkerstrafrechtsrelevanten Primärnormenbereiche Das materielle Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Durchsetzung des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . Das Völkerstrafrecht im Jahre 2050 . . . . . . . . . . . . . .

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Das Künftige können wir nur als Extrapolation vom Jetzigen her erkennen. Vorhersagen setzen daher die Rückschau und Bestandsaufnahme voraus, nicht, um Vergangenheit und Gegenwart als solche zu verstehen, sondern um sie als Vorboten und Eröffnung der Zukunft zu begreifen.1 Prognosen über die Zukunft des Völkerstrafrechts erweisen sich dabei als besonders anspruchsvoll. Denn die Entwicklung, die das Völkerstrafrecht in den vergangenen 20 Jahren durchlaufen hat, ist in ihrer Dynamik beispiellos. Nach jahrzehntelangem Stillstand wurde die Existenz des Völkerstrafrechts noch zu Beginn der 1990er Jahre nicht ohne Grund in Zweifel gezogen.2 Heute bildet das Völkerstrafrecht dagegen ein zentrales Element der Völkerrechtsordnung, um dessen Durchsetzung sich der ständige Internationale Strafgerichtshof in Den Haag sowie weitere internationale und nationale Strafgerichte bemühen. Wird die Entwicklung auch weiterhin so rasch voranschreiten? Was wird Bestand haben, was wird sich lediglich als Übergangsphänomen erweisen? Um diese Fragen besser beantworten zu können, analysiert der Beitrag Entwicklungsebenen und -strukturen, die bisher die Evolution des Völkerstrafrechts geprägt haben und auch den Fortgang bestimmen dürften.

* Herrn Wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Boris Burghardt danke ich für wertvolle Mitarbeit an diesem Beitrag. 1 Vgl. zu dem Problem der Hermeneutik zukunftsgerichteter Aussagen aus der Sicht der christlichen Eschatologie Rahner Grundkurs des Glaubens, 1984, Rn. 415 f.; Ratzinger Eschatologie – Tod und ewiges Leben6, 1990, 135. 2 Vgl. nur Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts5, 1996, 123.

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I. Einführung Bei der Betrachtung des Völkerstrafrechts lassen sich drei Ebenen unterscheiden. Zunächst setzt das Völkerstrafrecht die Entstehung anknüpfungsfähiger völkerrechtlicher Primärnormenbereiche voraus, die universelle Schutzinteressen konstituieren (dazu II.). Des Weiteren bedarf es eines eigentlichen materiellen Völkerstrafrechts, also völkerrechtlicher Normen, die ein bestimmtes Verhalten für strafbar erklären und die näheren Voraussetzungen der Zurechnung bestimmen (dazu III.). Schließlich stellt sich die Frage, wer zur Durchsetzung des Völkerstrafrechts befugt ist (dazu IV.). Auf allen drei Ebenen sieht sich das Völkerstrafrecht mit dem Grundsatz der Staatensouveränität konfrontiert, zu dem es in einem natürlichen Spannungsverhältnis steht. Während der Grundsatz der Staatensouveränität in seiner „reinen“ Form einen Primat des Politischen postuliert,3 liegt der Idee des Völkerstrafrechts gerade umgekehrt die Vorstellung einer normativen Gebundenheit jeder Macht- und Herrschaftsausübung zugrunde, eine Vorstellung, die sich in der Geschichte bislang nur in besonderen Konstellationen durchsetzen konnte.4 So ist auch die bisherige Entwicklung des Völkerstrafrechts eher in unvermittelten Sprüngen als in kontinuierlichen Schritten erfolgt. II. Die völkerstrafrechtsrelevanten Primärnormenbereiche 1. Voraussetzung für die Begründung von Völkerstrafrecht ist die Anerkennung universeller Rechtsgüter, von Rechtsinteressen also, die weltweit, völker-, staaten- und rechtskulturenübergreifend Anerkennung und Schutz beanspruchen. Das Völkerstrafrecht dient diesem Schutz, indem es schwerwiegende Verletzungen dieser Rechtsgüter für strafbar erklärt und zur strafrechtlichen Verfolgung solcher Verstöße verpflichtet, unabhängig davon, wie staatliches Recht solches Verhalten bewertet. Das Völkerstrafrecht ist in diesem Sinne kein selbständiges Rechtsgebiet. Es knüpft an völkerrechtliche Primärnormenbereiche an, in denen die zu schützenden universellen Rechtsgüter konstituiert werden.5 Die Geschichte des Völkerstrafrechts ist daher 3 Zusammenfassend zur Staatensouveränität z.B. Dahm/Delbrück/Wolfrum Völkerrecht, Band I/12, 1989, 214 ff.; Epping in: Ipsen Völkerrecht5, 2004, § 5 Rn. 7 f., jeweils m.w.N. 4 Vgl. zu diesem Spannungsverhältnis von Staatssouveränität und Völkerstrafrecht anschaulich Jescheck Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, 1952, 11. Kritisch zu diesem Erklärungsansatz Robinson Leiden Journal of International Law 21 (2008) 925, 956 ff. 5 Vgl. Bothe in: Buffard u.a. (Hrsg.) International Law between Universalism and Fragmentation, FS Hafner 2008, 141, 143 ff.; Kreß in: Hankel (Hrsg.) Die Macht und das Recht, 2007, 412.

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bis heute stets im Wechselbezug mit der Geschichte dieser völkerrechtlichen Primärnormenbereiche zu sehen. In der bisherigen Entwicklung des Völkerstrafrechts haben sich vor allem das Recht der bewaffneten Konflikte, das Friedenssicherungsrecht und der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz als relevante Primärnormenbereiche erwiesen. Gemeinsam ist diesen Rechtsmaterien, dass sie zwar formal als Völkervertragsrecht oder Völkergewohnheitsrecht gelten und damit zunächst konsensgebundene Selbstbeschränkungen der Staaten darstellen, dass sie aber ihrer Idee nach universell-objektive Rechtsgeltung beanspruchen. Tatsächlich wird zumindest dem Kerngehalt der genannten Primärnormenbereiche inzwischen eine vom aktuellen Konsens gelöste Geltung als ius cogens zugesprochen.6 Als universelle Rechtsgüter weisen die genannten Primärnormenbereiche insbesondere das friedliche Zusammenleben aller Völker untereinander, den Weltfrieden, sowie die Menschenrechte aus. 2. Zuerst etablierte sich das Recht der bewaffneten Konflikte. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gewann der Gedanke einer völkerrechtlichen Hegung des Krieges zunehmend Ausdruck in völkerrechtlichen Verträgen. Das die Methoden der Kriegsführung betreffende ius in bello wurde im Genfer und Haager Recht völkerrechtlichen Regeln unterstellt, die den Grundsatz der Staatensouveränität nach außen substantiell beschränkten.7 Eine entscheidende Erweiterung des Anwendungsbereichs hat das Recht der bewaffneten Konflikte durch den gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Konventionen von 1949 sowie das Zweite Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 1977 erfahren. Dort sind Mindeststandards für nichtinternationale bewaffnete Konflikte, also insbesondere für Bürgerkriege, festgelegt. Die Tadić-Entscheidung der Rechtsmittelkammer des Jugoslawien-Strafgerichtshofs vom 2. Oktober 1995 hat deutlich gemacht, dass das humanitäre Völkerrecht in nichtinternationalen bewaffneten Konflikten weiter reicht als diese Mindeststandards. Im Prinzip, so der JugoslawienStrafgerichtshof, könne in Bürgerkriegen nicht als erlaubt angesehen werden, was in internationalen bewaffneten Konflikten unmenschlich und daher verboten sei.8 Damit begrenzt das Recht der bewaffneten Konflikte die Staatensouveränität auch im staatlichen Innenraum.

6 Vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum Völkerrecht, Band I/32, 2002, 714 ff.; Heintschel von Heinegg in: Ipsen (Fn. 3), § 15 Rn. 51 ff., 59 m.w.N. Siehe aus der Rechtsprechung insbesondere IGH, Urteil vom 5. Februar 1970 (Case Concerning the Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited, Belgium v. Spain), ICJ Reports 1970, 32, para. 34 (wenngleich dort nicht der Begriff des ius cogens verwendet wird), sowie IGH, Urteil vom 3. Februar 2006 (Armed Activities on the Territory of the Congo (New Application: 2002), Congo v. Rwanda), para. 65. 7 Für einen Überblick zur Entwicklung des ius in bello siehe Green The Contemporary Law of Armed Conflict3, 2008, 26 ff.; Werle Völkerstrafrecht2, 2007, Rn. 901 ff. m.w.N. 8 JStGH, Beschluss vom 2. Oktober 1995 (Tadić, AC), para. 119.

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Eine ständige Herausforderung an das Recht der bewaffneten Konflikte stellt die Konkretisierung der genannten Grundprinzipien im Hinblick auf neue technische Entwicklungen dar; insbesondere das Haager Recht wurde seit dem Zweiten Weltkrieg vielfach ergänzt und den militärtechnischen Innovationen angepasst.9 Gegenwärtig stellt sich vor allem die Frage, wie rechtlich mit asymmetrischen Konflikten umzugehen ist: Diese entsprechen nicht der dem Haager und Genfer Recht zu Grunde liegenden Vorstellung eines Krieges zwischen zwei Staaten oder zumindest doch staatenähnlichen Verbänden mit offen operierenden Streitkräften.10 Ob die Probleme asymmetrischer Konfliktführung künftig weiterhin im Rahmen der herkömmlichen Dichotomie von Kriegs- und Friedensrecht verarbeitet werden oder ob in Zukunft ein Recht der asymmetrischen Konflikte als völkerrechtliches tertium entstehen wird, ist derzeit noch nicht absehbar. 3. Als ein zweiter einschlägiger Primärnormenbereich entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg das Friedenssicherungsrecht, das in zahlreichen Abkommen das ius ad bellum völkerrechtlich einschränkte.11 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Ächtung des Krieges zu einem allgemeinen Aggressionsverbot in der VN-Charta ausgebaut.12 Der genaue Umfang des Gewaltverbots und seine Ausnahmen sind dagegen bis heute im Einzelnen umstritten; die Rechtsentwicklung ist im Fluss. Zu klären gilt es beispiels9 Zu nennen sind insbesondere das Haager Abkommen vom 14. Mai 1954 zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (BGBl. 1967 II, 1233), das Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen vom 10. April 1972 (BGBl. 1983 II, 133), das am 10. Oktober 1980 verabschiedete Übereinkommen über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen, die übermäßige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können (BGBl. 1992 II, 958; 1993 II, 935) mit seinen mittlerweile fünf Protokollen, das Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung chemischer Waffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen vom 13. Januar 1993 (BGBl. 1994 II, 807) und das am 3./4. Dezember 1997 unterzeichnete Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung (BGBl. 1998 II, 779). 10 Vgl. dazu allgemein z.B. van Creveld Die Zukunft des Krieges, 1998; ders. Die Gesichter des Krieges, 2009; Kaldor Neue und alte Kriege – Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, 2000; Münkler Die neuen Kriege, 2002; ders. Der Wandel des Krieges, 2006; ders. Die Friedens-Warte 81 (2006) 2, 59 ff.; Stuby in: Hankel (Fn. 5), 266 ff. 11 Das Friedenssicherungsrecht wird daher konsequent auch als ius contra bellum bezeichnet, vgl. Bothe in: Buffard u.a. (Fn. 5), 141. 12 Vgl. Art. 2 Abs. 4 VN-Charta. Siehe dazu z.B. Bothe in: Graf Vitzthum (Hrsg.) Völkerrecht4, 2008, 8. Abschnitt Rn. 9; Kreß Gewaltverbot und Selbstverteidigung nach der Satzung der Vereinten Nationen bei staatlicher Verwicklung in Gewaltakte Privater, 1995. Zur völkergewohnheitsrechtlichen Geltung des Gewaltverbots siehe IGH, Urteil vom 27. Juni 1986 (Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua, Nicaragua v. USA), ICJ Reports 1986, 14, paras. 186–193.

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weise, ob und unter welchen Umständen Maßnahmen wirtschaftlichen und politischen Zwangs dem Gewaltverbot unterfallen, ob militärische Rettungsaktionen zum Schutze eigener Staatsangehöriger auf dem Territorium eines anderen Staates erfasst werden und unter welchen Voraussetzungen ein Staat Selbstverteidigungsmaßnahmen gegen Angriffshandlungen ergreifen kann, die vom Territorium eines anderen Staates ausgehen, ohne dass diesem die Angriffshandlungen ohne weiteres zugerechnet werden können (sog. indirect aggression). Auch der Streit um die völkerrechtliche Zulässigkeit so genannter humanitärer Interventionen und so genannter Interventionen auf Einladung ist in diesem Zusammenhang zu nennen.13 Schließlich wird geltend gemacht, dass in qualifizierten Bedrohungssituationen militärische Präventivschläge (preemptive strikes) als erlaubte Selbstverteidigung nicht gegen das Gewaltverbot verstießen.14 4. Den bislang jüngsten für das Völkerstrafrecht relevanten Primärnormenbereich bildet der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg rasant entwickelt hat. Zu verweisen ist hier namentlich auf die Charta der Vereinten Nationen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 sowie den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Heute besteht vom Standpunkt des Völkervertragsrechts kein Zweifel an der universellen Geltung zumindest des Kerns der Menschenrechte. Das Recht auf Leben, das Folterverbot, das Verbot der Sklaverei und das Verbot von Diskriminierung aus rassischen Gründen gelten allgemein als zwingendes Recht im Sinne von Art. 53 der Wiener Vertragskonvention von 1969.15 Der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte zu der normativ weitreichendsten Begrenzung der Staatensouveränität nach innen entwickelt und ist zu einer „substanzielle[n] Legitimationsgrundlage des staatlichen Verfassungsrechts“ geworden.16 Allerdings lässt sich inzwischen eine gewisse Erschöpfung in der normativen Entwicklung der internationalen Menschenrechte konstatieren. Die immer weitergehende Spezifizierung und Differenzierung des Rechtekata13 Siehe zu den genannten Fallkonstellationen zusammenfassend Fischer in: Ipsen (Fn. 3), § 60 Rn. 26 ff.; Herdegen Völkerrecht7, 2008, § 34 Rn. 4 ff., jeweils m.w.N. 14 Vgl. insbesondere die unter der Bush-Administration vertretene Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten vom 17.9.2002, leicht gekürzt abgedruckt in: Internationale Politik 57 (2002) 12, 113–138. Befürwortend z.B. Gareau State Terrorism and the United States, 2004; Litwak Survival 44 (2002) 53 ff.; Murphy Harvard Journal of International Law 43 (2002) 41 ff. Dagegen z.B. Antonopolous Netherlands International Law Review 55 (2008) 159, 172 ff.; Fassbender EuGRZ 2004, 241 ff.; Gardner American Journal of International Law 97 (2003) 590 ff. 15 Vgl. Heintschel von Heinegg in: Ipsen (Fn. 3), § 15 Rn. 59; Herdegen (Fn. 13), § 16 Rn. 14. 16 So treffend Thürer Kosmopolitisches Staatsrecht, Band 1: Grundidee Gerechtigkeit, 2005, 6.

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logs in einer kaum noch überschaubaren Vielfalt von völkerrechtlichen Verträgen ist der Einsicht gewichen, dass sich die internationale Staatengemeinschaft besser „auf die effektive Durchsetzung eines Kernbereichs der Menschenrechte konzentrieren“ sollte.17 Auch der inzwischen unüberhörbare Vorwurf, die Idee der Menschenrechte beinhalte eine neue Form von Wertekolonialismus der westlichen Welt, ist in diesem Zusammenhang zu sehen.18 Bei aller Zurückhaltung ist aber festzustellen, dass die Idee eines schützenswerten menschenrechtlichen Kernbereichs, der insbesondere das Leben und die körperliche Unversehrtheit umfasst, ungeachtet ihres westlichen Ursprungs auch in den anderen Regionen und Kontinenten der Welt unumstritten ist. Es handelt sich insofern also um eine Auseinandersetzung über das rechte Maß und die geeignete Form des Schutzes, welche die Idee der Menschenrechte an und für sich aber nicht zu diskreditieren vermag.19 5. Immer deutlicher werden die Konturen eines vierten völkerrechtlichen Primärnormenbereichs sichtbar, an den das Völkerstrafrecht in absehbarer Zukunft anknüpfen könnte: das Umweltvölkerrecht. Gemeinsam ist dem internationalen Umweltrecht mit dem Recht der bewaffneten Konflikte, dem Friedenssicherungsrecht und dem internationalen Menschenrechtsschutz seine den Grundsatz der staatlichen Souveränität begrenzende und relativierende Tendenz. Im Mittelpunkt des heutigen umweltrechtlichen Völkervertragsrechts steht der Schutz der Umwelt als solcher, die in der Stockholmer Konferenz über die Umwelt des Menschen von 1972 erstmals als internationales Rechtsgut anerkannt wurde.20 Ziel und Zweck des heutigen Umweltvölkerrechts ist nicht allein der Schutz vor Schädigungen, sondern auch die Erhaltung der natürlichen Umwelt im Interesse nachfolgender Generationen. Das Recht der Staaten, die ihnen zugänglichen Ressourcen auszubeuten, wird durch dieses Rechtsgut begrenzt.21 Zwar ist festzustellen, dass es gegenwärtig noch vielfach an hinreichend konkreten und damit im Hinblick auf das Völkerstrafrecht anknüpfungsfähigen Verbotsnormen fehlt. Mit dem sich entwickelnden Bewusstsein für die Dringlichkeit dieser Fragen dürfte die Zahl an Verbotsnormen in diesem Bereich allerdings beständig wachsen.22 17

Vgl. Fassbender in: Isensee (Hrsg.) Menschenrechte als Weltmission, 2009, 37. Zusammenfassend siehe Klein 26 EuGRZ (1999) 109, 113 f.; Donelly in: Dryzek u.a. (Hrsg.) The Oxford Handbook of Political Theory, 2006, 601, 611 ff.; Yasuaki Asian Yearbook of International Law 7 (1997) 21 ff. 19 Ähnlich Fassbender in: Isensee (Fn. 17), 34; Herdegen (Fn. 13), § 47 Rn. 10. 20 Vgl. Declaration of the UN Conference on the Human Environment, International Legal Materials 11 (1972) 1416. 21 Zusammenfassend Heintschel von Heinegg in: Ipsen (Fn. 3), Kapitel 14 Rn. 1 ff.; Graf Vitzthum in: ders. (Fn. 12), 5. Abschnitt Rn. 104 ff. 22 Einen ersten Vorstoß zur völkerrechtlichen Kriminalisierung der absichtlichen Herbeiführung schwerer Umweltschäden enthielt Art. 26 des von der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen vorgelegten Draft Code of Crimes Against the Peace and Secu18

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III. Das materielle Völkerstrafrecht Bei der Entwicklung des materiellen Völkerstrafrechts standen lange Zeit die Anerkennung des Grundsatzes direkter individueller Strafbarkeit nach dem Völkerrecht und die Herausbildung der völkerrechtlichen Verbrechenstatbestände im Mittelpunkt des Interesses. Erst im letzten Jahrzehnt haben die allgemeinen Prinzipien der Zurechnung völkerstrafrechtlicher Verantwortlichkeit zunehmende Aufmerksamkeit erfahren. 1. Ebenso wie der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz durchbricht der Grundsatz unmittelbarer völkerrechtlicher Strafbarkeit die traditionelle Mediatisierung des Individuums im Völkerrecht. Wird der Einzelne durch die völkerrechtliche Anerkennung von Menschenrechten zum Träger völkerrechtlicher Rechte, so setzt der Grundsatz direkter Strafbarkeit voraus, dass völkerrechtliche Verhaltensverbote Individuen unmittelbar verpflichten.23 Die Kriminalisierung völkerrechtswidrigen Verhaltens beinhaltet daher eine zusätzliche Beschränkung des Grundsatzes der Staatensouveränität. Erst das Völkerstrafrecht bringt zum Ausdruck, dass nicht allein der Staat, sondern auch die völkerrechtliche Gemeinschaft verbindliche Regeln für die Angehörigen eines Staates setzen und deren Verhalten kriminalisieren kann. Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs verhalfen diesem Gedanken im Statut für den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg zum Durchbruch. Seither wurde der Grundsatz unmittelbarer völkerrechtlicher Strafbarkeit immer wieder bestätigt und ist heute völkergewohnheitsrechtlich anerkannt.24 2. Das IMG-Statut bildet bis heute auch die Grundlage und den Ausgangspunkt für die Herausbildung der verschiedenen Völkerrechtsverbrechen. Es enthält drei Tatbestände: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Verbrechenstatbestände lassen sich problemlos den drei genannten völkerrechtlichen Primärnormenbereichen zuordnen: Die Kriegsverbrechen erscheinen als strafrechtliche Flankierung des Rechts der bewaffneten Konflikte, das Verbrechen gegen den rity of Mankind von 1991. In späteren Versionen des Draft Code wurde der Tatbestand aber wieder gestrichen, vgl. dazu Rayfuse Criminal Law Forum 8 (1997) 43, 74 f.; Tomuschat in: Hankel/Stuby (Hrsg.) Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, 1995, 270, 285; Tomuschat in: Arndt u.a. (Hrsg.) Völkerrecht und deutsches Recht, FS Rudolf 2001, 105 ff. Eine eng begrenzte Kriminalisierung im Rahmen der Kriegsverbrechen findet sich in Art. 8 Abs. 2 b) iv) IStGH-Statut. Siehe dazu Peterson Leiden Journal of International Law 22 (2009) 325 ff. 23 Vgl. Kreß in: Hankel (Fn. 5), 323, 381; Tomuschat Die Friedens-Warte 73 (1998) 335, 347; Zimmermann German Yearbook of International Law 45 (2002) 35, 37 ff. 24 Vgl. Art. 6 IMG-Statut, Art. 5 IMGFO-Statut, Art. II Abs. 2 KRG 10, Art. 7 Abs. 1 JStGH-Statut, Art. 6 Abs. 1 RStGH-Statut, Art. 6 Abs. 1 SCSL-Statut, Art. 25 Abs. 1 IStGH-Statut.

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Frieden knüpft an Verbotsnormen des Friedenssicherungsrechts an und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit kriminalisieren schwerste Verstöße gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte. a) Betrachtet man die Kriegsverbrechen näher, so fällt auf, dass das IMG-Statut letztlich gar keinen Verbrechenstatbestand im eigentlichen Sinn enthält, sondern lediglich einen allgemeinen, nur beispielhaft konkretisierten Verweis auf die Kriegsgesetze und -gebräuche, deren Verletzungen als Kriegsverbrechen bezeichnet werden.25 Diese Regelungstechnik war für die Kriegsverbrechen lange Zeit typisch.26 Der Verbrechenstatbestand blieb dadurch offen für die Einbeziehung neuer Verbote des Kriegsvölkerrechts, insbesondere im Hinblick auf technische Innovationen. Zu klären war dann allerdings jeweils, inwieweit zur völkerrechtlichen Verbotsnorm auch die Strafbarkeit nach Völkerrecht hinzutrat. Die wichtigste Fortentwicklung im Bereich der Kriegsverbrechen bildet die Erstreckung des Völkerstrafrechts auf die Normverletzungen im nichtinternationalen bewaffneten Konflikt.27 Mit dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs hat sich der völkerrechtliche Verbrechenstatbestand der Kriegsverbrechen von dem Recht der bewaffneten Konflikte stärker emanzipiert und enthält nun eine abschließende Aufzählung der kriminalisierten Verstöße.28 Schon die große Zahl der Untertatbestände signalisiert, dass Verletzungen von Verboten des Rechts der bewaffneten Konflikte in großem Umfang kriminalisiert wurden. Dennoch weisen die Kriegsverbrechen auffällige Lücken auf. So fehlt insbesondere eine spezifische strafrechtliche Flankierung der Normen, die den Besitz, die Verbreitung und den Einsatz von atomaren, biologischen und chemischen Waffen verbieten.29 b) Der im IMG-Statut noch als Verbrechen gegen den Frieden bezeichnete Tatbestand30 hat seither keine konsentierte völkervertragsrechtliche Regelung gefunden. Klar ist aber, dass der völkerstrafrechtliche Tatbestand enger ist als die Verbotsnormen des Friedenssicherungsrechts. Eine Kriminalisierung erfährt nicht etwa jeder Verstoß gegen das Gewaltverbot der VN-Charta, son25

Vgl. Art. 6 b) IMG-Statut. Vgl. z.B. Art. 5 b) IMGFO-Statut; Art. II Abs. 1(b) KRG 10; Art. 2 und Art. 3 JStGH-Statut. 27 Wegweisend war hier die Tadić-Entscheidung der Rechtsmittelkammer des Jugoslawien-Strafgerichtshofs vom 2. Oktober 1995. Vgl. zu dieser Entscheidung die Beiträge von Cottier in: Erberich u.a. (Hrsg.) Frieden und Recht, 1998, 183, 201 ff.; Heintschel von Heinegg in: Zimmermann (Hrsg.) International Criminal Law and the Current Development of Public International Law, 2003, 27, 35 ff.; Kreß EuGRZ 1996, 638 ff.; Meron AJIL 90 (1996) 238 ff.; Sassòli Revue Générale de Droit International Public, Band C (1996) 103 ff. 28 Vgl. Art. 8 IStGH-Statut. 29 Siehe dazu Peterson Die Strafbarkeit des Einsatzes von biologischen, chemischen und nuklearen Waffen als Kriegsverbrechen nach dem IStGH-Statut, 2009. 30 Vgl. Art. 6 a) IMG-Statut. Die Formulierung des Art. 6 a) IMG-Statut wurde nahezu wörtlich in Art. 5 a) IMGFO-Statut übernommen. 26

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dern nur die Aggression. Strafbar ist damit jedenfalls der völkerrechtswidrige Angriffskrieg, der auf die dauerhafte Unterwerfung eines anderen Staates oder auf die Verfügung über dessen Gebiet oder dessen Ressourcen abzielt.31 Die weiteren Konturen der Aggression sind aber noch unklar. Auch der Konferenz in Rom gelang es nicht, eine abschließende Definition zu finden. Das Aggressionsverbrechen befindet sich daher noch in einer Art „Wartezustand“.32 Ob sich die Mitgliedsstaaten im Rahmen der bevorstehenden Überprüfungskonferenz auf eine Verbrechensdefinition verständigen werden können, ist trotz der Anstrengungen der zu diesem Zweck berufenen Sonderarbeitsgruppe fraglich.33 c) Als besonders revolutionär und zukunftsweisend hat sich die Anerkennung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit als eigener Verbrechenstatbestand im IMG-Statut erwiesen. Kriminalisiert sind schwerste Menschenrechtsverletzungen, die im Rahmen eines systematischen oder ausgedehnten Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung stattfinden. Ähnlich wie bei den Kriegsverbrechen setzen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit also einen Kontext organisierter Gewalt voraus.34 Die wichtigste Fortentwicklung des Tatbestands seit Nürnberg stellt die Überwindung der Junktim-Klausel dar, nach der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zusammenhang mit einen bewaffneten Konflikt, einem Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen den Frieden begangen werden mussten.35 Der Verzicht auf ein solches Junktim-Element entspricht der Konzeption der Verbrechen gegen die Menschlichkeit als völkerstrafrechtliche Flankierung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes. d) Keine Regelung im IMG-Statut hatte dagegen der Völkermord gefunden, der heute als viertes Kernverbrechen des Völkerrechts anerkannt ist. Der nationalsozialistische Genozid an den europäischen Juden wurde in Nürnberg nicht explizit als solcher, sondern als Kriegsverbrechen und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfasst, insbesondere als „Ausrottung“ und „Verfolgung“.36 Eine völkervertragsrechtliche Regelung erfuhr der Tat31 Vgl. zu diesem denkbar engen Begriff des Aggressionsverbrechens Kreß ZStW 115 (2003) 294, 305 f.; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben StGB27, 2006, § 80 Rn. 4; Werle (Fn. 7), Rn. 1294 ff. 32 So plastisch Tomuschat (Fn. 23), 337. Kritisch zu dieser Lösung Schuster Criminal Law Forum 14 (2003) 1, 17; Wedgwood EJIL 10 (2000) 93, 105. 33 Vgl. Resolution ICC-ASP/1/Res.1; Die Berichte der Arbeitsgruppe sind einsehbar unter (zuletzt aufgerufen im November 2009). Einen ausführlichen Überblick über die Arbeiten bietet z.B. Solera Defining the Crime of Aggression, 2007, 374 ff. 34 Siehe zu diesem „internationalen Element“ der Völkerrechtsverbrechen näher Lampe in: Hirsch u.a. (Hrsg.) FS Kohlmann 2003, 147, 159 ff.; Werle (Fn. 7), Rn. 91. 35 Vgl. dazu Ambos Internationales Strafrecht2, 2008, § 7 Rn. 174 ff. 36 IMG, Urteil vom 1. Oktober 1946, in: Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg, Der Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, Band 1, 1947, 189, 277, 285 f.

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bestand schließlich in Art. II der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes.37 Der Völkermord nimmt insofern eine Sonderrolle ein, als er sich nicht eindeutig als strafrechtliche Flankierung eines völkerrechtlichen Primärnormenbereichs verstehen lässt. Geschützt werden nicht die Rechte von Individuen, sondern das Existenzrecht bestimmter Gruppen. Der Tatbestand erfasst deshalb nur solche Angriffe, die den Einzelnen allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zum Opfer werden lassen.38 3. In Zukunft geht es bei den Kernverbrechen des Völkerstrafrechts – mit Ausnahme der Aggression – vor allem um die vorsichtige Präzisierung und gewisse Erweiterungen der Einzeltatbestände in Anpassung an die Verhaltensverbote der Primärnormenbereiche. Zudem stellen sich Fragen, welche die Reichweite aller Völkerrechtsverbrechen und damit letztlich des Völkerstrafrechts insgesamt betreffen. Ungelöst ist insbesondere das Problem, ob und in welchem Umfang die Völkerrechtsverbrechen auch Gewalt von Personen und Personengruppen erfassen, deren Verhalten nicht einem Staat oder einer staatsähnlichen Gebietskörperschaft zugerechnet werden kann (sogenannte non-state actors).39 Können Angehörige privater Sicherheitsfirmen, können Terroristen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen? Kann die Tat Einzelner, die mit der für den Völkermord charakteristischen Zerstörungsabsicht handeln, Völkermord darstellen? Oder ist stets erforderlich, dass sich das Verhalten in einen kollektiven Handlungszusammenhang, eine entsprechende Politik oder ähnliches, eingliedert? Diese Fragen korrespondieren mit der bereits zuvor konstatierten Veränderung der Konfliktformen und der damit verbundenen Flexibilisierung der Gewalt ausübenden Akteure. Auf der Suche nach einer Antwort lässt sich zunächst darüber streiten, ob die den völkerrechtlichen Straftatbeständen zugrunde liegenden Primärnormen auch für nicht-staatliche Akteure gelten.40 Zudem entfällt zumindest ein funktionaler Grund für die Strafbarkeit auf völkerrechtlicher Ebene: die Notwendigkeit einer suprastaatlichen Begründung der Strafbarkeit, um eine die Verbrechensbegehung deckende staatliche Legalität zu durchbrechen.41 37 BGBl. 1954 II, 730. Der Konvention sind gegenwärtig 141 Staaten beigetreten (Stand: November 2009). Eine Übersicht der Signatarstaaten ist unter (zuletzt aufgerufen im November 2009) abrufbar. 38 Siehe dazu ausführlich Werle (Fn. 7), Rn. 661 ff. 39 Vgl. insbesondere Kreß in: Hankel (Fn. 5), 323 ff., der insoweit die Frage nach einer „dritten Generation“ des Völkerstrafrechts aufwirft. 40 Vgl. z.B. zur Frage der Bindung Privater an die völkerrechtlichen Menschenrechte Alston (Hrsg.) Non-State Actors and Human Rights, 2005; Clapham (Hrsg.) Human Rights Obligations of Non-State Actors, 2006; Kreß in: Hankel (Fn. 5), 323, 381 ff. 41 Kreß in: Hankel (Fn. 5), 323, 380, 387 ff.

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In materieller Hinsicht haben die Ereignisse am 11. September 2001 dagegen in exemplarischer Weise deutlich gemacht, dass die Angriffe nicht-staatlicher Akteure auf völkerrechtlich geschützte Rechtsgüter sich in ihrer Intensität nicht von staatlichen Angriffen unterscheiden müssen. Dieser Gedanke rechtfertigt jedenfalls bei Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit grundsätzlich die Erstreckung der Tatbestände auch auf nicht-staatliche Akteure. 4. Die Frage, ob Piraterie, Rauschgifthandel oder Terrorismus direkt und als solche nach Völkerrecht strafbar sind, ist umstritten, auf dem heutigen Stand aber zu verneinen. Besondere Aktualität hat vor allem die völkerstrafrechtliche Bewertung von Terrorakten.42 Gegen die Einordnung als Völkerrechtsverbrechen spricht, dass diese Delikte nicht als strafrechtliche Flankierung eines gesonderten völkerrechtlichen Primärnormenbereichs verstanden werden können. Es geht bei der völkerrechtlichen Regelung von Terrorismus, Piraterie und Rauschgifthandel auch nicht um eine Begrenzung staatlicher Souveränität zum Schutze universeller Rechtsgüter, sondern um internationale Koordination zum Schutze gleichlaufender staatlicher Interessen. Deshalb haben diese Delikte ganz unabhängig von der Frage ihrer völkerrechtlichen Kriminalisierung eine andere Qualität als die vorgenannten völkerrechtlichen Kernverbrechen.43 Eine strafrechtliche Verfolgung dieser Verbrechen durch internationale Gerichte kann sich freilich aus praktischen Gründen als sinnvoll erweisen, wie etwa im Falle der Piraterie. 5. Die vier Kernverbrechenstatbestände sind zwingendes Völkerrecht, binden also alle Völkerrechtssubjekte erga omnes und unabhängig von einer völkervertragsrechtlichen Anerkennung.44 Konsequent ist es daher, wenn die völkerstrafrechtlichen Verbrechenstatbestände zunehmend in das innerstaatliche Recht übernommen werden (Implementierung). Das Völkerrecht begründet zwar keine entsprechende allgemeine Pflicht.45 Es entspricht allerdings der Idee des Völkerstrafrechts, wenn die Staaten ihr Strafrecht an42 Vgl. hierzu auch die Beiträge in dem von Gaeta und Jeßberger herausgegebenen Sonderheft des Journal of International Criminal Justice 4 (2006) 891 ff. 43 Vgl. zur Frage der völkerrechtlichen Strafbarkeit des Terrorismus als eigenes Verbrechen Damgaard Individual Criminal Responsibility for Core International Crimes, 2008, 392 ff., 409 f.; Saul Defining Terrorism in International Law, 2006, 270. Abweichend hingegen Cassese Journal of International Criminal Justice 4 (2006) 933 ff. Zur völkerrechtlichen Kriminalisierung der Piraterie als solcher siehe z.B. Gaeta in: Cassese (Hrsg.) The Oxford Companion to International Criminal Justice, 2009, 63. 44 Vgl. Heintschel von Heinegg in: Ipsen (Fn. 3), § 15 Rn. 55 ff.; Herdegen (Fn. 13), § 16 Rn. 14. 45 Etwas anderes gilt aber im Bereich der Kriegsverbrechen. In Art. 146 Abs. 4 GK IV findet sich die vertragliche Verpflichtung, für die schwerwiegenden Verletzungen der Genfer Konventionen „angemessene Strafbestimmungen“ zu erlassen. Vgl. auch Art. 4 der Folterkonvention.

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passen und sich in die Lage versetzen, Völkerrechtsverbrechen auch als solche verfolgen zu können.46 Der Implementierungsprozess hat durch die Verabschiedung und das Inkrafttreten des Römischen Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof einen neuen Impuls erhalten. Viele Staaten haben die innerstaatliche Umsetzung des IStGH-Statuts zum Anlass genommen, die rechtlichen Grundlagen der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen durch die eigenen Gerichte dem Stand der Völkerstrafrechtsentwicklung anzupassen.47 Dies bewirkt eine im Vergleich zur Vergangenheit sehr viel stärkere Verankerung des Völkerstrafrechts in den staatlichen Rechtsordnungen. Zugleich lässt sich eine gewisse Fragmentierung beobachten, die dadurch entsteht, dass bei der innerstaatlichen Umsetzung das Völkerstrafrecht modifiziert wird. Bei der Implementierung des Völkermordtatbestands in nationales Recht haben beispielsweise einige Staaten die Definition der geschützten Gruppen erweitert. Solche über das völkerrechtliche Schutzniveau hinausgehenden Abweichungen sind im Prinzip unproblematisch. Freilich kann bei der Strafverfolgung das spezifisch aus ihrem Charakter als Völkerrechtsverbrechen begründete Instrumentarium (z.B. Weltrechtsprinzip, ggf. Aufhebung von Immunität etc.) nur für den auch völkerrechtlich aktuell kriminalisierten Bereich in Anspruch genommen werden.48 6. Bis zum Inkrafttreten des IStGH-Statuts war der Allgemeine Teil das Stiefkind der Bemühungen um die Kodifikation des Völkerstrafrechts. Ganz im Vordergrund stand das praktisch Wichtige: Die Umschreibungen der strafbaren Verhaltensweisen, die Verbrechen gegen das Völkerrecht. Erst nachdem der Grundsatz unmittelbarer völkerrechtlicher Strafbarkeit völkergewohnheitsrechtliche Geltung erlangt und sich die Definitionen der völkerrechtlichen Kernverbrechen weitgehend konsolidiert hatten, rückte 46 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das Verfahren um die Überstellung des mutmaßlichen génocidaire Michel Bagaragaza vom Ruanda-Strafgerichtshof an Norwegen. Der Ruanda-Strafgerichtshof lehnte die Überstellung letztlich ab, weil Norwegen Bagaragaza mangels entsprechenden Tatbestandes nicht wegen Völkermords, sondern lediglich wegen Mordes hätte anklagen können. Damit wäre aber das spezifisch völkerstrafrechtliche Unrecht nicht adäquat zum Ausdruck gebracht worden, vgl. RStGH, Beschluss vom 19. Mai 2006 (Bagaragaza, TC), para. 16; bestätigt durch RStGH, Beschluss vom 30. August 2006 (Bagaragaza, AC), para. 16. 47 Vgl. zur Implementierung des materiellen Völkerstrafrechts eingehend Eser/Kreicker (Hrsg.) Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen (Band 1–2) bzw. Eser/ Sieber/Kreicker (Hrsg.) Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen (Band 3 ff.) sowie zusammenfassend Ambos in: Jehle/Lipp/Yamanaka (Hrsg.) Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht, 2008, 223–236. 48 Bedenklich ist es daher, wenn in der staatlichen Gesetzgebung oder Rechtsprechung der Völkermordtatbestand erweitert und zugleich die Geltung des Universalitätsprinzips verfügt wird, vgl. etwa Estland (§ 8 estnisches StGB) und Spanien (Art. 23 Abs. 4 Ley Orgánica del Poder Judicial a.F.). Eine Untersuchung u.a. der spanischen Rechtsprechung und Gesetzgebung findet sich bei Reydams Universal Jurisdiction, 2003, 183 ff.

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die Kodifikation allgemeiner Grundsätze der Zurechnung völkerstrafrechtlicher Verantwortlichkeit in den Vordergrund. Anders als in den Statuten der Internationalen Militärgerichtshöfe und der vom VN-Sicherheitsrat eingerichteten internationalen Strafgerichtshöfe finden sich in Teil 3 des IStGH-Statuts nunmehr umfassende Bestimmungen zu den „allgemeinen Grundsätzen des Strafrechts“ („general principles of criminal law“), die den Nukleus eines eigenständigen Allgemeinen Teils des Völkerstrafrechts bilden.49 Die weitere Präzisierung dieser allgemeinen Grundsätze ist eine der zentralen Herausforderungen für Rechtsprechung und Wissenschaft im Bereich des Völkerstrafrechts. Die in den letzten Jahren erzielten Fortschritte bei der Dogmatisierung des Völkerstrafrechts sind allerdings schon heute beträchtlich. Inzwischen lässt sich bei allen Defiziten mit Fug und Recht von einem eigenen System des Völkerstrafrechts sprechen, das Elemente verschiedener Strafrechtstraditionen aufnimmt und mit originär völkerstrafrechtlichen Rechtsfiguren zu einem kohärenten Ganzen verbindet.50 Im Rahmen dieses Dogmatisierungsprozesses artikuliert sich immer deutlicher der Einfluss des kontinentaleuropäischen, insbesondere auch des deutschen Strafrechtsdenkens.

IV. Die Durchsetzung des Völkerstrafrechts 1. Eine dritte Ebene betrifft die Durchsetzung des Völkerstrafrechts. Es fragt sich, wem die Kompetenz zusteht, Völkerrechtsverbrechen zu verfolgen, ihr Vorliegen festzustellen und strafrechtliche Sanktionen deswegen zu verhängen und zu vollstrecken. Da erst eine effektive Durchsetzung des Völkerstrafrechts die normative Begrenzung des staatlichen Handlungsspielraums spürbar werden lässt, berührt die Frage nach der Strafverfolgungskompetenz die Staatensouveränität in besonders empfindlicher Weise. Selbst Staaten, die solche normativen Begrenzungen und ihre völkerstrafrechtliche Flankierung im Grundsatz anerkennen, haben die Strafverfolgungskompetenz internationaler Institutionen oder anderer Staaten daher nicht selten bestritten. 49 In Teil 3 des IStGH-Statuts finden sich zwar zahlreiche, aber nicht alle Regeln zum Allgemeinen Teil, die der Internationale Strafgerichtshof anwenden kann. Ergänzend heranzuziehen sind vor allem die Regeln, die Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts sind, vgl. Art. 21 IStGH-Statut. 50 Zu einem ersten umfassenden Versuch der „Dogmatisierung“ vgl. Ambos Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, 2002. Die Entstehung eines eigenen Straftatsystems auf völkerstrafrechtlicher Ebene analysieren auch Burghardt Die Vorgesetztenverantwortlichkeit im völkerrechtlichen Straftatsystem, 2008; Jesse Der Verbrechensbegriff des Römischen Statuts, 2009.

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a) Internationale Strafverfolgungsansprüche haben erstmals die alliierten Siegermächte nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert. Sowohl der Versailler Vertrag als auch das Londoner Abkommen und das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs für den Fernen Osten lassen erkennen, dass die Siegermächte dabei primär für sich selbst handelten, weniger dagegen als Repräsentanten der Völkerrechtsgemeinschaft. Die Strafgewalt wurde in diesen Fällen also vorrangig noch von der unmittelbaren Betroffenheit der Siegermächte durch die zu ahndenden Völkerrechtsverbrechen abgeleitet.51 Insbesondere im Londoner Abkommen finden sich aber Formulierungen, die über diesen Begründungsansatz hinausgehen und andeuten, dass die Siegermächte zugleich beanspruchten, im Interesse der Völkerrechtsgemeinschaft insgesamt, verkörpert durch die Vereinten Nationen, zu handeln.52 Den Schritt zu einer originär völkerrechtlichen Begründung der Strafgewalt haben dann die Vereinten Nationen mit der Errichtung der internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda vollzogen. Die Gerichtshöfe werden als Nebenorgane („subsidiary organs“) im Interesse der Durchsetzung von Maßnahmen zur „Wahrung und Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“53 legitimiert; ihre Rechtsgrundlage ist eine Resolution des VN-Sicherheitsrates nach Kapitel VII der VN-Charta.54 Der Internationale Strafgerichtshof schöpft seine Strafgewalt im Regelfall nicht originär aus dem Völkerrecht, sondern leitet sie von der Strafgewalt der Mitgliedstaaten des Römischen Statuts ab. Der Gerichtshof ist deshalb nicht automatisch für alle Völkerrechtsverbrechen zuständig, die irgendwo auf der Welt begangen werden. Vielmehr setzt die Zuständigkeit des Gerichtshofs grundsätzlich voraus, dass die Tat auf dem Territorium einer Vertragspartei begangen worden oder dass der Täter Angehöriger eines Vertragsstaates ist.55 Und selbst unter diesen Voraussetzungen tritt der Ge51 Vgl. insbesondere Art. 229 des Versailler Vertrags. Darauf deutet auch die Bedeutung hin, die das Londoner Viermächte-Abkommen dem „geographisch bestimmbaren Tatort“ zumisst, vgl. Art. 1 Londoner Viermächte-Abkommen. 52 So heißt es im Londoner Viermächte-Abkommen, die alliierten Siegermächte handelten beim Abschluss dieses Abkommens „im Interesse aller Vereinten Nationen“ (in the interests of all the United Nations). 53 Vgl. Art. 39 VN-Charta. 54 Für den JStGH: UN Doc. S/RES/827 (1993), für den RStGH: UN Doc. S/RES/955 (1994). Vgl. zur Tragfähigkeit dieser Rechtsgrundlage JStGH, Beschluss vom 10. August 1995 (Tadić, TC), paras. 1 ff.; ferner Ahlbrecht Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999, 242; Tomuschat Europa-Archiv 1994, 61, 64. Kritisch Schmalenbach AVR 36 (1998) 285, 289. 55 Vgl. Art. 12 Abs. 2 und 3 IStGH-Statut; näher zu den Problemen der Anerkennung der Gerichtsbarkeit durch Staaten, die nicht Vertragspartei sind, Freeland Nordic Journal of International Law 75 (2006) 211 ff.; Stahn/El Zeidy/Olásolo AJIL 99 (2005) 421; Stahn Nordic Journal of International Law 75 (2006) 243 ff.

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richtshof nur dann auf den Plan, wenn einzelstaatliche Strafgerichte bei der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen versagen, weil sie nicht willens oder nicht in der Lage sind, die Völkerrechtsverbrechen zu verfolgen (Komplementaritätsprinzip).56 Originär völkerrechtlich begründete Strafgewalt übt der Internationale Strafgerichtshof dagegen aus, wenn er auf der Grundlage einer Überweisung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen tätig wird.57 b) Strafverfolgungsansprüche der einzelnen Staaten lassen sich zunächst unproblematisch in Anknüpfung an den Tatort (Territorialitätsprinzip), die Staatsangehörigkeit des Täters (aktiver Personalitätsgrundsatz) oder die Staatsangehörigkeit des Opfers (passiver Personalitätsgrundsatz) begründen.58 Daneben lässt sich die Strafbefugnis auf das Universalitäts- oder Weltrechtsprinzip stützen, also auf den Gedanken, dass sich Völkerrechtsverbrechen gegen die gemeinsamen Interessen der Staatengemeinschaft richten und damit auch gegen die Interessen jedes einzelnen Staates als Teil dieser Rechtsgemeinschaft.59 In seiner uneingeschränkten Form führt dieser Ansatz allerdings zu einer weltweiten Konkurrenz von Strafverfolgungsbefugnissen für Völkerrechtsverbrechen: Jeder Staat kann solche Verbrechen, unabhängig vom Ort ihrer Begehung, strafrechtlich verfolgen. Erforderlich ist daher zumindest ein Kollisionsrecht, das diese konkurrierenden Strafverfolgungskompetenzen ordnet und Jurisdiktionskonflikte löst.60 Innerstaatlich droht zudem eine Überforderung der nationalen Strafverfolgungsbehörden, zumal wenn eine Verfolgungspflicht (Legalitätsgrundsatz) besteht. Im Ergebnis hat sich das Universalitätsprinzip daher trotz seiner rechtsprinzipiellen Richtigkeit als einschränkungsbedürftig erwiesen. Andernfalls droht, auch unter Berücksichtigung des besonders heftigen politischen Widerstands gegen Strafverfolgung auf der Grundlage des Weltrechtsprinzips, ein allzu deutliches Auseinanderfallen von normativem Anspruch und praktischer Durchsetzbarkeit. Ein solches Auseinanderfallen müsste seinerseits wieder die 56 Ausführlich dazu z.B. Benzing Max Planck Yearbook of United Nations Law 7 (2003) 591 ff.; Cárdenas Die Zulässigkeitsprüfung vor dem Internationalen Strafgerichtshof, 2005; El Zeidy The Principle of Complementarity in International Criminal Law, 2008; Kleffner Complementarity in the Rome Statute and National Criminal Jurisdictions, 2008; Werle (Fn. 7), Rn. 226 ff. 57 Vgl. Art. 13(b) IStGH-Statut. Siehe dazu Kurth Das Verhältnis des Internationalen Strafgerichtshofes zum UN-Sicherheitsrat, 2005, 61 ff.; Williams/Schabas in: Triffterer (Hrsg.) Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court2, 2008, Art. 13, Rn. 16 ff. 58 Vgl. zusammenfassend zu den Grundsätzen des Strafanwendungsrechts Werle/Jeßberger in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.) Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch12, 2007, Vor § 3 Rn. 216 ff. 59 Vgl. Supreme Court of Israel, Urteil vom 29. Mai 1962 (Eichmann), ILR 36 (1968) 277, 304; Ambos (Fn. 35), § 3 Rn. 93, § 4 Rn. 20; Werle/Jeßberger (Fn. 58), Vor § 3 Rn. 239; Zieher Das sog. Internationale Strafrecht nach der Reform, 1977, 83. 60 Ambos (Fn. 35), § 4 Rn. 9 ff.; Werle/Jeßberger (Fn. 58), Vor § 3 Rn. 45 ff.

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Rechtsgeltung beschädigen. Staaten wie Belgien und jüngst Spanien, die für Völkerrechtsverbrechen zeitweise das Weltrechtsprinzip in kaum begrenzter Form anerkannten, haben ihr Recht dieser Erkenntnis angepasst.61 Der deutsche Gesetzgeber hat zwar in § 1 VStGB den reinen Weltrechtsgrundsatz für Völkerrechtsverbrechen vorgesehen, diese Regelung aber durch eine flexiblere strafprozessuale Regelung in § 153f StPO flankiert, wonach die Strafverfolgungsbehörden von einer Strafverfolgung absehen können, wenn ein Inlandsbezug fehlt oder vorrangige Strafverfolgungsansprüche bestehen.62 Es wird also grundsätzlich an der Geltung des Universalitätsprinzips festgehalten, zugleich aber einerseits die Subsidiarität der allein auf das Weltrechtsprinzip gestützten Strafverfolgungsansprüche anerkannt, andererseits der Berücksichtigung rechtspraktischer Gesichtspunkte Raum gegeben. Diese Lösung erscheint als zukunftsträchtiges Modell, sofern im konkreten Fall das normative Ziel der ubiquitären Verhinderung von Straflosigkeit nicht aus bloßer politischer Rücksichtnahme aus den Augen verloren wird.63 2. In der Praxis hat die skeptische Haltung der Staaten dazu geführt, dass die Durchsetzung des Völkerstrafrechts bis heute die Ausnahme geblieben ist. Zu einer strafrechtlichen Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen ist es im Wesentlichen in drei Konstellationen gekommen. Dies war der Fall, wenn der Tatort- und Heimatstaat des Täters die Strafverfolgung als eigene Aufgabe begriff; wenn an der Strafverfolgung interessierte Opfer- oder Drittstaaten Zugriff auf Täter fremder Staatsangehörigkeit erlangen konnten; und schließlich wenn es gelang, internationale Strafverfolgungsansprüche zu formulieren und entsprechende internationale Strafgerichte zu schaffen, um diese Ansprüche durchzusetzen. Eine vierte Konstellation, die im vergangenen Jahrzehnt zunehmend Verbreitung gefunden hat, ist die Errichtung von hybriden Gerichtshöfen, die Elemente einer strafrechtlichen Verfolgung durch den Heimatstaat des Täters mit Elementen einer internationalen Strafverfolgung kombinieren.64 61 So verlangt Art. 23 Abs. 4 Ley Orgánica del Poder Judicial in seiner seit 2009 geltenden Fassung die Anwesenheit des Täters in Spanien, die spanische Nationalität des Opfers oder das Vorliegen eines anderen relevanten Anknüpfungspunktes. Zudem dürfen weder ein internationales Gericht noch ein anderes zuständiges Land effektive Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet haben. 62 Vgl. zu § 153f StGB z.B. Ambos (Fn. 35), § 3 Rn. 100; Schoreit in: Hannich (Hrsg.) Karlsruher Kommentar zur StPO6, 2008, § 153f; Werle/Jeßberger JZ 2002, 725, 732 f. 63 Vgl. Ambos (Fn. 35), § 4 Rn. 21 ff.; Gropengießer/Kreicker in: Eser/Kreicker (Fn. 47), Band 1: Deutschland, 2003, 259 ff.; Kreß ZIS 13 (2007) 515 ff.; Weigend in: Triffterer (Hrsg.) Gedächtnisschrift Vogler, 197, 209 f. Zur Anwendung des § 153f in der Praxis siehe Ambos NStZ 2006, 117 ff.; Gierhake ZStW 120 (2008) 375 ff.; Jeßberger in: Kaleck u.a. (Hrsg.) International Prosecution of Human Rights Crimes, 2007, 213 ff. 64 Siehe dazu z.B. die Beiträge in Romano/Nollkaemper/Kleffner (Hrsg.) Internationalized Criminal Courts and Tribunals: Sierra Leone, East Timor, Kosovo, and Cambodia,

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Bisher hat eine Ahndung von Völkerrechtsverbrechen vor allem dann stattgefunden, wenn keine allzu großen politischen Folgekosten zu veranschlagen waren; dies gilt unabhängig davon, ob sie durch staatliche, internationale oder hybride Strafgerichte erfolgte. Eine wirksame Durchsetzung des Völkerstrafrechts ist folglich in aller Regel nur nach dem Untergang bzw. der militärischen Niederlage des für die Verbrechensbegehung verantwortlichen Regimes oder gegenüber schwachen Staaten gelungen. Hinreichend starke Staaten haben sich dagegen der Durchsetzung des Völkerstrafrechts bislang stets entziehen können. Besonders deutlich wurde die Einseitigkeit der Durchsetzung, wenn das Völkerstrafrecht nach Beendigung eines militärischen Konflikts eingesetzt wurde. Aufgearbeitet wurden dann allein die Verbrechen der Verlierer, nicht die der Sieger. So stand sowohl nach dem Ersten als auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine Ahndung von Völkerrechtsverbrechen der Siegermächte nicht ernsthaft zur Diskussion.65 Auch die Tätigkeit der ad hoc-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda weist solche blinden Flecken auf.66 Gegenwärtig werden zunehmend Stimmen laut, die beklagen, dass die Situationen, die der Internationale Strafgerichtshof zum Anlass für die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens genommen hat, bislang ausschließlich afrikanische Staaten betreffen, nämlich derzeit die Demokratische Republik Kongo, Uganda, die Zentralafrikanische Republik, Kenia und den Sudan.67 Die aus diesen Beobachtungen abgeleiteten Vorwürfe, unter dem Deckmantel des Völkerstrafrechts werde tatsächlich willkürliche Siegerjustiz oder – in jüngerer Zeit – neokolonialistische Politik des Westens betrieben, sind dennoch zurückzuweisen. Die historischen Beispiele der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen zeigen deutlich, dass das Völkerstrafrecht bisher bei aller Selektivität keineswegs die Falschen getroffen hat. Im Hinblick auf die Verfolgungstätigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs ist zu beachten, 2004. Vgl. des Weiteren von Braun Internationalisierte Strafgerichte, 2008; Schulz Transitional Justice und hybride Gerichte, 2009. 65 Vgl. dazu Safferling Rechtsgeschichte 14 (2009) 148, 152 ff.; Tomuschat Journal of International Criminal Justice 4 (2006) 830, 832 f.; Weinke Die Nürnberger Prozesse, 2006, 57. 66 So hat der Ruanda-Strafgerichtshof bislang ausschließlich die Verbrechen der früheren Regierung untersucht, nicht aber mögliche Völkerrechtsverbrechen der siegreichen Streitkräfte der Exil-Tutsis. Vgl. dazu Reydams Journal of International Criminal Justice 3 (2005) 977 ff. Der Jugoslawien-Strafgerichtshof hat zwar Verbrechen der serbischen, kroatischen und bosnischen Konfliktparteien verfolgt; nach Aussage der ehemaligen Chefanklägerin Carla del Ponte sind mögliche Kriegsverbrechen der NATO indes infolge einer breit angelegten Obstruktionspolitik inner- und außerhalb des Tribunals ohne ausführliche Untersuchung geblieben. Siehe Del Ponte Im Namen der Anklage: Meine Jagd auf Kriegsverbrecher und die Suche nach Gerechtigkeit, 2009, 85 ff. Vgl. dazu auch Massa Berkeley Journal of International Law 24 (2006) 610 ff. 67 Vgl. z.B. Goldstone Equality of Arms Review 2 (2009) 1, 3 f.

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dass der Ankläger in den Fällen der Demokratischen Republik Kongo, Ugandas und der Zentralafrikanischen Republik auf der Grundlage von so genannten self-referrals tätig geworden ist, also auf Aufforderung dieser Staaten selbst, im Falle Sudans auf der Grundlage der Überweisung der Situation Darfur zur Untersuchung durch den VN-Sicherheitsrat.68 Der Vorwurf, aus der bislang auf afrikanische Staaten beschränkten Ermittlungstätigkeit spreche ein kolonialistisches Politikverständnis, hat zudem erst an Lautstärke gewonnen, seitdem deutlich ist, dass sich die Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs in diesen Ländern gegen alle Konfliktparteien und damit auch gegen die überweisende Regierung selbst richten können; im Falle des Sudan führte die Einschaltung des Internationalen Strafgerichtshofs zu dem für manche politisch unliebsamen Ergebnis der Ausstellung eines Haftbefehls gegen den dortigen amtierenden Präsidenten Omar Al Bashir.69 Dennoch ist zuzugeben, dass die selektive Durchsetzung die Legitimation des Völkerstrafrechts in diskursiver Hinsicht schwächt. Sollte die tatsächliche Rechtsdurchsetzung mit der das Völkerstrafrecht prägenden Idee der Universalität langfristig in so frappanter Weise nicht Schritt halten, müsste die Idee selbst an Überzeugungskraft verlieren. Gerade weil das Völkerstrafrecht stark von seiner intuitiven moralischen Richtigkeit zehrt, drohen von einem solchen diskursiven Legitimationsdefizit ernste Gefahren. Erforderlich ist daher, dass auch dann, wenn in Zukunft eine strafrechtliche Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen nur gegenüber schwachen Staaten erfolgreich ist, der universelle Geltungsanspruch stets und gerade auch in den Fällen aufrecht erhalten wird, in denen eine Umsetzung unter Berücksichtigung der politischen Realitäten nicht möglich ist.70

V. Das Völkerstrafrecht im Jahre 2050 Damit sind die wesentlichen Entwicklungslinien des Völkerstrafrechts umrissen und eine Vielzahl von aktuellen Problemen und in die Zukunft weisenden Tendenzen aufgezeigt worden. Es zeigt sich deutlich, dass die Ausdifferenzierung der Primärnormenbereiche weit fortgeschritten ist. Der Grundsatz der Staatensouveränität nach innen und nach außen hat hier viel68 Zu den self-referrals instruktiv Kreß Journal of International Criminal Justice 2 (2004) 944 ff. Zur Überweisung der Situation Darfur siehe Condorelli/Ciampi Journal of International Criminal Justice 3 (2005) 590 ff. 69 IStGH, Beschluss vom 4. März 2009 (Al Bashir, PTC). Siehe dazu eingehend Burghardt/Geneuss ZIS 4 (2009) 126 ff. 70 Zu den Legitimationsproblemen des Völkerstrafrechts infolge seiner selektiven Durchsetzung siehe auch Cryer Prosecuting International Crimes, 2005, 191 ff.; Damaška Chicago-Kent Law Review 83 (2008) 329, 360 ff.; Safferling (Fn. 65), 152 ff.

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fache Durchbrechungen und Begrenzungen erfahren. Auch das Völkerstrafrecht als eine der Effektuierung dieser Bindungen dienende Rechtsmaterie71 befindet sich in seinem normativen Entfaltungsprozess bereits in einem fortgeschrittenen Stadium. Das eigentliche Kampffeld bildet ohne Zweifel die Ebene der Durchsetzung. Hier artikulieren sich die altbekannten Widerstände und Vorbehalte gegen das Völkerstrafrecht noch weit ungenierter. Trotz einer institutionellen Verfestigung der Völkerstrafrechtspflege kann deshalb von der Garantie einer gleichmäßigen und verlässlichen Verwirklichung des Völkerstrafrechts aktuell noch nicht gesprochen werden. Derzeit herrscht vielmehr noch der Eindruck eines polyphonen Durcheinanders vor, in dem es den auch außerhalb ihres eigenen Staates Mächtigen gelingt, sich der Strafverfolgung zu entziehen. Wie wird es weitergehen? Wo wird das Völkerstrafrecht im Jahr 2050 stehen? Wird sich das System der Völkerstrafrechtspflege zu voller Wirksamkeit entfalten können? Oder wird die Verfolgung schwerster Völkerrechtsverstöße eine kurze Episode in der Menschheitsgeschichte bleiben, ein Phänomen, das alsbald wieder verschwinden wird? Ausgeschlossen ist das nicht, allen in den letzten zwei Jahrzehnten erreichten Fortschritten zum Trotz. Gerade die Sprunghaftigkeit der völkerstrafrechtlichen Entwicklung zeigt, wie zerbrechlich die einmal erreichten Errungenschaften des Rechts sind. In zehn bis fünfzehn Jahren werden sämtliche derzeit bestehenden ad hoc-Strafgerichtshöfe und gemischt national-internationalen Tribunale ihre Arbeit eingestellt haben. Es bleibt dann möglicherweise nur noch die Institution des Internationalen Strafgerichtshofs. Angesichts sich verschärfender Ressourcenknappheit ist denkbar, dass die Staaten wieder in zunehmendem Maße ihre Interessen verfolgen, ohne normative Bindungen zu akzeptieren. Wahrscheinlicher als ein Verschwinden ist allerdings auch in diesem Fall eine Degeneration des Völkerrechts und damit auch des Völkerstrafrechts. Statt als universell bindende Werteordnung und mithin als normativer Kontrollmaßstab der Machtausübung würde das Völkerrecht wieder stärker als bloßes Mittel der Interessendurchsetzung der Staaten verstanden werden. Für das Völkerstrafrecht bliebe ein Platz als Vergeltungsinstrument, mit dem die Sieger der Geschichte ihre Bestrafung der Verlierer legitimieren. Der Internationale Strafgerichtshof operierte in einem solchen Szenario weitgehend isoliert, in einer ihm gegenüber skeptisch oder sogar feindlich eingestellten Umgebung. Zwar ist nicht zu erwarten, dass die Staaten ihre Unterstützung des Gerichtshofs vollständig einstellen. Chronische Unterfinanzierung und mangelhafte Personalausstattung könnten den Gerichtshof aber an kurzer Leine halten, so dass er als 71 Andere völkerrechtliche Instrumente, die der Einhaltung der Primärnormen dienen, zeigt Bothe in: Buffard u.a. (Fn. 5), 141, 143 ff. am Beispiel des Friedenssicherungsrechts und des Rechts der bewaffneten Konflikte auf.

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Gegengewicht und Kontrollorgan staatlicher Interessenverfolgung ausfiele. Anders gesagt: Die Einseitigkeit und politische Bedingtheit der Durchsetzung des Völkerstrafrechts wäre dann nicht mehr Defizit, sondern Programm. Die Entwicklungsrichtung ist derzeit aber eine andere, nämlich eine fortschreitende Konstitutionalisierung des Völkerrechts und mithin eine Schließung des völkerrechtlichen Rechtssystems. Das bedeutet im Wesentlichen, dass zwar der Rechtserzeugungsprozess des Völkerrechts weiterhin von den Staaten als den wichtigsten Akteuren bestimmt wird, die internationalen Rechtssprechungsorgane sich aber zunehmend von den Staaten emanzipieren, so dass eine dauerhafte Befreiung der Rechtsanwendung von politischen Imperativen möglich wird. Für das Völkerstrafrecht könnte sich dann ein internationales Mehrebenensystem der Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen bilden, in dem internationale Strafgerichte, nationale Strafgerichte der Tatort- und Heimatstaaten sowie dritter Staaten und gemischt national-internationale Gerichte koordiniert und lückenlos zusammenwirken. Priorität hat in diesem Mehrebenensystem sinnvollerweise die Strafverfolgung durch Tatort- und Heimatstaaten.72 Das Komplementaritätsprinzip sichert in erster Linie eine Evaluation dieser nationalen Strafverfolgungsbemühungen durch den Internationalen Strafgerichtshof am Maßstab völkerrechtlicher Standards.73 Gefährden strukturelle Hindernisse die Strafverfolgung durch Heimat- oder Tatortstaat in erheblicher Weise, ist eine internationale Unterstützung der staatlichen Justiz möglich. Diese Unterstützung kann flexible Formen bis hin zur Errichtung von hybriden Strafgerichtshöfen annehmen.74 Erst wenn die Strafverfolgung durch Heimat- oder Tatortstaat nicht gelingt, kommt eine Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder durch Drittstaaten aufgrund des Universalitätsprinzips in Betracht. Hier hätte die Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof angesichts höherer Legitimität und überlegener Ressourcen Vorrang, müsste sich in praktischer Hinsicht aber auf die jeweiligen Hauptverantwortlichen beschränken.75 Die Möglichkeit von Drittstaa72 Ebenso Ambos (Fn. 35), § 4 Rn. 12; Behrendt Die Verfolgung des Völkermords in Ruanda durch internationale und nationale Gerichte, 2005, 297 ff.; Gierhake Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre, 2005, 288 ff. 73 Vgl. aus der Perspektive der governance-Forschung Burchard Die Friedens-Warte 2008, 73, 99 ff. 74 Vgl. auch Mégret Cornell International Law Journal 38 (2005) 725 ff. Anderer Ansicht Safferling (Fn. 65), 157, der hybride Strafgerichte als ein Übergangsphänomen betrachtet. 75 Ähnlich Jeßberger in Cassese (Fn. 43), 214 f. Siehe auch die entsprechende Verlautbarung des Anklägers des Internationalen Strafgerichtshofs von September 2003, Paper on some policy issues before the Office of the Prosecutor, abrufbar unter http://www. icc-cpi.int/library/organs/otp/030905_Policy_Paper.pdf sowie IStGH, Beschluss vom 24. Februar 2006 (PTC, Lubanga Dyilo), para. 50. Zur bisherigen Praxis des Anklägers

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ten, Völkerrechtsverbrechen aufgrund des Weltrechtsprinzips zu verfolgen, erfüllt in diesem Mehrebenensystem vor allem zwei Funktionen: Zum einen garantiert sie die subsidiäre Verfolgungsmöglichkeit bei Verbrechen, für deren Ahndung bereits unabhängig vom Grundsatz der Komplementarität keine Kompetenz des Internationalen Strafgerichtshofs gegeben ist. Zum anderen werden die Drittstaaten befähigt, im Wege der antizipierten Rechtshilfe die Durchsetzung vorrangiger Strafverfolgungsansprüche zu unterstützen und Ermittlungsmaßnahmen vorzunehmen, sobald diese konkrete Erfolgsaussichten versprechen, etwa weil sich Beschuldigte eines Völkerrechtsverbrechens im Drittstaat aufhalten.76 Wünschenswert ist allein das zweite Szenario. Die wesentlichen Institutionen für ein internationales Mehrebenensystem zur Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen bestehen bereits. Wer das Funktionieren eines solchen Systems als realitätsferne Utopie zu diskreditieren versucht, vergisst, dass der wahrhaft revolutionäre Schritt bereits vollzogen worden ist: Die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs. Voraussetzung für einen nachhaltigen Erfolg ist freilich, dass der Gerichtshof zumindest annäherungsweise universelle Anerkennung erfährt. Klar ist damit aber auch, dass den Schlüssel zum Erfolg gerade die Staaten in den Händen halten, die ein Gelingen gerne als besonders wirklichkeitsfremd bezeichnen. Aufgabe der Vertragsstaaten bleibt es vorerst, beständig den universellen Geltungsanspruch des Völkerstrafrechts zu betonen, für dieses System zu werben und den Internationalen Strafgerichtshofs in seinen Strafverfolgungsbemühungen zu unterstützen.

Schabas in: Stahn/Sluiter (Hrsg.) The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, 229 ff. 76 Vgl. Behrendt (Fn. 72), 300 ff. Siehe zur antizipierten Rechtshilfe z.B. Beulke in: Rieß (Hrsg.) Löwe-Rosenberg Großkommentar StPO25, 2003, Nachtr. § 153f, Rn. 42; Kreß Journal of International Criminal Justice 4 (2006) 561, 576 ff.; ders. (Fn. 63), 517; BTDrucks. 14/8524, 38.

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Medienstrafrecht: Investigativer Journalismus Medienstrafrecht: Investigativer Journalismus Bernd Heinrich

Künftige Entwicklungen des Medienstrafrechts im Bereich des investigativen Journalismus oder: Dürfen Journalisten mehr? BERND HEINRICH

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Begriff des „investigativen Journalismus“ . . . . . . . . . III. Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Fall „Wallraff“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Fall „Barschel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Fall „Ossietzky“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verfassungsrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Meinungsfreiheit (Art. 5 I 1 Alt. 1 GG) . . . . . . . . . . 3. Die Informationsfreiheit (Art. 5 I 1 Alt. 2 GG) . . . . . . . . 4. Die Pressefreiheit (Art. 5 I 2 Alt. 1 GG) . . . . . . . . . . . . V. Mögliche Tatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unbefugte Recherchemethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unbefugte Berichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verfassungsrechtlich gebotene Einschränkung der Tatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Das Medienstrafrecht ist eine sich rasant entwickelnde Disziplin, die insbesondere in der Bundeshauptstadt, in der viele große Medienunternehmen ihren Sitz haben oder aber jedenfalls mit einer „Hauptstadtrepräsentanz“ vertreten sind, eine zunehmende Rolle spielt. Dabei muss man sich allerdings darüber im Klaren sein, dass es sich beim „Medienstrafrecht“ nicht um eine abgegrenzte, eigenständige Gruppe von Straftatbeständen, wie z.B. beim „Umweltstrafrecht“ (§§ 324 ff. StGB) oder beim „Betäubungsmittelstrafrecht“ (§§ 29 ff. BtMG) handelt. Ähnlich wie z.B. das „Arztstrafrecht“ oder das „Computerstrafrecht“ wird das „Medienstrafrecht“ vielmehr allein von

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seinem Gegenstand her bestimmt.1 In diesem Zusammenhang existieren zwar auch Sondertatbestände, weitgehend werden aber die allgemeinen Straftatbestände – und eben keine Spezialtatbestände – zur Anwendung gebracht. Dabei ist das Medienrecht (und damit auch das Medienstrafrecht) wie kaum ein anderes Rechtsgebiet von verfassungsrechtlichen Vorgaben geprägt und insoweit auch von verfassungsrechtlichen Änderungen und Entwicklungen abhängig. Nicht nur die allgemeine Meinungsfreiheit, Art. 5 I 1 Alt. 1 GG, sondern auch und gerade die Informationsfreiheit, Art. 5 I 1 Alt. 2 GG, die Pressefreiheit, Art. 5 I 2 Alt. 1 GG, und die Rundfunkfreiheit, Art. 5 I 2 Alt. 2 GG, prägen dieses Rechtsgebiet in umfangreichem Maße und sind bei der Auslegung der einzelnen Straftatbestände stets zu berücksichtigen. Dies wird insbesondere im Bereich des sog. „investigativen Journalismus“2 deutlich, wenn es darum geht, ob im Rahmen der Informationsbeschaffung, d.h. bei der Untersuchung und Recherche im Zusammenhang mit der Vorbereitung eines journalistischen Beitrags, in die Rechtssphäre anderer Personen eingegriffen werden darf, insbesondere wenn dabei auch strafrechtliche Grenzen überschritten werden. Dabei stellt sich sogleich eine Frage, die wohl die gesamte Entwicklung des Medienstrafrechts in den nächsten Jahrzehnten prägen und für die Zukunft dieses Rechtsgebietes bedeutend sein wird, weshalb ihr auch in diesem „perspektivischen“ Beitrag zur künftigen Entwicklung des deutschen Medienstrafrechts vertieft nachgegangen werden soll: Dürfen Journalisten mehr als andere, als die sog. „normalen“ Bürger? Sind bei der Auslegung von Straftatbeständen die in der Verfassung verankerten Grundrechte, insbesondere die Presse- und Informationsfreiheit, dahingehend zu berücksichtigen, dass Journalisten in Einzelfällen von der Strafbarkeit auszunehmen sind? Erfordert die Aufdeckung umfangreicher Skandale – zumeist im Bereich von Wirtschaft und Politik – nicht ein tieferes Eindringen in die private und betriebliche, durch das Strafrecht und die Grundrechte an sich geschützte Sphäre anderer Personen? Während einige Stimmen hier eine Sonderbehandlung des recherchierenden Journalisten fordern,3 wird diese von anderen strikt abgelehnt.4 Andererseits deuten gesetzliche Regelungen, wie z.B. § 193 StGB, durchaus darauf hin, dass das geltende Recht eine Sonderstellung von Journalisten ermöglichen könnte. Relevant wird dies sowohl 1 Vgl. auch Fechner Medienrecht10, 2009, 6. Kap. Rn. 92; B. Heinrich Medienstrafrecht, in: Wandtke Medienrecht Praxishandbuch, 2008, Teil 7, 3. Kap. Rn. 1; Petersen Medienrecht4, 2008, 5. Teil Rn. 1. 2 Vgl. zu diesem Begriff sogleich unter II. 3 Vgl. Fritze/Holzbach FS Tilmann 2003, 937, 945; Sachs-Bethge Grundgesetz, Kommentar5, 2009, Art. 5 Rn. 86. 4 Vgl. B. Heinrich (Fn. 1), Rn. 21, 75, 145, 155; Hochrathner ZUM 2001, 669, 670; Holzer AfP 1988, 113; Löffler/Ricker Handbuch des Presserechts5, 2005, 52. Kap. Rn. 7; Paschke Medienrecht2, 2000, Rn. 874; Petersen (Fn. 1), § 2 Rn. 7; Steffen AfP 1988, 117, 118; offen gelassen bei Kremp AfP 1988, 114, 116 f.; ferner auch BVerfGE 66, 116 – Wallraff; zu dieser Entscheidung noch unten III 1.

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für Straftatbestände, die individuelle Rechte Einzelner schützen, wie z.B. § 123, §§ 185 ff., §§ 201 ff. und § 238 StGB, als auch für solche, die kollektive Rechtsgüter als Schutzgegenstand haben, wie z.B. § 267 StGB oder § 19 I i.V.m. § 11 I Nr. 1 LuftSiG.5 Sollte eine solche Privilegierung aus verfassungsrechtlichen Gründen angezeigt sein, wäre als nächstes zu klären, welche Personen hiervon betroffen sind. So ist es einerseits denkbar, dass sich nur diejenigen Personen, die eine journalistische Tätigkeit berufsmäßig betreiben, in vollem Umfang auf die genannten Grundrechte stützen können.6 Andererseits ist aber eine Tendenz zu beobachten, dass in zunehmendem Maße auch „Laienjournalisten“ insbesondere über das Medium des Internet Informationen verbreiten, die ebenfalls an den genannten Mediengrundrechten partizipieren könnten. Die folgenden Ausführungen sollen dazu beitragen, die Entwicklungslinien aufzuzeigen, die, bedingt durch eine zunehmende Medienpräsenz im Alltag, schon heute deutlich sichtbar sind. Eröffnet wird hier ein Spannungsfeld, welches bereits bei der grundsätzlichen Abgrenzung von Meinungsfreiheit und Ehrschutz oder der Frage der Reichweite der Kunstfreiheit, die nicht selten mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht Anderer kollidiert,7 ausreichend, wenn auch noch nicht abschließend diskutiert wurde. Dabei sollen allein die strafrechtlichen Grenzen untersucht werden und das in der Praxis bisher wesentlich bedeutsamere Zivilrecht, insbesondere auch das Urheberrecht, außer Betracht gelassen werden.8

II. Der Begriff des „investigativen Journalismus“ Der Begriff des investigativen Journalismus9 ist kein Rechtsbegriff und er ist von seinem Inhalt her auch nicht eindeutig bestimmbar. Er bezeichnet in 5 Hierzu OLG Düsseldorf NStZ 2006, 243 – Butterflymesser (zum vergleichbaren früheren Tatbestand des § 60 I Nr. 8 i.V.m. § 27 IV 1 Nr. 1 LuftVG a.F.). 6 Eine solche Beschränkung auf berufsmäßig als Journalisten tätige Personen enthält z.B. § 53 I 1 Nr. 1 StPO, welcher ein Zeugnisverweigerungsrecht aus beruflichen Gründen normiert. 7 Vgl. zum Verhältnis von Kunstfreiheit und Strafrecht insbesondere Beisel Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes und ihre strafrechtlichen Grenzen, 1997; Emmerich/ Würkner NJW 1986, 1195; Erhardt Kunstfreiheit und Strafrecht, 1989; Henschel NJW 1990, 1937; Schroeder Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, 1992; Vlachopoulos Kunstfreiheit und Jugendschutz, 1996. 8 Vgl. dazu, dass in der Praxis, insbesondere im Umfeld der Beleidigungen, zumeist die zivilrechtliche Verfolgung von Ansprüchen im Vordergrund steht Helle bei Heymann AfP 2004, 240, 241; Paschke (Fn. 4), Rn. 978; Soehring Presserecht3, 2000, Rn. 12.49 ff.; zu den – über das Strafrecht hinausgehenden – zivilrechtlichen Verboten vgl. auch Steffen (Fn. 4), 118. 9 Vgl. hierzu allgemein Hielscher Investigativer Journalismus in Deutschland, 2004; Janisch Investigativer Journalismus und Pressefreiheit – Ein Vergleich des deutschen und amerikanischen Rechts, 1998; Langenbucher/Ruzsits FS Schweizer 1999, 73; Ludwig In-

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erster Linie die Methode, wie journalistische Beiträge zustande kommen. Abgeleitet vom lateinischen Wort „investigare“ (zu Deutsch: aufspüren, erforschen, genau untersuchen) wird hierunter die Erarbeitung eines Artikels durch eine längere, exakte und umfassende Recherche verstanden. Entgegen einer – auch im journalistischen Bereich – immer häufiger anzutreffenden Tendenz zu einer schnell-lebigen und oberflächlichen Berichterstattung, zeichnet sich der investigative Journalismus dadurch aus, dass einem Artikel oft monatelange intensive Vorarbeiten vorausgehen. Insoweit kann „investigativ“ hier auch mit „ermittelnd“, „aufdeckend“, „enthüllend“ oder „nachforschend“ umschrieben werden.10 Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Fachpublikationen, denen eine ähnlich gründliche „Recherche“ der betreffenden Materie unterstellt werden sollte, ist die Zielrichtung des investigativen Journalismus in erster Linie die Berichterstattung über aktuelle politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Verhältnisse, zumeist verbunden mit der Aufdeckung von Skandalen, weswegen sich in Deutschland diesbezüglich auch die Begriffe des „Enthüllungsjournalismus“,11 „Aufdeckungsjournalismus“12 oder „Recherchejournalismus“13 finden.14 Stellvertretend sollen hier die Ermittlungen im Zusammenhang mit der Watergate-Affaire durch die amerikanischen Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein von der Washington Post15 genannt werden, die zum Rücktritt des damaligen US-Präsidenten Richard Nixon am 9. August 1974 führten.16 vestigativer Journalismus2, 2007; Redelfs Recherche mit Hindernissen: Investigativer Journalismus in Deutschland und den USA, in: Langenbucher (Hrsg.) Die Kommunikationsfreiheit der Gesellschaft, 2003, 208; ferner Kremp (Fn. 4), 114 f.; aber auch Holzer (Fn. 4), der von einem Pleonasmus ausgeht, da jeder Journalismus „nachforschend“, also „investigativ“ sei. 10 So auch Holzer (Fn. 4); Kreile/Westphal AfP 2001, 458, 459; ferner Schröder NJW 2009, 465. 11 Langenbucher/Ruzsits (Fn. 9), 73. 12 Liesching in: Hamburger Kommentar, Gesamtes Medienrecht, 2008, 89. Kap. Rn. 14. 13 Kreile/Westphal (Fn. 10), 458; Wimmer NJW 1982, 2793, 2796. 14 Im englischen Sprachraum wird neben dem „investigative journalism“ auch von „investigative reporting“ oder, vor allem in den USA, auch von „muckrating“ gesprochen; vgl. hierzu Steffen (Fn. 4), 117. 15 Vgl. zur „Watergate“-Affaire Bernstein/Woodward Die Watergate-Affaire, 1974; dies. Amerikanischer Alptraum – Das unrühmliche Ende der Ära Nixon, 1976; Emery Watergate – The Corruption of American Politics and the Fall of Richard Nixon, 1990; Kutler The Wars of Watergate – The Last Crisis of Richard Nixon, 1990; Schudson Watergate in American Memory – How We Remember, Forget, and Reconstruct the Past, 1992; Woodward Der Informant – Deep Throat, die geheime Quelle der Watergate-Enthüller, 2005. 16 Als weitere Standardwerke, die aus dem Bereich des „Enthüllungsjournalismus“ zu nennen sind, sei aus dem deutschen Sprachraum verwiesen auf Bertram Mattscheibe – Das Ende der Fernsehkultur, 2006; Daum Außer Kontrolle, 2003; Gammelin/Hamann Die Strippenzieher: Manager, Minister, Medien – wie Deutschland regiert wird, 2005; Roth Die Gangster aus dem Osten, 2003; ders. Ermitteln verboten!, 2004; ders. Der DeutschlandClan, 2006; Rückert Unrecht im Namen des Volkes – Ein Justizirrtum und seine Folgen, 2007; Woodward Die Macht der Verdrängung – George W. Bush, das Weiße Haus und der

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Durch diese Aufdeckung skandalöser Verhältnisse erfüllen die Medien eine wichtige Funktion bei der Kontrolle von Staat und Wirtschaft.17 Gerade durch die Wahrnehmung dieser Informationsfunktion ist gewährleistet, dass sich wesentliche Entscheidungen und Vorgänge im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich nicht im Verborgenen abspielen. Da die jeweils Betroffenen allerdings nicht immer ein Interesse daran haben, dass ihr Verhalten publik wird, ist es nachvollziehbar, dass die Erlangung von Informationen oft nur dann möglich ist, wenn hierbei strafrechtliche Grenzen überschritten werden.18 Im Folgenden sollen drei Fälle aus dem Bereich des investigativen Journalismus geschildert werden, welche die Rechtsprechung bereits beschäftigt haben. Nicht verkannt werden soll bei dieser Auswahl, dass es sich hierbei um Fälle handelt, bei denen ein bestimmtes „berechtigtes“ Informationsinteresse der Allgemeinheit zumindest nahe liegt. Demgegenüber ist ein solches Interesse beim sog. „Skandaljournalismus“ oftmals zweifelhaft. Auf die Frage, ob bei der rechtlichen Bewertung zwischen „gutem“ und „bösem“ Journalismus getrennt werden muss (und welche Kriterien bei dieser Unterscheidung maßgeblich wären), kann im vorliegenden Beitrag allerdings nicht vertieft eingegangen werden.

III. Fallbeispiele 1. Der Fall „Wallraff“19 Dem Journalisten Günter Wallraff gelang es, unter Vortäuschung einer anderen Identität und unter Verschweigen seiner wahren Absichten, in der Zeit von März bis Juli 1977 als Angestellter in der Redaktion der „Bild“Zeitung in Hannover mitzuarbeiten. Im Anschluss daran verwertete er seine Eindrücke und Erlebnisse in einem Buch mit dem Titel „Der Aufmacher. Der Mann, der bei ‚Bild’ Hans Esser war“. Hierin waren auch Ausführungen enthalten, die nach Ansicht der „Bild“-Zeitung Betriebsgeheimnisse darstellten. In einem zivilrechtlichen Rechtsstreit klagte der Zeitungsverlag auf Unterlassung. Während er im erstinstanzlichen Verfahren vor dem LG Hamburg noch Erfolg hatte, wurde die Verurteilung in der Berufungsinstanz20 teilweise zurückgenommen, der BGH schließlich hob die VerurIrak, 2007; aus dem englischen Sprachraum vgl. nur Bly Ten Days in a madhouse, 1887; Ehrenreich Nickel and dimed – Undercover in low-wage USA, 2001. 17 Hierzu auch BVerfGE 20, 162, 174 f. – Spiegel; zur Kontrollfunktion als wesentlicher Aufgabe der Presse vgl. auch Kreile/Westphal (Fn. 10), 458; Scheuner VVDStRL 22 (1965) 1, 29 f. 18 Zu weiteren Gefahren des investigativen Journalismus vgl. Steffen (Fn. 4), 117. 19 BVerfGE 66, 116 – Wallraff; BGHZ 80, 25, 42 – Wallraff; vgl. ferner auch die Vorinstanz OLG Hamburg GRUR 1979, 735 – Wallraff. 20 OLG Hamburg GRUR 1979, 735 – Wallraff.

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teilung vollständig auf, da ein Arbeitnehmer durch seine Verschwiegenheitspflicht nicht daran gehindert sei, „nach seinem Ausscheiden aus dem Angestelltenverhältnis Betriebsinterna zu offenbaren, wenn er damit gewichtige innerbetriebliche Missstände aufdeckt, durch die die Öffentlichkeit betroffen ist“.21 In der gegen diese Entscheidung erhobenen Verfassungsbeschwerde stellte das BVerfG hingegen eine differenzierende Betrachtung an. Es unterschied dabei zwischen der Informationsbeschaffung und der Informationsverwertung.22 Im Hinblick auf die rechtswidrige Informationsbeschaffung würden weder das Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung noch die Pressefreiheit oder die Informationsfreiheit den recherchierenden Journalisten privilegieren. Sein Verhalten bliebe stets rechtswidrig.23 Anders hingegen sei die Informationsverwertung zu beurteilen. Denn auch die Veröffentlichung rechtswidrig beschaffter oder erlangter Informationen werde vom Schutz der Meinungsfreiheit umfasst.24 Allerdings habe in Fällen, in denen sich der Publizierende die Informationen widerrechtlich durch Täuschung und in der Absicht verschafft habe, sie gegen den Getäuschten zu verwerten, eine Veröffentlichung grundsätzlich zu unterbleiben. Hiervon sei lediglich dann eine Ausnahme zu machen, „wenn die Bedeutung der Informationen für die Öffentlichkeit und für die öffentliche Meinungsbildung eindeutig die Nachteile überwiegt, welche der Rechtsbruch für den Betroffenen und für die Rechtsordnung nach sich zieht“.25 Diese Ausnahme sei allerdings im vorliegenden Fall deswegen nicht gegeben, weil keine gravierenden Missstände, insbesondere sogar nicht einmal ein rechtswidriges Verhalten des Zeitungsverlages aufgedeckt wurden.26 Strafrechtlich ist der Fall insoweit von Interesse, als hier beim Abschluss des Arbeitsvertrages an einen Eingehungsbetrug, § 263 StGB,27 und – sofern bei der Einstellung gefälschte Unterlagen verwendet worden sind – an eine Urkundenfälschung nach § 267 StGB zu denken ist. Die Veröffentlichung der Informationen könnte ferner einen Verrat von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen, § 17 UWG, darstellen.28 Sollten, z.B. in Redaktionskonferenzen, 21 BGHZ 80, 25 – Wallraff; hierzu Maier JZ 1982, 242; kritisch hierzu Bettermann NJW 1981, 1065; Roellecke JZ 1981, 688; Schmitt Glaeser AfP 1981, 314: Sieger FuR 1981, 565. 22 BVerfGE 66, 116, 137 – Wallraff; hierzu Klug FS Oehler 1985, 397, 404 ff. 23 BVerfGE 66, 116, 137 – Wallraff; zustimmend Paschke (Fn. 4), Rn. 768; Sachs-Bethge (Fn. 3), Art. 5 Rn. 86. 24 BVerfGE 66, 116, 137 – Wallraff; so auch OLG München ZUM 2005, 399, 405 – Schleichwerbung; OLG Düsseldorf NStZ 2006, 243, 244 – Butterflymesser; vgl. ferner auch BGH NJW 1979, 647, 648 f.; zustimmend Sachs-Bethge (Fn. 3), Art. 5 Rn. 86; vgl. hierzu auch Beater Medienrecht, 2007, Rn. 1106; Macht AfP 1999, 317; Wente ZUM 1988, 438. 25 BVerfGE 66, 116 (Leitsatz) – Wallraff. 26 BVerfGE 66, 116, 140 – Wallraff. 27 Vgl. hierzu auch BVerfGE 66, 116, 146 – Wallraff. 28 Vgl. zur Abgrenzung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen zu bloßen „Betriebsinterna“ BGHZ 80, 25, 34 f. – Wallraff.

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geheime Tonbandmitschnitte erfolgt sein, kommt zudem eine Strafbarkeit wegen Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes, § 201 StGB, in Betracht.29 2. Der Fall „Barschel“30 Der ehemalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Uwe Barschel, wurde nach Enthüllungen des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, in dem über Bespitzelungen seines Konkurrenten Björn Engholm im Zusammenhang mit der Landtagswahl in Schleswig-Holstein berichtet wurde, stark belastet. Am 11. Oktober 1987 wurde Barschel dann tot in der Badewanne des Genfer Luxushotels Beau Rivage gefunden. Die Umstände seines Todes, sowie der Zweck seiner Reise nach Genf sind bis heute ungeklärt. Nach seinem Tod begaben sich zwei Reporter des „Stern“, Sebastian Knauer und Hanns-Jörg Anders, in das nicht verschlossene Hotelzimmer und entdeckten die Leiche. Knauer fertigte mehrere Fotografien des Toten an, die später in der Presse veröffentlicht wurden. Er wurde daraufhin von einem Genfer Polizeigericht am 26. November 1991 wegen Hausfriedensbruches (Art. 186 StGB-Schweiz) und Verletzung des Geheim- und Privatbereichs (Art. 179 quater StGB-Schweiz) zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe, die auf fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde, sowie zu 10.000 Franken Geldstrafe verurteilt. Dieses Urteil wurde später sowohl vom kantonalen Obergericht als auch vom Schweizer Bundesgericht bestätigt. Hier wurde festgestellt, dass auch Verstorbene – zumindest bis zum Zeitpunkt der Bestattung – noch Opfer von strafbaren Handlungen gegen den Geheim- oder Privatbereich und von Hausfriedensbruch sein können.31 3. Der Fall „Ossietzky“ Am 12. März 1929 veröffentlichte Walter Kreiser unter dem Pseudonym Heinz Jäger in der linksliberalen Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“ einen Artikel mit dem Titel „Windiges aus der deutschen Luftfahrt“, in welchem er sich mit den Verbindungen der deutschen Luftfahrtindustrie zur damali29

Vgl. in diesem Zusammenhang auch OLG München ZUM 2005, 399, 406 – Schleichwerbung. 30 Vgl. hierzu den Entscheid des Schweizer Bundesgerichts in BGE 118 IV, 319; ferner die Berichte in AfP 1990, 292 sowie in NJW 2004, 504; zu diesem Fall auch Flechsig ZUM 2004, 605, 612 f.; Puttfarcken ZUM 1988, 133. 31 Schweizer Bundesgericht BGE 118 IV, 319; zustimmend Hochrathner (Fn. 4), 670; nach deutschem Strafrecht wäre lediglich die Verbreitung des Fotos (§ 33 i.V.m. §§ 22, 23 KUG), nicht aber die Anfertigung des Fotos strafbar, da § 201a StGB nur lebende Personen in den Schutzbereich mit einbezieht; vgl. Fischer Strafgesetzbuch und Nebengesetze57, 2010, § 201a Rn. 5; Flechsig (Fn. 30), 612 f.; Koch GA 2005, 589, 592; Lackner/Kühl Strafgesetzbuch mit Erläuterungen26, 2007, § 201a Rn. 3. Zudem läge eine Verletzung des Hausrechts des Hotelinhabers vor, was zu einer Strafbarkeit nach § 123 StGB führt.

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gen Reichswehr befasste.32 Aus dem Artikel ging hervor, dass die Reichswehr offensichtlich unter Verstoß gegen Art. 198 des Versailler Vertrages (Verbot der Unterhaltung von Luftstreitkräften „weder zu Lande noch zu Wasser“) den heimlichen Aufbau einer Luftwaffe betrieb.33 In einem spektakulären Prozess wurden Kreiser sowie der damalige Herausgeber der Weltbühne, der spätere Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky, vom Reichsgericht am 23. November 1931 wegen Verrats militärischer Geheimnisse nach § 1 II des Gesetzes gegen den Verrat militärischer Geheimnisse (Spionagegesetz) vom 3. Juni 191434 zu einer Gefängnisstrafe von 18 Monaten verurteilt.35 Im Prozess wurde durch einen militärischen Sachverständigen ausgeführt, dass es sich bei den von Kreiser beschriebenen, angeblich „zivilen“ Abteilungen tatsächlich um militärische Einrichtungen der Heeresleitung und der Marine gehandelt habe.36 Allerdings wäre die Geheimhaltung dieser Tatsache sowohl im Interesse der Landesverteidigung als auch im Interesse des Wohls des Deutschen Reiches erforderlich gewesen. Insofern wurde eine Strafbarkeit bejaht, auch wenn durch die Veröffentlichung des Artikels ein rechtswidriges staatliches Verhalten aufgedeckt wurde.

IV. Verfassungsrechtlicher Rahmen 1. Einleitung Bereits die drei genannten Fälle zeigen, dass eine Privilegierung von Journalisten im Hinblick auf die Übertretung strafrechtlicher Grenzen im Rahmen der Informationsbeschaffung von der Rechtsprechung nicht – oder jedenfalls nur in engen Ausnahmen – gebilligt wird. Gerade im Bereich des investigativen Journalismus könnte nun aber eine uneingeschränkte Anwen32

Die Weltbühne 1929, Nr. 11, 402. Vgl. zu den Hintergründen Müller/Jungfer NJW 2001, 3461, 3462. 34 RGBl. 1914 I, 195. 35 RG, Urteil vom 23. November 1931 – 7 J 35/29; das Urteil blieb bis heute unveröffentlicht (eine Urteilsabschrift befindet sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes zum Weltbühnenprozess, Band 1-3. R 2695–42697); zu diesem Prozess Gusy GA 1992, 195, 208 ff.; Hannover/Hannover-Drück Politische Justiz 1918–19332, 1987, 186 ff.; Hanten Publizistischer Landesverrat vor dem Reichsgericht, 1999, 158 ff.; Klug FS Baumgärtel 1990, 249; zur Ablehnung des Wiederaufnahmeverfahrens vgl. BGHSt 39, 75; KG NJW 1991, 2505; hierzu Gössel NStZ 1993, 565; Heiliger KJ 1991, 498; ders. KJ 1993, 194; Joerden JZ 1994, 582; Klug FS Spendel 1992, 679; Müller/Jungfer (Fn. 33), 3461; Meyer ZRP 1993, 284; vgl. ferner auch den sog. „Ponton-Prozess“ gegen die Journalisten Berthold Jakob und Fritz Küster, die ebenfalls geheime Machenschaften der deutschen Reichswehr aufdeckten, diese dann am 25. Juli 1925 in der Wochenzeitschrift „Das Andere Deutschland“ veröffentlichten und dafür vom RG am 14. März 1928 wegen versuchten Landesverrats zu neun Monaten Festungshaft verurteilt wurden (RGSt 62, 65). 36 BGHSt 39, 75, 76. 33

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dung strafrechtlicher Normen mit grundgesetzlich garantierten Rechten des einzelnen Journalisten, insbesondere aus Art. 5 I GG, kollidieren. Nach Art. 5 II GG finden diese Grundrechte jedoch „ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“. Unter „allgemeinen Gesetzen“ sind dabei alle Gesetze zu verstehen, die sich nicht gegen die Meinungsfreiheit (oder die Freiheit von Presse und Rundfunk) an sich oder gegen die Äußerung einer bestimmten Meinung richten, sondern dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen.37 Zu diesen allgemeinen Gesetzen gehören z.B. die zivilrechtlichen Vorschriften über den Schutz des Persönlichkeitsrechts, die den Betroffenen Ansprüche auf Unterlassung nach §§ 823 I, 1004 I BGB gewähren. Ferner zählen auch die Strafgesetze zu den allgemeinen Gesetzen,38 sodass ein allgemeines strafrechtliches Verbot, eine bestimmte Meinung zu äußern (vgl. hierzu § 130 III StGB, die sog. „Auschwitzlüge“) prinzipiell vom Wortlaut des Art. 5 II GG gedeckt ist. Die Schranken des Art. 5 II GG können aber nicht in dem Sinne als absolut verstanden werden, dass die entsprechenden Grundrechte nunmehr problemlos und unbegrenzt eingeschränkt werden dürften. Vielmehr gelten diese Schranken nur „relativ“, d.h. sie müssen wiederum der besonderen Bedeutung der entsprechenden Grundrechte im freiheitlichen Rechtsstaat Rechnung tragen (Wechselwirkungslehre).39 Insoweit ist sowohl der Strafgesetzgeber bei der Schaffung strafrechtlicher Tatbestände als auch der Rechtsanwender bei der Auslegung der einzelnen Tatbestände gehalten, gerade auch den Wesensgehalt der Grundrechte zu beachten. Insoweit hat stets eine Abwägung der betroffenen Rechte zu erfolgen. So formulierte das BVerfG im Lüth-Urteil: Strafgesetze müssen „ihrerseits [. . .] aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden“.40 Wenn möglich, habe dies bereits im Rahmen der Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale zu erfolgen, sodass ein entsprechendes Verhalten bereits die tatbestandliche Verwirklichung des Deliktes und nicht erst die Rechtswidrigkeit ausschließt. 37 BVerfG NJW 2007, 1117, 1118 – Cicero; vgl. hierzu auch BVerfGE 7, 198, 209 f. – Lüth; BVerfGE 59, 231, 263 f. – Freie Rundfunkmitarbeiter; BVerfGE 71, 206, 214 – Flick; BVerfGE 91, 125, 135 – Honecker; Hömig-Antoni Grundgesetz8, 2007, Art. 5 Rn. 26; Jarass/Pieroth-Jarass Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland – Kommentar10, 2009, Art. 5 Rn. 56. 38 Vgl. hierzu Klug (Fn. 22), 397. 39 BVerfGE 7, 198 – Lüth; BVerfGE 20, 162, 176 f. – Spiegel; BVerfGE 66, 116, 150 – Wallraff; BVerfGE 71, 206, 214 – Flick; ferner BVerfG NJW-RR 2007, 1340, 1341: Presseberichte über getilgte Vorstrafen; zur Wechselwirkungslehre auch Petersen (Fn. 1), § 2 Rn. 36; Schönke/Schröder-Eser Strafgesetzbuch27, 2006, Vorbem. § 1 Rn. 27 ff. 40 BVerfGE 7, 198, 209 – Lüth.

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Im Folgenden sollen die hier relevanten Grundrechte kurz dargestellt werden. 2. Die Meinungsfreiheit (Art. 5 I 1 Alt. 1 GG) Nach Art. 5 I 1 Alt. 1 GG hat jeder das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern. Ob dies mündlich, schriftlich oder über ein (Massen-)Medium geschieht, ist dabei gleichgültig. Der Schutz des Grundrechts umfasst dabei nicht nur die Meinungsäußerung, die über ein Medium getätigt wird, sondern auch die Berichterstattung der Massenmedien an sich.41 Verboten sind demnach alle Vorschriften, die eine Äußerung oder die Verbreitung von Meinungen beeinflussen, behindern oder verbieten. 3. Die Informationsfreiheit (Art. 5 I 1 Alt. 2 GG) Nach Art. 5 I 1 Alt. 2 GG hat jeder das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Nach der Ansicht des BGH soll die Informationsfreiheit (wie auch die Meinungsfreiheit) die öffentliche Meinungsbildung sichern.42 Da das „Recht, sich selbst zu informieren“43 als Grundrecht des Einzelnen (des „Nutzers“) ausgestaltet ist, schützt es in erster Linie nicht die Medien selbst bzw. die Medienunternehmen. Geschützt ist allerdings der einzelne Journalist, der sich im Rahmen seiner Recherche auf die Informationsfreiheit berufen kann. Dies gilt allerdings nur insoweit, als er sich bei der Informationsbeschaffung „legaler“ und insoweit eben allgemein zugänglicher Quellen bedient.44 Hierunter werden Quellen verstanden, die „technisch dazu geeignet und bestimmt sind, der Allgemeinheit, d.h. einem individuell nicht bestimmbaren Personenkreis, Informationen zu verschaffen.45 Gerade im Bereich des investigativen Journalismus sind die zu recherchierenden Quellen aber vielfach eben nicht „allgemein zugänglich“, da die Betroffenen ihr Verhalten ja gerade zu verschleiern versuchen. 41

BVerfGE 81, 1, 11 f.; BVerfG NJW-RR 2007, 1340. BGHZ 80, 25, 34 – Wallraff; vgl. ferner auch BGHZ 73, 120, 126. 43 BVerfGE 27, 71, 81 – Leipziger Volkszeitung. 44 BVerfGE 103, 44, 59 – n-TV („Kein Recht auf Eröffnung einer Informationsquelle“); kritisch hierzu Hain DÖV 2001, 589, 590 f.; vgl. auch Dreier-Schulze-Fielitz Grundgesetz – Kommentar2, 2004, Art. 5 I, II Rn. 85; v. Münch/Kunig-Wendt Grundgesetz-Kommentar5, 2000, Art. 5 Rn. 29, die auch „die rechtsgüterverletzende Beschaffung von Informationen“ in den Schutzbereich der Informationsfreiheit mit einbezieht, diese Freiheit dann aber in der Regel über das Merkmal des Nichtvorliegens einer „allgemein zugänglichen Quelle“ bzw. über Art. 5 II GG wieder eingeschränkt sieht; anders BVerfGE 66, 116, 137 – Waffraff; Schmitt Glaeser JURA 1987, 567, 570, 572, wonach bereits der Schutzbereich nicht eröffnet ist. 45 BVerfGE 27, 71, 83 – Leipziger Volkszeitung; BVerfGE 33, 52, 65 – „Der lachende Mann“; BVerfGE 90, 27, 32 – Parabolantenne; BVerfGE 103, 44, 60 – n-TV. 42

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Da jedoch die Informationsfreiheit nur gewährleistet werden kann, wenn eine Informationsvielfalt gegeben ist, d.h. eine Vielzahl von „allgemein zugänglichen Quellen“ existiert, folgt hieraus jedenfalls mittelbar auch eine institutionelle Garantie der Medien, über welche die Informationen verbreitet werden.46 Dem Staat ist es also verwehrt, z.B. Zeitungen grundsätzlich zu verbieten oder ihr Erscheinen oder die Publikationen von einer vorherigen Genehmigung abhängig zu machen. Auch darf die Schaffung oder Auslegung von Strafnormen nicht dazu führen, dass die Verantwortlichen eines Medienunternehmens bei der Verbreitung von (kritischen) Informationen mit strafrechtlicher Verfolgung zu rechnen haben, denn auch dies kann zur Folge haben, dass entsprechende Informationen nicht mehr verbreitet werden. Dann aber wird auch das Recht des Einzelnen, sich umfassend zu informieren, beschnitten, da keine allgemein zugänglichen Quellen mehr vorhanden sind, aus denen er sich informieren könnte. Dies würde jedoch zu einer Einschränkung des Rechts auf Informationsfreiheit führen. Insoweit garantiert das Grundrecht auf Informationsfreiheit jedenfalls als Reflex auch den Schutz der Medien im Hinblick auf die Beschaffung und Verbreitung von Informationen.47 Diese darf nur dann verboten bzw. unter Strafe gestellt werden, wenn sie ihrerseits bedeutende Rechte anderer Personen (z.B. bei Verleumdungen) oder kollektive Rechtsgüter (z.B. den öffentlichen Frieden) beeinträchtigt. Möglich ist dies auf Grund des auch für die Informationsfreiheit einschlägigen Art. 5 II GG, da die Strafgesetze zu den „allgemeinen Gesetzen“ in diesem Sinne zählen.48 Um Informationen weitergeben zu können, müssen diese Informationen nun aber auch durch die Mitarbeiter der Medien beschafft werden, sodass auch die Informationsgewinnung durch die Medien insoweit in den Schutzbereich mit einbezogen werden muss. Dabei ist allerdings wiederum zu beachten, dass Art. 5 I 1 Alt. 2 GG auch diesbezüglich eine Beschränkung auf „allgemein zugängliche Quellen“ enthält. Das Grundrecht der Informationsfreiheit gewährt daher nach Ansicht des BVerfG den Journalisten nicht das Recht, im Rahmen ihrer Recherche (d.h. bei der Informationsbeschaffung) Rechte anderer zu beeinträchtigen oder strafrechtliche Grenzen zu überschreiten, was wiederum den Tätigkeitsbereich des „investigativen Journalisten“ deutlich einschränkt.49 46 Für einen objektiv-rechtlichen Gehalt der Informationsfreiheit zumindest dahingehend, dass den Staat eine Verantwortung für den Erhalt bzw. für die Schaffung der Voraussetzung einer freien Information zukommt, auch v. Mangoldt/Klein/Starck-Starck Kommentar zum Grundgesetz5, 2005 ff., Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 54; v. Münch/Kunig-Wendt (Fn. 44), Art. 5 Rn. 28. 47 Vgl. auch Dose DRiZ 1969, 75. 48 Vgl. zu Art. 5 II GG und zur „Wechselwirkungslehre“ bereits oben IV 1. 49 BVerfGE 66, 116, 137 – Wallraff; hierzu auch Hain (Fn. 44), 591; Petersen (Fn. 1), § 2 Rn. 7; Steffen (Fn. 4), 117; einschränkend Löffler/Ricker (Fn. 4), 7. Kap. Rn. 8.

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4. Die Pressefreiheit (Art. 5 I 2 Alt. 1 GG) In Art. 5 I 2 Alt. 1 GG ist die Pressefreiheit geregelt. Sie gewährleistet „die institutionelle Eigenständigkeit der Presse von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachricht und der Meinung“.50 Insoweit stellt sie nicht nur ein Individualgrundrecht dar, sondern sichert im Wege der institutionellen Garantie51 ein Existenzrecht der Presse bzw. der Presseorgane. Nach Ansicht des BGH ist die Pressefreiheit insbesondere um der Meinungsfreiheit willen gewährleistet. Sie soll im Hinblick auf die öffentliche Meinungsbildung das Forum der Medien für die freie geistige Auseinandersetzung garantieren.52 Nach Ansicht des BVerfG ist die Pressefreiheit konstituierend für die freiheitlich-demokratische Grundordnung53 und von daher von besonderer Bedeutung für den freiheitlichen Staat,54 auch und gerade dann, wenn es sich um die Artikulation von öffentlicher Kritik an Missständen handelt.55 Garantiert wird eine freie und regelmäßig erscheinende Presse, die als „ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern“ stehen muss.56 Die Pressefreiheit schließt dabei diejenigen Voraussetzungen und Hilfstätigkeiten mit ein, ohne die die Medien ihre Funktion nicht in angemessener Weise erfüllen können.57 Dabei ist der Begriff der Presse in einem weiten Sinn zu verstehen und schließt auch die sog. Boulevard- und Unterhaltungspresse („Sensationspresse“) mit ein.58 Möglich ist eine Einschränkung der Pressefreiheit im Sinne einer Ahndung von durch Pressevertreter begangenen Straftaten allerdings auch hier auf der Grundlage des Art. 5 II GG, da die Strafgesetze 50 BVerfGE 10, 118, 121; BVerfGE 12, 205, 260 – NDR-Staatsvertrag; BVerfGE 62, 230, 243 – Boykottaufforderung; BVerfGE 66, 116, 133 – Wallraff; BVerfGE 91, 125, 134 – Honecker; BVerfGE 103, 44, 59 – n-TV; vgl. auch BVerfGE 50, 234, 240 – Kölner Volksblatt; BVerfG NJW 2007, 1117, 1118 – Cicero; OLG Düsseldorf NStZ 2006, 243, 244 – Butterflymesser; ferner Kreile/Westphal (Fn. 10), 461; v. Münch/Kunig-Wendt (Fn. 44), Art. 5 Rn. 33; Tillmanns/Führ ZUM 2005, 441, 445. 51 BVerfGE 10, 118, 121; BVerfGE 20, 162, 175 f. – Spiegel; BVerfGE 66, 116, 133 – Wallraff; BVerfGE 77, 65, 74; BVerfG NJW 2007, 1117, 1118 – Cicero; Wente Das Recht der journalistischen Recherche, 1987, 27 ff.; a.M. Pieroth/Schlink Grundrechte, Staatsrecht II24, 2008, Rn. 72. 52 BGHZ 80, 25, 33 – Wallraff. 53 BVerfGE 77, 65, 74; BVerfG NJW 2007, 1117, 1118 – Cicero; vgl. hierzu auch Holzer (Fn. 4). 54 BVerfGE 20, 162, 174 – Spiegel; BVerfGE 50, 234, 239 f. – Kölner Volksblatt; BVerfGE 52, 283, 296 – Tendenzbetrieb; BVerfGE 66, 116, 133 – Wallraff; BVerfGE 77, 65, 74; BVerfG NJW 2007, 1117, 1118 – Cicero; hierzu auch Kreile/Westphal (Fn. 10), 461. 55 BVerfGE 28, 191, 202; hierzu auch Kreile/Westphal (Fn. 10), 458. 56 BVerfGE 20, 162, 174 f. – Spiegel. 57 BVerfG NJW 2007, 1117, 1118 – Cicero. 58 BVerfGE 34, 269, 283 – Soraya; BVerfGE 50, 234, 240 – Kölner Volksblatt; BVerfGE 66, 116, 134 – Wallraff; vgl. hierzu allerdings auch Fuhrmann JuS 1970, 70, 73.

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zu den hier aufgeführten „allgemeinen Gesetzen“ zählen.59 Wie bereits erwähnt, geht das BVerfG im Hinblick auf den investigativen Journalismus davon aus, dass auch die Pressefreiheit (ebenso wie die Meinungsfreiheit und die Informationsfreiheit) kein „Recht auf Eröffnung einer Informationsquelle“ gewährt60 und daher jedenfalls nicht die rechtswidrige Beschaffung von Informationen schützt.61 Dagegen fällt nach der Ansicht des BVerfG – wie ebenfalls bereits erwähnt – die Verbreitung rechtswidrig erlangter Informationen in den Schutzbereich des Art. 5 I GG.62

V. Mögliche Tatbestände63 1. Unbefugte Recherchemethoden Zumeist werden Journalisten versuchen, sich die benötigten Informationen direkt über bzw. von konkreten einzelnen Personen zu verschaffen, sei es auf „direktem“ Wege durch Interviews oder aber „indirekt“ durch Abhörmaßnahmen, Bildaufnahmen oder durch sonstiges „Ausspähen“. Von daher kommen als Straftatbestände in erster Linie die §§ 201 ff. StGB, welche dem Schutz des informationellen Lebens- und Geheimbereiches dienen, als mögliche Straftatbestände in Betracht. So ist der Tatbestand des § 201 StGB, die Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes, bereits dann erfüllt, wenn der Journalist „unbefugt“ das nichtöffentlich gesprochene Wort eines anderen auf einen Tonträger aufnimmt (§ 201 I Nr. 1 StGB) oder eine so hergestellte Aufnahme später gebraucht oder einem Dritten zugänglich macht (§ 201 I Nr. 2 StGB), also z.B. ein Telefongespräch heimlich mitschneidet oder/und dieses später in einer Rundfunksendung ausstrahlt bzw. 59 Vgl. zur Einschränkung der Pressefreiheit durch Strafvorschriften BVerfGE 20, 162 – Spiegel; zu Art. 5 II GG und zur „Wechselwirkungslehre“ bereits oben IV 1. 60 BVerfGE 103, 44, 59 – n-TV; kritisch hierzu Hain (Fn. 44), 591. 61 BVerfGE 66, 116, 137 – Wallraff; BVerfGE 103, 44, 59 f. – n-TV; so auch Jarass/ Pieroth-Jarass (Fn. 37), Art. 5 Rn. 27a; v. Mangoldt/Klein/Starck-Starck (Fn. 46), Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 62; Wendt AfP 2004, 181, 184 f.; anders hingegen Sachs-Bethge (Fn. 3), Art. 5 Rn. 86; Schlottfeldt Die Verwertung rechtswidrig beschaffter Informationen durch Presse und Rundfunk, 2002, 48, jeweils unter Berufung auf den Sinn und Zweck insbesondere des § 53 I 1 Nr. 5 StPO; auch die Bundesregierung geht in BT-Drucks. 16/575, 8, davon aus, dass Art. 5 GG (pauschal) nicht nur die Berichterstattung, sondern auch die Informationsbeschaffung schützt. 62 BVerfGE 66, 116, 137 – Wallraff; OLG München ZUM 2005, 399, 401 – Schleichwerbung. 63 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Steffen (Fn. 4), 118, der auf eine Vielzahl von Verhaltensweisen hinweist, die zwar unter deliktsrechtlichen Gesichtspunkten relevant werden können, strafrechtlich aber gerade nicht erfasst sind; eine ausführliche Zusammenstellung der für Journalisten relevanten Straftatbestände findet sich bei B. Heinrich (Fn. 1), Rn. 96 ff.; Liesching (Fn. 12), 88. bis 90. Kap.; Löffler/Ricker (Fn. 4), 50. bis 60. Kap.

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dem Programmverantwortlichen zur Ausstrahlung überlässt.64 Ferner ist an ein „Ausspähen“ mittels sog. „Wanzen“ oder Richtmikrofonen zu denken (§ 201 II Nr. 1 StGB). Insbesondere für Journalisten relevant ist ferner der erst 2004 ins StGB eingefügte § 201a StGB, der die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereiches durch Bildaufnahmen unter Strafe stellt. Wer also „durch die Hecke“ unbefugt Fotos von einer anderen Person fertigt, die sich in ihrer Wohnung oder einem sonst gegen Einblick besonders geschützten Raum befindet, erfüllt den Tatbestand, wenn er dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich dieser Person verletzt. Bisher war lediglich die Verbreitung oder öffentliche Zurschaustellung von Bildnissen ohne Einwilligung des Abgebildeten nach § 33 i.V.m. §§ 22, 23 KUG strafbar.65 Gerade die Ausdehnung der Strafbarkeit auf die Herstellung solcher Fotoaufnahmen hatte im Vorfeld zu erheblichen Diskussionen insbesondere mit Vertretern aus dem Bereich der Journalistenverbände geführt.66 So wurde argumentiert, insbesondere bei „brisanten“ Reportagen sei der Journalist oftmals darauf angewiesen, zum Beweis der Wahrheit der von ihm behaupteten Tatsachen (z.B. im Rahmen einer zivilrechtlichen Schadensersatz- oder Unterlassungsklage) Fotos anzufertigen. § 201a StGB aber verhindere gerade diese Möglichkeit.67 Des Weiteren ist an eine Strafbarkeit nach § 202 StGB, der Verletzung des Briefgeheimnisses, zu denken, wenn ein Journalist sich unbefugt Kenntnis von verschlossenen Schriftstücken verschafft. Auch eine Verletzung des § 202a StGB, dem Ausspähen von Daten, seitens eines Journalisten erscheint dann denkbar, wenn dieser sich, sei es durch Aufspielen eines „Trojaners“ oder durch bloßes „Hacken“ in fremde Computersysteme, Einblick in Informationen verschafft, die er später für die Veröffentlichung eines Artikels benötigt. Zur Erlangung von Informationen, die von dem Betroffenen nicht freiwillig herausgegeben werden, ist es auch durchaus denkbar, dass im Einzelfall Gewalt angewandt oder mit einem empfindlichen Übel gedroht wird. Hier kommt sowohl eine Strafbarkeit wegen Nötigung, § 240 StGB, als auch (bei Gewaltanwendung) eine solche wegen Körperverletzung, § 223 StGB, in Betracht. In diesem Zusammenhang kann sich insbesondere auch die Frage stellen, ob die Drohung mit einer „schonungslosen“ Veröffentlichung be-

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Vgl. auch den Fall bei OLG München ZUM 2005, 399, 406 – Schleichwerbung. Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie (Kunsturhebergesetz) vom 9. Januar 1907, RGBl. 1907, 7. 66 Vgl. die „Gemeinsame Stellungnahme der Medienverbände zum Entwurf eines sog. Intimsphäre-Gesetzes“, abgedruckt in AfP 2004, 110; kritisch hierzu Tillmanns/Führ (Fn. 50), 442: es bestehe die Gefahr einer „juristischen Fessel gerade auch für engagierten, investigativen Journalismus“; den Gesetzentwurf hingegen begrüßend Koch (Fn. 31), 604 f.; vgl. ferner den Bericht von Heymann (Fn. 8), 240; eine Privilegierung fordert auch Petersen (Fn. 1), § 17 Rn. 26. 67 Vgl. Tillmanns bei Heymann (Fn. 8), 241. 65

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reits bisher vorhandener (und legal erlangter) bloßstellender Information eine Strafbarkeit wegen Nötigung begründen kann. Als „klassische“ Tatbestände sind in diesem Zusammenhang ferner die Strafvorschriften der §§ 123, 124 StGB, (schwerer) Hausfriedensbruch, zu nennen.68 Denn nicht selten wird es zur „Recherche vor Ort“ erforderlich sein, fremde Wohnungen, Büroräume oder Grundstücke ohne Einwilligung des Hausrechtsinhabers und in dessen Abwesenheit zu betreten, um „ungehindert“ an Informationen zu gelangen.69 Bei Mitnahme entsprechender kompromittierender Schriftstücke ist in diesen Fällen zudem an einen Diebstahl, § 242 StGB, zu denken. Insbesondere durch die vorgenannten Grenzen, dem Verbot des uneingeschränkten Einsatzes technischer Mittel sowie dem Verbot des Betretens privater Grundstücke, sind Journalisten vielfach darauf angewiesen sich die benötigten Informationen unmittelbar von den persönlichen Informationsträgern zu beschaffen, sei es durch direkte Kontaktaufnahme, sei es durch mehr oder weniger indirekte Beobachtung. Insbesondere dann, wenn die entsprechende Person diese Kontaktaufnahme nicht wünscht, kommt der seit 2007 ins StGB aufgenommene Tatbestand der „Nachstellung“ (oder auch „Stalking“), § 238 StGB, in Betracht, in erster Linie in der Variante des beharrlichen Aufsuchens räumlicher Nähe (Abs. 1 Nr. 1) oder des beharrlichen Versuchs der Kontaktherstellung (Abs. 1 Nr. 2), wenn dadurch die Lebensgestaltung des Betroffenen schwerwiegend beeinträchtigt wird (was hingegen lediglich bei „offener“, nicht hingegen bei „verdeckter“ Beobachtung der Fall ist).70 Ferner ist noch daran zu denken, dass der Journalist die brisanten Informationen seitens eines Informanten erhält, der selbst zur Geheimhaltung 68 Vergleichbar ist die öffentlich-rechtlich umstrittene Frage, inwieweit der Bundestagspräsident einem Journalist, der im Bundestag ohne die nach § 5 II der Hausordnung des Deutschen Bundestages erforderliche Drehgenehmigung fotografische Aufnahmen fertigt, ein Hausverbot nach Art. 40 II GG erteilen kann; hierzu VG Berlin NJW 2002, 1063; Kreile/Westphal (Fn. 10), 458. 69 So im Fall „Barschel“, vgl. oben III 2. 70 BGBl. 2007 I, 354; hierzu Gazeas KJ 2006, 247; im Hinblick auf die Presse findet sich im Entwurf des Bundesrates, BT-Drucks. 15/5410, 7, die Bemerkung, dass über das Merkmal „unbefugt“ die Tätigkeit der Presseorgane, soweit sie sich im Rahmen der verfassungsrechtlich garantierten Pressefreiheit bewege, aus dem Tatbestand ausgeschieden werden könne, weshalb es einer Aufnahme eines Rechtfertigungsgrundes der Wahrnehmung berechtigter Interessen nicht bedürfe (dagegen hatte der Gesetzentwurf des Landes Schleswig-Holstein, BR-Drucks. 551/2/04, 3, 8 f., unter ausdrücklicher Nennung der Medienberichterstattung noch eine entsprechende Anwendung des § 193 StGB vorgesehen; der zeitlich vorhergehende Gesetzesentwurf des Landes Hessen, BR-Drucks. 551/04, erwähnt den Journalismus hingegen noch nicht); vgl. auch den Gesetzesentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/575, 8, wonach Verhaltensweisen des „investigativen Journalismus“ über das Merkmal der „unzumutbaren Beeinträchtigung“ ausgeschieden werden sollten.

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verpflichtet ist und sich bei der Weitergabe der Informationen wegen einer Verletzung des Privatgeheimnisses (Ärzte, Rechtsanwälte, Amtsträger etc.), § 203 StGB, des Post- und Fernmeldegeheimnisses, § 206 StGB, des Dienstgeheimnisses oder einer besonderen Geheimhaltungspflicht, § 353b StGB, oder des Steuergeheimnisses, § 355 StGB, strafbar macht. Hier ist an eine strafbare Anstiftung, § 26 StGB, oder eine strafbare Beihilfe, § 27 StGB, zu diesen Delikten seitens des Journalisten zu denken.71 Schließlich erscheint es auch möglich, dass im Rahmen der Ermittlung innerhalb krimineller Kreise ein Journalist zum „Einstieg“ Straftaten begeht, wie z.B. den Ankauf von Betäubungsmitteln, § 29 I 1 Nr. 1, 3 BtMG, oder den Erwerb kinderpornographischer Schriften, § 184c StGB. Zwar wird der Journalist hier in vergleichbarer Weise tätig wie ein „agent provocateur“, da er aber keiner staatlichen Steuerung unterliegt und es zudem in den genannten Fällen sogar zur Beendigung des Delikts kommt, kann er die sonst für den „agent provocateur“ möglichen Privilegierungen nicht beanspruchen.72 2. Unbefugte Berichterstattung Im Rahmen der Berichterstattung ist wiederum an eine Strafbarkeit wegen der genannten Geheimnisverratsvorschriften, § 201 I, II oder § 201a I, II, III StGB,73 zu denken. Darüber hinaus kommt durch den Inhalt der Veröffentlichung auch eine Strafbarkeit wegen eines Beleidigungsdelikts, §§ 185 ff. StGB, insbesondere wegen Übler Nachrede, § 186 StGB, in Frage. Schließlich ist an die bereits erwähnte Strafvorschrift der Verbreitung oder öffentlichen Zurschaustellung von Bildnissen ohne Einwilligung des Abgebildeten nach § 33 i.V.m. §§ 22, 23 KUG zu denken.74

VI. Verfassungsrechtlich gebotene Einschränkung der Tatbestände Insoweit ist nunmehr die zentrale Frage zu stellen, ob der verfassungsrechtliche Schutz, insbesondere das Grundrecht der Pressefreiheit, es gebieten, bereits auf der Ebene des strafrechtlichen Tatbestandes Einschrän71 Vgl. hierzu BVerfG NJW 2007, 1117 – Cicero; BayObLG NStZ-RR 1999, 299; Fritze/Holzbach (Fn. 3), 940 ff.; B. Heinrich (Fn. 1), Rn. 58; ferner das Schweizer Bundesgericht, BGE 127 IV 22; hierzu Riklin GA 2006, 361. 72 Vgl. zur rechtlichen Behandlung des „agent provocateurs“ B. Heinrich Strafrecht Allgemeiner, Teil II2, 2009, Rn. 1312 ff. 73 Vgl. die „Gemeinsame Stellungnahme der Medienverbände zum Entwurf eines sog. Intimsphäre-Gesetzes“, abgedruckt in AfP 2004, 110, 111. 74 Als weitere Strafvorschrift kommt hier § 353d StGB (Verbotene Mitteilung über Gerichtsverhandlungen), in Frage; vgl. ferner im Hinblick auf die Weitergabe von Insiderinformationen nach dem Wertpapierhandelsgesetz und der entsprechenden Strafnorm in § 38 WpHG Schröder (Fn. 10).

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kungen vorzunehmen, sodass ein entsprechendes Verhalten bereits die tatbestandliche Verwirklichung des Deliktes und nicht erst die Rechtswidrigkeit ausschließt. Dies ist sicherlich dort möglich und erforderlich, wo der entsprechende Tatbestand eine solche Einschränkung zulässt. Zu denken ist z.B. an das Merkmal „unbefugt“ in § 201 oder § 201a StGB.75 Doch selbst hier ist es umstritten, inwieweit das Merkmal „unbefugt“ bereits den Tatbestand ausschließt76 oder lediglich in besonderer Weise hervorhebt, dass bei diesen Delikten besonders häufig Rechtfertigungsgründe eingreifen.77 Nimmt man die Ausführungen des BVerfG ernst, müsste man im Falle der durch Art. 5 I GG geschützten journalistischen Recherche einen Tatbestandsausschluss annehmen. Andererseits sieht § 201 II 2 StGB ausdrücklich (nur) den Ausschluss der Rechtswidrigkeit vor, wenn die öffentliche Mitteilung „zur Wahrnehmung überragender öffentlicher Interessen“ gemacht wird, was eher dafür spricht, dass eine Interessenabwägung gerade nicht auf Tatbestands-, sondern auf Rechtswidrigkeitsebene erfolgen soll. Dagegen soll im Rahmen des § 238 StGB – so jedenfalls die Begründung des Gesetzgebers – das Merkmal „unbefugt“ als Tatbestandsmerkmal angesehen werden.78 Darüber hinaus bieten auch andere Straftatbestände, wie z.B. die Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen, § 86 StGB, die Möglichkeit, über eine „Sozialadäquanzklausel“ (hier: § 86 III 75 Vgl. auch OLG München ZUM 2005, 399, 406 – Schleichwerbung: Das Merkmal „unbefugt“ in § 201 StGB sei jedenfalls grundrechtskonform vor dem Hintergrund des Art. 5 I GG auszulegen; auch der Entwurf des Stalking-Bekämpfungsgesetzes des Bundesrates, BT-Drucks. 15/5410, 7, ging davon aus, die verfassungsrechtlich geschützte Tätigkeit der Presseorgane über das Merkmal „unbefugt“ bereits auf der Ebene des Tatbestandes und nicht über die Aufnahme eines Rechtfertigungsgrundes der „Wahrnehmung berechtigter Interessen“ auszuscheiden. 76 So jedenfalls im Hinblick auf die Einwilligung Lackner/Kühl (Fn. 31), § 201 Rn. 9; Schönke/Schröder-Lenckner (Fn. 39), § 201 Rn. 29, § 201a Rn. 11 („Doppelfunktion“). 77 So für § 201 StGB BGHSt 31, 304, 306; OLG Karlsruhe NJW 1979, 1513, 1514; Arzt/Weber-Hilgendorf Strafrecht Besonderer Teil2, 2009, § 8 Rn. 17; Eisele Strafrecht – Besonderer Teil I, Straftaten gegen die Person und die Allgemeinheit, 2008, Rn. 665; Fischer (Fn. 31), § 201 Rn. 9; Klug (Fn. 22), 401 f.; Leipziger Kommentar (LK) zum StrafgesetzbuchSchünemann11, 1992 ff., § 201 Rn. 27; Nomos Kommentar (NK) zum Strafgesetzbuch-Kargl3, 2010, § 201 Rn. 22; Rengier Strafrecht Besonderer Teil II – Delikte gegen die Person und die Allgemeinheit10, 2009, § 31 Rn. 7; Systematischer Kommentar (SK) zum Strafgesetzbuch – Hoyer Loseblattsammlung, Stand 11/2009, § 201 Rn. 15; Wessels/Hettinger Strafrecht Besonderer Teil 1 – Straftaten gegen Persönlichkeits- und Gemeinschaftswerte32, 2008, Rn. 532; Wölfl JURA 2000, 231; für § 201a StGB Arzt/Weber-Hilgendorf (aaO), § 8 Rn. 23 f.; Eisele (aaO), Rn. 682; ders. JR 2005, 6, 10; Fischer (Fn. 31), § 201a Rn. 16; Lackner/Kühl (Fn. 31), § 201a Rn. 9; Löffler/Ricker (Fn. 4), 53. Kap. Rn. 29; NK-Kargl (aaO), § 201a Rn. 15. 78 BT-Drucks. 16/575, 7; für einen generellen Tatbestandsausschluss Eisele (Fn. 77), Rn. 500; Kinzig/Zander JA 2007, 481, 483; Lackner/Kühl (Fn. 31), § 238 Rn. 6; Neubacher/ Seher JZ 2007, 1029, 1031; Rengier (Fn. 77), § 26a Rn. 5; Valerius JuS 2007, 319, 322; differenzierend nach den einzelnen Ziffern des § 238 StGB Arzt/Weber-Weber (Fn. 77), § 9 Rn. 113; Fischer (Fn. 31), § 238 Rn. 26; Gazeas JR 2007, 497, 502 f.; Mitsch NJW 2007, 1237, 1240; ders. JURA 2007, 401, 401 ff.

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StGB) Verhaltensweisen der Presse, die der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens etc. dienen, bereits auf der Ebene des Tatbestandes auszuschließen.79 Fraglich ist nun, ob man darüber hinaus stets einen allgemeinen ungeschriebenen Tatbestands-Ausschlussgrund der „zulässigen journalistischen Recherche“ zu berücksichtigen hat. Ist dies bei den soeben genannten Vorschriften, die das Merkmal „unbefugt“ enthalten, schon zweifelhaft, so ist ein entsprechender ungeschriebener Tatbestands-Ausschlussgrund bei sämtlichen in Frage kommenden Delikten jedenfalls abzulehnen. Denn vergegenwärtigt man sich das allgemeine Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit, so soll mit dem Tatbestand das „grundsätzlich“ strafbare Verhalten umschrieben werden, wohingegen die Rechtfertigungsgründe es im Ausnahmefall gestatten, den gesetzlichen Tatbestand zu erfüllen, ohne sich strafbar zu machen. Sowohl der Ausschluss des Tatbestandes als auch der Ausschluss der Rechtswidrigkeit führen nun aber nicht nur in gleicher Weise zur Straflosigkeit des Täters, sondern lassen auch in gleicher Weise das Unrecht der Tat entfallen, sodass durch eine Berücksichtigung der Grundrechte – erst – auf Rechtswidrigkeitsebene der Täter nicht schlechter gestellt wird. Dies wird bestätigt durch einen Blick auf § 193 StGB, der bei der „Wahrnehmung berechtigter Interessen“ eine Strafbarkeit wegen eines Beleidigungsdelikts ausschließt. Nach ganz herrschender Ansicht ist § 193 StGB ebenfalls nicht bereits auf Tatbestandsebene zu berücksichtigen (der Verletzte wird trotzdem in seiner Ehre gekränkt), sondern stellt vielmehr „lediglich“ einen Rechtfertigungsgrund dar.80 Dieser Gedanke ist daher auf andere Tatbestände zu übertragen. Im Ergebnis wird also die Berücksichtigung der Grundrechte und die daraus folgende Pflicht zur Abwägung der betroffenen Interessen in der Regel nicht auf Tatbestandsebene, sondern nur auf Rechtswidrigkeitsebene zu erfolgen haben und dort vorrangig bei den einzelnen Rechtfertigungsgründen zur Geltung kommen.

VII. Rechtfertigungsgründe Auch im Rahmen der Rechtfertigungsgründe ist als erstes darauf zu verweisen, dass manche Strafnormen spezielle, auf sie zugeschnittene Recht79 Vgl. im Hinblick auf § 86a StGB Schönke/Schröder-Stree/Sternberg-Lieben (Fn. 39), § 86a Rn. 10; a.M. Greiser NJW 1969, 1155, 1156; eine weitere Sozialadäquanzklausel findet sich in § 131 III StGB (Gewaltdarstellung); vgl. im Hinblick auf § 123 StGB auch Fischer (Fn. 31), § 123 Rn. 36; vgl. ferner § 6 II VersammlG (Pressevertreter haben hiernach ein Recht auf Anwesenheit bei öffentlichen Versammlungen). 80 BGHSt 18, 182, 187; B. Heinrich Strafrecht Allgemeiner Teil I2, 2009, Rn. 517; Löffler/Ricker (Fn. 4), 53. Kap. Rn. 29.

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fertigungsgründe kennen. Zu erwähnen ist hier beispielhaft der bereits angesprochene § 201 II 3 StGB, der die Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes dann als gerechtfertigt ansieht, „wenn die öffentliche Mitteilung zur Wahrnehmung überragender öffentlicher Interessen gemacht wird“. Zu prüfen ist ferner eine mögliche Anwendung des § 193 StGB. Hiernach sind „[. . .] Äußerungen, welche [. . .] zur Wahrnehmung berechtigter Interessen gemacht werden, [. . .] nur insofern strafbar, als das Vorhandensein einer Beleidigung aus der Form der Äußerung oder aus den Umständen, unter welchen sie geschah, hervorgeht“. Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei § 193 StGB um einen – sprachlich allerdings missglückten – Rechtfertigungsgrund, der allerdings von seinem Wortlaut her ausschließlich auf die Beleidigungsdelikte zugeschnitten ist. In der Praxis kann er jedoch nur Fälle nach §§ 185, 186 StGB rechtfertigen, weil Verleumdungen (§ 187 StGB) und Verunglimpfungen (§ 189 StGB) niemals von einem „berechtigten Interesse“ gedeckt sein können.81 Der Rechtfertigungsgrund beruht letztlich auf dem Prinzip einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung, wobei zuerst festzustellen ist, ob überhaupt ein „berechtigtes Interesse“ des Äußernden vorliegt.82 Danach ist eine Abwägung mit dem beeinträchtigten Interesse des Verletzten, nämlich dessen Ehre und dessen Achtungsanspruch, vorzunehmen. Ein berechtigtes Interesse kann dabei nur dann vorliegen, wenn die Äußerung weder gegen ein Gesetz noch gegen die guten Sitten verstößt.83 Die Presse nimmt durch die Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben dabei regelmäßig berechtigte öffentliche Interessen im Sinne des § 193 StGB wahr,84 wobei allerdings zu beachten ist, dass z.B. Äußerungen aus reiner Sensationsgier oder „Skandallust“85 einem berechtigten Interesse ebenso entgegenstehen, wie beleidigende Äußerungen, für die allein aus Gründen der größeren Verbreitung eines der genannten Medien gewählt wurde.86 Im 81

Löffler/Ricker (Fn. 4), 53. Kap. Rn. 32. Vgl. hierzu Fuhrmann (Fn. 58), 72 f. 83 Geppert JURA 1985, 25, 29; Löffler/Ricker (Fn. 4), 53. Kap. Rn. 36; Schönke/Schröder-Lenckner (Fn. 39), § 193 Rn. 9. 84 So ausdrücklich § 3 III des Berliner Pressegesetzes; § 3 des Landespressegesetzes Nordrhein-Westfalen; hierzu OLG Düsseldorf NStZ 1992, 283; Geppert (Fn. 83), 29; Lackner/Kühl (Fn. 31), § 193 Rn. 8; Kächele Der strafrechtliche Schutz vor unbefugten Bildaufnahmen (§ 201a StGB), 2007, 209; vgl. aber auch LK-Hilgendorf (Fn. 77), § 193 Rn. 11; ferner BVerfGE 12, 113; BGHSt 12, 287, 293 f.; BGHZ 45, 296, 306 ff.; Löffler/ Ricker (Fn. 4), 53. Kap. Rn. 29; so ist z.B. die Bezeichnung von Abschiebemaßnahmen als „Gestapo-Methoden“ in einem Leserbrief von § 193 StGB gedeckt; vgl. BVerfG NJW 1992, 2815. 85 BGHSt 18, 182, 187; hierzu Fuhrmann (Fn. 58), 73; Löffler/Ricker (Fn. 4), 52. Kap. Rn. 36; Rengier (Fn. 77), § 29 Rn. 40. 86 Insoweit muss sich also die Äußerung „innerhalb der öffentlichen Aufgabe der Presse bewegen“; so BGHZ 31, 308, 312; OLG Düsseldorf NStZ 1992, 283; Fischer (Fn. 31), § 193 Rn. 33; Lackner/Kühl (Fn. 31), § 193 Rn. 8; a.M. LK-Hilgendorf (Fn. 77), § 193 Rn. 20; SK-Rudolphi/Rogall (Fn. 77), § 193 Rn. 18. 82

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Rahmen der Interessenabwägung gelten die allgemeinen Abwägungskriterien.87 Die Äußerung muss geeignet und erforderlich sein, den zuvor festgestellten berechtigten Interessen zu dienen und sie muss zudem ein angemessenes Mittel zur Interessenverfolgung darstellen.88 Zentral – und insoweit auch am problematischsten – ist die Prüfung der Angemessenheit, die letztlich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfordert: Es muss in jedem Einzelfall überprüft werden, ob auf der Grundlage der konkreten Umstände die Interessen des Handelnden (also des Beleidigenden) mit denen des Verletzten mindestens gleichwertig sind.89 Im Rahmen dieser Abwägung ist nun die verfassungsrechtliche Ausstrahlung der Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 I 1, 2 GG)90 zu berücksichtigen,91 denen insbesondere das BVerfG tendenziell – und im Einzelfall oftmals zu Lasten des Ehrenschutzes – einen hohen Rang einräumt.92 Beachtlich ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass insbesondere vor der Veröffentlichung ehrenrühriger Äußerungen in Massenmedien den Betreffenden eine Informationspflicht trifft, da von den Veröffentlichungen in modernen Massenmedien eine „unberechenbare und tiefgreifende Wirkung“ ausgeht.93 Insoweit schließt eine leichtfertige oder sogar wissentliche Aufstellung unrichtiger Behauptungen oder haltloser Vermutungen die Anwendung von § 193 StGB aus.94 Fraglich ist, ob § 193 StGB – entgegen dem Wortlaut – als allgemeiner Grundsatz anzusehen ist, der auch für andere Tatbestände gilt. Dies wird 87 Vgl. hierzu OLG Frankfurt NJW 1989, 1367, 1368 f.; Fuhrmann (Fn. 58), 75; Geppert (Fn. 83), 29 f.; Lackner/Kühl (Fn. 31), § 193 Rn. 10 ff. mit weiteren Beispielen. 88 Löffler/Ricker (Fn. 4), 53. Kap. Rn. 38. 89 BVerfGE 7, 198 – Lüth; BVerfG NJW 1995, 3303, 3304; BVerfG NJW 1999, 2262, 2263; BGHSt 18, 182, 184 f.; OLG Frankfurt NJW 1989, 1367, 1368; OLG Frankfurt NJW 1991, 2032, 2034 ff.; Geppert (Fn. 83), 30; Lackner/Kühl (Fn. 31), § 193 Rn. 10; Rengier (Fn. 77), § 29 Rn. 43; andere fordern hingegen, dass die Interessen des Handelnden „überwiegen“ müssen; so Schönke/Schröder-Lenckner (Fn. 39), § 193 Rn. 12. 90 Nach BGH NJW 1965, 1476, 1477 bildet § 193 StGB (der im Urteil allerdings nicht ausdrücklich genannt wird) zusammen mit Art. 5 GG die „Magna Charta der Presse“, denn er gilt als praktische Ausprägung des Grundrechts der Meinungs- und Pressefreiheit auf dem Gebiet des Beleidigungsrechts; so auch Löffler/Ricker (Fn. 4), 53. Kap. Rn. 29. 91 Hierzu BVerfGE 93, 266, 292 ff.; BVerfG NJW 1992, 2815, 2816; BayObLG NStZRR 2002, 40, 41 ff.; BayObLG NStZ 2005, 215, 216; BayObLG NJW 2005, 1291, 1292 ff.; KG StV 1997, 485, 486; OLG Düsseldorf NJW 1992, 1336; OLG Düsseldorf NJW 1998, 3214, 3215; Otto JURA 1997, 139. 92 Dies ist vielfach auf Kritik gestoßen; vgl. nur Buscher NVwZ 1997, 1057; Ehmann JuS 1997, 193, 198; Isensee AfP 1993, 619, 628; Scholz AfP 1996, 323; Stürner AfP 1998, 1, 6 f. 93 BGHZ 3, 270, 285; zu dieser Informationspflicht vgl. ferner auch BVerfGE 12, 113, 130; BVerfG NJW 2003, 1855, 1856; BGHZ 31, 308, 312 f.; Löffler/Ricker (Fn. 4), 53. Kap. Rn. 31; Rengier (Fn. 77), § 29 Rn. 45 f.; gegen eine Überspannung der Sorgfaltspflichten allerdings BVerfG NJW 1980, 2072, 2073; BGH NJW 1998, 3047, 3049. 94 BGHSt 14, 48, 51; BGH NJW 1998, 3047, 3049; KG JR 1988, 522, 523; OLG Celle NJW 1988, 353, 354; HansOLG Hamburg MDR 1980, 953; OLG Hamm NJW 1987, 1034, 1035.

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überwiegend abgelehnt95 – und zwar zu Recht. Der Gesetzgeber hat an mehreren Stellen im Gesetz eine Abwägung gegenläufiger Interessen auf Rechtfertigungsebene vorgesehen, die sich – jeweils bezogen auf bestimmte Delikte oder Deliktsgruppen – an unterschiedlichen Kriterien orientieren. So fordert § 201 II 3 StGB die „Wahrnehmung überragender Interessen“, im Rahmen des § 193 StGB reicht ein lediglich berechtigtes Interesse aus, wohingegen beim allgemeinen Rechtfertigungsgrund des § 34 StGB ein „wesentliches Überwiegen“ der geschützten Interessen erforderlich ist. Diese Wertung des Gesetzgebers würde missachtet, wenn statt § 34 StGB nunmehr über einen aus § 193 StGB herauszulesenden Rechtsgrundsatz dessen Wertung auf alle Delikte übertragen würde. Was die allgemeinen Rechtfertigungsgründe angeht, so ist als erstes festzustellen, dass eine Rechtfertigung durch Notwehr, § 32 StGB, kaum möglich sein dürfte, da hierfür ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff seitens desjenigen vorliegen müsste, der durch die Recherchemethoden beeinträchtigt wird. Insoweit ist also der Blick auf § 34 StGB, den allgemeinen rechtfertigenden Notstand, zu richten, der sich durch eine umfassende Güter- und Interessenabwägung auszeichnet, sodass die oben genannten Grundrechte auch hier mit einfließen können.96 § 34 StGB setzt allerdings eine nicht anders abwendbare Gefahr für ein bestimmtes Rechtsgut voraus, welches das durch den Täter beeinträchtigte Rechtsgut „wesentlich überwiegt“. Insoweit muss zuerst einmal festgestellt werden, welche Gefahr für welches Rechtsgut der Journalist bei einer Presseveröffentlichung „abwendet“. Allgemein kommen als „gefährdete“ Rechtsgüter sämtliche Güter und Interessen in Frage, also auch das Informationsinteresse der Allgemeinheit, über 95 So die h.M.; vgl. RGSt 31, 63, 66; OLG Düsseldorf NStZ 2006, 243, 244 – Butterflymesser; OLG Stuttgart NStZ 1987, 121, 122; Eisele JR 2005 (Fn. 77), 11; Fischer (Fn. 31), § 193 Rn. 4; B. Heinrich, AT I (Fn. 80), Rn. 517; Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil2, 1991, 16. Abschn. Rn. 37; Krey/M. Heinrich Strafrecht Besonderer Teil, Band 1: Besonderer Teil ohne Vermögensdelikte14, 2008, Rn. 375 f.; Kühl Strafrecht, Allgemeiner Teil6, 2008, § 9 Rn. 51; ders. AfP 2004, 190, 197; Lenckner JuS 1988, 349, 352; LK-Hilgendorf (Fn. 77), § 193 Rn. 11; NK-Kargl (Fn. 77), § 201 Rn. 31; Rengier (Fn. 77), § 29 Rn. 36; Roxin Strafrecht, Allgemeiner Teil I4, 2006, § 18 Rn. 39; Schönke/Schröder-Lenckner (Fn. 39), Vorbem §§ 32 ff. Rn. 79/80, § 201a Rn. 11; SK-Rudolphi/Rogall (Fn. 77), § 193 Rn. 4; Wölfl (Fn. 77), 234; a.M. Schmitz JA 1996, 949, 953 f. – zumindest in Bezug auf § 203 StGB; a.M. wohl noch BGH NJW 1952, 660, 661; Rogall NStZ 1983, 1, 6. 96 Vgl. hierzu auch ausführlich Klug (Fn. 22), 402 ff.; auch das OLG Düsseldorf erwog in NStZ 2006, 243, 244 – Butterflymesser, eine Rechtfertigung nach § 34 StGB in einem Fall, in dem ein Journalist ein Butterflymesser durch die Sicherheitskontrolle eines Flughafens schleuste, um Sicherheitsmängel aufzudecken und in einer Reportage zu verwerten (damals strafbar nach § 60 I Nr. 8 i.V.m. § 27 IV 1 Nr. 1 LuftVG a.F.), lehnte diese aber im konkreten Fall ab, weil der Angeklagte den angestrebten Erfolg (= Verbesserung der Sicherheitskontrollen) durch geringere Rechtsverletzungen hätte erreichen können.

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spezielle Missstände in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft aufgeklärt zu werden.97 Auch das Institut der „freien Presse“ an sich ist hier zu beachten.98 Ferner setzt § 34 StGB voraus, dass die Gefahr nicht anders abwendbar ist, was aber regelmäßig gegeben sein wird, zumindest dann, wenn die Erlangung der Information sowie die Information der Allgemeinheit nicht ohne Überschreitung strafrechtlicher Grenzen möglich sind.99 Insbesondere wird hier ein Hinweis an staatliche Stellen (Polizei, Ordnungsbehörden etc.) kaum zu einem Erfolg führen, solange lediglich ein bloßer Verdacht besteht, die aufzudeckenden Missstände aber eben gerade noch ermittelt werden müssen. Als wesentlicher Punkt ist schließlich eine umfassende Güter- und Interessenabwägung vorzunehmen, wobei es erforderlich ist, dass das zu schützende Rechtsgut (hier: das Informationsinteresse der Allgemeinheit, die Pressefreiheit) das durch den Täter beeinträchtigte Rechtsgut (hier z.B. das Hausrecht oder das Geheimhaltungsinteresse) wesentlich überwiegt. Während das BVerfG das Informationsinteresse der Allgemeinheit mehr aus der Warte der Öffentlichkeit bestimmt,100 bejaht der EGMR ein Informationsinteresse bereits dann, wenn die Berichterstattung zu einer öffentlichen Diskussion über eine Frage von allgemeinem Interesse beiträgt.101 Hier ist also eine Einzelfallentscheidung notwendig, insbesondere muss das Verhalten des Journalisten geeignet und erforderlich sein, den zuvor festgestellten berechtigten Interessen zu dienen und es muss zudem ein angemessenes Mittel zur Interessenverfolgung darstellen. Einziger Unterschied zu dem bereits genannten § 193 StGB ist dabei der, dass bei § 193 StGB die Interessen des Handelnden (also des Journalisten) mit denen des Verletzten mindestens gleichwertig sein müssen, während § 34 StGB ein „wesentliches Überwiegen“ der Interessen der Allgemeinheit an der Informationsbeschaffung fordert. Hier liegt der eigentliche Streit verankert, ob man – was aus den oben genannten Gründen abzulehnen ist – § 193 StGB als besonderen Rechtfertigungsgrund für die Presse auch im Hinblick auf andere Tatbestände als die Beleidigungsdelikte zur Anwendung bringt, oder ob man für die sonstigen Tatbestände auf § 34 StGB ausweicht. Im Ergebnis ist ein Ausweichen auf § 34 StGB aber unschädlich, da der hohe Stellenwert, den das Grundrecht des Art. 5 I 1 Alt. 2 GG bietet, durchaus in Einzelfällen zu einem wesentli-

97 Kächele (Fn. 84), 211 ff.; NK-Kargl (Fn. 77), § 201 Rn. 32; Schönke/Schröder-Lenckner (Fn. 39), § 201 Rn. 31a; vgl. auch Hoppe GRUR 2004, 990, 994. 98 Vgl. auch Rose Grenzen der journalistischen Recherche im Strafrecht und Strafverfahrensrecht, 2001, 54, die als geschütztes Interesse das „Interesse an der Erlangung von Information“ ansieht. 99 Vgl. hierzu auch Klug (Fn. 22), 403; Rose (Fn. 98), 55 f. 100 BVerfGE 101, 361, 391 – Caroline. 101 EGMR NJW 2004, 2647, 2649 – Caroline.

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chen Überwiegen der Informationsinteressen der Allgemeinheit bzw. der Pressefreiheit führen wird.102 Fraglich ist, ob daneben Rechtfertigungsgründe direkt aus der Verfassung, insbesondere aus den Grundrechten abgeleitet werden können. Dies wurde zwar gelegentlich diskutiert,103 ist aber letztlich nur in Ausnahmefällen möglich. Denn in den meisten Fällen werden die Grundrechte bereits die Auslegung der einzelnen tatbestandlichen Voraussetzungen einer Strafnorm sowie der einzelnen Rechtfertigungsgründe beeinflussen, sodass für einen eigenständigen, direkt aus der jeweiligen Grundrechtsnorm abzuleitenden Rechtfertigungsgrund kein Platz bleibt. Insbesondere gilt dies auch für Art. 5 GG, der somit keinen eigenständigen Rechtfertigungsgrund darstellt.104 Wie ausgeführt bietet die allgemeine Güter- und Interessenabwägung im Rahmen des § 34 StGB daher genügend Raum, die grundrechtlichen Vorgaben ausreichend zu berücksichtigen.105

VIII. Ergebnis Sowohl bei der Informationsbeschaffung als auch bei der Verbreitung von Informationen kann der recherchierende Journalist oftmals in die Situation kommen, dass er Gefahr läuft, die tatbestandlichen Grenzen eines Straftatbestandes zu überschreiten. Soweit eine Berücksichtigung der einschlägigen Grundrechte der Meinungsfreiheit sowie der Presse- und Informationsfreiheit nicht bereits bei der Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale erfolgen kann, ist in den meisten Fällen auf den Rechtfertigungsgrund des allgemeinen rechtfertigenden Notstandes, § 34 StGB, zurückzugreifen. Dieser enthält mit der Möglichkeit einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung die Chance auf einen gerechten Ausgleich in der auch grundrechtliche Wertungen ausreichend berücksichtigt werden können. Zwar ist zuzugeben, dass diese Lösung nicht vollständig befriedigen kann, weil sie durch die 102 Vgl. Klug (Fn. 22), 409 f.; ferner SK-Hoyer (Fn. 77), § 201a Rn. 26; zu § 238 StGB SK-Wolters (Fn. 77), § 238 Rn. 17; zum regelmäßigen Überwiegen des Hausrechts nach § 123 StGB vgl. Dose (Fn. 47), 76; LK-Lilie12, 2007 ff. (Fn. 77), 124 Rn. 20; Löffler/Ricker (Fn. 4), 52. Kap. Rn. 8; Paschke (Fn. 4), Rn. 972; Schönke/Schröder-Lenckner/SternbergLieben (Fn. 39), § 123 Rn. 33; SK-Rudolphi/Stein (Fn. 77), § 124 Rn. 16; Wente (Fn. 51), 73; vgl. auch OLG Jena NJW 2006, 1892. 103 Vgl. BVerfGE 73, 206, 248 – hier wurde aber aus Art. 8 GG gerade kein Recht auf die Durchführung einer Sitzblockade angenommen; vgl. auch Bergmann JURA 1985, 457, 462 f.; Dose (Fn. 47), 15; Kühl AT (Fn. 95), § 9 Rn. 114; Küpper/Bode JURA 1993, 187, 190; Lackner/Kühl (Fn. 31), § 201a Rn. 9; LK-Hilgendorf (Fn. 77), § 193 Rn. 11; Radtke GA 2000, 19, 33; Roxin (Fn. 95), § 18 Rn. 49 ff. 104 Vgl. allerdings auch Dose (Fn. 47), 75; Lackner/Kühl (Fn. 31), § 201a Rn. 9; LKHilgendorf (Fn. 77), § 193 Rn. 11. 105 So auch im Hinblick auf § 201a StGB Kühl AfP 2004 (Fn. 95), 196.

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Notwendigkeit einer Abwägung keine im Vorhinein zwingend berechenbaren Ergebnisse liefert – was gerade im Strafrecht an sich erforderlich ist. Sie erscheint aber dennoch in dem hier zu erörternden Problemfeld des „investigativen Journalismus“ die einzige Lösung, um die aufgezeigten Interessensgegensätze zu einem sinnvollen Ausgleich zu bringen. Insoweit bieten auch die vorhandenen Instrumentarien eine ausreichende Möglichkeit, auf künftige Entwicklungen im Bereich des „investigativen Journalismus“ zu reagieren.

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Strafrecht und Rechtsphilosophie: Traditionen und Perspektiven Tatjana Hörnle

Strafrecht und Rechtsphilosophie: Traditionen und Perspektiven TATJANA HÖRNLE

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tradition und heutige Bedeutung der Verknüpfung von Strafrecht und Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht . . . . 3. Notwendigkeit des Nachdenkens über die Methode der Strafrechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorzüge und Nachteile der traditionellen Herangehensweise 1. Die Lieblingsphilosoph-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorteile der Konzentration auf die Schriften des deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nachteile der Konzentration auf die Schriften des deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Arbeitsfelder für eine zeitgenössische Strafrechtsphilosophie .

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I. Einleitung 1. Tradition und heutige Bedeutung der Verknüpfung von Strafrecht und Rechtsphilosophie Die Verbindung der Fächer „Strafrecht“ und „Rechtsphilosophie“ war traditionell an deutschen Universitäten eng. Lehrstuhlbezeichnungen, die beides einschlossen, fanden sich häufig, und eine Auswertung des Schrifttums ergibt eine stattliche Zahl an Lehrbüchern zur Rechtsphilosophie, die von Strafrechtswissenschaftlern verfasst wurden.1 Diese Verbindungslinie reicht bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Die Einflüsse der Aufklärung in Kombination mit der aus dieser Sicht unerträglichen Antiquiertheit der vorfindlichen Strafgesetze führten zu verbreiteter Kritik am positiven Recht. Als Ausweg bot sich die intensive Beschäftigung mit naturrechtlich begrün1 Hassemer in: Alexy/Dreier/Neumann (Hrsg.) Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute (ARSP Beiheft Nr. 44), 1991, 130, 131; Kühl Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht, 2001, 19 ff.

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deten Vorstellungen an. Niedergeschlagen hat sich dies in Lehrbüchern aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die zwischen „Strafgesetzkunde“ einerseits, „philosophischem Criminalrecht“ oder „Strafrechtswissenschaft“ andererseits differenzierten. Strafrechtswissenschaft wurde in bewusster Abgrenzung von der Strafgesetzkunde als „rein philosophische“ Wissenschaft konzipiert und als die wichtigere Disziplin angesehen.2 Während im Privatrecht die Historische Schule maßgeblich wurde, gilt dies nicht für das Strafrecht, insoweit blieb es bei Rechtsphilosophie naturrechtlicher Prägung als Leitwissenschaft.3 Vor diesem wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund ist erklärlich, dass sich auch im folgenden Jahrhundert noch deutliche Spuren eines auf die Rechtsphilosophie bezogenen Selbstverständnisses finden. Es zeichnen sich jedoch in jüngster Zeit Veränderungen ab, die sich mittel- und langfristig zu einem Trend verfestigen könnten. Kristian Kühls vor einigen Jahren aufgestellte Prognose, dass die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht wieder zunehme (nach einer „Verschnaufpause“ in den siebziger und achtziger Jahren),4 ist vermutlich zu optimistisch ausgefallen. Die Stellenausschreibungen der letzten Jahre vermitteln den Eindruck, dass die Häufigkeit der Fächerkombination Strafrecht/Rechtsphilosophie abnimmt. Verantwortlich dafür sind Entwicklungen bei der Organisation des Studiums und bei den Fachgruppen innerhalb Juristischer Fakultäten. In einem auf straffere Zeitplanung ausgerichteten Jurastudium droht die Bedeutung aller Grundlagenfächer abzunehmen. Vor allem aber spielt eine Rolle, dass strafrechtliche Lehrstühle wegen ihrer vergleichsweise schwachen Minderheitsposition zwischen den großen Fächern Zivilrecht und Öffentliches Recht oft in besonderem Maße von Stellenstreichungen betroffen sind, während gleichzeitig die Studierenden strafrechtliche Schwerpunktbereiche im Verhältnis zur kleinen Dozentenzahl überdurchschnittlich häufig wählen. Die Folge ist eine unvermeidbare Konzentration auf Lehre und Prüfung im Hauptfach „Strafrecht“, und dies wirkt sich zuungunsten einer intensiven Lehrtätigkeit im Fach Rechtsphilosophie aus. Letzteres wird zunehmend von Vertretern des Öffentlichen Rechts gelehrt. Zwar beeinflussen Verschiebungen in der universitären Lehre nicht unmittelbar die wissenschaftlichen Interessen individueller Strafrechtswissenschaftler. Sie wirken sich aber auf die Beschreibungen neu zu besetzender Stellen aus, und damit auf Entscheidungen des wissenschaftlichen Nachwuchses, welche venia legendi angestrebt werden sollte und wo demgemäß Schwerpunkte bei der Publikationstätigkeit zu setzen sind. 2 Kesper-Biermann Einheit und Recht – Strafgesetzgebung und Kriminalrechtsexperten in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871, 2009, 98 ff.; Kesper-Biermann/Klippel in: dies. (Hrsg.) Kriminalität in Mittelalter und früher Neuzeit, 2007, 211 ff.; Stübinger Das „idealisierte“ Strafrecht, 2008, 50. 3 Kesper-Biermann (Fn. 2), 102; Kesper-Biermann/Klippel (Fn. 2), 219. 4 Kühl in: FS Schreiber 2003, 959.

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2. Zur Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht a) Die vorstehende Skizze ist beschreibend zu verstehen – aus der traditionellen Verknüpfung von Strafrecht und Rechtsphilosophie ist nicht abzuleiten, dass eine hauptsächliche oder gar exklusive Zuordnung der Rechtsphilosophie zum dogmatischen Hauptfach Strafrecht in Lehre und Forschung geboten wäre. Wünschenswert ist vielmehr zweierlei: erstens eine Aufwertung des Faches Rechtsphilosophie zur Bearbeitung der Grundlagen, die die Rechtswissenschaft als Ganzes betreffen. Die Auseinandersetzung mit einer Frage wie „Was ist Recht?“5 setzt einen umfassenden, nicht an eine dogmatische Teildisziplin gekoppelten Zugriff voraus. Zweitens bedarf es neben der Rechtsphilosophie als Grundlagenfach der gesamten Rechtswissenschaften, das sich der auf relativ hohem Abstraktionsniveau anzusiedelnden Fragestellungen annimmt, des rechtsphilosophischen Zugangs innerhalb der einzelnen juristischen Teilgebiete. Insoweit geht es um eine aufgefächerte, an konkreteren Problemen interessierte Rechtsphilosophie. Eine Beschränkung auf Strafrechtsphilosophie wäre offensichtlich unzureichend: Alle dogmatischen Fächer profitieren davon, wenn Analysen sich nicht ausschließlich innerhalb der Grenzen des zu einem bestimmten Zeitpunkt geltenden positiven Rechts bewegen. Über das geltende Recht hinausweisende Fragen sind nicht nur aus rechtspolitischer Sicht im Hinblick auf die Änderbarkeit von Rechtsvorschriften von Bedeutung6 – auch die Auslegung ist vielfach auf Argumentationshilfen angewiesen, die sich aus einem vertieften Verständnis von Legitimationshintergründen und Unstimmigkeiten ergeben. Überlegungen zur Rechtfertigung hoheitlicher Eingriffe oder der Gerechtigkeit bestimmter Regelungsmodelle sind nicht nur innerhalb der Teildisziplin Strafrecht sinnvoll, sondern auch z.B. für das Polizeirecht, Familienrecht oder Steuerrecht. Aus wissenschaftlicher Sicht kann es deshalb nicht Anliegen sein, einen einseitigen Ausbau der Kombination „Strafrecht und Rechtsphilosophie“ zu fordern. Stattdessen ist für jede Teildisziplin im Einzelnen zu untersuchen, wo Lücken liegen, die eine nicht dem positiven Recht verhaftete Analyse von Normen, Verfahren und Institutionen schließen könnte, und wo zu diesem Zweck philosophisches Denken und die Rezeption philosophischer Forschung hilfreich wäre. b) Wofür braucht aber das Fach, das hier im Vordergrund steht, nämlich die Strafrechtswissenschaft, heute Rechtsphilosophie? Offensichtlich hat sich das Bild dessen, was „Strafrechtswissenschaft“ genannt wird, seit den eingangs erwähnten Vorstellungen des 19. Jahrhunderts geändert: Eine „rein 5

Siehe Hoerster Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie, 2006; von der Pfordten Was ist Recht? Ziele und Mittel, JZ 2008, 641 ff. 6 Siehe zur Bedeutung von Rechtsphilosophie für den Gesetzgeber Seelmann Rechtsphilosophie4, 2007, 104 ff.

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philosophische“ Herangehensweise wird heute nicht mehr darunter verstanden, sondern zu wesentlichen Anteilen strafrechtsdogmatische Arbeit. Es fällt in den Aufgabenbereich der Strafrechtsdogmatik, die in Gesetzesform festgelegten Deliktsmerkmale und Regeln zu beschreiben, den Sinn von Begriffen zu erörtern und systematische Zusammenhänge, Querverbindungen und Ableitungen zu untersuchen. Daneben gibt es jedoch ein reiches Betätigungsfeld für eine jenseits des positiven Rechts angesiedelte Beschäftigung mit dem Strafrecht. Eine Aufgabe liegt darin, Prämissen zu untersuchen, die den im Kernund Nebenstrafrecht niedergelegten Verhaltens- und Sanktionsnormen vorgelagert sind. Die insoweit zu stellenden Fragen sind etwa: – Warum gibt es vom Staat verhängte Strafen, was sind die damit verfolgten Zwecke, wie ist die Existenz einer eingriffs- und kostenintensiven Institution zu rechtfertigen? – In welchem Verhältnis steht die Rolle des Opfers bei Delikten gegen Individuen zu einem staatlichen Strafanspruch? – Was sind die Besonderheiten von Kriminalstrafe im Verhältnis zu anderen Rechtsfolgen? – Wie lässt sich die Verhängung von Strafe gegenüber dem davon Betroffenen rechtfertigen? – Welche Arten von Sanktionen sollten vorgesehen und welche Grundsätze bei der Bemessung von Strafen angewandt werden? – Und natürlich die zentrale Frage: Welche Verhaltensweisen sollen unter Strafe gestellt, welche allgemeinen Prinzipien sollten oder sollten nicht Kriminalisierungsentscheidungen leiten? Strafrechtsphilosophie ist aber nicht auf Grundlagenfragen zu reduzieren,7 und schon gar nicht auf die noch enger zugeschnittene Frage nach der „richtigen“ Straftheorie, die gelegentlich unter dem Titel „Strafphilosophie“8 abgehandelt wird. Vielmehr gehören zu der Fülle von Untersuchungsgegenständen der Strafrechtsphilosophie auch die Strukturen und Regeln des Allgemeinen Teils des Strafrechts wie auch einzelne Delikte oder Deliktsgruppen. „Fülle“ ist hier wörtlich zu nehmen; an dieser Stelle wäre es vermessen, eine Auflistung auch nur zu versuchen. Beispiele können nur auf einer willkürlichen Auswahl beruhen. In diesem Sinne könnte etwa angeführt werden: Worin liegt das Unrecht von Sexualdelikten, des Betruges, der unterlassenen Hilfeleistung etc.? Warum ist die Unterscheidung von Unrecht und Schuld wichtig? Aus welchen Gründen wird ein Anstif7

A.A. Kühl (Fn. 1), 33, der unter Strafrechtsphilosophie Überlegungen dazu fasst, „welches Verhalten bei Androhung von Strafe verboten werden darf oder sogar – ausnahmsweise – verboten werden muß“. 8 Siehe Lampe Strafphilosophie, 1999; Kühl (Fn. 1), 26 ff.

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ter/ein Gehilfe bestraft? Was ist der Inhalt des strafrechtlichen Schuldvorwurfs? Inwieweit Antworten auf die vorstehend formulierten Fragen zur Strafrechtsdogmatik oder zur Strafrechtsphilosophie gehören, ist umstritten.9 Eine Möglichkeit, Strafrechtsdogmatik und Strafrechtsphilosophie zu unterscheiden, ist folgendermaßen zu skizzieren: Zu einer strafrechtsphilosophischen Arbeitsweise geht über, wer versucht, jenseits des Gewebes der geltenden Normen (mögliche) Begründungen zu untersuchen und die hinter den Begründungen stehenden Prämissen und Argumentationsstrukturen zu erschließen. Angeleitet wird diese Perspektive oft von der kritischen Frage, ob ein bestimmter Status Quo oder eine geplante Modifikation sinnvoll ist. Solange sich Antworten allein aus einer systematischen Betrachtung des Bestandes von Rechtsnormen und systemkohärenten Ableitungen ergeben, handelt es sich noch um rechtsdogmatisches Arbeiten (es kann allerdings sein, dass der Bereich der Strafrechtsdogmatik verlassen wird, etwa wenn Normen des Verfassungsrechts herangezogen werden). Anderes gilt jedoch, wenn Antworten aus Erwägungen und Prinzipien abgeleitet werden, für die ihrerseits nicht mehr auf geltende Rechtsvorschriften verwiesen werden kann. In Strafrechtslehrbüchern finden sich dogmatische und strafrechtsphilosophische Argumente in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Nicht immer werden die Begründungselemente, die den Bereich der Dogmatik im hier vertretenen engeren Sinn überschreiten, als solche identifiziert – es dürfte jedoch praktisch unmöglich sein, ohne einen einzigen Rückgriff auf Prämissen, die nicht mehr aus Rechtsnormen erschlossen werden können, eine längere strafrechtliche Abhandlung zu verfassen. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, den Begriff „Strafrechtswissenschaft“ als Oberbegriff zu führen, der sowohl strafrechtsdogmatisches als auch strafrechtsphilosophisches Arbeiten umfasst. 9 Seinem Referat auf der Strafrechtslehrertagung 2009 in Hamburg legte Kindhäuser ein weites Verständnis des Bereiches zugrunde, den er der Strafrechtsdogmatik zurechnet. Hierzu gehöre etwa auch die materielle Grundlagenforschung, die sich mit den Paradigmen des Strafrechts befasse, etwa die Begründung der Konzepte von Schuld und Strafe (ZStW 121, 2009, 954, 955). Von der Pfordten geht davon aus, dass Dogmatik durch die Einnahme einer internen Anwenderperspektive charakterisiert sei, Rechtsphilosophie dagegen aus einer externen Perspektive auf das Recht blicke (Rechtsethik, 2001, 15 f.). Allerdings kann es auch aus einer internen Anwenderperspektive notwendig werden, zu einer strafrechtsphilosophischen Überlegung überzugehen, nämlich zur Ausfüllung von Lücken (wegen Art. 103 Abs. 2 GG: zugunsten des Angeklagten), die nicht mehr mit Rückgriff auf geltendes Recht geschlossen werden können. Wie hier verläuft die Abgrenzung zwischen Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie bei Hoerster JuS 1987, 181: Rechtsphilosophisch argumentiert, wer über die Auslegung und Systematisierung des geltenden Rechts hinausgeht. Ähnlich Kaufmann in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.) Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart7, 2004, 1 ff., zur systemtranszendenten Funktion der Rechtsphilosophie. Eine andere Kategorisierung findet sich bei Pawlik (FS Jakobs 2007, 469, 475 ff.), der die Beschäftigung mit Grundlagenfragen der Strafrechtswissenschaftstheorie zuweist.

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3. Notwendigkeit des Nachdenkens über die Methode der Strafrechtsphilosophie Offensichtlich ist es im Rahmen eines Festschriftbeitrags nicht möglich, zu den Themen der zwei skizzierten Arbeitsfelder (Prämissen des Strafrechts; Begründungen für Regeln und Norminhalte) umfassende und gleichzeitig gehaltvolle inhaltliche Ausführungen zu machen. Es bliebe nur die Wahl, ein strafrechtsphilosophisches Einzelthema herauszupicken – oder aber, wenn es bei der allgemeinen Überschrift „Strafrecht und Rechtsphilosophie“ bleiben soll, methodische Aspekte zu erörtern. Im letzteren Sinn soll hier erörtert werden, welche Art der Arbeitsmethode angemessen ist, wenn der Anspruch erhoben wird, Strafrechtsphilosophie zu betreiben. Der methodische Hintergrund wird nur selten thematisiert. Die Feststellung Hilgendorfs, dass in der heutigen Rechtsphilosophie ein analytisches Methodenverständnis dominiere,10 lässt sich auf den engeren Bereich der Strafrechtsphilosophie nicht übertragen. Eine in der deutschen Strafrechtswissenschaft verbreitete Herangehensweise definiert philosophisches Arbeiten vielmehr anders, nämlich als Fokussierung auf Schriften des deutschen Idealismus. Vorhandene Bestandsaufnahmen zu „Strafrecht und Rechtsphilosophie“ (etwa die so betitelte Schrift von Kristian Kühl) hinterfragen dies nicht. In Teil II. meines Aufsatzes werden Vor- und Nachteile des traditionellen Ansatzes erwogen. Es folgen in Teil III. Vorschläge für einen zeitgenössischen Zugang – dies verbunden mit dem Plädoyer, dass das Thema „Strafrecht und Rechtsphilosophie“ mitnichten erschöpfend behandelt ist, sondern im Gegenteil bislang nur spärlich erschlossene Felder intensiver bearbeitet werden sollten.

II. Vorzüge und Nachteile der traditionellen Herangehensweise 1. Die Lieblingsphilosoph-Methode Ein unter Strafrechtswissenschaftlern populärer Ansatz (man kann ihn die Lieblingsphilosoph-Methode nennen) gestaltet sich folgendermaßen: Am Anfang steht die Option für einen bestimmten philosophischen Autor oder eine Gruppe von Autoren. In deren Werk wird nach thematisch einschlägigen Fundstellen oder solchen gesucht, die sich jedenfalls als Anknüpfungspunkt für weitergehende Thesen eignen. Eine aus strafrechtswissenschaftlicher Sicht interessante Einzelfrage wird unter Verweis auf die Zitate beantwortet oder es wird eine breiter angelegte Skizze „Strafrecht im Lichte der Philosophie Xs“ gezeichnet. 10 Hilgendorf in: Brugger/Neumann/Kirste (Hrsg.) Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, 112.

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Dieses Vorgehen lässt sich mit den unterschiedlichsten philosophischen Texten praktizieren. Eher fragwürdige Produkte würden dann drohen, wenn ein Philosoph nach den Kriterien Auflagenhöhe, Medienprominenz und dunkel-raunende Sprache ausgewählt würde. Vertreter des Existentialismus, etwa Martin Heidegger, sind allerdings in den letzten Jahrzehnten als Quellen für (straf-)rechtsphilosophische Abhandlungen aus der Mode gekommen.11 Passende zeitgenössische Medien- und Modephilosophen (etwa Peter Sloterdijk) stehen aus strafrechtswissenschaftlicher Sicht nicht im Fokus des Interesses. Dies dürfte kein Zufall sein, sondern ergibt sich aus dem gewählten methodischen Zugriff: Wenn man auf die Dignität des philosophischen Textes als Gewähr für die Richtigkeit der daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen setzt, erfordert dies, als seriös geltende, d.h. vor allem an philosophischen Fakultäten anerkannte Texte zu wählen. Weit verbreitet ist im strafrechtsphilosophischen Schrifttum deshalb der Rückgriff auf ältere, klassische Quellen, die Reputation nicht nur durch ihre nach wie vor bedeutsame Rolle in der akademischen philosophischen Diskussion gewinnen, sondern auch und wesentlich durch ihre Einordnung als Schriften der Aufklärung. Rezipiert werden die Autoren, die unter der Bezeichnung „Philosophie des deutschen Idealismus“ zusammengefasst werden (in erster Linie Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, aber auch Johann Gottlieb Fichte). In seiner Auflistung strafrechtlich-rechtsphilosophischer „Schulen“ verweist Kristian Kühl auf diejenige, die sich unter den zahlreichen akademischen Schülern Ernst Amadeus Wolffs (mittlerweile auch schon bei den Schülern der Schüler) ausgebildet hat.12 Außerdem gibt es eine Reihe weiterer Rechtswissenschaftler, die strafrechtliche Themen z.B. unter Heranziehung der Schriften Hegels bearbeiten.13 Insgesamt erlaubt der Blick auf die deutsche Landschaft im Schnittfeld von Strafrecht und Rechtsphilosophie die Einschätzung, dass der Rekurs auf die Schriften Konts und Hegels die am häufigsten gewählte Methode ist. Der Verzicht auf einen ausdauernd ausgewerteten Referenzphilosophen ist eher die Ausnahme als die Regel. 2. Vorteile der Konzentration auf die Schriften des deutschen Idealismus Der Ansatz, der sich der Lieblingsphilosoph-Methode bei Beschränkung auf die Schriften des deutschen Idealismus bedient, hat Vorteile, aber auch 11 Siehe zu älteren Arbeiten, die auf Heidegger Bezug nehmen, Maihofer Recht und Sein, 1954; Fechner Rechtsphilosophie, Soziologie und Metaphysik des Rechts2, 1956, 223 ff.; Sprenger in: FS Maihofer 1988, 549 ff. 12 Kühl (Fn. 1), 23. 13 Siehe z.B. Lesch Der Verbrechensbegriff – Grundlinien einer funktionalen Revision, 1999; Pawlik Der rechtfertigende Notstand, 2002, 121 ff.; ders. Person, Subjekt, Bürger, 2004; ders. Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003) 289 ff.; Seelmann Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion – Hegels Straftheorien, 1995; ders. in: Dreier (Hrsg.) Philosophie des Rechts und Verfassungstheorie, 2000, 125 ff.; ders. in: FS Müller-Dietz 2001, 857 ff.

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Nachteile. Zunächst zu den Vorteilen. Schon aus sprachlichen Gründen liegt es nahe, dass es eine Aufgabe gerade der deutschsprachigen Wissenschaft ist, die voluminösen Lebenswerke der großen Denker des deutschen Idealismus in ihrer Bedeutung für (straf-)rechtswissenschaftliche Fragen zu erschließen. Die in besonderem Maße, aber nicht nur für Hegel charakteristische sperrige Diktion der Originaltexte dürfte dem Nicht-Muttersprachler Probleme bereiten. Ein sorgfältiger Umgang mit den Schriften ist den in angloamerikanischen strafrechtsphilosophischen Arbeiten gelegentlich zu findenden pauschalen Verweisen auf einen „Kantianism“14 vorzuziehen. Bei schwierigen Texten besteht die Gefahr, dass der auf sprachliche Hürden stoßende Leser einige Ideen herausbricht und diese eher leichthändig verarbeitet, ohne die Einbindung in einen größeren Gedankenzusammenhang angemessen zu berücksichtigen. Neben den sprachlichen Erwägungen stehen inhaltliche. Außer Frage dürfte stehen, dass aus ideengeschichtlicher Sicht das ausgehende 18. Jahrhundert und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Schlüsselperiode war. Wenn man davon ausgeht, dass die philosophischen Wurzeln eines rechtsstaatlichen Strafrechts in der Aufklärung liegen,15 ergibt sich, dass die deskriptiv-ideengeschichtliche Beschäftigung mit diesen Wurzeln ein lohnenswerter Zweig (auch) der Rechtsphilosophie ist.16 Für jedenfalls einige Vertreter des deutschen Idealismus gilt darüber hinaus, dass diese Prämissen formuliert haben, die auch heute noch einem Rechtsstaat liberaler Prägung zugrunde liegen. Zu diesen zeitübergreifend bedeutsamen Grundlagen gehört etwa die Anerkennung des Unterschieds zwischen Rechtsnormen und moralischen Verhaltenserwartungen, die Kants Unterscheidung zwischen Rechtslehre und Tugendlehre entspricht.17 Falls und soweit die Übereinstimmung von philosophischer Schrift und weitgehend anerkannten modernen Vorstellungen evident ist, ist nachvollziehbar, dass auch in der heutigen Adaption auf tiefer ansetzende Begründungen (die Begründung von Prämissen) unter Umständen verzichtet werden kann – sofern der Argumentationsgang erkennen lässt, dass der Autor nicht durch Ehrfurcht vor dem „großen Namen“ motiviert wurde, sondern durch offensichtliche und unbestreitbare Parallelen zwischen Grundannahmen der philosophischen Schrift und Prämissen, bei denen aus heutiger Sicht ein Begründungsabbruch vertretbar ist.

14 Siehe z.B. Dan-Cohen Harmful Thoughts – Essays on Law, Self and Morality, 2002, 150 ff.; Norrie Punishment, Responsibility and Justice, 2000, 21 ff. 15 Hassemer (Fn. 1), 136 ff. 16 Von der Pfordten (Fn. 9), 18. 17 Siehe dazu Kühl (Fn. 1), 36 ff.; ders. Gedächtnisschrift Meurer, 2002, 545, 546 ff.; Seelmann (Fn. 6), 76 f.

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3. Nachteile der Konzentration auf die Schriften des deutschen Idealismus Was ist gegen die verbreitete Gleichsetzung von „Strafrechtsphilosophie“ mit „Orientierung an den Schriften des deutschen Idealismus“ vorzubringen? Drei Einwände liegen auf der Hand: erstens der begrenzte Inhalt der philosophischen Referenztexte, zweitens deren Durchmischung mit Konventionen ihrer Zeit und drittens die Fragwürdigkeit der Lieblingsphilosoph-Methode im Allgemeinen. Aus der Begrenztheit des zur Verfügung stehenden historischen Textbestandes ergibt sich ein Dilemma. Inhaltlich eingeengte Aussagen zu konkreten Anwendungsfragen finden sich vereinzelt (um ein Beispiel zu nennen: Erwägungen zum lebensbedrohlichen Notstand in Kants „Metaphysik der Sitten“18). Je konkreter die Aussage des philosophischen Autors ausfiel, umso wahrscheinlicher ist aber, dass diese bekannt und im Schrifttum bereits hinreichend ausgewertet ist. Den Verfassern von Ableitungen aus den Schriften des deutschen Idealismus für heute interessierende Fragestellungen, die originell und innovativ sein sollen, bleibt meist keine Alternative als an allgemeinere Aussagen anzuknüpfen und sich vom Allgemeinen zum Konkreten vorzuarbeiten. In diesem Prozess ist es jedoch unvermeidbar, sowohl zum Aussagegehalt der Anknüpfungstextstelle als auch an den Weichenstellungen einer Ableitung Prämissen einzubauen. Dies kann offen geschehen – wird aber manchmal auch nicht explizit thematisiert, vermutlich um die Illusion aufrechtzuerhalten, man habe die gesuchte Antwort (zum Beispiel bei Kant) „gefunden“. Besonders offensichtlich wird die Fragwürdigkeit solcher Argumentationen, wenn es um technisch-wissenschaftliche Entwicklungen geht, die den Erfahrungshorizont des 18. und 19. Jahrhunderts weit hinter sich lassen. Versuche, in bioethischen Debatten Fragen wie die nach der Schutzwürdigkeit von Embryonen in vitro mit Verweis auf Kant zu beantworten,19 erfordern komplexe, sich weit vom Originaltext entfernende Gedankengebäude. Die wesentlichen Weichenstellungen sind dann die des heute schreibenden Autors, nicht aber Kants, zu dessen Werk nur noch eine lose Verknüpfung hergestellt werden kann. Zweitens mischen sich in den Schriften des deutschen Idealismus zeitüberdauernde normative Festlegungen mit weniger überzeugenden Elementen. Diese Mischungen betreffen teilweise grundlegende Festlegungen, etwa 18 Kant in: Weischedel (Hrsg.) Werkausgabe, Band VIII, 343 f. (Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre, II. Das Notrecht). 19 Siehe z.B. Hruschka ARSP 2002, 463, 478; Honnefelder in: Höffe/Honnefelder/ Isensee/Kirchhof Gentechnik und Menschenwürde, 2002, 79, 86 f. Dazu, dass die Frage nach der Schutzwürdigkeit von Embryonen nicht mit Verweis auf Kant überzeugend geklärt werden kann: Vossenkuhl in: Oduncu/Schroth/Vossenkuhl (Hrsg.) Stammzellenforschung und therapeutisches Klonen, 2002, 163, 165; Enders in: Klesczewski/Müller/Neuhaus (Hrsg.) Kants Lehre vom richtigen Recht, 2005, 59, 65 ff.

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zur Rolle des Staates und zur Rolle des Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft. Es wäre unzutreffend, wenn für sämtliche Texte unterstellt würde, dass deren zentrale Gedanken ohne Weiteres mit den Grundlagen eines liberalen Verfassungs- und Rechtsstaats kompatibel sind. In Frage zu stellen ist dies insbesondere für die Schriften Hegels. Die gängige Bezeichnung als „Philosophie der Freiheit“ bringt die Gefahr mit sich, dass die Verherrlichung des Staates, ein dominantes Element in der Philosophie Hegels,20 nicht hinreichend gewürdigt wird. Und selbst dann, wenn viele Passagen eines philosophischen Werkes das vorgeben, was heute mit guten Gründen als Grundlage eines Strafrechtssystems übernommen werden kann, ist der Rezipient an anderen Stellen zu einer selektiven Rezeption gezwungen. So wird etwa Kants engagiertes Eintreten für die Todesstrafe21 von denjenigen, die in seinem Werk Anleihen machen, meist übergangen. Drittens sind grundsätzliche Einwände gegen die Lieblingsphilosoph-Methode zu erheben. Diese beruht auf einem zu fragmentarischen, im Grunde unwissenschaftlichen Verständnis dessen, was philosophisches Arbeiten ausmacht. Es dürfte zwar einer weit verbreiteten Alltagsüberzeugung entsprechen, dass derjenige „sich mit Philosophie beschäftigt“, der die Schriften eines (möglichst berühmten) gemeinhin als Philosophen eingestuften Autors liest. Aus einer wissenschaftlichen Sicht besteht jedoch Philosophie nicht aus Büchern und Material zur Erbauung und Weiterbildung des Einzelnen, und auch nicht in der Anwendung vorgefundener „Rezepte“ in Form von Lehrsätzen und Theorien.22 Vielmehr bedeutet ein philosophischer Zugang, dass jenseits der innerhalb der Fächergrenzen der Geistes- und Naturwissenschaften angewandten spezifischen Arbeitsmethoden das Rüstzeug für systematisches Analysieren entwickelt wird. Gefragt ist analytische Philosophie in einem weiten Sinn. Damit ist nicht das gemeint, was manchmal (in einem engeren Sinn) als analytische Philosophie bezeichnet wird, wobei eine starke Konzentration auf die Analyse des Sprachgebrauchs und auf formale Logik in „begrifflichen Turnübungen“ und „unendlich langweiligen“ Aufsätzen enden kann.23 Hilfreich ist vielmehr eine Definition, die die Aufgabe der Philosophie darin sieht, „in systematischer Weise rationale Antworten auf Sachfragen“ zu finden.24 20 Siehe die §§ 257 ff. in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. Kritische Stimmen zu Hegels Staatsverständnis: Russell History of Western Philosophy, 2004 (Originalausgabe 1945), 661 ff.; Popper Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 28, 2003, 39 ff.; Kaufmann (Fn. 9), 66 f.; Tugendhat Vorlesungen über Ethik, 1993, 204 f. Siehe für eine freundlichere Lesart Stübinger (Fn. 2), 255 ff. 21 Kant Metaphysik der Sitten (Fn. 18), 455 ff., Vom Straf- und Begnadigungsrecht. 22 Kaufmann (Fn. 9), 7 f. 23 So die Kritik von Bieri Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007) 333, 342 f. 24 Beckermann Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007) 599, 608. Siehe ferner Alexy in: Brugger/Neumann/Kirste (Fn. 10), 11 ff. Ähnlich für die Strafrechtsphilosophie Frisch GA 2007, 250, 251 f.: vorurteilsfreies und hinterfragendes Denken.

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Philosophisch zu arbeiten bedeutet nach dem Selbstverständnis einer analytischen Philosophie i.w.S., sich einer bestimmten Frage ergebnisoffen zu nähern und mögliche unterschiedliche Antworten zu erwägen. Gefragt sind Rationalität, Begriffsklärung, Widerspruchsfreiheit und Kohärenz.25 Es müssen in systematischer und strukturierter Weise Prämissen und daraus gewonnene Ableitungen offengelegt und ggf. klargestellt werden, wo neben normativen Aussagen empirische (d.h. nach den Regeln der empirischen Wissenschaften überprüfungsbedürftige) Aussagen eingebaut sind. Um in klarer Form argumentieren zu können, bedarf es zunächst des Instrumentariums einer analytischen Ethik,26 d.h. Verständnis dafür, welche Formen ethische Argumente annehmen können und wie die innere Logik sowie die Schwächen solcher Figuren beschaffen sind. Von einem solchen normativ indifferenten analytischen Zugang ist die angewandte Ethik etwa in Form der Rechtsethik zu unterscheiden,27 wobei ersteres die Voraussetzung dafür ist, in rationaler und begründeter Weise rechtsethische Positionen beziehen zu können. Die Kraft einer rechtsethischen Betrachtung hängt davon ab, wie die zugrunde gelegten Prämissen begründet werden, wobei es in strafrechtsphilosophischen Abhandlungen keine Alternative dazu gibt, das (letztlich ohnehin vergebliche) Streben nach Letztbegründungen28 an bestimmten Stellen abzubrechen. Ob eine bestimmte Prämisse überzeugt und ob diese zulässigerweise nicht weiter begründet wurde, wird diskussionswürdig sein – natürlich ist die Wahl der Grundannahmen von Vorprägungen des Autors abhängig. Den Anspruch auf unbedingte, d.h. nicht mehr hinterfragbare, normative Richtigkeit kann kein analytisch überzeugender Text erheben.29 Es gibt keinen „archimedischen Punkt, der über jeden Zweifel erhaben wäre“.30 Zu verlangen ist jedoch Transparenz der Gedankenführung und dadurch bewirkte Anschlussfähigkeit für weitere Debatten, was im Vergleich zum Verschleiern von Prämissen (etwa durch schwer verständliche Formulierungen oder einen unklaren Aufbau des Textes) allemal ein Vorzug ist. Selbstverständlich schließt es die analytische Arbeitsmethode ein, dass auf Vorarbeiten in der philosophischen und strafrechtsphilosophischen Literatur verwiesen wird. Ob und wo derartige Verweise erfolgen, hängt jedoch von der Struktur der Gedankenführung ab, die unabhängig von Referenz25 Siehe Birnbacher Analytische Einführung in die Ethik2, 2007, 5 f.; von der Pfordten (Fn. 9), 28. 26 Birnbacher (Fn. 25). 27 Siehe zur Unterscheidung zwischen normativ indifferenter analytischer Ethik und Rechtsethik Neumann in: Alexy/Dreier/Neumann (Fn. 1), 248, 249. 28 Dazu grundlegend Albert Traktat über kritische Vernunft5, 1991, 9 ff. Siehe außerdem Hilgendorf in: Brand/Engels/Ferrari/Kovács (Hrsg.) Wie funktioniert Bioethik?, 2007, 233, 235 f. 29 Siehe dazu, dass „schwache Begründungen“ ausreichen müssen, Birnbacher (Fn. 25), 407 ff. 30 Beckermann (Fn. 24), 609.

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texten zu erarbeiten ist; ebenso bedingt die konkrete Fragestellung die Auswahl der zitierten Autoren. Die Festlegung auf einen Lieblingsautoren oder eine Gruppe von Autoren als Exklusivlieferanten der philosophischen Texte kann dagegen mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit kollidieren. Zu einer ergebnisoffenen und systematisch überzeugenden Analyse wird dieser Ansatz in vielen Fällen nicht führen. Er verleitet vielmehr dazu, vorgefundene Prämissen nicht zu hinterfragen und die Struktur der Gedankenführung an den vorhandenen Text anzupassen. Besonders bedenklich wird die kritiklose Übernahme von Prämissen, wenn ein Bekenntnis zu den Schriften des deutschen Idealismus quasi-theologische Züge annimmt. Es ist nicht möglich, die Ehrwürdigkeit einer philosophischen Schrift oder Person zu nutzen, um hieraus die unbedingte Verbindlichkeit einer bestimmten Schlussfolgerung abzuleiten. Selbst wenn die Ableitung einer Antwort aus dem älteren philosophischen Werk in Klarheit und systematischer Stringenz mustergültig ist: Es ist auch dann nicht möglich, das Hinterfragen der Prämissen zu verhindern. „Heilige Schriften“, die die unbedingte Richtigkeit von Seins- und Sollensaussagen (oder jedenfalls von Sollensaussagen nach einem moderneren Verständnis) gewährleisten und die jede Konkurrenz anderer Schriften zurückweisen, kann es nur in der Theologie, nicht aber in der Philosophie geben. Verweise auf die Klassiker des deutschen Idealismus bedeuten deshalb an den kritischen Stellen jeder strafrechtsphilosophischen Diskussion, nämlich bei der Frage nach den Prämissen, die hinter einer bestimmten Antwort stehen, keinen Legitimationsgewinn. Die Hoffnung auf eine so vermeintlich zu sichernde Verbindlichkeit der Antworten wäre eine trügerische Hoffnung.

III. Arbeitsfelder für eine zeitgenössische Strafrechtsphilosophie Aus der Kritik an einer exklusiven Orientierung an den Schriften des deutschen Idealismus folgt natürlich nicht, dass dieser Textbestand in Zukunft zu ignorieren wäre. Die Beschäftigung damit ist vielmehr ein beizubehaltendes Element im Gesamtspektrum der Strafrechtsphilosophie, wenn man sich bewusst ist, – dass wesentliche Gedankengänge nicht durch einen schwer verständlichen Stil verschleiert werden sollten, – dass ideengeschichtliche Betrachtungen von rechtsethischen Bewertungen zu unterscheiden sind, – und dass eine auf Exklusivität des Referenztextes und auf normative Verbindlichkeit angelegte Herangehensweise zu vermeiden ist. Eine starke Fokussierung auf die Schriften des deutschen Idealismus hat im Übrigen noch eine weitere Folge: Sie bindet Arbeitskraft von Professo-

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ren und wissenschaftlichem Nachwuchs, die nicht mehr für andere strafrechtsphilosophische Projekte zur Verfügung steht. Der Blick auf die deutsche akademische Szene zeigt deshalb Forschungslücken. Wünschenswert wäre eine verstärkte Rezeption des zeitgenössischen philosophischen Schrifttums, insbesondere mit Blick auf die Diskussion in England und den USA. Vermutlich mag zwar mancher in Universitätsgremien und Exzellenzinitiativen Geplagter Verweise auf die Notwendigkeit von Interdisziplinarität und Internationalität nicht mehr hören und lesen. Gerade für die Strafrechtsphilosophie gilt jedoch, dass es (nicht zur „Imagepflege“, sondern für neue methodische wie inhaltliche Impulse) sinnvoll ist, Blickwinkel zu erweitern. Es gibt zwar einige Kollegen in der Strafrechtsphilosophie, die zeitgenössische philosophische Literatur auswerten und den interdisziplinären Austausch pflegen.31 Eine Zunahme solcher Aktivitäten wäre jedoch sinnvoll. Dies betrifft zum einen grundlegende Aspekte der Argumentationsstruktur. Wer nach philosophischem Studium, nachfolgender weiterer Ausbildung an einer philosophischen Fakultät und weiterer professioneller Erfahrung darin geübt ist, in analytisch präziser Weise zu argumentieren, verfügt gegenüber den nur rechtswissenschaftlich Ausgebildeten meist über einen methodischen Vorsprung.32 Rechtswissenschaftler, die neben ihrem dogmatischen Hauptfach noch rechtsphilosophisch tätig sind, sind auf besondere methodische Aufmerksamkeit angewiesen. Erforderlich ist eine (der Anwendung auf konkrete Fragen vorgelagerte) Beschäftigung mit Argumentationsfiguren, wie z.B. deontologische versus konsequenzialistische Begründungen, dem „intrinsisch Guten“ oder den Bedingungen für die Validität von Dammbruchargumenten.33 Der Rekurs auf solche Begründungsmuster in expliziter Form oder auch (was bei Rechtswissenschaftlern nicht selten der Fall ist) ohne Identifikation der gewählten Denkfigur wäre ohne Kenntnis der Bedeutung und möglicher Einwände problematisch. Das Desiderat einer verbesserten Zusammenarbeit bezieht sich zum anderen auf inhaltliche Parallelen der Fächer Philosophie und Strafrecht. So ist eine verstärkte Kooperation mit den Teilgebieten Moralphilosophie und angewandte Ethik zu befürworten.34 Abhandlungen, die moralische Verhal-

31 Als Beispiele sei verwiesen auf die Verarbeitung zeitgenössischen Schrifttums bei Günther Der Sinn für Angemessenheit – Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, 1988; ders. Schuld und kommunikative Freiheit, 2005; Merkel Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008; Stübinger (Fn. 2); Bung Wissen und Wollen im Strafrecht, 2009. 32 Siehe Neumann (Fn. 27), 248. 33 Siehe Birnbacher (Fn. 25); Nida-Rümelin in: ders. (Hrsg.) Angewandte Ethik2, 2005, 2, 7 ff.; zu Dammbruchargumenten Enoch Oxford Journal of Legal Studies 2001, 629 ff.; Rizzo/Whitman UCLA Law Review 51 (2003) 539 ff.; Saliger Jahrbuch für Recht und Ethik 15 (2007) 633 ff. 34 Neumann (Fn. 27), 248.

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tensnormen und dafür relevante Festlegungen sowie die Maßstäbe für das retrospektive Bewerten von menschlichem Verhalten rekonstruieren und diese auf ihre ethische Angemessenheit hin untersuchen,35 sind auch aus der Perspektive des Strafrechts von Interesse. Strafrechtsphilosophische Überlegungen zum „Verhältnis von Recht und Moral“ konzentrieren sich zwar manchmal auf einen engen Bereich, nämlich auf die (wenigen) expliziten gesetzlichen Verweisungen auf herrschende Moralvorstellungen, vor allem in § 228 StGB (Verstoß gegen die guten Sitten bei Einwilligung in eine Körperverletzung), und sog. Gesinnungsmerkmale in Straftatbeständen.36 Tatsächlich basiert jedoch „jede nicht vollkommen triviale Rechtsanwendung“37 im Strafrecht auf (meist nicht bewusst reflektierten) moralischen Festlegungen. Aufgabe einer Strafrechtsethik ist es, die jeder Passage in einem strafrechtlichen Lehrbuch und jedem Strafurteil zugrunde liegenden Wertungen transparent zu machen und zu untersuchen. Damit ist allerdings nicht die Schlussfolgerung zu verbinden, dass für die Strafrechtsphilosophie damit auszukommen wäre, thematisch passende moralphilosophische und ethische Analysen schlicht zu übernehmen. Gewünscht wäre nicht eine blinde, sondern eine problembewusste Rezeption. Strafrecht ist auch Teilgebiet der (das Verhältnis von Bürger und Staat betreffenden) Staatsphilosophie. Ethische Untersuchungen stehen oft in einem Kontext, der als Gemeinschaft Gleicher (nämlich moralisch-ethisch handelnder Individuen) zu beschreiben ist. Strafrechtliche Verurteilungen schließen dagegen auch Wertungen ein, die sich auf das Verhältnis von Individuum/Allgemeinheit und Bürger/Staat beziehen. Dies ist nicht nur bei Delikten gegen Kollektivrechtsgüter der Fall, sondern auch z.B. dann, wenn es um die Rechtfertigung einer Tat wegen eines Festnahmerechts (§ 127 StPO) geht. Ferner versteht es sich nicht von selbst, dass solche ethischen Bewertungen, die sich wesentlich auf Motive, Einstellungen und Charakterzüge beziehen,38 im Rahmen der Strafrechtsphilosophie in gleicher Weise zu rechtfertigen wären wie in anderen Bereichen einer angewandten Ethik. Ein erster Schritt für eine Erweiterung der deutschen Strafrechtsphilosophie läge in der Kenntnisnahme und Auswertung des einschlägigen zeitgenössischen philosophischen Schrifttums. Zwar wird von deutschen Strafrechtswissenschaftlern gelegentlich beklagt, dass die „großen Fragen

35 Siehe zur Unterscheidung von Moral (bestehende Verhaltenserwartungen) und Ethik (reflexive Bewertung derselben) Birnbacher (Fn. 25), 2 f.; von der Pfordten in: NidaRümelin (Fn. 33), 209; zu abweichenden Definitionen Düwell Bioethik, 2008, 35. 36 Siehe Kühl (Fn. 1), 36 ff.; ders. (Fn. 4), 966 ff.; ders. Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006) 243, 244 ff. 37 Hilgendorf Aufklärung und Kritik 1/2001, 72, 76. 38 Birnbacher (Fn. 25), 281 ff. Siehe aber zu Gründen für eine handlungsorientierte Ethik Nida-Rümelin (Fn. 33), 5 ff.

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an unsere Rechtsordnung“ von der Philosophie ignoriert würden.39 Diese Diagnose trifft aber jedenfalls dann nicht zu, wenn man über die deutsche Diskussion hinausblickt. Zwar sind vermutlich in keinem Land der Welt Heerscharen von Philosophen anzutreffen, die sich vorwiegend oder ausschließlich mit strafrechtlichen Grundlagenfragen oder umstrittenen strafrechtlichen Regelungen beschäftigen. Es gibt jedoch in der englischsprachigen Welt immerhin einige Wissenschaftler, die, in Philosophie ausgebildet und an philosophischen Fakultäten lehrend und forschend, zahlreiche Publikationen strafrechtlichen Themen widmen. Auf zwei Repräsentanten einer engen Verflechtung von Philosophie und Strafrecht sei hingewiesen: R.A. Duff (University of Stirling, Schottland) und Douglas Husak (Rutgers University, USA). Beide haben sich auf allen Ebenen, vom Allgemeinen bis zum Konkreten, mit dem Strafrecht beschäftigt. Ihr Interesse gilt Grundlagenfragen (Straftheorien und Theorie des Strafverfahrens,40 Maßstäbe für die Kriminalisierung von Verhalten41) ebenso wie dem, was in Deutschland „Verbrechenslehre“ genannt wird (die Systematisierung der für eine strafrechtliche Verurteilung erforderlichen Bewertungsvorgänge) und konkreten Anwendungsfragen.42 Duffs im Jahr 1996 erschienene umfangreiche Monographie „Criminal Attempts“ erörtert die Frage, wie (im Verhältnis zu vollendeten Delikten) eine nur versuchte Straftat bestraft werden sollte. Unabhängig davon, ob man die Ergebnisse des Autors teilt oder nicht: Die Lektüre liefert Anschauungsmaterial für die obige These, dass Vertreter einer praktischen Philosophie für die analytische Aufarbeitung eines Problems oft besser geschult sind als Rechtswissenschaftler. Auch an anderen Stellen zeigt der Blick auf das englischsprachige akademische Feld eine enge Verknüpfung von Strafrechtswissenschaft und zeitgenössischer Moralphilosophie, etwa im Werk Michael S. Moores,43 John Gardners (dem Nachfolger 39 So Hassemer (Fn. 1), 130; ebenso Stübinger (Fn. 2), 49 mit Verweis auf das von Habermas in: Faktizität und Geltung, 1992, 9, zum Ausdruck gebrachte Desinteresse an den Grundlagenfragen des Strafrechts. 40 Duff Trials and Punishments, 1986; ders. Punishment, Communication, and Community, 2001; Duff/Farmer/Marshall/Tadros The Trial on Trial – Truth and Due Process, Band 1, 2004, Band 2, 2006; Husak California Law Review 88 (2000) 991 ff. 41 Duff in: Duff/Green (Hrsg.) Defining Crimes – Essays on the Special Part of the Criminal Law, 2005, 43 ff.; Husak Legalize this! The Case for Decriminalizing Drugs, 2002; ders. Overcriminalization – The Limits of the Criminal Law, 2008. 42 Duff Intention, Agency and Criminal Liability, 1990; ders. Answering for Crime, 2007; Husak Philosophy of Criminal Law, 1987; siehe aus den umfangreichen Listen von Aufsätzen z.B. Duff Law and Philosophy 1993, 345 ff.; ders. Legal Theory 1995, 149 ff.; ders. Oxford Journal of Legal Studies 2005, 353 ff.; Husak Law and Philosophy 2005, 557 ff.; ders. Criminal Law and Philosophy 2009, 51 ff. 43 Moore Act and Crime: The Philosophy of Action and Its Implications for Criminal Law, 1993; ders. Placing Blame: A General Theory of the Criminal Law, 1997; ders. Causation and Responsibility, 2009; Moore/Hurd Stanford Law Review 56 (2004) 1081 ff.

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H.L.A. Harts als „Professor of Jurisprudence“ in Oxford)44 und bei vielen anderen strafrechtsphilosophisch orientierten Wissenschaftlern.45 Einen Überblick über die zeitgenössische Diskussion vermitteln die Zeitschriften „Law and Philosophy“ und „Criminal Law and Philosophy“, in denen nicht nur amerikanische und englische Autoren, sondern auch z.B. Wissenschaftler aus Skandinavien und den Niederlanden publizieren. Da darauf verzichtet wird, das jeweils geltende nationale Recht abzuhandeln, sind diese Debatten länderübergreifend anschlussfähig. Es wäre für die deutsche Strafrechtsphilosophie der Mühe wert, einschlägige Schriften zur Kenntnis zu nehmen. Leider zeigt sich an dieser Stelle, dass das unter deutschen Strafrechtswissenschaftlern gepflegte Selbstverständnis, international orientiert zu sein, nur teilweise eine akkurate Beschreibung ist, nämlich nur in Bezug auf manche Länder und leider oft auch nur in Form einer „Einbahnstraße“, d.h. einer einseitigen Vermittlung der Erkenntnisse deutscher Strafrechtswissenschaft. Aber auch innerhalb des deutschsprachigen Raumes sind die Möglichkeiten einer produktiven Kooperation von Philosophie und Strafrechtswissenschaft keineswegs erschöpft. Zu vielen Punkten kann, wer sucht, parallel geführte Diskussionen finden. Dies betrifft zum einen Themen, bei denen die strafrechtlichen Implikationen offensichtlich sind, etwa die Fragen nach der Bewertung von Selbstmord und Sterbehilfe,46 nach der Relevanz einer Unterscheidung von Tun und Unterlassen47 oder nach der Erlaubtheit von Handlungen in Situationen des Notstands.48 Zum anderen sind philosophische Untersuchungen von Interesse, deren Bedeutung sich aus strafrechtlicher Sicht erst auf den zweiten Blick erschließen mag. Als Beispiel wäre die Diskussion darüber zu nennen, ob es so etwas wie „moral luck“ gibt;49 für strafrechtliche Wertungen betrifft dies die Frage, welche Rolle dem Erfolgsunrecht bei vorhandenem Handlungsunrecht zukommt. 44 Gardner Offences and Defences: Selected Essays in the Philosophy of Criminal Law, 2007; ferner z.B. ders. Cardozo Law Review 28 (2007) 2613 ff.; ders. Journal of Value Inquiry 2009, 315 ff.; Gardner/Shute/Horder (Hrsg.) Action and Value in Criminal Law, 1993. 45 Siehe etwa Tadros Criminal Responsibility, 2005. 46 Birnbacher in: Thiele (Hrsg.) Aktive und passive Sterbehilfe, 2005, 31 ff.; Düwell (Fn. 35), 181 ff.; Hoerster Sterbehilfe im säkularen Staat, 2002; Leist (Hrsg.) Um Leben und Tod, 1990; Steinvorth in: Brudermüller/Marx/Schüttauf (Hrsg.) Suizid und Sterbehilfe, 2003, 57 ff.; Stoecker vorgänge 3/2006, 4 ff. 47 Birnbacher Tun und Unterlassen, 1995; Stoecker Erkenntnis 48 (1998) 395 ff.; siehe ferner Frankfurt in: ders. Freiheit und Selbstbestimmung, 2001, 184 ff.; Bung ZStW 120 (2008) 526 ff. 48 Fritze Die Tötung Unschuldiger – Ein Dogma auf dem Prüfstand, 2004; Zoglauer in: Mittelstraß (Hrsg.) Die Zukunft des Wissens, 1999, 977 ff. 49 Nida-Rümelin ARSP 2007, 167 ff.; ferner aus der englischsprachigen Literatur Nagel Mortal Questions, 1979, 24 ff.; Williams Moral Luck, 1982; Statman Moral Luck, 1993; Enoch/Marmor Law and Philosophy 2007, 405 ff.

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Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass Moralphilosophie und angewandte Ethik nicht die einzigen Teilbereiche der Philosophie sind, die die Strafrechtswissenschaft vermehrt zur Kenntnis nehmen sollte. Vielmehr ergeben sich Anschlussstellen auch im Hinblick auf neuere Diskussionen innerhalb der Philosophie des Geistes. Die Thesen, die verschiedene Vertreter der Naturwissenschaften zur Frage der Willensfreiheit und der Möglichkeit individuellen Anders-Handeln-Könnens vorgetragen haben, provozieren bei Strafrechtswissenschaftlern mehrheitlich eine abwehrende Haltung.50 Versuche, in der Konfrontation mit Naturwissenschaftlern deren Vorbringen zu widerlegen, sind allerdings für die nur bedingt sachkundigen Rechtswissenschaftler wenig erfolgversprechend. Wir sollten uns jedenfalls auf die Möglichkeit einlassen, dass die einem bestimmten Verhalten vorgelagerten Gehirnprozesse es nicht mehr zulassen, anders zu agieren. Die Aufgabe der Rechtswissenschaften besteht darin, die Konsequenzen zu untersuchen, die sich hieraus für das Konzept „Schuld“ ergeben würden. An dieser Stelle gibt es bislang nur vereinzelt diskutierte51 Querverbindungen zur Philosophie des Geistes. Der Philosoph Michael Pauen vertritt (unter anderem in einem gemeinsamen Buch mit Gerhard Roth) eine kompatibilistische Position, derzufolge personale Freiheit lediglich voraussetze, dass eine Handlung weder durch der Person nicht zurechenbare Zwänge noch durch Zufall verursacht wurde.52 Entscheidend sei, ob die Handlung den personalen Fähigkeiten und den personalen Präferenzen (den Überzeugungen, Wünschen und Charaktermerkmalen, die den Kern einer Person ausmachen) entspreche.53 Aus strafrechtlicher Sicht bedeutet dies die Wiederbelebung eines heute kaum mehr vertretenen Konzepts, nämlich der Vorstellung, dass Schuld im strafrechtlichen Sinne Charakterschuld sein könne.54 Auch derjenige, der dem skeptisch gegenübersteht, sollte jedenfalls die philosophische Diskussion darüber zur Kenntnis nehmen.

50 Hillenkamp JZ 2005, 313, 318 ff.; Lüderssen in: Duncker (Hrsg.) Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie, 2006, 189, 193 ff.; Walter in: FS Schroeder 2006, 131, 140 ff.; Duttge in: ders. (Hrsg.) Das Ich und sein Gehirn, 2009, 13, 28 ff., 61; Hassemer ZStW 121 (2009), 829 ff.; Zaczyk GA 2009, 370 ff. Siehe für andere Schlussfolgerungen Schiemann NJW 2004, 2056, 2059; Detlefsen Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektiven des Schuldprinzips, 2006, 337 ff.; Merkel (Fn. 31), 104 ff. 51 Walter (Fn. 50), 133 f.; Detlefsen (Fn. 50), 73 ff. 52 Pauen Grundprobleme der Philosophie des Geistes, 2001, 286 ff.; Pauen/Roth Freiheit, Schuld und Verantwortung – Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit, 2008, 26 ff. 53 Pauen/Roth (Fn. 52), 33 ff., 34, Hervorhebung im Original. 54 Siehe zu den in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vertretenen Charakterschuldlehren Roxin Strafrecht AT I4, 2006, § 19 Rn. 27, sowie zu neueren Ansätzen Burckhardt in: Lüderssen/Sack (Hrsg.) Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht, 1980, 87 ff.; Tadros (Fn. 45), 44 ff.; Herzberg Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, 2010.

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I. Das Staatsrecht auf dem Gipfel seiner Bedeutung Als die vom preußischen König Friedrich-Wilhelm III. gegründete Berliner Universität 1810 eröffnet wurde, gab es Deutschland als politische Einheit nicht mehr. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war vier Jahr zuvor unter dem Ansturm der napoleonischen Truppen untergegangen. Der Deutsche Bund trat erst fünf Jahre später, nach Napoleons Sturz, ins Leben, jedoch nicht als Staat, sondern als „völkerrechtlicher Verein der deutschen souveränen Fürsten und freien Städte“, wie es in Artikel I der Wiener Schlussakte hieß. Staatlich existierten lediglich die einzelnen deutschen Territorien, seit dem Untergang des Reiches im Genuss der Souveränität, die sie eifersüchtig hüteten und gegen die Errichtung eines deutschen Nationalstaats verteidigten. Ein allgemeines deutsches Staatsrecht gab es nur noch als literarische Gattung, geboren aus dem Bestreben, „eine staatsrechtliche Klammer der nationalen Einheit zu erhalten, das partikuläre Element zu vernachlässigen und gewissermaßen im Reich der Idee zu pflegen, was im Reich der Wirklichkeit noch unerreichbar schien“.1 Mit der Auflösung des Reiches setzte aber auch die Konstitutionalisierung des deutschen Staatsrechts ein, beginnend mit Verfassungen für zwei napoleonische Staatsgründungen auf deutschem Boden, das Großherzogtum Frankfurt und das Königreich Westfalen mit Kassel als Hauptstadt. Beide Verfassungen, die Frankfurter von 1806 und die westfälische von 1807, waren allerdings französische Produkte, die die napoleonische Ära nicht überlebten. Aber auch die deutschen Fürsten konnten sich der Anziehungskraft, welche die Verfassungsidee auf ihre Untertanen ausübte, nicht gänzlich entziehen. Als erster deutscher Staat entschloss sich Preußen nach der katastrophalen Niederlage gegen Napoleon 1806, sein umfassendes Erneuerungswerk, dem auch die Berliner Universität ihre Gründung verdankte, mit einer Verfassung zu krönen.2 Der Reformwille erlahmte jedoch mit der schwindenden existentiellen Bedrohung Preußens, und so blieb auch die Krönung 1

Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2, 1992, 97. Insofern war es kein gutes Omen, dass zum Gründungsrektor der entschieden antikonstitutionell eingestellte Jurist Theodor Schmalz berufen wurde. 2

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aus. Preußen wurde, was die Konstitutionalisierung anging, von einer wachsenden Zahl anderer deutschen Staaten überholt. Im Unterschied zu den Konstitutionen Amerikas und Frankreichs waren die deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts jedoch nicht gegen die Monarchen erkämpft, sondern von ihnen aus dynastischem Selbsterhaltungsinteresse, nicht aus konstitutioneller Gesinnung gewährt. Sie tasteten daher die Legitimationsbasis der monarchischen Herrschaft nicht an. Infolgedessen fehlte ihnen ein wesentliches Element des modernen Konstitutionalismus: Sie waren nicht herrschaftskonstituierend, sondern nur herrschaftsmodifizierend. Auch im Übrigen blieben sie hinter dem Standard zurück, der in Amerika und Frankreich gesetzt worden war.3 Das gilt auch für die Reichsverfassung von 1871, die zwar die 1848 enttäuschten nationalen Hoffnungen erfüllte, aber nicht die demokratischen und liberalen. Zum ungeschmälerten Standard des Konstitutionalismus schloss erst die Weimarer Verfassung auf. Doch vermochte sie ihre Integrationsfunktion nie zu erfüllen, und auch juristisch war sie durch häufige Funktionsstörungen schon geschwächt, ehe sie schließlich mit der Machtübernahme Hitlers gänzlich in Verfall geriet. Zweihundert Jahre nach Eröffnung der Berliner Universität gibt es Preußen nicht mehr, Deutschland als politische Einheit dagegen wieder, und zwar mit einer Verfassung, die – obwohl 1949 als Provisorium für einen deutschen Teilstaat geschaffen – seit der Wiedervereinigung in ganz Deutschland gilt und alle früheren deutschen Verfassungen an Geltungsdauer, Relevanz, Wertschätzung im Inland und Beachtung und Rezeption im Ausland in den Schatten stellt. In dem von Dolf Sternberger eingeführten, von Jürgen Habermas popularisierten Begriff des "Verfassungspatriotismus" hat dies Ausdruck gefunden.4 Vor der Wiedervereinigung geprägt, macht er deutlich, dass die Bundesrepublik, der Nation, Geschichte, Kultur als Anknüpfungspunkte für Patriotismus nicht zur Verfügung standen, ihre Identität im Gegensatz zu Weimar weithin aus der Verfassung bezog, die über ihre juristische Effizienz hinaus zum Symbol für die Abkehr vom Nationalsozialismus, den Wiedereintritt des Landes in die zivilisierte Welt, den Aufstieg zu einer wirtschaftlich starken und politisch stabilen Demokratie sowie die Überlegenheit im Vergleich mit der DDR wurde.5 3 Zur Charakterisierung vgl. Grimm Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-18663, 1995, 110–141. 4 Vgl. Sternberger Verfassungspatriotismus, FAZ vom 23.5.1979, auch in ders. Verfassungspatriotismus, Schriften Band X, 1990, 13; Habermas Eine Art Schadensabwicklung, Die ZEIT vom 11.7.1986, auch in: ders. Eine Art Schadensabwicklung, 1987, 135; Müller Constitutional Patriotism, 2007; Grimm Verfassungspatriotismus nach der Wiedervereinigung, Die ZEIT vom 18.4.1997, auch in: ders. Die Verfassung und die Politik, 2001, 107. 5 Zur symbolischen Bedeutung von Verfassungen vgl. Vorländer (Hrsg.) Integration durch Verfassung, 2002; Korioth/von Bogdandy Europäische und nationale Identität: In-

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Dass dies so gekommen ist, hat vor allem mit der insgesamt glücklich verlaufenen Entwicklung der Bundesrepublik zu tun, in der das Grundgesetz diejenige Akzeptanz zu gewinnen vermochte, die der Weimarer Verfassung versagt geblieben war. Darüber darf aber die bedeutendste institutionelle Neuerung des Grundgesetzes nicht vergessen werden, die Errichtung eines eigens zur Wahrung der Verfassung bestimmten Verfassungsgerichts. Enttäuscht über die Irrelevanz der vormärzlichen deutschen Verfassungen, insbesondere ihrer Grundrechte, war die einhundert Jahre zuvor beschlossene Paulskirchen-Verfassung damit vorangegangen. Das Reichsgericht, welches sie vorsah, sollte nach seinen Befugnissen ein Verfassungsgericht sein.6 Unter der Geltung des monarchischen Prinzips, das nach dem Scheitern der Revolution von 1848 der Deutsche Bund wieder auflebte, war an eine Verfassungsgerichtsbarkeit nicht mehr zu denken. Nach dem Sturz der Monarchie galt sie dagegen als demokratisch bedenklich. Es bedurfte erst der Erfahrung einer sich selbst zerstörenden Demokratie und eines jede Grundrechtsbindung missachtenden Staates, ehe der Gedanke einer Verfassungsgerichtsbarkeit wieder plausibel wurde. Im Parlamentarischen Rat war er so wenig bestritten, dass es zu einer grundsätzlichen Debatte, wie die Weimarer Staatsrechtslehre sie geführt hatte,7 gar nicht kam. Kelsens Behauptung, dass Verfassung ohne Verfassungsgerichtsbarkeit nicht viel besser sei als gar keine Verfassung, schien durch die Erfahrung bestätigt, während Schmitts Warnung vor einer Juridifizierung der Politik und einer Politisierung der Justiz in der Nachkriegsphase keine Resonanz mehr fand.8 Wo immer sich Völker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von diktatorischen Regimen befreiten, begnügten sie sich nicht damit, neue Verfassungen auszuarbeiten, sondern suchten sie auch mittels einer Verfassungsgerichtsbarkeit zu sichern. Das Bundesverfassungsgericht wurde dabei weithin zum Modell. Für die Vorbildrolle Deutschlands spielte der Beitrag, der dem Grundgesetz und dem Bundesverfassungsgericht für die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik zugeschrieben wurde, eine große Rolle. An Gelegenheiten, seine Funktion wahrzunehmen, fehlte es dem Bundesverfassungsgericht von Beginn an nicht. Seine Befugnisse übertrafen diejenigen der damals bekannten tegration durch Verfassungsrecht? VVDStRL 62 (2003) 117 und 156; Grimm Integration durch Verfassung, Leviathan 32 (2004) 448. 6 Vgl. Grimm Gewaltengefüge, Konfliktpotential und Reichsgericht in der Paulskirchen-Verfassung, in: Müssig (Hrsg.) Konstitutionalismus und Verfassungskonflikt, 2006, 257. 7 Vgl. Wendenburg Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Methodenstreit in der Weimarer Republik, 1984. Zur Entstehungsgeschichte des Bundesverfassungsgerichts vgl. Laufer Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozess, 1968, 35–137. 8 Kelsen Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929) 30; ders. Wer soll der Hüter der Verfassung sein? 1931; Schmitt Der Hüter der Verfassung, AöR N.F. 16 (1929) 161; ders. Der Hüter der Verfassung, 1931.

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Gerichte mit verfassungsrechtlicher Prüfungskompetenz erheblich. Die Antragsberechtigten zögerten nicht, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Damit stand freilich noch nicht fest, wie das Gericht seine Befugnis, die Verfassung auszulegen und anzuwenden, nutzen würde. Zwar waren manche Interpretationen, die im Kaiserreich und der Weimarer Republik die Relevanz der Vorgängerverfassungen geschmälert hatten, nun durch den Text des Grundgesetzes, vor allem durch Artikel 1 Absatz 3 und Artikel 79 Absatz 3, ausgeschlossen. Dennoch blieb ein weiter Spielraum, den das Bundesverfassungsgericht fast durchweg zu einer Geltungsverstärkung und Geltungsausweitung des Grundgesetzes genützt hat. Das gilt vor allem für die Grundrechte, die vom Parlamentarischen Rat symbolträchtig an die Spitze der Verfassung gerückt und durch die Garantie der Menschenwürde überhöht worden waren. Die wichtigsten Marksteine der Grundrechtsjudikatur waren die 1954 einsetzende und sich allmählich verfestigende Herausbildung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der den im Verfassungstext enthaltenen Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen eine ungeschriebene hinzugefügt hat, die mittlerweile die Hauptlast des Grundrechtsschutzes trägt.9 Im Elfes-Urteil von 1957 verwandelte das Bundesverfassungsgericht den punktuellen Grundrechtsschutz in einen lückenlosen, indem es Art. 2 Absatz 1 GG als „Auffanggrundrecht“ deutete, das gegen jede Handlungsbeschränkung seitens des Staates ins Feld geführt werden kann, die nicht in den Schutzbereich eines speziellen Grundrechts fällt.10 Art. 2 Absatz 1 wurde darüber hinaus zur Grundlage neuer Schutztatbestände, mit denen das Verfassungsgericht auf Freiheitsbedrohungen reagierte, die bei Erlass des Grundgesetzes nicht bedacht oder noch nicht bekannt gewesen waren.11 Den bis heute bedeutendsten Schritt tat das Gericht aber mit dem LüthUrteil von 1958, in dem es die objektive Dimension der Grundrechte wiederentdeckte12 und, von dieser ausgehend, die Wirkung der Grundrechte auf die Auslegung und Anwendung des gesamten einfachen Rechts einschließlich des Privatrechts und seine eigene Kontrollbefugnis damit auf die gesamte Gerichtsbarkeit erstreckte.13 Die objektive Dimension der Grundrechte diente auch als Grundlage für die Einführung der grundrechtlichen Schutzpflicht in der ersten Abtreibungsentscheidung von 1975, mit der das Gericht 9

BVerfGE 3, 383, 399. BVerfGE 6, 32. 11 Vgl. etwa BVerfGE 65, 1 (1983) – Volkszählung (Recht auf informelle Selbstbestimmung); BVerfGE 120, 274 (2008) – Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme. 12 Zum Umstand, dass es eine Wiederentdeckung war, vgl. Grimm Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, in: ders. Die Zukunft der Verfassung3, 2002, 231. 13 BVerfGE 7, 198. Vgl. dazu Henne/Riedlinger (Hrsg.) Das Lüth-Urteil aus (rechts-) historischer Sicht, 2005. 10

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den grundrechtlichen Handlungsschranken für den Gesetzgeber eine Handlungspflicht zur Seite stellte, wenn verfassungsrechtlich geschützte Freiheiten nicht von staatlicher, sondern von dritter Seite bedroht sind.14 Dazu kam eine großzügige Auslegung des Schutzbereichs der meisten Grundrechte und eine Verfeinerung ihrer Schutzwirkungen, für die sich in der Rundfunkrechtsprechung besonders eindrucksvolles Beispiel findet.15 Etliche dieser Neuerungen waren in der Staatsrechtslehre vorbereitet worden.16 Durch die Übernahme in die Verfassungsrechtsprechung änderten sie aber ihre Qualität. Von Argumenten Einzelner wurden sie zur verbindlichen Deutung des Grundgesetzes. Das hatte wiederum Rückwirkungen auf die Staatsrechtslehre. Im „Erkenntniswettbewerb“17 um das richtige Verständnis der Verfassung ist mittlerweile das Verfassungsgericht maßgeblicher geworden als die Staatsrechtslehre. Auch dort, wo die Verfassungsrechtsprechung auf der Staatsrechtslehre fußt, bewirken die Autorität des Bundesverfassungsgerichts, dass die herrschende Meinung von ihm geprägt wird. Gerade grundlegende Neuerungen der Verfassungsrechtsprechung setzten sich in der Lehre schnell durch und drängten die kritischen Stimmen aus der Wissenschaft in den Hintergrund. Verhältnismäßigkeit, Lückenlosigkeit des Grundrechtsschutzes, Drittwirkung, Ausstrahlung, Schutzpflicht etc. sind kaum bestritten. Kontroversen ergeben sich gewöhnlich nur über ihre Anwendung im Einzelfall. Auch methodologisch ist die Staatsrechtslehre im Wesentlichen auf die Karlsruher Auslegungspraxis eingeschwenkt. Man kann sie nur indirekt aus einer Analyse der Entscheidungen gewinnen.18 Das Gericht selbst macht selten Ausführungen zur Methode. Einige Grundsätze zeichnen sich aber deutlich ab. Der Maßstab für die Entscheidungen wird im Text des Grundgesetzes gesucht. Doch hat das Gericht von Anfang an klar gestellt, dass die einschlägigen Vorschriften nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern aus dem „Gesamtinhalt der Verfassung“19 zu deuten sind. Fern von einer engen Wortlautinterpretation werden die Verfassungsnormen, namentlich die Grundrechte, aber als rechtlicher Ausdruck von Werten, manchmal sogar, fußend auf Lüth, als „Wertordnung“ oder „Wertsystem“ betrachtet.20 Aufgabe der Verfassungsinterpretation ist es dann, den im Text positivierten

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BVerfGE 39, 1. BVerfGE 12, 205 (1961); 31, 314 (1971); 57, 295 (1981); 73, 118 (1986); 74, 297 (1987); 83, 238 (1991); 90, 60 (1994); 97, 228 (1998); 97, 298 (1998); 119, 181 (2007). 16 Stets waren auch einige Staatsrechtslehrer Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts, in der Erstbesetzung von 1951 drei von 24, insgesamt bis 2009 zwanzig, zehn pro Senat. 17 Lerche Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 1. Band, 2001, 335. 18 Vgl. Lerche (Fn. 17), m.w.N. 19 Seit BVerfGE 1, 14, 32 f. 20 BVerfGE 7, 198, 205. 15

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Werten oder der Funktion, die die Normen erfüllen sollen, zu größtmöglicher Wirksamkeit in dem Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit zu verhelfen, auf den sie sich regelnd beziehen. Dieses Postulat lässt sich nicht ohne Wirklichkeitskenntnis erfüllen. Neben dem Wertbezug ist daher der Wirklichkeitsbezug ein prägender Grundzug der verfassungsgerichtlichen Methode. Er zwingt die Rechtsprechung zu Realanalysen und macht sie damit gleichzeitig offen für die Erkenntnisse der Nachbarwissenschaften.21 Da die soziale Wirklichkeit aber in ständigem Wandel begriffen ist, kann nur eine Interpretation, die diesen Wandel zu verarbeiten vermag, der Verfassung ihre Gegenwartsrelevanz erhalten. Das Bundesverfassungsgericht untersucht daher üblicherweise, ob im Regelungsbereich einer Verfassungsnorm ein Wirklichkeitswandel eingetreten ist, der ihre Wirkung herabzusetzen oder ihre Funktion zu gefährden drohte, wenn sie nicht interpretatorisch auf die neue Situation eingestellt würde. Das verlangt eine Abschätzung der Folgen verschiedener Interpretationsvarianten für die Erreichung des Normzwecks. Eine normgeleitete Folgenberücksichtigung ist daher in Karlsruhe gang und gäbe.22 Ein Methodenstreit, wie er aus der Weimarer Staatsrechtslehre bekannt ist23 und sich dort in tiefgreifenden Unterschieden im Verständnis zentraler Verfassungsbegriffe fortsetzte oder wie er derzeit die amerikanische Verfassungsrechtswissenschaft und den Supreme Court durchzieht,24 hat sich in der Bundesrepublik nicht aufgetan. Nach einigen Nachwehen der Weimarer Auseinandersetzung25 gibt es heute in der deutschen Staatsrechtslehre weder Positivisten Labandscher Prägung noch Naturrechtler wie Erich Kaufmann und erst recht keine Originalisten, die die Verfassungsauslegung an das Verständnis der Gründer binden, wie in USA. Auch das Aufbegehren eines Teils der Staatsrechtslehre gegen die Wertorientierung der Rechtsprechung26 schwächte sich schnell ab, nachdem das Bundesverfassungsgericht dazu 21 Vgl. Grimm Staatsrechtslehre und Politikwissenschaft, in: ders. (Hrsg.) Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Band 12, 1976, 53. 22 Vgl. Grimm Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe – Zur Argumentationspraxis des deutschen Bundesverfassungsgerichts, in: Teubner (Hrsg.) Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe, 1995, 139. 23 Vgl. Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band III, 1999, 153 ff. m.w.N. 24 Vgl. Scalia A Matter of Interpretation, 1997. 25 Vgl. etwa Forsthoff Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, Festgabe Schmitt 1959, 35, auch in: ders. Rechtsstaat im Wandel2, 1976, 130, zusammen mit weiteren einschlägigen Aufsätzen des Verfassers auf 153 und 175 einerseits, Ehmke Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963) 53, andererseits. Eine Zusammenstellung wichtiger Texte der späten 50er bis frühen 70er Jahre bei Dreier/Schwegmann Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976. 26 Vgl. etwa Forsthoff (Fn. 25); Goerlich Wertordnung und Grundgesetz, 1973; Denninger Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtordnung, JZ 1975, 545, auch in: ders. Der gebändigte Leviathan, 1990, 143.

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übergegangen war, statt von „objektiven Werten“ vermehrt von „objektiven Prinzipien“ zu sprechen, ohne damit eine Änderung in den dogmatischen Folgerungen vorzunehmen.27 Auch die Öffnung zu den Sozialwissenschaften ist nicht mehr grundsätzlich bestritten. Insgesamt hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Grundgesetz eine politische und gesellschaftliche Relevanz verliehen, wie sie keine andere deutsche Verfassung besaß. Die Verfassung wurde durch diese Rechtsprechung täglich von Neuem als maßgeblich erlebbar und stärkte so wiederum die Autorität des Bundesverfassungsgerichts beim Publikum. Für die Politik ist es unter diesen Umständen riskant, sich seinen Urteilen zu widersetzen.28 Die Relevanz der Verfassung und die Autorität des Verfassungsgerichts beeinflussen auch die politische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik. Sie mündet schneller als in anderen Ländern in verfassungsrechtliche Bahnen ein. Die Verfassung wandelt sich zur Waffe in der politischen Diskussion, der „Gang nach Karlsruhe“ zur Drohung, die häufig die Debatte über die Vernünftigkeit, Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit, Finanzierbarkeit politischer Vorhaben verdrängen, um dann in juristischer Einkleidung im verfassungsgerichtlichen Verfahren verspätet und verkürzt aufzutauchen. Die Staatsrechtslehre partizipiert an der gesteigerten Bedeutung des Verfassungsrechts. Mit seinem Einfluss auf sämtliche Rechtsgebiete29 wächst auch ihr Einfluss. Auch wenn die meisten der Hand- und Lehrbücher noch das Wort „Staatsrecht“ im Titel führten und die Standesorganisation weiterhin „Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer“ heißt, versteht sie sich ganz als Wissenschaft vom Verfassungsrecht. Sie ist der Hauptratgeber in verfassungsrechtlichen Fragen, sowohl bei der Normsetzung als auch bei der Normanwendung. Als Sachverständige, Gutachter oder Prozessvertreter treten die Angehörigen der Zunft ständig in Erscheinung. Auch die Medien decken ihren gesteigerten Bedarf an verfassungsrechtlicher Expertise gern bei ihr. Andererseits wird ihre Tätigkeit stark verfassungsgerichtsabhängig.30 Die Vorbereitung und noch mehr die Würdigung verfassungsgerichtlicher Fälle macht einen Großteil ihrer Tätigkeit aus. Grundsätzliche Diskussionen 27

Klärend in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien von Alexy Theorie der Grundrechte, 1985, 71 ff.; vorgebildet, aber von Alexy anders gewendet bei Dworkin Taking Rights Seriously, 1977, deutsch: Bürgerrechte ernst genommen, 1984, 54 ff., 130 ff. 28 Vgl. Gawron/Rogowski Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007; Lembcke Hüter der Verfassung – Eine institutionstheoretische Studie zur Autorität des Bundesverfassungsgerichts, 2007; Vorländer (Hrsg.) Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006; Möllers/van Ooyen (Hrsg.) Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2006. 29 Vgl. Schuppert/Bumke Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2008. 30 Vgl. Schlink Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989) 161.

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treten in den Hintergrund, und die Dogmatik besteht zum erheblichen Teil darin, dem Verfassungseinfluss auf die Ausgestaltung und Anwendung des einfachen Rechts immer neue Anwendungsfelder zu erschließen.

II. Bedeutungswandel in der postnationalen Konstellation Am Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es kaum noch Staaten ohne Verfassung. Als Modell für die Legitimation und Organisation der Staatsgewalt hat sie sich universal durchgesetzt. Auch die Zahl der Verfassungsgerichte ist beträchtlich gewachsen. Äußerlich steht der Konstitutionalismus auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Der äußere Erfolg darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die Verfassungen schon seit längerem einem inneren Bedeutungsschwund ausgesetzt sind.31 Damit ist nicht gemeint, dass nach wie vor viele Verfassungen missachtet oder umgangen werden, viele Verfassungsgerichte nicht unabhängig urteilen oder nicht auf die Befolgung ihrer Urteile rechnen können, wenn sie der Politik missfallen. Es geht vielmehr darum, dass die Verfassung auch in Ländern in denen ihre Vorschriften ernst genommen und durchgesetzt werden, ihren Anspruch nicht mehr in vollem Umfang einlösen kann. Betroffen ist also nicht diese oder jene Verfassung, sondern die Errungenschaft des Konstitutionalismus insgesamt. Um das erkennen zu können, muss man sich allerdings Rechenschaft darüber geben, mit welchem Anspruch die Verfassung ursprünglich ins Leben getreten war.32 So wie sie ausgangs des 18. Jahrhunderts in den Revolutionen Nordamerikas und Frankreichs entstand, ist die Verfassung ein Inbegriff von Rechtsnormen, die die Einrichtung und Ausübung der öffentlichen Gewalt in einem bestimmten Territorium zum Gegenstand haben und diese systematisch und umfassend regeln, so dass es weder extrakonstitutionelle Träger öffentlicher Gewalt noch extrakonstitutionelle Mittel und Wege ihrer Ausübung geben kann. Da legitime öffentliche Gewalt erst durch die Verfassung begründet wird, können ihre Träger nicht zugleich die Urheber der Verfassung sein. Diese muss vielmehr eine von den Machthabern unabhängige Quelle haben, für die nur die zum Herrschaftsverband geeinten Personen, das Volk, in Frage kommen. Damit sie ihre Funktion der Politikre31

Vgl. Grimm (Fn. 12), bes. 399. Vgl. Mohnhaupt/Grimm Verfassung – Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart2, 2002; zur Novität des modernen Konstitutionalismus Grimm (Fn. 3), 10 ff.; ders. (Fn. 12), 31 ff.; zu den Begriffsmerkmalen ausführlicher, als sie hier begründet werden konnten, ders. Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts3, 2003, 25; ders. Die Verfassung im Prozess der Entstaatlichung, FS Badura 2004, 145; ders. The Achievement of Constitutionalism and its Prospects in a Changed World, in: Dobner/Loughlin (Hrsg.) The Twilight of Constitutionalism? 2010, 3. 32

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gulierung erfüllen kann, muss sie schließlich den Gesetzen und Rechtsakten, die von den Trägern der öffentlichen Gewalt stammen, im Rang vorgehen. Das Besondere der modernen Verfassung ist daher mangelhaft erfasst, wenn man sie lediglich als Verrechtlichung von Herrschaft ansieht. Das gab es seit eh und je. Sie ist vielmehr eine spezifische, besonders ambitionierte Form der Verrechtlichung. Gerade darin liegt ihre große Anziehungskraft begründet. Nicht alle Verfassungen, die im Lauf der Zeit bestanden haben, erfüllten diese Anforderungen uneingeschränkt. Stets gab es auch Regelwerke, die „Verfassung“ genannt wurden, ohne sämtliche Merkmale aufzuweisen, die zum Begriff der Verfassung im vollen Sinn gezählt werden. Es muss sich dann nicht notwendig um Scheinkonstitutionen handeln, mit der eine Verrechtlichung von Politik nur vorgespiegelt wird. Auch Regelwerke, denen einzelne Merkmale fehlen, können Funktionen einer Verfassung erfüllen, insbesondere öffentliche Gewalt verrechtlichen.33 Sie fallen aber in dem Maß, in dem es an den Merkmalen fehlt, hinter der Errungenschaft der modernen Verfassung zurück und erfüllen folglich das konstitutionelle Programm nur zum Teil. Damit die Verfassung entstehen und ihren Anspruch einlösen konnte, mussten allerdings zwei Voraussetzungen erfüllt sein, die nicht von vornherein als gegeben unterstellt werden dürfen. Nötig ist erstens ein Gegenstand, der einer rechtlichen Regelung in der spezifischen Form der Verfassung zugänglich ist. Dazu kam es erst mit der Entstehung des modernen Staates im 15. und 16. Jahrhundert. Kennzeichnend für ihn war die Konzentration sämtlicher Herrschaftsrechte in einer Hand und ihre Verdichtung zur öffentlichen Gewalt im Singular. Das mittelalterliche Gemeinwesen mit seinen zahlreichen, auf verschiedene unabhängige Träger verteilten, nicht auf ein geschlossenes Territorium, sondern auf Personen bezogenen Herrschaftsrechten hatte nicht nur keine Verfassung, es hätte auch keine haben können.34 Der moderne Staat erst schied auch klar zwischen dem öffentlichen, durch die Herrschaftsmonopolisierung charakterisierten, und dem privaten, durch die Abwesenheit von Herrschaftsrechten gekennzeichneten Sektor. Diese Grenze ist für die Verrechtlichung von Herrschaft in Form der Verfassung konstitutiv. Der Umstand, dass ein konstitutionsfähiger Gegenstand in Gestalt des Territorialstaats entstand, hatte freilich zur Folge, dass eine Mehrzahl von Staaten nebeneinander existierte. Für die Möglichkeit einer Verfassung mit umfassendem Regelungsanspruch war es daher zweitens nötig, dass die 33 Vgl. Möllers Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: von Bogdandy (Hrsg.) Europäisches Verfassungsrecht, 2003, 1; Grimm Europas Verfassung, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.) Europawissenschaft, 2005, 184 ff. 34 Vgl. Quaritsch Staat und Souveränität, 1970, 178 ff.; Luhmann Soziologische Aufklärung, Band 3, 1981, 288; Böckenförde Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: ders. Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, 29.

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Staatsgewalt einerseits auf ihrem Territorium keine Konkurrenz hatte, andererseits aber auch an den Grenzen ihres Territoriums endete und nicht auf einen anderen Staat übergriff. So wie die Grenze zwischen Öffentlich und Privat für die Verfassung konstitutiv ist, ist es daher auch die Grenze zwischen Innen und Außen. Oberhalb der Staaten gab es keinen rechtsfreien Raum. Hier galt vielmehr Völkerrecht. Aber das Völkerrecht ging von der Integrität der Staaten aus, indem es ihre Beziehungen auf der Basis des Verbots der Einmischung in innere Angelegenheiten regelte und rechtliche Bindungen der souveränen Staaten untereinander nur bei freiwilliger Übereinkunft anerkannte. Beide Rechtsmassen, das Staatsrecht als Innenrecht und das Völkerrecht als Außenrecht, blieben auf diese Weise unabhängig voneinander. Wenn die Einlösung des von der Verfassung erhobenen Anspruchs von diesen beiden Voraussetzungen abhängt, spricht viel dafür, dass ihr Bedeutungsschwund mit einer Auflösung der Grenzen zu tun hat. In der Tat ist die Grenze zwischen Privat und Öffentlich im Zuge der Ausweitung der Staatsaufgaben und der damit einhergehenden Veränderung des Instrumentariums zu ihrer Erfüllung durchlässig geworden. Der Staat trifft mittlerweile viele kollektiv verbindliche Entscheidungen nicht mehr im Wege des Rechtsbefehls, sondern im Weg der Verhandlung mit privaten Akteuren, von deren Kooperationsbereitschaft er abhängig ist. Es gibt folglich private Teilhaber an der öffentlichen Gewalt, die nicht in den Legitimations- und Verantwortungszusammenhang einbezogen sind, dem die Verfassung die Träger öffentlicher Gewalt unterwirft, und es gibt Entscheidungsmodi, die sich den Anforderungen entziehen, die die Verfassung für Akte der öffentlichen Gewalt vorschreibt. Da der Vorgang strukturelle Gründe hat, lässt er sich nicht einfach verbieten, da er von der Teilhabe Privater zehrt, aber nur begrenzt konstitutionalisieren.35 Noch bedeutsamer für die Zukunft der Verfassung ist jedoch die Auflösung der Grenze zwischen Innen und Außen. Sie hat mit dem Wandel der internationalen Beziehungen zu tun, der nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt und sich jüngst erheblich beschleunigt hat. Dieser Wandel ist auf Betreiben der Staaten in Gang gekommen, entfaltet nun aber eine Eigendynamik, die der Herrschaft der Staaten zunehmend entgleitet. Die Staaten haben zur Friedenssicherung und zur Lösung von Problemen, die den nationalen Rahmen sprengen, internationale Einrichtungen ins Leben gerufen, die sich von den traditionellen Bündnissen und Allianzen dadurch unterscheiden, dass sie über eigene Organe verfügen, die die gemeinsamen Interessen wahr35 Vgl. Grimm Lässt sich die Verhandlungsdemokratie konstitutionalisieren? in: Offe (Hrsg.) Demokratisierung der Demokratie, 2003, 193; ders. FS Badura (Fn. 32), 156 ff. m.w.N. dort in Fn. 23; ferner Korioth/Morlok Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung? VVDStRL 62 (2003) 117 und 156; Becker Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005.

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nehmen, und zwar auch gegenüber den Egoismen der Mitgliedstaaten, und zu diesem Zweck einen Teil der Herrschaftsgewalt übertragen bekommen haben, der früher bei den Staaten monopolisiert war. Dadurch löst sich die Identität von öffentlicher Gewalt und Staatsgewalt wieder auf. Nur noch ein Teil der öffentlichen Gewalt ist Staatsgewalt. Wir leben in einer Zeit erodierender Staatlichkeit. Die staatsbezogene Verfassung kann daher ihren umfassenden Regelungsanspruch auch in dieser Richtung nicht mehr erfüllen. Sie legitimiert und reguliert nur noch denjenigen Teil der öffentlichen Gewalt, der weiterhin beim Staat verbleibt. Im Übrigen wird sie darauf beschränkt zu regeln, unter welchen Bedingungen der Staat internationalen oder supranationalen Einrichtungen Hoheitsrechte abtreten darf. Auf die Wahrnehmung der abgetretenen Rechte durch diese Organisationen hat sie dagegen keinen Einfluss mehr. Die ist in ihrem Geltungsbereich nur noch Teilrechtsordnung. Besonders intensiv macht sich das in der am stärksten integrierten Staatengemeinschaft bemerkbar: der Europäischen Union.36 Diese Entwicklung kann gar nicht überschätzt werden. Sie kommt in ihrer Bedeutung der Entstehung des modernen Staates vor 400 Jahren und seiner Umwandlung in den Verfassungsstaat vor 200 Jahren gleich. Die bisherigen Verhältnisse sind damit überholt. Das heißt nicht, dass es keine Staaten und Verfassungen mehr geben wird. Aber sie werden etwas anderes sein als bisher.37 Diese Entwicklung könnte die Darstellung und Lehre des Staatsverfassungsrechts nur dann unberührt lassen, wenn die jeweiligen Rechtsmassen so voneinander abgrenzbar wären, dass sie sich die Herrschaft über ihren jeweiligen Regelungsgegenstand nicht streitig machten. Das ist aber nicht der Fall. Das Staatsrecht wird durch nichtstaatliches Recht verschiedener Provenienz modifiziert oder verdrängt, ohne dass dies an dem Text der nationalen Verfassung erkennbar würde. Die Staatsrechtslehre muss sich darauf einstellen.38 Eine Behandlung, die das Staatsrecht aus seinen internationalen Bezügen isoliert und das Verhältnis der verschiedenen Rechtsmassen 36 Vgl. Wahl Die zweite Phase des Öffentlichen Rechts in Deutschland – Die Europäisierung des Öffentlichen Rechts, Der Staat 38 (1999) 495; Pernice/Huber/Lübbe-Wolff/ Grabenwarter Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001) 148– 349; Grimm Zur Bedeutung nationaler Verfassungen in einem vereinten Europa, in: Merten/Papier (Hrsg.) Handbuch der Grundrechte, Band VI/2, 3. 37 Vgl. Leibfried/Zürn (Hrsg.) Transformation des Staates? 2006; di Fabio Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001; Schuppert Staatswissenschaft, 2003, 835 ff.; LutzBachmann/Bohman (Hrsg.) Weltstaat oder Staatenwelt, 2002; Calhoun Nations Matter, 2007; Dobner/Loughlin (Hrsg.) The Twilight of Constitutionalism? 2010. 38 Vgl. Kokott/Vesting Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004) 7 ff., 41 ff.; Möllers Globalisierte Jurisprudenz, ARSP Beiheft 79 (2001) 41; Haltern Internationales Verfassungsrecht? AöR 128 (2003) 512; Ruffert Die Globalisierung als Herausforderung an das Öffentliche Recht, 2004.

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zueinander in Spezialvorlesungen oder Spezialschriften verweist, wird der tatsächlichen Gemengelage nicht mehr gerecht und spiegelt einen Rechtszustand vor, der aufgehört hat zu bestehen. An den verschiedenen Ebenen des Grundrechtsschutzes und der ihnen zugeordneten gerichtlichen oder politischen Durchsetzungsinstanzen zeigt sich das besonders eindringlich.39 Die Einflüsse nichtstaatlichen Rechts sind damit aber noch nicht abgeschlossen. Zentrale Begriffe des Staatsrechts müssen neu definiert oder gar ersetzt werden.40 Am Beispiel von Souveränität ist das schon relativ früh bemerkt worden. Es gilt aber auch für den Staat, der sich gerade durch seine Souveränität definierte. Es gilt nicht weniger für die Verfassung, die ihre konkurrenzlose Vorrangstellung eingebüßt hat. Betroffen sind aber auch Parlamentarismus und Gewaltenteilung, weil die geschilderten Veränderungen allenthalben der Exekutive in die Hände spielen und die Volksvertretungen marginalisieren. Demokratie kann nicht mehr dahin verstanden werden, dass alle im Staat wirksame öffentliche Gewalt eine Legitimation durch das Staatsvolk benötigt. Wie sich Demokratie auf der überstaatlichen Ebene verwirklichen lässt, jedenfalls, wenn man ihren partizipativen Gehalt bewahren will, ist die große ungelöste Frage, die beschwichtigende Annahme, mit der demokratisch legitimierten Übertragung von Hoheitsrechten sei auch ihr Gebrauch durch supranationale Organe Ausdruck des Volkswillens, ein Mystizismus.41 Das Zusammentreffen des Staatsrechts mit Recht aus nichtstaatlichen Quellen, das sich auf ein und denselben Regelungsgegenstand bezieht, geht nicht konfliktlos vonstatten. Es kann zu einander widersprechenden Normen und Entscheidungen in ein und derselben Sache kommen, ohne dass sich der Widerspruch immer hierarchisch auflösen lässt. Dadurch ergibt sich ein Zustand pluralen Rechts, der bei Juristen, die unter der Prämisse von der Einheit der Rechtsordnung zu arbeiten gewohnt sind, Irritationen hervorruft. In der alten Ordnung war ein Kollisionsrecht nur für solche Fälle nötig, die Auslandsberührung hatten, so dass entschieden werden musste, welches nationale Recht zur Anwendung kommt. Jetzt wird auch innerstaatlich ein Kollisionsrecht benötigt, das die Widersprüche zwischen Recht aus staatlichen und solchem aus nichtstaatlichen Quellen auflöst.42 Es wird voraussichtlich keines sein können, das für alles nichtstaatliche Recht gleicher39 Vgl. etwa Marauhn/Grote Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006. 40 Vgl. Poscher Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung, VVDStRL 67 (2008) 160. 41 So aber Pernice Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam, CMLR 36 (1999) 710. Zum Demokratieproblem vgl. etwa Held Democracy and the Global Order, 1995; Anderson (Hrsg.) Transnational Democracy, 2002; Kuper Democracy Beyond Borders, 2004; Albert/Stichweh Weltstaat und Weltstaatlichkeit, 2007. 42 Vgl. Fischer-Lescano/Teubner Regime-Kollisionen, 2006.

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maßen gilt. Konflikte mit europäischem Gemeinschaftsrecht sind anders zu beurteilen als solche mit der EMRK und diese wiederum anders als solche mit WTO- oder UN-Recht. Auch die Interpretationsmethode kann davon nicht unbeeinflusst bleiben. Das innerstaatlich wirksame Recht aus nichtstaatlichen Quellen erhebt im Unterschied zum Staatsrecht keinen nationalen Geltungsanspruch, sondern beansprucht in verschiedenen Staaten gleichmäßige Geltung. Die verschiedenen Staaten, deren Institutionen das nichtstaatliche Recht anzuwenden haben, gehen bei seiner Auslegung und Anwendung aber von unterschiedlichen Rechtstraditionen, unterschiedlichen Begriffsverständnissen und unterschiedlichen Auslegungsregeln aus. Sie können dem übernationalen Geltungsanspruch dieses Rechts jedoch nur gerecht werden, wenn es dafür auch eine nicht den nationalen Eigenheiten verhaftete Methode gibt.43 In gesteigertem Maß gilt das für die Mitglieder internationaler Gerichte. Andernfalls ist die Auslegung dieses Rechts von der zufälligen Zusammensetzung des jeweiligen Spruchkörpers abhängig. Nicht selten lässt sich das bei einem so großen und viel beschäftigten Gericht wie dem EGMR schon heute beobachten. Die wachsende Bedeutung internationaler Gerichte für die staatliche Rechtsordnung macht ferner eine Bestimmung des Verhältnisses von nationalen und internationalen Gerichten,44 parallel zu der innerstaatlichen Abgrenzung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, nötig. Doch müssen andere Gesichtspunkte in den Vordergrund treten. Die Art und Weise, wie nationale Gerichte ihre Funktion verstehen und erfüllen, wird nicht allein durch das positive Recht bestimmt, unter dem sie operieren und das sie anzuwenden haben. Gerichte bewegen sich auch in einem rechtskulturellen Rahmen und sind in einem Diskurszusammenhang eingebettet, welche ihr Verhalten oft nachhaltiger prägen als die positivrechtlichen Vorgaben. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass die Verbindung zwischen ihnen und der Gesellschaft, für die sie Recht sprechen, aufrechterhalten bleibt, und begünstigen so die Akzeptanz ihrer Entscheidungen. Internationalen Gerichten fehlt diese Einbettung weitgehend. Sie sind deswegen in ihrer Aufgabenerfüllung erheblich freier als nationale Gerichte. Das Gegengewicht muss daher in einem neu definierten Rollenverständnis gefunden werden.45 43 Vgl. Bryde Konstitutionalisierung des Völkerrechts und Internationalisierung des Verfassungsrechts, Der Staat 42 (2003) 61; aus der Privatrechtswissenschaft vgl. etwa Flessner Juristische Methodenlehre und europäisches Privatrecht, JZ 2002, 16; Amstutz Zwischenwelten – Zur Emergenz einer interlegalen Rechtsmethodik im europäischen Privatrecht, in: Joerges/Teubner (Hrsg.) Rechtsverfassungsrecht, 2003, 213. 44 Vgl. Oeter/Merli Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, VVDStRL 66 (2007) 361 ff., 392 ff.; Claes The National Courts' Mandate in the European Constitution, 2006; Grimm (Fn. 36), 17–23. 45 Vgl. Nolte Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung, VVDStRL 67 (2008) 151 ff.

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Insgesamt wird die Rechtsvergleichung eine erheblich größere Bedeutung im Staatsrecht gewinnen. Die Staatenkooperation im Rahmen einer supranationalen Rechtsgemeinschaft zwingt zum Übergang von der „Binnenorientierung“ auf die eigene Rechtsordnung zur „Außenorientierung“, zum ständigen Vergleichen.46 Rechtsvergleichung kann ihre Funktion in einer immer stärker integrierten Staatenwelt freilich nur erfüllen, wenn sie nicht beim Vergleich von Rechtstexten und -institutionen stehen bleibt. Der Vergleich muss die Bedeutung einbeziehen, die Begriffe und Institutionen in verschiedenen Rechtsordnungen haben, und die Funktion ermitteln, die sie dort erfüllen, damit die Sinndifferenzen hinter äquivalent erscheinenden Einrichtungen aufgedeckt werden können. Zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen sind Übersetzungen nötig. Das geht nur unter Beachtung der kulturellen und sozialen Kontexte, in denen Recht seine Bedeutung erhält, und da der Kontext immer ein historisch gewachsener ist, geht es nicht ahistorisch. Das Kontextwissen, das in der Behandlung des einheimischen Rechts wie selbstverständlich mitläuft, muss für die Rechtsvergleichung explizit gemacht werden. Die Bedeutungsminderung des Staatsrechts durch die Verlagerung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen hat schließlich eine Diskussion über die Konstitutionalisierung derjenigen öffentlichen Gewalt ausgelöst, die auf der internationalen Ebene wahrgenommen wird. Sie bezieht sich nicht nur auf die Europäischen Verträge und die EMRK.47 Auch die Statuten der WTO, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds, ja das Völkerrecht insgesamt werden konstitutionell gedeutet.48 Selbst dem von global tätigen privaten Akteuren geschaffenen Recht jenseits des Staates und der internationalen Organisationen wird konstitutionelle Potenz zugeschrieben.49 In der Regel ist damit nur die Herausbildung höherrangigen Rechts auf der internationalen Ebene gemeint.50 Es handelt sich also um 46 Vgl. Wahl Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, 15; ders. (Fn. 36), 515; von Bogdandy/Villalón/Huber (Hrsg.) Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band I und II, 2007 und 2008; Nolte (Fn. 45), 145; Walter Dezentrale Konstitutionalisierung durch nationale und internationale Gerichte: Überlegungen zur Rechtsvergleichung als Methode im öffentlichen Recht, in: Oebbecke (Hrsg.) Nicht-normative Steuerung in dezentralen Systemen, 2005, 205. 47 Hier ist die Literatur kaum noch übersehbar, vgl. etwa Giegerich Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozess, 2003; Walter Die EMRK als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999) 961. 48 Vgl. Fassbender The United Nations Charter as Constitution of the International Community, Columbia Journal of Transnational Law 36 (1998) 529; Frowein Konstitutionalisierung des Völkerrechts, BDGVR 39 (1999) 427; Cass The Constitutionalization of the World Trade Organization, 2005. 49 Vgl. vor allem Teubner (Hrsg.) Global Law Without a State, 1997; ders. Globale Zivilverfassungen? Alternativen zum staatszentrierten Konstitutionalismus, ZaöRV 63 (2003) 1; dazu Grimm Gesellschaftlicher Konstitutionalismus – Eine Kompensation für den Bedeutungsschwund der Staatsverfassung?, FS Herzog 2009, 67. 50 Vgl. dazu etwa Zangl Die Internationalisierung der Rechtsstaatlichkeit, 2006.

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einen erheblich verdünnten und vor allem seines demokratischen Gehalts beraubten Verfassungsbegriff, der hinter der Errungenschaft des Konstitutionalismus weit zurück bleibt. Ob sich die Errungenschaft auf der internationalen Ebene rekonstruieren lässt oder wie die internationale Kompensation für den Bedeutungsschwund der nationalen Verfassungen sonst aussehen könnte, ist die bedeutendste Zukunftsfrage der Disziplin.

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Perspektiven der Verfassung Perspektiven der Verfassung Michael Kloepfer

Perspektiven der Verfassung MICHAEL KLOEPFER

I. Würdigung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . 1. Vorzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schwächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schwächen durch Verfassungsänderungen . . c) „Totes Holz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Textliche und systematische Schwächen . . . . 3. Gesamtwürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mögliche Verfassungsänderungen . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strukturänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zukunftsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zur Situation der Verfassungsrechtswissenschaft IV. Zukunftsaussichten des Verfassungsrechts . . . . 1. Verfassungszukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsüberforderung . . . . . . . . . . . . . . a) „Verfassungspatriotismus“ . . . . . . . . . . . . b) Verfassung als Weltanschauungsersatz . . . . .

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I. Würdigung des Grundgesetzes 1. Vorzüge Das Grundgesetz gilt vielen als die beste aller bisher praktizierten deutschen Verfassungen. Daran ist viel Wahres. Der entschiedene Wille zur Verfassungseffektivität, der weitgehende Verzicht auf bloße Programmsätze sind unbestreitbare Vorzüge gegenüber der Weimarer Verfassung mit ihren vielfach doch eher leeren Versprechungen. Auch die entschiedene Bereitschaft zur Verfassungssicherung und -behauptung lässt kaum Zweifel an der Entschlossenheit des Grundgesetzes zum Fortbestand und zur eigenen Verteidigung. Auch die bundesstaatliche Austarierung der Interessen von Bund und Ländern und die (vielleicht bisweilen etwas überperfektionierte) Ausgestaltung rechtsstaatlicher Strukturen erscheinen insgesamt ebenso gelungen

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wie der in den – beschränkbaren – Grundrechten zum Ausdruck kommende grundsätzliche Ausgleich zwischen Individual- und Gemeinschaftsinteressen. Demgegenüber ist der Ausbau demokratischer Strukturen nur bedingt geglückt (s.u.). Das Bekenntnis zum Sozialstaat enthält zwar eine moderne Abrundung der Aufgaben des Staates, wird aber im Grundgesetz kaum näher ausgeführt und auch nicht hinreichend mit den übrigen Strukturen der Verfassung verbunden. Dies gilt noch stärker für das – seit 1994 im Grundgesetz bestehende – Bekenntnis zum Umweltschutz in Art. 20a GG, wodurch aber immerhin die Ökologisierung des Gemeinwesens verfassungsrechtlich unterstützt wird. Das Grundgesetz neigt hier zur Anhäufung, nicht aber zur Konzertierung seiner Schlüsselaufgaben. Als großer Erfolg des Grundgesetzes gilt der Umstand, dass mit ihm die verfassungsrechtliche Fundamentierung der Bundesrepublik Deutschland und die Durchsetzung der einschlägigen Verfassungspassagen nachhaltig gelungen sei. Aber ist dies wirklich ein Erfolg des Grundgesetzes? Sicher auch, aber ebenso sicher nicht allein. Das Grundgesetz hat gewiss die Fähigkeit zur effektiven Steuerung eines freiheitlichen Gemeinwesens. Damit dies aber wirklich ein Garant zum Erfolg werden konnte, waren noch mindestens zwei weitere Umstände erforderlich. Zunächst bedurfte es – erstens – Rechtsdurchsetzungsinstitutionen, welche die Verfassung umsetzten oder hierbei halfen. Insbesondere das Bundesverfassungsgericht als Kind des Grundgesetzes hat hier Hervorragendes geleistet. Und dass gleichzeitig die deutsche Staatsrechtslehre die Auslegung und Implementation des Grundgesetzes beförderte, hat insgesamt zum Erfolg des Grundgesetzes nicht unwesentlich beigetragen. Schließlich war aber – zweitens – außerdem noch ein breiter Verfassungskonsens in der Bevölkerung erforderlich, um die Erfolge des Verfassungssystems zu gewährleisten. Hier liegt vielleicht der entscheidende Unterschied zu Weimar. Der Erfolg des Grundgesetzes ist auch dem deutschen Volk selbst zu verdanken. Das Grundgesetz ist von „seiner“ Bevölkerung bisher niemals im Stich gelassen worden. Selbst systemkritische Teile der Bevölkerung haben sich regelmäßig auch auf das Grundgesetz berufen, um ihre Forderungen durchzusetzen. Ein solcher breiter Verfassungskonsens ist ein Erfolg – und dieser hat nun auch wieder viele Väter. Jedenfalls ist der Verfassungskonsum in Deutschland gewaltig. Die Zahlen der Verfassungsbeschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht sowie den Landesverfassungsgerichten sind rasant gestiegen, und in den anderen Rechtsstreiten – jedenfalls mit Staatsbezug – werden heute regelmäßig auch verfassungsrechtliche Vorschriften benutzt.1 Dies geht so weit, dass häufig 1 Vgl. dazu jüngst Papier Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den Fachgerichtsbarkeiten, DVBl. 2009, 473 ff.

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originär politische Auseinandersetzungen mit verfassungsrechtlichen Argumenten geführt werden. 2. Schwächen a) Übersicht Trotz der unbestrittenen Vorzüge des Grundgesetzes sind jedoch auch Mängel und Schwächen des geltenden Verfassungsrechts unverkennbar. Der grundsätzlich positive Eindruck vom Grundgesetz darf nicht den abwägenden Blick dafür verstellen, dass sich zu den Vorzügen des Grundgesetzes auch eine Reihe von erheblichen Kritikpunkten gesellen. Im Übrigen können auch gute Dinge stets noch verbessert werden. Das gilt auch für das Grundgesetz. Eine grundsätzliche Schwäche der Verfassung folgt paradoxerweise aus ihrem „Erfolg“, d.h. teilweise auch ihrer Überdehnung und Überanstrengung. Indem zu viele Rechtsfragen zu Verfassungsfragen „hochstilisiert“ werden, wächst die Gefahr der Beliebigkeit und der fehlenden Konsistenz verfassungsrechtlicher Aussagen. Zugleich wird es noch leichter, politische Konflikte als Verfassungskonflikte zu konstruieren und sie richterlich statt politisch entscheiden zu lassen. Hinzu kommen eine Fülle von inhaltlichen Schwächen des Grundgesetzes, von denen hier nur einige Beispiele genannt werden können, z.B.: – der Schrankenwirrwarr bei den Grundrechten – grundrechtliche Schutzlücken (z.B. Ausreisefreiheit, Biotechnik, Datenschutz) – die Unabgestimmtheit zwischen Parteienfreiheit und Elementen traditioneller repräsentativer Demokratie – das fast völlige Fehlen plebiszitärer Elemente – das weitgehende Überholtsein des Konzepts der wehrhaften Demokratie in seiner bisherigen Form – die zu starke Verflechtung von Bundes- und Landeskompetenzen in Gesetzgebung und Verwaltung – das Übergewicht bundesgesetzgeberischer Kompetenzen gegenüber den Landeskompetenzen – die Ineffektivität und Unausgewogenheit von wichtigen Teilen der Finanzverfassung b) Schwächen durch Verfassungsänderungen Wesentliche Schwächen sind auch durch den verfassungsändernden Gesetzgeber in das Grundgesetz eingeschleust worden. Es handelt sich dabei vor allem um überdetaillierte Verfassungsänderungen, wie z.B. Art. 13

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Abs. 3–6 GG, Art. 16a GG, Art. 23 GG oder jüngst die Föderalismusreform II (z. B. Art. 115 Abs. 2, 143 d GG), die auch auf die Schwierigkeiten der Fundierung politischer Kompromisse zwischen den großen politischen Lagern zurückzuführen sind. Vor allem aber stellen die überdetaillierten Verfassungsänderungen den Versuch der Zügelung des Bundesverfassungsgerichts dar. Die Ausführlichkeit des Verfassungstextes soll die Interpretationsmacht des Bundesverfassungsgerichts verlässlich beschränken. Dies erinnert an eine weitere Schwäche des Grundgesetzes. Es ist in den ersten sechs Jahrzehnten seines Bestehens letztlich siebenundfünfzig Mal, also durchschnittlich fast einmal pro Jahr, geändert worden. Das ist – gemessen an anderen Verfassungsstaaten (z.B. Japan, USA) – außerordentlich viel. Dieses Übermaß an Verfassungsänderungen verdient Kritik. Gewiss ist dabei auch zu bedenken, dass das als Provisorium gedachte Grundgesetz nach 1949 erst zur Vollverfassung ausgebaut werden musste (z.B. Finanzverfassung und Wehrverfassung) und dass historische Umstände (Souveränitätsrückgewinn, Wiedervereinigung, Europäische Einigung etc.) umfangreiche Verfassungsanpassungen bedingten. Gleichwohl ist zu fragen, ob die gesetzgebenden Organe in Deutschland eigentlich einen genügenden Sinn dafür hatten und haben, dass die Achtung der Politik vor der Verfassung mehr als bloßen Verfassungsgehorsam, nämlich auch Respekt gegenüber der gewordenen Verfassungsgestalt fordert. Dies führt zur verfassungspolitischen Maxime, Änderungen des Verfassungstextes auf das notwendige Maß zu beschränken;2 eine Maxime, die durch die soeben erwähnten neuen Art. 13, 16a, 23 GG und die Föderalismusreform II in mehrfacher Hinsicht missachtet wurde. Umgekehrt kann die Verfassung nicht unter Naturschutz gestellt werden, zumal sie selbst ihre Veränderbarkeit vorsieht und regelt. Verfassungsänderungen können durch Modernisierung die normative Kraft der Verfassung erhalten und sind zugleich ein Beweis für die Effektivität der Verfassungsbindung. Wirkungslose Verfassungen müssen nicht geändert werden. Verfassungsänderungen sind so auch Zeichen der Verfassungsvitalität. Dies heißt nun aber nicht, dass mit Verfassungsänderungen politische oder Tagesprobleme entschieden werden müssten oder kurzfristigen Politikmoden zu huldigen wäre. Verfassungsrespekt rät jedenfalls zum zurückhaltenden Umgang mit dem Instrument der Verfassungsänderung. Das schließt Verfassungsmodernisierungen nicht aus, sondern beschränkt sie auf das notwendige Maß. c) „Totes Holz“ Viel zu wenig wird bisher gesehen, dass viele Vorschriften des Grundgesetzes „abgestorben“, d.h. totes Holz sind. Diese sollten im Rahmen einer 2 Hierzu auch etwa die Kritik von Bundestagspräsident Norbert Lammert im Tagesspiegel vom 24.4.2009 an den unzähligen Detailregelungen der Verfassungsartikel im Entwurf zur Föderalismusreform II.

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seit längerem fälligen Grundgesetzbereinigung aus dem Verfassungstext entfernt werden. Allerdings ist vor dem Irrtum zu wahren, in jeder bisher noch nie angewandten Vorschrift „totes Holz“ zu sehen.3 Die bisher fehlende Anwendung einer Verfassungsnorm kann ihren Grund darin haben, dass der Tatbestand bisher noch nie tatsächlich aufgetreten ist (z.B. die Vorschriften über den Spannungsfall bzw. Verteidigungsfall (Art. 80a, 115a ff. GG)). Hier lässt die Reservefunktion der Verfassung es zwingend geboten erscheinen, die bestehenden Vorschriften aufrecht zu erhalten, obwohl sie bisher nie oder selten angewandt wurden. Zu denken wäre hier u.a. an Art. 18 GG, dessen praktische Bedeutung im politischen Leben der Bundesrepublik Deutschland bisher äußerst gering war, wobei jedoch dessen Appell- und Signalfunktion im Gefüge der Verfassungsschutzbestimmungen nicht unbeachtet bleiben darf, so dass man ihm noch eine Reservefunktion wird beimessen können.4 Ähnliches dürfte wohl ebenfalls für bisher kaum in Erscheinung getretene Vorschriften wie z. B. die Ermächtigungsbefugnis in Art. 71 GG gelten. Im Übrigen ist danach zu unterscheiden, ob eine Vorschrift von Anfang an niemals angewandt wurde, obwohl es durchaus Anwendungsfälle gegeben hätte (z.B. Mängelrügeverfahren in der Bundesaufsichtsverwaltung nach Art. 84 Abs. 4 GG) oder ob der Sachverhalt zwar in der Vergangenheit vorgelegen hat, sich in der Zukunft aber nicht wiederholen wird (z.B. Übergangsvorschriften). Jedenfalls ist anerkannt, dass Rechtsätze außer Kraft treten, wenn der generelle Sachverhalt endgültig fortgefallen ist oder sich die zugrundeliegenden Vorschriften völlig verändert haben.5 Diese Form des Außerkrafttretens gilt grundsätzlich auch für das Grundgesetz.6 Auch die Verfassung kennt obsolete Vorschriften. Insbesondere im Bereich der Übergangs- und Schlussbestimmungen sind eine Reihe von Vorschriften zu finden, deren Ideengerüst sich überlebt hat und deren Regelungsgehalt längst erschöpft ist. Hier wäre z.B. die Regelung des Art. 132 GG als Ausnahmevorschrift zu Art. 33 Abs. 5 GG zu nennen, die nunmehr seit über 50 Jahren gegenstandslos ist, denn sie ist mit Ablauf der 6-Monats-Frist des Abs. 1 S. 1 am 7. März 1950 obsolet geworden.7 Seit dem Zusammentritt des Bundesrates und der Wahl des Bundespräsidenten 3 Vgl. Robbers Obsoletes Verfassungsrecht durch sozialen Wandel?, FS Benda 1995, 209, 217. 4 Vgl. Brenner in: von Mangoldt/Klein/Starck GG, Band I5, Art. 18 Rn. 15 ff. 5 Vgl. Wolf/Bachhof/Stober/Kluth Verwaltungsrecht I12, § 27 Rn. 10. 6 Vgl. Rottmann Über das Obsolet-Werden von Verfassungsnormen, FS Zeidler 1987, Band 2, 1097, 1099; kritisch Heckmann Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, 439 ff., der ähnlich wie Robbers (Fn. 3), 218 f., auf die Funktion der Normreserve hinweist. 7 So auch Battis in: Sachs GG5, Art. 132 Rn. 5.

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erweist sich die Vorschrift des Art. 136 GG ebenfalls als gegenstandslos. Gleiches gilt etwa auch für die Abs. 2 und Abs. 3 des Art. 137 GG, die nach Ablauf einer Übergangszeit ihre Bedeutung verloren haben. Vorschriften, die ihre rechtliche Bedeutung verloren haben, wie die des Art. 139 GG, können jedoch aufgrund ihrer Symbolwirkung, hier als eine der Vorschriften, die eine Absage an den Nationalsozialismus dokumentiert,8 weiterhin eine politische Bedeutung haben. Ob aber allein verfassungshistorische Erwägungen insbesondere verfassungsgewolltes Erinnern (wie z.B. bei Art. 118, 127, 133 GG) dem Obsoletwerden einer Norm entgegen stehen können, mag durchaus bezweifelt werden, denn ein Beibehalten von Normen ohne Anwendungsbereich wird normalerweise dem Ansinnen und dem Steuerungsanspruch9 von Gesetzen, d.h. auch dem Grundgesetz im Zweifel nicht mehr gerecht. Durch eine Verfassungsbereinigung könnte jedenfalls manches „tote Holz“ aus der Verfassung entfernt werden. Merkwürdig bleibt, wie wenig der im Grunde so emsige verfassungsändernde Bundesgesetzgeber, die Gelegenheit genutzt hat, solche Verfassungsbereinigungen anlässlich von Verfassungsänderungen vorzunehmen. Jedenfalls wäre es sinnvoll, die Aufgabe der „Verfassungsbereinigung“ zu erkennen und entschlossen anzugehen. d) Textliche und systematische Schwächen Das Grundgesetz weist zum Teil Inkonsistenzen und strukturelle Schwächen auf, die vor allem im textlichen und systematischen Bereich begründet liegen. Exemplarisch lassen sich beispielsweise die Schrankenbestimmungen des Art. 2 Abs. 1 GG – Rechte Dritter sowie Sittengesetz – nennen, denn diese weisen heute praktisch keinen selbständigen Bedeutungsgehalt mehr auf und lassen sich daher problemlos dem Schrankenvorbehalt der verfassungsgemäßen Ordnung untergliedern. Darüber hinaus erscheint zudem problematisch, dass zum Teil zentrale Begriffe des Grundgesetzes keiner gleichlautenden Interpretation zugeführt worden sind; hier sei nur an den Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung erinnert, der in mehreren Vorschriften (Art. 2 Abs. 1, Art. 9 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3 GG) mit unterschiedlichen Bedeutungsgehalt in Erscheinung tritt.10 Ebenso wenig überzeugt aus verfassungssystematischen Gesichtspunkten die Zusammenschau des Religionsverfassungsrechts durch die Inkorporierung der Weimarer Staatskirchenartikel über Art. 140 GG der Art. 136 ff. WRV. Eine Neuregelung des Art. 4 GG, der die einschlägigen inkorporierten Bestandteile der WRV in sich aufnehmen und somit für mehr Übersichtlichkeit sorgen könnte, wäre 8

Vgl. BVerfG, NJW 2001, 2076, 2077. Dazu etwa Reimer Das Parlamentsgesetz als Steuerungsmittel und Kontrollmaßstab, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.) GVwR I, § 9 Rn. 1, 84 ff. 10 Vgl. Herzog Unzulänglichkeiten des Verfassungstextes, FS Redeker 1993, 149, 150 f. 9

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in diesem Zusammenhang wünschenswert. Textlich erscheint im Rahmen des Art. 10 Abs. 1 Var. 3 GG (Fernmeldegeheimnis) eine Angleichung an den Kompetenztitel des Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG (Telekommunikation) zwingend, zumal bereits die Rechtsprechung des BVerfG11 dazu übergegangen ist, den modernen Terminus des Telekommunikationsgeheimnisses zu benutzen. Ein weiteres Beispiel des Erfordernisses textlicher Anpassung von Verfassungsnormen ist der weiterhin verwendete Begriff Bundesgrenzschutz in den Art. 12 a Abs. 1, Abs. 2, 35 Abs. 2, Abs. 3, 87 Abs. 1 S. 2, 87 a Abs. 4, 91 Abs. 1, 2 und 115 f Abs. 1 Nr. 1 GG, obwohl bereits 2005 der Bundesgrenzschutz in Bundespolizei unbenannt wurde. Auch eine solche Textanpassung könnte Aufgabe einer Verfassungsbereinigung sein. 3. Gesamtwürdigung Insgesamt überwiegen die Vorzüge des Grundgesetzes seine Nachteile um Längen. Das bringt die Nachteile nicht zum Verschwinden, relativiert aber ihr Gewicht entscheidend. Gleichwohl gilt es, diese und etwaige künftige Schwächen des Grundgesetzes zu benennen und wenn möglich sogar zu beseitigen. Eine unkritische „Verehrung“ des Grundgesetzes ist nicht Sache der Verfassungsrechtswissenschaft. Wissenschaft muss sich beurteilungsermöglichende Distanz zum Untersuchungsgegenstand suchen, nicht aber Identifizierung. Umgekehrt schließt dies aber nicht aus, für die Idee der Verfassung im Allgemeinen und für das Grundgesetz im Besonderen in der Bevölkerung zu werben und ggf. für die Verfassung auch offensiver einzutreten. Die schwergewichtigen und unbestreitbaren Vorzüge sind Anlass zur Zufriedenheit der Rechtsgemeinschaft. Frei nach Schiller12 können wir zum Grundgesetz sagen: Wir genießen die Verfassung, wir sind zufrieden. Allerdings sind die nicht unbeträchtlichen, wenn auch nachrangigen Schwächen der Verfassung Anlass genug, dabei nicht in verfassungsrechtlicher Selbstzufriedenheit zu versinken.

II. Mögliche Verfassungsänderungen 1. Allgemeine Änderungen Die Fülle schon erfolgter Verfassungsänderungen hat nicht etwa den Bedarf an Verfassungsänderungen eingeschränkt oder gar zum Erliegen gebracht, sondern eher noch den verfassungsbezogenen Änderungshunger verstärkt. Derzeit werden u.a. aktuelle Verfassungsänderungen diskutiert, in denen 11

Vgl. BVerfGE 120, 274, 306, 308; BVerfG, NJW 2007, 351, 354; BVerfGE 113, 348, 386. Don Carlos III, 10 (Gespräch Posa mit dem König), siehe dazu Kloepfer NJW 2006, 560, 562 zugleich abgedruckt in ders. Dichtung und Recht, 2008, 22 f. 12

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etwa die Belange künftiger Generationen, der Sport, die Kultur, der Datenschutz und andere Informationsbelange im IT-Bereich geschützt werden oder in denen Verfassungshemmnisse für konkrete politische Vorhaben (JobCenter13 – Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG bzw. Bundeszuschüsse für Schulen14 – Art. 91b GG) beiseite geräumt werden sollen. Aktuell wird auch über die Aufnahmen informationeller Grundrechte diskutiert.15 Latent stehen schließlich vielfältig Vorschläge für eine Fülle sonstiger Verfassungsänderungen im Raum. Einen ungefähren Überblick mögen die von der Gemeinsamen Verfassungskommission in den Jahren 1992–1994 beratenen Vorschläge für Verfassungsänderungen geben, die in der Kommission erfolglos blieben. Ausgespart sind nur diejenigen Vorschläge, die noch später Erfolg hatten (z.B. Tierschutz). Es bleiben noch eine Fülle von Vorschlägen übrig.16 Beispielsweise wurden in der Verfassungskommission noch folgende Vorschläge gemacht: – – – – – –

Aufnahme der Rechte ethnischer Minderheiten17 Aufruf zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn18 Normierung sozialer Staatsziele19 Diskriminierungsverbot sexueller Identität20 Aufnahme plebiszitärer Elemente21 Selbstauflösungsrecht des Bundestages22

13 Vgl. zum Aufgabenübertragungsverbot des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG und zur Verfassungswidrigkeit des § 44b SGB II: BVerfGE 119, 331, 359 sowie zur Entstehung des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG: Meyer Die Föderalismusreform 2006, 2008, 123 ff. Inwieweit die Verwaltungszuständigkeit der Arbeitsgemeinschaften nunmehr geändert wird, ist noch völlig offen. Dazu z.B. Schulz Kooperationsmodelle zur Umsetzung des Einheitlichen Ansprechpartners als unzulässige Mischverwaltung?, DÖV 2008, 1028 ff. 14 Für eine Verfassungsänderung in diesem Bereich setzte sich unlängst u.a. der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen Christian Wulff (CDU) ein, vgl. dazu etwa den Bericht im Tagesspiegel vom 28.2.2009. Zur Bildungsevaluation als Gemeinschaftsaufgabe nach Art. 91b Abs. 2 GG: Guckelberger Bildungsevaluation als neue Gemeinschaftsaufgabe gemäß Art. 91b Abs. 2 GG, RdJB 2008, 267 ff. 15 Vgl. Kloepfer/Schärdel Grundrechte für die Informationsgesellschaft, JZ 2009, 453 ff. 16 Dazu Kloepfer Verfassungsänderung statt Verfassungsreform2, 1996. 17 BT-Drucks. 12/6000, 71 ff. Vgl. auch Pallek Der Minderheitenschutz im deutschen Verfassungsrecht, 2001. 18 Siehe hierzu Gramm Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn als Verfassungsrechtssatz, JZ 1994, 611 ff. 19 Vgl. etwa Rohn/Sannwald Die Ergebnisse der Gemeinsamen Verfassungskommission, ZRP 1994, 65, 72. 20 BT-Drucks. 12/6000, 54. 21 Vgl. Isensee Mit blauem Auge davongekommen – das Grundgesetz – Zur Arbeit und Resultaten der Gemeinsamen Verfassungskommission, NJW 1993, 2583, 2585; jüngst Kloepfer/Schärdel Die Perspektiven der Volksgesetzgebung, DVBl. 2008, 1333 ff. 22 Vgl. Maunz/Klein in: Maunz/Dürig GG, Band IV, (54. Ergänzungslieferung, Januar 2009), Art. 39 Rn. 81 f.; Hahn Zur verfassungssystematischen Konsistenz eines Selbstauflösungsrechts des Bundestages, DVBl. 2008, 151 ff.

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– Direktwahl des Bundespräsidenten23 – Einrichtung eines ökologischen Rates24 2. Strukturänderungen Insgesamt werden punktuelle Veränderungen leichter zu erreichen sein als echte Strukturänderungen im Sinne grundsätzlicher Änderungen tragender verfassungsrechtlicher Bauteile. Solche Strukturänderungen können sich etwa beziehen auf die: – Beseitigung des Schrankenwirrwarrs bei den Grundrechten durch Ausrichtung an einem konsistenten Schrankensystem – Abstimmung zwischen Parteienfreiheit und den Strukturelementen repräsentativer Demokratie – Modifikation und Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch plebiszitäre Elemente – grundsätzliche Reform der Finanzverfassung einschließlich der Schaffung einer Finanzverfassung für nichtsteuerliche Abgaben – grundsätzliche Reform der föderalistischen Kompetenzverteilungselemente im Bundesstaat (z.B. verstärkte Landesgesetzgebungszuständigkeiten für Zuwachs an Verwaltungszuständigkeiten des Bundes) Allerdings scheinen in diesen Bereichen grundsätzliche Verfassungsreformen wegen des Erfordernisses der Zwei-Drittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat derzeit als wenig realistisch. 3. Zukunftsfähigkeit Die Zukunftsfähigkeit der Verfassung hängt maßgeblich davon ab, ob es ihr gelingt, die Lösung von Zukunftsaufgaben des Gemeinwesens verfassungsrechtlich zu ermöglichen. Als solche Zukunftsaufgaben kommen u.a. in Betracht: – – – – – –

Umweltschutz, Klimaschutz Katastrophenprävention Demographische Entwicklung, Generationengerechtigkeit Migrationsbewältigung Beschäftigungssicherung und -vorsorge im Sozialstaat Verteilungsgerechtigkeit auf nationaler und internationaler Ebene

23 BT-Drucks. 12/6000, 100. Nunmehr hat auch der amtierende Bundespräsident Horst Köhler die Diskussion um eine Direktwahl des Bundespräsidenten erneut angestoßen, vgl. beck-aktuell vom 26.5.2009 unter becklink 282380. Pointiert gegen eine Direktwahl Herzog in: Maunz/Dürig (Fn. 22), Art. 54 Rn. 10 ff. 24 Vgl. Kloepfer (Fn. 16), 95 f.

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– (Freiheitsschonende) Regulierung nationaler und internationaler Kommunikation – Gewaltprävention – Verfassungsbewältigung der Internationalisierung und Europäisierung – Schutzmechanismen gegenüber ungehemmten Globalisierungsauswirkungen – Verfassungsbewältigung indirekter Steuerungsformen des Staates. Die Verfassung ist unterschiedlich auf diese Zukunftsaufgaben vorbereitet. Es liegt insgesamt eine differenzierte Zukunftsvorsorge durch die Verfassung vor. Die Bewältigung der künftigen Aufgaben des Umwelt- und Klimaschutzes wird von der Verfassung durch Art. 20a GG und hinreichende Bundesgesetzgebungszuständigkeiten grundsätzlich hinreichend flankiert. Art. 35 Abs. 2, Abs. 3 GG können auch als Kern eines Katastrophenverfassungsrechts begriffen werden.25 Die staatliche Steuerung demographischer Fehlentwicklungen kann schwerwiegende Grundrechtsprobleme aufwerfen, die bislang weitgehend ungeklärt sind. Es bietet sich an, die Verfassung insoweit zu ergänzen. Die politische Bewältigung der Migration (z.B. durch verbesserte Integration des Islams in das deutsche Religionsverfassungsrecht) könnte Modifikationen verfassungsrechtlicher Garantien erforderlich machen. Die Erstellung bzw. Verbesserung der ökonomischen Verteilungsgerechtigkeit wird zwar durch das Sozialstaatsprinzip verfassungsrechtlich ermöglicht, allerdings wäre eine verfassungsrechtliche Richtungsbestimmung insbesondere bei der internationalen ökonomischen Verteilungsgerechtigkeit sinnvoll. Eine wirklich wirksame Regulierung nationaler und internationaler Kommunikation übersteigt u.U. die Möglichkeiten des Art. 5 Abs. 2 GG und wird deshalb eventuell Verfassungsänderungen voraussetzen. Die Steuerungsfähigkeit der Verfassung zur Bewältigung der Internationalisierung und Europäisierung sowie Globalisierungseinwirkungen ist naturgemäß begrenzt. Verfassungsbewältigung indirekter Steuerungsformen des Staates wird insbes. die Zuständigkeits- und Grundrechtsfragen staatlichen Informationshandelns26 zu regeln haben. Die Globalisierung und Europäisierung stellt eine schwerwiegende Herausforderung der Zukunft an die deutsche Verfassung dar. Das Problem dürfte weniger in den einschlägigen Einzelbestimmungen der Verfassung zu völker- und europarechtlichen Fragen liegen. Wichtiger sind die grundsätzlichen Bedeutungsveränderungen, welche die nationale Verfassung hinneh25 Vgl. Sattler Gefahrenabwehr im Katastrophenfall, 2008, 20 ff.; Kloepfer Katastrophenschutzrecht, VerwArch 98 (2007) 163, 172; Musil/Kirchner Katastrophenschutz im föderalen Staat, DV 39 (2006) 373, 378; Trute Katastrophenschutzrecht – Besichtigung eines verdrängten Rechtsgebiets, KritV 2005, 342, 347. 26 Vgl. BVerfGE 105, 252 (268 ff.); 105, 279 (301 ff.); Kloepfer Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 5 Rn. 381 ff.; ders. Informationsrecht, 2002, § 10 Rn. 82 ff.

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men muss, wenn es verfassungsähnliche Strukturen jenseits des Staates geben wird und möglicherweise schon gibt (also auf internationaler, aber vor allem supranationaler Ebene bis hin zu zivilrechtlicher globaler Standardisierung). Die nationale Verfassung kann das allerdings selbst kaum steuern, sondern allenfalls Grenzen für die deutsche Staatsgewalt bei der Übertragung deutscher Hoheitsgewalt oder bei der Errichtung internationaler Strukturen aufzeigen. Der demokratische Wille zur Verfassung als entscheidender Impetus, der allen diesen „Verfassungen“ jenseits des Staates fehlt, lässt sich so freilich nicht herbeizaubern. Ein wie immer geartetes Europäisches „Verfassungsrecht“ der Europäischen Union und die einschlägige Rechtsprechung des EuGH werden die Bedeutung des deutschen Verfassungsrechts relativieren und letztlich auch modifizieren. Dabei darf freilich nicht die konstitutive Verfassungssubstanz des deutschen Verfassungsrechts verlorengehen. Insoweit überzeugt das Bundesverfassungsgericht mit seinen – teilweise zu Recht – viel gescholtenen Lissabon-Urteil.27 Die immer stärkere Integrationsverdichtung in Europa muss aber auch aus Sicht der deutschen Verfassung nicht einseitig defensiv gesehen werden. Die „Konstitutionalisierung“ Europas birgt auch erhebliche Chancen für das deutsche Verfassungsrecht, die deutsche Verfassungsrechtsprechung, und die deutsche Verfassungsrechtswissenschaft, deren Inhalte und Erkenntnisse im Europäischen Recht (z. B. EU-Grundrechtecharta) und in der Europäischen Rechtsprechung nachhaltig Niederschlag finden können oder bereits gefunden haben.

III. Zur Situation der Verfassungsrechtswissenschaft Die deutsche Verfassungsrechtswissenschaft gehört nach wie vor zu den einflussreichsten Teildisziplinen der Rechtswissenschaft.28 Staatsrechtsprofessoren waren Bundespräsidenten, Bundesminister, Landesminister, Staatssekretäre und Bundestags- und Landtagsabgeordnete. Der Präsident, der Vizepräsident und ein Drittel der Richter des Bundesverfassungsgerichts sind Staatsrechtsprofessoren. Darüber hinaus sind viele Professoren des öffentlichen Rechts als Prozessbevollmächtigte oder als Gutachter in vielen Verfahren vor dem Gericht tätig. Für die Landesverfassungsgerichte gilt Entsprechendes. Auch in vielen politischen Konflikten, die in Deutschland 27 BVerfGE 123, 267 ff.; Ruffert An den Grenzen des Integrationsverfassungsrechts, DVBl. 2009, 1197 ff.; Callies Das Ringen des Zweiten Senats mit der Europäischen Union, ZEuS 2009, 559 ff.; siehe auch die Beiträge von Grimm, Jestaedt, Schönberger, Thym und Wahl in: Der Staat 48 (2009). 28 Vgl. Kloepfer Vom Zustand des Verfassungsrechts, JZ 2003, 481, 483; dazu auch die Beiträge von Hillgruber und Volkmann Verfassungsrecht zwischen normativen Anspruch und politischer Wirklichkeit, VVDStRL 67 (2008) 7 ff.; 57 ff.

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häufig zu Verfassungskonflikten werden, sind Staatsrechtslehrer als Gutachter tätig; sie treten in parlamentarischen Anhörungen, in vielen Kommissionen, aber auch in Talkshows etc. auf und füllen manche Spalten in den überregionalen Tageszeitungen. An ihrer praktischen Wirksamkeit gemessen, ist die deutsche Verfassungsrechtswissenschaft also insgesamt recht erfolgreich, insbesondere auch, wenn man die entsprechende Situation im Ausland vergleicht. Die Verfassungsrechtswissenschaft Englands, Frankreichs, der USA oder Japans haben einen ungleich geringeren Einfluss auf die politische und gerichtliche Praxis in ihren Staaten. Freilich ist dieser Einfluss der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft sehr teuer erkauft, nämlich mit dem weitgehenden Verlust des Selbststandes als Wissenschaft. Um praktische Wirksamkeit zu entfalten, opfert sie nicht selten ihren selbstständigen theoretischen Anspruch. Da gerade wichtige Staatsrechtslehrer häufig begehrte Gutachter sind, haben diese nicht ganz selten ihre Begabung vorrangig in Gutachten statt in dicke Bücher investiert. Veröffentlichte Gutachten von Professoren des öffentlichen Rechts sind längst zu einem besonders wichtigen und zeitnahen Instrument der Fortbildung der Verfassungsrechtswissenschaft geworden, obwohl sie nicht selten in ihrer Ausgerichtetheit auf die Interessen der Auftraggeber wie – große und zitatenreiche – Schriftsätze wirken. Diese Interessenorientierung bei der Entfaltung der Verfassungsrechtswissenschaft durch Rechtsgutachten birgt Risiken und Probleme. Ein weiterer Aspekt wiegt noch schwerer, nämlich der weitgehende Verlust der geistigen Selbstständigkeit der Verfassungsrechtslehre gegenüber der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Verfassungsrechtslehre wird rechtssprechungsakzessorisch,29 die wichtigsten „Theorie“-Anstöße im deutschen Verfassungsrecht kommen seit längerem eher aus Karlsruhe (z.B. „Wesentlichkeitstheorie“) als aus den deutschen Staatsrechtslehrstühlen. Längst bestimmt die Verfassungsgerichtsbarkeit mit ihren Entscheidungen und neuen Ideen die staatsrechtliche Diskussion entscheidend. Nicht wenige der verschiedenen Staatsrechtslehrbücher bzw. -lernbücher oder Anleitungen und wahrscheinlich manche Staatsrechtsvorlesungen bzw. „Grundkurse“ an Universitäten sind im Wesentlichen instruktive, aber bisweilen doch recht unkritische Darstellungen der Entscheidungen des Bundesverfassungsge29 Vgl. Schlink Abschied von der Dogmatik – Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, 157, 161 f., der eine US-Amerikanisierung der Verfassungsrechtswissenschaft prognostiziert; hierzu bereits ders. Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989) 161 ff.; optimistischer dagegen etwa Starck Das Grundgesetz nach fünfzig Jahren: bewährt und herausgefordert, JZ 1999, 473, 484 f.; Volkmann (Fn. 28), 71 f.; Hillgruber (Fn. 28), 49 ff. macht darauf aufmerksam, dass die Verfassungsrechtswissenschaft sich in ihrer bloßen „Zuträgerrolle“ in Selbstbescheidung üben muss.

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richts. Solche Bücher und Kurse vermitteln Wissen, aber kaum Einsichten und schärfen nicht die Urteilsfähigkeit junger Juristen. Dieser wissenschaftsferne Ansatz wird freilich durch die so beliebten Repetitorien in Reinkultur zelebriert. Lassen Universitäten solche Lehrveranstaltungen zu, wirken sie materiell wie Fachhochschulen. Von der Akzessorietät der Verfassungsrechtslehre gegenüber der Verfassungsgerichtsbarkeit gibt es allerdings Ausnahmen. Zu denken ist vor allem an die stärker theoretisch arbeitenden Verfassungsrechtler (z.B. Alexy, Häberle), die dafür allerdings nicht vergleichbare praktische Wirksamkeit entfalten (und entfalten wollen) wie ihre stärker an der Verfassungsrechtsprechung und der Fallbegleitung orientierten Kollegen. Möglicherweise wird die Verfassungsrechtswissenschaft einen Teil ihres geistigen Selbststandes dadurch zurückgewinnen können, dass sie ihre fachlichen Grenzen überschreitet, z.B. durch stärkere Einbeziehung der historischen und philosophischen Grundlagen des Staatsrechts, durch rechtsvergleichende und insbesondere durch interdisziplinäre Ansätze, also durch Herangehensweisen, die regelmäßig nicht denen der Verfassungsgerichte entsprechen. Vielleicht wird auch die stärkere Theoretisierung der deutschen Verfassungsrechtslehre dieser ihre Unverwechselbarkeit erhalten und so auch wieder verstärkten Anschluss an die verfassungsrechtliche Diskussion im Ausland gewinnen. Die derzeit häufig betriebene, im Wesentlichen eher theorieskeptische Neuordnung der Juristenausbildung erleichtert diesen Weg allerdings nicht. Freilich darf die Öffnung des Verfassungsrechts zu den Sozialwissenschaften nicht bis zur Ununterscheidbarkeit getrieben werden. Es wäre falsch, wenn die Verfassungsrechtswissenschaft durch eine Öffnung zu den Sozialwissenschaften zwar ihre Selbstständigkeit gegenüber der Verfassungsjudikatur gewönne, aber dafür als Steuerungswissenschaft der sozialwissenschaftlichen Laien enden würde. Die Beherrschung des sozialwissenschaftlichen „Jargons“ durch Verfassungsrechtler macht diese weder zu Sozialwissenschaftlern oder auch nur zu „neuen“ Rechtswissenschaftlern. Gegenüber der Sozialwissenschaft muss auch eine zum interdisziplinären Dialog bereite Verfassungsrechtswissenschaft ihren Selbststand behaupten. Die Steuerung durch Recht ist einzigartig und gegenüber anderen Steuerungsformen unverwechselbar. Die folgenreiche Normativität und klare Begrifflichkeit setzt die Verfassungsrechtswissenschaft deutlich von den Sozialwissenschaften ab. Im akademischen Bereich ist die Verfassungsrechtswissenschaft ständig gewachsen und stellt heute einen wichtigen Teil der Pflichtfachausbildung im juristischen Studium dar. Hiermit, aber vor allem mit dem enormen Wachstum der Studierendenzahlen und der hohen Zahl von Universitätsgründungen in den sechziger und siebziger Jahren, hängt ein stetiges Ansteigen der Zahl der Staatsrechtslehrer zusammen. Dabei ist die Pyramide der Professorenschaft breiter, nicht aber höher geworden, auch wenn es

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die Spitze natürlich immer noch gibt. Überdies ist offenkundig, dass es immer schwieriger wird, die Jahrgangsbesten für die akademische rechtswissenschaftliche Laufbahn zu interessieren. Beim Werben um hochbegabte Jungjuristen wird es für die Juristischen Fakultäten immer schwerer, in der Konkurrenz vor allem mit den großen, auch international tätigen Anwaltskanzleien bestehen zu können. Aber hin und wieder gelingt dies dann doch. Die deutsche Verfassungsrechtswissenschaft genießt noch immer in weiten Teilen der Welt (insbes. Europa, Asien, Südamerika) erhebliche Wertschätzung, wobei diese Entwicklung durch die internationale Wahrnehmung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stark befördert wird. Das sollte die deutsche Verfassungsrechtswissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit zu mehr verfassungsvergleichenden Argumentationen ermutigen.

IV. Zukunftsaussichten des Verfassungsrechts 1. Verfassungszukunft Jedenfalls kurz- und mittelfristig scheinen die Aussichten für die Verfassung in Deutschland günstig. Das Verfassungsrecht und die Verfassungsgerichtsbarkeit haben sich zu einem unverzichtbaren Bestandteil des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland entwickelt. Dieses System und seine Verfassung haben sich in der Vergangenheit auch in schwierigen Lagen bewährt. Warum sollte dies in Zukunft anders werden? Es bleibt allerdings zu bedenken, dass die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Geschichte glücklicherweise wirklich existentielle Krisen bisher nicht zu bewältigen hatte. Ob und wie sich Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit in einer solchen Situation schwerer Not bewähren werden, lässt sich derzeit nicht mit hinreichender Sicherheit sagen.30 Immerhin ist etwa die gesamte Notstands- und Verteidigungsverfassung der (taugliche?) Versuch, sich dem Satz entgegenzustellen, der da lautet: Not kennt kein (Verfassungs)Gebot. Allerdings fällt in den letzten Jahren zunehmend auf, dass die Versuchung für die Politik zu wachsen scheint, sich „lästiger“ Verfassungs- bzw. Rechtsbindungen zu entledigen und etwa verfassungsrechtliche oder EU-rechtliche Verschuldungsgrenzen – teilweise mit verhaltener Zustimmung der Bevölkerung – zu missachten, um aus den vorhandenen tatsächlichen Schwierigkeiten herauszukommen. Erkennbar steigt die Bereitschaft der politischen Führung in Deutschland, die Belastbarkeit der Verfassung auszutesten, wie 30 Nachdenkenswert dazu Lerche „Bewährung“ des Grundgesetzes?, FS Herzog, 2009, 265 ff.

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etwa das Gesetzgebungsverfahren zum Zuwanderungsgesetz31 gezeigt hat. Dies kann nur zu leicht dazu führen, dass der Verfassungsbruch zum politischen Kalkül wird.32 Allerdings ist dies in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gewiss nicht neu, wie etwa das Beispiel der Gründung der Deutschland-Fernsehen-Gesellschaft unter Adenauer zeigt. Solange es der Verfassungsgerichtsbarkeit gelingt, solche in Kauf genommenen Verfassungsbrüche wirksam zurückzuweisen, wird der Erfolg des Verfassungsrechts in der Verfassungsgerichtsbarkeit anhalten. 2. Verfassungsüberforderung Dabei sollte allerdings vor einer dauerhaften Überforderung durch Überhöhung der Verfassung gewarnt werden. Die Verfassung ist weder ein Ersatzvaterland („Verfassungspatriotismus“) noch ein Weltanschauungsersatz. a) „Verfassungspatriotismus“ Der „Verfassungspatriotismus“ ist der Versuch vor allem von Journalisten und Sozialwissenschaftlern (Sternberger, Habermas), die Idee des Patriotismus auf den Kerninhalt einer Verfassung bzw. einer hierauf gegründeten politischen Ordnung, d.h. den freiheitlichen Verfassungsstaat, zu richten.33 Dies schien den Vätern dieser Idee schon deshalb erforderlich, weil sie in Zeiten der deutschen Teilung das „Vaterland“ als abhanden gekommen ansahen bzw. weil sie angesichts des NS-Unrechts eine Wiederbelebung des alten Gedankens der Vaterlandsliebe für politisch undenkbar hielten. Allerdings hätte ein solcher Verfassungspatriotismus mit dem klassischen Patriotismus nur wenig gemein. Der Patriotismus beschreibt ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit einer Nation, mit ihren Menschen, ihrer Kultur, ihren Landschaften, baut also auf vielfältige insbesondere auch sinnliche Erfahrungen, die mit einer Rechtsnorm eben nicht zu machen sind. Der Verfassungspatriotismus ist eher eine eindimensionale Kopfgeburt; Verfassungspatriotismus ist kein Patriotismus, aber kann natürlich respektabel sein. Immerhin ergibt sich mit der Ausweitung auf einen Europäischen Verfassungspatriotismus (Habermas)34 ein Denkansatz für eine „Verfassung jen31

Vgl. BVerfGE 106, 310 ff. Vgl. auch Kloepfer Verfassungsverstöße und Öffentliche Meinung, in: Scholz u.a. Realitätsprägung durch Verfassungsrecht, 2008, 55, 67. 33 Grdl. Sternberger Verfassungspatriotismus, FAZ vom 23.5.1979, wieder abgedruckt in: ders. Verfassungspatriotismus, Schriften Band X, 1990, 13, 24. Später dann Habermas Geschichtsbewusstsein und posttraditionale Identität – Zur Westorientierung der Bundesrepublik, in: ders. Eine Art Schadensabwicklung, 1987, 159 ff. 34 Siehe etwa Habermas Braucht Europa eine Verfassung?, in: ders. Die Einbeziehung des Anderen – Studien zur politischen Theorie, 1997, 185, 191. 32

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seits des Staates“, wie es für etwaige Verfassungsüberlegungen in der EU verfolgt worden ist.35 b) Verfassung als Weltanschauungsersatz In einer säkularisierten, multikulturellen und zunehmend hedonistischen Gesellschaft mit der Auflösung und Atomisierung allgemeiner Sitten- und Moralvorstellungen gibt es nach wie vor ein immanentes Bedürfnis nach allgemeinverbindlichen Werten. Wo Religion, Sitte oder gesellschaftliche Übungen, Moral allgemeine Standards nicht mehr gewährleisten, tritt eine empfindliche Lücke der wertvermittelten Stiftung von Gemeinschaft auf. In diese Lücke wird in Deutschland zunehmend die Verfassung platziert, die mit ihrem Gottesbezug und vor allem ihrer Mixtur aus religiös, moralisch, naturrechtlich oder aus gesellschaftlicher Übung abgeleiteten Grundnormen und Grundwerten und mit ihrer dezidierten Absage an ein vergangenes Reich des Bösen – nämlich das NS-Reich – hierfür auch relativ gut geeignet erscheint. Auch wenn dies möglicherweise eine Überspitzung sein mag, im Grundgesetz einen Religions- und Weltanschauungsersatz zu sehen, so ist doch die demokratische Wertegenerierung durch Verfassungsrecht und Verfassungsvollzug ein wesentlicher Integrationsfaktor in einer zunehmend auseinanderdriftenden Gesellschaft wie der deutschen. Dies alles erklärt mehr als anderes die besondere Bedeutung verfassungsrechtlicher Argumente in der politischen Debatte in Deutschland. Damit ist freilich unverkennbar auch das Risiko der inhaltlichen Überforderung durch Überhöhung des Grundgesetzes verbunden, das eben aufgrund seiner weltanschaulichen Offenheit nicht zum Religionsersatz im Sinne einer einzig richtigen Wertentscheidung taugt.36 Vor allem aber wächst mit der Sicht der Verfassung auch als Religions- und Weltanschauungsersatz die oft beschriebene Gefahr, alle politischen Probleme Deutschlands mit ethischen Aspekten zu Verfassungsfragen werden zu lassen und sie dem Bundesverfassungsgericht zur letztverbindlichen Entscheidung zu überlassen. Das würde nicht nur die Verfassung auf Dauer überfordern, sondern letztlich eine risikoreiche Entpolitisierung und Entdemokratisierung des politischen Gemeinwesens befördern.

35 Näher von Bogdandy Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, VVDStRL 62 (2003) 156, 171; Kaufmann Verfassungspatriotismus, substantielle Gleichheit und Demokratieprinzip im europäischen Staatenverbund, ARSP, Beiheft 66 (1997) 40 ff. 36 Vgl. auch Häberle Der Sinn von Verfassungen in kulturwissenschaftlicher Sicht, AöR 131 (2006) 621, 640 f.

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Die Zukunft des Verwaltungsrechts Die Zukunft des Verwaltungsrechts Ulrich Battis

Die Zukunft des Verwaltungsrechts ULRICH BATTIS

I. II. III. IV. V.

Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . Gegenwärtige Lage . . . . . . . . . . . . . . Künftige Binnenentwicklung . . . . . . . Externe Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . Entfaltung des demokratischen Prinzips

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I. Grundannahmen Aus Implementations- und Evaluationsforschung ist bekannt, dass Prognosen, die staatlichem Handeln zugrunde liegen, Entwicklungen aus der Vergangenheit übergewichten und als künftige Trends fortschreiben. Dieser Fehler ist auch Aussagen zur Zukunft des deutschen Verwaltungsrechts eigen. Hinzu kommt, dass noch riskanter als Prognosen darüber, was voraussichtlich sein wird, Prognosen dazu sind, was – wie beim Verwaltungsrecht – sein soll.1 Mit dem Entschluss, einen Beitrag zum vorgegebenen Thema zu verfassen, ist der Rekurs auf den bekannten Kalauer ausgeschlossen, grundsätzlich keine Prognosen zu machen und schon gar nicht über die Zukunft. Die Zukunft des deutschen Verwaltungsrechts wird maßgeblich bestimmt durch die Zukunft der deutschen öffentlichen Verwaltung.2 Als „arbeitender Staat“ (L. von Stein) kann die deutsche öffentliche Verwaltung nur dann fortbestehen, wenn die Bundesrepublik Deutschland als Staat eine Zukunft hat. Das wäre höchst zweifelhaft, wenn völlig spekulative Katastrophenszenarien wie die von J. Attali in „Die Welt von morgen – eine kleine Geschichte der Zukunft“3 oder der in „Räderwerk der Freiheit“4 beschworene Anarchokapitalismus von David Friedman (Rechtsprofessor an der Santa Clara Universität (CA) und Sohn von Milton Friedman) die Zukunft be1 Von Beyme in: Trute u.a. Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, 3, 11. 2 Zum Verhältnis von Verwaltung und Verwaltungsrecht, Roellecke DV 1996, 1, der die Verwaltung auf das Management reduziert und den Betrieb eliminiert. 3 Attali Die Welt von morgen – eine kleine Geschichte der Zukunft, 2008. 4 Friedman Räderwerk der Freiheit, 2003.

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stimmten. Nicht erst seit der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahre 2008/2009 ist jedoch weder das eine noch das andere zu erwarten. Die Wirkkraft der Vorschläge M. Friedmans oder von Hayeks zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft hat seitdem gelitten. Zur Zeit der Manuskripterstellung (Januar 2009) ist der R. Reagan zugeschriebene, von der Montpelerin-Gesellschaft geprägte Satz „Der Staat ist nicht die Lösung, der Staat ist das Problem!“ nicht mehr das Mantra für die Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft, auch wenn zunächst jäh verstummte Ökonomen inzwischen wieder als Hauptursache der Krise Staatsversagen ausgemacht haben.5 Auch mit Inbrunst betriebene akademische Scharmützel wie der Berlin-Bremer-Bilderstreit um den „Zerfasernden Staat“6 und um „Schupperts Gewährleistungsstaat“7 erscheinen nicht sehr wirklichkeitsadäquat. Die alte Bundesrepublik Deutschland, von fremden Mächten von Anbeginn an besetzt und in den 50er Jahren in inter- und supranationale Organisationen eingepasst, taugt wirklich nicht als Gegenbild zum zerfasernden Nationalstaat, nämlich dem „geschlossenen Nationalstaat“ des goldenen Zeitalters der drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Das dem Gewährleistungsstaat programmatisch entgegen gesetzte Bild eines Staates, „der nicht mehr alles allein bewirkt und eigenhändig erfüllt“,8 entspricht weder dem Verfassungsrecht noch der Verwaltungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland, ja nicht einmal der DDR, vom monarchischen Deutschland mit seinen wenigen Verwaltungsbediensteten ganz zu schweigen. Das Handeln der Regierungen und der Parlamente in Großbritannien oder in Deutschland während der Finanzkrise im Jahre 2008/2009 wird nicht annähernd erfasst, wenn im Zuge der „dahinschwindenden Unterscheidbarkeit von Steuerungssubjekt und Steuerungsobjekt“9 dem Staat nicht einmal die Rolle eines gestaltenden Akteurs in öffentlichen und privaten Netzwerkstrukturen zugestanden wird, ja nicht einmal mehr eine Reservefunktion.10 Im Folgenden wird weiterhin angenommen, dass Deutschland Mitglied der EU bleiben wird, wie auch immer diese sich im Einzelnen entwickeln wird im Hinblick auf Vertiefung und/oder Vergrößerung, also tendenziell entweder als eine immer enger werdende Europäische Union oder als eine Freihandelszone von Nationalstaaten. In jedem Fall dürfte es ein Europa 5

Z.B. Kirchner, FAZ v. 27.3.2009, S. 14; J. B. Tayler, Getting off Track, 2009. Hurrelman/Leitfried u.a. (Hrsg.) Zerfasert der Nationalstaat?, 2008; Leitfried/Zürn (Hrsg.) Transformation des Staates?, 2006; dazu krit. Schuppert Der Staat 2008, 325. 7 Dazu Genschel/Leitfried Der Staat 2008, 359. 8 So Franzius VerwArch 2008, 351; realistischer ders. Gewährleistung im Recht, 2009, 364. 9 So Schuppert AöR 2008, 79, 101; dazu kritisch: Pitschas VVDStRL 67 (2008) 342. 10 So Franzius Gewährleistung (Fn. 8), 378. 6

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verschiedener Geschwindigkeiten, getragen von Staaten und nicht von Regionen, weiterhin geben. Deutschland dürfte wie bisher zu den Mitgliedsstaaten zählen, die am intensivsten in die unterschiedlichen europäischen Regelwerke eingebunden sind. Zugrunde gelegt wird also das Konzept offener Staatlichkeit, wie es sich sukzessiv entwickelt hat und fortentwickelt, das z.B. auch das Handbuch Ius Publicum Europaeum prägt.11 Schließlich wird angenommen, dass Deutschlands offene Staatlichkeit in internationale Regelwerke wie die WTO eingebunden bleiben wird. Gemäß dem liberal-rechtstaatlichen Modell, wie es zuerst in den ehemals westlichen Staaten entstanden ist, wird von der Existenz einer der Marktwirtschaft komplementären staatlichen Verwaltung ausgegangen. Allerdings muss im internationalen Vergleich offen bleiben, ob diese rechtsstaatliche Verwaltung in demokratische Strukturen eingepasst ist oder ob sie wie in wirtschaftlich erfolgreichen Staaten wie Singapur, Vereinigte Arabische Emirate oder auch China im zwar marktkonformen, aber autoritären Rechtsstaat verharrt. Eine solche Regression ist für Deutschland allerdings nicht anzunehmen, trotz des überaus erfolgreichen Gegenmodells, das aufgeklärte Bürokraten in Kooperation mit bürgerlichem Kapital im neunzehnten Jahrhundert in Preußen und zuvor schon in Süddeutschland aufgebaut haben. Als nicht eben überraschende Ausgangsthese soll gelten, dass der Wandel der bisherigen unilateralen Weltordnung zu einer multilateralen den Modernisierungsdruck auf das deutsche Verwaltungsrecht verstärken wird, um im Wettbewerb der Rechtsordnungen und nicht nur an deren Schnittstellen bestehen zu können.

II. Gegenwärtige Lage Trotz des eingangs gemachten Vorbehalts zur Fehlerhaftigkeit von Prognosen, ist die Aufgabe bezüglich des deutschen Verwaltungsrechts einfacher als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. In jüngerer Zeit sind nämlich mehrere prinzipiell angelegte Analysen der Entwicklung des öffentlichen Rechts und insbesondere des Verwaltungsrechts veröffentlicht worden, deren Befunde trotz unterschiedlicher Akzente im Detail, im Grundsätzlichen weitgehend übereinstimmen. Verwiesen sei auf die mit dem Erlass des Grundgesetzes einsetzenden Untersuchungen von Wahl,12 Stolleis,13 11 Siehe von Bogdandy u.a. (Hrsg.) Handbuch Ius Publicum Europaeum – Offene Staatlichkeit, Band II, 2008, III (i.E.). 12 Wahl Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006; dazu Schuppert (Fn. 9), 79. 13 Stolleis in: Hoffmann-Riem u.a. (Hrsg.) Grundlagen des Verwaltungsrechts I, § 2.

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Schoch,14 von R. Schmidt15 und die 150 Jahre behandelnde Monografie von R. Schröder.16 Durchweg werden zwei Phasen des Öffentlichen Rechts unter dem Grundgesetz unterschieden:17 die in den frühen 50er Jahren einsetzende Konstitutionalisierung und die spätestens seit der Costa-Entscheidung des EuGH von 196418 offenkundige Europäisierung und damit einhergehende Internationalisierung. Die vielfach analysierte Konstitutionalisierung19 hat zu einer im internationalen Vergleich einzigartigen Subjektivierung des Verwaltungsrechts geführt,20 gespeist aus einem gelegentlich als Instanzenseligkeit (K. Zeidler) monierten Ausbau der Rechtschutzgarantie des Art. 19 IV GG. Versuche des Gesetzgebers, dem durch Beschleunigungs- und VwGO-Änderungsgesetze entgegenzuwirken, haben den Trend nicht brechen können. Symptomatisch die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts21 zum Recht auf Abwägung, dessen Erfindung die gesetzlich angehobenen Anforderungen an die Antragsbefugnis gemäß § 47 II 1 VwGO konterkarierte. Angesichts der Verbrechen der NS-Zeit ist der deutsche Sonderweg beim Rechtsschutz durchaus verständlich. Es überzeugt meines Erachtens auch nicht, wenn die bekannte Formulierung von F. Werner, „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“, kritisiert wird.22 Den unvermittelten Rückgriff auf Grundrechte, z. B. auf den Bestandsschutz aus Art. 14 GG, haben die Verwaltungsgerichte nach dem Nassauskiesungsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts23 aufgegeben. Die nicht ausgestandenen Kontroversen um die Rechtsgrundlagen und Grenzen staatlicher Warnungen24 oder um die Grenzen der Versammlungsfreiheit bei rechtsextremistischen Demonstrationen25 zeigen, dass der Prozess der Konstitutionalisierung keineswegs abgeschlossen ist. Der erste Präsident der europäischen Kommission, vormals Zivilrechtler an unserer Fakultät, Walter Hallstein, hat stets betont, dass die Europäische

14 Schoch DV 2007, Beiheft 7, 175, der im Unterschied zum Verfassungsrecht die Dominanz der Gerichtsbarkeit, insbesondere des BVerfG, zu Recht bezweifelt. 15 R. Schmidt VerwArch 2000, 149; s. a. Kahl, DV 2009, 463. 16 Schröder Verwaltungsrechtliche Dogmatik im Wandel, 2007. 17 Wahl (Fn. 12), 294. 18 RS 6/64 Slg. 1964, 1254/1269. 19 Siehe auch Stolleis in: Simon Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, 227; Schuppert/Bumke Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000; Schönberger in: Stolleis (Hrsg.) Das Bonner Grundgesetz, 2006, 53. 20 T. Schmidt Die Subjektivierung des Verwaltungsrechts, 2006. 21 BVerwG NJW 1999, 592. 22 So aber Möllers in: Hoffmann-Riem u.a. (Fn. 13), § 3 Rn 13. 23 BVerfGE 58, 300. 24 BVerfGE 105, 279, 252; dazu Schröder (Fn. 16), 315 ff. 25 BVerwG NJW, 2009, 98; dazu Enders JZ 2008, 1092.

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Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft konzipiert ist.26 Der Prozess der Europäisierung des Verwaltungsrechts27 kann daher nicht abgeschlossen sein. In den einzelnen Fachgebieten des Verwaltungsrechts ist dieser Prozess unterschiedlich weit gediehen, in der Bundesgesetzgebung von etwa 80% im Umweltrecht, bis zu 0% bei Forschung und Bildung.28 Strukturell hat die Europäisierung die Ökologisierung des deutschen Verwaltungsrechts bewirkt und die Entwicklung eines um den Risikobegriff kreisenden besonderen Technikrechts gefördert.29 Diese Entwicklung war in einer als europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründeten Rechtsgemeinschaft, die auf die Entfaltung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten gerichtet ist, nicht selbstverständlich. So sind denn auch die Nachhaltigkeits-, Verbraucherschutz-, Gesundheitsschutz- und Antidiskriminierungspolitik erst sukzessive zur genuinen Wirtschaftspolitik hinzugekommen. Wie komplex, um nicht zu sagen widersprüchlich, die Ziele der EUPolitiken sind, zeigt sich daran, dass von Anbeginn an eine gerade nicht dem Wettbewerb verpflichtete Agrar- und Fischereipolitik betrieben worden ist, der sich eine interventionistische Industriepolitik zugesellt hat. Das primäre Gemeinschaftsrecht ist zudem insbesondere in der Wirtschaft, aber auch in der Umweltpolitik, wie etwa der Rio-Konferenz oder der ArhusKonvention, stetigem Anpassungsdruck an das internationale Recht ausgesetzt.30 Sowohl aus dem internationalen Recht, z.B. der OECD, aber auch vor allem aus dem Europarecht speist sich der Prozess der Privatisierung, der durchaus nicht nur von einer Deregulierung und Flexibilisierung31 begleitet wird, sondern vielfach zu neuen Regulierungen führt. Nachdem das Verwaltungsrecht über ein Jahrhundert lang stetig gewachsen ist und das Privatrecht überlagert hat, z.B. Einengung des zivilrechtlichen Eigentumsbegriffs (§ 903 BGB) durch Umweltvorschriften, haben Bund, Länder und Kommunen insbesondere Dienstleistungsverwaltungen wie Post, Telekom, Bahn, aber auch Flugsicherung, Immobilienbewirtschaftung, Klinika, Krankenhäuser, Datenverarbeitungsanlagen, Schlachthöfe, Bäder etc. formell und überwiegend auch materiell privatisiert. Auch dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen, wie die politische Auseinandersetzung auf europäischer und

26

Dazu Mayer in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.) Europawissenschaft, 2005, 249. Zuleeg VVDStRL 54 (1994) 154; Schmidt-Aßmann in: FS Lerche 1993, 513; Wahl in: Trute u.a. (Fn. 1), 869; zum derzeitigen Stand: Schulze/Zuleeg (Hrsg.) Europarecht – Handbuch für die deutsche Praxis, 2006; Schwarze (Hrsg.) Bestand und Perspektiven des Europäischen Verwaltungsrechts, 2008; von Danwitz Europäisches Verwaltungsrecht, 2008. 28 Töller ZfP 2008, 3; Yoho, integration 2009, 398. 29 Wahl (Fn. 12), 70. 30 Dazu zum Umweltrecht Kloepfer Umweltrecht3, 2004, § 9. 31 Dazu Kloepfer in: Appel/Hermes (Hrsg.) Mensch, Staat, Umwelt, 2008. 27

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nationaler Ebene um die weitere Entwicklung der kommunalen Daseinsvorsorge belegt.32 Parallel zur Privatisierung und aus denselben wirtschaftspolitischen Vorstellungen abgeleitet ist vorwiegend unter angloamerikanischem (USA, UK, Australien, Neuseeland), aber auch niederländischem, schweizerischem, österreichischem und skandinavischem Einfluss, der Prozess der Ökonomisierung der öffentlichen Verwaltung, insbesondere bei Organisation und Personal, fortgeschritten.33 Bekanntestes Beispiel ist die Implementation des Neuen Steuerungsmodells insbesondere in den Kommunen. Eine Zwischenbilanz „10 Jahre Neues Steuerungsmodell“34 zeigt, dass die hohen Erwartungen an die Steigerung von Effizienz, Effektivität und OutputOutcome-Orientierung sich nicht annähernd erfüllt haben, dass zwar Wirtschaftlichkeit ein wesentlicher Verwaltungsstandard bleiben muss, dass aber überkommene verfassungsrechtliche Vorgaben wie die Gemeinwohlverpflichtung und die Gewaltenteilung, aber auch die Grundrechte wieder an Bedeutung gewinnen, z.B. in der Schweiz.35 Ungebrochen ist hingegen der Einfluss ökonomischer Modellbildungen und Maßstäbe im Wirtschaftsrecht insbesondere im Regulierungsrecht.36 Ebenfalls in vollem Wachstum begriffen ist die Internationalisierung des Verwaltungsrechts.37 Dieser Prozess speist sich aus dem Europarecht,38 vor allem aber aus dem internationalen Recht, wobei noch strittig ist, ob es sich um ein im Völkerrecht begründetes Verwaltungsrecht handelt39 oder ob man das Recht Internationaler Verwaltung begrifflich vom Recht internationalisierter Verwaltung zu unterscheiden hat.40 Bisher war vom Verwaltungsrecht die Rede, also dem Medium, das die Verwaltung neben anderen, z.B. Geld und sonstigen Anreizen, vielfach nur rahmensetzend zur Verwirklichung ihrer Aufgaben verwendet. Die Verwaltungsaufgaben wiederum sind dem Verwaltungsrecht vorgelagert und werden insbesondere von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung, Klima, von Politik und Verfassung, Völker- und Europarecht vorgegeben.41 Der Wandel der Verwaltungsaufgaben führt zum Wandel der Verwaltung, 32 Zuletzt Franzius Gewährleistung (Fn. 8), 364; siehe auch Schoch Jura 2008, 672; Kämmerer DVBl 2008, 1005. 33 Dazu Battis Der Moderne Staat, 2009, 93, 97. 34 Siehe Bogumil u.a. 10 Jahre Neues Steuerungsmodell, 2007; dazu Schliesky LKV 2008, 457; Wallerath DV 2008, 456. 35 Lienhard Der Moderne Staat, 2008, 83. 36 Spoerr in: Voßkuhle u.a. (Hrsg.) Allgemeines Verwaltungsrecht, 613. 37 Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.) Internationales Verwaltungsrecht, 2007; Classen/ Biaggini VVDStRL 67 (2008) 65 und 413. 38 Siehe Mager in: Voßkuhle u.a. (Fn. 36), 369. 39 So Schmidt-Aßmann, Der Staat 2006, 315. 40 So von Bogdandy in: Trute u.a. (Fn. 1), 683. 41 Siehe auch Schuppert (Fn. 9), 86; zu Wahl (Fn. 12), 44 Fn. 111.

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insbesondere ihrer Organisation, aber auch des Verwaltungsrechts insgesamt. Diese Veränderungen zu analysieren, systematisch zu verarbeiten, ist Aufgabe verwaltungsrechtswissenschaftlicher Dogmatik.42 Deren Resultate wiederum wirken qua Rechtsprechung und auch wegen der spezifischen Politiknähe der verwaltungsrechtsbetreibenden Staatsrechtslehre43 qua Beratung der Gesetzgebung, aber auch der Verwaltung selbst auf die Praxis der rechtsanwendenden Verwaltung zurück. Das ist alles nicht neu, sei aber festgehalten, da in jüngster Zeit, in erster Linie wohl als Folge der raschen Veränderung der Verwaltungsaufgaben und der Verwaltungsorganisation sowie des Verwaltungsrechts, die Verwaltungsrechtswissenschaft mit großem Aufwand eine Überfülle an Veröffentlichungen zu ihrem Selbstverständnis, ihrer Dogmatik, ihrer Methoden und des Verhältnisses von Verwaltungswissenschaft zu Verwaltungstheorie mit deutscher Gründlichkeit reflektiert.44 Genannt seien das sehr verdienstvolle Forschungsprojekt „Reform des Verwaltungsrechts“ (1991–2003) und die daraus hervorgegangene Schriftenreihe (1993–2004), betreut von HoffmannRiem, Schmidt-Aßmann und Schuppert, das unter dem Obertitel „Staatsrechtslehre als Wissenschaft“ veröffentlichte Beiheft 7 der Zeitschrift Die Verwaltung (DV),45 partiell auch die uneigentliche Festschrift für SchmidtAßmann (Trute u.a. [Fn. 1]); uneingeschränkt hingegen das Sonderheft 2, DV, zum 60. Geburtstag Schmidt-Aßmanns (1999), vor allem aber die programmatisch benannte „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“46 sowie ergänzend die Referate von Appel und Eifert „Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch“.47 Die Inszenierung als „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“, die durch die prätentiöse „Großschreibung den Anspruch auf die Verkörperung einer Epoche ankündigt“,48 kann als Geschmacksfrage abgetan werden. Schwerwiegender ist die geradezu naive Hinwendung von der anwendungsbezoge-

42 Siehe Baer in: Hoffmann-Riem u.a. (Fn. 13), § 11 Rn. 47; zum Verhältnis von Verwaltungsrechtswissenschaft und Rechtswissenschaftstheorie Möllers in: Jestaedt/Lepsius Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 151; eigenwillig aber anregend zum Verhältnis von Rechtsdogmatik und Rechtstheorie Pöcker Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007. 43 Schulze-Fielitz DV 2007, Beiheft 7, 11, 27. 44 Siehe nur Möllers VerwArch 2002, 22 mit anregenden Verdikten gegen geschichtspessimistische Konstrukte; ernüchternd, aber m.E. zu pessimistisch im Hinblick auf das Europarecht Breuer DV 2003, 271; abgewogen und Theorieüberschuss vermeidend R. Schmidt (Fn. 15), 168. 45 Darin u.a. Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre (Schoch [Fn. 14]), Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungslehre (Oebbecke). 46 Voßkuhle in: Hoffmann-Riem u.a. (Fn. 13), § 1 Rn. 16, und Hoffmann-Riem Grundlagen des Verwaltungsrechts II, 2008. 47 Appel und Eifert VVDStRL 67 (2008) 226 u. 286. 48 So Wahl (Fn. 12), 89.

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nen gerichtsorientierten Interpretationswissenschaft zur rechtssetzungsorientierten Steuerungswissenschaft.49 Das Festhalten an der Steuerungswissenschaft, von der sich die Sozialwissenschaften längst verabschiedet haben, verwundert. Erinnert sei an die Schlüsselrolle, die diese Disziplin als Kybernetik seit den 70er Jahren z.B. in der DDR spielen sollte.50 Prinzipieller, und z.B. von Eifert durchaus erkannt,51 ist der Einwand, dass die Grenzen von rechtswissenschaftlicher Dogmatik und Sozialwissenschaften verschwimmen, was z.B. bei Schupperts Fortentwicklung des Steuerungsbegriffs zur Governance nicht vermieden wird.52 Dass sich Juristen, und zwar vor allem Rechtsanwälte, Verbandsvertreter und auch Staatsrechtslehrer, am Rechtssetzungsprozess seit jeher beteiligen, ist angesichts der traditionsreichen Tätigkeit des Deutschen Juristentages oder der Jahrhunderte alten Gutachtentätigkeit der juristischen Fakultäten nun wirklich nichts Neues. Zu Recht verweist C. Möllers darauf, dass gerade das öffentliche Recht von den Anfängen hoheitlicher Organisiertheit institutionelle Kenntnisse vermittelt hat, dass das öffentliche Recht vielleicht wissenschaftlich immer dann am stärksten ist, wenn es seine „interne methodische Reflexion auch konkret in einer politischen Ordnung positioniert“.53 Schließlich sollte bedacht werden, dass der im internationalen Vergleich eher hohe Einfluss der deutschen Rechtswissenschaft auf die Gerichtsbarkeit zu verteidigen, denn zu minimieren ist. Ein Verwaltungsjurist, der sich nur als auslegender Rechtsanwender gerierte, verkäme sehr schnell im Rechtsamt als Verwalter der Prozessakten. Zugespitzt formuliert: Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft begrenzt die Rechtsdogmatik auf die Rechtsauslegung, um sich selbst die Rechtserzeugung zu überantworten.54 In der Sache ist Letzteres jedoch nichts anderes als das, was die von Juristen betriebene Verwaltungsrechtswissenschaft (vulgo Verwaltungslehre) als Kerngeschäft seit jeher betrieben hat.55 Ein Beispiel für die sehr selektive Ausrichtung der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft ist die Verengung des Regulierungsrechts auf Netzwirtschaften als Folge von Privatisierungen.56 49

Zur Kritik des Von-zu-Schemas siehe Möllers (Fn. 44), 27 Fn. 38. Hagner in: Hagner/Hörl (Hrsg.) Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft, 2008; siehe auch Lepsius VVDStRL 67 (2008) 349, 350; politisch unkorrekt aber treffend Schuppert VVDStRL 67 (2008) 336; ders. (Fn. 9), 97; Gegenposition: Engi DSt 2008, 573. 51 Eifert (Fn. 47), 312; ebenso Engel, in: Engel/Schön (Hrsg.) Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007; siehe auch Möllers (Fn. 44), 38. 52 Schuppert DV 2007, 463, 510. 53 Möllers (Fn. 42), 151, 169, 172. 54 Siehe auch Jestaedt VVDStRL 67 (2008) 352, 353; Kahl (Fn 15), S. 499. 55 Siehe Battis DV 1975, 413; Gebauer in: FS Böhret 1998, 575; Schuppert VerwWiss 2000, 43; siehe auch König Moderne öffentliche Verwaltung, 2008, 97. 56 Burgi Grundlagen des Verwaltungsrechts, § 18 Rn. 79; Stober Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht16, 2008, § 29 I 2; Ziekow Öffentliches Wirtschaftrecht, 2007, 231, 50

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St. Breyers grundlegende Monographie57 geht noch von der Kontrolle von Monopolen aus und zurück bis zur Interstate Commerce Commission von 1887. Bezeichnend ist denn auch, dass die nationale und internationale Kapitalmarktregulierung ungeachtet der sonst betonten Globalisierung nicht thematisiert wird.58 Stattdessen plustern sich überflüssige neue Konstruktionen auf, wie die neu konzipierte Maßstabslehre mit so gestelzten Maßstäben wie der „Risikogovernance als Maßstabsarrangement einer strukturierten Verwaltungspartnerschaft“59. Lakonisch stellt Fehling fest:60 „Fragt man nach dem rechtsdogmatischen Ertrag der Maßstabslehre, scheint die Bilanz ernüchternd auszufallen.“ Noch kritischer ist Schoch, der zutreffend den Begriff „Maßstab“ durch den des „Standard“ ersetzt.61 Auch wenn Voßkuhles Ausführungen zum Schlüsselthema „Experte und Verwaltung“62 im Ergebnis überzeugen, so dürften die umfänglich ausgebreiteten Lesefrüchte manchen Praktiker, der dieser Handreichung bedürfte, eher abschrecken, wie die Polemik Leuzes belegt.63 Zu wenig werden Konsequenzen daraus gezogen, dass „eine gelingende Praxis administrativen Entscheidens“ häufig „ihren Grund nicht im explizierten Rückgriff auf juristische“ oder sonstige Methoden findet, „sondern im Routinewissen und Judiz des erfahrenen Praktikers.“64 Es rächt sich, dass das Besondere Verwaltungsrecht, der reichhaltigste Quellgrund des Allgemeinen Verwaltungsrechts, nicht systematisch erschlossen,65 dass stattdessen nur eklektizistisch auf Referenzgebiete zurückgegriffen wird. Hinzu kommt, dass, wie Röhl zutreffend feststellt,66 die Hoffnung nicht groß ist, „dass sich das Rechtssystem, d.h. der Gesetzgeber und vor allem die Gerichte, in Zukunft an den interdisziplinären Diskussionsbeiträgen beteiligen. Vielmehr wird eine fehlende Vermittlungsleistung der Rechtswissenschaft eher dazu führen, dass sich das Rechtssystem auf seine eigene Kommunikation zurückzieht. Damit wird ein Teil der Rechtswissenschaft auf die Nachzeichnung und Systematisierung der Produktion

236; anders Ruthig/Storr Öffentliches Wirtschaftsrecht2, 2008, 16; Eifert in: HoffmannRiem u.a. (Fn. 13), § 19 Rn. 5. 57 Breyer Regulations and Its Reform, 1982, 15; Regulierungsrecht ist zu unterscheiden von „Better Regulations“, also einer Metaebene der Regierungspolitik; dazu König (Fn. 55), 674; Wegerich Better Regulations, 2009. 58 Treffend der Hinweis von Schneider VVDStRL 67 (2008) 201; anders jetzt Bumke DV 2008, 227. 59 Pitschas in: Hoffmann-Riem u.a. (Fn. 13), § 42 Rn. 198. 60 Fehling in: Trute u.a. (Fn. 1), 487. 61 Fehling (Fn. 60), 543. 62 Voßkuhle in: Trute u.a. (Fn. 1), 637. 63 Leuze in: Gedächtnisschrift Tettinger 2007, 493. 64 So zutreffend Scherzberg in: Trute u.a. (Fn. 1), 837, 861. 65 Siehe auch Kloepfer NuR 2007, 438. 66 Röhl in: Trute u.a. (Fn. 1), 821.

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der Gerichte beschränkt bleiben, wie es für das französische Verwaltungsrecht berichtet wird. Daneben wird der andere Teil eine interessante theoretische Diskussion führen, die für die Rechtspraxis eher folgenlos bleibt.“ Letzteres gilt nicht nur für das Europarecht, das Röhl anführt, sondern gesteigert für die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft. Weder die eine, noch die andere Alternative ist aber für die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft unausweichlich vorgegeben, wie ihr Abstrahierungsgrad und ihr im internationalen Vergleich hoher Einfluss auf Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit belegen. Dass neben einer Portion Theorieüberschuss auch Geschichtsvergessenheit67 der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft nicht fremd ist, legen Ausführungen eines führenden britischen Verwaltungs- wie Europarechtlers nahe.68 Eine gedrängte Übersicht über den grundstürzenden Umbau der englischen Verwaltung unter M. Thatcher und Blairs Constitutional Reform von 1998 lässt Craig in das Bekenntnis münden: „Our courts have created a rich body of administrative law jurisprudence from the sixtienth century onwards.“69 Im Hinblick auf den sich verschärfenden Wettbewerb der Rechtsordnungen sollte dem überschwänglichen Sendungsbewusstsein, der Kehrseite spezifisch deutschen Pessimismusses,70 die untertreibende Pragmatik eines anglo-amerikanischen Ansatzes entgegen gehalten werden, wie ihn Jocelyne Bourgon in ihrem Beitrag zur „New Public Administration theory“ vertritt: „Thus, I believe the ‚newness‘ of the New Public Administrative theory (if indeed newness exists) will not be found in new ideas, but rather ‚in the way the fabric is woven, not necessarily in the threads that are used.‘ Or as Fredericson 1980 says in the book on the New Public Administration,71 the newness may also be in the use of the fabric . . . however threadbare’.“72

III. Künftige Binnenentwicklung Eine doppelte Voraussage zur Zukunft des deutschen Verwaltungsrechts lässt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit machen, nämlich dass es auf absehbare Zeit weiterhin bestehen wird und zweitens, dass es nicht mehr so expansiv wachsen wird wie im 20. Jahrhundert. Im Unterschied zur juristischen Königsdisziplin, dem Zivilrecht, das als territoriale Teilrechtsordnung in einem einheitlichen Binnenmarkt und dar67 Siehe auch Möllers in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg) Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, 131, 144, 148; Schulze-Fielitz (Fn. 43), 17. 68 Craig EU-Administrative-Law, 2006. 69 So Craig in: Trute u.a. (Fn. 1), 699, 734. 70 Stern Kulturpessimismus als politische Gefahr, 1963, 2005. 71 University of Alabama Press. 72 International Review of Administrative Sciences 1 (2007), 7, 8.

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über hinaus fungiert, ist das Beharrungsvermögen des Verwaltungsrechtes größer, weil es auf die Verwaltung des größten Mitgliedsstaates ausgerichtet ist, einer Verwaltung, die ungleich vielgestaltiger und größer ist als die europäische. Schon gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist das absolute Wachstum der öffentlichen Verwaltung beendet worden. Zugleich ist das Ausgreifen des Verwaltungsrechtes auf zusätzliche Lebensbereiche durch Abwanderung in das Zivilrecht eher überkompensiert worden. Beispiele sind die Privatisierung insbesondere von Betriebsverwaltungen, Netzwirtschaften und die private Selbstregulierung im Wirtschafts-, Technik- und Umweltrecht bis hin zu Verfahrensprivatisierungen z.B. im Planungsrecht. Die früh konstatierte (partielle) Austauschbarkeit von öffentlichem Recht und Privatrecht ist in der Regel zu Lasten des öffentlichen Rechts gegangen, allerdings nicht im Vertragsrecht. Hauptursache für diese fortschreitende Entwicklung ist, dass die Belastbarkeit der öffentlichen Haushalte überstrapaziert ist. Die Prognose gilt meines Erachtens auch trotz unabwendbarer gegenteiliger Ausschläge, z.B. anlässlich der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise, Aufbau des SoFFin zur Stabilisierung der Finanzmärkte durch das FMStG vom 17.10.2008 bis hin zur (teilweisen) Übernahme von Banken durch den Staat. Dabei wird nicht verkannt, dass die Expansion der öffentlichen Verwaltung und ihres Sonderrechts in Deutschland überwiegend eine Frucht von Krisen war. Das gilt zum Beispiel für den Aufbau der staatlichen Aufsicht über Hypothekenbanken durch Gesetz vom 13.7.1899 als Antwort auf den Zusammenbruch dieser Spezialbanken.73 Dass öffentliche Banken und Sparkassen als Teil der öffentlichen Verwaltung seit jeher staatlicher Aufsicht unterstehen, versteht sich von selbst, hat aber die Krise der Landesbanken nicht verhindert. Die Initialzündung für die Expansion der öffentlichen Verwaltung war die Jahrhundertkrise des ersten Weltkrieges. Die Kriegswirtschaft (durch Rathenau, Stinnes und die Gewerkschaften) ist mit dem Aufbau der Sozialund Kriegsfolgenverwaltung nach dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik fortgesetzt worden.74 Die Rechtswissenschaft hat diese Entwicklung zunächst eher nur beiläufig verarbeitet. In R. Smends „Beitrag zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert“ in der Gedächtnisschrift anlässlich der 150. Wiederkehr der Gründung der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin75 spielt das Verwaltungsrecht fast keine Rolle, anders als z.B. das aus gleicher Ursache angewachsene Arbeitsrecht. 73

Hütz Die Bankenaufsicht in der Bundesrepublik Deutschland und in den USA, 1990,

21. 74

Dazu Meinel in: Gusy (Hrsg.) Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, 2008, 122, 129. 75 Smend Beitrag zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert, in: Gedächnisschrift 150 Jahre Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin, 1960, 109.

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Die zweite nicht auf Deutschland beschränkte, sondern alle OECD-Staaten erfassende Expansion der öffentlichen Verwaltung und auch des Verwaltungsrecht, in den „dreißig goldenen Jahren“ nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Ölkrise, ist einer in der Menschheitsgeschichte einzigartigen, breite Schichten erfassenden Wohlstandsvermehrung geschuldet. Die Einmaligkeit dieser Entwicklung hat das Bremer Projekt „Staatlichkeit im Wandel“ verdeutlicht.76 Die These vom Ende der Nettoexpansion des Verwaltungsrechts bedeutet keine Zustimmung zur Klage von der „Demontage des öffentlichen Rechts“77 oder der Verdrängung der Verwaltungsgerichtsbarkeit aus dem öffentlichen Wirtschaftsrecht78 und schon gar nicht zum Abschied vom staatlichen Gewaltmonopol.79 Auf kurz- bis mittelfristig anstehende Novellierungen des VwVfG, etwa beim öffentlich-rechtlichen Vertrag und anderen Handlungsformen der öffentlichen Verwaltung wie dem Normerlass oder der Verwaltungserklärung,80 ist hier nicht einzugehen. Festzuhalten ist jedoch, dass der Verwaltungsakt ein Fixpunkt des Verwaltungsrechts geblieben ist81 und bleiben wird, trotz oder gerade wegen der Herausbildung des Gewährleistungs-, Regulierungs- und Risikoverwaltungsrechts. Forderungen nach einer umfassenden Modernisierung der Handlungsformen82 sind nicht neu und werden durch ihre Wiederholung nicht überzeugender. Das gilt insbesondere dann, wenn eine rechtssetzungsorientierte Handlungs- und Entscheidungswissenschaft daran geht, seit jeher bestehende Bereiche informalen Verwaltungshandelns zu verrechtlichen und damit ihrer Funktionsfähigkeit zu berauben.83 Das schließt nicht aus, dass sich einzelne Erscheinungsformen rechtlich verfestigen.84 Das Schicksal der Rechtsverhältnislehre, die mit vergleichbarem wissenschaftstheoretischen Anspruch unter Rückgriff auf die Wiener Schule angetreten war, sollte zu denken geben.85 Trotz des Krebsgangs des UGB-AT, der wahrlich kein „ermutigendes Beispiel“ des Zusammenspiels von Wissenschaft und Politik ist,86 trotz der 76

Siehe Gentschel u.a. Zerfasert der Nationalstaat?, 2008. So Huber in: FS Stober 2008, 547; realistischer, W. Leisner, „Privatisierung des Öffentlichen Rechts“, 2007. 78 So Schliesky in: FS Stober 2008, 523; siehe auch die gegenteiligen Beschlüsse der Justizministerkonferenz vom 11./12. Juni 2008. 79 So Kämmerer in: FS Stober 2008, 595; zutreffend aber Schoch in: FS Stober 2008, 559. 80 Dazu umfassend Ernst Die Verwaltungserklärung, 2008. 81 So Bumke in: Hoffmann-Riem Grundlagen des Verwaltungsrechts II (Fn. 48), § 5 Rn. 5. 82 Insbesondere Hoffmann-Riem Grundlagen des Verwaltungsrechts II (Fn. 48), § 33. 83 Richtig Meyer VVDStRL 67 (2008) 354; Möllers (Fn. 44), 35. 84 Siehe auch Kloepfer (Fn. 31), 80, 83. 85 Achterberg Allgemeines Verwaltungsrecht2, 1986, VIII; dazu Pietzker DV 1997, 282; siehe auch Schröder (Fn. 16), 208. 86 So aber Eifert (Fn. 47), 359. 77

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Halbheiten auf dem Weg zu einem Informationsgesetzbuch,87 ist es wahrscheinlich, dass dynamische Gebiete des Besonderen Verwaltungsrechts eigene Gesetzbücher unterhalb, aber zum Teil auch neben dem Allgemeinen Verwaltungsrecht etablieren. Dadurch wird das Allgemeine Verwaltungsrecht auf mittlerer Sicht überwiegend bereichert.88 Beispielhaft ist das Aufblühen des öffentlich-rechtlichen Vertrages durch den angesichts der §§ 54, 62 VwVfG eigentlich überflüssigen § 11 BauGB. Anders als das Allgemeine Verwaltungsrecht und erst recht das Zivil- und Strafrecht werden viele Normen des Besonderen Verwaltungsrechts überwiegend statt von (Voll)Juristen und von juristisch ausgebildeten Fachhochschulabsolventen von „juristischen Laien“ wie Architekten, Ingenieuren, Sozial- und Naturwissenschaftlern angewendet und zwar orientiert am „hauseigenen“ Normenbestand. Erst durch die Aufnahme des städtebaulichen Vertrages in das BauGB trat der öffentlich-rechtliche Vertrag in das Bewusstsein der meisten Anwender des Baurechts. Für die Zukunft kann nicht nur eine weitere Nettoexpansion des Verwaltungsrechts verneint werden, sondern auch, dass es noch einmal marginalisiert wird, wie bereits zweimal in der Geschichte des deutschen Verwaltungsrechts geschehen. Zum einen in der NS-Zeit, in der das Verwaltungsrecht und seine wissenschaftliche Behandlung zu Gunsten einer als Handlungslehre konzipierten Verwaltungswissenschaft abgelöst wurde89 und zum anderen zu Zeiten der DDR auf der Babelsberger-Konferenz von 1958.90 Zugespitzt: Nicht einmal eine besonders emphatisch betriebene rechtssetzungsorientierte Handlungs- und Entscheidungswissenschaft ließe Vergleichbares noch einmal erwarten. Dies gilt gesteigert insofern, als inzwischen die Mehrheit der Politikwissenschaftler sich wieder mehr an der Praxis orientiert.91 Nach dem vermeintlichen Auszug aus der „Max-WeberWelt“ (Boehret) wird eine „neoweberianische Verwaltung“ entdeckt.92 Das sollte allerdings nicht dazu führen, dass die Verwaltungsrechtswissenschaft zurückkehrt zu einem Staatsmodell, das wie Max Weber die „apparathaften Züge allzu stark betont“.93

87 88

Dazu Sydow NVwZ 2008, 481. Siehe auch Kloepfer (Fn. 65), 438; weiterführend, Kersten/Lenski, DV 2009, 501,

526. 89

Stolleis Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 355 ff. Siehe Bernet Der Staat 1990, 389. 91 So von Beyme (Fn. 1), 12. 92 Bonckaert PVS, Sonderheft 37 (2006) 354; Wollmann Reform der Kommunalpolitik und -verwaltung, 2008, 297. 93 So Scheuner in: Gedächnisschrift 150 Jahre Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin, 1960, 128, 149. 90

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IV. Externe Einflüsse Nach diesem kursorischen Blick nach Innen sind im Folgenden die mutmaßlichen Veränderungen des Verwaltungsrechts anzusprechen, die als Folge der Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die EU und in internationale Verträge und Institutionen zu erwarten sind. Die ungebrochene Dynamik der im letzten Jahrzehnt enorm gewachsenen Internationalisierung der deutschen Verwaltungsbeziehungen zeigt sich schon in der Konkurrenz der unterschiedlichen Begrifflichkeiten, wie europäisches Verbundverwaltungsrecht, das als Aktionsrecht internationaler Verwaltungsinstanzen, Determinationsrecht für die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen und Kooperationsrecht spezifischer Verbundstrukturen,94 als Verbunds- und Gemeinschaftsverwaltungsrecht,95 als internationales Verwaltungsrecht,96 als Recht internationaler Verwaltung97 charakterisiert wird. Zu begrüßen ist, dass ein Herzstück des Verwaltungsrechts, das seit H.J. Wolffs legendärem Band II98 eher ins Abseits geratene Organisationsrecht,99 aufgrund der tatsächlichen Entwicklung wieder die gebührende Aufmerksamkeit erhält. Ein Treiber dieser Entwicklung ist der stetige Ausbau der Sicherheitsarchitektur als Teil der integrierten Bekämpfung des Terrorismus und der organisierten Kriminalität.100 Die Anforderungen, die das Völker- und Verfassungsrecht speziell unter Rechtschutzaspekten stellen oder stellen sollten, sind weitgehend ungeklärt.101 Die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts102 zum Schutz der Privatsphäre gegen staatliche elektronische Beeinträchtigungen gleicht fatal dem Wettlauf zwischen Hase und Igel, vom Schutz gegen Eingriffe durch Private ganz zu schweigen. Ein weiterer zumindest in Deutschland prekärer Aspekt ist die zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen Polizei und Militär in Sicherheitsfragen, z.B. auch der Computersicherheit. Schließlich steht wieder ein langjähriges Desiderat deutscher Politik auf der internationalen Agenda, nämlich der Aufbau einer wirksamen Finanz94

So Schmidt-Aßmann (Fn. 39), 336. So von Danwitz (Fn. 27); siehe auch Schwarze (Fn. 27). 96 So Möllers u.a. (Hrsg.) Internationales Verwaltungsrecht, 2007; Classen/Biaggini (Fn. 37), 356 und 413. 97 So von Bogdandy (Fn. 40), 684. 98 Wolff Verwaltungsrecht, Band 2, 1967. 99 Siehe aber Schmidt-Aßmann Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, 205. 100 Gusy/Schäwe Jahrbuch der europäischen Integration 2007, 173; Schöndorf-Haubold in: Trute u.a. (Fn. 1), 575; Möstl DV 2008, 309. 101 Siehe Nolte VVDStRL 67 (2008) 129; Gersdorf VVDStRL 67 (2008) 214; zur Rechtsprechung des EuGH von Danwitz DVBl 2008, 537, 542. 102 BVerfG vom 19.3.2008 – 1 BvR 256/08; dazu Hoffmann-Riem in: SZ vom 11.4.2008. 95

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marktaufsicht.103 Nach dem auch unter Ökonomen weitgehend der Glaube an die Selbstregulierung der Banken geschwunden ist104 und in der Wallstreet die US-amerikanischen Investmentbanken verschwunden sind, besteht eine gewisse Aussicht, dass dieses vernachlässigte Regulierungsrecht nicht nur national (SoFFin, FinmStabG) sondern auch international aufgebaut werden wird. Und zwar unter Beteiligung so maßgeblicher neuer Marktteilnehmer wie China, das selbst erst 2003 sein modernes Bankensystem etabliert hat.105 Zu hoffen bleibt, dass die bisher vorherrschende Staatsverachtung nicht in eine Überforderung des Staates umschlägt. Ein weiteres wichtiges Aufgabenfeld nationaler wie internationaler Regulierungspolitik dürfte der Umgang mit dem an Zahl und Potenz zunehmenden Staatsfonds (Singapur, Saudi Arabien, Vereinigte Arabische Emirate, Kuwait, China, Russland), insbesondere deren Investitionssteuerung in ordnungspolitisch vertretbarer Weise. Anders als in der Binnenmarktpolitik, der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit, der Industriepolitik und der Politik der transnationalen Netze ist der europäische Sozialraum nicht nur wegen nationaler Vorbehalte bisher in den Anfängen stecken geblieben. Die These von F. Scharpf,106 die Dominanz der nach angloamerikanischem Vorbild auf internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft ausgerichteten Politik der EU werde die in den kontinental europäischen Mitgliedsstaaten gewachsenen sozialstaatlichen Standards auf Dauer eher aushöhlen statt ausbauen, dürfte nach den Ereignissen an den Finanzplätzen in New York und London an Überzeugungskraft verloren haben. Von der Präsidentschaft B. Obamas könnten zudem kräftigende Impulse für eine stärkere Gesundheits-, Sozial-, Arbeitsund Familienpolitik ausgehen. Es ist daher nicht auszuschließen, dass diese Politikbereiche künftig, wie schon die Verbraucherschutz- und Antidiskriminierungspolitik, Folgewirkungen im europäischen Kooperationsverwaltungsrecht haben werden. Im Zuge einer stärker europäisch geprägten Sozialpolitik dürften die den alten und neuen Mitgliedsstaaten gemeinsamen Folgen der demografischen Entwicklung noch bedeutsamer werden. Dies könnte auch zu einer Änderung der deutschen Verwaltungskultur führen, zusammen mit dem sich in weiten Landstrichen abzeichnenden Rückzug der Verwaltung aus der Fläche und zwar nach skandinavischen Vorbildern. Im skandinavischen Modell der öffentlichen Verwaltung ist die rechtliche Steuerung weniger stringent als in dem durch die Ministerialverwaltung gesteuerten deutschen Modell. 103 Dazu Krone Die Bankenaufsicht in der Bundesrepublik Deutschland und den USA; Hopt u.a. Kapitalmarktgesetzgebung im europäischen Binnenmarkt, 2008; Bumke DöV 2008, 227, 221; Haur JZ 2008, 964, 970. 104 Siebert FAZ vom 25.10.2008, 11. 105 Ngok/Zhu International Review of Administrative Sciences 2007, 217, 231. 106 Scharpf Governing in Europe, 2002.

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Der Schwerpunkt der Verwaltung liegt in der Kommunalverwaltung. In einem, abgesehen von Dänemark, dünnbesiedelten großen Raum sind relativ wenige Menschen, die einander gut kennen, insbesondere auch im Sozialbereich fördernd tätig.107 Der Anteil von Sozialwissenschaftlern ist in diesem Verwaltungstyp bisher höher als in Deutschland. In den Teilen Deutschlands, in denen eine massive Abwanderung aus der Fläche eingesetzt hat, könnte bei gleichzeitig steigender Überalterung der Bevölkerung das dezentrale fürsorgliche Modell skandinavischer Prägung attraktiver werden. Ein Beleg für eine solche Umsteuerung von Politiken und Verwaltungsstilen ist die soziale Korrektur der auf Förderung wirtschaftlichen Wettbewerbs ausgerichteten Lissabon-Strategie durch die Göteborg-Strategie. Diese Entwicklung manifestiert sich z.B. in der Leipzig-Charta zur Europäischen Stadt und in der Territorialen Agenda, die die europäische Regional-, Struktur- und Stadtpolitik um neue Formen territorialer und urbaner Governance bereichern.108 Diese durch ein Grünbuch der europäischen Kommission aufgegriffene Entwicklung könnte auch die kommunale Selbstverwaltung stärken, deren nach deutschem Verständnis Daseinsvorsorge betreibenden Betriebsverwaltungen einschließlich der Sparkassen in der jüngeren Vergangenheit eher Eurostress ausgesetzt waren. In seinem „Europäisierung“ überschriebenen Artikel zu „untereinander verbundenen Entwicklungen von Rechtsordnungen als Ganzen“ lässt Wahl den Prozess der Europäisierung jenseits des Vorrangs des Europarechts und nicht zuletzt unter Rückgriff auf Flessner109 münden in die „Begegnung von Rechtsordnungen“.110 Diesem für die wissenschaftliche Vorgehensweise durchaus angemessenen Bild dürfte in der Praxis in Brüssel und Berlin eher das Bild vom Wettbewerb111 der nationalen Rechtsordnungen entsprechen. Im Europarecht und seiner Umsetzung wächst der angelsächsische Einfluss. Das bedeutet, dass das Black Letter Law eine geringere Rolle als nach dem kontinentaleuropäischen Modell spielt, dass die Grenzen zwischen Verwaltungsrecht und (nach deutschen Verständnis) von Verwaltungswissenschaft durchlässiger werden, dass exekutive Agenturen und Netzwerkstrukturen zwischen öffentlicher Verwaltung und Privaten, sei es Unternehmen, sei es Vertreter des Dritten Sektors, ausgeprägter als in Deutschland kooperieren, dass statt Gesetzesvollzug Sharedmanagement, etwa im Agrarsektor oder in Strukturfonds, vorherrscht, dass nicht Steuerung sondern Governance der 107 Siehe Wollmann (Fn. 92); siehe auch Kersten in: Schuppert/Voßkuhle (Hrsg.) Governance von und durch Wissen, 2008, 189. 108 Dazu Battis/Kersten Europäische Politik des territorialen Zusammenhalts, 2008; Frank RuR II/2008, 107. 109 Flessner JZ 2002, 14. 110 Flessner in: Trute u.a. (Fn. 1), 897. 111 Siehe Flessner (Fn. 110), 898.

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Schlüsselbegriff ist,112 dass im angelsächsischen und zunehmend auch im europäischen Recht Verfahren als Verwaltungsverfahren gemeint ist und nicht wie in Deutschland in erster Linie als Gerichtsverfahren, dass Access nicht Zugang zum Gericht meint, sondern Zugang zu Verwaltungsverfahren,113 dass vielfach überindividueller Rechtsschutz individuellen ersetzt.114 Das deutsche Verwaltungsrecht muss sich diesen Einflüssen öffnen und sie spätestens bei der Umsetzung des europäischen Rechts auf nationaler Ebene adaptieren. Zugleich wird es angesichts des europäischen Vorrangs seine spezifischen Stärken einbringen und weiterentwickeln müssen: Stringenz und Systematik bei der dogmatischen Durchdringung des überaus vielfältigen Rechtsstoffs. Dass diese Strategie nicht aussichtslos ist, zeigt sich im Wettbewerb mit dem angloamerikanischen Recht in den Staaten Mittel- und Osteuropas, in Südostasien und zunehmend auch in Zentralasien. Deutsche Juristen gefallen sich nicht selten in der Rolle des strengen Kritikers des europäischen Gerichtshofs, vergleichbar der Schelte deutscher Politiker über die Bürokraten in Brüssel. Dabei entbehrt es nicht der Pikanterie, dass die deutsche Delegation bei den Verhandlungen der Römischen Verträge ganz im Sinne des in den 50er Jahren in der Bundesrepublik vorherrschenden Geistes auf eine starke Gerichtsbarkeit gedrungen hat.115 Übersehen wird auch oft, dass der EuGH gegenüber fundierter Kritik nicht unzugänglich ist, etwa bei der Korrektur der Rechtsprechung zu den vergabefremden Kriterien, der Neuausrichtung der Rechtsprechung zur Gleichstellungspolitik, bei der Rechtsprechung zum Gemeinschaftsverwaltungsrecht,116 dass schließlich die europäischen Gerichte zentrale Fragen wie die des Eigentumsschutzes,117 des Gesundheitsschutzes118 und der Sterbehilfe119 den nationalen Gesetzgebern überlassen. Schließlich sei darauf verwiesen, dass angesichts des intensiven Trialogs zwischen EGMR, EuGH und nationaler Gerichtsbarkeit einschließlich der Verfassungsgerichtsbarkeit das Bild einer Einbahnstraße, zumindest im Verhältnis europäischer Rechtsprechung und deutscher nicht zutreffend ist.120 112 Krit. Engi (Fn. 50), 573; Gärdetz, Hochschulorganisation und Verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, S. 217; siehe auch Voßkuhle (Fn. 46), § 1 Rn. 21, 70; ausgewogen Franzius Gewährleistung (Fn. 8), 188; aus politikwissenschaftlicher Sicht Jann in: Jann/ König (Hrsg.) Regieren zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2008, 1. 113 Ruffert DV 2007, Beiheft 7, 253; ders. DÖV 2008, 304; siehe auch Bedy/Thedieck (Hrsg.) The European Dimension of Administrative Culture, 2008; König (Fn. 55), 842. 114 Dazu Schlacke Überindividueller Rechtsschutz, 2008. 115 Siehe Frowein in: Trute u.a. (Fn. 1), 333. 116 Dazu von Danwitz (Fn. 27), 478 ff.; eher krit. Classen EuR 2008, 627. 117 Dazu Jarass NVwZ 2006, 1089. 118 EuGH C-171/07 und C-172/07. 119 EGMR vom 29.4.2002 – 2346/02. 120 Dazu Hatje in: Schwarze (Fn. 27), 223; zu Rechtssicherheit und Vertrauensschutz, siehe auch Scheuing in: Schwarze (Fn. 27), 45.

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V. Entfaltung des demokratischen Prinzips Zum Schluss sei statt eines ohnehin fragwürdigen Resümees eine Anregung erlaubt. Ausgehend von der im Europarecht und im nationalen Recht sehr unterschiedlichen Ausprägung des Grundsatzes der repräsentativen Demokratie, der direkten Demokratie, der partizipativen und der assoziativen Demokratie sollte es eine reizvolle Aufgabe für das Verwaltungsrecht der Zukunft in Europa sein, die bis heute stärker rechtstaatlich (nicht obrigkeitsstaatlich) geprägte kontinentaleuropäische Verwaltung etwa Frankreichs oder Deutschlands121 in Auseinandersetzung mit angloamerikanischen oder skandinavischen Ansätzen um kräftigere demokratische Strukturen zu bereichern. Das könnte auch für die weitere Diskussion um die ziemlich kurzschlüssige Übernahme des angloamerikanischen Modells der Agency ins deutsche Verwaltungsrecht nützlich sein.122 Vor allem aber erscheint dies sinnvoll im Hinblick auf den Wettbewerb der Rechtsordnungen in den asiatischen Ländern, deren Verwaltungsstruktur und Verwaltungsrecht bisher ausgerichtet ist am deutschen Modell vordemokratischer Bürokratie.

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Siehe auch Möllers (Fn. 44), 60. Dazu Wächter Verwaltungsrecht im Gewährleistungsstaat, 2008, 176; Pöcker VerwArch 2008, 380; Brenner in: FS Rengeling 2008, 193. 122

Verwaltungsrecht u. Verwaltungswissenschaft v. neuen Herausforderungen 1333 Verwaltungsrecht u. Verwaltungswissenschaft v. neuen Herausforderungen Folke Schuppert

Contract Governance Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft vor neuen Herausforderungen FOLKE SCHUPPERT

A. Verwaltungs- und Verwaltungsrechtswissenschaft im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Was ist Contract Governance? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Funktionen von Contract Governance . . . . . . . . . . . . . . . . I. Filling the „regulatory gap“ oder Contracting als Regelsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Innovative Fortentwicklung staatlichen Rechts – der Fall standardisierter Versicherungsverträge . . . . . . . . . . . . . 1. Standardisierung von Vertragsbedingungen: ein Paradefall von Contract Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Standardisierung als neuartige Struktur der Normbildung . III. Gesetzesverhinderung als Strategie: das Beispiel normvermeidender Absprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normvermeidende Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normvermeidende bzw. normabwendende Absprachen . . D. Contract Governance als Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verhältnis von Vertrag und Vertragsrecht . . . . . . . . . . . II. Techniken vertraglicher Selbstregulierung . . . . . . . . . . . E. Governance von Verträgen: das Beispiel eines Verwaltungskooperationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verwaltungskooperation als Realbefund und als Reformstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Notwendigkeit eines „Ordnungsrahmens [. . ], innerhalb dessen die Regeln für Verträge gesetzt werden?“ . . . . . . . III. Governanceinstrumente eines Verwaltungskooperationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Ausblick: Contract Governance als Bestandteil einer zu entwickelnden Regelungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Verwaltungs- und Verwaltungsrechtswissenschaft im Wandel Dass das Verwaltungsrecht und die Verwaltungsrechtswissenschaft in den letzten 60 Jahren intensive Veränderungsprozesse durchlebt haben, ist von Rainer Wahl eindringlich herausgearbeitet worden.1 Wir selbst haben versucht,2 diesen Wandel auf eine handhabbare Formel zu bringen und vorgeschlagen, ihn durch drei Schlüsselbegriffe zu charakterisieren: „Von Planung über Steuerung zu Governance“. Ob damit die Entwicklungsrichtung von Staats- und Verwaltungswissenschaft wirklich zutreffend erfasst wird, ist hier nicht zu diskutieren, und es ist auch nicht die Absicht dieses Beitrages, für die Governance-Perspektive zu werben. Worum es geht, ist folgendes: Eine lebens- und anschlussfähige Verwaltungs- und Verwaltungsrechtswissenschaft muss sensibel und offen sein für neuere Entwicklungen, und zwar nicht nur im Realbereich von Staat und Verwaltung, sondern auch für neuere wissenschaftliche Strömungen und Trends, sei es aus dem Bereich der Nachbardisziplinen, wie den Sozialwissenschaften oder auch der Rechtswissenschaft selbst. Diese gilt es nicht einfach zu übernehmen, sondern auf ihre Verwertbarkeit für die eigene Disziplin oder Teildisziplin zu prüfen und – je nach Ergebnis – als irrelevant beiseite zu lassen oder fruchtbringend zu integrieren. Methodisch etwas anspruchsvoller kann man hier mit Christian Bumke von einem zyklischen Prozess sprechen, innerhalb dessen Phasen der Öffnung und Schließung aufeinander folgen;3 in der Tat lässt sich dies für das nicht unkomplizierte Verhältnis von Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsrechtswissenschaft beobachtend nachvollziehen.4 Was wir mit unserem Beitrag nun unternehmen wollen, ist, die vorsichtige, aber nach unserer Wahrnehmung zunehmende Neugier der Verwaltungs- und Verwaltungsrechtswissenschaft gegenüber der Perspektivenerweiterung durch die Governance-Forschung5 dazu zu nutzen, jetzt nicht etwa sozialwissenschaftliche Fragestellungen und Erkenntnisse zu „impor1 Wahl Herausforderungen und Antworten – Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006. 2 Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft im Wandel – Von Planung über Steuerung zu Governance?, Archiv des öffentlichen Rechts (AöR), 133 (2008) 79–106. 3 Bumke Die Entwicklung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Methodik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.) Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, 73 ff. 4 Vgl. dazu Schuppert Die Verwaltungswissenschaft als Impulsgeberin der Verwaltungsrechtsreform, in: Schneider et al. (Hrsg.) Offene Rechtswissenschaft – Festschrift zum 70. Geburtstag von Wolfgang Hoffmann-Riem (im Erscheinen). 5 Vgl. etwa Kingreen Governance im Gesundheitsrecht – Zur Bedeutung der Referenzgebiete für die Verwaltungsrechtswissenschaftliche Methodendiskussion, Die Verwaltung 42 (2009) 339–375.

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tieren“, sondern darauf zu reagieren, dass im Bereich des Wirtschafts- und Gesellschaftsrechts ebenfalls eine Fortentwicklung stattfindet, die sich anschickt, dem an sich eher vergleichsweise traditionellen Gebiet der „Corporate Governance“ einen neuen Zweig hinzuzufügen,6 der unter dem Begriff „Contract Governance“ firmiert.

B. Was ist Contract Governance? Wenn wir richtig sehen, fungiert als Startschuss für den Contract Governance-Ansatz ein Beitrag von Karl Riesenhuber und Florian Möslein,7 der diese Forschungsperspektive nicht nur erläutert, sondern auch für den gegenüber diesem Ansatz noch fremdelnden Leser in sehr nachvollziehbarer Weise aufbereitet. Es empfiehlt sich daher, als „starting point“ zunächst einen Blick in diesen Beitrag zu werfen, zumal wir den dort präsentierten Gliederungsvorschlag auch unseren Überlegungen zu Grunde legen wollen. Riesenhuber und Möslein schlagen vor, die folgenden vier Varianten von „Contract Governance“ zu unterscheiden:8 Vier Varianten von Contract Governance y

Governance des Vertragsrechts

y

Governance des Vertrages

y

Governance mit Mitteln des Vertragsrechts

y

Governance durch Vertrag

Bevor wir mit unseren eigenen Überlegungen beginnen, wollen wir uns diese vier Grundtypen von „Contract Governance“ von Riesenhuber und Möslein kurz erläutern lassen: ¾ Was zunächst den Typus „Governance des Vertragsrechts“ angeht, so geht es dabei um „die Analyse und Strukturierung des Ordnungsrahmens [. . .], innerhalb dessen die Regeln für Verträge gesetzt werden“.9 Dieser Ordnungsrahmen ist nicht auf die staatliche Gesetzgebung beschränkt, sondern kann uns – ganz im Sinne einer überfälligen Regelungswissen6 Weiterführend Möslein Contract Governance und Corporate Governance im Zusammenspiel – Lehren aus der globalen Finanzkrise –, Vortrag vor der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin am 20. April 2009, Manuskript. 7 Riesenhuber/Möslein Contract Governanve – Skizze einer Forschungsperspektive, in: Riesenhuber (Hrsg.) Perspektiven des Europäischen Schuldvertragsrechts, 2008, 1–41; vgl. auch Grundmann Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004. 8 Riesenhuber/Möslein (Fn. 7), 14. 9 Riesenhuber/Möslein (Fn. 7), 14.

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schaft10 – auch in Gestalt von halb-staatlichen oder privaten Regelwerken entgegentreten: „Zum Werkzeugkasten der Governance des Vertragsrechts gehören selbstverständlich Gesetzeswerke und Codizes, aber auch nachgeordnete hoheitliche Regelungen durch Aufsichtsbehörden (etwa im Bankrecht oder auf regulierten Märkten) sowie das sogenannte Richterrecht (besonders in case law-Jurisdiktionen). Liegt ein Kennzeichen der Governance-Forschung darin, nicht nur staatliche Institutionen zu berücksichtigen, so gehören zu diesem Ordnungsrahmen zudem zahlreiche weitere Instrumente, namentlich private Regelwerke.“ ¾ Unter dem Stichwort „Governance des Vertrages“ gilt das Interesse vor allem dem „Spielfeld“, das den privaten Akteuren zur Verfügung gestellt wird, um ihre selbstbestimmten Ziele privatautonom zu verwirklichen: „Vertragsrecht erfüllt insoweit eine facilitative bzw. enabling function: Es ist Bestandteil eines Ordnungsrahmens bzw. einer Infrastruktur für die Kooperation Privater.11 Diese Kooperation kann nicht nur die Organisation betreffen, die vor allem Gegenstand der Corporate Governance ist, sondern auch den einmaligen, wiederkehrenden oder andauernden Austausch.“ ¾ „Governance durch bzw. mit den Mitteln des Vertragsrechts“ ist dadurch gekennzeichnet, dass das Vertragsrecht zur Erreichung staatlicher Ziele als Governance-Instrument des Gesetzgebers verwendet wird:12 „Vertragsrecht erfüllt insoweit eine regulatory function, es geht um Verhaltenssteuerung durch Vertragsrecht. ,Wenn Governance [. . .] als Versuch der Handlungskoordination durch Regelungsstrukturen verstanden werden kann, die ihrerseits das Verhalten der ihnen unterworfenen Akteure steuern, dann ist Governance vor allem Regulierung‘.“13 ¾ Bei der „Governance durch Vertrag“ schließlich geht es um die Vereinbarung eines Ordnungsrahmens durch Private: „Die Parteien schaffen den privatrechtlichen Ordnungsrahmen für ihre (Vertrags-)Beziehung selbständig. Das hat besonders bei Vertragsvereinbarungen in der Nähe einer Organisationsstruktur Bedeutung, vor allem bei längerfristigen und auch bei mehrseitigen Verbindungen (Netzverträge). [. . .] Contract Governance in diesem Sinne steht der Corporate Governance sehr nahe.“14

10 Dazu demnächst Schuppert Von der Gesetzgebungslehre zur Regelungswissenschaft oder auch: Governance by Rule-Making, 2010. 11 Bezugnahme auf Bachmann Private Ordnung – Grundlagen ziviler Regelsetzung, 2006, 20 ff. 12 Riesenhuber/Möslein (Fn. 7), 28. 13 Schuppert Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen, in: ders. (Hrsg.) Governance-Forschung – Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien2, 2006, 378 ff., 395. 14 Riesenhuber/Möslein (Fn. 7), 35.

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Wenn wir uns diese vier Grundtypen noch einmal ansehen, so wird schnell deutlich, dass es sich eigentlich um die Auffächerung von vier Funktionen von „Contract Governance“ handelt, nämlich um • eine vertragliche Kooperationen rahmenhaft steuernde Funktion • eine gegenüber den privaten Vertragsakteuren ermutigende und ermöglichende Funktion (enabling function) • eine Regulierungsfunktion sowie • eine Funktion der Selbststeuerung Privater. Dieser Befund ermuntert uns – bevor wir in unserem Instrumenten- und Argumentationskasten nach Beispielen für eine oder mehrere der vorgestellten Grundtypen suchen – ebenfalls über Funktionen von „Contract Governance“ nachzudenken; als Ergebnis dieses Nachdenkens möchten wir drei solcher Funktionen vorstellen, die allerdings auf einer etwas anderen Ebene liegen als die, die wir soeben kennengelernt haben.

C. Funktionen von Contract Governance I. Filling the „regulatory gap“ oder Contracting als Regelsetzung Soweit wir sehen, sind sich alle Beobachter der gegenwärtigen Rechtsentwicklung darin einig, dass sich zwischen den Regelungsregimen des territorial begrenzten nationalen Gesetzgebers und dem Regelungsregime der Internationalen Organisationen und des Völkerrechts eine immer sichtbarer werdende Regelungslücke auftut, weil wir es in diesem transnationalen Raum offenbar mit von diesen Normgebern nicht zu befriedigenden Regelungsbedürfnissen zu tun haben; dies hat – so lässt sich beobachten – zur Folge, dass in dieses Terrain notwendigerweise andere Regelungsproduzenten und Regelungsarten „einsickern“, ein Prozess, den Dieter Grimm zutreffend wie folgt beschrieben hat:15 „Jenseits des Nationalstaates aber und jenseits der internationalen Organisationen breiten sich Formen der Rechtsentstehung aus, auf welche die Staaten und diese Organisationen gar keinen Einfluss mehr erhalten. Globale Märkte schaffen sich rechtliche Regulierungen ganz unabhängig von der Politik. In wachsendem Maße schließen multinationale Unternehmen, vertreten durch international agierende Anwaltskanzleien, Verträge, die sie keiner nationalen Rechtsordnung und keiner nationalen Gerichtsbarkeit 15 Grimm Gemeinsame Werte: Globales Recht?, in: Däubler-Gmelin/Mohr (Hrsg.) Recht schafft Zukunft – Perspektiven der Rechtspolitik in einer globalisierten Welt, 2003, 19.

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mehr unterstellen. Im Konfliktfall entscheiden vielmehr internationale Schiedsgerichte, die ein transnationales Recht anwenden sollen, das sie im Zuge der Anwendung zum großen Teil selbst erschaffen und welches sich dann durch Nachahmung in ähnlich gelagerten Fällen verbreitet.“ Ob wir es hier wirklich mit dem Entstehen eines neuen Rechtstyps zu tun haben – eben einem transnationalen Recht16 – oder – wozu wir zunehmend neigen17 – eher mit transnationalen Verrechtlichungsprozessen, muss hier nicht entschieden werden. Was uns an der Grimmschen Beobachtung interessiert, ist, dass solche transnationalen Verrechtlichungsprozesse offenbar dadurch entstehen, dass zwischen transnational tätigen Akteuren Verträge geschlossen werden – und zwar mit Hilfe von transnational agierenden Anwaltskanzleien18 – die dann infolge ihrer Heranziehung als Muster für ähnlich gelagerte Fälle zu Standardverträgen aufsteigen und schließlich – in einem eher unauffälligen und informalen Prozess – zu rechtlichen Standards erstarken. Dieser Entstehungszyklus – von der vertragsrechtlichen Innovation zu rechtlichen Standards – ist insbesondere von Sigrid Quack kenntnisreich und unter Auswertung der einschlägigen anglo-amerikanischen Literatur näher dargestellt worden.19 Sie schlägt vor, innerhalb des transnationalen Rechtserzeugungsprozesses drei Phasen zu unterscheiden, nämlich Innovation, Standardisierung und Normierung, ein Phasenmodell, das sich graphisch wie folgt darstellen lässt:20

16 Siehe dazu Fischer-Lescano/Teubner Regime-Collisions: The Vain Search For Legal Unity in the Fragmentation of Global Law, Michigan Journal of International Law 25 (2004) 999–1046; Calliess Transnationales Verbrauchervertragsrecht, RabelsZ 68 (2004) 240 ff.; dezidiert kritisch nunmehr Ipsen Private Normenordnungen als Transnationales Recht?, 2009. 17 Einem Rechtstyp „Transnationales Recht“ noch zuneigend „Was ist und wie mißt man Wandel von Staatlichkeit?“, Der Staat 47 (2008) 325 ff., 336 f.; kritischer nunmehr Schuppert (Fn. 10). 18 Vgl. zu ihrer Rolle etwa Flood Large Law Firms: Priests of the New Capitalism, in: Global Capitalism – Research Seminar, Warwick Business School, 2005. 19 Quack Governance durch Praktiker: Vom privatrechtlichen Vertrag zur transnationalen Rechtsnorm, in: Botzem/Hofmann/Quack/Schuppert/Straßheim (Hrsg.) Governance als Prozeß – Koordinationsformen im Wandel, 2009, 575–606. 20 Quack (Fn. 19), 589.

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Phasen transnationaler Rechtserzeugung Transnationale Rechtsnormen

Rechtsanwälte als öffentliche Experten und Lobbyisten

Rechtliche Standards

Rechtsanwälte als Berater

Vertragsrechtliche Innovationen

Rechtsanwälte als kreative Standard-Setzer

In jeder dieser Phasen wirken Rechtsanwälte in unterschiedlichen Funktionen21 mit, eine Mitwirkung, die uns Sigrid Quack wie folgt näher erläutert:22 „In der ersten Phase agieren sie vor allem als Berater und Konzeptentwickler, die für ihre Mandanten mehr oder weniger regelmäßig innovative vertragliche Regelungen ausarbeiten. In der zweiten Phase fungieren Rechtsanwälte als Intermediäre und Promotoren und sorgen somit dafür, dass die Anwendung dieser vertragsrechtlichen Innovationen sich verbreitet. Dabei kann ihr Interagieren mit allgemein anerkannten standardsetzenden Organisationen, Schiedsgerichten etc. dazu führen dass anerkannte Vertragsmuster und andere Rechtsstandards (häufig als ,Soft Law‘ bezeichnet) entstehen. In der dritten Phase werden Rechtsanwälte selbst Teil des Anerkennungsprozesses innovativer Vertragsvereinbarungen oder standardisierter Rechtspraktiken: Bei der Anpassung oder Änderung offiziellen Rechts durch transnationale rechtsetzende Institutionen oder bei nationalen Gesetzesreformen 21 Vgl. dazu Quack Internationale Wirtschaftskanzleien im Spannungsfeld von Wandel und Kontinuität des Rechts, in: Dörrenbacher (Hrsg.) Modelltransfer in multinationalen Unternehmen – Strategien und Probleme grenzüberschreitender Konzernintegration, 2003, 173–198. 22 Quack (Fn. 19), 588, 589.

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wirken sie als öffentliche Experten in Anhörungen oder als Lobbyisten in Verhandlungen mit. Die Prozessphasen können parallel oder interagierend verlaufen und der Prozess kann in jeder Phase abgeschlossen werden.“ Eine erste Zwischenbilanz ziehend, können wir feststellen, dass wir im transnationalen Raum, also dem Raum jenseits des Nationalstaates und zugleich außerhalb des regulatorischen Zugriffs internationaler Organisationen, einen ersten interessanten Fall von „Contract Governance“ entdecken können, nämlich das Wirken von internationalen Anwaltskanzleien, die eine regulatorische Lücke (regulatory gap) in innovativer Weise ausfüllen,23 wobei – und das ist die eigentliche Governance-Pointe dabei – Verträge, die zunächst nur als einzelvertragliche Regelungen „gestartet“ sind, durch Verwendung als Regelungsmuster zu standardisierten Verträgen avancieren und schließlich als „standard setting“ funktional wie Rechtsnormen wirken. Dies ist also unser erster rechtssoziologisch spannender Befund.

II. Innovative Fortentwicklung staatlichen Rechts – der Fall standardisierter Versicherungsverträge 1. Standardisierung von Vertragsbedingungen: ein Paradefall von Contract Governance a) Erscheinungsformen und Entstehungsbedingungen Wenn von Standardisierung die Rede ist, denkt man normalerweise an technische Standardisierung und – wenn man das faszinierende Buch von Miloc Vec zur Bedeutung der Normierung in der Industriellen Revolution gelesen hat – an die Standardisierungsgeschichte der Schraube.24 Nun kann man aber nicht nur Schrauben standardisieren, sondern auch Vertragsinhalte, wobei es sich in beiden Fällen um zwei Erscheinungsformen der um die Wende zum 19. Jahrhundert sich ausbreitenden Kulturtechnik der Standardisierung als einer Strategie zur Organisation komplexer Vorgänge handelt:25 23 Siehe dazu auch Quack Who fills the legal „black holes“ in transnational governance? Lawyers, Law firms and professional associations as border-crossing regulatory actors, in: Schuppert (Fn. 13), 81–100. 24 Vec Recht und Normierung in der Industriellen Revolution – Neue Strukturen der Normsetzung im Völkerrecht staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Selbstnormierung, 2006. 25 Röder Rechtsbildung im wirtschaftlichen „Weltverkehr“ – Das Erdbeben von San Francisco und die internationale Standardisierung von Vertragsbedingungen (1871–1914), 2006, 11.

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„Neben der Bezeichnung einer spezifischen Kulturtechnik verweist der Begriff der ,Standardisierung‘ auch auf die konkreten Prozesse ihrer Anwendung. Schrauben und Gewinde werden standardisiert. Vertragsformulare werden standardisiert und mit ihnen die Vertragsinhalte. Sämtliche Standardisierungsprozesse scheinen sich – idealtypisch vereinfacht – in zwei Phasen teilen zu lassen: Der Entstehung eines Standards folgt seine Implementierung. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich die meisten Vorgänge jedoch als komplexer. So prägen Überlegungen zur Einführung eines Standards häufig schon die Entstehungsphase, etwa indem Institutionen einbezogen werden, von deren Anerkennung der spätere Erfolg des Standards abhängt. Treten bei der Einführung eines Standards Probleme auf, so wird er möglicherweise modifiziert. Auch die Aufrechterhaltung allgemein anerkannter oder verbindlich geltender Regelungen gelingt nur, wenn diese ständig an Veränderungen der äußeren Bedingungen angepasst werden. In diesem Sinn beschreibt der amerikanische Ingenieur Norman S. Harriman Standardisierungen treffend als dynamische Prozesse der Entstehung, Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von Regelungen.“26 Was die Bedingungen angeht, die die rasche Ausbreitung der Standardisierung von Vertragsbedingungen angeht – als Pioniere fungierten die Branchen der Versicherungs- und Transportwirtschaft – so kann man mit Tilman J. Röder zwei besonders wichtige unterscheiden: erstens das Bedürfnis nach Standardisierung in Branchen mit hoher weltwirtschaftlicher Einbindung, zum anderen eine Regelungszurückhaltung des Gesetzgebers, die einen von den ökonomischen Akteuren zu füllenden „regulatory gap“ zur Folge hatte:27 „Die Entstehung von speziellen Standardverträgen, Standardklauseln oder Vertragsformeln für den internationalen Geschäftsverkehr hing von mehreren Umständen ab. Grundsätzlich war das Interesse an einer Vereinheitlichung der Vertragsgrundlagen umso stärker ausgeprägt, je intensiver die jeweilige Branche in die Weltwirtschaft eingebunden war. Wie auf der Ebene der Einzelstaaten, bemühten sich die Unternehmen um eine internationale Standardisierung ihrer Vertragsgrundlagen, wenn staatliche Regelungen fehlten oder sie diese für untauglich oder veraltet hielten. [. . .] Je weniger die Staaten das Recht der einzelnen Branchen regulierten, desto stärker breiteten sich nichtstaatliche Regelungen des Geschäfts- und Rechtsverkehrs aus. So prägten die telegraphisch gut übermittelbaren Vertragsformeln fob und cif die Praxis des Fernkaufs. Für umfassendere Vereinbarungen bedienten sich die Überseekaufleute ihrer Formularverträge. Diese breiteten sich besonders im Handel mit Stapelwaren wie Getreide, Fut26 27

Harriman Standards and Standardization, 1928. Röder (Fn. 25), 321, 322.

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termittel, Gummi, Kaffee und Zucker aus. Auch das Lagergeschäft an den Umschlagplätzen des Welthandels stand fest auf der Grundlage von international anerkannten indossablen Lagerscheinen. Die Seetransporteure und Binnenschiffer verwendeten Formularverträge und Konnossements, deren Vereinheitlichung ihre Branchenorganisationen und die großen Reedereien vorantrieben. Diese Beispiele umfassen einige der wichtigsten Standardisierungsphänomene auf der Ebene des internationalen Geschäftsverkehrs.“ b) Funktionen Von den zahlreichen Funktionen, die die Standardisierung von Vertragsbedingungen erfüllen,28 möchten wir aus der Contract Governance-Perspektive nur zwei uns besonders wichtig erscheinende hervorheben. aa) Die Machtfunktion Man wird ganz klar sehen müssen, dass die Fähigkeit, durch Standardisierung über die Vertragsbedingungen zu bestimmen, eine klare Machtposition impliziert:29 „Die Verwendung von Vertragsbedingungen und ähnlichen Elementen gab denjenigen, die ihre Verwendung durchsetzen konnten, die Kontrolle über die Vertragsinhalte. In diesem Sinn hatten die Wirtschaftsakteure die Standardisierung bereits auf der Ebene der Einzelstaaten als ein Instrument wirtschaftlicher Machtausübung entdeckt. Sie konnten von den Wertungen der staatlichen Rechtsordnungen abweichen. Sie konnten vertragliche Risiken auf ihre künftigen Vertragspartner abwälzen. Beispielsweise schlossen Großhändler und Spediteure häufig ihre Haftung für Verspätung oder Verderb der Lieferung aus.“ Angesichts dieses Befundes stellt sich von ganz allein die Frage, ob der Staat eine solche private Machtposition toleriert oder ob er sie für sich selbst reklamiert, indem er die standardisierten Vertragsbedingungen einer Branche einem behördlichen Genehmigungsverfahren unterwirft; zum Schwur kam es insoweit bei der Versicherungswirtschaft, als diese sich anschickte, sich durch die Einführung der sog. Erdbebenklausel von der Haftung für Erdbebenschäden wie in San Francisco freizuzeichnen:30 „In einigen Ländern wie Italien, Portugal und Spanien stand es den Versicherern frei, ihre Vertragsgrundlagen abzuändern. Die staatlichen Institutionen hielten sich aus der Frage der Erdbebenregelungen weitgehend her28

Siehe dazu unseren Zusammenfassungsversuch, in Schuppert (Fn. 10), Siebter Teil, 2. Kapitel. 29 Röder (Fn. 25), 324. 30 Röder (Fn. 25), 330.

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aus. Der Selbstorganisation der Wirtschaft waren insoweit keine Grenzen gesetzt. Andere Staaten zogen die Entscheidung über die Ausgestaltung der Vertragsinhalte vehement an sich. In den USA verbreitete sich das Institut der Standard Policies von Bundesstaat zu Bundesstaat. In Kalifornien kehrte sich sogar das gewohnte Machtverhältnis zwischen Versicherern und Versicherungsnehmern um: Nach dem Erdbeben bestimmten nicht die Versicherer, sondern die Versicherungsnehmer über das Parlament und durch Lobbies, welche Regelungen den künftigen Verträgen zugrunde liegen sollten. Auch in Deutschland lag die letzte Entscheidung über die Vertragsinhalte seit der Gründung des Versicherungsaufsichtsamtes im Jahr 1901 beim Staat. Kein Vertrag durfte geschlossen werden, dem nicht behördlich genehmigte Vertragsbedingungen zugrunde lagen.“ bb) Die Lückenfüllungs- und Fortentwicklungsfunktion Eine weitere wichtige Funktion standardisierter Vertragsbedingungen bestand und besteht darin, gesetzgeberische Regelungslücken zu schließen und die Rechtsordnung gewissermaßen permanent zu aktualisieren:31 „Von großer Bedeutung für die Verbreitung der Formularvertragspraxis war die Möglichkeit, von gesetzlichen Vertragstypen abzuweichen und neue zu entwickeln. Gerade in Phasen großer wirtschaftlicher Dynamik veränderten sich ständig die Regelungsinteressen der Wirtschaft. Das staatlich gesetzte Recht blieb dahinter zurück. Seine Regelungen erschienen den Wirtschaftsakteuren als veraltet, unausgewogen oder aus anderen Gründen untauglich. Die entstehende Diskrepanz kann mit einem Begriff des amerikanischen Rechtstheoretikers William Ogburn als cultural lag32 bezeichnet werden. Diese ,kulturelle Verspätung’33 des Rechts wurde in der Wirtschaftspraxis mit Hilfe der selbst verfaßten Geschäftsbedingungen überbrückt. Auf diese Weise entstanden im 19. Jahrhundert immer wieder neue Vertragstypen. Einige von ihnen fanden später Eingang in die Gesetzgebung. Auch deswegen kann die Standardisierung von Vertragsbedingungen als eine Praxis der ständigen Aktualisierung des Rechts angesehen werden.“ 2. Standardisierung als neuartige Struktur der Normbildung Wenn wir uns die geschilderten Funktionen der Standardisierung von Vertragsbedingungen noch einmal vor Augen führen, so wird man zu dem 31

Röder (Fn. 25), 21. Ogburn On Culture and Social Change, Selected Papers, 1964. 33 Vec Technik oder Recht? Steuerungsansprüche in der Zweiten Industriellen Revolution, in: Kloepfer (Hrsg.) Kommunikation – Technik – Recht – Kommunikationsrecht in der Technikgeschichte, 2002, 111 ff., 127. 32

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Schluss kommen müssen, dass sich mit dieser Standardisierungspraxis ein Prozess der Normbildung vollzogen hat. Die Standardverträge steuern das Verhalten der Marktakteure, die sich an ihnen orientieren und sich auf sie verlassen (Rechtssicherheitsfunktion); das in ihnen vereinbarte gilt als das für sie maßgebliche Regelwerk, das bestehendes Gesetzesrecht substituiert, fortentwickelt oder gar ersetzt. Es handelte und handelt sich also um Regelsetzung, und zwar um eine von den zeitgenössischen Juristen kaum erkannte neuartige Struktur der Normbildung, zu der Tilman J. Röder zusammenfassend Folgendes anmerkt:34 „Neuartig war sie in mehrfacher Hinsicht. So wurde die Entscheidung über die Vertragsinhalte von dem Abschluß konkreter Vereinbarungen getrennt. Standardklauseln und -verträge wurden ohne Bezug zu konkreten Geschäften als einheitliche Rechtsgrundlagen für große Mengen von künftigen Verträgen vorformuliert. Insofern erinnerte ihre Entstehung eher an Gesetzgebungsprozesse als an die Vertragspraxis der Wirtschaft. [. . .] Standardisierte Vertragselemente erfüllen wesentlich andere Funktionen als die individuellen Vereinbarungen zwischen zwei Vertragsparteien. Sie dienten der innerbetrieblichen Rationalisierung, der wirtschaftlichen Machtausübung, der systematischen Verdrängung staatlicher Regelungen und sie boten Raum für eine permanente Aktualisierung des Rechts. Nur auf der Grundlage von Formularverträgen konnte die immer komplexeren Kooperations-, Investitions- und Austauschbeziehungen bewältigt werden, die in der Wirtschaftspraxis entstanden.“

III. Gesetzesverhinderung als Strategie: das Beispiel normvermeidender Absprachen Der sog. „vereinbarte“ Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie35 zu Beginn der rot-grünen Regierung Ende der neunziger Jahre hat die Aufmerksamkeit auf das Faktum gelenkt, dass vertragliche Vereinbarungen dazu dienen können, gesetzliche Regelungen zu substituieren oder vorzubereiten. Man hat dafür den Begriff der „paktierten Gesetzgebung“36 geprägt, und in der Tat lässt sich am Beispiel des Ausstiegs aus der Kernenergie das Zusammenspiel von vertraglichem Arrangement und nachfolgender gesetzlicher Umsetzung besonders gut studieren. Immer wieder lesenswert finden wir die Einleitung der Vereinbarung vom Juni 2000 zwischen hochrangigen 34

Röder (Fn. 25), 319, 320. Siehe dazu Schorkopf Die „vereinbarte“ Novellierung des Atomgesetzes, NVWZ 2000, 1111 ff. 36 Schneider Paktierte Gesetze als aktuelle Erscheinungsform kooperativer Umweltpolitik, in: Hansjürgens/Köck/Kneer (Hrsg.) Kooperative Umweltpolitik, 2003, 43 ff. 35

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Vertretern der Bundesregierung und der Energieversorgungsunternehmen (EVU):37 „Der Streit um die Verantwortbarkeit der Kernenergie hat in unserem Land über Jahrzehnte hinweg zu heftigen Diskussionen und Auseinandersetzungen in der Gesellschaft geführt. Unbeschadet der nach wie vor unterschiedlichen Haltungen zur Nutzung der Kernenergie respektieren die EVU die Entscheidung der Bundesregierung, die Stromerzeugung aus Kernenergie geordnet beenden zu wollen. Beide Seiten werden ihren Teil dazu beitragen, daß der Inhalt dieser Vereinbarung dauerhaft umgesetzt wird. Die Bundesregierung wird auf der Grundlage dieser Eckpunkte einen Entwurf zur Novelle des Atomgesetztes erarbeiten.“ Nicht minder interessant ist die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, in der explizit auf diese Vereinbarung Bezug genommen wird:38 „Der Gesetzentwurf regelt die geordnete Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität durch eine Neuordnung des Kernenergierechts. Andererseits soll für die verbleibende Nutzungsdauer auf einem hohen Sicherheitsniveau der geordnete Betrieb der Kernkraftwerke sichergestellt bleiben. Das sind die wesentlichen Elemente der Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000, die mit diesem Gesetzentwurf umgesetzt wird.“ Uns aber soll an dieser Stelle nicht die offenkundig paktierte Gesetzgebung interessieren und auch nicht die weniger sichtbare, aber häufigere normvorbereitende Kooperation,39 sondern die andere Seite der Medaille: denn wenn es Sinn macht, von kooperativer Rechtserzeugung zu sprechen,40 so ist es ein nahe liegender Gedanke, auch in die andere Richtung zu schauen und zu fragen, ob es auch so etwas wie kooperative Normvermeidung gibt. In der Tat gibt es die, und zwar in rechtsverbindlicher wie in informal verabredeter Weise und auf nationalstaatlicher wie auf europäischer Ebene. 37

Hier zitiert nach Schneider (Fn. 36), 44. Entwurf eines Gesetzes zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität, BT-Drucks. 14/7261 vom 1.11.2001. 39 Lehrreich dazu Ritter Das Recht als Steuerungsmedium im kooperativen Staat, in: Grimm (Hrsg.) Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, 69 ff., 74 f. 40 Siehe Schuppert Erscheinungsformen und Grenzen kooperativer Rechtsetzung, in: Osterloh/Schmidt/Weber (Hrsg.) FS Selmer 2004, 227–246; vor allem aber Becker Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005. 38

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1. Normvermeidende Verträge Dass es so etwas wie normvermeidende Verträge geben kann, zeigt nicht nur das schon behandelte Beispiel des Atomausstiegs, sondern vor allem der auf der kommunalen Ebene vorkommende satzungsabwendende Vertrag: „Als ein weiteres Instrument kommen schließlich rechtsverbindliche normvermeidende Verträge als Alternative zu den Absprachen in Betracht. Diese Form der Kooperation zwischen Staat und Wirtschaft ist bislang in der Bundesrepublik nur selten praktiziert worden. In der deutschen Absprachepraxis finden sich bisher nur einige Beispiele aus dem Bereich des Bauplanungsrechts, die allerdings einen anderen Gegenstand haben als die im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Absprachen: Sie betreffen die Verpflichtung einzelner Gemeinden zum Nichterlaß eines Bebauungsplanes im Gegenzug gegen ein bestimmtes Verhalten Privater. Es handelt sich also um satzungsabwendende Verträge.“41 2. Normvermeidende bzw. normabwendende Absprachen Prototyp der normvermeidenden informalen Absprachen sind die sog. Selbstverpflichtungen der Wirtschaft,42 auf die wir daher einen kurzen Blick werfen wollen; reiches Material finden wir dazu in der jüngst erschienenen Untersuchung von Gabriele Hucklenbruch, die eine große Zahl von Beispielen zusammengetragen hat, von denen wir die vier instruktivsten herausgesucht haben:43 • Erklärung zur Reduzierung der Gewässerbelastung durch EDTA (Ethylendiamin-tetraessigsäure) vom 31. Juli 1991 als Ergebnis von Gesprächen zwischen Vertretern der chemischen Industrie, der BASF AG als Hersteller von EDTA, der Wasserwirtschaft und den Behörden; • Erklärung der Industriegemeinschaft Aerosole e.V. (IGA) über die Reduzierung des Einsatzes vollhalogenierter Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) in Spraydosen vom 13. August 1987; • Selbstverpflichtungserklärung der deutschen Wirtschaft vom März 1995 zur Reduzierung von CO2-Emissionen und des Energieverbrauchs; • Freiwillige Selbstverpflichtung zur umweltgerechten Altautoverwertung (Pkw) im Rahmen des Kreislaufwirtschaftsgesetzes vom 21. Februar 1996. 41

Köpp Normvertretende Absprachen zwischen Staat und Wirtschaft, 2001, 270. Frühe Diagnosen bei Kaiser Industrielle Absprachen im öffentlichen Interesse, NJW 1971, 585 ff.; von Zezschwitz Wirtschaftliche Lenkungstechniken – Selbstbeschränkungsabkommen, Gentlemen’s agreement, Moral Suasion, Zwangskartell, Juristische Arbeitsblätter (JA) 1978, 497 ff. 43 Hucklenbruch Umweltrelevante Selbstverpflichtungen – ein Instrument progressiven Umweltschutzes?, 2000, 31 ff. 42

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Diese vier Beispiele veranschaulichen in eindrucksvoller Weise den vermeidungs-strategischen Einsatz von Selbstverpflichtungen: es soll Zeit gewonnen werden, und es geht darum, entweder sich politisch abzeichnende oder unmittelbar bevorstehende rechtliche Regelungen in Gestalt von Verordnungen oder Gesetzen abzuwenden. Insoweit handelt es sich in der Tat um eine Erscheinungsform kooperativer Normvermeidung durch eine zum Teil sehr detaillierte Normsubstitution, indem etwa konkrete Zielvereinbarungen sowie Berichts- und Kontrollpflichten „verbindlich“ zugesagt werden. Insofern handelt es sich um eine hybride Handlungsform, die zwar noch unterhalb des rechtsverbindlichen Vertrages mit gerichtlicher Durchsetzbarkeit liegt, andererseits aber über eine unverbindliche Verständigung weit hinausgeht. Von ihrer verhaltenssteuernden Wirkung her fungieren diese normvermeidenden Absprachen jedenfalls als Quasi-Rechtsnormen. Nach diesem Einblick in einige Funktionen von „Contract Governance“ wollen wir nunmehr beispielhaft noch zwei der von Riesenhuber/Möslein genannten Fallgruppen näher studieren, nämlich die „regulatory functions“ von „Contract Governance“ und die „Governance des Vertragsrechts“, also die Entwicklung von Regeln für Verträge.

D. Contract Governance als Regulierung Wenn von Regulierung die Rede ist, so denkt man in aller Regel an die gesetzliche Regulierung privatisierter, meistens netzgebundener Dienstleistungen und die Bundesnetzagentur als dem Paradebeispiel für den Typus der Regulierungsbehörde, an ein Rechtsgebiet also, für das sich der Begriff des Regulierungsverwaltungsrechts herausgebildet hat.44 Verträge als Regulierungsinstrumente werden hingegen – so weit wir sehen – in den Darstellungen des Regulierungsrechts kaum behandelt und selbst in dem hervorragenden Überblick von Martin Eifert45 über die gängigen Regulierungsstrategien sucht man nach ihnen vergeblich. Aus diesem Schattendasein werden sie aber nun entschlossen und kenntnisreich von Jan Freigang herausgeführt, der „Verträge als Instrumente der Privatisierung, Liberalisierung und Regulierung in der Wasserwirtschaft“ untersucht hat.46 Er hat als ein Teilergebnis seiner Arbeit ein Modell der Regulierung durch Verträge herausgearbeitet, auf das wir einen kurzen Blick werfen wollen: 44 Siehe dazu Masing Grundstrukturen eines Regulierungsverwaltungsrechts, Die Verwaltung 36 (2003) 1 ff. 45 Eifert Regulierungsstrategien, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.) Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, Methoden – Maßstäbe – Aufgaben – Organisation, 2006, § 19, 1237–1310. 46 Freigang Verträge als Instrumente der Privatisierung, Liberalisierung und Regulierung in der Wasserwirtschaft, 2009, Schriften zum Umweltrecht, Band 164.

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I. Verhältnis von Vertrag und Vertragsrecht In einem ersten Schritt behandelt er das Verhältnis von Vertrag und Vertragsrecht. Dabei versteht er den Vertrag als ein Gerüst privater Normen, die nicht unbedingt – wie der öffentlich-rechtliche Vertrag zeigt – privatrechtliche Normen sein müssen, sondern die deshalb privat heißen, weil sie unmittelbare Regelungswirkung nur zwischen den Vertragsparteien entfalten, d.h. bei Personen, die die Normen selbst gesetzt haben. Das Vertragsrecht hingegen umfasst alle staatlichen Normen, die Regeln für Verträge aufstellen. Dieses Vertragsrecht enthält Normen, die an eine Vielzahl von Vertragspartnern gerichtet sind und47 • hinsichtlich der privaten Normsetzung durch Vertrag sowohl Norminhalt als auch das Normsetzungsverfahren beeinflussen oder • generelle Vorgaben für das vom Vertrag betroffene Regelungsfeld (z.B. die Wasserwirtschaft) enthalten und daher auch von den Vertragspartnern bei ihrer „privaten“ Normsetzung berücksichtigt werden müssen. Was in diesem Sinne im Bereich der Wasserwirtschaft alles zum Vertragsrecht gehört, erläutert er uns wie folgt:48 „Im Falle von Privatisierungsverträgen in der Wasserwirtschaft zählen zum so verstandenen Vertragsrecht im weiteren Sinne nicht nur das Schuld-, Handels- und Gesellschaftsrecht und womöglich das Recht der öffentlich-rechtlichen Verträge, sondern auch das Vergaberecht, das Kommunalrecht sowie das Wasser- und Abwasserrecht. Daraus folgt, dass Normen des Vertragsrechts nicht nur unmittelbar, sondern auch mittelbar auf die Normen des Vertrages Einfluß nehmen: Sie können die Vereinbarung bestimmter privater Normen zwingend fordern oder Anreize hierfür geben, Beispiele hierfür sind neben Vorschriften über das Vergabeverfahren spezielle Anordnungen wie z. Bsp. in § 46a Abs. 1 S. 4 Nr. 4 LWG RP, wonach die Genehmigung für Privatisierungsverträge nur erteilt wird, wenn sich der Private zur Prüfung seines Jahresabschlusses nach den für Eigenbetriebe der Gemeinden geltenden Vorschriften und zur öffentlichen Bekanntmachung des Jahresabschlusses verpflichtet. Ein Beispiel für eine Anreiznorm ist die Bereitstellung eines freiwilligen Benchmarking- oder Zertifizierungsverfahrens. Die Teilnahme hieran kann in der Wahrnehmung privater Unternehmen ihre Chancen bei Ausschreibungen und ihr Ansehen in laufenden Verträgen erhöhen.“ Dieses Verständnis des Verhältnisses von Vertrag und Vertragsrecht ermöglicht es Freigang, auch die Verträge zwischen der öffentlichen Hand, 47 48

Freigang (Fn. 46), 301. Freigang (Fn. 46), 301.

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vor allem den Kommunen, und Privaten als Erscheinungsform der Selbstregulierung zu verstehen. Dies ist insofern etwas ungewöhnlich, als in der Regulierungsdebatte unter Selbstregulierung in aller Regel die ohne staatliche Beteiligung stattfindende gesellschaftliche Selbstregulierung49 verstanden wird. Zu Recht macht Freigang aber den folgenden Punkt: wenn die Rechtsordnung es der öffentlichen Hand, insbesondere den Kommunen, erlaubt, öffentliche Aufgaben auch dadurch wahrzunehmen, dass sie in Vertragsform handelt – was sie dauernd tut – dann impliziert dies notwendig einen Raum der Selbststeuerung und der autonomen vertraglichen Rechtserzeugung. Wenn man Selbstregelung in diesem Sinne versteht, können wir Freigang durchaus folgen. Bei dem Verhältnis von vertraglicher Selbstregelung und dem rahmenhaft steuernden Vertragsrecht handelt es sich dann – anders ausgedrückt – um das Verhältnis von Selbst- und Fremdregulierung, wobei diese Fremdoder Rahmenregulierung in drei Varianten auftritt, nämlich als50 • selbstregulierungsfördernd • selbstregulierungsergänzend oder • selbstregulierungsersetzend. Zusammenfassend heißt es dazu bei ihm wie folgt:51 „Bei der ersten Zuordnung vertraglicher Regulierungsmechanismen zum Bereich der Selbstregulierung und der jeweils notwendigen Abgrenzung zu Bereichen der Fremdregulierung wurde bereits deutlich, dass vielfach ein funktionaler Bezug zwischen Selbst- und Fremdregulierung besteht. Versucht man diesen funktionalen Bezug zu modellieren, so lassen sich drei Kategorien von Vertragsrecht im weitesten Sinne bilden: Mechanismen, die (1.) die Selbstregulierung erst ermöglichen oder fördern, die (2.) vertragliche Selbststeuerung durch Verfahren, Institutionen oder Normen ergänzen und strukturieren und solche, die (3.) Selbststeuerung begrenzen, ausschließen oder an deren Stelle treten. Diese Modellierung ist angelehnt an die von Trute52 eingeführten und von Schuppert53 fortgedachten drei Funktionen der Strukturierung von Kooperationen, (1.) Ermöglichung von Kooperationen, (2.) Strukturierung von Kooperationen und (3.) Begrenzung von Kooperationen, orientiert sich jedoch eher am Grad und an der Zielrich49

Siehe Eifert (Fn. 45), Rn. 144 ff. Freigang (Fn. 46), 308 f. 51 Freigang (Fn. 46), 308, 309. 52 Trute Vom Obrigkeitsstaat zur Kooperation, in: Hendler/Marburger/Reinhardt/ Schröder (Hrsg.) Rückzug des Ordnungsrechts im Umweltschutz, 1999, 13 ff. 53 Schuppert Grundzüge eines zu entwickelnden Verwaltungskooperationsrechts – Regelungsbedarf und Handlungsoptionen eines Rechtsrahmens für Public Private Partnerships – Rechts- und verwaltungswissenschaftliches Gutachten erstellt im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, 2001. 50

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tung der Einmischung der Fremdregulierung in die vertragliche Selbststeuerung.“

II. Techniken vertraglicher Selbstregulierung In seiner Arbeit schlägt Freigang vor, zwei Arten von vertraglicher Selbstregulierung zu unterscheiden, nämlich die Selbstregulierung über Delegationsverträge und die Selbstregulierung über Gesellschaftsverträge, die er in Kurzform wie folgt kennzeichnet:54 „Die Gemeinde verlagert in Delegationsverträgen Aufgaben auf Private und bezieht diese in die Erfüllung eigener Aufgaben mit ein. Diese Vertragsart wird durch die Abgrenzung von funktionalen Verantwortlichkeiten, Definitionen von aufgabenbezogenen Rechten und Pflichten und möglicherweise durch Kontroll- und Sanktionsmechanismen charakterisiert. Zum anderen besteht häufig eine gesellschaftliche Bindung der Gemeinde zum Adressaten der Delegation, d.h. ein Gesellschaftsvertrag, der sich vor allem durch die Definition institutioneller Verantwortlichkeiten und verfahrensbezogener Rechte und Pflichten auszeichnet.“ Zum Verständnis dieser beiden Vertragstypen scheint uns dieses Kurzportrait vollkommen auszureichen, so dass wir diesen Gliederungspunkt mit der von Freigang präsentierten und nachstehend abgedruckten Übersicht abschließen können:55

54 55

Freigang (Fn. 46), 311. Freigang (Fn. 46), 338, 339.

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Übersicht über Spielräume und Techniken vertraglicher Selbstregulierung

Normsetzung

Delegationsverträge

Gesellschaftsverträge

PerformanceStandars: z.B. Ökologisierung

Stimmrechte in Gesellschafterversammlung

Betriebswirtschaftliche Standars, z. B. Investitionen

Zustimmungsvorbehalte des Gemeinderates

Preisstandards

Leistungsstandards Weisung ggü. (im VergaGeschäftsfühbeverfahren) rern (in GmbH)

Leistungsfremde Vereinbarungen?

Anpassung durch Dritte Preissetzung durch Dritte Weisungsrechte Dritter Nachverhandlungsklauseln Kündigungsklauseln Befristungsklauseln Informations- / Kooperationspflichten

Institutionelle Vorkehrungen

Aufsichts- oder Beiräte (auch in AG Zustimmungsvorbehalte möglich) Standardsetzung durch Dritte (Bestimmungsklauseln)

Gemeinwohlorientierung Beachtung kommunaler Grds. Definition des Geschäftsfeldes

Gesellschaftszweck und Unternehmensgegenstand

Vinkulierung/ Namensaktien Flexibilisie- Vorkaufsrecht rungsstandards / pro- Beherrzedurale schungsvertrag Standards

Privilegierung des kommunalen Gesellschafters

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Delegationsverträge Kontrolle Controlling (innerbetrieblich) Verhaltenskontrolle (Kontrolle Monitoring (durch der StanGemeinde/Beauf- dardeinhaltung) tragte)

Kommunale Vertreter, in GmbH Durchgriffsrecht auf Geschäftsführung Personelle Betriebsbeauf- Kontrolle tragte

Kontrolle Dritter, z.B. Ombudsman

Externe Wirtschaftsprüfer

Verfahren bei Differenzen der Vertragsauslegung

Rechenschaftspflichten

Neuverhandlung

Sanktion

Gesellschaftsverträge

Standardkontrolle

Definition von Sanktionsschwellen Verfahren für nicht vorhersehbare Störungen

Offenlegungspflichten ggü. Gemeinderat/ Öffentlichkeit

Dokumentationspflichten

Abberufung

Sanktionsprävention

Schadensersatz

Sanktionen gegen Organe

Versicherungspflichten Vertragsbeendigung (Rücktritt/Kündigung)

Auflösungsklauseln

Vertragsstrafen/ Schadensersatz

Rückerwerbsklauseln

Ersatzvornahme/ Unterwerfung unter sofortige Voll- Sanktionsausübung streckung Rückfallregeln/ Kompensation

Sanktionen gegen Mitgesellschafter Außerordentliche Kündigungsrechte

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E. Governance von Verträgen: das Beispiel eines Verwaltungskooperationsrechts I. Verwaltungskooperation als Realbefund und als Reformstrategie Verwaltungskooperation – insbesondere in Gestalt von Public Private Partnership (PPP) – liegt – wie man allenthalben nachlesen kann – nach wie vor voll im Trend; für diesen unstreitigen Befund wollen wir Hartmut Bauer in den Zeugenstand bitten, der dazu unlängst Folgendes festgehalten hat:56 „Verwaltungskooperation liegt im Trend! Sie erfasst sowohl die Zusammenarbeit von Trägern öffentlicher Verwaltung mit Privaten als auch die Zusammenarbeit von Verwaltungsträgern mit anderen Verwaltungsträgern. Als Motive für solche Kooperationen werden typenübergreifend u.a. genannt: Kostensenkungen und Einsparungen durch Kräftebündelung, Zusammenführung von Sachkompetenz und Know-how der beteiligten Akteure, Stärkung der Verwaltungskraft, Effizienzsteigerungen und ähnliche Synergieeffekte.57 Daher ist die kooperative Erledigung von Verwaltungsaufgaben ein wichtiger Baustein in Konzepten zur Staats- und Verwaltungsmodernisierung geworden.“ In der Tat: Verwaltungskooperation ist nicht nur trendy, sondern gilt als Ausweis von Modernität und Reformbereitschaft;58 nach Andreas Voßkuhle gehört da der Begriff der Kooperationalisierung zu den Schlüsselbegriffen der Verwaltungsrechtsreform,59 da die zunehmende Kooperation der Verwaltung mit Privaten einen wichtigen Ausschnitt des Zentralproblems modernen Verwaltens darstellt, das man mit Arno Scherzberg als die Gestaltung des „Zusammenwirkens von öffentlicher und privater Handlungskompetenz“ bezeichnen kann.60 Inzwischen ist der Begriff der Öffentlich-Privaten Partnerschaften auch in die Sprache des Gesetzgebers eingegangen, der sie in der Begründung des Gesetzes zur „Beschleunigung der Umsetzung von Öffentlich-Privaten Partnerschaften und zur Verbesserung gesetz56 Bauer Verwaltungskooperation – Public Private Partnerships und Public Public Partnerships – Einführende Problemskizze –, in: Bauer/Büchner/Brosius-Gersdorf (Hrsg.) Verwaltungskooperation, 2008, 9. 57 Bauer Verwaltungsverträge, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.) Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, 2008, § 36 Rn. 44, 49. 58 Dazu Schuppert Modernisierungskonzepte und -strategien für die öffentliche Verwaltung in Europa: Einsatz von Neuen Steuerungs-Modellen, in: Schäffer/IliopoulosStragas (Hrsg.) Staatsmodernisierung in Europa, 2007, 183–228. 59 Voßkuhle „Schlüsselbegriffe“ der Verwaltungsrechtsreform – eine kritische Bestandsaufnahme –, VerwArch 2002, 184–215. 60 Scherzberg Wozu und wie überhaupt noch öffentliches Recht?, 2003, 19 ff.

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licher Rahmenbedingungen für Öffentlich-Private Partnerschaften“ wie folgt skizziert hat:61 „Die Finanzierungsprobleme öffentlicher Haushalte, die erheblichen Vorbelastungen aus Schuldendiensten, das hohe Leistungsniveau des Staates und der erhebliche Bedarf an öffentlichen Infrastrukturen zwingen dazu, über die derzeitige Arbeitsteilung zwischen Staat und Privatwirtschaft neu nachzudenken. Eine Antwort auf diese Problemlage bieten Öffentlich Private Partnerschaften (ÖPP). Mit Öffentlich Privaten Partnerschaften wird eine dauerhafte, in beiderseitigem Vorteil liegende, dem Gemeinwohl dienende Kooperation zwischen öffentlichen Händen und Privatwirtschaft angestrebt. Insofern stellten ÖPP einen wichtigen Baustein zur Modernisierung des Staates dar. ÖPP heißt Kooperation von öffentlicher Hand und privater Wirtschaft beim Entwerfen, bei der Planung, Erstellung, Finanzierung, dem Management, dem Betreiben und dem Verwerten von bislang in staatlicher Verantwortung erbrachten öffentlichen Leistungen.“

II. Notwendigkeit eines „Ordnungsrahmens [. . .], innerhalb dessen die Regeln für Verträge gesetzt werden?“62 Angesichts dieses eindeutigen Befundes, dass die öffentliche Verwaltung nahezu täglich und intensiv mit Privaten vertraglich kooperiert, stellt sich gewissermaßen von ganz allein die Frage, ob es nicht über die sehr punktuellen, vor allem wettbewerbsrechtlichen Regeln des Beschleunigungsgesetzes hinaus eines gesetzlichen Ordnungsrahmens bedarf, der Regeln für solche – untechnisch gesprochen – Zusammenarbeitsverträge zwischen Verwaltung und Privaten im Sinne eines Verwaltungskooperationsrechts63 bereitstellt.64 Denn im Bereich der Kooperationalisierung geht es nicht nur um die organisatorische und verfahrensmäßige Strukturierung von Kooperationsverhältnissen, sondern auch um die Entwicklung von kooperationsstrukturierenden Rechtsinstituten. Paradebeispiel für die Kreierung eines solchen kooperationsstrukturierenden Rechtsinstituts könnte – so die Überlegungen des Leitprojekts „rechtliche Regelungen für Public Private Partnership“ der 61

BT-Drucks. 15/5668 vom 14.6.2005, 10. Riesenhuber/Möslein (Fn. 7), 14. 63 Siehe dazu Bauer Zur notwendigen Entwicklung eines Verwaltungskooperationsrechts, in: Schuppert (Hrsg.) Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat, 1999, 251 ff. 64 Zur Bereitstellungsfunktion des Rechts siehe Schuppert Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft – Zur Steuerung des Verwaltungshandelns durch Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.) Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts: Grundfragen, 1993, 65 (insbes. 96 ff., 98 ff., 111 ff.). 62

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damaligen Bundesregierung65 – das Institut eines Kooperationsvertrages sein, den es so im Verwaltungsverfahrensgesetz bisher nicht gibt. Das für die „Betreuung“ des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes zuständige Bundesinnenministerium überlegte daher, ob nicht im Rahmen der Verwaltungsmodernisierung auch ein eigenständiger Rechtsrahmen für die vielfältigen Erscheinungsformen von PPP geschneidert werden sollte und beauftragte daher zwei Professoren des öffentlichen Rechts und der Verwaltungswissenschaft, sich gutachterlich zur Realisierbarkeit eines solchen Vorhabens zu äußern. Beide bei dieser Wahrnehmung der staatlichen Infrastrukturverantwortung tätigen Helfer (Schuppert und Ziekow66) kamen zu dem Ergebnis, dass das Verwaltungsverfahrensgesetz ergänzt und mehrere Vorschriften zur Regelung der Zusammenarbeit von Verwaltung und Privaten im Sinne von PPP aufgenommen werden sollten. Was beide Gutachter mit ihren Vorschlägen also machten, war der Sache nach nichts Anderes als Regelungsstrukturen zu entwerfen, um „Governance von Public Private Partnership“ zu erleichtern und rechtsstaatlich zu kanalisieren. Der beim BMI bestehende Beirat „Verwaltungsverfahrensrecht“ hat sich mit der in den Gutachten anvisierten „großen Lösung“ nicht recht anfreunden können.67 Regierungsintern liegt aber seit längerem ein Referentenentwurf vor, der eine „behutsame Überarbeitung“ der §§ 54 ff. VwVfG anstrebt und mit einer sog. „kleinen Lösung“ den Kooperationsvertrag als neuen Vertragstyp in das Verwaltungsverfahrensgesetz aufnehmen will. Das minimalistische Ergebnis liest sich wie folgt:

§ 56 a Kooperationsvertrag Ein öffentlich-rechtlicher Vertrag im Sinne des § 54 Abs. 3 kann geschlossen werden, wenn die Behörde sicherstellt, daß ihr ein hinreichender Einfluß auf die ordnungsgemäße Erfüllung der öffentlichen Aufgabe verbleibt. Die 65 Siehe dazu das im Anschluss an die Koalitionsvereinbarung im Oktober 1998 schon von der rot-grünen Bundesregierung in Angriff genommene Leitprojekt „Rechtliche Regelungen für Public Private Partnership“ im Rahmen des vom Bundeskabinett am 1.12.1999 verabschiedeten Programms „Moderner Staat – Moderne Verwaltung – Leitbild und Programm der Bundesregierung“ (im Internet abrufbar unter http://www.bmi.bund. de/Internet/Content/Common/Anlagen/Broschueren/1999/Moderner__Staat__Moderne __Id__1447__de,templateld=raw,property=publicationFile.pdf/Moderner_Staat__Moderne_Id-1447.de.pdf [Stand: 15.4.2008]). 66 Schuppert (Fn. 53); Ziekow Verankerung verwaltungsrechtlicher Kooperationsverhältnisse (Public Private Partnership) im Verwaltungsverfahrensgesetz, 2001, beide Gutachten zu beziehen beim Bundesministerium des Innern unter http://www.staatmodern.de/dokumente/sm_bestellservice/,-548357/dok.htm. 67 Näheres zu den vorbereitenden Tätigkeiten auf dem Weg zum Gesetzentwurf und insbes. zur sog. „großen Lösung“ sowie der in der Gesetzgebungspraxis bevorzugten „kleinen Lösung“ bei Schmitz „Die Verträge sollen sicherer werden“ – Zur Novellierung der Vorschriften über den öffentlich-rechtlichen Vertrag, DVBl 2005, 17, 19 ff.

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Behörde darf nur einen Vertragspartner auswählen, der fachkundig, leistungsfähig und zuverlässig ist.

III. Governanceinstrumente eines Verwaltungskooperationsrechts Wir selbst hatten uns bei unseren Regelungsvorschlägen an dem Leitbild des Gewährleistungsstaates68 orientiert und deshalb Vorschriften vorgesehen, die die sog. Gewährleistungsverantwortung des Staates und seiner Verwaltung konkretisierend ausbuchstabieren. Statt unsere Vorschläge hier zu wiederholen, wollen wir einige Vorschriften aus dem „Gesetz zur Erleichterung öffentlich-privater Partnerschaften des Landes Schleswig-Holstein vom 19.6.2007“69 wiedergeben, die ganz offensichtlich denselben Geist atmen. Unverzichtbar erscheint zunächst, die Zulässigkeit der Zusammenarbeit mit Privaten vorsorglich ausdrücklich klarzustellen:

§2 Zulässigkeit der Zusammenarbeit mit Privaten (1) Soweit überwiegende öffentliche Interessen oder gesetzliche Vorschriften nicht entgegenstehen, können die Träger der öffentlichen Verwaltung bei der Erledigung der von ihnen wahrgenommenen Aufgaben mit Privaten auf vertraglicher Grundlage zusammenarbeiten. Die Zusammenarbeit kann sich auf unterstützende Tätigkeiten der Privaten ohne Außenwirkung, ihre unmittelbare Einbeziehung in die Erledigung der von den Trägern der öffentlichen Verwaltung wahrgenommenen Aufgaben oder eine Aufgabenübertragung auf die Privaten beziehen. (2) Eine Zusammenarbeit mit Privaten nach Absatz 1 lässt die Verpflichtungen des Trägers der öffentlichen Verwaltung gegenüber Dritten bei der Erledigung der von ihnen wahrgenommenen Aufgaben unberührt. Hilfreich ist es sicher auch, die Gegenstände der vertraglichen Zusammenarbeit genauer zu bezeichnen:

§3 Gegenstände vertraglicher Zusammenarbeit Gegenstände der vertraglichen Zusammenarbeit zwischen den Trägern der öffentlichen Verwaltung und Privaten können insbesondere sein: 1. Übernahme der Planung, des Baus, der Finanzierung und des Betriebs einer dem Träger der öffentlichen Verwaltung gegen regelmäßiges Nutzungsentgelt zur Nutzung zu überlassenden Immobilie durch den Privaten, 68 Siehe dazu die Beiträge in Schuppert (Hrsg.) Der Gewährleistungsstaat – ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2005. 69 GVBl. S. 328; hier zitiert nach dem Abdruck in Bauer (Fn. 56), 25 ff.

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2.

3.

4.

5.

6.

a) verbunden mit dem Eigentumsübergang zum Ende der Vertragslaufzeit (Erwerbermodell), b) verbunden mit der Option zum Erwerb der Immobilie zum Ende der Vertragslaufzeit (Leasingmodell), c) ohne Erwerbsoption zum Ende der Vertragslaufzeit (Mietmodell); Übernahme der Planung, des Neu-, Aus- oder Umbaus oder der Sanierung, der Finanzierung und des Betriebs einer im Eigentum des Trägers der öffentlichen Verwaltung stehenden Immobilie durch den Privaten gegen regelmäßiges Nutzungsentgelt (Inhabermodell); Übernahme von Bauarbeiten und betriebswirtschaftlichen Optimierungsmaßnahmen von bestimmten technischen Anlagen und Anlagenteilen durch den Privaten gegen ein regelmäßiges, zu Beginn der Zusammenarbeit festzulegendes Entgelt (Contractingmodell); Übertragung von Aufgaben eines Trägers der öffentlichen Verwaltung auf eine Gesellschaft zur eigenverantwortlichen Erledigung, an der neben dem Träger der öffentlichen Verwaltung mindestens ein Privater gesellschaftsrechtlich beteiligt ist (Gesellschaftsmodell); Übertragung von Aufgaben eines Trägers der öffentlichen Verwaltung auf einen Privaten zur eigenverantwortlichen Erledigung, verbunden mit der Übertragung oder Einräumung der Befugnis zur Erhebung von zivilrechtlichen Entgelten oder öffentlich-rechtlichen Gebühren (Konzessionsmodell); Mischformen der in Nummer 1 bis 5 genannten Modelle.

Der Gewährleistungsstaat meldet sich in § 7 des Gesetzes zu Wort, in dem es um die Gewährleistung von Aufsichts- und Kontrollrechten geht:

§7 Einflusssicherung und Aufsicht (1) In den mit den Privaten zu schließenden Verträgen über die Zusammenarbeit nach § 2 Abs. 1 ist in geeigneter Weise sicherzustellen, dass den Trägern der öffentlichen Verwaltung ein hinreichender Einfluss auf die Erfüllung der den Privaten obliegenden Leistungspflichten eingeräumt wird, soweit dies zur Sicherstellung der von den Trägern der öffentlichen Verwaltung wahrgenommenen Aufgaben erforderlich ist. (2) Werden die Privaten in die Erfüllung der den Trägern der öffentlichen Verwaltung gegenüber Dritten obliegenden Aufgaben unmittelbar einbezogen oder werden ihnen diese Aufgaben ganz oder teilweise übertragen, müssen den Trägern der öffentlichen Verwaltung vertragliche Einwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten eingeräumt werden, die eine jederzeitige Sicherstellung der von den Privaten zu erfüllenden Leistungspflichten gewährleisten, insbesondere Auskunfts-, Selbsteintritts-, Übernahme- oder Vetorechte, Genehmigungs- oder Abstimmungsvorbehalte oder das Recht zur außerordentlichen Kündigung des Vertrages im Falle einer schwerwiegenden Störung des

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Vertragsverhältnisses. Bei gesellschaftsrechtlicher Ausgestaltung der Vertragsbeziehung ist durch Gesellschaftsvertrag, Satzung oder in anderer Weise außerdem sicherzustellen, dass den Trägern der öffentlichen Verwaltung insbesondere im Aufsichtsrat oder einem entsprechenden Kontrollorgan der Gesellschaft ein angemessener Einfluss eingeräumt wird. Während diese Vorschriften sozusagen den Grundkonsens der Befürworter eines Verwaltungskooperationsrechts zum Ausdruck bringen und daher wenig Neues enthalten, gilt dies nicht für einen Vorschlag von Dietrich Budäus und Birgit Grüb,70 die zur Deckung des für jede Steuerungsaktivität unverzichtbaren Informationsbedarfs die Einführung eines sog. Transparenzberichts empfehlen, mit dessen Vorstellung wir unsere tour d’horizon durch das Gebiet von contract governance abschließen wollen:71 Elemente eines Transparentberichts für PPP

70

Dietrich Budäus/Birgit Grüb, Publiv Private Partnership (PPP): Zum aktuellen Entwicklung- und Diskussionsstand, in: Hartmut Bauer et al. (Hrsg.), Verwaltungskooperation (Fn. 56), S. 33ff. 71 Budäus/Grüb (Fn. 70), S. 48.

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F. Ausblick: Contract Governance als Bestandteil einer zu entwickelnden Regelungswissenschaft Schon seit längerem ist uns klar, dass mit der herkömmlichen Gesetzgebungslehre kein Staat zu machen ist: sie ist nationalstaatlich verengt – die spannenden transnationalen Verrechtlichungsprozesse kann sie daher nicht wahrnehmen – und auf die klassischen Rechtsetzungsformen wie Gesetz, Verordnung und Satzung fixiert, so dass sie neuartige Regelungsformen wie Standards und Codes of Conduct nicht behandelt. Sie denkt zudem „öffentlich-rechtlich“ und hat daher keinen Sinn für vertragliche Regelsetzung und damit auch nicht für „Contract Governance“. Es bedarf daher unseres Erachtens eines Neuansatzes im Sinne einer Regelungswissenschaft, die die soeben angetippten Phänomene allesamt in den Blick nimmt und es wagt, aus dem Ghetto der Gesetzgebungslehre auszubrechen. Wir schließen unseren Beitrag in der Hoffnung, dass die Diskussion über „Contract Governance“ ein zusätzlicher Anstoß sein möge, um das Projekt einer Regelungswissenschaft über unseren ersten Ansatz hinaus72 weiter voranzubringen.

72

Schuppert (Fn. 10).

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Zukunft des Europarechts Zukunft des Europarechts Ingolf Pernice

Zukunft des Europarechts Zwischen Revolution und Alltag INGOLF PERNICE*

I. II. III. IV. V.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europarecht: Eine rechtliche Revolution . . . . . . . . . . . Europäisierung des innerstaatlichen Rechts . . . . . . . . . Europarecht im juristischen Alltag heute und in Zukunft Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Die Europäische Gemeinschaft hat im März 2007 ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Eine Reihe von Vertragsänderungen, eine Vielzahl von Rechtsetzungsakten und eine umfangreiche Jurisprudenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) – seit einiger Zeit auch des Gerichts erster Instanz (GEI) – im Dialog mit den Gerichten der Mitgliedstaaten haben aus der ursprünglichen europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine politische Union werden lassen, deren Bedeutung und Ausdehnung die Vorstellungen und Träume ihrer Gründer vermutlich weit übertrifft. Sie beschert Europa Frieden und Wohlstand, unter ihrem Dach wurde die Wiedervereinigung Deutschlands möglich, sie gibt den kleinen Völkern Europas Stimme und Gewicht in der großen Welt. Trotz des Scheiterns des im neuen Konventsverfahren erarbeiteten Vertrags über eine Verfassung von Europa und der Unsicherheiten über das Inkrafttreten des inhaltlich nicht weniger ambitioniertenVertrags von Lissabon schreitet der Ausbau der europäischen Rechtsordnung mit erheblichem Schwung voran. Die Anpassung des Primärrechts an die Erfordernisse der Erweiterung der Union von ursprünglich sechs auf jetzt 27 und bald 30 Mitgliedstaaten, aber auch an die Vorstellungen der Menschen über das notwendige Maß an *

Professor Dr. jur., Dr. h.c. Lehrstuhl für öffentliches Recht, Völker- und Europarecht der Humboldt-Universität zu Berlin, gf. Direktor des Walter Hallstein Instituts für Europäisches Verfassungsrecht der Humboldt-Universität zu Berlin (WHI) (www.whiberlin.de). Dieser Beitrag wurde im Juni 2009 abgeschlossen.

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demokratischer Legitimation, Transparenz und Grundrechtsbindung ist auf der europäischen Verfassungsebene die Bedingung für das, was zunehmend als Europäisierung des innerstaatlichen Rechts wahrgenommen wird. Die europäische Integration betrifft das für die in Europa lebenden und wirkenden Menschen geltende Rechtssystem insgesamt, sie ist Integration durch Recht, vor allem aber Integration der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, ihre Einbindung in ein größeres Ganzes. Die Frage nach der Zukunft des Europarechts verlangt damit schon vom Gegenstand her eine Antwort, die nicht allein die Europäischen Verträge und die Rechtsakte der europäischen Organe – also das Primär- und das Sekundärrecht der EU und EG – im Auge hat, sondern auch das Recht der Mitgliedstaaten. Die Zukunft des Europarechts entscheidet darüber, ob es in Zukunft noch – oder vielleicht nur noch – Europarechtler geben wird. Es geht um die Frage des Bestands und der Entwicklung eines eigenen juristischen Faches, das fester Teil der juristischen Ausbildung geworden ist, um seinen Einfluss auf andere juristische Fächer, seine Eigenarten, seine speziellen Methoden und auch um die Vertreter dieses Faches. Ist der Europarechtler gleichzusetzen mit dem, was als „europäischer Jurist“ bezeichnet wird und für den unsere Juristische Fakultät zusammen mit dem King’s College in London und der Universität Paris II (Panthéon-Assas) sogar ein spezielles Studienprogramm geschaffen hat? Jedenfalls wird das Europarecht kennen müssen, wer sich als europäischer Jurist ausgibt. Europäische Juristen, soweit das Wort „europäische” nicht nur als Herkunftsbezeichnung verstanden wird, werden die Hauptakteure des Europarechts sein. Europarecht berührt, ja durchdringt Schritt für Schritt die meisten anderen lebenden Rechtsgebiete. Jeder Jurist muss davon eine Vorstellung haben, will er seinen Beruf verantwortlich ausüben; so wird jeder Jurist mehr oder weniger auch „europäischer“ Jurist. Aber was ist das Europarecht, was sein Gegenstand, was sind seine Besonderheiten und was könnte nach allem seine Zukunft sein?

II. Europarecht: Eine rechtliche Revolution In einer Festschrift, die Geschichte mit Zukunft verbinden will, ist auch für die Beiträge zur Zukunft ein Stück Geschichte unerlässlich. Wie der amerikanische Novellist William Faulkner sagt: „The past is never dead. It’s not even past“,1 sind die Europäische Union und das Europarecht mit seinen für Staat und Recht nahezu revolutionären Innovationen nur über die Geschichte zu verstehen: Als ein Neuanfang nach Jahrhunderten von Krieg und Verwüstung zwischen den europäischen Staaten und nach den Grauen 1

Faulkner Requiem for a Nun, 1951.

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von Holocaust und Nazi-Diktatur in Deutschland ist das neue, vereinte Europa eine Herausforderung an politische Theorie und Rechtsdenken im Übergang zum post-Westfälischen System. So war die Vergemeinschaftung der Kontrolle über die Produktion von Kohle und Stahl im Rahmen der Montanunion (EGKS) gemäß dem Plan von Jean Monnet und der Erklärung des französischen Außenministers Robert Schuman ein Frontalangriff auf die staatliche Souveränität der damals sechs Mitgliedstaaten, eine das klassische Staatsdenken in Frage stellende, revolutionäre Idee: Wer die alleinige Verfügungsgewalt über Kohle und Stahl, seinerzeit die wesentlichen Mittel zur Rüstung verloren hat, kann Krieg weder vorbereiten noch durchführen. Die Unterwerfung der Produktion und des Marktes in diesen Bereichen unter eine von den bisherigen Hauptkontrahenden getragene gemeinsame Kontrolle kommt der Aufgabe eines wesentlichen Aspekts der staatlichen Souveränität im herkömmlichen Sinne gleich. Der nächste Schritt war nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der Europäischen Politischen Gemeinschaft am Veto der französichen Nationalversammlung die Einigung über das funktionalistische Konzept der schrittweisen Integration: Mit dem Zusammenwachsen der Märkte im europäischen Binnenmarkt wurde der Grundstein gelegt für die „immer engere Union der Völker Europas“: Eine gemeinsame Rechtssetzung, ein gemeinsamer Gerichtshof, der über die Einhaltung des Rechts wacht, bis hin zur Verflechtung und Kooperation der mitgliedstaatlichen Politik im gemeinsamen Sicherheitsinteresse nach innen und außen und dem Ausbau einer gemeinsamen Außenpolitik im Rahmen der Europäischen Union haben den Staat und seine Rolle gegenüber seinen Bürgern wie auch im Verhältnis zu anderen Staaten und deren Bürgern nachhaltig verändert. Die europäische Integration bringt eine konstitutionelle Entwicklung mit sich, die die Begriffe von Staat und Verfassung in einen neuen Kontext stellt, dabei die Absolutheit und Heiligkeit des Staates relativiert, den Bürgerinnen und Bürgern eine zusätzliche politische Identität eröffnet – und den Menschen im zusammenwachsenden Europa bald sechzig Jahre lang nicht nur Frieden und Wohlstand in zuvor unbekanntem Maße gebracht hat, sondern es ihnen auch ermöglicht, ihre gemeinsamen Werte und Interessen im Zeitalter der Globalisierung dauerhaft zu wahren und nach innen sowie gegenüber Drittländern überzeugend zu vertreten. Einen aussagekräftigen Namen für diese neue politische Form zu finden, ist bislang nicht gelungen; was in Abgrenzung zu klassischen Modellen wie Bundesstaat und Staatenbund für dieses Gebilde „sui generis“ vorgeschlagen wurde – Staatenverbund (Kirchhof), supranationaler Föderalismus (von Bogdandy) oder gar Empire (Zielonka2) – hat sich nicht durchsetzen können. Das bekräftigt die Neuartigkeit der Konstruktion und ist per se kein 2

Zielonka Europe as Empire – The Nature of the Enlarged European Union, 2006.

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Nachteil, eher eine Herausforderung an Politik-, Sozial- und Rechtswissenschaft. Diese Neuartigkeit bedeutet aber auch, dass herkömmliche Kriterien der Verfassungsstaatlichkeit – Demokratie, Parlamentarismus, Pluralismus, ja des Rechts als staatlich bedingter und garantierter Normenordnung – nur unter Einschränkung auf die Europäische Union, ihre Strukturen und Verfahren Anwendung finden können. Europarecht und -wissenschaft stehen hier noch am Anfang. Denn wie die Union selbst auf einem das Staatsverständnis grundlegend verändernden Konzept beruht, stellt sie auch die Vorstellung von Recht und Rechtsgeltung vor neue Herausforderungen: Sie ist kein Staat und auch nicht darauf gerichtet, Staat zu werden; im Gegenteil, sie relativiert Staatlichkeit, ergänzt sie, baut auf ihr auf. Mit ihr wird klar, dass „Verfassung“ nicht den Staat voraussetzt, sondern auch andere politische Gebilde verfasst sein können. Nach den für uns unverzichtbaren Grundsätzen müssen sie sogar verfasst sein, d.h. auf einer Verfassung beruhen, wenn ihre Institutionen öffentliche Gewalt ausüben. Das bedeutet keineswegs, dass die nationalen Verfassungen geschwächt oder delegitimiert würden. Im Gegenteil, die Europäische Union bestätigt und stabilisiert sie, baut auf den Verfassungen der Mitgliedstaaten auf, greift u.a. beim Grundrechtsschutz auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen zurück. Gemäß den etwa von der Struktursicherungsklausel des Art. 23 I GG geforderten Prinzipien ist die Europäische Union selbst nach Grundsätzen moderner Verfassungsstaatlichkeit zu verfassen. Wie aus Art. 6 I (künftig Art. 2) EU-Vertrag ersichtlich ist, bekräftigt und schützt sie ihrerseits mit der Festlegung der gemeinsamen Werte und Grundlagen die auch die Verfassungen der Mitgliedstaaten tragenden gemeinsamen Prinzipien. Deren Wahrung macht sie zur Bedingung von Beitritt und Mitgliedschaft. Art. 7 EU-Vertrag sieht für den Fall nachhaltiger Verletzungen sogar einen Sanktionsmechanismus vor: So entsteht ein System gegenseitiger Stabilisierung für den nachhaltigen Schutz von Grundrechten, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Subsidiarität als Bedingung der Funktionsfähigkeit der Union und im Interesse der Bürgerinnen und Bürger. Denn die Legitimation der Union geht letztlich von den Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedstaaten aus, und ihr Recht muss gegenüber den einzelnen von funktionsfähigen Parlamenten, Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten nach rechtsstaatlichen Grundsätzen implementiert werden. Nicht der Staat allein ist damit Quelle und Garant des Rechts, sondern auch die Europäische Union, in der sich nationales und supranationales Recht miteinander verbinden. Diese Union existiert – anders als vielleicht der Staat – nicht vor dem Recht. Sie wurde durch (Vertrags-)Recht geschaffen, sie handelt durch das Recht und ist der Verwirklichung der Idee des Rechts verpflichtet. Sie ist Rechtsgemeinschaft, in ihr hat nicht die Macht das Recht, sondern das Recht hat die Macht (Hallstein). Das unterscheidet sie konzeptionell vom konsti-

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tutionellen Staat herkömmlicher Prägung, in dem Verfassung als rechtliche Schranke vorhandener Macht gedacht wird, und fordert umgekehrt diese Konzeption selbst heraus: Wie es in der Europäischen Union nur so viel öffentliche Gewalt gibt, wie die Verträge konstituieren, dürfte auch für den Staat gelten: Es gibt nur so viel Staatlichkeit, wie die Verfassung konstituiert (Häberle). Die Macht des Rechts statt einer zentralen, übergeordneten Gewalt macht die Union neben den ökonomischen Gründen attraktiv für immer weitere Beitrittskandidaten. Mitgliedschaft und Funktionieren der EU beruhen auf den Prinzipien der Freiwilligkeit, auf der rechtlichen Gebundenheit und auf dem Respekt vor dem Recht. Das neu eingeführte Austrittsrecht in Artikel 50 EU-Vertrag nach Lissabon ist Beleg für diese Besonderheit, ebenso wie der Verzicht auf jedes Mittel zur Ausübung von physischem Zwang gegenüber Mitgliedstaaten oder Bürgern oder auf die Möglichkeit der Nichtigerklärung innerstaatlichen Rechts durch europäische Instanzen. Recht und Staat sind entkoppelt. Europa baut auf den Respekt des Rechts, auf das Prinzip der Freiwilligkeit ohne Drohung von Zwang gegenüber den Mitgliedstaaten. Es wirkt vielmehr durch sie, wenn die Behörden und Gerichte mit den ihnen zur Verfügung stehenden Zwangsmitteln im Dienst des europäischen Rechts stehen. Europarecht bricht mit dem hierarchischen Rechtsdenken, von der gedachten Grundnorm Kelsens bis zum Stufenbau der Rechtsordnung Adolf Merkls. Das Recht der Mitgliedstaaten verbindet sich mit dem europäischen Recht im Europäischen Verfassungsverbund, aber es ordnet sich nicht unter, wie es für den Bundesstaat typisch ist. Vielmehr folgt die Konstruktion einem neuen Prinzip: Die hierarchisch geordnete Einheit weicht einem pluralistischen Konzept, das auf gegenseitigem Respekt, der Kooperation und Koordination von Rechtsordnungen verschiedener, formal autonomer Quellen gründete. Das überkommene, vom Gedanken der Subordination unter eine letztentscheidende Gewalt geprägte Rechtsdenken muss sich den gewandelten Bedingungen eines pluralistisch zusammengesetzten, nichthierarchischen Rechtssystems stellen. Europarecht hat danach Vorrang vor dem innerstaatlichen Recht, nicht weil es übergeordnet ist oder von einem Herrscher verfügt wird, dem die Staaten unterworfen wären, sondern weil die Gleichheit vor dem Gesetz seine einheitliche Anwendung auf alle Bürgerinnen und Bürger verlangt und dieses Gesetz gemäß den Bestimmungen der Verfassung der Union zustandegekommen ist, einer Verfassung, die von Regierungen in Vertretung ihrer Bürger vertraglich vereinbart und aufgrund spezieller verfassungsrechtlicher Öffnungs- oder Integrationsklauseln in jedem einzelnen Mitgliedstaat von den Volksvertretungen bzw. durch das Volk direkt angenommen wurde. Diese besondere Legitimation schließt nicht aus, sondern setzt voraus, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten auf den Respekt des Vorrangs achten, ebenso wie ihre Mitverantwortung für das

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Funktionieren des Verfassungsverbundes im Interesse der Bürger eine Kontrolle des intern anwendbaren europäischen Rechts bedingt. Für die insoweit nötige Kooperation mit dem EuGH steht das Vorlageverfahren nach Art. 234 EG-Vertrag zur Verfügung. So, wie im Konflikt mit europäischem Recht das nationale Recht unangewendet bleibt, kann im allenfalls theoretischen Ausnahmefall das nationale Verfassungsrecht gebieten, dass eine europäische Norm unangewendet bleibt, wenn trotz Rückfrage beim EuGH der Vorwurf einer generellen gravierenden Verletzung des Wesensgehalts eines Grundrechts oder – etwa im Falle einer Harmonisierung der Lehrpläne der weiterführenden Schulen – der evidenten Überschreitung der Grenzen der der Union übertragenen Kompetenzen unwiderlegbar sein sollte. Das Interesse der Funktionsfähigkeit der Union und das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz wie auch die Bindung an die gemeinsamen Werte und die Rücksicht auf die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten, wie sie nach dem Vertrag von Lissabon in Art. 2 und 4 II EU-Vertrag gefordert werden, müssen in solchen Entscheidungen sorgfältig abgewogen werden.3 Dabei gewährleisten der Dialog mit dem Gerichtshof und das horizontale Gespräch der zuständigen Gerichte der Mitgliedstaaten miteinander, dass sie nicht leichtfertig getroffen werden. Derartige Bindungen lassen sich den Verfassungen der Mitgliedstaaten nicht unmittelbar entnehmen, erst durch die Zusammenschau mit dem Europarecht erschließt sich, was in jedem Mitgliedstaat das geltende Verfassungsrecht ist. Auch darin liegt ein Bruch mit dem traditionellen Verfassungsdenken, nach dem die Verfassung allein und umfassend das im Staat geltende Recht bestimmt. Das Grundgesetz trägt dem Rechnung, indem es in Art. 23 I 3 GG für die „Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden“, verfassungsändernde Mehrheiten fordert und die Beachtung des Art. 79 III GG fordert, das Zitiergebot des Art. 79 I GG aber nicht in Anwendung bringt.

III. Europäisierung des innerstaatlichen Rechts Im Verfassungsverbund wird damit das europäische Primärrecht Teil des Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten, so wie dieses Verfassungsrecht seinerseits materielle und funktionelle Grundlage des Verfassungsrechts der 3 Weiterführend hier Maduro Europe and the constitution: what if this is as good as it gets?, in: Weiler/Wind (Hrsg.) European Constitutionalism Beyond the State, 2003, 74, mit dem Gedanken des „counterpunctual law“ (ebenda, 95 ff., 98 f.). Siehe auch Pernice Das Verhältnis europäischer zu nationalen Gerichten im europäischen Verfassungsverbund, 2007, 49 ff., 53 ff. (auch WHI-paper 5/2007).

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Union ist. Recht und Gesetz i.S. des Art. 20 III GG ist im Blick auf Art. 23 I GG auch das Unionsrecht. Es bestimmt die Funktion und Aufgaben der Verfassungsorgane wie auch die Kompetenzen von Bund und Ländern mit. Diese ergeben sich also nicht nur aus dem Grundgesetz und den Länderverfassungen, sondern auch aus dem europäischen Primärrecht, das etwa den Regierungen bestimmte Befugnisse im Rat als Rechtsetzungsorgan zuweist. Sogar das Sekundärrecht, insbesondere die Richtlinien der EG, haben diese Wirkung. Durch sie i.V.m. Art. 10 und 249 EGV werden den innerstaatlichen Organen Gesetzgebungs- und Durchführungspflichten auferlegt, ihre legislativen Kompetenzen und Handlungsspielräume werden eingeengt. Das innerstaatliche Recht, vom Verfassungs- bis zum Verordnungsrecht, wird in den betreffenden Bereichen inhaltlich vom europäischen Recht mitbestimmt und ergänzt. Der Wandel erfolgt in den ursprünglichen Mitgliedstaaten schrittweise, kaum spürbar. Für neue Mitgliedstaaten tritt er indessen wegen der notwendigen kuzrfristigen Anpassung des Rechts an den acquis communautaire im Vorfeld und Nachklang des Beitritts augenfällig zu Tage: Daher wurde etwa im Falle Österreichs der Beitritt als „Gesamtänderung der Bundesverfassung“ betrachtet, die ohne Volksabstimmung nicht erfolgen durfte. Die Einflüsse des Europarechts beschränken sich aber nicht auf diese förmlichen Wege. Wie die Rechtsphilosophie von Aristoteles bis Kant oder auch das römische Recht das europäische Recht seit Jahrhunderten prägen, stehen auch Rechtsdenken und -praxis in den Mitgliedstaaten jetzt zunehmend unter dem Einfluss des Europarechts. Im Unterschied zu den Traditionen vergangener Jahrhunderte beruht dieser neue Einfluss auf einer lebenden, dynamisch sich entwickelnden Rechtsordnung, mit immer neuen Impulsen. Bewährte wie auch neu entwickelte und erprobte Konzepte, Systemgedanken, Modelle und Methoden, Rechtsfiguren und dogmatische Konstruktionen aus den verschiedenen Rechtskulturen konkurrieren miteinander, bei Bewährung finden sie Aufnahme ins europäische Recht. Von hier aus wirken sie in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zurück – nicht nur über die Harmonisierung des Rechts sondern auch durch vielfältige informale Prozesse des Lernens im europarechtlich veranlassten Diskurs. Vertikale und horizontale Ein- und Wechselwirkungen in Wissenschaft und praktischer Anwendung des Rechts geben dem Recht Innovationsschübe, bis hin zu Systemänderungen etwa durch die Öffnung der Verwaltung für eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit und für Partnerschaften mit der Privatwirtschaft oder ihre Verflechtung in europäischen Netzwerken. Die Einbindung der nationalen Rechtsordnungen in den europäischen Rahmen stimuliert damit ein Lernen voneinander nach den Regeln der best practices und der Dialog fördert die Entstehung eines ius commune europaeum, nicht nur auf der Ebene des Verfassungsrechts. Er erfolgt auf inter-

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nationalen Konferenzen, in akademischen und administrativen Netzwerken, durch die Kooperation und den notwendigen Dialog der Gerichte der Mitgliedstaaten nicht nur mit dem EuGH, sondern – wie für die Sicherstellung der Einheitlichkeit der Auslegung des europäischen Rechts gefordert – auch untereinander. Eine besondere Rolle spielt dabei der Beitrag der Wissenschaft des Europarechts, die sinnvoll nur im Dialog zwischen den Vertretern aus allen Mitgliedstaaten betrieben werden kann. Die europäische Öffentlichkeit ist für Juristen damit schon Realität, wenn auch die Rezeption auch ausländischer Literatur nach wie vor zu wünschen übrig lässt, nicht nur in Deutschland. Ein Beispiel für systemändernde Einflüsse des Europarechts ist die neue Transparenz des Verwaltungshandelns infolge der EG-Richtlinien über die Umweltverträglichkeitsprüfung oder über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen. Es geht hier nicht um Rechtsschutz, sondern um prozedurale Vorkehrungen für die vom Recht geforderte Berücksichtigung von Umweltinteressen und um die Bekämpfung des Vollzugsdefizits durch das Engagement der interessierten Öffentlichkeit im Interesse der Allgemeinheit. Mancher Dogmatiker des Verwaltungsrechts der 1980er Jahre war seinerzeit schockiert von dem Ansinnen einer solchen Transparenz der öffentlichen Verwaltung. Die Umsetzung der Richtlinie erfolgte vielleicht deswegen verspätet und unvollständig. Ebensolchen grundsätzlichen Bedenken begegnet die allgemeine Einführung der Verbandsklage im Umweltrecht, wie sie zur Stärkung einer objektiven Rechtskontrolle in Umweltfragen von der Aarhus-Konvention und in ihrer Anwendung vom EGRecht gefordert wird. Sie erweitert das auf den Schutz subjektiver Rechte gerichtete System um eine neue Dimension und dürfte für die Durchsetzung des Umweltrechts von erheblicher Bedeutung sein.4 Das deutsche Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen hat wichtige Impulse für die ursprüngliche Gestaltung des europäischen Wettbewerbsrechts gegeben. Ohne dass es einer Harmonisierung bedurft hätte, wurde in der Folge das Europarecht umgekehrt Leitbild für die Gestaltung des innerstaatlichen Kartellrechts und die Organisation der Kartellaufsicht in vielen Mitgliedstaaten. Auf der Basis dieser spontanen Anpassung konnte dann mit der Verordnung Nr. 1/2003 nicht nur eine Dezentralisierung der Kontrolle und der Freistellung vom Kartellverbot nach Art. 81 III EG-Vertrag erfolgen. Auf ihrer Grundlage wurde auch ein Netzwerk der nationalen Kartellbehörden errichtet, in dem die Anwendung des europäischen Kartellrechts durch die Mitgliedstaaten koordiniert wird und Erfahrungen aus der nationalen Kartellaufsicht ausgetauscht werden. 4 Für eine großzügige Auslegung der Richtlinien im Umweltbereich zugunsten subjektiver Rechte der einzelnen bei Normen über Grenzwerte der Luft- oder Wasserqualität siehe zuletzt EuGH 237/07 – Janecek (Feinstaub), Rn. 34 ff.

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Ein ganz neues Gebiet des Verwaltungsrecht entstand mit der Liberalisierung der netzgebundenen Märkte – Telekommunikation, Gas und Strom, Eisenbahnen – sowie der Postdienste: Der schrittweise Übergang vom staatlichen Monopol zu wettbewerblichen Märkten und die Sicherung der Grundversorgung sind Gegenstand der Kontroll- und Gewährleistungsaufgaben der innerstaatlichen Regulierungsbehörden, die sich ihrerseits in europäischen Netzwerken koordinieren, um hinsichtlich Netz- und Marktzugang, Preisgestaltung und Versorgung die nötigen Entscheidungen in enger Abstimmung miteinander zu treffen. Dogmatisch knüpfen sich hieran Überlegungen zur rechtlichen Erfassung der vertikalen und horizontalen Dimension verwaltungsrechtlicher Entscheidungsstrukturen, wie sie etwa der Gedanke des europäischen Regulierungsverbundes5 nur ansatzweise widerspiegelt. Damit einher geht aber auch eine Veränderung des Staatsverständnisses, wenn traditionelle Aufgaben der staatlichen Daseinsvorsorge dem wettbewerblichen Markt übertragen werden und der Staat vom Dienstleister zum Gewährleister wird. Auch im Straf- und Strafprozessrecht sowie bei der Prävention gewinnt das Europarecht rasch an Bedeutung, es wird notwendig, wo schwere grenzüberschreitende Kriminalität dem Zugriff der staatlichen Verfolgung mehr und mehr entgleitet. Erst die Überführung der entsprechenden Bereiche von der intergouvernementalen Zusammenarbeit in europäische Zuständigkeit durch den Vertrag von Lissabon schafft hier indessen die Mittel für effektive, demokratisch kontrollierte Gesetzgebung. Dazu gehört neben Regelungen etwa über den europäischen Haftbefehl oder die Beweisanordnung auch eine Mindestharmonisierung des materiellen Strafrechts im Bereich der schwersten grenzüberschreitenden Kriminalität sowie der Schutznormen für die Beteiligten im Strafprozessrecht. In besonderer Weise wirkt das europäische Recht in all den Gebieten, in denen über das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung Entscheidungen von Gerichten Behörden anderer Mitgliedstaaten bedeutsam, wenn nicht sogar bindend werden. Es geht hier um die horizontale Dimension des europäischen Verfassungsverbundes. Die über das europäische Recht vermittelte Maßgeblichkeit ausländischer Normen oder, wie bei der Freizügigkeit, der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit, die Pflicht zur Anerkennung ausländischer Qualifikationsnachweise, Zulassungen oder anderer transnationaler Verwaltungsakte setzen ein weitreichendes Vertrauen auf das Recht der anderen Mitgliedstaaten voraus und zwingen dazu, dass sich Bürger und 5 Vgl. Trute Der europäische Regulierungsverbund in der Telekommunikation – ein neues Modell europäisierter Verwaltung, in: FS Selmer 2004, 565; Ladeur/Möllers Der europäische Regulierungsverbund der Telekommunikation im deutschen Verwaltungsrecht, DVBl 2005, 525; Britz Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund? – Europäische Verwaltungsentwicklung am Beispiel der Netzzugangsregulierung bei Telekommunikation, Energie und Bahn, EuR 2006, 46 ff.

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Institutionen in einem Mitgliedstaat für die innerstaatliche Politik und Gesetzgebung in den anderen Mitgliedstaaten interessieren. Welche Bedeutung das haben kann, zeigt die Diskussion um die Dienstleistungsrichtlinie, in der das Herkunftslandsprinzip sich wegen der Unterschiedlichkeit der Zulassungs- und Kontrollsysteme in den Mitgliedstaaten nicht durchsetzen ließ. Die Dienstleistungsrichtlinie mit ihren vielfältigen Vorschriften u.a. über einheitliche Ansprechpartner, elektronische Verfahrensabwicklung und intensive Behördenkooperation ist aber auch ein aktuelles Beispiel für neueste mit der Liberalisierung der Märkte verbundene europarechtliche Innovationsschübe, durch die nicht nur Verwaltungsrecht, -verfahren und -organisation in den Mitgliedstaaten sichtbar beeinflusst – vielleicht modernisiert – werden, sondern notwendig auch die Dogmatik vor neue Aufgaben gestellt wird. Konzeptionelle und dogmatische Veränderungen aufgrund des Europarechts finden sich auch auf Verfassungsebene. Dazu gehören nicht nur Konzepte einer offenen Staatlichkeit (Vogel) oder des kooperativen Verfassungsstaats (Häberle). Auch grundsätzliche begriffliche Erweiterungen, wie der „postnationale Verfassungsbegriff“,6 sind durch das europäische Recht veranlasst. Ebenso wie das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten Leitlinie und Muster für Konzept und Entwicklung des europäischen Rechts ist, kann im Europarecht rezipierte oder entwickelte Dogmatik auf das nationale Recht zurückwirken. Dazu gehört auch die Aufnahme verfassungsrechtlicher Prinzipien aus den Mitgliedstaaten, wie etwa des Prinzips der Verhältnismäßigkeit und seiner Dogmatik einschließlich der Wesensgehaltsgarantie,7 6

Vgl. Shaw The Emergence of Postnational Constitutionalism in the European Union, Archive of European Integration 1999, http://aei.pitt.edu/2385/, 8 ff.; Shaw Postnational constitutionalism in the European Union, Journal of European Public Policy 1999, 579, 586 ff.; zum Begriff „post-national“ siehe schon Curtin Postnational Democracy – The European Union in search of a political philosophy, 1997, 5, 48 ff., 51 ff.: „ ,postnational‘ is meant to express the idea that democracy is possible beyond the nation-state”. Darauf aufbauend: Pernice Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001) 148, 155-163. Liebert Postnational Constitutionalisation in the New Europe: Preconditions, Procedures, Legitimacy and Porspects, in: Liebert/Falke Postnational Constitutionalisation in the New Europe – Postnationaler Verfassungsprozess im neuen Europa, 2006, 13 ff. Vgl. auch: Walker Postnational Constitutionalism and the Problem of Translation, in: Weiler/Wind (Fn. 3), 27; Wilkinson Postnationalism, (Dis)organised civil society and Democracy in the European Union: Is Constitutionalism Part of the Solution or Part of the Problem?, German Law Journal 3 (2002) Nr. 9 http://www.germanlawjournal.com/ article.php?id=192; de Wet The International Constitutional Order, 55 International Comparative Law Quaterly (2006) 51, 52: “. . . transposition to the post-national level of abstract notions of constitutionalism, in order to acquire control over decision-making taking place outside national borders”. 7 Besonders ähnlich der deutschen Dogmatik zu Verhältnismäßigkeit und Wesensgehalt: EuGH 44/79 – Hauer, Slg. 1979, 3727, Rn. 23.

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des Vertrauensschutzes, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie sowie vor allem die Entwicklung der Grundrechte aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten auf die Ebene des Europarechts. Praktisch bedeutsam für das deutsche Verfassungsrecht ist die Stärkung der politischen Kontrolle der Regierung durch das Parlament in europäischen Angelegenheiten, wie sie im Vertrag von Lissabon vorgesehen ist. Es geht darum, das demokratische Prinzip unter den Bedingungen der europäischen Integration zu festigen. Auf europäischer Ebene steht hierfür die Öffentlichkeit der Ratssitzungen, soweit der Rat legislativ tätig wird, auf nationaler Ebene sieht der Vertrag von Lissabon die Einbeziehung der nationalen Parlamente in das Entscheidungssystem etwa durch den Frühwarnmechanismus vor. Diese Mitverantwortung veranlasste die nationalen Parlamente, sich etwa im Rahmen der COSAC so zu organisieren, dass ihre Kontrollfunktion in Zusammenarbeit mit den Parlamenten anderer Mitgliedstaaten wirksam zur Wahrung des Prinzips der Subsidiarität ausgeübt werden kann. Das Bewusstwerden der europäischen Handlungsebene als Instrument für parlamentarische Politik und ihre proaktive Einbeziehung in die gesamtpolitische Strategie mag den Abgeordneten Wege des Dialogs mit der Regierung aufzeigen, die den Einfluss des Parlaments innenpolitisch und international stärken. Europarechtlich bedingte Herausforderungen an die Demokratie führen damit im Europäischen Verfassungsverbund nicht nur zu Innovationen im Verständnis des demokratischen Prinzips selbst, sondern darüber hinaus zu Strukturen, die seiner praktischen Verwirklichung auch innerstaatlich zugute kommen.

IV. Europarecht im juristischen Alltag heute und in Zukunft Europarecht verbindet sich nach alledem auf vielfältige Weise mit innerstaatlichem Recht. Der europäische Verfassungsverbund zieht den europäischen Verwaltungsverbund (Schmidt-Aßmann) nach sich, ebenso wie den Regulierungsverbund (Trute) und spätestens seit der verstärkten Aktivität der Union im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit den Europäischen Justizverbund,8 je mit eigenem Bedeutungsgehalt. Die juristischen Fächer verschmelzen aber keineswegs zu Europarecht. Privatrecht bleibt Privatrecht, mitsamt seinen einzelnen Gebieten, etwa dem Handels-, Arbeits- oder Gesellschaftsrecht, ungeachtet der Intensität ihrer Prägung durch europäische Richtlinien. Strafrecht bleibt Strafrecht, Prozessrecht in den verschie8 Pernice Europäische Justizpolitik in der Perspektive der Verfassung für Europa – Zur horizontalen Dimension des Europäischen Verfassungsverbundes, WHI Paper 3/2005, abrufbar unter http://whi-berlin.de/documents/whi-paper0305.pdf.

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denen Sparten bleibt Prozessrecht, auch das Verwaltungsrecht und das Verfassungsrecht behalten ihre Eigenarten als innerstaatliches Recht. Und das Europarecht bleibt seinerseits als Europarecht ein neues, eigenständiges Fach. Es spielt allerdings in besonderer Weise bei der Anwendung des Rechts in den verschiedenen innerstaatlichen Rechtgebieten mit. Nach seiner Umsetzung lebt es im deutschen Recht fort, ist wegen der besonderen Herkunft insbesondere für die Auslegung der betreffenden Normen und – wegen der Vorlagemöglichkeit oder gar Vorlagepflicht zum EuGH in Streitfällen – auch im innerstaatlichen Gerichtsalltag zu beachten. Soweit es das nationale Recht determiniert, immunisiert es dieses wegen des Vorrangprinzips auch gegen die Aufhebung durch nationale Gerichte, selbst bei vermeintlichen Verfassungsverstößen. Umgekehrt muss staatliches Recht grundsätzlich unangewendet bleiben, wenn es mit europarechtlichen Normen in Konflikt gerät. Völlig unberührt von der Berücksichtigung des Europarechts bleibt kaum ein Rechtsgebiet, wenn auch der Einfluss sehr unterschiedlich weit geht. Es gehört zum Rechtsalltag praktisch eines jeden Juristen in Deutschland, nicht anders als in den anderen Mitgliedstaaten der EU. Dabei geht es keineswegs in den von ihm beeinflussten Gebieten des innerstaatlichen Rechts auf. Das Europarecht wirkt auch nicht nur als Querschnittsmaterie horizontal und fächerübergreifend, so wie auch das Verfassungsrecht und insbesondere die Grundrechte. In manchen Bereichen, etwa im Kartellrecht, z.T. auch im Gesellschaftsrecht und beim gewerblichen Rechtsschutz, tritt es eigenständig und ergänzend neben das nationale Recht. Seine grundsätzliche Eigenständigkeit beruht auf der eigenen Rechtsquelle und der vom Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz her begründeten Notwendigkeit einheitlicher Rechtsanwendung in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Es entwickelt sich nach Regeln, die nicht aus einem Mitgliedstaat allein kommen können, und in der ihm eigenen großen Dynamik. Weder mit den Instrumenten des Verfassungsrechts, noch mit dem Zivil-, Verwaltungs- oder Strafrecht können Hintergrund, Entstehen und Wirkung einer spezifischen europarechtlichen Regelung oder der Rechtsprechung des EuGH erklärt oder die europarechtliche Zulässigkeit und Wirksamkeit eines Rechtsakts beurteilt werden. Die Kompetenzen der Union, Bedingungen und Verfahren der Rechtsetzung, die Entwicklung der Rechtsordnung der Union insgesamt müssen „europäisch“ und aus der Perspektive aller Mitgliedstaaten gemeinsam, mit entsprechenden Methoden möglichst einheitlicher Betrachtung unterworfen werden, unter Berücksichtigung ihrer strukturellen, systematischen und teleologischen Besonderheiten. Im Blick auf die Interaktion mit inzwischen 27 staatlichen Rechtsordnungen und entsprechend unterschiedlichen Rechtskulturen und 23 gleichwertig gültigen Sprachen muss das Europarecht notwendig auch einer eigenständigen Methodik fol-

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gen.9 Rechtsvergleichung und Rücksicht auf die Auslegung durch die Gerichte anderer Mitgliedstaaten spielen dabei eine besondere Rolle.10 Hinzu treten der horizontale Dialog der Gerichte miteinander wie überhaupt der europaweite juristische Diskurs, der für das Verständnis und damit für die richtige Anwendung des Europarechts nicht weniger wichtig ist, als eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Politik- und der Wirtschaftswissenschaft. Nur in einer gemeinsamen, interdisziplinären Anstrengung können die Verfassungsstruktur und Rechtsfiguren dieser neuen zusammengesetzten Rechtsordnung dogmatisch treffend erarbeitet und erfasst werden. Nur eine eigenständige Wissenschaft des Europarechts, die auf den Austausch der innerstaatlichen Erfahrungen aufbaut und diese im Dialog für Europa nutzbar macht, kann eine europäische Dogmatik erarbeiten. Hierin liegt eine anspruchsvolle Aufgabe für das Europarecht und seine Zukunft. Zu welchem Prozentsatz staatliche Gesetze europäisch determiniert oder beeinflusst sind, ist nicht leicht feststellbar. Im Verfahren zum Vertrag von Lissabon vor dem Bundesverfassungsgericht wurden sehr unterschiedliche Zahlen angeboten; sie schwanken zwischen 6% und 80%,11 das Gewicht ist von Materie zu Materie unterschiedlich. Dass die gesetzgebenden Körperschaften Europarecht – jedenfalls als Rahmen und ggf. Grenze der Gestaltungsfreiheit – nicht außer Acht lassen dürfen und künftig mehr und mehr wird in Betracht ziehen müssen, als inhaltliche Vorgabe ebenso wie als mögliches Handlungsinstrument für die Bewältigung der sich stellenden Zukunftsaufgaben, liegt auf der Hand. Dadurch werden weder Bundestag noch Demokratie geschwächt, doch tritt ein Funktionswandel ein, Rolle und Werkzeuge der Parlamente ändern sich angesichts der Verbindung staatlichen Rechts mit europäischem Recht in ein um die europäische Dimension erweitertes Handlungssystem. Als Folge der Entwicklung von Märkten, Technologien, Umwelt- und sozialen Entwicklungen werden neue Materien des Europarechts hinzukommen; soweit der Arm der staatlichen Institutionen nicht reicht, bietet es sich als Instrument effektiver politischer Gestaltung und Regelung an, im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip. Jüngstes Beispiel könnte die schon 9

Näher: Pernice Europawissenschaft oder Staatsrechtslehre? Eigenarten und Eigenständigkeit der Europarechtslehre, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.) Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Die Verwaltung, Beiheft 7 (2007) 225–251. 10 Vgl. EuGH 283/81, Slg. 1982, 3415 – C.I.L.F.I.T., Rn. 16, zur Gewissheit des Gerichts darüber, dass die Offensichtlichkeit der Richtigkeit einer bestimmten Auslegung auch für die Gerichte anderer Mitgliedstaaten besteht, als Voraussetzung einer Ausnahme von der Vorlagepflicht nach Art. 234 EGV. Zur Bedeutung insbesondere der Rechtsvergleichung (auch als fünfte Auslegungsmethode) gerade im Europarecht vgl. Häberle Europäische Verfassungslehre5, 2008, 246 ff. („Desiderat einer europäischen Methodenlehre“), insbes. 250 ff. 11 Vgl. BVerfG 2 BvE 2/08, BvE 1010/08 u.a. – Gauweiler, noch anhängig, dazu Pernice Plädoyer für Lissabon, WHI-Paper 05/09, 15 f.

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lange überfällige effektive Regulierung der Finanzmärkte sein. Die notwendigen Maßnahmen isoliert auf nationaler Ebene zu unternehmen, wäre sinnlos. Denn der Markt ist global, dem nationalen Zugriff längst entwachsen. Selbst europäische Lösungen greifen zu kurz, soweit ein gemeinsames Konzept nicht im Rahmen einer internationalen Vereinbarung weltweit zur Anwendung kommt. Die Einigung der G 20 vom April 2009 in London ist ein ermutigender Anfang. Notwendig globales Recht auf diesem Gebiet unseren Interessen entsprechend zu gestalten, kann nur gelingen, wenn die Europäische Union ein gemeinsames Konzept entwickelt12 und einheitlich vertritt. Ihre Erfahrungen in der Gestaltung übergreifender Konzepte gilt es zu nutzen, wobei die spätere Implementierung aufgrund neuen Europarechts durch die staatlichen Stellen erfolgen sollte.

V. Ausblick Das Europarecht hat seit den 1960er Jahren als neue juristische Disziplin eine beispiellose Karriere erfahren. Weit mehr als die europäische Politik in den Tageszeitungen berücksichtigt wird, finden sich europarechtliche Beiträge in juristischen Zeitschriften und werden Themen des Europarechts zum Gegenstand von Dissertationen, Habilitationsschriften, Monographien oder von Kolloquien mit entsprechenden Sammelbänden. In der Rechtswissenschaft hat es sich einen festen Platz erobert. Anstelle Oswald Spengler’s „Untergang des Abendlandes“ bewährt sich das vereinte Europa als bewunderswertes Gegengebilde: Als Schöpfung des Rechts, Rechtsgemeinschaft, dem gemeinsamen Recht verpflichtet: Europarecht heute und in Zukunft. Gleichwohl bleibt das Europarecht für die Praxis suspekt und schwer vermittelbar. Es gibt eine Hemmschwelle gegenüber der Anwendung eines in der Tiefe nur schwer zu durchdringenden Rechts, das für jeden Juristen ein Problem darstellt. Der verantwortungsvolle Umgang mit dem Europarecht bedarf einer intensiven Beschäftigung, nicht vergleichbar mit einem Gebiet des besonderen Verwaltungs- oder des Privatrechts. Umfang des Stoffes, Komplexität des verfassungsrechtlichen Rahmens, die eigenständigen Methoden, das Gewicht der Judikatur des EuGH, die Vielsprachigkeit der Literatur erlauben es nicht, sich „eben mal“ in das neue Rechtsgebiet einzuarbeiten. Fehlt es aber am nötigen Überblick, dann ist jede Befassung mit dem Europarecht ein besonderes Wagnis. Hier sind die Wissenschaft und auch die Lehre des Europarechts besonders gefordert. Ihre vermittelnde, aufklärende, ja im wahrsten Sinn des Wortes 12 Siehe hierzu den „Larosière“-Report, Bericht der High-Level Group on Financial Supervision in the EU vom 25.Februar 2009, zugänglich unter: http://www.ec.europa.eu/ internal_market/finances/docs/de_larosiere_report_en.pdf.

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übersetzende Funktion muss noch stärker in den Vordergrund treten als bislang. Das gilt als Voraussetzung des Willensbildungsprozesses zur Europapolitik und Grundlage der Demokratie in Europa nicht weniger als für das Studium des Europarechts als Grundlage künftiger Rechtspraxis. Auch wenn die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts durch den Vertrag von Lissabon deutlich vereinfacht werden, wenn der Vertrag die demokratische Legitimation und vor allem die Möglichkeiten der Kontrolle durch die nationalen Parlamente ebenso stärkt, wie die Handlungsfähigkeit der Union innen- wie auch außenpolitisch, die Konstruktion bleibt komplex, der dogmatischen Durchdringung und der Erläuterung bedürftig: Für die Menschen, denen sie dient, für die Juristen, die Streitigkeiten vermeiden oder auch entscheiden müssen, für die Politik, die die neuen Möglichkeiten, die Europa ihr bietet, nutzen, aber auch die Grenzen, die es setzt, respektieren soll. Europarecht ist nach langjährigem Bemühen heute endlich Teil des Pflichtstoffes der juristischen Ausbildung. Aber das wirkt erst für die Zukunft. In der Regel wurde es, wenn überhaupt, zusammen mit dem Völkerrecht in einem Wahlpflichtfach unterrichtet und geprüft. Längst hat es sich aber vom Völkerrecht entkoppelt, die Verbindung mit ihm in einem Wahl- oder Schwerpunktfach ist historisch erklärbar, aber wegen des wachsenden Umfangs von Stoff und Rechtsfragen fragwürdig geworden. Sie droht die Studierenden zu überfordern, zumal auch Grundlagen und Methoden beider Rechtsgebiete wegen der eigenständigen Entwicklungen im Europarecht nur noch wenig miteinander gemein haben. Allerdings könnte es sein, dass die Verbindung zwischen Europa- und Völkerrecht in neuer Weise wieder entsteht und enger wird. Was für das Europarecht gilt – ein nicht staatliches Recht, das seine Legitimation auf den Willen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger gründet und in und durch die Staaten wirksam wird – rückt auch auf globaler Ebene ins Blickfeld. Angesichts der immer dichter werdenden Beziehungen der Menschen zueinander weltweit, der immer poröser werdenden Grenzen zwischen den Staaten und der Dringlichkeit effektiver Lösungen für die globalen Herausforderungen etwa im Blick auf Klima und Umwelt, Pandemien, internationale Kriminalität und Terrorismus sind nationale oder auch regional-europäische Strategien häufig unzureichend. Globale Normgebung zur Verfolgung gemeinsamer, für die Menschheit insgesamt existenzieller öffentlicher Interessen wird auch die Regulierung der globalen Märkte und die Kontrolle global agierender Finanzinstitutionen erfordern. Wenn intergouvernementale Kooperation in Form völkerrechtlicher Vereinbarungen hierfür nicht mehr ausreicht, kann die Erfahrung des Europarechts fruchtbar gemacht werden für eine neue Konzeption globaler rechtlicher Ordnung. Die Entwicklung internationalen Strafrechts ist ein erster Schritt im Entstehensprozess globalen Rechts. Von einer ganz anderen Seite rückt auch – trotz der sich stellen-

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den Legitimationsprobleme13 – die neuartige Normgebung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen im Kampf gegen den Terrorismus in den Blick. Die Vielzahl der hier nach Kapitel VII der UN-Charta erlassenen Resolutionen, durch welche der Sicherheitsrat die Staaten weltweit zu bestimmten legislativen Maßnahmen verpflichtet, unterscheidet sich jedenfalls faktisch nicht sehr von der europäischen Harmonisierung, wobei auch die systematische Überwachung der Umsetzung dieses neuen Weltsicherheitsrechts durch die dafür geschaffenen Stellen der Vereinten Nationen zwar anders, aber kaum weniger effektiv zu sein scheint. Europa und das Europarecht mit den vielen positiven Erfahrungen, aber auch mit den fortwährenden Fragen von Rechtsschutz und Legitimation, könnte hier als Folie, z.T. vielleicht auch als Kontrapunkt für den Entwurf einer globalen, auf den Willen der Menschen gestützten Rechts-, ja Verfassungsordnung dienen.14 Es hat mit dem Urteil des EuGH in den verbundenen Rechtssachen C-402/05 P und C-415/05 P – Kadi & Al Barakaat ein Warnsignal an den Sicherheitsrat und das Völkerrecht gesandt, mit dem für derartige, die Rechte einzelner betreffender Maßnahmen jedenfalls bei der Umsetzung auf der europäischen Ebene effektiver Rechtsschutz und der Schutz der Grundrechte angemahnt werden. Globales Sicherheitsrecht kann nicht über den Menschenrechten stehen, es wäre Verrat an den Werten und Grundsätzen, denen es dienen muss. Wie globale Rechtsetzung verfasst sein kann, sodass die Legitimation durch die betroffenen Menschen, die rule of law, Grundrechte und Rechtsschutz effektiv gesichert sind, ist noch eine offene Frage. Dass in der Zukunft schrittweise eine auf das Recht gegründete globale Ordnung konstituiert werden muss, die einen Rahmen für das gegenwärtig zerfaserte, fragmentierte Völkerrecht und darüber hinaus Grundlagen für die Normsetzung in der Verfolgung existentieller Menschheitsinteressen schafft,15 erscheint ebenso evident, wie der Nutzen des Europarechts und Europas als Laboratorium für das Experiment eines globalen Konstitutionalismus.

13 Vgl. näher Cohen A Global State of Emergency or the Further Constitutionalization of International Law: A Pluralist Approach, 15 Constellation (2008) 456, 460 ff., 464 ff. 14 Dies ist der Gegenstand des Berliner DFG-Graduiertenkollegs „Verfassung jenseits des Staates – Von der Europäischen zur globalen Rechtsgemeinschaft – Multilevel Constitutionalism: European Experiences and Global Perspectives“, vgl. www.grakov-berlin.de. 15 Überlegungen zu einer künftig verfassten Weltordnung finden sich etwa bei Habermas Ach Europa, 2008, 115 ff., mit dem Stichwort einer „supranationalen Weltorganisation“ ebenda, 121, und der treffenden Bemerkung: „Eine amerikanische Regierung, die an die veränderte Welt des Jahres 2030 denkt, kann nicht wollen, dass sich China morgen so verhält wie Bushs Amerika heute. Vielmehr liegt es in ihrem eigenen Interesse, zu versuchen, die Weltmächte von morgen heute in eine internationale Ordnung einzubinden, die keine Supermacht mehr nötig hat“ (ebenda, 122); weiterführend Habermas The Constitutionalization of International Law and the Legitimation Problems of a Constitution for World Society, 15 Constellation (2008) 444, 446 ff.: „Individuals and States as Subjects of a World Constitution“ (ebenda, 448 ff.).

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Vom Weltfrieden zur menschlichen Sicherheit? Vom Weltfrieden zur menschlichen Sicherheit? Georg Nolte

Vom Weltfrieden zur menschlichen Sicherheit? Zu Anspruch, Leistung und Zukunft des Völkerrechts GEORG NOLTE*

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Anspruch des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Leistung des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Festschreibung von Zielen und Werten . . . . . . . . . . . . . . 2. Orientierung von konkretem Verhalten . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Ermöglichung von Gestaltung und Regeländerung . . . . 4. Bewirkung der Befolgung von Regeln . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bewertung und Ausblick: Das Verhältnis von Anspruch und Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Völkerrecht, Sicherheit und Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Das Völkerrecht steht in dem Ruf, mehr zu versprechen als es halten kann. Zwar bestreitet niemand, dass weite Bereiche des Völkerrechts ebenso strikt beachtet werden wie innerstaatliches Recht. Aber das Herz jeder Rechtsordnung, der Anspruch Sicherheit zu gewährleisten, leidet beim Völkerrecht an Rhythmusstörungen, ja es setzt sogar gelegentlich aus. Wie jede Rechtsordnung ist Völkerrecht Ausdruck einer Kultur des Risikos und ein Element von Strategien der Sicherung vor Gefahren.1 Das Völ* Humboldt-Universität zu Berlin; Antrittsvorlesung am 26. Januar 2009 im Rahmen der Ringvorlesung „Sicherheit und Risiko“ im Wintersemester 2008/09; ich danke Dr. Heiko Meiertöns für seine wertvolle und engagierte Hilfe bei der Fertigstellung des Manuskripts. 1 So gewährleistet das Völkerrecht als Ausdruck einer Kultur des Risikos etwa ein Recht auf Waffenproduktion (IGH, Urteil vom 27. Juni 1986, Military and Paramilitary Activities in und against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, Judgment, ICJ Reports 1986, 14 ff., Rn. 221 ff.), gleichzeitig ist das Völkerrecht aber auch ein Element einer Strategie der Sicherung vor Gefahren, die mit der Waffenproduktion verbunden sind, wenn es Verbote bestimmter Waffen oder Abrüstungsverpflichtungen formuliert.

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kerrecht ist allerdings weder ein besonders subtiler Ausdruck einer Kultur des Risikos noch ein besonders dynamisches Element von Strategien der Sicherung vor Gefahren. Recht ist naturgemäß relativ formal und nicht ohne weiteres abzuändern. Es beruht auf Einschätzungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt getroffen worden sind. Veränderungen der Verhältnisse kann das Recht nicht ohne weiteres berücksichtigen. Dann droht es dysfunktional zu werden. Und je dynamischer die Verhältnisse sind, desto schneller droht das Recht dysfunktional zu werden. Je mehr sich die Globalisierung beschleunigt, desto weiter scheint das Völkerrecht hinterherzuhinken. Ein Beispiel, an dem diese Eigenschaften des Völkerrechts in den vergangenen Jahren besonders intensiv diskutiert wurden, sind die sogenannten „neuen Kriege“.2 Heute, sagt man, würden kaum noch klassische Kriege zwischen Staaten geführt, stattdessen würden Warlords und Terroristen einen neuartigen asymmetrischen Konflikttypus prägen. Das geltende Völkerrecht sei jedoch mit Blick auf den klassischen zwischenstaatlichen Krieg entstanden und könne jedenfalls keine angemessenen Antworten auf diese neuen Herausforderungen geben. Allgemeiner gesprochen blende der zwischenstaatliche Charakter des Völkerrechts die individuellen, gruppenkollektiven, medialen und imperialen Dimensionen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen auf dem Globus aus.3 Wenn diese Einschätzung zuträfe, könnte man nur noch die Frage stellen, ob das Völkerrecht irrelevant oder gefährlich ist. Irrelevant, weil sein Bindungsanspruch angesichts veränderter Verhältnisse nicht mehr plausibel gemacht werden kann und es deshalb im Zweifel auch nicht mehr beachtet wird; oder gefährlich, nämlich wenn es trotz veränderter Verhältnisse beachtet wird und gerade dadurch unangemessene Risiken heraufbeschwört und geeignete Sicherheitsstrategien ausschließt. Völkerrechtler wären dann nicht mehr nur „leidige Tröster“, wie Kant sie noch bezeichnet hatte,4 sondern Schamanen, die ihren Stamm selbstgewiss, aber kenntnislos ins Unglück laufen lassen. Die damit angerissene Frage nach Anspruch und Leistung des Völkerrechts als Aspekt einer Kultur des Risikos und als Element von Strategien der Sicherung vor Gefahren soll in drei Schritten erörtert werden: Zunächst 2 Vgl. Münkler Die Neuen Kriege5, 2003, zum Begriff „Neue Kriege“ insb. 13 ff.; Gantzel Neue Kriege? Neue Krieger?, in: Friedensgutachten 2002, 80–89; Kaldor Old Wars, Cold Wars, New Wars, and the War on Terror, International Politics 42 (2005) 491– 498. 3 Münkler (Fn. 2), 26–28; siehe auch: ders. Asymmetrie und Kriegsvölkerrecht – Die Lehren des Sommerkrieges 2006, Die Friedens-Warte 81/2 (2006) 59–65. 4 Kant Zum ewigen Frieden, Ein philosophischer Entwurf, 1795: „. . . Hugo Grotius, Puffendorf, Vattell u.a.m. (lauter leidige Tröster), obgleich ihr Codex, philosophisch oder diplomatisch abgefaßt, nicht die mindeste gesetzliche Kraft hat, oder auch nur haben kann (weil Staaten als solche nicht unter einem gemeinschaftlichen äußeren Zwange stehen) . . .“. (32).

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soll gefragt werden, welchen Anspruch das Völkerrecht in Hinblick auf Sicherheit eigentlich formuliert – Weltfrieden oder menschliche Sicherheit? (II.). Dann soll erörtert werden, welche Leistung das Völkerrecht zur Erfüllung seines Anspruchs erbringt (III.). Schließlich sollen noch einige Überlegungen dazu angestellt werden, welchen Anspruch das Völkerrecht angesichts seiner Leistung formulieren sollte (IV.).

II. Der Anspruch des Völkerrechts Das Hauptziel der UN-Charta besteht darin, „den Weltfrieden“ (international peace) . . . zu wahren“.5 Liegt der Anspruch des Völkerrechts unter der Charta also in der Wahrung des Weltfriedens? Wenn man Anspruch im Sinne von Ziel versteht, ist das zweifellos der Fall. Dieser Anspruch ist eng. Weltfrieden zielt zunächst nur auf die Verhinderung von Weltkrieg. So spielt die Präambel der Charta auf die beiden Weltkriege an, wenn sie von der „Geißel des Krieges“ spricht, „die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat“. Heute geht es aber offenbar nicht mehr so sehr um die Verhinderung eines neuen Weltkrieges oder zwischenstaatlicher Kriege, sondern um die Verhinderung und Begrenzung anderer Formen organisierter Gewaltanwendung unter Menschen. Mit dem Weltfrieden ist die maßgebliche Zielformulierung allerdings noch nicht erschöpft. Die Charta zielt neben der Wahrung des Weltfriedens auch auf die internationale Sicherheit („international security“) sowie auf die Achtung vor den Menschenrechten und den sozialen Fortschritt.6 Diese weiteren Ziele stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern beruhen auf der Vorstellung, dass sie Bedingungen für die Wahrung des Weltfriedens sind.7 Die Verhütung jeder Form organisierter Gewaltanwendung unter Menschen ist damit ebenso wie die Beachtung der Menschenrechte seit 1945 Ziel des kollektiven Sicherheitssystems der Vereinten Nationen und damit des Völkerrechts gewesen.8 5

Art. 1 UN-Charta: “The Purpose of the United Nations are: 1. To maintain international peace and security, . . .“. 6 Präambel der UN-Charta: “. . . to reaffirm faith in fundamental human rights, in the dignity and worth of the human person, in the equal rights of men and women and of nations large and small, and to establish conditions under which justice and respect for the obligations arising from treaties and other sources of international law can be maintained . . .”. 7 Wolfrum Preamble, in: Simma (Hrsg.) The Charter of the United Nations - A Commentary2, 2002, Rn. 1–3. 8 Dies zeigt auch Art. 2 Ziff. 7, 2. HS der Charta. Danach verstoßen Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates nicht gegen das Interventionsverbot. Die Verfasser der Charta hatten also von vornherein die Möglichkeit eines Eingreifens des Sicherheitsrats in nicht-

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Die Regeln und Verfahren der Charta sind also nie auf die Verhinderung des Ausbruchs zwischenstaatlicher Kriege beschränkt gewesen, sondern haben von vornherein einen weiten Vorfeldschutz umfasst. Deshalb bedurfte es in den neunziger Jahren auch keiner besonderen juristischen Auslegungskunst, den Begriff der Friedensbedrohung, also die Voraussetzung für Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrats, auch auf Bürgerkriege, Hungersnöte, verfassungswidrige Putsche und terroristische Akte und Strukturen zu erstrecken. Damit entfaltete der Sicherheitsrat nur das rechtliche Potential, das von vornherein in ihm steckte.9 Aber ist diese Sicht nicht die typisch beschränkte Sicht eines Juristen, der Veränderungen in der Außenwelt nur durch die Brille seiner überkommenen Begrifflichkeit wahrnehmen kann? Geht es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht um mehr als bloß um Vorfeldschutz für den Weltfrieden im Sinne eines erweiterten Sicherheitsbegriffs?10 Stehen wir nicht in Wahrheit vor einer neuartigen Situation, in der die meisten Sicherheitsmaßnahmen auf globaler Ebene keinen Bezug mehr zu einem zwischenstaatlich verstandenen Weltfrieden haben, sondern ganz allgemein auf die Sicherung von Menschen vor Bürgerkriegen, terroristischen Anschlägen, den Auswirkungen zerfallender Staatlichkeit und Naturkatastrophen zielen? Sollte es nicht auch um die Sicherung vor strukturellen Konfliktursachen wie Umweltzerstörung, Wassermangel, ansteckenden Krankheiten, Klimawandel und Unterentinternationale Konflikte vorgesehen. Das war angesichts der Erfahrung des Spanischen Bürgerkrieges und seines offenkundigen Eskalationspotentials auch eine nahe liegende Entscheidung gewesen. Wenn der Sicherheitsrat während des Kalten Krieges nicht in solche Konflikte eingegriffen hat, dann weil hierzu – außer in den Fällen der rassistischen Regime in Süd-Rhodesien und Südafrika – keine politische Mehrheit vorhanden gewesen war. Näher dazu: Nolte Article 2 (7), in: Simma (Fn. 7), Rn. 67–68. 9 Greenstock The Security Council in the Post-Cold War World, in: Lowe (Hrsg.) The United Nations Security Council and War: the Evolution of Thought and Practice since 1945, 2008, 248–262; Nolte The Limits of the Security Council’s Powers and its Functions in the International Legal System: Some Reflections, in: Byers (Hrsg.) The Role of Law in International Politics – Essays in International Law and International Relations 2000, 315– 325; so gesehen ist der Anspruch, den das Völkerrecht unter der Charta formuliert, klar: Die Hauptverantwortung des Sicherheitsrates für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit hat sich durch die Entwicklungen seit den neunziger Jahren nicht im Prinzip verändert, sondern sie wird nur in ihrem Umfang erweitert wahrgenommen. Aus dieser Verantwortung des Sicherheitsrates erwächst allerdings grundsätzlich keine Rechtspflicht zur Beseitigung von „Friedensbedrohungen“. Anderenfalls wäre das Ermessen, das für die Lösung kritischer zwischenstaatlicher Situationen erforderlich ist, eingeschränkt. Die allgemeinen Verhaltensregeln der Charta, also das zwischenstaatliche Gewaltverbot und das Selbstverteidigungsrecht, behalten ihre Funktion zum Schutz des zwischenstaatlichen Friedens. 10 Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Hrsg.) Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen: Kompendium zum erweiterten Sicherheitsbegriff, 2001; Rosenau New Dimensions of Security: The Interaction of Globalizing and Localizing Dynamics, Security Dialogue 25 (1994) 255–281.

Vom Weltfrieden zur menschlichen Sicherheit?

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wicklung gehen, ja sogar vor den Auswirkungen gravierender Finanz- und Wirtschaftskrisen? Dies ist die These, die mit der politischen Forderung nach „menschlicher Sicherheit“ (human security) am deutlichsten auf den Punkt gebracht wird. Menschliche Sicherheit ist zunächst einmal nur ein Kunstwort ohne klare Aussage. Sein Gehalt und seine Zielrichtung werden deutlicher, wenn man den Begriff demjenigen der staatlichen bzw. nationalen Sicherheit gegenüberstellt. Der Human Development Report 1994, der den Begriff „menschliche Sicherheit“ in die globale politische Debatte eingeführt hat, formuliert, dass es an der Zeit sei, vom engen Begriff der staatlichen Sicherheit zum allumfassenden Begriff der menschlichen Sicherheit überzugehen.11 Diese Forderung erscheint plausibel in einer Welt, die sich in einem Prozess der Globalisierung sieht, deren Schattenseiten sie vermeiden möchte. Man sollte aber auch genauer hinschauen, wer die politische Forderung nach menschlicher Sicherheit mit welchem Motiv erhebt. Politisch ging es dem Weltentwicklungsprogramm der UN mit seinem Bericht von 1994 zweifellos um die Relegitimierung von Entwicklungshilfe durch Hinweis auf die Sicherheitsrelevanz struktureller Konfliktursachen.12 Auch die Staaten, die sich den Begriff der menschlichen Sicherheit zueigen gemacht haben, verfolgen ein politisches Eigeninteresse. Kanada hat sich schon immer besonders im Bereich des UN-Peacekeeping engagiert. Es erklärt seine Politik mit einem engen Begriff der menschlichen Sicherheit, der den Fokus auf physische Sicherheit legt.13 Die zivile Wirtschaftsmacht Japan verfolgt demgegenüber einen weiten Ansatz, der unter menschlicher Sicherheit die Gewährleistung der Voraussetzungen von Sicherheit in wirtschaftlichen und anderen Bereichen versteht.14 Die etwa zwanzig Staaten, die heute in dem informellen

11 UNDP (Hrsg.) Human Development Report 1994, 24 (abrufbar unter http://hdr. undp.org/en/media/hdr_1994_en_chap2.pdf); Hintergrund dieser Forderung war der nach dem Ende des Kalten Krieges erfolgte Wechsel der internationalen politischen Aufmerksamkeit von der Verhinderung zwischenstaatlicher Kriege hin zum Schutz von Menschen in weiten Teilen des Globus vor Bedrohungen durch Bürgerkriege und zerfallende Staatlichkeit – ausgelöst damals durch Fälle wie Jugoslawien und Somalia. 12 Stein-Kaempfer Human Security – Völkerrechtliche Aspekte eines internationalen Sicherheitskonzeptes zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2008, 28–30; Mac Farlane/Foong Khong Human Security and the UN – A Critical History, 2006, 143–163, Kermani The Human Security Paradigm Shift: From “Expansion of Security” to “Extension of Human Rights”, Human Security Journal 1 (2006) 24–34. 13 Axworthy Human Security and Global Governance: Putting People First, Global Governance 7 (2001) 19–23; Paris Human Security – Paradigm Shift or Hot Air, International Security 27 (2001) 87–102, insbes. 90–91. 14 King/Murray Rethinking Human Security, Political Science Quarterly 116 (2001–02) 589–590; Mac Farlane/Foong Khong (Fn. 12), 227–229; Amouyel What is Human Security?, Human Security Journal 1 (2006) 10–23.

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Netzwerk „Friends of Human Security“ zusammenarbeiten,15 lassen sich zwar nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, sie sind aber bisher weder Subjekte noch Objekte einer aktiven militärischen Interventionspolitik gewesen. Handelt es sich bei „menschlicher Sicherheit“ also nur um einen politischmoralischen Begriff, mit dem eine lose Koalition von Sekretariaten internationaler Organisationen, soft-power-orientierter mittelgroßer Staaten und Nichtregierungsorganisationen ihre jeweilige eigene Agenda so neu verpacken, dass sie größere internationale Aufmerksamkeit und Wirkung erzeugt? Diese Frage zu bejahen hieße, die politischen Motive und die Plausibilität der Konzeption miteinander zu verwechseln. Diese Koalition artikuliert als Gesamtkonzept nur das, was in einzelnen Elementen und in einzelnen Zusammenhängen rechtlich bereits allgemein akzeptiert ist. Niemand bestreitet, dass Sicherheit, was auch immer genau darunter verstanden wird, von den unterschiedlichsten Voraussetzungen abhängt und dass der Schutz der Menschenrechte für alle eine Voraussetzung für die Gewährleistung von Sicherheit für Staaten wie für Einzelmenschen im Verhältnis untereinander ist.16 Aber warum zählt man dann nicht politisch und juristisch eins und eins zusammen und kombiniert aus den allgemein anerkannten Zielen „Weltfrieden“ und „Menschenrechte“ einen für unsere Zeit passenden umfassenden Anspruch der Politik und des Völkerrechts, für menschliche Sicherheit zu sorgen? Das verbreitete Zögern dürfte sowohl pragmatische als auch prinzipielle Gründe haben: Bei politischen Akteuren besteht zweifellos die Sorge, dass der Anspruch, „menschliche Sicherheit“ für alle Menschen zu gewährleisten, unbestimmt weit ist, unkalkulierbare Kosten verursacht und eine unerwünschte Gleichstellung von akuten physischen Bedrohungen einerseits und strukturellen Gefährdungen andererseits zur Folge haben würde.17 In der juristischen Welt entspricht dem die Sorge, dass eine Kombination von herkömmlichem Sicherheitsvölkerrecht und den Menschenrechten zu einer unerwünschten und vielleicht sogar bedrohlichen Verlagerung von Verantwortlichkeiten führen könnte, wie etwa, dass der Sicherheitsrat sogar in einem Bereich wie der Entwicklungshilfe tätig werden könnte.18 Und in 15 „Friends of Human Security“, (abrufbar unter: http://www.mofa.go.jp/policy/ human_secu/friends/index.html (Stand: 06.02.09). 16 Vgl. auch Ramcharan Human Rights and Human Security, 2002, 7–20. 17 Vgl. Stein-Kaempfer (Fn. 12), 73–74. 18 Dementsprechend wurde der Begriff der menschlichen Sicherheit zwar bei den Erörterungen der Frage der humanitären Intervention nach der Kosovo-Intervention der NATO-Staaten und der Frage der UN-Reform nach dem Angriff der USA und ihrer Koalition der Willigen auf den Irak zwar zunächst ins Spiel gebracht, er ist im weiteren Verlauf dann aber in den Hintergrund getreten, Axworthy NATO's New Security Vocation, NATO-Review 47 No. 4 (1999) 8–11; Millar A Human Security Analysis of the War in Iraq, Human Security Journal 2 (2006) 47–17.

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der Tat versuchen selbst die „Friends of Human Security“ nicht, den Begriff der menschlichen Sicherheit als einen Anspruch des Völkerrechts zu postulieren.19 So verständlich diese Zurückhaltung ist, so wenig besteht allerdings Anlass, den Begriff der menschlichen Sicherheit als völkerrechtlichen Anspruch auszuscheiden und in den Bereich bloßer politischer Rhetorik zu verbannen. Menschliche Sicherheit ist der Sache nach im Begriff der Menschenrechte enthalten. Alle relevanten Akteure bekennen sich dazu, dass Sicherheit von der Beachtung der Menschenrechte und bestimmter struktureller Grundbedingungen abhängt und nur dadurch nachhaltig gewährleistet werden kann.20 Militärische Friedensmissionen werden kaum noch ohne zivile Komponente ausgestattet, ebenso wie Entwicklungspolitik heute mögliche Konfliktursachen von vornherein in den Blick nimmt.21 Damit wird der engere Begriff der staatsverbundenen Sicherheit überschritten und es zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab.22 Die aktuelle und die strukturelle Sicherheit aller Menschen wird Ziel einer umfassenden Weltsicherheitspolitik. Dieser Paradigmenwechsel verlangt von allen sicherheitspolitischen Akteuren, sich als Agenten einer globalen Verantwortungsgemeinschaft zu sehen und entsprechend zu handeln. „Menschliche Sicherheit“ wird zur Chiffre einer kosmopolitischen Weltethik, die den nationalen Egoismus der Staaten überwinden soll. Der Begriff enthält auch das Postulat einer gemeinsamen Welt-Risikokultur, der Abstufungen und Vielfalt von Gefahren suspekt ist. Allerdings besitzt der Begriff der menschlichen Sicherheit in dieser Weite und Unbestimmtheit auch das Potential, zum Instrument für mächtige Akteure zu werden, ihre Macht zu legitimieren und auszuweiten. Der Begriff ermöglicht es, alle möglichen Fragen zu Sicherheitsfragen zu erklären, die im globalen Sicherheitsinteresse angebracht seien. Die Legitimation von Maßnahmen zur Gewährleistung menschlicher Sicherheit verschafft denjenigen Akteuren Handlungsspielräume, die global handeln können. Solche Akteure können im Rahmen herkömmlicher staatlicher Außenpolitik, aber auch hegemonial oder imperial handeln, ja man kann sich sogar informale globale Wirkungseinheiten von den G-20 bis zum „biopolitischen Empire“

19 Chair’s Summary, Second Meeting of the „Friends of Human Security“, 20 April 2007, http://www.mofa.go.jp/policy/human_secu/friends/index.html, website des Japanischen Außenministeriums (Stand: 06.02.09). 20 Ramcharan (Fn. 16), 7-20. 21 UN-DPKO-Best Practices Unit (Hrsg.) Handbook on United Nations Multidimensional Peacekeeping, Dezember 2003, 35-45; UN-Department of Peacekeeping Operations Civil-Military Coordination Policy, http://www.un.org/Depts/dpko/milad/oma/DPKO_ CMCOORD_Policy.pdf.; Serafino/Weiss Peacekeeping and Conflict Transitions, in: Gerbick (Hrsg.) Peacekeeping and Stability Issues, 2007, 83–97. 22 Kermani (Fn. 12), 24–34.

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vorstellen. Menschliche Sicherheit kann zum Trojanischen Pferd für die securitization der globalen Beziehungen werden.23 So gesehen bietet „menschliche Sicherheit“ sowohl die Möglichkeit einer liberalen Überwindung eines zwischenstaatlich orientierten Sicherheitsverständnisses als auch die Umrisse eines autoritären weltinnenpolitischen Konzepts, das mächtige Akteure für ihre Rolle als „gute Weltpolizey“ auch in den Formen des Völkerrechts legitimieren kann. Sollte ein solch ambivalenter Begriff als Anspruch des Völkerrechts anerkannt werden? Diese Frage kann erst beantwortet werden, wenn zuvor geklärt ist, worin eigentlich die Leistung des Völkerrechts liegt.

III. Die Leistung des Völkerrechts Wie jede Rechtsordnung erbringt das Völkerrecht unterschiedliche Leistungen, erfüllt also verschiedene Funktionen. Diese Leistungen können unterteilt werden in die Festschreibung bestimmter Ziele und Werte (a), die Orientierung von konkretem Verhalten (b), die Ermöglichung von Gestaltung und Regeländerung (c), sowie die Bewirkung der Befolgung von Regeln (d). Die Frage, welche Leistung das Völkerrecht erbringt, muss mit Blick auf diese einzelnen Funktionen beantwortet werden: 1. Festschreibung von Zielen und Werten Das Völkerrecht ist voll von Zielen und Werten. Völkerrechtliche Verträge werden häufig durch lange Präambeln eingeleitet, die sich wie eine Liste frommer Wünsche lesen. Das Gleiche gilt für Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, die typischerweise mit einer ganzen Reihe von Appellen zur Beachtung allgemein-anerkannter Prinzipien beginnen. Gründungsverträge internationaler Organisationen und Menschenrechtsverträge, aber auch technische Abkommen, kommen nicht ohne Bekenntnisse zu höheren Zielen und Werten aus, denen sie dienen sollen. Diese Fülle von Zielen und Werten ist leicht zu erklären, weckt aber auch Kritik. Politisch kann man sie als Wunschprojektion deuten. Worüber politisch am ehesten Einigkeit zu erzielen ist, ist das Anerkenntnis, dass ein Problem besteht und dass es unter Beachtung gemeinsamer Grundwerte gelöst werden sollte. Damit wird nicht selten auch mangelnde Einigkeit über die Formulierung konkreter Normen durch moralische Sprache überdeckt. Und genau dies erweckt dann den Eindruck, das Völkerrecht verspreche mehr, als es halten kann. 23 Chandler Human Security: The Dog That Didn´t Bark, Security Dialogue 39 (2008) 427–438.

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Allerdings sollte man aber auch bedenken, dass es eine Eigenheit der meisten Rechtsordnungen ist, ein Spannungsverhältnis zwischen abstrakten Zielen und Werten und konkreten Normen zu begründen. In Deutschland hat man überdurchschnittlich hohe Erwartungen an die Übereinstimmung von Recht und Realität, von Verfassung und Verfassungswirklichkeit,24 Erwartungen, die aufgrund vieler günstiger Umstände hierzulande weitgehend erfüllt werden können. Wer aber Staaten wie Indien oder Südafrika mit ihren Realitäten und Rechtsordnungen betrachtet, dürfte leichter Verständnis für Normen mit Prinzip- und Appellcharakter aufbringen. Das gleiche Verständnis sollte man auch dem Völkerrecht entgegenbringen. Dann erkennt man, dass die Funktion der Artikulierung von Zielen und Werten im Völkerrecht auch darin liegt, Gemeinsamkeiten zu postulieren und einzuüben, die im innerstaatlichen Recht schon internalisiert und in konkretere Regeln umgesetzt worden sind. Diese Funktion des Völkerrechts darf nicht mit einem Anspruch des Völkerrechts auf volle Gewährleistung der proklamierten Ziele und Werte verwechselt werden.25 Sonst würde das Völkerrecht die Beteiligten tatsächlich in eine gefährliche falsche Sicherheit wiegen und selbstzerstörerische Enttäuschungen auslösen. Dass man einen Anspruch nicht sofort erfüllen kann, ist aber kein Grund, ihn nicht in einer Rechtsordnung zu proklamieren. So gesehen beansprucht das Völkerrecht weniger als sowohl moralische Maximalisten als auch die Kritiker moralgesteuerter Politik behaupten. 2. Orientierung von konkretem Verhalten Aber die Hauptfunktion des Völkerrechts liegt natürlich in der Bereitstellung konkreter Regeln zur Orientierung von Verhalten. Nun enthält das Völkerrecht zwar konkrete Regeln. Die Frage ist aber gerade, ob sie noch orientierend und angemessen sind in einer Zeit, in der es nicht mehr in erster Linie um die Verhinderung eines Weltkrieges, sondern um die Gewährleistung von Sicherheit in einem viel umfassenderen Sinn geht. Das zentrale Beispiel aus den letzten Jahren betrifft die Frage nach den Regeln bei sogenannten asymmetrischen Konflikten, also in Hinblick auf mutmaßliche Terroristen oder andere nicht-staatliche Gruppen. Hier ist gesagt worden, dass die überkommenen Regeln des bewaffneten Konflikts, insbesondere aus der Haager Landkriegsordnung von 1907 und den Genfer Konventionen von 1949, auf die Situation eines zwischenstaatlichen Krieges 24 Hennis Verfassung und Verfassungswirklichkeit: ein deutsches Problem (Freiburger Antrittsvorlesung vom 5. Juli 1968), 1968; Volkmann Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, VVdStRL 67 (2008) 57–90, insbes. 59–62; Hillgruber ebenda, 7–56. 25 Koskenniemi What is International Law for?, in: Evans (Hrsg.) International Law2, 2006, 57–82.

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zugeschnitten seien, in der sich die Kontrahenten gegenseitig anerkennen würden.26 Bei solchen sog. „neuen Kriegen“ würde ein Beharren auf den alten Regeln einer Parteinahme für die Seite der irregulären Kämpfer gleichkommen, welche prinzipiell keine Regeln für das eigene Verhalten anerkennten und aus der Zivilbevölkerung heraus zuschlagen. Juristen würden ihre Definitionsmacht überschätzen, wenn sie dächten, dass sie die Normen, die für eine bestimmte Konstellation heraus von Staaten für Staaten entwickelt worden sind, auch unabhängig von der dahinter stehenden Interessenkonstellation anwenden könnten. Diese Auffassung, die hierzulande besonders prominent von Herfried Münkler vertreten worden ist,27 ist analytisch plausibel. Sie wird auch nicht dadurch widerlegt, dass manche Staaten, die sich in den „neuen Kriegen“ an vorderster Front sehen bzw. sahen, höchst problematische konkrete Maßnahmen ergriffen, die sie aus den Erfordernissen der neuen Umstände herleiteten. Hierbei denkt man natürlich an Guantanamo, waterboarding, gezielte Tötungen und die Bombardierung ziviler Infrastruktur.28 Die Erwähnung dieser Beispiele soll weder suggerieren, Münkler und andere kluge Diagnostiker hätten sie gerechtfertigt, noch sollen diese Maßnahmen hier rechtsdogmatisch näher beleuchtet werden. Es ist hier nur darauf hinzuweisen, dass sich die durchaus plausible These, die „neuen Kriege“ seien so neuartig, dass juristische Kreativität zur Rechtfertigung neuartiger Maßnahmen angebracht sei, sich normativ nicht durchgesetzt hat. Ein Zusammenspiel von Völker- und Verfassungsrechtlern, öffentlicher Meinung und Höchstgerichten hat den Regierungen und den Parlamenten nicht nur der entwickelten Staaten in den letzten Jahren klar gemacht, dass die überkommenen Regeln des Völker- und Verfassungsrechts auch in den sog. „neuen Kriegen“ grundsätzlich weiter gelten und die übliche evolutive Auslegung der Normen zur Bewältigung des Wandels ausreichen würden.29 26 Kramer Rechtliche Regulierung asymmetrischer Konflikte?, Die Friedens-Warte 81/2 (2006) 96–100; Geiß Asymmetric Conflict Structures, IRRC 88 Nr. 264 (2006) 757–777. 27 Münkler (Fn. 3), 59–65. 28 Vgl. aus völkerrechtlicher Sicht dazu: Nolte Guantanamo und Genfer Konventionen: Eine Frage der lex lata oder de lege ferenda?, in: Fischer/Froissart/Heintschel von Heinegg/ Raap (Hrsg.) Krisensicherung und Humanitärer Schutz – Crisis Management and Humanitarian Protection – Festschrift für Dieter Fleck, 2004, 393–404; Nolte Weg in eine andere Rechtsordnung, in: Lutz/Gießmann (Hrsg.) Die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren, 2003, 303–321. 29 Nolte Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung, VVdStRL 67 (2008) 129–159, insbes. 139–141; House of Lords, Urteil vom 12. Dezember 2007 (R. on the Application of Al-Jedda v. Secretary of State for Defence), (2007) UKHK 58; Supreme Court of Israel, Urteil vom 14. Dezember 2006 (The Public Committee against Torture in Israel v. The Government of Israel) (HCJ 769/02), abrufbar unter: http://elyon1. court.gov.il/verdictssearch/englishverdictssearch.aspx; U.S. Supreme Court, Urteil vom 29. Juni 2006 (Hamdan v. Rumsfeld), 126 S.Ct. 2749 (2006), U.S. (2006) Opinion of the Court; U.S. Supreme Court, Urteil vom 12. Juni 2008 (Boumediene et al v. Bush), 128 S.Ct. 2229 (2008).

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Völkerrechtler hatten darauf aufmerksam gemacht, dass bereits die Genfer Konventionen von 1949 Grundregeln für nicht-internationale, also typischerweise asymmetrische bewaffnete Konflikte enthalten; dass die Menschenrechte schon seit einiger Zeit auf bestimmte gewaltsame Operationen eines Staates außerhalb seines Staatsgebiets angewendet würden; und dass das Völkerrecht einen Wechsel von einem Polizei- zu einem Kriegsparadigma nur in begrenztem Maß zulässt.30 Das Beharren der Völkerrechtler auf den wichtigsten überkommenen Regeln entsprach dem allgemeinen Rechtsempfinden, nicht nur in der westlichen Öffentlichkeit. Und nachdem der erste Schock über neuartige Formen der Gewaltanwendung verarbeitet war, haben höchste Gerichte, insbesondere in den USA und in Israel, gegenüber der jeweiligen Exekutive die grundsätzliche Weitergeltung der wichtigsten überkommenen Regeln eingefordert und durchgesetzt.31 Es ist eine eindrucksvolle Krönung dieser Entwicklung, dass der neue amerikanische Präsident Guantanamo und anderen völkerrechtswidrigen Praktiken der USA nun auch von Seiten der US-Exekutive formell abgeschworen hat.32 In der Sache war dieser Schritt schon seit einiger Zeit unausweichlich gewesen. Nun gibt es allerdings Situationen, in denen das Völkerrecht auch für menschenrechtlich orientierte Juristen einer angemessenen Reaktion williger Verantwortungsträger entgegenzustehen scheint. Im Fall Kosovo 1999 sprach der Anspruch auf Beachtung der Menschenrechte und auf „menschliche Sicherheit“ für ein Eingreifen auch ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates. Die Diskussion, die nach der Kosovo-Intervention der NATOStaaten über die Zulässigkeit einseitiger humanitärer Interventionen stattgefunden hat, hat allerdings gezeigt, dass die meisten Staaten, und wohl auch die Mehrheit der Völkerrechtswissenschaftler, die herkömmlich strenge Interpretation der Charta weiter als maßgebend ansehen.33 Selbst die NATOStaaten konnten sich nicht auf die Proklamation einer neuen Doktrin der 30 Tomuschat Der Sommerkrieg des Jahres 2006 im Nahen Osten. Eine Skizze, Die Friedens-Warte 81/1 (2006) 179–190; Krieger A Conflict of Norms: The Relationship Between Humanitarian Law and Human Rights Law in the ICRC Customary Law Study, Journal of Conflict and Security Law 11 (2006) 265–291. 31 Supreme Court of Israel, Urteil vom 14. Dezember 2006, (The Public Committee against Torture in Israel v. The Government of Israel) (HCJ 769/02), abrufbar unter: http://elyon1.court.gov.il/verdictssearch/englishverdictssearch.aspx; U.S. Supreme Court, Urteil vom 29. Juni 2006 (Hamdan v. Rumsfeld), 126 S.Ct. 2749 (2006), U.S. Supreme Court, Urteil vom 12. Juni 2008 (Boumediene et al v. Bush), 128 S.Ct. 2229 (2008). 32 Obama Issues Directive to Shut Down Guantánamo, New York Times vom 21. Januar 2009; Nach dem Machtwechsel – Obama setzt Guantánamo-Verfahren aus, FAZ vom 21. Januar 2009. 33 Gray International Law and the Use of Force by States3, 2008, 47 ff.; Krieger The Kosovo Conflict and International Law: An Analytical Documentation 1974–1999, 2001, Introduction, xxxix–xxxix m.w.N.; Nolte Kosovo und Konstitutionalisierung: Zur humanitären Intervention der NATO-Staaten, ZaöRV 59 (1999) 941–960.

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humanitären Intervention durchringen.34 Dies geschah offenbar aus Sorge vor einer Berufung anderer Staaten auf diese Doktrin in unpassenden Situationen. Die Berechtigung der Sorge vor Missbrauchsgefahr zeigte sich bald im Fall der sog. Bush-Doktrin von 2002.35 Diese Doktrin hatte eine erweiternde Interpretation des Selbstverteidigungsrechts gegenüber sog. Schurkenstaaten, sog. zerfallenden Staaten und mutmaßlichen Terroristen auch in solchen Situationen abgeleitet, in denen ein Angriff noch gar nicht stattgefunden oder unmittelbar bevorgestanden hatte, sondern lediglich drohte.36 Auch diese Doktrin hatte aus der zutreffenden Beobachtung einer Lageveränderung einen vorschnellen normativen Schluss gezogen, der die Konsequenzen für das System der Sicherung des Weltfriedens nicht genügend berücksichtigte. Als sich die Missbrauchsanfälligkeit dieser neuen Doktrin mit dem Irak-Krieg zeigte, war ihre Plausibilität schnell erschüttert. Die Ankündigung des neuen Vize-Präsidenten der USA, Biden, im Wahlkampf, die Bush-Doktrin zurücknehmen zu wollen,37 ist ein deutliches Zeichen für ihre mangelnde Überzeugungskraft. Diese Beispiele zeigen, dass sich die Stabilisierungsleistung des Rechtssystems auch in Konstellationen manifestieren kann, in denen das aus politischer oder politikwissenschaftlicher Perspektive nicht nahe liegt. Heute, in unseren Obama-inspirierten Tagen, ist das leicht gesagt. Die letzten Jahre hatten aber gezeigt, dass die Überzeugungskraft überkommener Regeln, ihr compliance pull,38 in scheinbar neuartigen Situation zeitweise kaum noch deutlich gemacht werden konnte.39 Damit soll natürlich nicht gesagt werden, dass eine getreuliche Beachtung der überkommenen Regeln immer der richtige Weg ist. Ja, es ist noch nicht einmal sicher, dass die Entscheidungen der Gerichte aus den letzten Jahren und die Entscheidungen des neuen amerikanischen Präsidenten langfristig Bestand haben werden. So könnte ein Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch Terroristen wieder zu einem Überdenken und zu einem Wandel der Rechtslage führen. Juristen dürfen in der Tat keine Truthähne sein, welche aus der Tatsache, dass sie täglich gefüttert werden, ableiten, dass sie bis 34 Krisch Legality, Morality and the Dilemma of Humanitarian Intervention after Kosovo, 13 (2002) EJIL 323–335. 35 The National Security Strategy of the United States of America (NSS), September 2002, abgedruckt bei: Korb A New National Security Strategy, 2003, 99–139. 36 NSS 2002 (Fn. 35), 6: „. . . we will not hesitate to act alone, if necessary, to exercise our right of self-defence by acting pre-emptively against such terrorists, to prevent them from doing harm against our people and our country.”; dazu Meiertöns Die Doktrinen U.S.-amerikanischer Sicherheitspolitik, völkerrechtliche Bewertung und ihr Einfluss auf das Völkerrecht, 2006, 187–231. 37 The Vice-Presidential Debate, 2 October 2008, The New York Times, 1. Dezember 2008. 38 Franck The Power of Legitimacy among Nations, 1990, 64–66. 39 Hurrell On Global Order, 2007, 191–193.

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an ihr natürliches Lebensende weiter gefüttert werden. Das Beispiel der sog. „neuen Kriege“ zeigt aber, dass das Völkerrecht, wie Recht allgemein, die wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllt, Hürden und Prüfpflichten gegenüber vorschnellen Schlüssen zu errichten, die in einer als neuartig gedeuteten Lage grundlegende Werte, die in den überkommenen Normen verkörpert sind, nicht genügend berücksichtigen. 3. Die Ermöglichung von Gestaltung und Regeländerung In dieser Funktion kann sich die Leistung des Völkerrechts aber nicht erschöpfen. Recht dient nicht nur der Konservierung bestimmter Werte und Interessen im Wandel der Zeit, sondern es soll der jeweiligen Gemeinschaft auch möglich machen, neue Herausforderungen zu bewältigen und neue Ziele zu erreichen. Das Völkerrecht muss sich also auch die Frage gefallen lassen, ob es eine angemessene Gestaltung der Verhältnisse ermöglicht und insbesondere, ob sich seine Regeln dementsprechend ändern lassen. An diesem Punkt setzt eine Kritik ein, die meint, dass das zwischenstaatlich konzipierte Völkerrecht mit seinem Gewalt- und seinem Interventionsverbot zu starre Hürden für ein effektives Handeln im Interesse der menschlichen Sicherheit errichte.40 Diese Kritik geht allerdings insofern ins Leere, als das Völkerrecht mit dem Sicherheitsrat eine Institution zur Verfügung stellt, die heute manchmal eher die umgekehrte Gefahr begründet: Der Sicherheitsrat kann bindende Maßnahmen gegen alle „Bedrohungen des Friedens“ (threats to the peace) treffen. Dies hat er nicht nur gegen Staaten, sondern auch gegen Warlords und mutmaßliche Terroristen getan.41 Der Sicherheitsrat erörtert und trifft sogar ganz allgemein Maßnahmen zum Schutz von Frauen und Kindern in bewaffneten Konflikten oder vor der Verbreitung von Aids als eines „möglichen Risikos für Stabilität und Sicherheit“.42 Damit bewegt sich der Sicherheitsrat auf ein Verständnis seiner Aufgaben zu, das weit über den Schutz des zwischenstaatlich verstandenen Weltfriedens hinausgeht und dem der menschlichen Sicherheit entspricht. Warum der Sicherheitsrat nicht auch Maßnahmen der Entwicklungshilfe gegen „Friedensbedrohungen“ anordnen können soll, lässt sich juristisch gar nicht so leicht begründen.43 Damit 40 Z.B. Slaughter Security, Solidarity, and Sovereignty: The Grand Themes of UNReform, AJIL 99 (2005) 619–631. 41 Frowein/ Krisch Art. 39, in: Simma (Fn. 7), Rn. 5 ff.; Schäfer Der Begriff der „Bedrohung des Friedens“ in Artikel 39 der Charta der Vereinten Nationen: die Praxis des Sicherheitsrates, 2006, 47 ff. 42 Z.B. UN/SC/RES 1308 (2000) „Stressing that the HIV/AIDS pandemic, if unchecked, may pose a risk to stability and security“. 43 Herdegen Die Befugnisse des UN-Sicherheitsrates – Aufgeklärter Absolutismus im Völkerrecht?, 1998, 11 ff.

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hat der Sicherheitsrat das Potential eines völkerrechtlichen Leviathan.44 Juristisch gesehen könnte er sich zum Weltdirektorat zur Gewährleistung menschlicher Sicherheit entwickeln – auch wenn dies für manchen eine erschreckende Vorstellung sein mag. Dass diese Möglichkeit nicht bloß eine akademische Träumerei ist, zeigt die Debatte, die in den vergangenen Jahren um die sogenannten Terrorlisten des Sicherheitsrates geführt worden ist.45 Mit diesen Listen hat der Rat alle Staaten verpflichtet, die Bankkonten bestimmter terrorverdächtiger Personen und Organisationen einzufrieren, ohne gleichzeitig gerichtliche Überprüfungsmöglichkeiten vorzusehen. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat diesen Anspruch des Sicherheitsrats zwar vor einigen Monaten als in Europa nicht umsetzbar zurückgewiesen.46 Damit hat das Europäische Gericht aber nicht die grundsätzliche Befugnis des Rates in Zweifel gezogen, alle möglichen Präventivmaßnahmen zur Gewährleistung von Sicherheit unter den Menschen zu treffen. Er hat nur die konkrete Ausgestaltung moniert, die mit den Menschenrechten in der Europäischen Union nicht vereinbar sei. Die Gefahr, dass sich der Sicherheitsrat zu einem juristischen und politischen Leviathan entwickelt, wird man allerdings wohl eher als gering einschätzen dürfen. Es ist zu hoffen, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ein Signal für eine rechtsstaatliche Selbstbändigung des Sicherheitsrates gegeben hat und dass es nicht zum Fanal für selektive Selbstbefreiungen anderer Staaten und Akteure vom Sicherheitssystem der UN wird. Politisch dürfte der Sicherheitsrat weiter im Spannungsfeld zwischen der wohl wieder multipolarer werdenden Mächtekonkurrenz mit der Möglichkeit der Selbstblockade einerseits und dem gemeinsamen Interesse, insbesondere der Vetomächte, an dem Erhalt eines funktionsfähigen Instruments zur Durchsetzung der gemeinsamen Sicherheitsinteressen andererseits stehen. Damit wird der Sicherheitsrat also wohl auch in Zukunft zu keiner klaren Rolle finden. Was ist dann aber, wenn der Sicherheitsrat blockiert ist? Wer diese Frage stellt, sollte zunächst einmal einen Moment innehalten und sich fragen, bei 44 Nolte The International Legal System: Is its Nature Changing?, Austrian Review of International and European Law 8 (2003) 88 ff. 45 Aust/Naske Rechtsschutz gegen den UN-Sicherheitsrat durch europäische Gerichte? Die Rechtsprechung des EuG zur Umsetzung „gezielter Sanktionen“ aus dem Blickwinkel des Völkerrechts, 61 ZÖR (2006) 587–623; Fassbender Targeted Sanctions Imposed by the UN Security Council and Due Process Right, International Organizations Law Review 3 (2006) 437–485; Bianchi Security's Council’s Anti-terror Resolutions and Their Implementation by Member States: an Overview, Journal of International Criminal Justice 4 (2006) 1044–1073. 46 EuGH, Urteil (Große Kammer) vom 3. September 2008, in den verbundenen Rechtssachen C-402/05 P und C-415/05 P (Yassin Abdullah Kadi gegen Rat der EU und Al Barakaat International Foundation gegen Rat der EU), EuGRZ 2008, 480 ff. (abrufbar unter: http://curia.europa.eu/jurisp/cgi-bin/form.pl?lang=de).

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welchen Konstellationen eine Blockade des Sicherheitsrates wahrscheinlich ist. Dies wird umso eher der Fall sein, wenn der Anlass auch Fragen der Wahrung des Weltfriedens aufwirft, also des zwischenstaatlichen oder quasi-zwischenstaatlichen Verhältnisses, und nicht so sehr, wenn es „lediglich“ um Fragen der menschlichen Sicherheit im weiteren Sinn geht. Es gibt ein strukturelles und langfristiges gemeinsames Interesse der Mitglieder des Sicherheitsrates und der meisten Staaten an der Bekämpfung von Terrorismus und Piraterie, von Völkerrechtsverbrechen, von Hunger und Seuchen. Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, dass der Sicherheitsrat auch nach dem Georgien-Krieg des Sommers 2008 weiter Resolutionen zur Pirateriebekämpfung am Horn von Afrika beschlossen hat47 und dass der Sicherheitsrat trotz politischer Konfrontationen mit China über Tibet weiter Resolutionen zu Darfur erlassen hat.48 Wenn diese Resolutionen für die Lösung der jeweiligen Probleme nicht ausreichen, dann hat dies offenbar mehr mit der mangelnden politischen Entschlossenheit aller beteiligten Akteure, also nicht nur Russlands und Chinas, zu tun, energischere Maßnahmen zu ergreifen, als mit einem strukturellen Mangel des Sicherheitsrats und des Völkerrechts insgesamt. Auch wenn die Grundregeln der Charta zum Gewaltverbot und das humanitäre Völkerrecht durch die Herausforderungen der letzten zehn Jahre letztlich nicht erschüttert, sondern eher bekräftigt worden sind, beweist dies natürlich nicht, dass wir völkerrechtlich in der bestmöglichen aller Welten leben. Dies zeigt schon die prinzipielle Einigkeit über die Wünschbarkeit einer UN-Reform.49 Kluge Menschen haben immer wieder Vorschläge gemacht, welche über die Phantasie derjenigen hinausgehen, die in der Gegenwart verhaftet sind. Ein Teil dieser Vorschläge läuft auf eine stärkere Verrechtlichung und auf einen Ausbau der völkerrechtlichen Institutionen hinaus, ein anderer Teil meint, ein freieres Spiel von Koalitionen der Willigen und Netzwerken freier Spieler würde zu einem sichereren Ausgleich der Interessen führen. Bis vor kurzem sahen viele die informellen Koalitionen und die Netzwerke auf Kosten der formellen internationalen Organisationen auf dem Vormarsch.50 Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise und die Wahl eines mehr multilateral orientierten US-Präsidenten haben zweifellos 47

UN/S/RES/1851 (2008) vom 16. Dezember 2008. UN/S/RES/1841 (2008) vom 15. Oktober 2008. 49 Vgl. dazu etwa Fréchette Die Reform der Vereinten Nationen: eine Innenansicht, Vereinten Nationen 1/2007, 1–9. Zimmermann/Varwick (Hrsg.) Die Reform der Vereinten Nationen. Bilanz und Perspektiven, 2006; vgl. auch: We the People. The Role of the United Nations in the twenty-first Century (UN-Doc. A/54/2000) vom 27. März 2000; Strengthening the United Nations: An Agenda for further Change (UN-Doc. A/57/387) vom 9. September 2002. 50 Vgl. Benvenisti Coalitions of the Willing and the Evolution of Informal International Law, in: Calliess/Nolte/Stoll (Hrsg.) Coalitions of the Willing: Avantgarde or Threat?, Göttinger Studien zum Völker- und Europarecht, Band 8, 2008, 1–23. 48

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die Befürworter einer stärkeren Verrechtlichung gestärkt. Jetzt denkt man wieder an den Bau einer Weltfinanzarchitektur und an eine Reform des kollektiven Sicherheitssystems der Vereinten Nationen.51 Aber das mag ein Zwischenhoch sein. Unabhängig davon, welche dieser Tendenzen sich durchsetzt, stellt sich die Frage, ob das Völkerrecht genügend Flexibilität besitzt, um der Veränderung der Verhältnisse Rechnung zu tragen. Wie jedes Recht besitzt Völkerrecht eine Voreingenommenheit für den status quo. Neue Umstände werden so lange nach den alten Regeln behandelt wie diese nicht geändert werden. Gleichzeitig beruht Völkerrecht aber auch auf der Annahme, dass die Möglichkeiten seiner Änderung hinreichend flexibel sind, um Änderungen der Verhältnisse angemessen zu berücksichtigen. Völkerrecht ist nun allerdings sowohl sehr viel schwerer als auch sehr viel leichter als innerstaatliches Recht zu ändern. Änderungen des Völkerrechts sind besonders schwierig, weil grundsätzlich jede Vertragspartei der Änderung eines völkerrechtlichen Vertrages zustimmen muss. Dies musste insbesondere die EU in den vergangenen Jahren schmerzlich erleben.52 Eine Änderung des Völkergewohnheitsrechts setzt nach überkommener Vorstellung das Einverständnis der weit überwiegenden Zahl der Staaten voraus.53 Diese konsensuale Struktur des Änderungsprozesses begründet eine Gefahr der Verknöcherung des Völkerrechts. Andererseits kann sich Völkerrecht aber auch besonders schnell ändern, ohne formelle Verfahren durchlaufen zu müssen, nämlich wenn eine genügend deutliche informelle Einigkeit erkennbar ist. Ein bekanntes Beispiel ist die sofortige internationale Anerkennung nach dem 11. September 2001, dass die USA das Recht haben, ihr Selbstverteidigungsrecht gegen den Staat Afghanistan auszuüben,54 obwohl das dort herrschende Regime die Al Qaida-Kämpfer nicht kontrollierend entsandt, sondern lediglich deren Organisation auf seinem Gebiet toleriert hatte. Diese Formen seiner Änderung machen das Völkerrecht unter den Bedingungen der Globalisierung besonders suspekt. Auf der einen Seite wirkt es 51 Obama Wants Global Financial Plan, New York Times vom 11. März 2009; Some advice for Ambassador Rice, Washington Times 26. Februar 2009; Neuer Anlauf für Reform des Weltsicherheitsrats; Associated Press Worldstream – German, Meldung vom 20. Februar 2009. 52 Eine Änderung der UN-Charta erfordert „nur“, aber auch immerhin eine Zustimmung von zwei Drittel der Mitgliedstaaten einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates (Art. 108 UN-Charta). Damit gehört die Charta zu den relativ leicht änderbaren Gründungsverträgen internationaler Organisationen. 53 Brownlie International Law7, 2008, 7 f.; Thirlway The Sources of International Law, in: Evans (Fn. 25), 122 f. 54 UN/SC/RES/1368 (2001) vom 12. September 2001; dazu Tomuschat Der 11. September und seine rechtlichen Konsequenzen, EuGRZ 24 (2001) 535–545; Gray (Fn. 33), 198-199; Byers Terrorism, the Use of Force and International Law after 11 September 2001, ICLQ 51 (2002) 401–414.

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als ein Dinosaurier, weil seine Grundregeln auf eine Zeit gemünzt sind, in der es in erster Linie um zwischenstaatliche Machtverhältnisse ging. Auf der anderen Seite setzen die mangelnde Förmlichkeit und die Schnelligkeit informeller Veränderungen die demokratischen innerstaatlichen Legitimationsprozeduren unter Druck. Die Welt bedarf der politischen Gestaltung, aber das Völkerrecht räumt entweder zu vielen Vetospielern Einfluss ein oder es ermöglicht informelle hegemoniale oder gar imperiale Machtausübung an nationalen Parlamenten vorbei. Diese Kritik ist ebenso berechtigt wie fruchtlos. Solange es eine genügende Zahl starker politischer Gemeinschaften auf dem Globus, insbesondere Staaten gibt, die auf den Zustimmungserfordernissen nach der gegenwärtigen Rechtslage bestehen und die auch nicht mit Gewalt von dieser Position abgebracht werden können, kann sich ein internationales Recht nur quasi-konsensartig verändern.55 Und solange dies der Fall ist, ist es zur Verhinderung der Verknöcherung des Völkerrechts auch grundsätzlich berechtigt, informellere Konsensprozesse, wenn sie schon stattfinden, als rechtsbildend anzuerkennen. 4. Bewirkung der Befolgung von Regeln Doch was bedeuten all diese Überlegungen für die tatsächliche Beachtung von völkerrechtlichen Regeln zur Gewährleistung des Weltfriedens und der menschlichen Sicherheit? Das schiere Ausmaß an bewaffneten Konflikten und Menschenrechtsverletzungen spricht zunächst einmal gegen die Fähigkeit des Völkerrechts, die Befolgung seiner Regeln zu bewirken. Allerdings ist dieser erste Eindruck solange nicht aussagekräftig, wie man nicht feststellen kann, wie viele bewaffnete Konflikte und Menschenrechtsverletzungen nicht begangen worden sind, weil das Völkerrecht beachtet worden ist – ob nun aus innerer Überzeugung der Akteure oder aus kühlem Kalkül der politischen Kosten bei Rechtsbruch. Die Leistung des Völkerrechts bei der Bewirkung der Befolgung von Regeln kann also nur indirekt bestimmt werden. Eine Möglichkeit, die Leistung des Völkerrechts indirekt zu bestimmen, ist die Interpretation von Statistiken. Der Human Security Report 2005 des Human Security Center an der University of British Columbia will ermittelt haben, dass die Zahl der – zwischen- wie innerstaatlichen – bewaffneten Konflikte und ihrer Opfer, seit Mitte der neunziger Jahre kontinuierlich abgenommen habe.56 Dies sei wesentlich auf die internationalen friedensschaf55 Vgl. Treaties over Time – in particular: Subsequent Agreement and Practice, ILCWorking Group Long-Term Programme of Work, International Law Commission, Report on the work of its sixtieth session (5 May to 6 June and 7 July to 8 August 2008), General Assembly, Official Records, Sixty-second Session, Supplement No. 10 (A/63/10), abrufbar unter: http://untreaty.un.org/ilc/reports/2008/2008report.htm. 56 University of British Columbia (Hrsg.) The Human Security Report 2005, War and Peace in the 21st Century, 145-155, abrufbar unter: http://www.humansecurityreport.org/.

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fenden Aktivitäten zurückzuführen. Es ist schwer zu beurteilen, ob dieser Bericht zutrifft. Er ist umstritten, wird aber ernst genommen.57 Es ist durchaus möglich, dass das kriminologische Phänomen, dass die tatsächliche Verbrechensrate günstiger ist als die „gefühlte“, auch im internationalen Bereich feststellbar ist. Wenn die Interpretation der Statistik durch das Human Security Center richtig ist, wäre dies auch ein Anzeichen für die Beachtung und Internalisierung des Völkerrechts. Allerdings sollte man sich nicht auf diesen Bericht verlassen. Die Leistung des Völkerrechts muss anders als statistisch bemessen werden. Dies kann sinnvoll wohl nur indirekt über die Nachfrage nach Völkerrecht und seine Akzeptanz beurteilt werden. Insofern ist in den vergangenen Jahren ein interessanter Trend zur Verrechtlichung von bewaffneten Konflikten festzustellen. Dies betrifft in erster Linie das Recht, wie bewaffnete Konflikte geführt werden. Hier ist nicht nur an die Einrichtung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit zu denken. Dieser Trend zeigt sich auch an der Kontrolle der Einhaltung des humanitären Völkerrechts durch innerstaatliche Gerichte. Zu nennen sind hierbei insbesondere der Israelische Supreme Court,58 das britische House of Lords,59 aber auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte60 und ansatzweise sogar der US Supreme Court.61 Diese Gerichte hatten bewaffnete Konflikte zuvor entweder nicht behandelt oder aus ihrer Zuständigkeit ausgeklammert. Nun muss man aber auch an Situationen wie den Gaza-Krieg 2009 denken. Hier hat kein Gericht eingegriffen und die Tötung so vieler unschuldiger Menschen spricht nicht gerade für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Dieser Krieg hat entsetzt und empört, weil das ungezielte Feuern von Raketen auf Wohngebiete menschenverachtend ist, ebenso wie die Abschnürung eines kleinen überbevölkerten und verarmten Gebietsstreifens sowie die gezielte Tötung mutmaßlicher Kämpfer unter Inkaufnahme einer erheblichen Zahl unschuldiger ziviler Opfer. Es ist aber folgendes zu be57 Vgl. Fröhlich/Bütof/Lemanski Kartographie der UN-Präsenz. Ein Nachgang zum Human Security Report, Die Friedens-Warte 81/2 (2006) 13–24; Gießmann Der Human Security Report: Neue Fakten, neue Mythen?, Die Friedens-Warte 81/2 (2006) 39–49; Wibben Human Security: Toward an Opening, Security Dialogue 39 (2008) 455–462. 58 Supreme Court of Israel, Urteil vom 14. Dezember 2006, (The Public Committee against Torture in Israel v. The Government of Israel) (HCJ 769/02); Supreme Court of Israel, Urteil vom 30. Juni 2004, (Beit Sourik Village Council v. the Government of Israel and Commander of the IDF Forces in the West Bank) (HCJ 2056/04) (beide abrufbar unter: http://elyon1.court.gov.il/verdictssearch/englishverdictssearch.aspx). 59 House of Lords, Urteil vom 12. Dezember 2007 (R. on the Application of Al-Jedda v. Secretary of State for Defence), (2007) UKHK 58. 60 EGMR, Urteil vom 24. Februar 2005 (Isayeva v. Russia), Applications No. 57947/00, 57948/00 and 57949/00, abrufbar unter: http://www.echr.coe.int/echr/. 61 U.S. Supreme Court, Urteil vom 12. Juni 2008 (Boumediene et al v. Bush), 128 S.Ct. 2229 (2008); U.S. Supreme Court, Urteil vom 29. Juni 2006 (Hamdan v. Rumsfeld), 126 S.Ct. 2749 (2006).

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denken: Die wichtigsten Maßstäbe, nach denen wir eine Situation wie den Gaza-Krieg beurteilen können, sind die völkerrechtlichen Regeln. Vereinfacht gesprochen: Das palästinensische Volk hat ein Selbstbestimmungsrecht und Israel hat ein Selbstverteidigungsrecht. Dieses Selbstverteidigungsrecht darf Israel nicht unverhältnismäßig ausüben. Keine Seite darf auf Zivilisten zielen, und wenn sie auf Kämpfer zielt, darf sie keine unverhältnismäßige Zahl ziviler Opfer in Kauf nehmen.62 Diese Regeln sind keine leeren Floskeln. Sie sind durch Präzedenzfälle konkretisiert und durch die Möglichkeit der Strafverfolgung in dritten Staaten und in Israel selbst sanktioniert.63 Dies ist zumindest der israelischen Führung und ihren Streitkräften sehr bewusst und es hat ihr Vorgehen gemäßigt. Damit soll keinesfalls gesagt werden, dass das israelische Vorgehen insgesamt völkerrechtsgemäß war, sondern nur, dass das Völkerrecht einen messbaren Druck in die richtige Richtung ausgeübt hat. Jetzt, nach dem Ende der Kampfhandlungen, haben die Untersuchungen wegen möglicher Kriegsverbrechen begonnen, Namen bestimmter Soldaten werden genannt und die Möglichkeit von Auslandsreisen für militärisch Verantwortliche geprüft.64 Dies hat Disziplinierungswirkung für die Vergangenheit und Zukunft. Wer diese Einschätzung als „leidige Tröstung“ betrachtet, möchte bitte berücksichtigen, dass der Gaza-Krieg viele, die sonst politische und moralische Meinungsführer sind, hat verstummen lassen.65 Dieses Verstummen dürfte daran liegen, dass nachdenkliche Menschen, seien sie nun grundsätzlich pro-israelisch, pro-palästinensisch oder auch nur pro-menschenrechtlich eingestellt, die politisch-moralischen Dilemmata dieses Konflikts noch deutlicher empfunden haben als bisher. In einer solchen Lage bietet das Völkerrecht zumindest eine Sprache, mit deren Hilfe die elementaren humanitären Aspekte dieses Problems artikuliert werden können, und zwar unabhängig von der grundsätzlichen politischen Sympathie für die eine oder andere Seite. Die Sprache des Völkerrechts zwingt dazu, einen solchen Krieg nicht nur pauschal zu bewerten, wie dies noch vor nicht allzu langer Zeit zumeist der Fall war, sondern ihn auch als eine Folge einzelner Akte zu begreifen, die alle auch für sich beurteilt werden müssen und an die rechtliche Verantwortlichkeit angeknüpft werden kann. Damit wird der Krieg gewis62 Supreme Court of Israel, Urteil vom 14. Dezember 2006, (The Public Committee against Torture in Israel v. The Government of Israel) (HCJ 769/02), (abrufbar unter: http://elyon1.court.gov.il/verdictssearch/englishverdictssearch.aspx); Gasser Protection of Civilian Population, in: Fleck (Hrsg.) Handbook of International Humanitarian Law2, 2008, 237 ff. 63 Werle Principles of International Criminal Law, 2005, 343–346. 64 Vgl. etwa Harel IDF probe: Cannot defend destruction of Gaza homes, Haaretz vom 18.2.2009, abrufbar unter: http://www.haaretz.com/hasen/spages/1064161.html; Benvenisti An obligation to investigate, Haaretz vom 29.1.2009, abrufbar unter http://www. haaretz.com/hasen/spages/1059435.html. 65 Vgl. FAZ vom 16. Januar 2009, 35.

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sermaßen unter die Lupe genommen und quasi-polizeirechtlich diszipliniert. Der Trend zur Verrechtlichung zeigt sich auch in der Verschärfung anderer Regeln über die rechtliche Verantwortlichkeit für Völkerrechtsverletzungen. Hierzu gehört die Betonung der Verantwortlichkeit von Staaten für Rechtsverletzungen nicht-staatlicher Akteure, und zwar selbst dann, wenn diese Akteure keiner territorialen oder sonstigen besonderen Kontrolle eines bestimmten Staates unterstehen. So hat der Internationale Gerichtshof etwa im Jahr 2007 im Fall Bosnien-Herzegowina gegen Serbien aus der GenozidKonvention eine Pflicht aller Staaten zur Verhinderung von Völkermord nach Maßgabe ihrer tatsächlich gegebenen Möglichkeiten postuliert.66 Ein anderes Beispiel ist die Betonung menschenrechtlicher Verantwortlichkeit von Staaten für das Handeln von privaten Militärfirmen auch dann, wenn der Staat die Firma nicht beauftragt hat, sondern nur rechtlich als Sitzstaat fungiert.67 Diese Verrechtlichung der Führung bewaffneter Konflikte und die verstärkte Betonung individueller und staatlicher Verantwortlichkeit für Verletzungen des Völkerrechts sind natürlich nicht schon für sich Beweis für eine sich verstärkende Leistungsfähigkeit des Völkerrechts. Vielleicht stellen sich diese Tendenzen eines Tages auch als eine Illusion heraus. Vielleicht sind sie aus der Sorge in entwickelten Staaten heraus erklärbar, dass die unübersichtlichen sog. „neuen Kriege“ die eigenen Leute und Maßstäbe korrumpieren.68 In der Tat dürfen Gerichte und Juristen ihre Definitionsmacht nicht überschätzen. Sie dürfen aber auch die Nachfrage nach der Ausübung ihrer Definitionsmacht nicht unterschätzen. Die Erfahrung zeigt, dass politische Gemeinschaften, die sich bei Verhandlungen untereinander nicht einigen können, Ergebnisse oft akzeptieren, wenn sie in Gestalt der Auslegung einer interpretationsfähigen Rechtsnorm durch eine als einigermaßen neutral angesehene dritte Instanz daherkommen. Gerichte und Juristen sollten diese Nachfrage – selbstkritisch und ihrer eigenen beschränkten Möglichkeiten und Sichtweise bewusst – aufgreifen. Wegen der eigentümlichen Struktur des Völkerrechts, das von den Staaten nur entweder sehr schwer oder sehr leicht verändert werden kann, haben seine rechtsanwendenden Instanzen eine besondere Verantwortung. Sie müssen die geltenden Regeln und Prinzipien durch eine evolutive Auslegung in einem Bezug zu der sich verändernden Realität halten, der ihren Sinn und ihre Bindungskraft erhält. 66 IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Urteil vom 26. Februar 2007, (ICJ Rep. 2007), Rn. 428–438. 67 Lehnardt Private Military Companies and State Responsibility, in: Chesterman/ Lehnardt (Hrsg.) From Mercenaries to Market: the Rise and Regulation of Private Military Companies, 2007, 139–157. 68 Vgl. Barak A Judge in a Democracy, 2008.

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IV. Bewertung und Ausblick: Das Verhältnis von Anspruch und Leistung Wie ist es also: Verspricht das Völkerrecht mehr als es halten kann? Wenn der Anspruch die Wahrung des Weltfriedens im Sinne der Verhinderung eines Dritten Weltkrieges ist, dann hat das Völkerrecht noch nicht zu viel versprochen. Wenn der Anspruch die Wahrung des Weltfriedens im Sinne der Verhinderung zwischenstaatlicher bewaffneter Konflikte ist, dann hat das Völkerrecht zwar zu viel versprochen; allerdings hat es seit 1945 einen spürbaren Rückgang solcher Konflikte gegeben. Wenn der Anspruch jedoch die Gewährleistung menschlicher Sicherheit ist, egal ob im physischen oder im strukturellen Sinn, dann bleibt das Völkerrecht deutlich hinter seinen Ansprüchen zurück. Allerdings: Der Anspruch des Völkerrechts ist nicht die Garantie des Weltfriedens. Sein Anspruch besteht zunächst einmal nur darin, Ziele und Grundsätze zu formulieren und geeignete Mittel zu deren Erreichung zu regeln. Solange keine erfolgversprechenderen Regeln in Aussicht stehen, erscheint es sinnvoll, die Regeln der Charta ihrer inneren Logik entsprechend weiterzuentwickeln und zu beachten. Warum sollte der Anspruch des Völkerrechts heute also nicht als um die Aufgabe der menschlichen Sicherheit erweitert gedacht werden? Für den Kernbereich dessen, was menschliche Sicherheit ausmacht, ist diese Frage in den vergangenen Jahren unter dem Begriff der sog. Schutzverantwortung („responsibility to protect“) diskutiert worden.69 Nach der Kosovo-Intervention hatte eine Kommission geachteter Persönlichkeiten die These formuliert, es gebe eine Pflicht („duty“) souveräner Staaten, notfalls aber auch der internationale Gemeinschaft, Menschen zumindest vor Völkerrechtsverbrechen zu schützen.70 Diese These ist im Verlauf der Diskussionen um die UN-Reform zwar dahin abgeschwächt worden, dass nur noch unbestimmt von einer „Verantwortung“ des einzelnen Staates zum Schutz der unter seiner Hoheitsgewalt stehenden Menschen vor Völkerrechtsverbrechen die Rede ist.71 Es wird also nicht mehr von einer Pflicht des Sicherheitsrates oder der „internationalen Gemeinschaft“ oder gar dritter Staaten zum Eingreifen gesprochen. Dennoch ist damit der Kern

69 Luck Der verantwortliche Souverän und die Schutzverantwortung. Auf dem Weg von einem Konzept zur Norm, Vereinte Nationen 2/2008, 51–58; Stahn Responsibility to Protect: Political Rhetoric or Emerging Legal Norm?, AJIL 110 (2007) 99–120. 70 Canadian Department of Foreign Affairs and Trade (Hrsg.) The Responsibility to Protect: Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, 2002. 71 In der abschließenden sog. Outcome-Resolution der Generalversammlung von 2005, UN/GA/RES/60/1 vom 24. Oktober 2005, 27–28, Rn. 121 f.

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eines Verantwortungskonzepts für menschliche Sicherheit formuliert, welches die Tendenz zu einer Erweiterung in sich trägt. Diese Diskussion ist ein Anzeichen dafür, dass „menschliche Sicherheit“ als rechtlicher Anspruch nicht leicht in völliger Unbestimmtheit verbleiben kann. Anders als der Begriff des Weltfriedens, birgt derjenige der menschlichen Sicherheit wegen seiner unauflöslichen Nähe zu den Menschenrechten eine Tendenz in sich, als Rechtspflicht geltend gemacht und operationalisiert zu werden. Den Anspruch, Menschenrechte zu schützen, erhebt das Völkerrecht allerdings schon seit einigen Jahrzehnten und kann ihn nicht voll erfüllen. Insofern kann es nur darum gehen, ob Verpflichtete dieses Anspruchs auf menschliche Sicherheit nur die unmittelbar verantwortlichen Staaten sind oder auch andere Beteiligte wie die internationale Gemeinschaft in der Form der Vereinten Nationen, dritte Staaten oder andere Völkerrechtssubjekte. Es spricht viel dafür, allen Beteiligten eine subsidiäre Bemühensverantwortung, also keine Erfolgsverantwortung, für die Gewährleistung zumindest des Menschenrechts auf physische Sicherheit zuzuschreiben und diese Verantwortung als Zielvorstellung mit dem Begriff der menschlichen Sicherheit zu umschreiben. Diese Bemühensverantwortung realisiert sich nicht nur über die Gewährleistung der Einhaltung von Regeln des bewaffneten Konflikts, sondern auch über die Pflege von rechtlichen Regimen, welche Voraussetzungen für die Sicherung der Menschenrechte darstellen. Hierzu gehören etwa Handelsregeln, die Nahrungsmittelsicherheit schaffen; Umweltregeln, die Konflikten über die Ausbeutung knapper Ressourcen vorbeugen; und sogar das Recht der Verträge, welches Friedensverträge stützt. Diese Bemühensverantwortung würde die Entwicklungen der vergangenen zwanzig Jahre auf den Begriff bringen und eine Perspektive für die Zukunft weisen. Die Funktion des Völkerrechts, Ziele und Werte festzuschreiben, hat sich schon länger in einer verstärkten Betonung der Menschenrechte manifestiert. Die Sicherung der Menschenrechte muss im Rahmen der Funktion des Völkerrechts, konkrete Verhaltensorientierung zu leisten, erfolgen, also auch unter Beachtung der Regeln, die den Ausbruch zwischenstaatlicher bewaffneter Konflikte verhindern sollen. Dafür stellt das Völkerrecht insbesondere dem Sicherheitsrat weite Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung. Deren Ausübung und deren Effektivität sind allerdings nicht in dem Maße gesichert, dass daraus eine „Hauptverantwortung“ des Sicherheitsrats für die menschliche Sicherheit ebenso wie für den Weltfrieden erwachsen könnte. Auf der Grundlage der Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre spricht jedoch viel dafür, dass auch in Zukunft so viel sichtbare Interessenkonvergenz besteht, dass eine Bemühensverantwortung auf einem realpolitischen Substrat beruht. Aber kann und sollte man rechtliche Interpretationen von Prognosen abhängig machen, die aus den Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre abge-

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leitet sind? Es sollte zu denken geben, dass vor genau zwanzig Jahren fast niemand mit dem Fall der Berliner Mauer gerechnet, dass man vor genau acht Jahren nicht mit einem Anschlag wie den des 11. September 2001 gerechnet, und dass man vor genau einem Jahr nicht mit einem weltwirtschaftlichen Crash, wie wir ihn heute erleben, gerechnet hat. Solche offenbar nicht ganz seltenen weltpolitischen Groß-Ereignisse haben die Kraft, Grundtendenzen einer Zeit zu beschleunigen oder umzukehren und jede Annahme einer linearen Weiterentwicklung zu widerlegen. Dennoch bleibt für die praktische Politik ebenso wie für Völkerrechtler kein anderer Weg als von möglichst plausiblen, aus Erkenntnissen der Vergangenheit gespeisten Zukunftsannahmen auszugehen. Wichtig ist hierbei allerdings, dass die Möglichkeit einer Veränderung der Verhältnisse einberechnet wird und angemessene Reaktionen der Politik und des Rechts auf Veränderungen erfolgen. Die schwierigere Aufgabe kommt dabei natürlich dem internationalen politischen System zu, das auf viel mehr Veränderungen reagieren muss als das Völkerrecht.

V. Völkerrecht, Sicherheit und Risiko Diese – bruchstückhaften – Überlegungen sollten ein wenig deutlich machen, welche Rolle das Völkerrecht als Element einer Kultur des Risikos und von Strategien der Sicherung spielt und spielen kann. Sowohl vom Standpunkt eines einzelnen Staates als auch von dem der Menschheit ist Völkerrecht ein strukturbildendes Element einer Welt-Risikokultur. Es ermöglicht und begrenzt Strategien der Sicherung. Die Frage ist natürlich, ob bzw. wieweit wir uns auf diese Weltrisikokultur und die durch ihre Regeln begrenzten Strategien der Sicherung verlassen wollen. Sind Völkerrechtler also Schamanen oder betrachten sie die Welt durch eine Brille, die Unterscheidungen erkennbar macht und die Abarbeitung von Gefahren ermöglicht? Diese Frage ist nicht mit Sicherheit zu beantworten. Zu bedenken ist, dass sich das Völkerrecht auf die am wenigsten beherrschbare soziale Konfiguration bezieht, auf das Zusammenleben aller Menschen auf einem eng vernetzten Globus. Wer hier Sicherheit in dem Sinn verspricht, wie sie heute etwa auf den Straßen Berlins herrscht, ist ein Schamane. Aber den Versuch zu unternehmen, ist ein notwendiges Projekt. Dieses Projekt heißt Völkerrecht, wenn es unter prinzipieller Einbeziehung aller Beteiligter und ihrer jeweiligen staatlich-politischen Organisation sowie unter Berücksichtigung allgemeiner Grundsätze wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und möglichst auch genuiner Demokratie unternommen wird. Auch wenn das Völkerrecht dabei manchmal wie ein zu schwaches Herz in einem übergewichtigen Körper schlägt, es ist ein dem Menschen würdiger Versuch.

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Die Zukunft der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht – praktische und methodische Überlegungen ALEXANDER BLANKENAGEL

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Zukunft der Rechtsvergleichung in der dogmatischen Rechtswissenschaft: Aschenputtels Auszug aus der Küche . . . 1. Das wissenschaftliche Interesse der Rechtsvergleichung und an der Rechtsvergleichung: die Situation de lege lata . . . . . . . 2. Das wissenschaftliche Interesse der und an der Rechtsvergleichung: Die Situation de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Adressaten rechtsvergleichender Forschung, ihre Erkenntnisinteressen und das von ihnen von der Rechtsvergleichung nachgefragte Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Attraktivität von Aschenputtel in Zeiten der Internationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Eine wissenschaftliche Zukunft der Rechtsvergleichung . . . . 1. Stille Selbstverständlichkeiten der Rechtsvergleichung . . . . . 2. Die deskriptive Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die funktionale Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Neue Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ein möglicher methodischer Ansatz und ein mögliches neues Selbstverständnis der Rechtsvergleichung: Beschreiben und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beschreiben: Harte Fakten anstelle von Alltagswissen . . . . . . 2. Verstehen und Bewerten: Alltagswissen und interdisziplinäres Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kulturelles Verstehen: Gesellschaftliche Codes und kulturelle Deutungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Zukunft der Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung1 Traditionell hat sich das öffentliche Recht mit der Rechtsvergleichung schwer getan; Gründe dafür hat man vor allem in der nationalstaatlichen Ausrichtung des öffentlichen Rechts gesehen.2 Gründe für diese gewissen Schwierigkeiten sind sicherlich auch darin zu sehen, dass dort, wo das öffentliche Recht grenzüberschreitend wird, es in unklare Gemengelagen mit anderen Disziplinen wie etwa den politischen Wissenschaften kommt; zumindest in der Vergangenheit wurden diese fließenden Grenzen deswegen als Problem gesehen, weil die Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht damit ihre Eigenständigkeit zu verlieren drohte.3 Auch sonst hatte die Rechtsvergleichung immer einen Außenseiterstatus in der Rechtswissenschaft. Wird es auch in Zukunft bei dieser Außenseiterstellung bleiben? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich zunächst die wissenschaftssoziologischen Gründe dieses Außenseiterstatus etwas genauer analysieren und diskutieren, ob sich hier Veränderungen erkennen lassen. In einem zweiten Schritt werde ich die Methoden der Rechtsvergleichung genauer betrachten; auch hier geht es mir um die Frage des „ob“ und des „wie“ einer Zukunft der Rechtsvergleichung, die sich allerdings nicht auf die Stellung der Rechtsvergleichung in der Rechtswissenschaft, sondern auf die Qualität der rechtsvergleichenden Forschung der Zukunft bezieht.

1 Es werden im Folgenden eine Menge von Beispielen rechtsvergleichender Arbeiten nachgewiesen werden. Ich bitte um Verständnis dafür, dass eine wahrscheinlich unverhältnismäßig große Zahl dieser Beispiele aus Arbeiten bestehen wird, die sich mit osteuropäischem, vor allem russischem Recht beschäftigen. Zum einen erklärt sich dies aus meinem eigenen rechtsvergleichenden Schwerpunkt, zum anderen aber auch daraus, dass viele schwierige Fragen der Rechtsvergleichung sich an einem dem Verstehen gegenüber so resistenten Land wie der Russischen Föderation vorzüglich exemplifizieren lassen. 2 Siehe etwa Bernhardt Eigenheiten und Ziel der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, ZaöRV 1964, 431 f.; siehe weiter Markesinis Rechtsvergleichung in Theorie und Praxis, 2004, 43 ff., 181 ff.; dass dies früher anders war, zeigt die informative Studie von Stolleis Nationalität und Internationalität: Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht des 19. Jahrhunderts, 1998. 3 Siehe die Suche nach den Unterschieden zwischen Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht und etwa Politologie oder allgemeiner Staatslehre bei Bernhardt (Fn. 2), 434 ff.

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II. Die Zukunft der Rechtsvergleichung in der dogmatischen Rechtswissenschaft: Aschenputtels Auszug aus der Küche 1. Das wissenschaftliche Interesse der Rechtsvergleichung und an der Rechtsvergleichung: die Situation de lege lata Die besonderen Erkenntnisinteressen der Rechtsvergleichung und ihre Andersartigkeit und andere Zielrichtung gegenüber der „normalen“, auf das Rechtssystem des eigenen Staates bezogenen Rechtswissenschaft werden deutlich, wenn man das Erkenntnisinteresse und die Arbeiten der normalen Rechtswissenschaft am Rechtssystem de lege lata denen der Rechtsvergleichung gegenüberstellt. Bei der normalen Rechtswissenschaft geht es um unterschiedliche Dinge. Ein wesentliches Ziel der wissenschaftlichen Arbeit ist die Systematisierung der Rechtspraxis zu einem bestimmten Problemkreis; die Rechtspraxis wird in der Regel die Gesetzgebung (im formellen und im materiellen Sinne) und die Spruchpraxis der Gerichte umfassen, kann sich aber auch auf eine der beiden beschränken. Dies kann dann in Form eines Lehrbuchs, eines Kommentars, einer wissenschaftlichen Problemuntersuchung oder aber auch eines Aufsatzes geschehen. Zu dieser Systematisierung kann dann und wird oft, wenn auch nicht immer, auch die Kritik an der dargestellten Rechtspraxis gehören. Häufig wird es auch so sein, dass neben der Kritik auch Vorschläge für eine Verbesserung der von der Autorin oder dem Autor als defizitär wahrgenommenen Rechtspraxis gemacht werden; P. Häberle hat in diesem Zusammenhang von wissenschaftlicher Vorratspolitik gesprochen.4 Daneben gibt es noch weitere Erkenntnisinteressen und Ausrichtungen. So geht es immer auch – hier entspricht dann die Rechtswissenschaft anderen Wissenschaftsdisziplinen – um Wissensakkumulation und um das Verfügbar-Machen dieses Wissens.5 Ein nicht seltenes Arbeitsmuster und Erkenntnisinteresse der „normalen Rechtswissenschaft“ ist schließlich, dass die Autorin bzw. der Autor für die juristische Problemlösung andere Wissenschaften und deren relevante Ergebnisse in die juristische Bearbeitung integriert. Diese Vorgehensweise ist vor allem da anzutreffen, wo es

4 Zum öfter gebrauchten Wort von der „wissenschaftlichen Vorratspolitik“ siehe etwa Häberle Verfassungspolitik für die Freiheit und Einheit Deutschlands, JZ 1990, 358 ff. Besonders praktisch ist die wissenschaftliche Vorratspolitik dann, wenn die Autorin oder der Autor als Richter an das BVerfG berufen werden; so darf man gespannt sein, ob sich die Position des BVerfG, dass Art. 19 Abs. 4 GG nicht den Rechtsweg gegen den Richter garantiere, nach der Berufung von Voßkuhle an das Gericht ändern wird: zu der Ansicht, dass Art. 19 Abs. 4 GG sehr wohl den Rechtsschutz gegen den Richter garantiere, siehe dessen Dissertation, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993. 5 Dazu und allgemein zur – klassischen – Wissenschaftssoziologie siehe Bühl Einführung in die Wissenschaftssoziologie, 1974, 69 ff.

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darum geht, den Ausschnitt der gesellschaftlichen Wirklichkeit, den der entsprechende Sektor des Rechtssystems zu regeln bestimmt ist, adäquat – und das heißt: nicht nur mit Alltagswissen – zu erfassen.6 Die „normale“ Rechtswissenschaft ist also im Wesentlichen auf das Funktionieren des eigenen Rechtssystems ausgerichtet; dies zeigen die häufigen Bezüge auf rechtswissenschaftliche Arbeiten in Gerichtsentscheidungen oder auch die Einschaltung von Rechtswissenschaftlern als Gutachter – und, soweit zulässig, auch als Prozeßvertreter – in konkrete Verfahren. Auch dort, wo Rechtswissenschaftler interdisziplinär arbeiten, geht es in der Regel um interdisziplinär untermauerte Lösungsvorschläge für Probleme, die das Rechtssystem beschäftigen. Ganz anders sind demgegenüber die Erkenntnisinteressen und Arbeitsmuster der Rechtsvergleichung, wiederum soweit es um das Arbeiten de lege lata geht. Die Rechtsvergleichung ist normalerweise weder auf das Funktionieren des eigenen – also des heimatlichen – Rechtssystems noch auf das Funktionieren des fremden, den Gegenstand der Rechtsvergleichung bildenden Rechtssystems ausgerichtet.7 Das Funktionieren des eigenen Rechtssystems ist nur von peripherem Interesse, da eben von fremden Rechtsordnungen berichtet wird. Für das Funktionieren des fremden Rechtssystems ist die rechtsvergleichende Untersuchung in der Regel deswegen irrelevant, weil sie nur im Heimatland der Autorin bzw. des Autors veröffentlicht 6 Siehe dazu zusammenfassend Schulze-Fielitz Was macht die Qualität öffentlichrechtlicher Forschung aus, JöR 50 (2002) 1, 50 ff. Einige Beispiele: Trute Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, 54 ff.; siehe die Verwendung des symbolischen Interaktionismus bei Suhr Die Entfaltung des Menschen durch den Menschen, 1976; siehe auch den sozialwissenschaftlichen Teil bei Morlok Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, bes. 227 ff. Aus der Aufsatzliteratur siehe etwa den Versuch des wirtschaftswissenschaftliche Verständnisses ökonomischer Rechtsbegriffe bei Spoerr Der Einfluß ökonomischer Modellbildung auf rechtliche Maßstäbe der Regulierung, in: Trute/Groß/Röhl/Möllers Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, 613, z.B. 618 ff. sowie zusammenfassend 635 f. 7 Dies ist vor allem bei den nicht vergleichenden rechtsvergleichenden Arbeiten, den sog. Länderberichten, der Fall, in denen es um Information der heimischen Leserschaft über die rechtliche Regelung eines bestimmten Sachverhalts oder Problems geht. Siehe als zwei Beispiele Schaich Exekutive Normsetzung in der Russischen Föderation, 2004: das Durcheinander bei der exekutiven Normsetzung und die verwirrende Vielfalt der Normen der Exekutive wird in der Russischen Föderation als großes Problem empfunden; die Arbeit von Schaich, die durchaus auch Lösungsvorschläge macht, die innerrussisch nützlich sein könnten, nimmt an der diesbezüglichen Diskussion in der Russischen Föderation mangels russischer Übersetzung oder zumindest eines auf russisch erschienenen Aufsatzes aus der Arbeit schlicht nicht teil. Ein weiteres Beispiel ist die devisenrechtliche Arbeit von Müller Russisches Devisenrecht, 2005, die zumindest als Handbuch des russischen Devisenrechts in deutschsprachigen Kanzleien praktische Anwendung gefunden haben dürfte, bevor sie durch die galoppierende Normsetzung der Russischen Zentralbank relativ kurze Zeit nach ihrem Erscheinen diese Funktion verlor, weil sie die aktuelle Rechtslage nicht mehr widerspiegelte.

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wird, nicht aber in der untersuchten Rechtsordnung und in der Sprache dieser Rechtsordnung.8 Auf das Funktionieren des eigenen Rechtssystems ist die rechtsvergleichende Arbeit klassischerweise nur dort ausgerichtet, wo dem eigenen Rechtssystem bei dessen grenzüberschreitendem Handeln die notwendigen Kenntnisse zum anderen Rechtssystem zur Verfügung gestellt werden – eine Dienstleistungsfunktion, die vor allem dort anzutreffen ist, wo intensive Wirtschaftsbeziehungen zu einer häufigen Grenzüberschreitung der Rechtssysteme führen.9 Aus diesem Grund unterscheidet sich das wesentliche Erkenntnisinteresse der Rechtsvergleichung von dem der dogmatischen Disziplinen der sonstigen Rechtswissenschaft: es geht, klassischen Wissenschaftsidealen folgend, wesentlich um Wissensanhäufung, um Verstehen ohne einen praktischen Verwendungszusammenhang.10 Wegen dieser Unterschiedlichkeit von dogmatischer Rechtswissenschaft und Rechtsvergleichung und wegen der dadurch bedingten Randposition im institutionellen Gefüge der Rechtswissenschaften hat man auch nicht ohne Grund vom „Aschenputtel-Komplex“ der Rechtsvergleichung gesprochen.11 2. Das wissenschaftliche Interesse der und an der Rechtsvergleichung: Die Situation de lege ferenda Ganz anders stellt sich die Situation dar, wenn man die rechtspolitische Dimension rechtswissenschaftlichen Arbeitens betrachtet. Aus dieser Perspektive unterscheiden sich die dogmatische Rechtswissenschaft und die Rechtsvergleichung nicht. Die dogmatische Rechtwissenschaft hat hier das Interesse, einen Beitrag zur Verbesserung des eigenen Rechtssystems zu leisten; dies kann entweder aus der wissenschaftlichen Kritik am eigenen Rechtssystem entstehen oder aber von der Politik – oder auch von Gerichten – nachgefragt werden.12 Das gleiche Interesse hat auch die Rechtsverglei8 Es gibt freilich Ausnahmen: siehe etwa die Arbeit von W. Gaul zur Entstehung der georgischen Verfassung: Gaul Verfassungsgebung in Georgien, 2001, die 2002 in Georgien auf Georgisch veröffentlicht wurde. 9 Als besonders typisch sei hier noch einmal die Arbeit von Müller (Fn. 7) zitiert; ein weiteres Beispiel ist etwa Schwarkewitsch Hypothek im russischen Recht, 2005. 10 Siehe auch die Überlegungen von Bernhardt zu Verwendungszusammenhängen der Rechtsvergleichung, ders. (Fn. 2), 441 ff.; siehe weiter Starck Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, JZ 1997, 1021, 1023; Wieser Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005, 29 ff. 11 Frankenberg Critical Comparisons: Re-thinking Comparative Law, Harvard Law Review 26 (1985) 411, 416 f.; siehe auch Markesinis (Fn. 2), 4 ff., zum Niedergang der Rechtsvergleichung und möglichen Gründen; siehe auch S. 61 das Wort vom Ghetto, in dem sich die Rechtsvergleichung befinde oder befunden habe; aufschlußreich die Zitiermuster rechtsvergleichender Arbeiten in rechtsdogmatischen Veröffentlichungen S. 85 ff. sowie 103 ff. 12 Ein klassisches Beispiel ist das Problem des Vollzugsdefizit im Umweltrecht, das seinerzeit in einer von der Politik initiierten groß angelegten interdisziplinären Studie wie auch dann in einer im Rahmen dieser interdisziplinären Studie entstandenen rechtswis-

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chung: Das Suchen und Finden, die Analyse und die Darstellung der Lösungen anderer Rechtssysteme für gleiche oder ähnliche Probleme im eigenen System ist ja eine der Verbindungen zum eigenen Rechtssystem, die die Außenseiterstellung in der heimischen Rechtswissenschaft plötzlich aufhebt;13 dieser Input von anderen, möglicherweise interessanten Lösungsvarianten de lege ferenda in das eigene Rechtssystem ist auch die Leistung der Rechtsvergleichung, die von der nationalen Rechtswissenschaft ohne Einschränkung als nützlich und beachtenswert anerkannt wird.14 De lege ferenda verwischen sich also die Unterschiede zwischen dogmatischer Rechtswissenschaft und Rechtsvergleichung. 3. Adressaten rechtsvergleichender Forschung, ihre Erkenntnisinteressen und das von ihnen von der Rechtsvergleichung nachgefragte Wissen Das Bild nur vereinzelter Berührungspunkte zwischen der Rechtsvergleichung und dem Rechtssystem bzw. der dogmatischen Rechtswissenschaft wird bestätigt, wenn man die Interessen des nationalen Rechtssystems und anderer möglicher Adressaten an der Rechtsvergleichung analysiert. Gerichte, andere staatliche Institutionen, Rechtsanwälte und die in der Wirtschaft tätigen Juristen sind an Wissen über andere Rechtssysteme interessiert, soweit es die eigene Tätigkeit berührt, also etwa bei der Entscheidung grenzüberschreitender Sachverhalte, beim wirtschaftlichen oder rechtlichen Handeln außerhalb der Grenzen des eigenen Staates – dies wird im Zeichen der Globalisierung immer wichtiger – oder auch (wenn auch selten genug), soweit man eine adäquate Lösung für ein Problem sucht, für das das eigene Rechtssystem noch keine Lösung bereithält.15 Gefragt sind in dieser Konssenschaftlichen Untersuchung analysiert wurde, siehe Mayntz u.a. Vollzugsprobleme der Umweltpolitik, 1978, sowie dann Bohne Der informale Rechtsstaat, 1981; das Vollzugsproblem blieb dann aber, siehe aus der jüngsten Vergangenheit etwa Graf Vollzugsprobleme im Gewässerschutz, 2002, sowie Hansjuergens/Lübbe-Wolff Symbolische Umweltpolitik, 2000. Ein Beispiel für ein Plädoyer der Nutzung der Rechtsvergleichung durch die Gerichte ist etwa das Vorwort des damaligen Präsidenten des BGH Hirsch in Markesinis (Fn. 2), XIX; siehe auch die Beispiele von Markesinis selbst, ebenda, 167 ff. 13 Siehe die freilich schon ältere Untersuchung von Drobnig/Doppfel Die Nutzung der Rechtsvergleichung durch den deutschen Gesetzgeber, RabelsZ 46 (1982) 253 ff. mit einer Reihe von Fallstudien; weitere Fallstudien bei Markesinis (Fn. 2), 112 ff.; in der Zusammenfassung konstatierten die Autoren damals eine grundsätzliche, freilich von Fall zu Fall variierende Offenheit des Gesetzgebers für ausländische Modelle; man wird annehmen dürfen, dass diese Bereitschaft seitdem noch gewachsen ist. Siehe auch Starck (Fn. 10), 1022, 1024. 14 Bernhardt (Fn. 2), 443. 15 Sehr intensiv fand und findet dieses interkulturelle Lernen in den Transformationsstaaten statt, siehe etwa die Studie zu Polen von Milej Rechtsprechung als Dialog, 2007. – Im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland ist das freilich ein – noch – selten anzutreffendes Verhalten, soweit es sich nicht um die Europäisierung handelt, mit der dann

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tellation in der Regel zwei Dinge: zum einen Kenntnis des Funktionierens eines bestimmten, oft kleinen Segments des fremden Rechtssystems und die Kompatibilität der Regelung des fremden Rechtssystems mit dem eigenen. Weitergehende Interessen an den Forschungsergebnissen hat, soweit überhaupt über die Grenzen geschaut wird, die eigene Rechtswissenschaft als jede Wissensvermehrung prinzipiell begrüßende Wissenschaft; dieses Interesse ist dann in der Regel nicht segmentär und schließt auch ein Interesse an Theorie sowie an systembezogener Kritik und relevanten Dyfunktionalitäten des fremden und des eigenen Systems ein. Interesse an den Ergebnissen der Rechtsvergleichung haben aber auch andere Wissenschaften wie etwa Politologie, Soziologie und Geschichte, soweit sie länderübergreifend und ländervergleichend arbeiten, weil ihnen die Rechtsvergleichung das Rechtssystem des jeweiligen Landes mit juristischem Verständnis erschließt.16 4. Die Attraktivität von Aschenputtel in Zeiten der Internationalisierung In der jüngeren und jüngsten Vergangenheit scheint sich dies jedoch zu ändern; Aschenputtel verläßt in Zeiten der Globalisierung und wechselseitigen Durchdringung der nationalen Rechtssysteme und der Errichtung völkerrechtlicher Metaordnungen (wie der EMRK) die Küche. Die Wissenschaft vom öffentlichen Recht schaut zunehmend in unterschiedlichen Zusammenhängen auf die (öffentlichrechtlichen) Rechtsordnungen anderer Staaten.17 Auch das Bundesverfassungsgericht, dem noch vor relativ kurzer Zeit rechtsvergleichende Abstinenz bescheinigt worden war,18 untersucht mittlerweile, vor allem bei schwierigen rechtspolitischen Fragen wie etwa aber auch rechtliche Anpassungszwänge verbunden sind, siehe dazu z.B. Ruffert Die Europäisierung der Verwaltungsrechtslehre, Die Verwaltung 36 (2003) 299 ff. In diesem Sinne findet sich häufig Kritik an der Verschlossenheit etwa der deutschen Staatsrechtslehre gegenüber Einflüssen und Anstößen aus dem Ausland, siehe etwa Frowein Kritische Bemerkungen zur Lage des deutschen Staatsrechts aus rechtsvergleichender Sicht, DÖV 1998, 806 ff.; Möllers/Voßkuhle Die deutsche Staatsrechtswissenschaft im Zusammenhang der internationalen Wissenschaften, Die Verwaltung 36 (2003) 321 ff.; Nachweise zur Kritik an der Provinzialität der deutschen Staatsrechtslehre bei Schulze-Fielitz Verfassungsvergleichung als Einbahnstraße, in: Blankenagel/Pernice/Schulze-Fielitz Verfassung im Diskurs der Welt, Liber amicorum Häberle, 2004, 355, 359 Fn. 21 und 22. 16 Siehe etwa die gemeinsame Veröffentlichung von Mommsen (Politologie)/Nußberger (Rechtswissenschaft) Das System Putin, 2007, oder den wiederum interdisziplinär (und international) gemischten Sammelband von Buhbe/Gorzka Russland heute, 2007; intensive Nutzung juristischer Literatur auch bei Kahn Federalism, Democratization and the Rule of Law in Russia, 2002, oder Ross Federalism and Democratisation in Russia, 2002. 17 Starck (Fn. 10), 1025. 18 Tschentscher Dialektische Rechtsvergleichung – zur Methode der Komparatistik im öffentlichen Recht, JZ 2007, 807 f.: der Autor meint, konstatieren zu können, dass sich auch in jüngster Zeit trotz der Internationalisierung die rechtsvergleichenden Bezüge des BVerfG nicht häufen, was nicht richtig ist, siehe die folgende Fußnote.

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der Bestrafung des Inzests unter leiblichen Geschwistern, gern einmal, wie es denn die anderen machen.19 In der US-amerikanischen Diskussion ist das Phänomen der wechselseitigen Durchdringung von Rechtsordnungen nicht nur als Aspekt der Rechtsvergleichung, sondern auch sehr intensiv für das Verfassungsrecht unter dem Stichwort des „constitutional borrowing“ diskutiert worden, wobei sich dieses constitutional borrowing primär auf die Rechtssetzung, aber eben auch auf die Rechtsanwendung durch die Gerichte bezieht.20 Grund und Auslöser dieser Diskussion (und auch der Öffnung in der deutschen Rechtswissenschaft) waren vor allem die Transformationsprozesse und neuen Verfassungen in den ehemals sozialistischen Ländern, in denen in der Tat offene oder versteckte Rezeptionen an der Tagesordnung waren und sind. Auch nach dem Wegfall dieses unmittelbaren Anlasses – die Transformation der ehemals sozialistischen Länder ist zwar keineswegs abgeschlossen, ist aber wegen ihrer Verstetigung nicht mehr im Zentrum des Interesses – ist die Offenheit für die Rechtsvergleichung geblieben. Bei den Transformationsstaaten, etwa bei ihren neuen Verfassungsgerichten – aber nicht nur bei diesen – ist die Übernahme westlichen Rechts, bzw. der Rechtsprechung westeuropäischer Verfassungsgericht sehr verbreitet.21 19 Siehe BVerfGE 120, 224, 230 ff.; das Gericht hatte für diese Frage das Max-PlanckInstitut für ausländisches und internationals Strafrecht in Freiburg um ein vergleichendes Gutachten gebeten; eine vergleichende Umschau siehe auch in der Entscheidung zur Offenlegung der Nebeneinkünfte von Abgeordneten, BVerfGE 118, 277, 356 ff., zu gesetzlichen Transparenzgeboten in anderen europäischen Ländern; siehe weiter die rechtsvergleichenden Hinweise und Argumente im Sondervotum der Richter Kühling, Hohmann-Dennhardt und Hoffmann-Riem zur Frage des Zugangs von Medien zu Gerichtsverhandlungen in BVerfGE 103, 44, 77. Bei dieser größeren Offenheit für die Rechtsvergleichung und die Rechtsprechung anderer Verfassungsgerichte dürften auch die regelmäßigen informellen Kontakte der Verfassungsgerichte untereinander eine große Rolle spielen wie etwa der Constitutional court judges roundtable anläßlich des 6. Weltkongresses der Vereinigung für Verfassungsrecht, in Santiago de Chile vom 21.–16. Januar 2004, siehe die statements der Richter in ICON 3 (2005) 543 ff. 20 Siehe das gleichnamige Symposium im International Journal of Constitutional Law, das damals kurz nach der Gründung der Zeitschrift auch deren eigenen Standortbestimmung diente: die Einführung von Friedmann und Saunders ICON 1 (2003) 177 ff., sowie dann z.B. die Einzelbeiträge von Osiatynski Paradoxes of constitutional borrowing, ICON 1 (2003) 244 ff.; Rosencrantz Against borrowing and other nonauthoritative uses of foreign law, ICON 1 (2003) 269 ff.; Scheppele Aspirational and aversive constitutionalism: The case for studying cross-constitutional influence through negative models, ICON 1 (2003) 296 ff.; siehe etwa auch die Fallstudie von Davis Constitutional borrowing: The influence of legal culture and local history in the reconstitution of comparative influence: The South African Experience, ICON 1 (2003) 181 ff. – Das gleiche Thema hat Häberle intensivst und immer wieder bearbeitet, siehe als “pars pro toto” ders. Wechselwirkungen zwischen deutschen und ausländischen Verfassungen, in Merten/Papier Handbuch der Grundrechte, Band 1, 2004, § 7 (313 ff.): siehe ebenda auch die zahlreichen Nachweise zu Häberles weiteren thematisch einschlägigen Veröffentlichungen. 21 Man denke etwa an das polnische oder das ungarische Verfassungsgericht, die jeweils das BVerfG stark rezipierten und dies auch offen durch Zitate ausweisen; zum ungarischen

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Die Lösungen von rechtlichen Problemen in anderen Rechtssystemen sind nicht mehr nur von akademischem Interesse. Die Rechtsvergleichung als „fünfte Auslegungsmethode“ (Häberle) ist in Zeiten der Internationalisierung und Globalisierung über den Status eines theoretisch-methodischen Postulats mittlerweile weit hinaus.22 Die Rechtsvergleichung integriert sich zunehmend in die nationale dogmatische Rechtswissenschaft und wird sich hier noch weiter integrieren. Die Rechtsvergleichung macht dadurch eine Metamorphose zur dogmatischen („normalen“) Rechtswissenschaft durch: Auch sie ist – wie die sonstige nationale Rechtswissenschaft – auf das Funktionieren des eigenen Rechtssystems und die Lösung der in diesem System auftretenden Probleme ausgerichtet, mit der Besonderheit, dass Kritik und Lösungen nicht aus Dogmatik oder aus interdisziplinärer Umschau abgeleitet werden, sondern eben aus transnationaler Umschau.

III. Eine wissenschaftliche Zukunft der Rechtsvergleichung Die dargestellten Probleme der Rechtsvergleichung hängen zum Teil auch mit ihrer methodischen Heimatlosigkeit zusammen. Die Methoden der dogmatischen nationalen Rechtswissenschaft können wegen des anderen Erkenntnisinteresses und Verwendungszusammenhangs offenkundig nicht oder nur sehr begrenzt übernommen und auch nicht eine eigene Methode Verfassungsgericht siehe etwa die (vergleichende!) Studie von Kerek Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn und in Rumänien, 2010; zum polnischen Verfassungsgericht siehe Brunner/Garlicki Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen, 1999, sowie Garlicki Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen, in: Luchterhandt/Starck/Weber Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, Band 1, 2007, 77 ff. – Zur Praxis anderer Gerichte, sich bei ihren Argumentationen auch anderer Rechtsordnungen zu bedienen, siehe Benvenisti Reclaiming Democracy: The Straegic Use Of Foreign And International Law By National Courts, The American Journal of International Law 102 (2008) 241 ff. – Der US Supreme Court scheint hier noch etwas zurückhaltender zu sein, siehe die Darstellung bei Tushnet The Possibilities of Comparative Constitutional Law, Yale Law Review 108, 1226, 1226 ff. Tushnet selbst schlägt dann für das – vor allem bei sehr alten Verfassungen wie der USamerikanischen Verfassung vielleicht besonders sensible – Verfassungsrecht mit erheblichem argumentativen Aufwand eine filtrierte Übernahme von Lösungen anderer Rechtsordnungen vor, siehe die Zusammenfassung ebenda, 1306 ff. 22 Siehe etwa Häberle Europäische Rechtskultur, 1994, z.B. 52, 78 u.ö.; aus dem anglo-amerikanischen Rechtsraum zustimmend Markesinis (Fn. 2), 107 ff.; in die gleiche Richtung wie Häberle siehe etwa Starck (Fn. 10), 1024: Auslegungshilfe für den innerstaatlichen Richter; Sommermann Die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Fortentwicklung des Staats- und Verwaltungsrechts, DÖV 1999, 1017, 1028; Tschentscher (Fn. 18), 812 ff. – wenn auch etwas vorsichtiger. – Einen anderen, aber auch praxisorientierten Ansatz vertritt Kennedy New Approaches to Comparative Law: Comparativism and International Governance, Utah Law Review 1997, 45 ff., der den Standort der Rechtsvergleichung in einem komplementären Kraftfeld von Kultur und Governance und in Ergänzung zum mit Governance befaßten internationalen Recht sieht.

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der Rechtsvergleichung aus ihnen abgeleitet werden. In konkreten rechtsvergleichenden Studien machen sich die Autorinnen und Autoren selten methodische Gedanken.23 Die Methode ist aber von ganz wesentlicher Bedeutung, sowohl für die Verwendbarkeit der Ergebnisse der Rechtsvergleichung wie aber auch für ihre Attraktivität. Ich werde im Folgenden versuchen, darzulegen, dass weder die gängigen Methoden noch die wesentlichen Vorschläge zu methodischer Neuorientierung wirklich zu überzeugen vermögen und dass aus meiner Sicht ein Grund der methodischen Insuffizienz in der bei rechtsvergleichenden Untersuchungen paradoxerweise problematischen Fixierung auf das jeweilige fremde Rechtssystem liegt. 1. Stille Selbstverständlichkeiten der Rechtsvergleichung Vergleich setzt nach allgemeiner Ansicht voraus, dass Dinge miteinander verglichen werden, die vergleichbar sind. Die Vergleichbarkeit wird als das Erfordernis eines „tertium comparationis“ bezeichnet. Nun ist das tertium comparationis nur eine relative Gewähr von Vergleichbarkeit: je abstrakter das tertium comparationis gewählt wird, desto disparater können dann auch die gewählten Vergleichsobjekte sein. Betrachtet man die Themen rechtsvergleichender Veröffentlichungen, so muss man feststellen, dass vor allem bei sprachlich schwerer zu erschließenden Ländern die Abstraktionshöhe des tertium comparationis und die Disparatheit der verglichenen Phänomen zum Teil beträchtlich ist: (fast) alles scheint vergleichbar zu sein.24 Ein Grund dafür ist die Zufälligkeit des sprachlichen Zugangs zum fremden Rechtssystem in Kombination mit durchaus auch taktischen Überlegungen bei der Themenwahl: ein beträchtlicher Teil der rechtsvergleichenden – monographischen – Veröffentlichungen sind Dissertationen.25 Auch metho23 Eine Ausnahme ist etwa der Beitrag von Morlok Rechtsvergleichung auf dem Gebiet politischer Parteien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider Parteienrecht im europäischen Vergleich, 1990, 695, 698 ff.; anders als in den politischen Wissenschaften, siehe Kahn (Fn. 16), der mit einem Kapitel zu „Federal Theory“, 18 ff., beginnt. 24 Siehe etwa Houri Verfassungsgerichtsbarkeit in Ägypten, im Libanon und in Syrien, 2005; Pusch Alternativen zum Arbeitskampf im öffentlichen Dienst: Ein Rechtsvergleich zwischen Deutschland und New York, 2002; Kerek (Fn. 21); von der Wense Die Verfassungsmäßigkeit von Koalitionssicherungsmaßnahmen in Deutschland und in Südafrika, 2000; Call Grundrechtsschutz in Schweden unter rechtsvergleichenden Gesichtspunkten, 2003. Um nicht mißverstanden zu werden: Auch solche Arbeiten sind nützlich; dort, wo die Relevanz des Vergleichs nicht so recht ersichtlich ist, wäre es allerdings sinnvoller, einen Länderbericht zu erstellen, der dann eben die Rechtslage im ausgewählten Land beschreibt. Als Gegenbeispiel sei – angesichts der konkreten Relevanz US-amerikanischer Entwicklungen auf die Rechtsentwicklung – die Zero-Tolerance-Politik in den USA angeführt, siehe dazu z.B. Leiterer „Zero Tolerance“ gegen soziale Randgruppen, Hoheitliche Maßnahmen gegen Mitglieder der Drogenszene, Wohnungslose, Trinker und Bettler in New York City und in Deutschland, 2007. 25 Siehe etwa die Arbeiten von von der Wense, Kerek oder Houri (Fn. 24).

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disch herrscht eine große Freiheit: Jede Methode scheint ihre selbstverständliche Berechtigung zu haben.26 Diese positiv ausgedrückt Freiheit, negativ ausgedrückt Beliebigkeit in der Methodenwahl mag auch mit der nichtexistenten Rangordnung der allgemeinen rechtswissenschaftlichen Methoden und vielleicht auch mit einer verbreiteten gewissen Schlampigkeit in der dogmatischen Rechtswissenschaft zusammenhängen.27 Dies wirkt sich auf das verarbeitete Material aus: Wenn nach dem allgemeinen Konsens (fast) alles miteinander verglichen werden kann, kommt die Fragestellung, was denn nun die relevanten Manifestationen eines Rechtssystems sind, oft zu kurz. Dazu kommt das Problem der Wertung in der Rechtsvergleichung bzw. der Abwertung vieler Rechtssysteme durch die Rechtsvergleichung. Plattform der Rechtsvergleichung und unausgesprochener Maßstab des Rechtsvergleichs sind zumindest in der deutschen Rechtswissenschaft die Rechtssysteme der großen und klassischen Industrienationen.28 Dies führt dann zu einer – offen oder latent abwertenden – Gegenüberstellung von westlichen und östlichen Rechtssystemen, von entwickelten und unterentwickelten, reifen und unreifen oder traditionalen und modernen Rechtssystemen. 2. Die deskriptive Methode Die im Folgenden dargestellten zwei Hauptmethoden der Rechtsvergleichung werden hier als Idealtypen vorgestellt; konkrete Untersuchungen werden diese Idealtypen mehr oder weniger stringent verwirklichen. Die erste grundlegende Methode der Rechtsvergleichung ist die objektive und neutrale Beschreibung eines fremden Rechtssystems bzw. eines Teils eines fremden Rechtssystems. Der Forscher wählt ein konkretes Rechtsinstitut, das ihm in der Regel aus seiner heimischen Rechtsordnung bekannt ist, aus, analysiert und beschreibt es für den heimischen Leser/Juristen und vergleicht es mit dem Recht der Untersuchungsausschüsse in seinem Heimatland. G. Fran26 Siehe etwa die Darstellung bei Sommermann (Fn. 22), 1021 ff., die keine dezidierte Präferenz für eine der beiden (drei?: Sommermann unterscheidet zwischen einem textbezogenen, einem diesen weiterentwickelnden kontextualistischen und einem funktionalen Ansatz) dargestellten Methoden erkennen läßt; ähnlich Starck (Fn. 10), 1026 ff.; zum Problem auch Markesinis (Fn. 2), 50 f. 27 Siehe Schlink Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, 157, 159 f., 161. 28 Damit soll nicht gesagt werden, dass über die Rechtssysteme anderer Länder nicht geforscht wird; das Jahrbuch des Öffentlichen Rechts sowie die Zeitschrift „Verfassungsrecht in Übersee“ sowie auch das International Journal of Constitutional Law bringen regelmäßig Berichte zur Verfassungs- und Rechtsentwicklung außerhalb des europäisch/ US-amerikanischen Rechtsraums; es geht um den herrschenden Bezugsrahmen. Typisch etwa Starck (Fn. 10), 1026, mit der Aufzählung von Rechtskreisen oder Rechtsfamilien, die sich ausschließlich in Europa und den USA befinden; ähnlich Kaiser Vergleichung im öffentlichen Recht, ZaöRV 1964, 391, 395, 397; siehe hierzu die Kritik von Schulze-Fielitz (Fn. 15), etwa 374.

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kenberg nennt dies Vorgehen „going native“.29 Ein Beispiel wäre etwa das Recht der Untersuchungsausschüsse in den USA und der Vergleich mit dem Recht der Untersuchungsausschüsse in der Bundesrepublik Deutschland.30 Die Auswahl des Themas erfolgt „oberflächlich“: Ausgewählt wird jene Institution, die in dem Untersuchungsland, also am Beispiel in den USA, Untersuchungsausschuß genannt wird. Konstatiert werden als Ergebnis Gleichheiten, Ähnlichkeiten, Unähnlichkeiten oder völliges Anderssein. Die Methode hat ihre Vorzüge und ihre Probleme. Das Bemühen um eine nicht wertende Beschreibung des Rechtsinstituts der anderen Rechtsordnung führt zur Erarbeitung nützlichen und verläßlichen enzyklopädischen Wissens. Problematisch ist andererseits die richtige Auswahl des Themas und der Materialien: Die Tatsache etwa, dass ein Rechtssystem keine Verwaltungsgerichte oder gar überhaupt keine Gerichte hat, die die Rechtmäßigkeit des Handelns der Verwaltung kontrollieren, bedeutet nicht, dass in dem betreffenden Rechtssystem die Rechtmäßigkeit des Handelns der Verwaltung nicht kontrolliert wird.31 Es gibt normalerweise auch kein tertium comparationis: Die Andersartigkeit der fremden Rechtsordnung ist vielmehr das tertium comparationis und der Vergleich erschöpft sich in der Auflistung von Ähnlichkeiten und Unterschieden; bezeichnenderweise sind die „Vergleichsteile“ rechtsvergleichender deskriptiver Arbeiten immer sehr kurz.32 Problematisch ist auch die Neutralität. Funktion der Neutralität ist die verzerrungsfreie Darstellung des fremden Rechtssystems. Kann aber ein Autor ein fremdes Rechtssystem wirklich „neutral“ darstellen oder beeinflußt ihn das eigene Rechtssystem so stark, dass die Darstellung immer verzerrt sein wird?33 Brauchen wir überhaupt eine Neutralität?34 Immerhin 29

Frankenberg (Fn. 11), 415, 429 ff. Siehe von Hoff Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages und des Amerikanischen Kongresses: Ein Rechtsvergleich, 2007; die Arbeit hat dabei durchaus auch ein praktisches Interesse, nämlich die Frage, inwieweit bestimmte Instrumente in den USA zur Erhöhung der Effektivität der Arbeit der Untersuchungsausschüsse in der Bundesrepublik Deutschland verwendbar sind, siehe 355 ff.; ähnlich z.B. auch Wedde Der Insolvenzverwalter in russischen und im deutschen Recht, 2006. 31 Eigenartig widersprüchlich hier Bernhardt (Fn. 2), 438 f., 441, der einerseits Institutionen für den einzig legitimen Betrachtungsgegenstand der Rechtsvergleichung hält, andererseits diese Institutionen dann aber doch eher funktional identifizieren will. 32 Siehe etwa die Arbeit von von Hoff (Fn. 30), von 377 Seiten entfallen 30 Seiten (45– 49, 112–122, 282–290, 304–306 sowie 351–354) auf den Vergleich. 33 Bzw., wenn sich der Forscher auf das fremde Rechtssystem so einläßt, dass er es unbeeinflußt von den Wertungen des eigenen Rechtssystems darstellt, hat er dann nicht die Wertungen des fremden Rechtssystems übernommen? Die Ethnologie bezeichnet dies als Verkafferung. 34 Ablehnend Tschentscher (Fn. 18), 810 ff., der hier ein überflüssiges historisches Erbe des Zivilrechts sieht; sein Gegenvorschlag vermag aber, wie weiter unten ausgeführt, auch nicht zu überzeugen. 30

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gab es Zeiten, in denen bei der Darstellung politisierter Rechtsmaterien – das Recht der sozialistischen Länder in der Zeit des kalten Krieges, das sog. „Ostrecht“ – eine wertende (abwertende) Stellungnahme erwartet und verlangt, das Fehlen einer solche Stellungnahme sanktioniert wurde.35 3. Die funktionale Methode Die Methode der Rechtsvergleichung ist die funktionale Methode, so das bekannte Wort von E. Fraenkel.36 Die funktionale Methode setzt bei der Annahme an, dass in Gesellschaften bestimmte Funktionen erfüllt werden müssen, um die Existenz der Gesellschaften zu gewährleisten, und dass einen Teil dieser Funktionen das Rechtssystem erfüllt. Richtschnur der Auswahl des Vergleichsobjekts ist damit nicht mehr ein bestimmtes Rechtsinstitut, sondern ein bestimmtes gesellschaftliches Bedürfnis, das (in der Regel oder zumindest im eigenen Rechtssystem) durch ein bestimmtes Rechtsinstitut abgedeckt wird. Die gesellschaftliche Funktion eines Rechtsinstituts wird also zum tertium comparationis und das zu untersuchende Rechtsinstitut im fremden Rechtssystem wird danach ausgesucht, welches Rechtsinstitut (oder eben auch manchmal nichtrechtliche Institut) in dem betreffenden System die gleiche Funktion erfüllt wie im eigenen: Gesucht wird also immer nach dem funktionalen Äquivalent.37 In der Konsequenz kann es wie auch bei der deskriptiven Methode zum Vergleich von gleichnamigen Rechtsinstituten kommen; ebenso gut denkbar ist aber auch der Vergleich ganz unterschiedlicher (in der Benennung) Rechtsinstitute oder auch der Vergleich von rechtlichen und außerrechtlichen Instituten.38 Gegenstand der 35 Siehe dazu etwa Loeber Rechtsvergleichung zwischen Ländern mit unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen, RabelsZ 26 (1961) 201 ff., sowie den Sammelband von Gutmann/ Mampel Probleme systemvergleichender Betrachtung, 1986. 36 Zitiert nach Morlok (Fn. 23), 713; weitere Nachweise zur und Diskussion der funktionalen Methode mit eigener Stellungnahme bei Gessner Soziologische Überlegungen zu einer Theorie der angewandten Rechtsvergleichung, RabelsZ 34 (1972) 229, 240 ff.; zur funktionalen Methode siehe weiter Wieser (Fn. 10), 38 ff. mit einer Reihe von Beispielen; Starck (Fn. 10), 1028; siehe auch die in die Richtung der funktionalen Methode gehenden Überlegungen von Bernhardt (Fn. 2), 439 f. 37 Siehe Frankenberg (Fn. 11), 436 ff.; Morlok (Fn. 23), 713 ff. 38 Nimmt man die Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Handelns der Verwaltung als Beispiel und vergleicht die Bundesrepublik mit der Russischen Föderation, so muss man in der Russischen Föderation, in der es keine ausdifferenzierte Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt, zwei institutionelle Varianten der Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Handelns der Verwaltung berücksichtigen: die in Art. 46 VerfRF grundrechtlich geschützte gerichtliche Kontrolle der Verwaltung, die konkret von den Gerichten der allgemeinen Gerichtsbarkeit und den Wirtschaftsgerichten wahrgenommen wird, sowie die (der kommunalen Rechtsaufsicht in etwa entsprechende) allgemeine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Prokuratur, die sich als sowjetisches Erbe in die nachsowjetische Zeit hinübergerettet hat und deren Besonderheit darin besteht, dass die rechtswidrigen Entscheidungen der Verwaltung nicht aufgehoben, sondern nur beanstandet werden. – An die Grenzen der

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Analyse sind Rechtstexte und Rechtsanwendung oder eben auch die außerrechtliche Lösung gesellschaftlicher Probleme und Konflikte;39 je unterschiedlicher die Gesellschaften sind, desto disparater können auch die Vergleichsobjekte werden. Auch diese Methode hat ihre Probleme. Die Identifikation von zu erfüllender gesellschaftlicher Funktion und zu untersuchendem rechtlichen Institut erfolgt in der Regel auf der Basis von Alltagswissen oder eben juristischer Wahrnehmung: Ob so gesellschaftliche Wirklichkeit immer adäquat erfaßt werden kann, darf man bezweifeln.40 Deswegen mag vielleicht die Identifizierung des Problems nicht immer gelingen. Hier wie auch bei der deskriptiven Methode versteht sich der Forscher als neutral, was, wie schon gezeigt, problematisch ist. Schließlich mag man sich auch fragen, ob Recht adäquat erfaßt wird, wenn es auf einen Problemlösungsmechanismus gesellschaftlicher Probleme reduziert wird.41 4. Neue Methoden Die Schwächen, die beide Methoden vor allem bei der Unterstellung eines neutralen Beobachters haben, waren Anlaß von Versuchen eines methodischen Neuanfangs. Frankenberg hat nach brillanter Kritik der beiden dargestellten Methoden als neuen methodischen Ansatz den „kritischen Rechtsvergleich“ vorgeschlagen. Der Rechtsvergleicher ist bei ihm ein teilnehmender Beobachter, der dem Gebot der Selbstreflexivität und der Selbstbeobachtung unterliegt; Rechtsvergleichung führt bei diesem Verständnis nicht nur zur Darstellung eines fremden Rechtssystems und zum

Rechtsvergleichung käme man – bzw. man würde die Grenzen der Rechtsvergleichung überschreiten –, wenn man sich in der Russischen Föderation mit dem Problem der Durchsetzung von Ansprüchen und des Vollzugs von gerichtlichen Entscheidungen beschäftigen würde, da wegen der Ineffektivität der staatlichen Vollzugsorgane dies vor allem in den 90er Jahren – aber durchaus auch noch heute – zum Teil durch „Schutzorganisationen“ (Schutzgelderpresser) wahrgenommen wurde, siehe etwa Volkov Violent Entrepreneurs, The Use of Force in the Making of Russian Capitalism, 2002, z.B. 64 ff., 126 ff. 39 Als weiteres Beispiel sei auf die Erodierung des Rubels als Zahlungsmittel in den 90er Jahren und auf die Ersetzung des Kaufs durch den Tausch in der Russischen Föderation in der Periode bis 1998 hingewiesen, siehe dazu Woodruff Money Unmade: Barter and the Fate of Russian Capitalism, 1999. 40 Verwiesen sei noch einmal auf die Beschreibung der Ersetzung staatlicher Institutionen und staatlicher Regulierung durch gesellschaftliche Institutionen und Regulierung und dann auf die Integration dieser Institutionen durch den Staat im Russland der 90er Jahre bei Volkov (Fn. 38), 97 ff., insbes. 116 ff.: Aus Schutzgelderpressungsorganisationen wurden private Sicherheitsdienste bzw. erfolgreiche Industrieunternehmen (Uralmaš). 41 Frankenberg (Fn. 11), 438 f.; siehe auch die Wiederaufnahme und Verfeinerung der Kritik an der funktionellen Methode bei ders. Comparing Constitutions: Ideas, ideals and ideology – toward a layered narrative, in ICON 4 (2006) 439, 444: „functionalist presumption of similarity“ als „fear of otherness“.

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Vergleich mit dem eigenen, sondern vor allem zu einer grundlegenden Neubewertung des eigenen Rechtssystems.42 Auch Tschentscher setzt an dem problematischen Gebot der Neutralität des Rechtsvergleichers an: Mit seiner „dialektischen Methode der Rechtsvergleichung“ propagiert er die Zulässigkeit, ja Fruchtbarkeit einer parteiischen und bewertenden Betrachtungsweise, bei der Beschreibung und Bewertung miteinander integriert werden sollen und das eigene Recht als Analyseraster für das fremde Recht genutzt werden soll.43 Beide Vorschläge vermögen nicht zu überzeugen: Tschentscher macht aus der Not eine Tugend und schafft so mehr Transparenz, aber nicht weniger Verzerrung; Frankenbergs Anwendungsbeispiele bleiben eigentümlich blaß44 und die Dimension der Selbstkritik, die wesentliches Element seines Methodenvorschlags ist, sollte sich auch ohne seinen methodischen Aufwand eigentlich bei jedem nur etwas tiefer „grabenden“ Rechtsvergleicher finden.

IV. Ein möglicher methodischer Ansatz und ein mögliches neues Selbstverständnis der Rechtsvergleichung: Beschreiben und Verstehen Betrachtet man sowohl die Methodendiskussion mit dem Ergebnis einer so oder so problematischen Methode, die unsichere Position und unsichere Orientierung der Rechtsvergleichung in der Rechtswissenschaft wie auch die gängigen rechtsvergleichenden Untersuchungen und ihre Herangehensweise, so lassen sich drei ungelöste Probleme identifizieren: • Das Problem der adäquaten Erfassung des fremden Rechtssystems bzw. des jeweils bearbeiteten Ausschnitts dieses Rechtssystems: Neutralität und das „richtige“ funktionale Äquivalent sind die Stichworte, die dieses Problem kennzeichnen. • Das Problem des Verwendungszusammenhangs bzw. die Divergenz zwischen dem Adressatenkreis der auf das national geltende Recht bezogenen Rechtswissenschaft einerseits und der Rechtsvergleichung andererseits. • Das daraus folgende Problem der Theorielosigkeit oder der mangelnden theoretischen Tiefe der Rechtsvergleichung: Die Nichtidentität von thematisiertem Rechtssystem und adressierten Rechtswissenschaftlern bzw. sonstigen juristischen Adressaten bedeutet, dass unabhängig von der ge42

Frankenberg (Fn. 11), 441 ff. Tschentscher (Fn. 18), 812 f.; ein wenig ratlos bei den Wertungen, die gleichwohl unverzichtbar sein sollen Starck (Fn. 10), 1029. 44 Frankenberg versucht, seine auf teilnehmende Beobachtung gegründete Methode am Beispiel der Abtreibungsproblematik zu demonstrieren, siehe ders. (Fn. 11), 449 ff. Letzten Endes kommt er dann zu einem soziologischen Verständnis von Rechtsvergleichung als Sozialwissenschaft, das dann dem unten bei den Fn. 63 ff. vorgeschlagenen Versuch des Verstehens anderer Rechtssysteme relativ nahe ist. 43

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wählten Methode – deskriptiv oder funktional – sich die Rechtsvergleichung in der Beschreibung des anderen Rechtssystems (garniert eventuell mit ein wenig Kritik) erschöpft. Das zweite Problem, das Problem des Verwendungszusammenhangs, wird sich in dem Maße entschärfen, in dem Rechtssysteme bei Problemlösungen auch de lege lata grenzüberschreitend arbeiten und damit die Rechtsvergleichung wirklich zur fünften Auslegungsmethode wird. Im Idealfall wird dies durch eine gesetzgeberische Geltungs- oder Berücksichtigungsanordnung wie etwa in der südafrikanischen Verfassung gewährleistet;45 aber Rechtsvergleichung wird auch dann zur realen fünften Auslegungsmethode, wenn die Gerichtspraxis zum Beispiel der Verfassungsgerichte kontinuierlich nicht nur die Rechtsprechung anderer Verfassungsgerichte nutzt,46 sondern dies auch, wie manche mittelosteuropäische Verfassungsgerichte, auch durch Verweise transparent macht.47 Wird die Rechtsvergleichung zur offen benutzten und allgemein akzeptierten fünften Auslegungsmethode, so entschärft dies auch das dritte Problem, da der Rechtsvergleicher sich dann nicht nur de lege ferenda, sondern auch de lege lata in den juristischen und rechtswissenschaftlichen Diskurs einschalten kann. Das erste Problem, bei dem es um die verzerrte Wahrnehmung des fremden Rechtssystems geht, bleibt freilich auch in diesem Falle ungelöst. Grund ist, dass die Neutralität bei der Beschreibung und das Finden des richtigen funktionalen Äquivalents nicht das Problem, sondern nur dessen Spiegelbild sind. Das Problem ist auch, aber eben nicht in erster Linie die Erfassung des fremden Rechts; das Problem ist vielmehr zunächst die adäquate Erfassung der ge45 Siehe Art. 39 Abs. 1 Verfassung Südafrika, wonach ein Gericht bei der Anwendung der Verfassung berechtigt ist, auch das Recht anderer Staaten zu berücksichtigen. Ein ähnliches Potential, das vom Russischen Verfassungsgericht freilich noch nicht genutzt worden ist, hat Art. 55 Abs. 1 VerfRF, wonach die Grundrechte der russischen Verfassung nicht so ausgelegt werfen dürfen, dass dadurch andere allgemein anerkannte Rechte des Menschen und Bürgers gemindert oder nicht aberkannt werden: Da Art. 17 Abs. 1 VerfRF schon die Auslegung der Grundrechte der russischen Verfassung in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Menschenrechtspakten vorschreibt, müssen mit den allgemein anerkannten Rechten des Art. 55 Abs. 1 VerfRF andere Rechte, also etwa die in anderen Staaten allgemein anerkannten Rechte gemeint sein. 46 So etwa das russische Verfassungsgericht, das eine Reihe von Instituten des deutschen Verfassungsgerichts übernommen hat, ohne dies durch einen Verweis offenzulegen; dazu zwei Beispiele: siehe die frühe Übernahme der Objektformel zur Menschenwürde in Vestnik konstitucionnogo suda (VKS) 1995, Nr. 2/3, S. 39, 42; der Grundgedanke des Art. 19 Abs. 3 GG und die Rechtsprechung zur in der russischen Verfassung nicht geregelten Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen (Schutz der dahinterstehenden natürlichen Personen) siehe in VKS 1996, Nr. 5, S. 22, 26 f. 47 Verwiesen sei auf das ungarische Verfassungsgericht, siehe dazu die auf diese Praxis immer wieder hinweisende Arbeit von Kerek (Fn. 21), passim, sowie auf das polnische Verfassungsgericht, siehe dazu die ausführliche Analyse der Einflüsse unterschiedlicher Gerichte bei Milej (Fn. 15), bes. 94 ff., 163 ff.

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sellschaftlichen Wirklichkeit. Recht ist ein Teil der normativen Struktur von Gesellschaften. Will man Recht adäquat verstehen, so kann man es nicht losgelöst von der gesellschaftlichen Wirklichkeit der konkreten Gesellschaft verstehen, deren Rechtssystem man untersucht. Dies gilt für jedes Rechtssystem und jede Gesellschaft, also auch für das eigene Rechtssystem des Rechtswissenschaftlers: Die Rechtswissenschaft zumindest in der Bundesrepublik Deutschland und in den meisten anderen vergleichbaren Ländern ist intern so ausdifferenziert, dass die Aufgabe der adäquaten Erfassung der gesellschaftlichen Wirklichkeit von Teildisziplinen der Rechtswissenschaft wahrgenommen wird48 bzw. in andere Wissenschaften ausgelagert worden ist.49 Der Rechtsvergleicher kann sich nicht auf eine solche interne Arbeitsteilung verlassen, sich etwa nur mit den dogmatischen Strukturen eines ausgewählten Themas beschäftigen und davon ausgehen, dass die adäquate Erfassung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die den Schlüssel zum Verstehen seiner normativen Studie enthält, von anderen geleistet wird (bzw. die gesellschaftliche Wirklichkeit den Adressaten zumindest in der Form des Alltagswissens bekannt ist).50 Zumindest im eigenen Wissenschaftssystem wird das regelmäßig nicht der Fall sein. Der Rechtsvergleicher muss daher, um die adäquate Erfassung und Darstellung des ausgewählten Segments des fremden Rechtssystems und die adäquate Rezeption seiner Untersuchung in der heimischen Rechtswissenschaft zu gewährleisten, die fremde gesellschaftliche Wirklichkeit und das fremde Rechtssystem verstehen: „Verstehen“ einer fremden gesellschaftlichen Wirklichkeit und in der Konsequenz eines fremden Rechtssystems geht aber über das äußerliche Betrachten des Fremden weit hinaus. 1. Beschreiben: Harte Fakten anstelle von Alltagswissen Zunächst einmal geht es um die Selbstverständlichkeit, dass der Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit der fremden Gesellschaft schlicht empirisch verläßliche und valide Daten zugrundegelegt werden. Es geht mit anderen Worten um eine verläßliche Empirie. Einige Beispiele: Wird etwa über private Sicherheitsfirmen geforscht, so sollten Dinge wie Anzahl der Beschäftigten (im Vergleich zu staatlichen Sicherheitskräften), Herkunft die-

48 So zum Beispiel von der Kriminologie, der Rechtssoziologie oder auch der Verwaltungswissenschaft; bezeichnenderweise sind auch diese Teilgebiete der Rechtswissenschaft, die ähnlich wie die Rechtsvergleichung eine Außenseiterstellung in der Rechtswissenschaft haben und oft darüber in die Rechtswissenschaft integriert werden, so dass ein Rechtswissenschaftler sich gleichzeitig mit „wirklichkeitswissenschaftlicher Erfassung seines Rechtsgebietes“ und auch dogmatischer Rechtswissenschaft befaßt. 49 Verwiesen sei noch einmal auf die Wissenschaftssoziologie als wirklichkeitswissenschaftlicher Erfassung des Wissenschaftssystems, die dann auch juristisch rezipiert wird, siehe dazu noch einmal Trute (Fn. 6), bes. 54 ff. 50 So auch Starck (Fn. 10), 1028: Bedeutung der kulturellen und sozialen Ambiance.

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ser Beschäftigten, Bereiche, in denen private Sicherheitsfirmen eingesetzt werden, technische und sonstige Ausstattung und ähnliches empirisch verläßlich erforscht und dargestellt werden. Geht es um Devisenrecht, so sollten empirisch – soweit möglich51 – die Geldzuflüsse und Abflüsse sowie sonst relevante Fakten den empirischen Untergrund der jeweiligen Studie bilden.52 Geht es um Energierecht, so ist eine sinnvolle Darstellung nicht ohne eine Analyse des Marktes – Energieproduzenten, Handelssystem, Leitungssystem, technischer Zustand, Eigentümer etc. – möglich.53 Offenkundig geht es hier weniger um eine methodische Anforderung nur an rechtsvergleichende Arbeiten. Solide empirische Grundierung steht ganz im Gegenteil auch jeder einen Aspekt des heimischen Rechtssystems bearbeitenden Untersuchung an; dieses Postulat wird auch in der Regel in der Praxis beachtet. Während man aber im nationalen Rechtssystem durchaus eine Arbeit mit rein normativer oder dogmatischer Ausrichtung schreiben kann, da ja die gesellschaftliche Wirklichkeit als zumindest im Alltagswissen bekannt und geteilt vorausgesetzt werden kann, ist dies bei rechtsvergleichenden Arbeiten unmöglich. 2. Verstehen und Bewerten: Alltagswissen und interdisziplinäres Arbeiten Die Möglichkeiten ebenso wie die Notwendigkeit einer soliden, nichtrechtswissenschaftlichen Grundierung rechtsvergleichender Arbeiten gehen aber noch weiter. Der Rechtsvergleicher wird den Ausschnitt des fremden Rechtssystems, den er zum Thema seiner Untersuchung gemacht hat, auch verstehen wollen. Ein Versuch des Verstehens, der sich im Nachvollziehen der juristischen Gedanken erschöpft, mag in manchen Fällen ausreichend sein; in vielen Fällen bleibt ein solches Verstehen jedoch an der – juristischen – Oberfläche.54 Das gleiche gilt für die Bewertung der Leistungen des fremden Rechtssystems bzw. des gewählten Ausschnitts: auch hier ist eine rein juristische Betrachtungsweise oft ungenügend, weil es eben um die Leistungsfähigkeit des Rechts als eines Systems der Regelung gesellschaftlicher Beziehungen geht und nicht um die intellektuelle Brillanz der zu einem Problem entwickelten dogmatischen Konstrukte. Verstehen und Bewerten des Rechts eines fremden Rechtssystems, soll es nicht an der juristischen 51 Es ist immer wieder erstaunlich, Aussagen wie etwa diejenige zu lesen, dass der Umsatz der Schwarzarbeit in der Bundesrepublik Deutschland jährlich 80 Mrd. Euro beträgt oder dass pro Monat 20 Mrd. $ illegal aus der Russischen Föderation ausgeführt werden, da die Vorgänge ihrer Natur nach nicht offen zugänglich sind und in der Regel auch nicht klar gemacht wird, worauf die jeweiligen Schätzungen beruhen. 52 Müller (Fn. 7), bes. 241 ff. 53 Falter Russlands natürliche Monopole, 2008, 59 ff.; ein anderes Beispiel ist etwa die Marktanalyse des Hypothekenmarktes bei Schwarkewitsch (Fn. 9), 276 ff. 54 So auch Morlok (Fn. 23), 714; es geht ihm um eine adäquate Anwendung der funktionalen Methode, die er sich nicht ohne Sozialwissenschaften denken kann.

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Oberfläche bleiben, benötigt einen Beobachterstandpunkt außerhalb des Rechtssystems – des fremden ebenso wie des eigenen –, der häufig von anderen Wissenschaften geliefert werden kann. Rechtsvergleichendes Arbeiten, soll es über eine Oberflächenbeschreibung hinausgehen, ist daher möglichst auch interdisziplinäres Arbeiten. Einige Beispiele: Geht es um Energierecht, so sind Verständnis und Bewertung sinnvoll nur auf wirtschaftswissenschaftlicher Grundlage möglich.55 Staatsdienst und Beamtenrecht erschließen sich ohne Verwaltungswissenschaften und Verwaltungssoziologie nur schwer; je nach Zustand des Staatsdienstes in dem betreffenden Land wird man auch kaum ohne Korruptionsforschung – die wiederum unterschiedlichen Wissenschaften zugeordnet werden kann – auskommen.56 Eine umweltrechtliche Arbeit kann ohne Verwendung von Umweltökonomie und anderen Umweltwissenschaften kaum mehr als Oberflächenbeschreibung leisten.57 Untersuchungen, die sich mit dem Wissenschafts- und Universitätssystem eines fremden Landes beschäftigen, werden ohne Wissenschaftssoziologie, Organisationssoziologie oder vielleicht auch Wissenschaftstheorie dem Leser kaum ein adäquates Bild der Wissenschaft geben können.58 Es ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele anführen.59 Entscheidend ist, dass die Beschreibung eines fremden Rechtssystems als Oberflächenbeschreibung möglich ist (und auch durch die damit erreichte Wissensvermehrung ihren wissenschaftlichen Wert hat), dass aber Verstehen und Bewerten in den meisten Fällen eines interdisziplinären Zugriffs bedürfen. Dass dies auch in der nicht rechtsvergleichenden Rechtswissenschaft in vielen Fällen bereichernd wäre und ist,60 soll nicht verschwiegen werden, auch wenn es hier nicht zum Thema gehört. 55

Siehe Falter (Fn. 53), 26 ff. Siehe – freilich nicht aus der deutschen rechtsvergleichenden Forschung – den Sammelband von Kotkin/Sajo Political Corruption in Transition, 2002. Konkret wird es nötig sein, etwa die Korruptionsanalysen von NGO’s in die Untersuchungen mit einzubeziehen, so für die RF die regelmäßigen Untersuchungen der Stiftung INDEM von Satarov, die auf der Homepage der Stiftung allgemein zugänglich sind. 57 Siehe als Beispiel einer Untersuchung, die hier zu kurz greift, Neumüller Umwelthaftung in Russland, 1998. 58 Siehe die vorbildliche, von Battaglini im Nomos-Verlag herausgegebene sechsbändige Reihe „Handbook of the Law of Science“, zu den nationalen Wissenschaftssystemen und zu allgemeinen Fragestellungen; gesundheitliche Probleme des mittlerweile verstorbenen Battaglini verhinderten eine Weiterführung der Reihe. 59 Siehe etwa die wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen bei Rau Konzept und Funktion einer sich entwickelnden Fusionskontrolle in Russland, 2005, 26 ff.; bei der empirischen Bestandsaufnahme arbeitet Rau dann allerdings sehr selektiv, so dass der Leser nur ein unvollkommenes Bild von der Situation in Russland erhält, siehe 23 ff. und 246 ff. 60 Als ein Beispiel der Bereicherung juristischen Denkens durch Verwendung interdisziplinärer Ansätze sei noch einmal auf die Verwendung des symbolischen Interaktionismus durch Suhr verwiesen, siehe ders. (Fn. 6). 56

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3. Kulturelles Verstehen: Gesellschaftliche Codes und kulturelle Deutungsmuster Es gibt schließlich noch eine weitere Dimension der Untersuchung, die rechtsvergleichende Arbeiten sich erschließen sollten und müssen, wenn es um das Verstehen eines fremden Rechtssystems und der dieses umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit geht; es sei allerdings zugegeben, dass dies eine Dimension ist, deren Erschließung in der Regel erhebliche Mühe machen wird. Es geht um das kulturelle Verstehen, die sog. gesellschaftlichen Codes oder, in anderer, wissenssoziologischer Terminologie, um die kulturellen Deutungsmuster einer Gesellschaft. Alle Gesellschaften haben mehr oder weniger den gleichen Satz an Werten. In unterschiedlichen Gesellschaften sind jedoch die jeweilige Hierarchie dieser Werte und das die Werte verbindende Beziehungsgefüge unterschiedlich. Gesellschaftliche Codes bzw. kulturelle Deutungsmuster bestimmen Wertehierarchie und Beziehungsgefüge der Werte; sie sind die Platzanweiser in den Wertesystemen (oder auch symbolischen Sinnwelten) der jeweiligen Gesellschaften.61 Gesellschaftliche Codes/kulturelle Deutungsmuster geben gesellschaftstypische, d.h. für eine bestimmte Gesellschaft geltende Antworten auf gesellschaftsuntypische, d.h. sich für alle Gesellschaften stellende Fragen.62 Ein umfassendes Verstehen fremder Gesellschaften und ihrer Rechtssysteme ohne Einbeziehung dieser kulturellen Determinanten ist nicht möglich; nicht ohne Grund wird auch immer wieder in der rechtsvergleichenden Literatur diffus oder auch konkret die Einbeziehung der Kultur, kulturelles Verstehen gefordert, ohne dass dann allerdings ein Weg gewiesen würde, wie das zu geschehen hat.63 Mit dem Versuch der Entschlüsselung gesell61 Siehe die ausführliche Darstellung mit Nachweisen bei Blankenagel Tradition und Verfassung, 1987, 307 ff. 62 Blankenagel (Fn. 61 ), 309. 63 Siehe etwa die ritualisierten Betonungen der Bedeutung der Kultur bei Starck (Fn. 10), 1028; Wahl Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung, in: FS Quaritsch 2000, 163, 173 ff.; diffus auch Wieser (Fn. 10), 31; viel differenzierter, wenn auch letztlich nicht weiterführend etwa auch Tushnet (Fn. 21), 1285 ff.; ähnlich theoretisch interessant, aber ohne Überlegungen zur praktischen Umsetzung und mit nicht näher begründeten Statuierung kultureller Bedeutungen Frankenberg (Fn. 41), 447 ff. Letztlich auch nicht solide und greifbar die Relevanz des kulturwissenschaftlichen Ansatzes für die Rechtsvergleichung, siehe als Beispiel Biehler Der kulturwissenschaftliche Ansatz als Mittel westöstlicher Verfassungssymbiose, JöR 56 (2008) 385 ff.; eklektizistisch auch Nußberger Rechts- und Verfassungskultur in der Russischen Föderation, JöR 54 (2006) 35 ff. Ein schönes Beispiel sowohl für die Fruchtbarkeit eines kulturellen Verständnisses wie aber auch für eine wacklige methodische Erfassung jetzt die Arbeit von von Gall Die Konzepte „staatliche Einheit“ und „einheitliche Macht“ in der russischen Theorie von Staat und Recht, i.E.: eine breit geistesgeschichtlich ansetzende Analyse, bei der beim Leser die nagende Frage nach der Validität der Ergebnisse bleibt.

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schaftlicher Codes ist meiner Ansicht nach das so oft geforderte kulturelle Verstehen möglich. Einige Beispiele sollen illustrieren, was – konkret gemeint – zu untersuchen wäre, wenn es um die gesellschaftlichen Codes bzw. kulturellen Deutungsmuster geht. Gesellschaften haben eine völlig unterschiedliche Risikowahrnehmung und auch Opferbereitschaft; es liegt auf der Hand, dass dies auf Gestaltung und Nutzung bestimmter Institutionen wie etwa der Versicherung entscheidenden Einfluß hat.64 Damit verbunden ist die Rationalität in der Zeitachse: Je nach empfundener Sicherheit oder Unsicherheit der Zukunft wird das gesellschaftliche Verhalten und damit auch die Ausgestaltung der einschlägigen rechtlichen Institute durch kurzfristige oder langfristige Nutzenkalküle charakterisiert sein.65 Ehrlichkeit und Lüge werden in Gesellschaften unterschiedlich bewertet; in der Konsequenz ergeben sich bei Instituten wie Wahlen, die auf Ehrlichkeit basieren, Probleme oder nicht.66 Oberfläche oder Substanz, Primat persönlicher oder struktureller Beziehungen oder auch formeller oder informeller Absprachen sind weitere Beispiele der Wirkung gesellschaftlicher Codes bzw. Deutungsmuster.67 64 Wieder am Beispiel der Russischen Föderation, die nicht nur durch eine spezifische Risikowahrnehmung, sondern auch durch die sowjetische Gewohnheit der diffusen, nicht am Verursacherprinzip orientierten Sozialisierung solcher Kosten geprägt ist, siehe etwa die kurze Beschreibung des russischen Versicherungsmarktes bei Dewald Werner Versicherungsmarkt und Versicherungsaufsicht in der Russischen Föderation, 2008, 120 ff. Bezeichnend etwa die Probleme bei und nach der Einführung einer Kfz-Haftpflichtversicherung; seit 2003 verpflichtend nach dem FG Nr. 40 „Über die Pflichtversicherung der Haftpflicht von Verkehrsmittelbesitzern“ vom 25.4.2002; nach kursierenden Gerüchten soll es mit der Implementation noch erhebliche Probleme geben. 65 Wenn es erlaubt ist, hier eine persönliche Beobachtung, deren Repräsentativität nicht nachgewiesen ist, aus der RF als Beispiel anzuführen: Eine leitmotivartig immer wieder zu hörende Aussage von Russen ist, dass „in Russland jederzeit alles passieren könne“. Wird Zukunft als so unsicher wahrgenommen, so wird eine Konsequenz eine Tendenz sein, Nutzen nicht langfristig, sondern kurzfristig zu kalkulieren. Die Zukunft mag als so unsicher wahrgenommen werden, weil sie im kollektiven Gedächtnis wegen des Stalinismus als unsicher erinnert wird, siehe zu dieser völligen Unsicherheit schon des nächsten Tages in der UdSSR Stalins die beeindruckende, auf Interviews und der Auswertung von Familienarchiven beruhende Studie von Figes Die Flüsterer, Leben in Stalins Russland, 2008. 66 Siehe die Darstellung der Wahlfälschungen bei den Duma-Wahlen des Jahres 2003 und den Präsidentenwahlen des Jahres 2004 bei Fish Democracy Derailed in Russia, 2005, bes. 30 ff. 67 So gibt die Kodierung zu informellen und persönlichen Beziehungen in der RF dann eine mögliche Erklärung der diffusen Hierarchien im Bereich der staatlichen Verwaltung, siehe Blankenagel/Kalinina Struktura sistemy ispolnitel’noj vlasti v Rossijskoj Federacii: formal’no-funkcional’naja segmentacija ili klassičeskaja ierarchizacija (Die Struktur des Systems der Exekutive in der Russischen Föderation: Formell-funktionale Segmentierung oder klassische Hierarchisierung), in: Tacis Projekt “Institutional, Legal and Economic Federalism” (Hrsg.), Aktual’nye problemy razvitija federativnych otnošenij v Rossijskoj Federacii, 2006, 120–132; dies. Sistema organov vnutrennych del v Rossijskoj Federacii. Kvadratura kruga po-federal’nomu (Das System der Organe der inneren Verwaltung in der Russischen Föderation: Eine föderale Quadratur des Kreises), Institutional’nyj, pravo-

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Die Erschließung dieser Dimension durch den Rechtsvergleicher erfordert eine andere Form von Empirie: Der Rechtsvergleicher muss entweder auf empirische Einstellungsforschung im jeweiligen Land rekurrieren; denkbar ist freilich auch, wenn auch begrenzt und selektiv, eigene empirische Forschung.68 Festzuhalten ist: Das Verstehen eines fremden Rechtssystems wird häufig ohne die Erschließung dieser Tiefendimension der gesellschaftlichen Codes bzw. kulturellen Deutungsmuster unvollständig sein.

V. Die Zukunft der Rechtsvergleichung Es gibt also mehr als eine Zukunft der Rechtsvergleichung. Die eine Zukunft ist eine juristische/rechtswissenschaftliche Zukunft und hängt mit der Öffnung nationaler Grenzen und der Globalisierung zusammen: In dieser Zukunft verläßt die Rechtsvergleichung ihren Status als Aschenputtel und integriert sich de lege lata und erst recht de lege ferenda in die dogmatische Rechtswissenschaft. In der anderen Zukunft nähert sich die Rechtsvergleichung anderen Disziplinen wie comparative politics, politischer Soziologie, Ethnologie oder Wirtschaftswissenschaften an: Die Rechtsvergleichung wird nicht nur zum geographischen, sondern auch zum wissenschaftsdisziplinären Grenzgänger. Die beiden Zukunftsdimensionen reproduzieren zwei Verständnisse von Rechtswissenschaft: Das Verständnis von Rechtswissenschaft als dogmatischer Rechtswissenschaft einerseits, von Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft andererseits. Anders als bei der nationalen Rechtswissenschaft ist aber die Rechtsvergleichung ohne zumindest einige kleine Ausflüge in die Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft schwer vorstellbar.

voj i ekonomičeskij federalism v Rossijskoj Federacii, Ežekvartal’nyj bjulleten’, 2006, Nr. 5, 24–34. 68 Siehe dazu meinen seinerzeitigen Versuch, durch qualitative Interviews und Inhaltsanalysen von nach einem bestimmten Schlüssel ausgesuchten Zeitungsartikeln die Einstellungen russischer Juristen zu den Reformen von Gorbačev abzufragen, der dann in der Tat sehr interessante Ergebnisse erbrachte und Prognosen ermöglichte, Blankenagel Alles zugleich kann man nicht ändern: Neues Denken auf alten Selbstverständlichkeiten in der UdSSR, Kritische Justiz 1989, 19 ff.